Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974 [1974 ed.] 9783110909197, 9783110043457


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German Pages 966 [968] Year 1974

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Table of contents :
Inhalt
Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel in chronologischer Reihenfolge
Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts
Über Freiheit und Sicherheit
Bemerkungen zum Verhältnis von Recht und Politik
Theonome Autonomie des Menschen. Zur Geschichte der katholischen Naturrechtslehre
Zur Naturrechtslehre des Luthertums
Die Auswirkungen des reformatorisch-calvinistischen Naturrechts im Recht Amerikas
Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin
Rechtsgut, kultureller Wert und individuelles Bedürfnis
Rechtsinformatik und juristische Tradition
Stato di diritto e „Gesinnungsstrafrecht"
Werner Bergengruen vor dem Forum der Strafrechtslehre Hans Welzels
Über den Begriff des Unrecht-tuns bei Aristoteles anläßlich einer Kritik gegen die finale Handlungslehre
Finalität, Sozialadäquanz und Schuldtheorie als zivilrechtliche Strukturbegriffe. Welzeis Fernwirkung auf die Zivilrechtsdogmatik
Die finale Handlungslehre Welzels und die japanische Strafrechtsdogmatik
Über den gegenwärtigen Stand der Strafrechtswissenschaft in Japan
Beziehungen zwischen dem deutschen und koreanischen Strafrecht
Unbewußte Finalität?
Vermeidbares Verhalten und Strafrechtssystem
Motivation und Handlung im Affekt
Logische Überlegungen zur Verbrechensdefinition
Weiterentwicklung der finalen Unrechtslehre?
Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht
Sozialadäquanz und Legalitätsprinzip
Rein objektive Auffassung des Tatbestandsbegriffs und Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips
Über die mutmaßliche Einwilligung
Bemerkungen zur Schuldlehre im Strafrecht
Der Notstand: Ein Rechtswidrigkeitsproblem
Schuld und Strafe beim Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein
Grenzfälle im Bereich des Verbotsirrtums
Zur Problematik der Sonderbehandlung von Überzeugungsverbrechern
Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten
Begehung und Unterlassung
Die Bedeutung eines Gewissenentscheides für das Strafrecht
Die Auseinandersetzung um den finalen Täterbegriff in der spanischen Strafrechtswissenschaft
Unmittelbarkeit und Erfolgsqualifizierung
Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat
Zum Rücktritt des Tatbeteiligten im künftigen Recht
Erlaubtes Risiko und Risikoerlaubnis Zur Funktion des Prüfstellensystems nach § 155 AE
Alte Grundfragen und neue Entwicklungstendenzen im modernen Strafzumessungsrecht
Der Aufbau des § 330c StGB. Zum Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil des Strafrechts
Einwilligung und Selbstbestimmung
Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht
Zum Zweck und Mittel der Nötigung
Versicherungsmißbrauch (§ 265 StGB)
Systematische Stellung und Rechtsgut der Sexualstraftaten nach dem 4. StrRG
Zum „Rechtsgut" der Bestechungsdelikte
Jugendstrafrechtsreform de lege lata?
Die Behandlung der Bagatellkriminalität
Akteneinsicht für Laienrichter? Zu den Grundsätzen von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit im Strafprozeß
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Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag

FESTSCHRIFT FÜR HANS WELZEL ZUM 70. GEBURTSTAG am 25. März 1974

Herausgegeben von Günter Stratenwerth, Armin Kaufmann, Gerd Geilen Hans Joachim Hirsch, Hans-Ludwig Schreiber Günther Jakobs und Fritz Loos

w DE

G

1974 Walter de Gruyter • Berlin • New York

ISBN 3 11 004345 9 ©

Copyright 1974 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, Karl J . Trübner, Veit 6c Comp., Berlin 30. Alle Redite, insbesondere das Redit der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Obersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Drude Saladrudk, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz 8c Bauer, Berlin

HANS WELZEL zum 25. März 1974

als Zeichen des Dankes und der Verehrung dargebracht von GUNTHER ARZT

A R T H U R KAUFMANN

E N R I Q U E BACIGALUPO

H I L D E KAUFMANN

JÜRGEN BAUMANN

JUSTUS KRÜMPELMANN

A N N A BENAKIS

ERNST-JOACHIM LAMPE

GIUSEPPE BETTIOL

FRITZ LOOS

P A U L BOCKELMANN

HELLMUTH MAYER

FRANZ BÖCKLE

WOLFGANG N A U C K E

H A N S JÜRGEN BRUNS

D I E T R I C H OEHLER

JOSE CEREZO M I R

HEIKICHI O H N O

E R W I N DEUTSCH

K A R L PETERS

EDUARD DREHER

CLAUS R O X I N

K A R L ENGISCH

H A N S - J O A C H I M RUDOLPHI

H E R B E R T FIEDLER

E R I C H SAMSON

T A I R A FUKUDA

D A R I O SANTAMARIA

FRIEDRICH GEERDS

FRIEDRICH SCHAFFSTEIN

G E R D GEILEN

EBERHARD SCHMIDHÄUSER

ENRIQUE GIMBERNAT ORDEIG

H A N S - L U D W I G SCHREIBER

GERALD GRÜNWALD

FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

H E I N R I C H HENKEL

G Ü N T E R STRATENWERTH

H A N S JOACHIM H I R S C H

R O D R I G O FABIO SUAREZ M O N T E S

ECKHARD H O R N

ZONG U K TJONG

JOACHIM HRUSCHKA

GÜNTER WARDA

G Ü N T H E R JAKOBS

F R A N Z WIEACKER

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK

THOMAS WÜRTENBERGER

A R M I N KAUFMANN

Inhalt Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel in chronologischer Reihenfolge

1

Göttingen: Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts

7

FRANZ WIEACKER,

Freiburg/Brsg.: Uber Freiheit und Sicherheit

23

früher Hamburg: Bemerkungen zum Verhältnis von Recht und Politik

31

Bonn: Theonome Autonomie des Menschen. Zur Geschichte der katholischen Naturrechtslehre

49

Kiel: Zur Naturrechtslehre des Luthertums

65

T H O M A S WÜRTENBERGER,

HEINRICH HENKEL,

F R A N Z BÖCKLE,

HELLMUTH MAYER,

Köln: Die Auswirkungen des reformatorisch-ca'lviriistischen Naturrechts im Recht Amerikas 101

DIETRICH OEHLER,

Hamburg: Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin . . 115

JOACHIM HRUSCHKA,

Bielefeld: Rechtsgut, kultureller Wert und individuelles Bedürfnis . . . .

E R N S T - J O A C H I M LAMPE,

Bonn: Rechtsinformatik und juristische Tradition

151

H E R B E R T FIEDLER,

Padua: Stato di diritto e „Gesinnungsstrafrecht"

167

GIUSEPPE B E T T I O L ,

185

München: Werner Bergengruen vor dem Forum der Strafrechtslehre Hans Welzeis 197

A R T H U R KAUFMANN,

Athen : Über den Begriff des Unrecht-tuns bei Aristoteles anläßlich einer Kritik gegen die finale Handlungslehre 213

A N N A BENAKIS,

vili

Inhalt

Göttingen: Finalität, Sozialadäquanz und Schuldtheorie als zivilrechtliche Strukturbegriffe, Welzeis Fernwirkungen auf die Zivilrechtsdogmatik 227

ERWIN DEUTSCH,

T A I R A FUKUDA,

Tokio:

Die finale Handlungslehre Welzels und die japanische Strafrechtsdogmatik 251 Kumamoto: Uber den gegenwärtigen Stand der Strafrechtswissenschaft in Japan 261

HEIKICHI OHNO,

Freiburg/Brsg.: Beziehungen zwischen dem deutschen und koreanischen Strafrecht 277

ZONG U K TJONG,

GÜNTER STRATENWERTH,

Basel:

Unbewußte Finalität? G Ü N T H E R JAKOBS,

289

Kiel:

Vermeidbares Verhalten und Strafrechtssystem

307

Mainz: Motivation und Handlung im Affekt

327

München/Heidelberg: Logische Überlegungen zur Verbrechensdefinition

343

Oviedo: Weiterentwicklung der finalen Unrechtslehre?

379

Bonn: Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht

393

Tübingen: Sozialadäquanz und Legälitätsprinzip

415

JUSTUS KRÜMPELMANN,

KARL ENGISCH,

R O D R I G O FABIO SUAREZ MONTES,

ARMIN KAUFMANN,

KARL PETERS,

Neapel: Rein objektive Auffassung des Tatbestandsbegriffs und Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips 431

D A R I O SANTAMARIA,

München: Uber die mutmaßliche Einwilligung

CLAUS R O X I N ,

447

Inhalt

IX

Buenos Aires: Bemerkungen zur Schuldlehre im Strafrecht

477

Madrid: Der Notstand: Ein Rechtswidrigkeitsproblem

485

ENRIQUE BACIGALUPO,

ENRIQUE GIMBERNAT ORDEIG,

Bochum: Schuld und Strafe beim Handeln mit bedingtem Unrechtsbewußtsein 499

GÜNTER WARDA,

Tübingen: Grenzfälle im Bereich des Verbotsirrtums

JÜRGEN BAUMANN,

533

München: Zur Problematik der Sonderbehandlung von Überzeugungsverbrediern 543

PAUL BOCKELMANN,

Göttingen: Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten 557

FRIEDRICH SCHAFFSTEIN,

Kiel: Begehung und Unterlassung

ERICH SAMSON,

579

Bonn: Die Bedeutung eines Gewissensentscheides für das Strafrecht 605

HANS-JOACHIM RUDOLPHI,

Zaragoza: Die Auseinandersetzung um den finalen Täterbegriff in der spanischen Straf rechts wissensdiaft 635

JOSE CEREZO M I R ,

Bochum: Unmittelbarkeit und Erfolgsqualifizierung

GERD GEILEN,

655

Freiburg/Brsg.: Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat 683

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,

Bonn: Zum Rücktritt des Tatbeteiligten im künftigen Recht

GERALD GRÜNWALD,

701

Göttingen: Erlaubtes Risiko und Risikoerlaubnis. Zur Funktion des Prüfstellensystems nach § 155 AE 719

ECKHARD H O R N ,

X

Inhalt

Erlangen: Alte Grundfragen und neue Entwicklungstendenzen im modernen Strafzumessungsrecht 739

H A N S JÜRGEN BRUNS,

Frankfurt/Main: Der Aufbau des § 330 c StGB. Zum Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil des Strafrechts 761

WOLFGANG N A U C K E ,

Regensburg: Einwilligung und Selbstbestimmung

H A N S JOACHIM HIRSCH,

775

Hamburg: Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht 801

EBERHARD SCHMIDHÄUSER,

Göttingen: Zum Zweck und Mittel der Nötigung

823

Frankfurt/Main: Versicherungsmißbrauch (§ 265 StGB)

841

GUNTHER A R Z T ,

FRIEDRICH GEERDS,

Regensburg: Systematische Stellung und Rechtsgut der Sexualstraftaten nach dem 4. StrRG 859

FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER,

Bonn: Zum „Rechtsgut" der Bestechungsdelikte

879

Köln: Jugendstrafrechtsreform de lege lata?

897

Bonn: Die Behandlung der Bagatellkriminalität

917

FRITZ LOOS,

H I L D E KAUFMANN,

EDUARD DREHER,

Göttingen: Akteneinsidit für Laienrichter? Zu den Grundsätzen von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit im Strafprozeß 941

H A N S - L U D W I G SCHREIBER,

Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel in chronologischer Reihenfolge 1. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Jur. Dissertation Jena 1928, Teildruck Heidelberg 1930, neue ergänzte Auflage Berlin 1958. 2. Strafrecht und Philosophie. Kölner Universitätszeitung Bd. 12 (1930), Nr. 9 S. 5; jetzt in: Erinnerungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 173. Ins Japanische übersetzt von Kanazawa. In: Fukuda (Herausgeber), Hans Welzel, Grundlagen der finalen Handlungslehre, 1967, S. 73. 3. Die kulturphilosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre Samel Pufendorfs und ihre kulturhistorische Bedeutung. Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte Bd. 9 (1931) S. 585. 4. Kausalität und Handlung. ZStW 51 (1931) S. 703. 5. Uber Wertungen im Strafrecht. Der Gerichtssaal 103 (1933) S. 340. 6. Naturalismus und Wertphilosophie im Straf recht — Untersuchungen über die ideologischen Grundlagen der Strafrechtswissenschaft — Mannheim, Berlin, Leipzig 1935. Ins Japanische übersetzt von Fujio. In: Niigata-Daigaku-Hokei-Ronshu, Bd. 17 (1968) S. 213 ff. und Hosei-Riron, Bd. 5, H . 1, S. 66 ff. (Teilübersetzung). 7. Die Wahrheitspflicht im Zivilprozeß — Vortrag — Berlin, Leipzig 1935. 8. Besprechung von: Rudolf Thierfelder, Normativ und Wert in der Strafrechtswissenschaft unserer Tage. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 97 (1937) S. 381. 9. Tradition und Neubau in der Rechtswissenschaft. Deutsche Rechtswissenschaft Bd. 3 (1938) S. 113. 10. Uber die Ehre von Gemeinschaften. ZStW 57 (1938) S. 28. 11. Besprechung von: Herbert Rauch, Die klassische Straf rechtslehre in ihrer politischen Bedeutung. In: Deutsche Literaturzeitung (1938) Sp. 679. 12. Studien zum System des Strafrechts. ZStW 58 (1939) S. 491. 13. Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts in seinen Grundzügen. Berlin 1940, 3. Aufl. 1944. 14. Persönlichkeit und Schuld. ZStW 60 (1941) S. 428. 15. Besprechung von: Kohlrausch-Lange, Strafgesetzbuch 35. Aufl. Berlin 1940. In: ZStW 61 (1942) S. 178.

2

Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel

16. Besprechung von: Richard Lange, Die notwendige Teilnahme Berlin 1940. In: ZStW 61 (1942) S. 209. 17. Uber den substantiellen Begriff des Strafgesetzes. In: Probleme der Strafrechtserneuerung. Festschrift für Ed. Kohlrausch, Berlin 1944, S. 101. 18. Das Deutsche Strafrecht in seinen Grundzügen, Berlin 1947 (zugleich 4. Aufl. von: Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts in seinen Grundzügen); seit 3. (6.) Aufl. 1954: Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung; 11. (14.) Aufl. Berlin 1969. Ubersetzung ins Spanische von Carlos Fontan Balestra (gemeinsam mit Eduard Friker) Depalma, Buenos Aires 1956. Teilübersetzungen ins Italienische (1952), Koreanische (1959), Japanische (1962), Griechische (1963), Spanische (1964). 19. Uber die ethischen Grundlagen der sozialen Ordnung. SJZ 1947, S. 409. 20. Zur Kritik der subjektiven Teilnahmelehre. SJZ 1947 S. 645. 21. Der Irrtum über die Reditswidrigkeit des Handelns. SJZ 1948 S. 368. 22. Vom irrenden Gewissen. Tübingen 1949. Ins Japanische übersetzt von Fumio Kanazawa. In: Zeitschrift für Staats- und Wirtschaftswissenschaft der Universität Hiroshima, 22. Bd. Heft 3—4, 1972. 23. Um die finale Handlungslehre. Tübingen 1949. 24. Anmerkung zur Entscheidung des O G H vom 5. 3. 1949. In: MDR 1949 S. 373. 25. Anmerkung zur Entscheidung des OLG Bamberg vom 27. 7.1949. In: Deutsche Rechtszeitschrift 1950 S. 303. 26. Das neue Bild des Strafrechtssystems. Göttingen 1950, 4. Aufl. 1961. Ins Italienische übersetzt von Cesare Pediazzi. In: JUS, Mailand, März 1952, S. 31 ff. Ins Japanische übersetzt von Taira Fukuda, 1962. Ins Griechische übersetzt von Anna Benakis, Athen-Thessaloniki, 1963. Spanisch: El nuevo sistema del deredio penai, Ubersetzung der 4. Aufl. von José Cerezo Mir, Barcelona 1964. 27. Das Gesinnungsmoment im Recht. Festschrift für Julius von Gierke, Berlin 1950, S. 290. 28. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 1951, 4. Aufl. 1962. Spanisch: Derecho natural y justicia material, Übersetzung der 1. Aufl. von Felipe Gonzalez Vicén, Madrid 1957. Spanisch: Positivismo y Neokantismo, Teilübersetzung (5. Kapitel, 1. Abschnitt) von F. Puy Munoz, in: Anales de la Catedra Francisco

Verzeichnis der Sdiriften von Hans Welzel

29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47.

48.

3

Suárez, Universidad de Granada, Num. II 1962, Bd. 2, S. 193 ff. Spanisch: Introducción a la filosofía del derecho, Übersetzung der 4. Aufl. von Felipe González Vicén, Madrid 1971. Italienisch: Diritto naturale e giustizia materiale, übersetzt von Giuseppe de Stefano, Mailand 1965. Ins Japanische übersetzt von H . Ohno. In: Kumamoto-Hogaku N o . 2 1 (1973) S. 111 ff. (Teilübersetzung der 4. Aufl., 5. Teil). Zum Notstandsproblem. ZStW 63 (1951) S. 47. Schuld und Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. MDR 1951 S. 65. Nochmals der Verbotsirrtum. N J W 1951 S. 577. Nachruf auf Robert von Hippel. JZ 1951 S. 536. La Posizione Dogmatica della Dottrina Finalistica dell'Azione (italienisch). In: Rivista Italiana di Diritto Penale, 1951, S. 1 ff. Anmerkung zu BGHSt 1, 235. JZ 1951 S. 692. Anmerkung zu BGHSt 2, 393. JZ 1951 S. 754. Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte. Festschrift für R. Smend, Göttingen 1952, 5. 387; jetzt in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, hrsg. von R. Schmur, Darmstadt 1964, S. 238. Der Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung. JZ 1952 S. 19. Zur Systematik der Tötungsdelikte. JZ 1952 S. 72. Der Irrtum über die Zuständigkeit einer Behörde J Z 1952 S. 133. Der Irrtum über die Amtspflicht. JZ 1952 S. 208. Anmerkung zu BGHSt 2,194. JZ 1952 S. 340. Anmerkung zu BGHSt 3, 194. JZ 1952 S. 596. Auf weldie Bestandteile einer Strafvorschrift bezieht sich der Satz: nulla poena sine lege? JZ 1952 S. 617. Zur Abgrenzung des Tatbestandsirrtums vom Verbotsirrtum. MDR 1952 S. 584. Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund. N J W 1952 S. 564. Aktuelle Strafrechtsprobleme im Rahmen der finalen Handlungslehre. Karlsruhe 1953. Naturrecht und Redltspositivismus. Festschrift für H. Niedermeyer, Göttingen 1953, S. 279; jetzt in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, hrsg. von W. Maihof er, Bad Homburg 1966, S. 322. Spanisch: Derecho natural y positivismo jurídico, übersetzt von Ernesto Garzón Valdés. In: Mas alia del derecho natural y del positivismo jurídico, Universidad nacional de Cordoba, Argentinien, 1962, S. 11. Anmerkung zu BGHSt 3, 248. J Z 1953 S. 119.

4

Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel

49. Arten des Verbotsirrtums. JZ 1953 S. 266. 50. Anmerkung zu BGHSt 4, 355. J Z 1953 S. 763. 51. Zur Dogmatik der echten Unterlassungsdelikte, insbesondere des § 330 c StGB. N J W 1953 S. 327. 52. Irrtumsfragen im Steuerstrafrecht. N J W 1953 S. 486. 53. Zum Schadensbegriff bei Erpressung und Betrug. N J W 1953 S. 652. 54. Wie würde sich die finalistische Lehre auf den Allgemeinen Teil eines neuen Strafgesetzbuches auswirken? Materialien zur Strafrechtsreform, Bonn 1954, Bd. I S. 45. 55. Anmerkung zu BGHSt 5, 47. J Z 1954 S. 128. 56. Über das Verhältnis der Strafbestimmungen für die uneidliche Falschaussage und den Meineid. JZ 1954 S. 227. 57. Der Parteiverrat und die Irrtumsprobleme. J Z 1954 S. 276. 58. Teilnahme an unvorsätzlichen Handlungen? JZ 1954 S. 429. 59. Vorwort zu: Graf zu Dohna, Ein unausrottbares Mißverständnis ZStW 66 (1954) S. 505. 60. Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht als legislatorisches Problem. ZStW 67 (1955) S. 196. 61. Der übergesetzlidie Notstand und die Irrtumsproblematik. J Z 1955 S. 142. 62. Die finale Handlungslehre und die Strafrechtsreform in Griechenland und Deutschland (griechisch). In: Poinika Chronika, 1955. 63. Anmerkung zu BGHSt 7, 261. J Z 1955 S. 455. 64. Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 12. 5. 1955. J Z 1955 S. 553. 65. Der Verbotsirrtum im Nebenstrafrecht. JZ 1956 S. 238. 66. Die finale Handlungslehre und die fahrlässigen Handlungen. JZ 1956 S. 316. 67. Besprechung von: Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Heidelberg 1953. In: ZStW 69 (1957) S. 625. 68. Anmerkung zu BGHSt 9, 358. J Z 1957 S. 130. 69. Zur Problematik der Unterlassungsdelikte. J Z 1958 S. 454. 70. Macht und Recht (Rechtspflicht und Rechtsgeltung). Festschrift für Hugelmann, Aalen 1959, Bd. II S. 833. Spanisch: Derecho y poder. In: Mas alla del derecho natural y del positivismo juridico, Universidad nacional de Cordoba, Argentinien, 1962, S. 45. 71. Gesetz und Gewissen. Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Karlsruhe 1960, Bd. I S. 383.

Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel

72. 73. 74.

75. 76. 77. 78. 79.

80.

81. 82. 83. 84. 85.

86.

5

Spanisch: Ley y conciencia. In: Mas alia del derecho natural y del positivismo jurídico, Universidad nacional de Cordoba, Argentinien, 1962 S. 67. Der Gewahrsamsbegriff und die Diebstähle in Selbstbedienungsläden. GA 1960 S. 257. Anmerkung zur Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 15.10. 1959. J Z 1960 S. 179. Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte. Karlsruhe 1961. Französisch: L'imprudence et les délits de la circulation. In: Revue Internationale de Droit Penal (32) 1961 S. 985. Spanisch: La imprudencia y los delitos de la circulación. Aus dem Französischen übersetzt von Josefina Núñez und Jorge E. de la Rúa. In: Cuadernos de los Institutos, Cordoba, Argentinien, No. 84 (1965) S. 113. Vorwort zu: Anna Benakis, Täterschaft und Teilnahme nach deutschem und griechischem Strafrecht. Bonn 1961. Anmerkung zur Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 10. 5. 1961. GA 1961 S. 350. Anmerkung zur Entscheidung des OLG Hamm vom 10. 6. 1970. N J W 1961 S. 328. Vorteilsabsicht beim Betrug. N J W 1962 S. 20. In memoriam Theodor Litt. Rede, gehalten am 11. 1.1963 bei der Gedächtnisfeier der Philosophischen Fakultät der Rhein.-Friedr.Wilh.-Universität Bonn, zusammen mit Arno Esch, Ernst Schütte und Josef Derbolav. Alma Mater 15, Bonn 1963. Wahrheit und Grenze des Naturrechts — Rede zum Antritt des Rektorats am 10. November 1962 — Bonner Akademische Reden H . 26, 1963. Spanisch: Verdad y limites del derecho natural, übersetzt von Ernesto Garzón Valdés. In: Dianoia, Mexiko, Buenos Aires 1964. Das Verhältnis der Tötungsdelikte zu den Körperverletzungen. Festschrift für H. von Weber, Bonn 1963, S. 242. Diskussionsbemerkungen zum Thema „Die Irrtumsregelung im Entwurf". ZStW 76 (1964) S. 619. Gesetzmäßige Judentötung? N J W 1964 S. 521. 10 Jahre Fulbright-Programm in Deutschland — Rede gehalten bei der Fulbright-Gedenkfeier 19. November 1962 — Bonn 1964. Vom Bleibenden und vom Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft. Marburg 1964; abgedruckt auch in: Erinnerungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 173. Ins Japanische übersetzt von Kanazawa. In: Seikeironshu, Bd. 15 (1966) S. 97 ff. Bemerkungen zu § 170 b StGB. Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1965, S. 395.

6

Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel

87. An den Grenzen des Reciits — Die Frage nach der Rechtsgeltung. Köln und Opladen 1966. Spanisch: El problema de la validez del derecho, übersetzt von Jose Maria Rodríguez Paniagua. In: G. Radbruch, E. Schmidt, H. Welzel, Derecho Injusto y Derecho Nulo, Madrid 1971. 88. Die deutsche strafrechtliche Dogmatik der letzten 100 Jahre und die finale Handlungslehre. JuS 1966 S. 421. Ins Japanische übersetzt von H . Ohno. In: Hogaku-Seminar, Nr. 138 (1967) S. 2 ff. 89. Einführung in die finale Handlungslehre (Vortrag vor Studenten). In: Nihon Hogaku (Journal of Law), Vol. 32 No. 2 (1966). 90. Ein unausrottbares Mißverständnis? Zur Interpretation der finalen Handlungslehre. N J W 1968 S. 425. 91. La doctrina de la acción finalista, hoy (spanisch). In: Anuario de derecho penal y ciencias penales, Madrid 1968, S. 221. 92. Gedanken zur „Willensfreiheit". Festschrift für Karl Engisch, Frankfurt 1969, S. 91. 93. Bemerkungen zur Rechtsphilosophie von Leibniz. Phänomenologie, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz. Festschrift für Gerhart Husserl, Frankfurt 1969, S. 201. 94. Die Entstehung des modernen Rechtsbegriffs. Der Staat 1969 S. 441. Spanisch: El nacimiento del moderno concepto del derecho, übersetzt von Enrique Bacigalupo. In: Problemas actuales de las ciencias penales y la filosofía del derecho, Buenos Aires 1970, S. 71. 95. Gedanken zur „Willenfreiheit" — Ein Nachwort. J Z 1970 S. 174. 96. Zur Dogmatik im Strafrecht. Festschrift für Reinhard Maurach, Karlsruhe 1972, S. 3. 97. Grenzen der Rationalität in der Rechtswissenschaft. Festschrift für Ernst Heinitz, Berlin 1972, S. 31. 98. Gedanken zur Begriffsgeschichte der Rechtsphilosophie. Festschrift für W. Gallas, Berlin-New York 1973, S. 1.

Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts FRANZ WIEACKER, G ö t t i n g e n

1. 1.

Die folgenden Bemerkungen gelten dem Verhältnis von Vertrag (contractus)

und vertraglicher Leistungspflicht (obligatio)

im klassi-

schen Vernunftrecht, das auf Begriff- und Systembildung der europäischen Rechtswissenschaft im 19. J h . einen so großen Einfluß gehabt hat. Sie beschränken sich, dem hier verfügbaren Raum entsprechend, auf eine Skizze aus den Leitschriften der beiden mitteleuropäischen Klassiker Grotius 1 und Pufendorf 2 . Doch ist für diese Zusammenhänge ein unerläßliches Verbindungsglied Thomas Hobbes 3 ; und auch Christian Wolff 4 kommt als Vermittler dieser Lehren an den späten Usus modernus und die Pandektenwissenschaft eine Bedeutung zu, die über seinen eigenen geistigen Rang hinausgeht. Selbst eine so bescheidene Deteilstudie wie diese darf sich Schritt für Schritt Hans Welzels grundlegenden Forschungen zum okzidentalen Naturrecht und im besonderen zum mitteleuropäischen Vernunftrecht verpflichtet fühlen. 2. Die Rechtstheorie des Vernunftsrechts ist auch in dieser Materie in ihrem doppelten historischen Kontext zu sehen. Einmal sind ihre Pioniere Grotius und Hobbes unmittelbare Erben der moraltheolo1 De jure Belli ac Pacis libri tres, in quibus jus naturae et gentium, item jura publica praecipue explicantur. Parisiis 1625 (hier nach der letzten Autorenauflage, 5. Ed., 1646); Inleydinge tot de hollandsdie Rechtsgeleertheit, Beschrewen by Hugo de Groot, 8. Aufl.; s'Gravenhage 1644; hier nach Dovring-Fischer-Mejers, Inieidinge etc. (Leiden 1952). 1 In unserem Zusammenhang: De jure naturae et gentium libri VIII (Editio secunda (Londae 1672); hier nach der Editio secunda (Francof. ad Moen. 1684); ferner der Abriß De officiis hominis et civis prout ipsa praescribuntur lege naturali (Londae 1673; hier nach der letzten von Pufendorf besorgten Ausgabe, ibid. 1682). 9 De cive libri III (Parisiis 1642). 4 Jus naturae methodo scientifica pertractum (Marb. 1745—1748); danach im Auszug: Institutiones juris naturae et gentium (ibid. 1750); ders. deutsch: Institutionen, worin alle Verbindlichkeiten aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange abgeleitet werden (1754).

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gisdien Tradition, der sie durch das M e d i u m der Spätscholastik ihre Themen, Fragestellungen und Argumente entlehnen, wie denn auch Groius trotz neustoizistisch-voluntaristischer Einschläge dem aristotelisch-thomistisdien Intellektualismus verpflichtet 5 , H o b b e s später Schüler des N o m i n a l i s m u s ist 6 . Aber noch P u f e n d o r f , der zentrale Systematiker des Vernunftrechts, hat bei allem Verblassen des ursprünglichen K o n t e x t e s unter den k r ä f t i g e n Zügen seiner neuen Anthropologie, die Elemente der Tradition durch Grotius' und H o b bes' Vermittlung weiterhin mitgeführt; und noch Christian Wolfis bürgerliche Pflichtenlehre bleibt ihr bei aller aufklärerischen Verwässerung verpflichtet 7 . A u f der anderen Seite ist im Vernunftrecht beständig auch der hermeneutische H o r i z o n t des jus commune gegenwärtig. Einmal w a r das jus commune v o n vornherein f ü r das forum externum der K a n o nistik vielfach verbindlich; und selbst in die Moraltheologie gingen Figuren, T o p o i u n d Argumente der Legistik ein. Z u m anderen griff d a s Vernunftrecht auch seinerseits selbständig auf die antiken Quellen des C o r p u s Iuris, die ältere Legistik und den nachmittelalterlichen Usus modernus zurück. Grotius' N o t e n a p p a r a t gibt einen ersten Überblick über die Proportionen dieser jeweiligen Einflüsse. D a s Vernunftrecht wurde damit z u m S t a p e l p l a t z f ü r den beständigen Austausch zwischen dem Philosophisch-Allgemeinen und dem Dogmatisch-Pragmatischen, der seit Q . Mucius das Grundgesetz der okzidentalen Rechtstheorie ist. D i e Produktivität, die das Vernunftrecht auch nach seiner Verdunkelung durch den kritischen Idealismus und den historischen Positivismus f ü r die Privatrechtsdogmatik bis heute bewahrt hat, ist wesentlich hierin begründet. 3.

Blickt das Vernunftrecht auf die Tradition zurück, so ist es doch auch eine neue Epoche, eine wirkliche R e f o r m a t i o n der Rechtstheorie. D a s N e u e liegt, wie längst erkannt, nicht in der Säkularisation eines von H a u s aus christlichen Naturrechts: die Unterscheidung eines ius divinum voluntarium und eines menschlichen jus positivum von einem idealen ius naturale w a r eine durchgängige Prämisse der platonisch5 Hierzu eingehend Welzel, Naturrecht u. materiale Gerechtigkeit 4 (1962; im folgenden = Welzel); Wieacker, Privatreditsgesdi. d. Neuzeit 2 (1967; i. F. = P G H ) 299; vgl. aber auch Erik Wolf, Große Reditsdenker 4 (1963) 257 ff. 8 Welzel a. a. O . 90, 115, 117 f.; Einflüsse der antiken Sophistik: 115 u. A. 2 ; 117 vgl. audi P G N 303; 252 A. 14 u. 15. 7 Statt aller Wundt, Dtsch. Sdiulphil. im Zeitalter d. Aufklärung (1945) 12 ff. u. ö.

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aristotelisch-thomistischen Tradition; und die berühmte Hyperbel Etsi daremus Deum non esse eine konventionelle Hypothese der Spätscholastik, und zwar gerade nicht der voluntaristisch-nominalistischen, sondern der rational-intellektualistischen 8 . Das Neue liegt auch nicht in einer Abkehr der protestantischen Wegbereiter des Vernunftrechts von der Einheit des Corpus Christianum. Grotius' enge Anlehnung an die mittelalterliche Moraltheologie und an die spanische und niederländische Spätscholastik zeigt, daß der Dialog beständig über die Konfessionsgrenzen hinausging; und die Absichten eines nachmittelalterlichen Völkerrechts zielten auf allen Seiten auf ein jus gentium, das im Wettbewerb des Entdeckungszeitalters und in den europäischen Kriegen für alle Konfessionen, ja selbst für die Ungläubigen verbindlich wäre 9 . Eher lag das Neue der Wegbereiter in der endgültigen Ausgliederung einer autonomen natürlichen Rechtstheorie aus der (katholischen oder protestantischen) Moraltheologie. Auch diese Verselbständigung hatte sich freilich längst im Verhältnis der scholastischen Philosophie der Artistenfakultät zur Moraltheologie, und im Verhältnis des forum externum zum forum conscientiae der Theologie vorbereitet 10 . Andererseits haben weder Althusius noch Grotius die Trennung zwischen moraltheologischer Tradition und natürlicher Rechtslehre ganz vollzogen. Erst Pufendorf und, unter anderen Prämissen, Christian Wolff haben dann, wie Welzel gezeigt hat, die Emanzipation der natürlichen Pflichten von den Glaubenspflichten in erregten Auseinandersetzungen durchgekämpft. Der Ertrag dieser Emanzipation war die Ubersetzung der überkommenen Theorien und Figuren in einen neuen ideologischen Code; 8 Zur Herkunft der Hyperbel (Gregor da Rimini, Gabriel Biel, Francisco de Vitoria, mit weiteren Nachweisen) Welzel 94 f. u. A. 15 u. 17. 9 Zur Entkonfessionalisierung etwa Reibstein, Die Anfänge d. mod. Völkerrechts (Bern 1949) 149 ff.; 177 ff.; Welzel, 111: zu den Grenzen der Vorstellung der Säkularisation in diesem Zusammenhang vgl. auch P G N 266 f.; 299. 10 So gerade für das Problem der Bindung an die promissio etwa Bonoaventura, Op. theol. selecta (Florentiae 1941) III disp, X X X I X art, 3 q. 1: Secundum forum ecclesiae juramentum tale (sc. der erzwungene Eid) est Obligatorium. Ecclesia judicat enim de his quae exterius obligare possunt. TJnde cum verba illa obligationem exprimunt, judicat juramentum ad id quod insinuât verbo obligare. In foro autem Dei qui judicat secundum secreta conscientiae et secundum veritatem, iste quidem non obligatur quia noluit obligare se ipsum; dazu Vaccari, Studi Ferrini I (Milano 1947) 418 ff.; vgl. ferner de Ghellinck, art. Gratien, in Dictionn de théologie cathol, VI (1920) 1727; Sx. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre (Cittàdi del Vaticano 1935) 313 ff.; Otte, Das Privatr. bei Francisco de Vitoria (1964 = Otte) 11 f. Andererseits halten noch die Ordensgeistlichen, Kanonisten und Legisten der spanischen Spätscholastik weiterhin an der scholastischen Zuordnung von Moral und Recht fest: Welzel 95 ff.; Otte 9 ff.

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sie gewinnen bei den vernunftrechtlichen Autoren einen neuen, und zwar jeweils nach den Interessen und Anlässen der Autoren verschiedenen Stellenwert. So verfolgt Grotius, den großen Spaniern folgend, den Aufbau eines interkonfessionalen Völkerrechts im Licht der besonderen Fragen des kolonialen Entdeckungszeitalters; Hobbes, hierin Ansätze der ,Politiker' des französischen Religionskrieges aufgreifend, die Legitimation der staatlichen Autorität im religiösen Bürgerkrieg; Pufendorf eine universale juristische Anthropologie und Christian Wolff die rationale Demonstration einer bürgerlichen Pflichtenlehre im aufgeklärten Absolutismus. 4. Im besonderen gilt dies nun auch für den veränderten Stellenwert der Begriffe contractus und obligatio. Im Gegensatz zum römischen Recht und zum europäischen jus commune sind sie nicht nur privatrechtliche Institutionen, sondern zugleich Schlüsselsymbole für die Begründung des natürlichen Gesetzes der consociatio humana und erhalten ihre Form von diesem Konstruktionszwang her. So ist der Sozialvertrag zugleich das notwendige konstruktive Scharnier zwischen dem status libertatis und dem status civilis; sind die rechtlichen Verhaltenspfliditen immer auch Erscheinungsform der allgemeinen Menschen- oder Bürgerpflichten, und die vertragliche obligatio also notwendig Abwandlung und nähere Bestimmung der Sozialpflicht durch individuelle Vereinbarung. Und wenn das Vernunftrecht der moraltheologischen und spätscholastischen Tradition näher steht als der legistischen: auch ihr gegenüber werden die alten Figuren der promissio und der Leistungspflicht (restitutio) nun in einem veränderten Kontext gebraucht. So verleugnet die vernunftrechtliche Vertragslehre als Theorie der promissio zwar zunächst nicht ihre Herkunft aus der Frage der Moraltheologie nach dem sittlichen Grund der Treue zum Versprechen, wird aber alsbald zur Grundfigur des Eigentumserwerbes und des Gütertausches in der natürlichen Gesellschaft. Ähnlich wird die obligatio, im Zusammenhang der Moraltheologie angesiedelt in der Frage nach dem Gerechtigkeitsgrund der Erstattung oder Sdiadenshaftung (restitutio), im Aufriß der vernunftrechtlichen Verhaltenspflichten zur primären vertraglichen Leistungspflicht. Nehmen so schon die Probleme der Moraltheologie in dem vernunftrechtlichen Kontext eine neue Farbe an, so erfahren vollends negotium, pactum, contractus, conventio und obligatio der römischen Quellen eine von Fall zu Fall wechselnde, oft nicht leicht zu durchschauende Metamorphose.

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II. Dieser neue Kontext bestimmt auch die sedes materiae, die Vertrag und obligatio im Systemgrundriß der Grundschriften des klassischen Vernunftrechts zugewiesen ist. Das ist zunächst für den (schuldrechtlichen) Vertrag zu zeigen, der seit Pufendorf die beherrschende Rangstelle in der Systemhierarchie gewinnt, die ihm in den naturrechtlichen Privatrechtskodifikationen und vollends in der Pandektenwissenschaft erhalten blieb. Diese Stelle kam der zweiseitigen Vereinbarung als solcher — mit der einzigen Ausnahme der justinianischen Institutionen (3,13 pr; nadi Gai Inst. III 89) — weder im römischen Juristenrecht noch im europäischen jus commune zu, dem — vielleicht abgesehen von der durch Donellus repräsentierten systematischen Richtung der Eleganten Jurisprudenz — eine allgemein formulierte Theorie des Vertrags, selbst nur des Schuldvertrags fremd blieb: sie ist wesentlich eine Errungenschaft des klassischen Vernunftrechts. Dies gilt erst recht für die moraltheologische Tradition bis hin zur spanischen Spätscholastik. Hier war der ursprüngliche Sitz der Vertragslehre das von der Moraltheologie zunächst für das forum conscientiae entwickelte und mit Modifikationen auf das forum externum erstreckte Problem der Gewissensbindung an den promissorischen Eid sowie an die uneidliche promissio11. Die vernunftrechtliche Vertragsdiskussion hat, bis über Pufendorf hinaus, diesen Ausgangspunkt niemals aufgegeben und sich deshalb auch spät von der Fixierung auf das einseitige Versprechen befreit (S. 16 f.). Dennoch nimmt die Vertragslehre in den vernunftrechtlichen Grundschriften überall eine neue, und zwar je nach deren Absicht und Arbeitsplan verschiedene Systemstelle ein. 1. In Grotius' De jure belli ac pacis ist ihr Erörterungszusammenhang bekanntlich das Kriterium des gerechten Kriegsgrundes: ,Kriegsanlaß ist Unredit, besonders gegen das was uns gehört' (II 1 § 1; cf. Prol. 347) 12 . Hiermit wird zu einer zentralen Inzidentfrage des Kriegs1 1 Aufriß dieses „spätmittelalterlichen Vertragsbildes" bei Diesselhorst. Die Lehre d. Grotius v. Verpredien (1959, i. f.: Diesselhorst) 4 ff. u. bes. 10 ff.; vgl. auch soeben A. 104. 12 PGN 291; über die spätsdiolastisdien Voraussetzungen Otte, 9 ff., über den Zusammenhang mit der moraltheologischen Begründung der Restitutionspflicht W. Trusen, Spätmittelalterl. Jurisprudenz u. Wirtschaftsethik in Vierteljahressdir. f. Sozial- und Wirtsdiaftsgesch. 43 (1961) 57 ff.; zuletzt Ambrosetti, Diritto privato ed economia, in La Seconda Scolastica nella formazione del dir. priv. mod. (Hsg. P. Grossi; Milano 1973) 35 f.; P. Grossi, ibid. 131 u. n. 30, 31, und zum Eigentum grundsätzlich 117-222; zu Grotius im besonderen Feenstra ibid. 393 u. A. 54 u. 56.

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Völkerrechts der natürliche Rechtsgrund der Entstehung von Sondereigentum; und dieser ist für den im heutigen status civilis weitaus überwiegenden derivativen Erwerb der Übereignungsvertrag. Das Modell der verbindlichen promissio mußte daher für Grotius — wie zuvor für seine Gewährsleute Molina und Lessius13 — die Eigentumszuwendung (alienatio) und ihre Annahme durdi den Empfänger werden (II 1 § 4) 14 ; und zwar um so mehr, als Grotius — im erklärten Gegensatz zum positiven jus commune — für die Ubereignung nach natürlichem Recht den Konsens genügen läßt und daher keinen Anlaß hat, bindende obligatio ad dandum und Übereignungsvollzug zu trennen 15 . Bei diesen Ausgangspunkten bedurfte es freilich noch einer Einordnung der Schuldverträge, die nicht die Ubereignung zum Gegenstand haben, sondern ein anderes zukünftiges Verhalten des Versprechenden: obligatio ad faciendum. Diese gelingt Grotius durch die Gleichstellung des Rechts auf Handlungen einer anderen Person mit dem Recht auf eine Sache (II 1 § 2 . . . aut id quod nobis debetur sive ex pactione sive ex maleficio; II 2 § 1 Eius quod nostrum est divisio . .. aut ad rem corporalem aut ad actum aliquod, cf. II 2 § 1 Nr. 1). Grotius beruft sich hierfür (in dem zweiten Beleg) allerdings auch auf die systematische Nebentradition der justinianischen Institutionen von den res incorporales und dem ius quod ad res (incorporales) pertinet (Inst. II 2 § 2 = Gai II 13: incorporales quae in iure consistunt sicut obligatioms quoquo modo contractae); bestimmender für ihn war aber wohl, daß das altnaturrechtliche Freiheitspostulat — im Gegensatz zur totalen Selbstunterwerfung — die vertragliche Übertragung von fVieiheltspartikeln' auf einen Gläubiger gestattet 16 . Quae perfecta ls

Ober diese ausführlich Diesselhorst a. a. O. 31 ff. Über Rechtsübertragung als neue „zentrale Versprediensfigur" bei Grotius Diesselhorst 35. 15 D i e dogmatischen Konsequenzen für den Doppelkauf bei Grotius II 12 § 15, 2: der erste Kauf hat in se praesentem dominii translationem. Per hanc enim facultas moralis (dazu bei A. 16 u. 17) in rem abitt emptori; ebenso bei Pufendorf III 7 § 10 (hier im Zusammenhang der anfänglichen Unmöglichkeit: Geschuldetes kann man nidit noch einmal versprechen) und Chr. Wolff (Inst. § 594). Über die Folgerungen für das jus ad rem der naturrechtlichen Kodifikation H . Brandt, Eigentumserwerb u. Austauschgeschäft (1941) 84 ff.; Dubischar, Die Grdl. d. schuldsystemat. Zweiteilung (1963) passim; P G N 310 u. A. 31; zum romanischen Konsensprinzip vgl. ebd. 343. u Diesselhorst 41, vielleicht in der Konsequenz „seiner stoisdichristlidien natürlichen Theologie" (Diesselhorst 51). 17 Ebenso in der Inleidung III. Van Inschuld. Erster Deel: Vande verbintnissen in'f gemeen. § 1. Wy hebben gezeit dat de ander stuk van tobehoer is inschuld, t'weeck wy beschreiben hebben te zijn t' recht van tobehoere, dat den eene mensch heeft op den ander om van hem eenige zake oft daed (Handlung) to genieten. 14

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promissio (sc. ad faciendum) similem habet effectum qualem alienatio dominii. Est enim aut via ad alienationem rei aut alienatio particulaé nostrae libertatis (II 11 § 3) 17 . Schon dem Grotius gestattet diese Anlehnung der obligatio ad faciendum an die übereignende Zuwendung ad dandum gleichsam im Vorbeigehen die Übernahme der aristotelisch-thomistischen Tauschgerechtigkeit (iustitia commutative) und des Postulats des gerechten Gegenwerts (aequalitas) für actus aliis utiles extra more beneficos; die Kriterien hierfür entlehnt er der Wert- und Preislehre der antikscholastischen Ökonomik (II 12 1 sqq.). Während aber dieses Lehrstück für Pufendorfs universale Rechtstheorie eine zentrale Stellung gewinnt, bleibt es in Grotius' kriegsrechtlichem Zusammenhang rudimentär und im wesentlichen auf das zwölfte Kapitel des zweiten Buches beschränkt. 2. Für Hobbes ist sedes materiae der promissio und acceptatio (De cive I 2) folgerichtig nicht der (für ihn in diesem Zusammenhang wenig interessante) derivative Eigentumserwerb, sindern die Konstruktion des Unterwerfungsvertrags, der den friedlosen status libertatis in den positiven status imperii überführt. Als später Zögling des Nominalismus greift auch Hobbes unmittelbar auf die scholastische Tradition der promissio zurück, die indessen durch diese neue Funktion beständig in einen tendenziösen Rechtspessimismus umgefärbt ist18. Eine unmittelbare Wirkung auf die weitere vernunftrechtliche Vertragstheorie mußte diese Tendenz unmöglich machen: denn von hier führte kein Weg zum verpflichtenden konsensualen Austauschvertrag, da ja Hobbes im status libertatis Versprechen künftiger (also Verbatim übernommen ist Grotius De jure II 2 § 3 bei Pufendorf III 5 § 7 i. f.: inde promissio est vel via ad alienationem nostrae rei vel quasi alienatio particulae cuiusdam de nostra libertate. In der gleichen Tradition bestimmt bekanntlich noch Savigny die Obligation als Recht auf die „Handlungen einer anderen freyen Person". Systematisch ermöglichte die Nebenordnung von obligatio und ius in re corporali die vernunftrechtlichen Kodifikationen des Vermögensrechts (ius quod ad res pertinet: Gai II 13 = Inst. II 2/2), in denen Obligationen- und Erbrecht als modi per quos nobis adquriitur dem (singulären) Eigentumserwerb zur Seite gestellt werden; vgl. statt aller PGN 332 (ALR), 337 (ABGB) u. 343 (CC.). Dogmatisch ermöglichte sie dem Vernunftrecht die Behandlung der Forderung als Gegenstand, nämlich als res incorporalis und damit die Zulassung der freien vertraglichen Zession unter Aufgabe der romanistischen Hemmungen: statt aller Luig, Zur Gesch. d. Zessionslehre (1969) 40 ff., Die Ausgangspunkte liegen in Donellus' Erkenntnis der Zession als selbständiges Ubertragungsgeschäft kraft voluntas transferendi (Luig 16ff.); die Gleichsetzung der Forderung mit dem Eigentum ermöglichte dann die übereinstimmende Anwendung des Konsensprinzips auf Obereignung und Zession. 18

Uber die zugrundeliegende Tradition Welzel

115 ff.; vgl. auch PGN 304 f.

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auch künftiger gegenseitiger) Leistungen für unverbindlich hält (S. 17). Gleichwohl hat Hobbes durch Pufendorfs Auseinandersetzung mit seiner Versprechenslehre mittelbar weitergewirkt, da Pufendorf seine Polemik an der Übernahme einzelner Elemente des Hobbesschen Modells nicht gehindert hat. 3.

Pufendorfs De jure naturae et gentium libri VIII (1672) übernehmen zunächst, freilich bereichert durch Hobbes, Grotius' promiss/o-Doktrin; auch die zugrundeliegende moraltheologische und spätscholastische Tradition ist Pufendorf wesentlich nur durch diese beiden modernen Gewährsleute zugekommen19. Aber ein entscheidender Neueinsatz verändert die sedes materiae der Vertragslehre von Grund auf. In Pufendorfs anthropologischem Entwurf einer natürlichen Gesellschaft gewinnt der individuelle gegenseitige Vertrag die beherrschende Rangstelle unter den Gleidiordnungsverhältnissen des 3—5. Buches; denn er ist das Vehikel des durch die menschliche imbecillitas gebotenen und also natürlichen Güteraustauschs. Zwar läßt auch Pufendorf mit Grotius die (durch acceptatio perfizierte) promissio ad dandum mit der alienatio selbst zusammenfallen und übernimmt von ihm ausdrücklich die Analogie der promissio ad faciendum mit der p. ad dandum (III 5 § 7 u. ö., vgl. Anm. 17). Aber da sein Interesse nicht mehr dem Eigentumserwerb als Vorfrage des gerechten Krieges gilt, sondern dem Güteraustausch der natürlichen menschlichen Ökonomik, tritt die alienatio hinter den pacta und gegenseitigen Verträgen nun zurück: sie ist (zusammen mit der erbrechtlichen Gesamtnachfolge, IV 10 u. 11) im dritten bis zehnten Kapitel des vierten Buchs als traditionelles Lehrstück in einen größeren Entwurf eingesprengt, der, ausgehend von der natürlichen Gleichheit (III 2), den allgemeinen Sozialpflichten (promiscua officia humanitatis, III 3), und spezieller der fides servanda (III 4), über die promissio (III 5) schnell zum mutuus consensus übergeht (von III 6 an), der von da an also an die Stelle der älteren Lehrstücke promissio + acceptatio tritt 20 . Während sodann zu Beginn des vierten Buches in traditioneller Folge, aber unter neuen Gesichtspunkten, vom sermo und dem promissorischen Eid gehandelt wird und danach der Eigentumserwerb folgt, wird dann im fünften Buch das Kernstück der Aus1 9 Das Abreißen der direkten spätsdiolastischen Tradition bestätigt jetzt das Fehlen dieser Quellen in der Zusammenstellung der Zitate Pufendorfs bei Denzer, Moralphilosophie u. Naturrecht bei S. Pufendorf (1972) 331 ff. (346 ff.). 2 0 Dazu Hägerström (Hsg. K. Olivecrona), Rechtspflidit u. bindende Kraft d. Vertrages (Stockholm 1965) 72 f.

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tauschverträge ausgebreitet. Einer detaillierten Wertlehre ( V 1 De pretio), die erst jetzt ganz ihren funktionsgerechten Ort gefunden hat (S. 18), folgt der so folgenreiche Durchbruch zu einer neuen Klassifikation der Schuldverträge, die die alten Vertragskategorien des jus commune sprengt und durch eine materiale Einteilung nach ihrer Interessenstruktur ( b e n e f i c i , onerosi, mixti, partiarische und fiduziarische) und ihrem wirtschaftlichen Leistungsinhalt (bis zum Detail der alaeorischen und der modernen Assekuranzverträge, V 9) ersetzt 21 . Dem schließen sich weit über die Spätscholastik hinausführende Beiträge zum Aufbau eines allgemeinen Obligationenrechts a n : so die Erfassung der Sicherungsgeschäfte ( V 1 0 ) als Modifikationen der Schuld selbst und die Klassifikation der Vertretungsformen und der Endigungsgründe der Obligation (V 11). Die Triebkraft dieser bahnbrechenden systematischen Leistung, welche die Grundlage für das Obligationenrecht der deutschen Vernunftrechtsgesetzbücher und noch der Pandektenwissenschaft schuf, war jene neue, durch soziale wie historische Erfahrung gesättigte Anthropologie, in der die uralten Figuren der socialitas und imbecillitas nicht mehr als Universalien der menschlichen Gattung, sondern als Qualitäten des empirischen Menschen verstanden sind 22 . Die Voraussetzung hierfür war, nach der Emanzipation von der Moraltheologie, die Übertragung von Galileis und Descartes' methodischem Zusammenspiel von observatio und deductio auf das Natürliche System der menschlichen Gesellschaft und Kultur. Christian Wolfis Institutiones iuris Naturae et gentium libri IV (1750) bringen in diesen Materien keinen weiteren Gewinn: in dem einschlägigen zweiten Buch (De dominio et juribus et obligationibus inde nascentibus) schreibt Wolff kurzerhand zum Eigentumserwerb (II —5) den Grotius, zum Schuldredit (II 6—20) den Pufendorf, und zwar bis ins Detail, aus.

III. Auch für die Substanz der Vertragslehre, nämlich den Geltungsgrund der Vertragsbindung und die Akte, welche diese Bindung begründen, konnten die vernunftrechtlichen Leitschriften nicht aus dem jus commune schöpfen, das weder für den Rechtsgrund der vertraglichen Verpflichtung noch für den Mechanismus der Vertragsschlie21

Uber Pufendorfs

Obligationensdiema Wenn,

Das Sdiuldrecht

Pufendorfs

(Gött. masdiinensdir. Diss. 1956) und, grundsätzlich, jetzt Diesselhorst. 8 2 So P G N 3 0 7 ; etwas abweichend Erik Wolf G R 347, der in ihnen eine „ontologische Wesensbestimmung des Menschen zur sozialen Person", also entia moralia, sieht. Vgl. zu der Frage zuletzt Denzer (Anm. 19) 9 2 — 9 6 .

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ßung allgemeine Begriffsmuster bereithielt. Vielmehr schloß sich, wie bekannt, das Vernunftrecht zunächst eng an die moraltheologische, ursprünglich für das forum conscientiae entwickelte Lehre von der Verbindlichkeit der promissio an. Das hatte dreierlei Folgen. Einmal: Die Frage nach dem natürlichen Geltungsgrund des Vertrags fiel auch noch für das Vernunftrecht zunächst zusammen mit der Frage nach dem moralischen Grund der Bindung an das Versprechen. Ferner: der Vorgang der Vertrags Schließung wurde vorerst nicht als mutuus consensus, sondern als acceptatio der einseitigen promissio formuliert. Und endlich: der Inhalt der Vertragspflicht bestimmte sich nicht nach der Gestalt der Rechtsschutzmittel oder den Vertragskategorien des römischen-gemeinen Rechts, sondern nach Ausmaß und Grenzen der Zurechnung des Versprechens an den promissor. Hierin lag zunächst eine lästige Erbschaft der Moraltheologie, dann aber auch die Chance zur Uberwindung der gemeinrechtlichen Kasuistik und zu einer allgemein formulierten Theorie der vertraglichen Leistungspflicht (unten S. 20). 1. Grotius' Lehre vom Versprechen nahm, wie Diesselhorsts schöne gleichnamige Untersuchung gezeigt hat, den moraltheologischen Bestand wesentlich durch Vermittlung des Molina (geb. 1535) und des Niederländers Lessius (geb. 1559) auf 23 . In diesem Bestand verbanden sich das spezifisch moraltheologische Gebot der Wahrhaftigkeit und fides nach dem Vorbild der Verläßlichkeit des ,treuen Gottes' 24 , und andererseits die thomistisdie Rezeption der aristotelischen Zurechnungslehre (Eth. Nicom. V 1131 b, 27—1133 b, 12). Diese beiden Traditionen sind bei Grotius angereichert durch die Auseinandersetzung mit dem stoizistischen Romanisten Connanus ( 1 5 0 8 bis 1551) 2 5 , durch humanistische loci aus Plato, Cicero und H o r a z und durch Rückgriff auf das (tendenziös umgedeutete) römische Pektenedikt (D 2, 14) und das constitutum debiti ( D 13, 5, 1 ; cf. D 50, 17, 84 § 1). Über all diese testimonia gibt der Notenapparat der letzten von Grotius selbst besorgten Ausgabe ( 1 9 4 2 ) erwünschte Auskunft.

Auch die Dreistufigkeit der promissio (Mitteilung der Versprechensabsicht, Versprechensakt [pollicitatio] und Bekundung der Absicht, ein Recht des Versprechensempfängers zu begründen, durch äußere Dazu grundlegend Diesselhorst 4—20. Zur Tradition der Weisheit Salomonis (bei Soto wohl: 6, 16—19; bei Grotius expressis verbis 6, 1 u. 2) Diesselhorst 30 u. A. 59. 25 Diesselhorst 31 f.: nach Connanus erzeugen pacta jure naturali überhaupt keine Obligation, nach jus gentium — abgesehen von den Konsensualverträgen, für die C. also den römischen Quellen folgt — nur re secuta. 23 24

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Zeichen) wird von Grotius getreu der Moraltheologie entlehnt 26 ; wie denn dieses Lehrstück seelsorgerischer Herzensergründung weiterhin auch dort mitgeführt wird, wo es im vernunftrechtlichen Bezugssystem keine eigene Funktion mehr hat. Dagegen kommt in der Lehre von der verbindlichen Kraft äußerer Zeichen, von der Geltungskraft des sermo und von der Auslegung ein Verständnis der rechtsgeschäftlichen Erklärung als sozialer Kommunikationsakt zum Ausdruck27, das auf die stoische Sprachphilosophie zurückgeht und zugleich bis in die gegenwärtige Rechtstheorie hinein fruchtbar bleiben sollte28: Rechtswirkungen können nicht durch bloße animi motus erfolgen, wenn sie nicht durch äußere Zeichen ,hinlänglich' bekundet werden; denn es ist ,der Menschennatur nicht gemäß', dem bloßen Willen äußere Wirkungen beizumessen — mögen auch Worte und Zeichen nicht verbürgte Gewißheit, sondern nur vernünftige Wahrscheinlichkeit begründen (II 11 passim). Daß Grotius auch das Zustandekommen des Vertrages nicht nach dem näherliegenden Muster des römischen pactum, Konsensualvertrags und der conventio (D 2,14,1 § 3 Ulp/Ped) konstruiert, sondern als acceptatio einer einseitigen promissio, lag zwar in der Tradition der promissio, wird aber offenbar dadurch begünstigt, daß Grotius das Leitbild des Vertrags in der Eigentums- und R e c h t s ü b e r t r a g u n g sieht (S. 12): damit das Recht übergehe, muß die promissio angenommen werden (II 11 §§14 sqq.). 2.

Da Hobbes' Vertragsmodell (De cive I 2) sich am Herrschaftsvertrag orientiert, faßt es den Vertrag nidit als Vereinbarung, sondern als Rechtsaufgabe. Im Gegenteil macht Hobbes' tendenziöser Pessimismus gegen die Möglichkeit künftiger vertraglicher Bindung im bellum omnium contra omnes des status libertatis (II 1 §§ 6 sq.)29 den gegenseitigen Schuldvertrag als naturrechtliches Grundmodell gerade untauglich: er ist im status libertatis nur bei sofortiger Erfüllung von beiden Seiten wirksam, kann also eine zukünftige Verbindlichkeit nicht begründen. Da auch einseitige Versprechen auf künftige Leistung (pacta) nur bei Vorleistung des anderen Teils verpflichten und erzwingbar überhaupt erst nadi ius civile sind: I 2 §§ 9 sqq., kann man sagen, daß es in der Sache für Hobbes im status naturalis 2 ' Über die mittelalterlichen Grundlagen der Stufentheorie bei Thomas und besonders in Cajetans Thomas-Kommentar (12, 16—19) Diesselhorst 47 ff. 27 Wir folgen hierin also Diesselhorsts Interpretation (a. a. O. 34, 36, 414 f.; 51). 28 Vgl. P G N 293 f. 28 A. a. O., 304 f. u. A. 7; vgl. auch Anm. 18.

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praktisch überhaupt keine 'bindenden' Verträge gibt. Dem entsprechend ist übrigens audi der Eid bei nichterzwingbaren Verträgen nutzlos, bei erzwingbaren überflüssig. 3. Pufendorfs Vertragslehre ist zunächst mit Entlehnungen belastet. Von Grotius übernimmt er die Lehre von der promissio30, sogar mit Einschluß der Polemik gegen Connanus (S. 16; III 5 § 9), und die Angleichung der promissio ad jaciendum an die p. ad dandum (III 5 § 1 i. f.). Dazu kommt aber eine folgerichtige Auseinandersetzung mit Hobbes' Einschränkung der Vertragsbindung (1. c. §§ 2—7): denn die Unmöglichkeit künftiger Verpflichtung vor dem Herrschaftsvertrag hätte Pufendorfs ganzer natürlichen Vertragslehre den Boden entziehen müssen. Im übrigen tritt aber zufolge der Orientierung Pufendorfs am Güteraustausch in der natürlichen Gesellschaft der gegenseitige Vertrag (contractus onerosus, SuiXevqe?) ganz in den Vordergrund, und es verdrängt dementsprechend der mutuus consensus (III 6) die promissio und acceptatio.

IV. Einen durchgreifenden Funktionswandel erfährt im Vernunftrecht auch die obligatio; dieser Wandel ist es, der den Keim zur pandektenwissenschaftlichen und noch der modernen Theorie der vertraglichen Leistungspflicht gelegt hat. In den römischen Quellen fand das jus commune zwei verschiedene Konzeptionen der vertraglichen obligatio vor: in den justinianischen Institutionen (3,13,2; nach Gai I I I 86) die einfache Dichotomie der obligationes quae ex contractu und quae ex delicto nascuntur; in den großen Quellenmassen der Digesten und des Codex dagegen einerseits die Unterscheidung der actiones in rem und in personam und andererseits die mannigfachen Klassifikationen der zivilen und honorarischen Vertragsklagen und die nähere Bestimmung des Inhalts der Leistung nach der Gestalt dieser Aktionen, besonders den Gegensatz zwischen stricti iuris und bonae fidei iudicia31. Aber auch die moraltheologisch-scholastische Tradition bot für die allgemeine Formulierung und für die nähere Klassifikation der verVgl. S. 14. Es ist für die neuen Intentionen des ausgereiften Vernunftrechts kennzeichnend, daß sich Pufendorf gerade dagegen wendet: Nobis isthanc divisionem expedire... placet non tarn prout origines obligationum, sed earum efficacia innuit, quam in vita communi obtinent (De jure Nat. III 4 § 5). 30

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Die vertragliche Obligation

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traglichen Leistungspflichten nur geringe Ansätze. Sie begründete zwar objektiv die Leistungspflicht (bei den entgeltlichen Verträgen) durch die von der iustitia commutativa gebotene aequlaitas der Leistungen nadi den Kriterien der antik-mittelalterlichen Werttheorien. Aber der weiteren Verallgemeinerung stand im Wege, daß die Moraltheologie die Leistungspflicht in der Regel nur unter dem Gesichtspunkt der Erstattung (restitutio) wegen Unrechts, besonders Eigentumsverletzung, erfaßte, und daß sie überhaupt noch in der Spätscholastik über eine Moralkasuistik kaum hinausgelangte. D i e romanistische und die moraltheologische Tradition selbst begegneten sich zwar in der Herkunft des Schemas contractus / delictum aus derselben aristotelischen Imputationslehre, aus der die Scholastik schöpfte, und in der entfernten Beziehung der bona fides und des prätorischen pacta servabo zum moraltheologischen fides-Gebot, also in den subjektiven Begründungen der Versprechenstreue. Dagegen stand die objektive Begrenzung der Vertragsgerechtigkeit der gegenseitigen Leistungspflicht durch Tauschgerechtigkeit und aequalitas (S. 13) und die Berücksichtigung der ausula rebus sie stantibus in der scholastischen und kanonistisdien Tradition wie im Vernunftrecht (Grotius II 11 § 6; Pufendorf V 11 § 10; vgl. auch III 8 De conditionibus) zum ius strictum der römischen Quellen in scharfem Gegensatz 32 .

2.

Auch der vernunftreditliche Obligationenbegriff steht im ganzen der moraltheologischen Uberlieferung näher als der romanistisdien. Denn auch für die vernunftrechtlichen Autoren ist die obligatio bei der einseitigen promissio durch die moralische Wahrheitspflicht begründet (S. 16), und beim gegenseitigen Vertrag, dem Pufendorf sein Hauptinteresse zuwendet, durch die aequalitas zugleich begründet und begrenzt. Aber die Einordnung dieser Prinzipien in ein allgemeines System der Vertragspflichten war für sie dadurdi sehr erschwert, daß weder die Moraltheologen noch die Romanisten einer solchen allgemeinen Theorie vorgearbeitet hatten. Für die Anknüpfung an die römischen Quellen war es besonders hinderlich, daß das Vernunftrecht die obligatio ad faciendum nicht so sehr mit den Institutionen (3,13pr) als iuris vinculum quo necessitate adstringimur alieuius solvendae rei (in scharfem Kontrast zum nostrum esse, vgl. D 44,7,3 pr Paul 2 inst.) auffaßte, denn als alienatio einer particula nostrae libertatis. Audi mußte die für die römische Obligatio sekundäre Unterscheidung des dare oportere und des facere oportere für das Vernunftrecht, dem 82 Hierzu statt aller PGN u. A. 51—54 (Grotius), 311 (Pufendorf); zu den Auswirkungen bis in die Gegenwart 482, 520, 527.

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das dare oportere mit der Eigentumsübertragung zusammenfiel (S. 12), eine prinzipielle Bedeutung gewinnen. 3. Je mehr endlich das Vernunftrecht im Ius naturale ein System natürlicher Rechte und Pflichten in der consociatio humana sah, desto mehr mußte es auch die vertraglichen Leistungspfliditen in die allgemeinen oificia humanitatis einfügen. Da Grotius' Yertragslehre in erster Linie auf die translatio dominii blickt, wird dieser Sdiritt erst bei Pufendorf und Christian Wolff getan. a) Pufendorf, der zu Beginn des dritten Budies die Vertragspfliditen ausdrücklich aus den officia humanitatis entwickelt, unterscheidet unter den Menschenpflichten zwischen allgemeinen officia, die aus den pacta congenita, d. h. aus dem anfänglichen Gesellungsvertrag erfließen, und den besonderen Pflichten, die durch pacta adventicia (III 4 § 3), gleichsam durch ergänzenden individuellen Gesellschaftsvertrag, aus den allgemeinen officia konkretisiert und so gewissermaßen in die allgemeinen officia transponiert werden (III 3; III 4 §2). b) Dies übernehmen Christian Wolffs Institutiones juris Naturae et gentium um so williger, als sie ihren Grundabsiditen nach ja geradezu eine bürgerliche Pflichtenlehre sind. Auch Wolff stellt innerhalb der natürlichen Menschenpflichten gegen den einzelnen Mitmenschen (officia hominis erga singulas) den iura hominum in generali gegenüber als ius proprium die obligatio facto hominis interveniente orta, d. h. die deliktische oder vertragliche Pflicht : Ex antea dictis porro manifestum erat praeter jus et jura connata dari quoque obligationes facto hominis interveniente ortas et jura per eos acquisita (I 3 § 100). Auf diese Weise versteht auch "Wolff in voller Abkehr von dem noch im neueren Usus modernus gewahrten Aktionensystem der römischen Hauptquellen die vertragliche Obligatio als konkretisierte mitmenschliche Verhaltenspflicht und integriert sie damit in seinen Gesamtentwurf einer natürlichen (genauer bürgerlichen) Pflichtenlehre. Man darf sagen: eben diese Einordnung der Vertragsobligation in ein System allgemeiner ethischer Verhaltenspfliditen hat den Weg gebahnt zur Auffassung des vertraglichen Schuldverhältnisses als eines durch allgemeine Rechtspflichten bestimmten Verhältnisses zwischen den Partnern gegenseitiger Verträge, die sidi erst in unserem Jahrhundert in der Anerkennung allgemeiner Rücksichts- und Schutzpflichten völlig durchgesetzt hat.

Die vertragliche Obligation

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IV Die Klassiker des Vernunftrechts schlössen sich mehr an die moraltheologisdi-scholastische Tradition an als an die romanistische. Zwar gab es kaum ein Problem, eine Lösung und ein Argument, das nicht schon in der ungeheuren Traditionsmasse des jus commune, in den Texten des Corpus Iuris, in der Glosse, bei den Konsiliatoren und dem Usus modernus wäre gedacht worden. Gleichwohl ist — vielleicht abgesehen von den Systematikern der Eleganten Jurisprudenz, zumal von Donellus — erst den vernunftrechtlichen Klassikern die Kristallisation dieser fließenden Masse in ein komplexes natürliches System des Schuldvertrags gelungen: angedeutet bei Grotius, voll entfaltet bei Pufendorf und doktrinär ausgetrocknet bei Christian Wolff. Aus der mittelalterlichen und spätscholastischen Sozialphilosophie hat dagegen das Vernunftrecht einen festen Bestand von Doktrinen unmittelbar übernommen: die Figuren der promissio und acceptatio, die subjektive Begründung der Bindung an das Versprechen aus der Gewissenspflidit zu Wahrhaftigkeit und Treue, die objektive Bestimmung der Leistungspflicht im gegenseitigen Schuldvertrag durch Tauschgerechtigkeit und Leistungsgleichgewicht (aequalitas). Aber auch diese Ansätze hat erst das Vernunftrecht zu einer zusammenhängenden Doktrin der vertraglichen Leistungspflicht organisiert. Zwar hatte schon die klassische Scholastik in Thomas' Summa ein konsistentes System der Sozialethik geschaffen; aber die Nachfolger hatten, teils im Bann des Nominalismus, teils unter dem Zwang der praktischen Aufgaben und Probleme dieses Erbe wieder in der Kleinmünze der Moralkasuistik oder der Detaildiskussion verzettelt 33 . Die Spätscholastik hatte dann, als Antwort auf die Herausforderungen der Glaubensspaltung und des Entdeckungszeitalters, diesen Bestand lebendig erneuert, durch neue Erfahrungen bereichert und mit alledem die Anfänge des modernen Völkerrechts begründet; doch hat sie weder Moraltheologie und natürliche Redhitstheorie ganz getrennt 34 noch eine autonome und allgemein formulierte Theorie des Schuldvertrags entwickelt 35 . Demgegenüber hat bereits Grotius begonnen, die promissio-Doktrin zu einer Theorie des Rechtsgeschäfts auszuM

Treffend Otte (Anm. 10) 11 f. 11; vgl. auch 47 u. ö. Oben Anm. 10 a. E. vgl. Otte 9 ff. 35 So faßt noch der Begründer der Spanischen Spätscholastik Francisco de Vitoria die dinglichen und obligatorischen Rechte nur unter dem besonderen Gesichtspunkt als dominium zusammen, daß sie alle durch Diebstahl verletzt werden können (Relecciones theologicae. Lugd. 1557, q. 62, art. 1 n. 8: nach Otte 12 f.): auch hier im Zusammenhang der spezifischen Frage der Moraltheologie nach dem Gerechtigkeitsgrund der Restitutionspflicht; vgl. oben Anm. 12. 34

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bauen, und vollends Pufendorf sie zu einer umfassenden Systematik der vertraglichen Schuldverträge umgebildet. Das klassische Vernunftrecht ist auch hierin Wegbereiter der modernen positiven Rechtswissenschaft geworden. Pufendorfs Konzeption erreichte, in doktrinärer Verkürzung durch Christian Wolff dessen so stumpfen wie tüchtigen juristischen Schülern vermittelt, die Gemeinrechtswissenschaft am Vorabend und in den Anfängen der historischen Reditsschule. Die Stellung des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts im Pandektensystem, Savignys Bestimmung der Obligation als eines Rechts auf die Handlung einer anderen „freyen Person", die bis in die Gegenwart fortwirkende und beständig verfeinerte Auffassung des Schuldverhältnisses als umfassende wechselseitige Pflichtenordnung zwischen den Vertragspartnern: dies alles wäre wohl nicht möglich, hätten nicht die Klassiker des Vernunftrechts die scholastischen Lehrstücke promissio und acceptatio, fides, restitutio und aequalitas und die romanistischen Figuren contractus, pactum, conventio, consensus, fides bona und obligatio mit geistiger Entdeckerfreude in ein neues autonomes System des natürlichen Schuldrechts eingeschmolzen.

Über Freiheit und Sicherheit THOMAS W Ü R T E N B E R G E R ,

Freiburg

Seit jeher ist es die große Aufgabe der Staatsgewalt, mit den Mitteln des Rechts Ordnung und Sicherheit im Gemeinwesen zu gewährleisten und dem einzelnen ein Mindestmaß an Freiheit zu verbürgen. Die Gesdiichte der Völker lehrt jedoch, daß es den staatlichen Machthabern nicht zu allen Zeiten geglückt ist, Aufruhr und Gewalttat erfolgreich zu bekämpfen und den Frieden im Lande zu bewahren. Sowohl im Mittelalter als auch in der Epoche des modernen Territorialstaats gab es immer wieder politische Situationen, wie z. B. während der Religionskriege, in denen der Staat seinen Untertanen kaum noch die lebensnotwendige Sicherheit und Freiheit erhalten konnte. Unter starkem Druck einer solchen politischen Lage hat im 17. Jahrhundert Thomas Hobbes angesichts des englischen Bürgerkrieges, der das Land in ein Chaos zu stürzen drohte, darüber nachgedacht, wie im Kampf gegen Willkür und Gewaltübung die wachsende Unsicherheit im Innern und die Störung des Rechtsfriedens zu bannen seien. In seinen Schriften versuchte Hobbes, auf der Basis seiner eigenständigen Anthropologie und mit Hilfe vernunftrechtlicher Erwägungen die Legitimität der Herrschermacht in der Auseinandersetzung zwischen Recht und Gewalt tiefer zu begründen. Dabei leitete ihn nicht zuletzt die Hoffnung, es möge dem Herrscher gelingen, zum Nutzen des Landes und aller Bürger Ordnung, Sicherheit und Freiheit zu garantieren. Es ist kein Zufall, daß in unserer Gegenwart die Rechts- und Staatstheorie von Hobbes in einem fast unübersehbaren Schrifttum zum Gegenstand der Interpretation und Kritik geworden ist. Wenn heute Mensch und Staat im täglichen Geschehen immer mehr mit Gewalt, Terror und Willkür konfrontiert werden, gilt es für Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, sich wie zu Zeiten eines Thomas Hobbes mit dem hohen Rang von Freiheit und Sicherheit für das Dasein des einzelnen wie der Gemeinschaft erneut zu beschäftigen.

I. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch ein der Freiheit fähiges Wesen. Ohne Freiheit kann sich menschliches Dasein nicht erfüllen. Denn zum Wirken in der Welt bedarf der einzelne eines angemessenen Aktionsraumes. Diese anthropologische Einsicht kommt in Art. 2 Abs. 1 G G zum Ausdruck, wonach jeder ein Recht auf freie Entfal-

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tung seiner Persönlichkeit besitzt. Was jedoch das Wesen der Freiheit letztlich ausmacht, ist keineswegs selbstverständlich. Vielmehr herrscht bei der Bestimmung menschlicher Freiheit oft eine beklagenswerte Begriffsverwirrung. Sicher ist, daß Freiheit nie als ungezügelte Willkür des Individuums begriffen werden darf. Eine Entfesselung völliger Freiheit würde den Menschen zum Sklaven seiner Triebhaftigkeit machen und müßte zu Gewalt und Verbrechen, zu Unrecht und Chaos führen. Jede Verabsolutierung individueller Freiheit wirkt den Interessen der Gesellschaft entgegen und gefährdet den Bestand des Staates. Nicht zuletzt wäre eine solche Deutung des Freiheitsbegriffes unvereinbar mit dem Wesen des Rechts und dem Sinn seiner Ordnung. Denn Freiheit als Lebensform des Menschen ist nur auf dem Boden und im Rahmen des Rechts möglich. Die menschliche Freiheit bedarf stets einer rechtlichen Regelung. Die Unterwerfung unter Rechtsregeln bedeutet aber Bindung der Freiheit an soziale Werte und Zwecke. Mit Fug ist heute die sozialgebundene Freiheit ein wichtiger Maßstab der Rechtsgestaltung und Rechtsanwendung. Im Gegensatz zu dem allzu individualistisch verstandenen Freiheitsbegriff des liberalen Rechtsstaates des 19. Jahrhunderts gewinnt jetzt im Geiste der vom GG geforderten Sozialstaatlichkeit die Vorstellung einer am sozialen Gedanken orientierten Freiheit ein weites Feld. Eine weitere Voraussetzung für ein rechtliches Freiheitsverständnis ist der schon von I. Kant ausgesprochene Gedanke, daß der Freiheitsraum des einen in Wechselbeziehung zur Freiheitssphäre des anderen steht. Auf die knappste Formel brachte diesen Sachverhalt Fichte, wenn er vom „Beisammenstehen der Freiheit mehrerer nach einer Regel" sprach. So beruht Freiheit letztlich auf der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten, die schon in der berühmten „Goldenen Regel" zum Ausdruck kommt. Diese Gegenseitigkeit ist nicht nur eine rechtsanthropologische Kategorie, sondern auch eine rechtsethisdie Grundnorm. Diese fordert nadi Hegel, „daß jeder einzelne von dem anderen als ein freies Wesen respektiert und behandelt werde". Jedoch darf die Freiheit im Sinne solcher Gegenseitigkeit nicht nur auf die Freiheit des Nächsten bezogen werden. Vielmehr ist es auch die Gesellschaft als Ganzes, an deren Existenz und Wohl die Freiheit des einzelnen sich orientieren muß. So verkündet mit Recht das Bundesverwaltungsgericht (Bd. 14, S. 25), daß die freiheitlichen Grundrechte keineswegs nur dem einzelnen zu seiner Verfügung eingeräumt seien, sondern ebensosehr „in seiner Eigenschaft als Glied der Gemeinschaft und im öffentlichen Interesse". Wird die sozial verstandene Freiheit als rechtliches Grundprinzip verstanden, so ist zugleich Vorsorge für den Fall des Mißbrauchs menschlicher Freiheit zu treffen. Denn wer sein eigenes Freiheits-

Über Freiheit und Sidierheit

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streben zum Nachteil seiner Mitmenschen rücksichtslos einsetzt, beeinträchtigt dadurch nicht nur deren garantierte Freiheitssphäre, sondern gefährdet zugleich auch den Bestand des Ganzen. Immer wieder unternimmt es der einzelne, sich gegen Staat und Gesellschaft aufzulehnen, in den Bereich des Nächsten einzudringen und Gesetz und Recht zu mißachten. Die Erlebnisse der Gegenwart bestätigen jene Erfahrungen früherer Zeiten in vollem Umfang, denken wir an die Zunahme von Terrorakten und die Intensivierung der Gewaltübung, aber auch an die anarchistischen Verlockungen, die im Namen einer falsch verstandenen Freiheit des angeblich „mündig" gewordenen Menschen uns begegnen. Der individuelle Freiheitsraum erweitert sich heute fast ins Ungemessene mit der Folge, daß der einzelne die Orientierung an der Realität des Lebens mehr und mehr verliert. In der Bindungslosigkeit des Daseins nehmen Isolierung und Vereinsamung vieler Menschen zu. Die wachsende Freizeit in ihrer Leere und Langeweile wirkt sich ebenso wie Alkohol und Rauschgift nachteilig auf das Sozialverhalten aus. Die engen zwischenmenschlichen Beziehungen, die einst in Gemeinschaften wie der Familie herrschten, lösen sich angesichts des ungehemmten Emanzipationsstrebens junger Menschen auf. Diese Auswüchse und Mißstände eines zügellosen menschlichen Freiheitsdranges beeinflussen nicht zuletzt Gestalt und Ausmaß mancher Verbrechensformen wie vor allem Mord, Brand und Raub. Fragen wir, welche Machtinstanz heute die Aufgabe hat, die mit solchem Mißbraudi menschlicher Freiheit zutage tretenden Gefahren zu bannen und Terror, Gewalt und Verbrechen wirksam zu bekämpfen, so ist weder an die Selbsthilfe des einzelnen noch an den Einsatz gesellschaftlicher Mächte zu denken. Vielmehr ist die im Staate verfaßte Reditsgemeinsdiaft dazu berufen, die sozial verstandene Freiheit gegen jede, ihre Existenz und Wirksamkeit bedrohende Mißachtung zu verteidigen und die einzelnen wie das Ganze gegen den Einbruch von Gewalt, Unrecht und Verbrechen zu schützen. Die Legitimität des Staates zu einer schlagkräftigen Bekämpfung des Mißbrauchs menschlicher Freiheit wird erhöht, wenn wir wissen, daß der Staat auch der Garant der Sicherheit sowohl des einzelnen wie der Gesamtheit ist. Im Bewußtsein, daß menschliche Freiheit ohne gleichzeitig verbürgte Sicherheit nicht leben kann, gilt es, nicht nur wie bisher der Freiheit, sondern nunmehr auch der Sidierheit volle Beachtung zu schenken.

II. Gleich der Freiheit ist auch die Sicherheit eine unerläßliche Voraussetzung und Grundlage des Menschseins überhaupt. Der einzelne darf

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nicht den Halt der Sicherheit verlieren, will er als Mensch bestehen. Welch große Bedeutung die Sicherheit für die Entwicklung des Menschen besitzt, zeigt sich schon zu Beginn seiner Existenz im Raum der Familie. Dort besitzt das Kind im Verhältnis zur Mutter jenes Urvertrauen, das die unentbehrliche Basis eines normal verlaufenden Sozialisationsprozesses darstellt. Vertrauen ist jedoch nichts anderes als eine besondere Form der menschlichen Sicherheit. In unserer Zeit ist das Bedürfnis nach Sicherheit besonders groß. Die vom einzelnen erwartete Sicherheit bezieht sich nicht nur auf das Geistige, sondern auch auf wirtschaftliche und soziale Bedingungen, die ein menschenwürdiges Dasein gewährleisten und die individuelle Entfaltung fördern sollen. So sehr in einem Sozialstaat gerade die Mehrung der sozialen Sicherheit im Vordergrund steht, so ist andererseits unbestreitbar, daß die „Sicherheitsbilanz" des Menschen heute immer wieder aus dem Gleichgewicht gerät. Mehr als einst ist der einzelne der Ungesichertheit seiner Gesamtexistenz ausgeliefert. Nicht nur in der subjektiven Empfindung, sondern auch nach objektiv feststellbaren Maßstäben leben wir in einem Zeitalter allmählichen Schwundes an Sicherheit. Statt eines Vertrauens auf den Halt einer als selbstverständlich geltenden Sicherheit ist das Gefühl der Angst und Ohnmacht angesichts einer höchst ungewissen Zukunft weit verbreitet. Analysiert man die Gründe des Verlustes an Sicherheit in unserer Zeit, so gehen bedrohliche Gefahren von der Natur, von der Technik und vom Menschen selbst aus. Die massivste Existenzbedrohung ist der Krieg, jedoch auch im Frieden sind es vor allem die Zunahme krimineller und politischer Gewaltübung und die Verbreitung psychischen Terrors, aber audi eine Reihe durch die Technik hervorgerufener Lebensgefährdungen, was immer mehr fühlbar den Zustand wachsender Unsicherheit der heutigen Existenz ausmacht. Bei der Suche nach den Triebkräften eines solchen Sicherheitsverlustes sollte nicht übersehen werden, daß in der Natur des Menschen, schon aufgrund seiner konstitutionellen Weltoffenheit, der Zwiespalt zwischen Ordnung und Chaos angelegt ist. Anders als das Tier wird der Mensch kaum durch Instinkte gelenkt, sondern er muß sein Verhalten stets an höchst unsicheren Zukunftsperspektiven orientieren, will er sein Dasein in der Welt erfolgreich gestalten. In seiner inneren Entscheidungsnot kann der einzelne sich nicht mehr wie früher an der unverrückbaren Ordnung von Werten und Zielen ausrichten. Gerade der Mangel an verpflichtenden Leitbildern vermehrt die Unsicherheit im heutigen menschlichen Verhalten. Angesichts eines solchen stetigen, oft als existenzbedrohend empfundenen Dahinschwindens menschlicher Sicherheit müssen Gesellschaft und Staat mit wirksamen Mitteln des Rechts und der Politik die Angst und Unsicherheit unter den Staatsbürgern

Uber Freiheit und Sicherheit

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zu bannen suchen, indem sie diesen einen wirksamen Schutz ihres Lebens, ihrer Gesundheit und ihrer Freiheit verschaffen. Dies bedeutet nichts geringeres, als daß im Bereich gesellschaftlicher und staatlicher Prioritäten die Gewährleistung der inneren Sicherheit unseres Gemeinwesens mit an erster Stelle stehen müßte.

III. Die Bekämpfung der Gewalt, des Unrechts und des Verbrechens ist innerhalb des Staatswesens in erster Linie Aufgabe der Polizei. Das Programm der Bundesregierung f ü r Erhaltung und Stärkung der „Inneren Sicherheit" (1971) lautet: „Der gesetzliche Auftrag der Polizei, die innere Sicherheit zu gewährleisten, umfaßt neben den Aufgaben im Straßenverkehr vor allem die Bekämpfung der Kriminalität. Aktuelle Schwerpunkte sind vor allem die Gewaltkriminalität, die Wirtschaftskriminalität, die Jugendkriminalität und die Rauschgiftkriminalität. Zur Kriminalität zählt auch die zunehmende politisch begründete Anwendung von Gewalt. Sie bedroht eine der wertvollsten Errungenschaften der rechtsstaatlichen Ordnung, die die gewaltsame Durchsetzung persönlicher oder politischer Interessen ausschließt. Bestrebungen, die die freiheitliche, demokratische Grundordnung beseitigen wollen, hat die Polizei mit allen gesetzlich vorgesehenen Mitteln zu begegnen. Die Aufgaben der Polizei sind dabei unteilbar; sie hat sowohl die Rechte des Bürgers als auch die verfassungsmäßige Ordnung uneingeschränkt zu schützen." Die sachgerechte Erfüllung dieses gesetzlichen Auftrages der Polizei wird jedoch dadurch beeinträchtigt, daß die gegenwärtige Krise des Rechts- und Staatsbewußtseins auch das Wirken dieser Institution ergriffen hat. Im Bemühen um ein neues Selbstverständnis muß die Polizei sich auf Wesen, Richtung und Grenzen ihrer von Verfassung und Recht gebotenen Schutzaufgaben ernsthaft besinnen. Dazu besteht um so mehr Anlaß, als jüngst vom Präsidenten des Bundeskriminalamtes Dr. Herold gefordert wurde, die Polizei müsse künftig auch an der Veränderung der Rechts- und Gesellschaftsordnung aktiv teilnehmen. Das Recht der Polizei, die öffentlidie Ordnung und Sicherheit zu erhalten, schließe die Befugnis ein, diese mitzugestalten. Die Polizei sei nicht nur „Objekt bloßer Vollstreckung des Staatswillens", sondern müsse auch „Subjekt der Gesellschaftsveränderung" werden. In einer „mobilen" Gesellschaft habe sie den demokratischen Prozeß nicht zu kupieren, sondern in seinem gewaltlosen Ablauf zu sichern, der durch den entwicklungshemmenden rechtlichen „Uberbau" von Gesetzen und Verordnungen verzögert werde. Mit diesem Vor-

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schlag eines radikalen Zielwandels würde jedodi die Polizei vieles von jenem preisgeben, was sie in Wahrheit schützen sollte: nämlich die Stabilität der freiheitlichen Ordnung, wie sie im Grundgesetz zum Ausdruck kommt. Alles Handeln der Polizei muß, wie immer schon, auch künftig eng an Gesetz und Verfassung gebunden sein. Nur unter dieser unerläßlichen Voraussetzung ist sie ein echtes Instrument zur Bewahrung des Rechtsstaats. Überdies ist der Polizei, deren Hauptaufgabe der Schutz der heute bestehenden Rechtsordnung ist, die Funktion eines in die Zukunft blickenden Gesetzgebers versagt, abgesehen davon, daß „Gesellschaftsveränderung" wohl das letzte sein dürfte, was der in seiner Sicherheit und Freiheit bedrohte Staatsbürger von der Polizei erwarten würde. Außer der Polizei kommt der staatlichen Strafrechtspflege die Aufgabe zu, der vielgestaltigen Rechtsgüterordnung einen weithin wirksamen Schutz angedeihen zu lassen. Angesichts der Entwicklung und des Ausmaßes der heutigen Kriminalität erhalten die vom Strafgesetz vor Angriff und Verlust zu bewahrenden Grundwerte der Freiheit und Sicherheit des einzelnen erhöhten Rang. Dasselbe gilt für den zu schützenden Bestand des Staates und seiner Ordnungen wie auch für die Erhaltung des Friedens in der Gemeinschaft. Im Ganzen gesehen hat sich angesichts der bedrohlichen Zunahme von Gewalt und Terror nicht nur in der BRD die kriminalpolitische Landschaft verändert. Auf der Konferenz der Direktoren der Kriminologischen Institute beim Europarat in Straßburg war Ende 1972 davon die Rede, daß der im letzten Jahrzehnt fast überall bemerkbaren Tendenz zur „Liberalisierung" des Strafrechts nunmehr aus zwingenden Gründen Einhalt zu gebieten sei. Zur erfolgreicheren Abwehr von Gewalt, Terror und Verbrechen ist u. a. zu erwägen: eine Erhöhung der Strafdrohungen für Raub, Nötigung und Erpressung, die Schaffung neuer Straftatbestände für Aufforderung zu Gewalttaten und Darstellung von Gewaltübung in den Massenmedien, ferner ein strengeres Waffenrecht und die Reform des Haftrechts zur wirksameren Bekämpfung der Wiederholungstäter. Des weiteren wäre im Zuge der künftigen Reform des Besonderen Teils des Strafrechts zu prüfen, ob das vor kurzem aufgrund des 3. Strafrechtsreformgesetzes neugestaltete Demonstrationsstrafrecht nicht bereits insofern veraltet ist, als es sidi in erster Linie an den studentischen Demonstrationen der Jahre 1968 und 1969 orientiert, jedoch die inzwischen neu auftretenden erheblidien Gefährdungen des öffentlichen Rechtsfriedens nidit berücksichtigt. Im Bereich der künftigen Reformbestrebungen ist schließlich zu berücksichtigen, daß der Gedanke der Sicherheit in Staat und Gesellschaft in bestimmten Gegenwartssituationen den Vorrang vor der Wahrung individueller Freiheit haben muß. Von einzelnen Lan-

Über Freiheit und Sicherheit

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desjustizministerien wurde vor einiger Zeit erwogen, die Verbreitung von Schriften, Ton- und Bildträgern, die eine Anleitung zu Gewaltdelikten enthalten, künftig unter Strafe zu stellen. Dagegen wandte der hessische Justizminister Hempfler ein, eine solche Straf Vorschrift sei verfassungsrechtlich unhaltbar, da der Strafgesetzgeber sich im Zweifel immer für die Wahrung der Meinungs- und Informationsfreiheit entscheiden müsse. Bedenken erregt in dieser Begründung zunächst die oberflächliche, im Grunde nichtssagende Formel: „in dubio pro libertate". Hier wird übersehen, daß die mit jenem Gesetzesvorschlag beabsichtigte Intensivierung des Kampfes gegen Gewalt und Terror letztlich auch dem Schutz und der Entfaltung menschlicher Freiheit dient. Deshalb muß bei einer sorgfältigen, am Grundgesetz orientierten Abwägung der Werte der notwendigen Erhöhung der Sicherheit größeres Gewicht beigemessen werden als der Ausübung des Grundrechts der Meinungs- und Informationsfreiheit. Aber eine noch so große Stärkung der Position der Polizei und alles Streben nach Reformierung des Strafrechts reichen allein niemals aus, um eine entscheidende Wendung zugunsten eines erfolgreichen Kampfes gegen Gewalt, Terror und Willkür herbeizuführen. Wie schon Thomas Hobbes wußte, ist die Erziehung des Menschen zur Achtung von Freiheit und Sicherheit des Nächsten sowie zur Wahrung des Friedens in der Gesellschaft ebenso wichtig wie die Anwendung jener rechtlichen Mittel der Staatsmacht. Nur wenn Wollen und Handeln des einzelnen durch soziale Verantwortung bestimmt wird, kommt es zu jener sozialen Solidarität unter den Mensdien, die letztlich allein einen auf Dauer berechneten Frieden in Staat und Gesellschaft zu garantieren vermag. In einer pädagogischen Hinführung des Staatsbürgers zu Recht, Gerechtigkeit und Humanität soll nicht zuletzt auch die Bildung des individuellen Rechtsgewissens unterstützt werden. Das Wesen des Rechtsgewissens offenbart sich in der stillschweigenden Anerkennung des Gesetzes der Rechtsgemeinschaft und in der steten Respektierung der Person des anderen und seiner Güter. Der Frieden in Staat und Gesellschaft ist aber nur zu bewahren, wenn Redit und Sittlichkeit, die allzu lange getrennt voneinander gesehen wurden, wieder enger zusammenwachsen. Neben der Macht des Rechts sind auch Sitte und Moral soziale Ordnungssysteme, die gerade in einer Epoche der Auflösung aller Werte aufs neue zu befestigen sind. In Familie und Schule, in Nachbarschaft und Arbeitswelt ist dem Nachlassen der normativen K r a f t des Sittlichen entgegenzuwirken und die für das Ganze verderbliche Rechtsfremdheit zu überwinden. Nur auf dem festen Fundament eines solchen Rechtsethos kann unsere staatliche Gemeinschaft künftig bestehen und dem einzelnen Freiheit und Sicherheit verbürgen.

Bemerkungen zum Verhältnis von Recht und Politik HEINRICH H E N K E L , f r ü h e r H a m b u r g

I.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort „Politik" im Zusammenhang mit allen nur denkbaren menschlichen Lebensbereichen verwendet (z. B. Handels-, Unternehmens-, Vereins-, Familien-, Heiratspolitik). Einen spezifischen Gehalt gewinnt der Begriff erst in Verbindung mit einem bestimmten Sachbereich, der Gegenstand einer in bestimmter Absicht unternommenen Betrachtung ist. Demgemäß kommt es zunächst darauf an, im Hinblick auf unser Thema den Begriff der Politik und des Politischen zu spezifizieren und zu umgrenzen 1 . Es ist naheliegend, sich dabei demjenigen Begriff zuzuwenden, den die Staatslehre entwickelt hat: Politik als staatliches Handeln, das sich auf einen staatlichen Zweck bezieht 2 . Dieser Begriff erweist sich jedodi für unser Betrachtungsgebiet als zu eng. Zwar hat, wenn eine menschliche Sozietät sich zum Staat gestaltet und in ihm organisiert hat, die von ihr und für sie ausgeübte Politik ihren Schwerpunkt in der Tat im staatlichen Bereich. Doch deckt sich die Reichweite dessen, was im Hinblick auf unser Thema als Politik verstanden werden sollte, nicht vollkommen mit diesem Bereich. Zunächst ist zu bedenken, daß der konkrete Staat mit seinen Einrichtungen aus einer ihm vorgegebenen Substanz des Politischen und aus der aus ihr hergeleiteten politischen Gestaltungstätigkeit erwächst, daß es ferner Politik in legitimem Sinne auch in der außerstaatlichen Sphäre der Gemeinschaft 1 Nur am Rande sei vermerkt, daß ein allgemeiner Begriff des Politisdien sich nicht aus dem positiven Recht im nationalen, inter- und übernationalen Bereich als Rechtsbegriff gewinnen läßt. Zwar wird hier die Bezeichnung „politisch" häufig verwendet (z. B. politische Beamte, politische Delikte, politische Prozesse, politische Staatsakte, politische Verträge). Sie dient dazu, eine spezifische Qualität des geregelten Gegenstandes hervorzuheben und vom Unpolitischen zu unterscheiden. Dies geschieht jedodi in den verschiedensten Zusammenhängen und mit untersdiiedlidien Sinngehalten, so daß sich auf positivrechtlidier Eebene ein einheitlicher Begriff des Politischen nicht ergibt. — Eingehend dazu: Wengler, Der Begriff des Politisdien im Internationalen Recht, Recht und Staat H e f t 189/190, S. 7; Grewe, Zum Begriff der politisdien Parteien, Festg. f. E. Kaufmann (1950), S 78.

* So in der Sache übereinstimmend, wenngleich mit unterschiedlichen Formulierungen: Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1914), S. 13; Fleiner, Politik als Wissenschaft (1917) S. 4; Triepel, Festg. f. Kahl (1923), S. 17; Smend, daselbst S. 22.

Heinrich Henkel

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gibt (z. B. als solche der politisdien Parteien, Unternehmer- und Arbeiterverbände). Andererseits ist festzustellen, daß nicht alles Handeln im staatlichen Bereich, nicht einmal dasjenige der staatlichen Organe schlechthin, als politisch charakterisiert werden kann, z. B. nicht rein technische Verwaltungsregelungen. Es empfiehlt sich daher für unsere Betrachtung, in einem ursprünglicheren Sinn den Bezugspunkt der Politik und des Politischen in der Lebenseinheit von Menschengruppen zu sehen, wie sie sich in der Sozietät mit umfassender Lebensordnung, aber auch im Zusammenschluß größerer Gruppen mit partiellen Lebensregelungen inter- und übernationaler Art darstellt. Allerdings bedarf es einer Einschränkung: nicht alles Handeln, das sich auf das Sozialleben in diesen Gruppen bezieht, ist politisch. Als ein solches wird man, um einen für unsere Zwecke brauchbaren Begriff zu erhalten, nur dasjenige Handeln bezeichnen dürfen, das auf Herstellung, Erhaltung und Förderung der Existenz der Gruppe gerichtet ist3. Die Sphäre der Politik in dieser Begrenzung umfaßt die leitende und gestaltende Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Gemeinschaft im Hinblick auf die existentiellen Grundlagen ihres Soziallebens4. Haben wir auf diese Weise den Gegenstandsbereich der Politik in großen Zügen umgrenzt, so fragt sich, welches Element die politische Tätigkeit ihrem Inhalt, Sinn und Zweck nach maßgeblich kennzeichnet. Vielfach wird hier auf das Phänomen der Macht hingewiesen, sei es in deren Erscheinungsform als staatliche Macht5, sei es in der Erweiterung auf den gesellschaftlichen Bereich als Machtaustrag zwischen gesellschaftlichen Gruppen 6 . Der Hinweis auf das Machtelement in der Politik ist naheliegend, und sicherlich darf dieses geradezu als ein konstitutives Element der Politik insofern bezeichnet werden, als Machtbesitz eine Voraussetzung und Grundlage jeder politischen Aktivität darstellt. Dabei ist zu bedenken, daß Machteinwirkung in den verschiedensten Graden zu verstehen ist, beileibe nicht nur als Ausübung von Zwang, sondern auch und vorzüglich als geistige Machteinwirkung 7 . 3

Ubereinstimmend Leibholz in: Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. III, S. 111; Grewe, Festg. E. Kaufmann (1950), .S 73. 4 Vgl. Scheuner, in: Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. III, S. 135. 5 So z.B. Fleiner, a . a . O . S.4: Politik als „alles staatliche Handeln, das darauf hinausläuft, staatliche Macht neu zu bilden, die bestehende Macht zu erhalten oder sie zu bestimmten Zwecken zu verwenden". * In diesem Sinne insbes. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S. 835: Politik als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb des Staates zwischen Menschengruppen, die er umschließt". 7 Dazu des Näheren Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie (1964), S. 78 ff.

Bemerkungen zum Verhältnis von Recht und Politik

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So wichtig nun auch der Hinweis auf das Machtelement für eine faktisch-soziologisciie Erklärung des Phänomens ist, so sagt sie doch nichts über den Gehalt einer an sinnvollen Zwecken ausgerichteten Politik aus. Wollte sie auch dies intendieren, so wäre damit eine pervertierte Erscheinungsform der Politik gekennzeichnet: reine Machtpoltik als Machtansammlung und Machtausübung um ihrer selbst willen 8 . Indem diese ein im Dienst der Politik stehendes Mittel zum Selbstzweck erhebt, verfehlt sie den wahren Sinn und Zweck der Politik, dessen Kennzeichnung einstweilen noch offenbleiben soll. Jedenfalls darf gesagt werden, daß soziologische Deutungen auf Grund des Machtelements zwar zum Verständnis der Effektivität von Politik beitragen, jedoch nichts zum Verständnis der Teleologik der Politik, die nur an Wert- und Richtigkeitsmomenten ausgerichtet werden kann. Dieser Einwand gilt in verstärktem Maße für diejenige Auffassung, die das eigentliche Wesens- und Lebenselement der Politik im Kampf erblickt9, eine Auffassung, die ihren radikalsten Ausdruck darin gefunden hat, daß man die äußerste Gegensätzlichkeit der FreundFeindgruppierung geradezu als das Kennzeichen des Politischen schlechthin bezeichnet hat 10 . Wiederum handelt es sich hier darum, daß in realistischer Betrachtung ein existentielles Element der Politik in aller Schärfe hervorgehoben wird, ein Element jedoch, das die im Politischen enthaltene Gefahr der Entzweiung deutlich macht, die immer und überall die Zielsetzung echter Politik zu gefährden droht. Wollte man die Freund-Feind-Gruppierung und ihren kämpferischen Austrag als Leitziel politischer Tätigkeit aufstellen, so müßte dies letztlich im Inneren der Sozietät zum Bürgerkrieg zwischen den politischen Gruppen, nach außen in der letzten Konsequenz zum Krieg der Sozietäten untereinander führen. Der Hinweis auf das Moment der Gegensätzlichkeit in der Politik kann also vernünftigerweise nur als Warnsignal dienen und dazu mahnen, die im politischen Leben realiter hervortretenden Gegensätze dadurch zu relativieren, daß sie zu einem Wettstreit gemäßigt werden, bei dem es letztlich um die Herstellung und Erhaltung eines Zustandes der Befriedung, der Verträglichkeit, des Miteinanderauskommens geht11. 8

Insofern ist die oben Anm. 5 angegebene Definition Fleiners bedenklich. So. M. Weber, Gesammelte politische Schriften (1921), S. 415. 10 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1933). 11 Im gleichen Sinne: Krüger, Allgemeine Staatslehre (1964), S. 682; Scheuner, a . a . O . S. 135; Grewe, a . a . O . S. 74; Dolf Sternberger, Begriff des Politisdien (1961); M. Müller, Philosophische Grundlagen der Politik, Festschr. f. E.Wolf (1962), S. 282 ff. — Auch C. Schmitt, a. a. O. S. 27/28, hebt die Notwendigkeit der Einigung und Befriedung für die Innenpolitik hervor, läßt aber in außenpolitischer Hinsicht entsprechende Aspekte vermissen (17/18). 9

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Ist damit das Ziel der Politik bezeichnet, so fragt sich, unter welchen leitenden Gesichtspunkten dieses Ziel zu erstreben ist. Den Ausgangspunkt bildet eine sozial-anthropologische Überlegung: Wie der Einzelne auf Grund seiner Seinsverfassung gehalten ist, sein persönliches Leben durch Selbstbestimmung zu gestalten und zu ordnen, so ist er als gesellschaftlich lebendes Wesen darauf angewiesen, für dieses Zusammenleben eine Ordnung zu gestalten, welche überhaupt erst die Möglichkeit des Miteinanderseins und der Kooperation der Einzelnen begründet und die Bedingungen für ein erträgliches und verträgliches Zusammenleben schafft. Es geht hier um die Aufgabe und den Prozeß einer ständigen Selbstverwirklichung der Sozietät, durch die sie ihr Sozialleben gestaltet, sichert und erhält, indem sie ein für die Mitglieder maßgebliches und verbindliches Ordnungsgefüge errichtet, an dem sie ihr Verhalten innerhalb der Sozietät auszurichten haben. In seiner Gesamtheit können wir dieses Gefüge als Sozialordnung bezeichnen. Ein erheblicher Teil dieser Ordnung umfaßt Bereiche, die wir als unpolitisch auffassen (z. B. Sitte, Sozialmoral). Zwar nicht genau abgrenzbar, aber doch in seinen Wesenszügen charakterisierbar hebt sich als politische Ordnung derjenige Teilbereich ab, den wir vorwegnehmend als die Sphäre der durch planende Tätigkeit leitenden und gestaltenden Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Gemeinschaft gekennzeichnet haben. Doch ist es nicht damit getan, eine Ordnung des Soziallebens und Sozialverhaltens überhaupt zu errichten. Soll diese Ordnung dem Ziel eines befriedeten, verträglichen und menschenwürdigen Zusammenlebens dienen, so muß sie darauf angelegt sein, sich unter einem obersten Wertmaßstab als „richtig" zu legitimieren, wobei „richtig" im Sinne des Sozialangemessenen zu verstehen ist. Dieser oberste Wertmaßstab läßt sich als Gemeinwohl bezeichnen, jedoch nicht in einer Definition erfassen, sondern nur in eingehender Beschreibung seiner Merkmale und Kriterien darstellen. Auf den komplexen Gehalt des GemeinwohlbegrifFes in dieser Weise näher einzugehen, ist an dieser Stelle unmöglich 12 . Immerhin mag folgendes angedeutet werden: Gemeinwohl als fordernde Idee, als Richtpunkt alles sozialen Handelns, bezeichnet ein Ethos, von dem jegliches gesellschaftliche Verhalten und Zusammenwirken getragen sein soll. Es erfordert das Zustandebringen eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen Allgemeininteresse und Einzelinteresse, welche einander wechselseitig bedingen und durchdringen, und zwar in der Weise, daß zwar das erstere, um die auseinanderstrebenden Einzelinteressen zu binden, einen gewissen Vorrang beanspruchen darf, jedoch mit der Maßgabe, daß dem Indi11

Dazu eingehend Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 365 ff.

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vidualwohl ein Eigenwert zugestanden wird und jeder Einzelne seinen verhältnismäßigen Anteil an dem aus der gesellschaftlichen Kooperation sich ergebenden Bestand an materiellen, geistigen und sonstigen Gütern erhalten soll. Läßt sich auf diese Weise aus dem Gemeinwohlbegriff ein Richtliniengehalt gewinnen, so bleibt jedoch die entscheidende Frage offen, was in einer bestimmten geschichtlichen Lage einer bestimmten Sozietät das nach dieser Richtlinie Sozialangemessene, was das konkrete Gemeinwohl sei. Dieses läßt sich nur auf Grund konkreter Entscheidungen bestimmen, die zwar, um sozialrichtig zu sein, auf den wesenhaften Grundlagen des Gemeinwohls beruhen müssen, jedoch nur nach Maßgabe der besonderen Verhältnisse und Anschauungen der jeweiligen Sozietät zu betreffen sind. Hierzu gehören unter anderem die ökonomischen Bedürfnisse und wirtschaftlichen Zustände, der kulturelle Status, die geistig-sittliche Verfassung der Sozietät, aber auch ihre Umweltbedingungen im Verhältnis zu anderen Sozietäten. Erst durch eine solche Konkretisierung des sozialen Leitziels wird die zunächst als transzendente Idee bestehende Gemeinwohlvorstellung in den realen Bereich der bestimmten Sozietät hineingerückt und hier zum immanenten Faktor der Sozialgestaltung. Das Bemühen um die Erfassung und größtmögliche Verwirklichung des Gemeinwohls, dessen konkrete Gehalte und Anforderungen sich im unaufhörlichen Wandlungsprozeß der Sozietät selbst mitverändern, charakterisiert jene dauernde Aufgabe der Sozietät, ihr Leben in einer für sie maßgeblichen Sozialordnung zu gestalten und zu verwirklichen. Speziell im Hinblick auf die Aufgabe und Tätigkeit der Politik ist damit folgendes zum Ausdruck gebracht: Als sozialrichtiges Handeln kann sie sich nur legitimieren, wenn sie sich an die Idee des Gemeinwohls als ihr normativ bestimmendes Leitziel gebunden fühlt. Ihr sind die existentiellen Entscheidungen darüber aufgegeben, was unter den gegebenen Bedingungen einer bestimmten Sozietät als Gemeinwohl zu beurteilen und wie es zu verwirklichen sei. Innerhalb einer „offenen" Gesellschaft vollzieht sie sich als praktisch-politische Willensbildung in einem Prozeß ständiger Auseinandersetzung, die in den modernen Gesellschaften vorwiegend von den politischen Gruppen auf Grund der programmatischen Richtlinien ihrer politischen Ideologien geführt wird.

II. Nachdem wir den Gegenstand, den wir innerhalb unserer Thematik dem Recht in einer grundsätzlichen Betrachtung gegenüberstellen wollen, andeutend umrissen haben, können wir nunmehr auf das Ver-

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hältnis von Recht und Politik eingehen, eine Frage, die ebenso bedeutsam für das rechts- und staatsphilosophische Verständnis wie für die Praxis des Rechts- und Staatswesens ist. In der Diskussion zu diesem Thema wird vielfach die Alternative gestellt: Primat des Redits oder Primat der Politik. Ein klarer, unbedingter Primat des Rechts bestand nach den Lehren vom absoluten Naturrecht in der Vorstellung, es gebe auf Grund der göttlichen Schöpfungsordnung oder der Naturordnung eine dem Menschen einsichtige, allgemein und überzeitlich gültige rechtliche Grundordnung allen menschlichen Zusammenlebens. Das so gedachte Naturrecht stellt das grundlegende und maßgebende Modell für alle menschlichen sozialen Ordnungen dar; es enthält die überpositiven Maßstäbe für alles Sozialhandeln. An dieser Grund- und Rahmenordnung ist dann ebenso wie das positive Recht auch die Politik auszurichten; sie hat die naturrechtlichen Prinzipien und Normen zu konkretisieren und zu vollziehen. Mit einem Wort: die Politik steht unter dem Primat des Naturredits. Diese Auffassung scheitert jedoch daran, daß es, wie die kritische Auseinandersetzung mit den Vorstellungen eines absoluten Naturrechts ergeben hat, keine universal-überzeitlich gültigen Sätze gibt, aus denen die Direktiven für konkretes Handeln, unmittelbar anwendbare normative Inhalte, entnommen werden könnten13. Was diesem Naturrecht an Prinzipien, Maximen, Richtlinien zugerechnet wird, hat entweder reinen Blankettcharakter oder gewinnt jedenfalls die Fähigkeit zur unmittelbaren Anwendung auf den Einzelfall erst durch die Ausfüllung mit konkreten Inhalten, verliert aber dadurch den universalen Charakter, indem daraus allenfalls ein Naturrecht mit wechselnden Inhalten erwächst. Ist also die Vorstellung eines absoluten, statischen Naturrechts nicht mehr tragfähig, so entfällt damit auch der daraus hergeleitete unbedingte Primat des Rechts gegenüber der Politik. Die entgegengesetzte Annahme eines Primats der Politik liegt den immer wieder hervorgetretenen Lehren zugrunde, die von einem „Recht des Stärkeren" ausgehen und im Ergebnis auf eine Begründung und Rechtfertigung reiner Machtpolitik hinauslaufen. Hier erscheint dann das Recht lediglich als Mittel der Politik, das als solches den Zwecken der Politik dienstbar sein soll. Es wird nicht als soziales Phänomen mit eigengesetzlichen Prinzipien, Richtlinien und Funktionen anerkannt, sondern in eine der Politik untergeordnete Rolle verwiesen und derart in die Funktion und in den Prozeß der politischen Lenkung des Gemeinwesens vollständig eingeschmolzen. Unter 13

Vgl. dazu Henkel, a. a. O. S. 407 ff. mit Sdirifttumsangaben S. 409 Anm. 2.

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den vielerlei Mitteln politischer Lenkung stellt hier das Recht nur ein, und zwar wegen seiner Zweckdienlidikeit für die Politik in reichem Maße herangezogenes Mittel dar, aber eben doch nur als Instrument der Politik, das den politischen Zwecken und Maditansprüchen gänzlich unterworfen wird. Wir begegnen dieser Auffassung des Verhältnisses von Politik und Recht in allen totalitären Systemen, wie unterschiedlich ihre Leitideen und Zielsetzungen im übrigen auch sein mögen. Die Konsequenzen, die sich daraus für die Stellung des Gesetzgebers und die Rechtsbildung, aber auch für die Stellung des Richters und die Rechtsanwendung ergeben, sind außerordentlich weittragend, können an dieser Stelle jedoch nur angedeutet werden 14 . Der Gesetzgeber erscheint hier lediglich als Funktionär des totalitären politischen Systems; er stellt sozusagen den Transformator dar, der die Prinzipien und normativen Anforderungen des politischen Systems, insbesondere die herrschenden ideologischen Richtlinien, in Rechtsnormen umzusetzen hat. Der Reditsetzungsakt verläuft also einfadi als politisch-ideologischer Gleichschaltungsprozeß. — Ebenso wie der Gesetzgeber unterliegt auch der Richter dem totalitären Herrschaftsanspruch des Systems und seiner Ideologie, auch er als Funktionär der politischen Macht, dessen Tätigkeit von den höheren Machtträgern gesteuert wird. Demzufolge wird die Rechtspraxis einer ständigen Kontrolle der Repräsentanten des politischen Systems unterworfen, die den Rechtsorganen ihre Direktiven vorschreiben und deren Einhaltung überwachen. Selbst die Auslegung der Rechtstexte wird in dem Sinne verwaltet, daß authentische Interpretationen erlassen werden, die für alle Organe der Rechtsanwendung verbindlich sind. — Aus alledem ist ersichtlich, daß dort, wo der Primat der Politik bis zur äußersten Konsequenz vertreten und praktiziert wird, das Recht schwere Einbußen an eigenständiger Bedeutung und an spezifisch rechtlicher Substanz erleidet. Schließt man sich aus den dargelegten Gründen nicht der Auffassung eines unbedingten und uneingeschränkten Primats der einen oder der anderen Seite an, so müßte der Begriff „Primat" relativiert und begrenzt werden, wodurch er jedoch unklar und verschiedener Deutung ausgesetzt würde. Bei genauerer Betrachtung wird sich ergeben, daß das Verhältnis von Recht und Politik sich wegen seiner Kompliziertheit nicht auf eine lapidare Formel bringen läßt, vielmehr einer differenzierten Betrachtung bedarf, bei der die Schwerpunkte in der Gegenüberstellung beider Phänomene sich bald hierhin, bald dort14 Des Näheren muß hierzu auf meine Schrift „Ideologie und Recht", Recht und Staat H e f t 425/426 (1973), insbes. auf S. 24 ff., verwiesen werden.

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hin verlagern. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie sie seinsmäßig, generell und hic et nunc in dieser oder jener Konstellation eines Gemeinwesens zueinander stehen, sondern auch um die weitere Frage, wie sie sich vernünftigerweise zueinander verhalten sollen, damit sich das Verhältnis zwischen beiden Bereichen sachdienlich entfalten und auswirken kann.

III. Zunächst erscheint es ratsam, Recht und Politik in einer gewissen Distanzierung voneinander zu sehen. Dabei ist vorweg festzustellen, daß die Gebietsbereiche, innerhalb deren beide bestimmend wirken, sich nicht decken, sondern teilweise auseinanderfallen. Der Tätigkeitsbereich der Politik kann sich, wie bereits hervorgehoben, nicht auf alle Sozialangelegenheiten, nicht auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen und alles Sozialhandeln, erstrecken, sondern muß sich auf den Bereich der grundlegenden und leitenden Gestaltung des Soziallebens, der existentiellen Sicherung und Erhaltung der Sozietät beschränken. Damit ist zwar keine genaue Grenzlinie angegeben, jedoch das Prinzip einer Selbstbeschränkung der Politik aufgestellt. Dieses allerdings wird von einer totalitären Auffassung der Politik abgelehnt und erklärt, jede menschliche Angelegenheit und Beziehung könne potentiell politisch sein und deshalb von politischen Entscheidungen betroffen werden 15 . Eine solche Auffassung hat dann zur Folge, daß die Politik in Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen und Kooperationen eindringt, die ihrer Natur nach unpolitisch sind, wie beispielsweise die persönlichen Beziehungen zwischen Freunden, Ehegatten, Eltern und Kindern. Greift die Politik mit ihren Maßnahmen in diese Privat- und Intimsphäre ein, so droht daraus eine Denaturierung solcher Beziehungen. Es muß also darauf bestanden werden, daß ein politikfreier Raum im Sozialleben im Interesse der Wahrung menschlich-persönlicher Werte notwendig und daß er gegen den Eingriff politischer Maßnahmen zu schützen ist. Betrachten wir demgegenüber das Geltungs- und Wirkungsgebiet des Rechts, so haben wir davon auszugehen, daß es grundsätzlich alle menschlichen Beziehungen und Kooperationen erfassen kann. Negativ ausgedrückt: es gibt keinen zwischenmenschlichen Bereich, auf den sich zu erstrecken ihm der Natur der Sache nach schlechthin verwehrt wäre. Nun ist allerdings bekannt, daß es rechtlich ungeregelte Bezirke 16

So z. B. Carl Schmitt,

a. a. O. .S 21.

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gibt, die man als „rechtsfreien" oder „rechtsleeren" Raum zu bezeichnen pflegt16. Daß das Redit in diese Bezirke, die vielfach solche höchstpersönlicher, individuell geprägter Art sind, wie z. B. die Beziehung der Freundschaft, der Liebe, des ehelichen Miteinanderseins, mit seiner Normenregelung primär nicht eingreift, hat seinen Grund darin, daß hier das Recht seine Steuerungs- und Lenkungsfunktion durch das Hineinwirken von Verhaltensanweisungen am falschen Ort entfalten würde, da es einer solchen Steuerung weder bedarf noch diese sich sinn- und zweckvoll auswirken könnte. Die Einräumung eines rechtsleeren Raumes für gewisse Bereiche von Sozialbeziehungen beruht auf dem rechtlichen Selbstbeschränkungswillen. Damit ist jedoch nicht die Folge verbunden, daß solche Bereiche für das Recht schlechthin unberührbar seien. Dies erweist sich nämlich in Fällen von Störungen und Konflikten innerhalb dieser Beziehungen, die das Bedürfnis nicht nur der Beteiligten, sondern auch der Sozietät als solcher nadi Konfliktslösung und Befriedung auslösen, das Recht also in dieser Funktion auf den Plan rufen und insoweit das bislang rechtsfreie Feld in den Raum rechtlichen Regeins, des Schlichtens, Ausgleichens, Entscheidens, notfalls auch rechtlicher Sanktionen, hineinrücken. Insofern ist die gesetzgeberische Entscheidung, einen Raum zwischenmenschlicher Beziehungen primär „rechtsfrei" zu lassen, von grundlegend anderer Bedeutung als das Postulat, sie „politikfrei" zu halten, nämlich dem Eingriff politischer Maßnahmen abwehrend zu entziehen. Eine schwierige Frage, die hier nur angedeutet werden kann, besteht darin, ob und gegebenenfalls inwieweit der Politik selbst ein „rechtsfreier" oder „rechtsleerer" Raum vorzubehalten sei und in welchem Sinne dies gegebenenfalls zu geschehen habe. Es muß vorausgeschickt werden, daß die grundsätzliche Entscheidung darüber nicht von seiten des Rechts und seiner Organe zu treffen ist, sondern daß sie in die Zuständigkeit der Politik fällt, und zwar als die erste und grundlegende Entscheidung über den Charakter des politischen Systems, welche die extreme Alternative zwischen Machtstaat und Rechtsstaat enthält. Je danach wird auch die Entscheidung über den rechtsfreien Raum des Politischen, seine Sinngebung und seine Grenzziehung fallen. In radikalster Form kann eine Ansiedlung der Politik in diesem Raum dahin verstanden werden, daß alles Handeln, das sich als politisch qualifiziert, nicht von den Normen des Rechts erfaßt und nach ihnen beurteilt werden soll, daß also politische Akte auch durch16 Vgl. dazu Engisch, Der reditsfreie Raum, Z. ges. Staatswissenschaft, Bd. 108 (1952), S. 385 ff.; ders., Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl. 1971, S. 136 ff.

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weg nicht justiziabel sein sollen. Ein politisches System, das eine solche generelle Exemtion der Politik, eine Befreiung allen politischen Handelns von den Anforderungen und von der Kontrolle des Rechts, statuiert und praktiziert, muß als reines Machtsystem charakterisiert werden. — Nun kann der Begriff „rechtsleerer Raum" im Hinblick auf die Politik auch die weniger einschneidende Bedeutung haben, daß der Politiker damit ein Raum freier, nicht durch rechtliche Verhaltensanweisungen festgelegter Betätigung zugewiesen wird, ohne damit zugleich die Geltung des Rechts schlechthin auszuschließen. Es wird damit der Politik ein Spielraum für ermessensfreies Handeln eröffnet, das sich jedoch nur in den Schranken des Gesetzes entfalten darf, so daß damit dessen Verbots- und Gebotsnormen ihre allgemeine Geltung und ihre Allgemeinverbindlichkeit behalten. Ein System, das den Einklang von Politik und Recht herzustellen bemüht ist, wird auf dieser Forderung unbedingt bestehen. Damit ist noch nicht Stellung genommen zu der These, das Politische sei seiner Natur nach nicht normierbar; es lasse sich nicht in rechtlichen Tatbeständen mit vorausbestimmten Verhaltensanweisungen und Rechtsfolgen festlegen. In dieser Allgemeinheit ist die These nicht haltbar. In Wahrheit handelt es sich um eine Maßfrage. Sicherlich ist selbst in einem System, das den größtmöglichen Einklang zwischen Politik und Recht erstrebt, im Rechtsstaat, eine vollständige rechtliche Normierung des politischen Bereiches nicht realisierbar. Dies ergibt sich aus Gründen der notwendigen Flexibilität des Politischen, auf die noch einzugehen sein wird. Immerhin zeigen die Verfassungen rechtsstaatlicher Systeme, daß eine solche Normierbarkeit in weitem Ausmaß nicht nur möglich, sondern der Stabilität des politischen Systems auch durchaus zuträglich ist. Das angemessene Verhältnis zwischen rechtlicher Normfreiheit und Normgebundenheit des politischen Bereiches zu finden, gehört zu den Grundaufgaben der Verfassungsgebung des Systems. Dabei spielt die Erkenntnis der strukturellen Verschiedenheit von Politik und Recht eine wesentliche Rolle. In der Politik ist vorherrschend das dynamische Element, ein ständiges Fluktuieren, das sich aus der Notwendigkeit ergibt, die ununterbrochen sich stellenden existentiellen Probleme der Sozietät zu lösen, was eine rasche Anpassung an die häufig wechselnden, nicht voraussehbaren Situationen und Konstellationen des Soziallebens erforderlich macht. Zwar bedürfen die zu treffenden Maßnahmen der grundsätzlichen Ausrichtung an Orientierungsmarken und Maßstäben, aber doch derart, daß diese flexibel gehandhabt werden können. Insofern ist das Bedenken und der Zweifel, ob sich dieser oder jener Bereich politischen Handelns für eine rechtliche Ordnung eignet, in der Tat begründet, denn

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die letztere ist nun einmal ihrer Natur nach eine mehr oder weniger generalisierende und typisierende Vorausregelung, -welche auf konkrete Situationen und Konstellationen, die aus dem Rahmen des Voraussehbaren herausfallen, nur beschränkt Rücksicht nehmen kann und jedenfalls nicht in raschem "Wechsel veränderbar ist. Insofern stellt sie sich, um den Unterschied pointiert hervorzuheben, dem fluktuierenden Element des Politischen als „stehende Ordnung" gegenüber 17 . Allerdings ergibt sich hier kein schroffer Gegensatz, da das positive Recht nicht als starrer, unbeweglicher Normenblock im Fluß des Soziallebens steht, sondern selbst ein dynamisches Element insofern enthält, als es aus innerer Gesetzlichkeit dem geschichtlichen Wandel unterliegt, der mit demjenigen der Sozietät untrennbar verbunden ist, wobei es ein Kennzeichen der Rechtsordnungen moderner Sozietäten darstellt, daß sich außerhalb der schwerbeweglichen großen Kodifikationen in den ergänzenden Spezialregelungen das dynamische Element stärker geltend macht. Doch besteht zwischen der Flexibilität der Politik mit ihren vielfältig wechselnden Maßnahmen und der relativen Stabilität des positiven Rechts ein so bedeutender Gradunterschied der Beweglichkeit, daß er nicht übersehen werden kann. Aber gerade dieser Unterschied, wenngleich nicht er allein, drängt zu einer funktionalen Verbindung von Politik und Recht, die man geradezu als ein gegenseitiges Aufeinander-Angewiesensein bezeichnen darf. Betrachten wir die Dinge zunächst von der Seite der Politik her, so ist es ohne weiteres einleuchtend, daß sie nicht in einem ungeordneten Raum agieren kann. Innerhalb eines anarchischen Gesellschaftslebens, in welchem die zwischenmenschlichen Beziehungen und Kooperationen durch die Willkür der Beteiligten bestimmt würden, fände die Politik kein Feld vor, in dem sie sich wirksam entfalten könnte. In einem solchen Chaos unübersehbarer und unvoraussehbarer Reaktionen der Gesellschaftsglieder wäre es nicht möglich, auch nur die grundlegenden Zielvorstellungen und Zwecke einer sinnvollen Politik durchzusetzen. Wirksame Politik setzt also eine ihre Funktion ergänzende „stehende Ordnung" voraus, welche die sozialen Beziehungen und Kooperationen im Umkreis des gesamten Gesellschaftslebens durch Verhaltensregeln in einer für die Gesellschaftsglieder verbindlichen Weise ordnet. Als eine solche Ordnung, welche für die Politik die notwendige stabilisierende Grundlage und zugleich das Feld ihrer wirksamen Tätigkeit schafft, ist die Rechtsordnung unverzichtbar. Infolge ihrer stabilisierenden Kraft bietet sich diese Ordnung sogar dafür an, einen Teil derjenigen Aktionen, die im politischen Bereich 17

So Ryffel, Recht und Politik, Z. f. Schweiz. R. Bd. 9 (1972), S. 471.

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selbst erfolgen, in reditlichen Tatbeständen zu regeln, also politisches Handeln zu verrechtlichen, soweit die grundsätzliche Flexibilität des Politischen eine solche rechtliche Stabilisierung zuläßt. Sie kommt jedenfalls für Teilbereidie, etwa die tragenden politischen Einrichtungen, die Einsetzung der politischen Handlungsstäbe, die Regelung und Abgrenzung ihrer Zuständigkeit sowie für mancherlei sonstige institutionelle Ordnungen des politischen Bereiches, in Betracht. Politische Tätigkeit besteht weitgehend darin, das Verhalten der Menschen nach den vorausbestimmten politischen Zielen und Zwecken in den konkreten Situationen des Soziallebens zu lenken. Um dies zu erreichen, muß die Politik bestrebt sein, alle zu dieser Steuerung geeigneten Medien für sich einzusetzen. In besonderer Weise ist dafür das Recht geeignet. Als detailliertes Normensystem bietet das positive Recht die Möglichkeit, allgemeine Direktiven, die im politischen Leitbild und in der politischen Planung festgelegt sind, in differenzierte Verhaltensnormen aufzugliedern, welche in ihrer Anwendung bis in die Bezirke konkreter Regelungen, Entscheidungen und organisierter Maßnahmen hineinreichen. Mit ihrer Verrechtlichung gewinnen diese Verhaltensanweisungen etwas Wesentliches hinzu: die im Gemeinwesen anerkannte Autorität des Rechts. Vor allem gilt dies für den im Bewußtsein der Bevölkerung herkömmlicherweise fest verankerten Verbindlichkeitscharakter der Rechtsnormen. Nicht zu übersehen ist letztlich die Chance, im Ungehorsamsfall die im positiven Recht vorgesehenen Sanktionen zum Einsatz zu bringen. Aus allen diesen Gründen bietet das Recht der Politik eine wesentliche Hilfe und Stütze in der Durchsetzung ihrer Ziele. In umgekehrter Blickrichtung ergibt sich jedoch auch ein Angewiesensein des Rechts auf die Politik. Eine Rechtsordnung kann sinnvoll nicht in einem isolierten Raum, sondern nur aus den Lebenszusammenhängen heraus geschaffen werden, in welche sie eingebettet ist. Sie ist weder in einer abgetrennten begrifflichen Sphäre konstruierbar noch auch in der Weise, daß die Regelungen der Einzelmaterien in der Art von Mosaiksteinen nebeneinandergesetzt werden, jede in sich geschlossen und ausschließlich den jeweiligen speziellen Regelungszwecken entsprechend. Demgegenüber ist zu bedenken, daß eine Rechtsordnung in ihren Teilen aufeinander abgestimmt sein muß, und zwar auf der Grundlage eines umfassenden Gestaltungsplans, welcher der Positivierung der einzelnen Rechtsmaterien als Gesamtentwurf vorauszugehen hat. Dieser hat unter anderem die leitenden politischen Richtlinien und Prinzipien für die Ausgestaltung des Soziallebens zu enthalten, von denen her die speziellen Regelungen ihre grundsätzliche politische Ausrichtung erfahren. Hierher gehören beispielsweise die Grundentscheidungen über die Herrschaftsform des Gemein-

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wesens, über die Zuteilung der Zuständigkeiten an die obersten Organe, über das Verhältnis der „Gewalten" im politischen Gemeinwesen, über die Stellung des Einzelnen innerhalb der Gesamtheit und den ihm zuzusprechenden Spielraum seiner persönlichen Lebensgestaltung, über den Umfang der Selbstbestimmung, die den gesellschaftlichen Partnern im Rahmen ihrer rechtsgeschäftlichen Beziehungen eingeräumt werden soll, über den Rechts- und Pflichtinhalt des Eigentums sowie viele andere Grundfragen mehr, die in den Bereich der leitenden und gestaltenden Selbstverwirklichung der Sozietät fallen. Diese Grundentscheidungen zu treffen, ist nicht Angelegenheit der Rechtsorgane, auch nicht Sache des Gesetzgebers in seiner Eigenschaft als Rechtsetzungsorgan, sondern Aufgabe der Politik und der maßgeblichen politischen Organe. Der politische Gestaltungsplan hat dem Akt der Rechtspositivierung, der seinen Niederschlag in einer detaillierten Normenregelung findet, als Basisordnung vorauszugehen. Dies gilt, wie immer auch die einschlägigen Zuständigkeiten in einer konkreten Verfassung geregelt sind. Selbst dort, wo die politische Leitfunktion und die Rechtsetzungsfunktion in der Zuständigkeit eines und desselben Organs vereinigt sind, etwa beim Parlament, ist die Festlegung des politischen Leitbildes, der politischen Grundwerte und Zielsetzungen zum mindesten die gedankliche Voraussetzung, die dem Rechtsetzungsakt in concreto vorgegeben sein muß. Rechtliches Regeln durch Positivierung einer mehr oder minder großen Fülle von Einzelnormen setzt Klarheit über deren grundlegende politische Ausrichtung voraus. Infolgedessen ist die Behauptung, das Recht sei ein „Erzeugnis der Politik" 1 8 , zwar zu einfach und lapidar formuliert, aber in ihrem Kerngehalt richtig. Jedenfalls kann man im Hinblick auf die Bedeutsamkeit der politischen Entscheidungen für den Rechtsbildungsprozeß von einer Durchdringung des Rechts durch das Element des Politischen sprechen. Deren Reichweite geht tief in die Einzelregelungen des positiven Rechts hinein und ist bei genauerem Zusehen vielfach auch dort noch nachweisbar, wo die Einwirkung des Politischen auf den rechtlichen Norminhalt bei oberflächlicher Betrachtung nicht gesehen wird. Im Rahmen solcher Überlegungen tritt zunächst das Moment der Gleichrichtung von Politik und Recht in den Vordergrund. Diese hat ihren Grund darin, daß in beiden Bereichen ein sinnvolles Handeln, Regeln und Ordnen es ausschließt, beliebige Zwecke zu verfolgen und beliebige Inhalte normativer Verhaltensregelungen zu bestimmen, daß man sich vielmehr an maßgeblichen Richtigkeitsvorstellungen zu 18

R y f f e l , a. a. O. S. 464.

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orientieren hat. Rechtsschöpfung erstrebt es vernünftigerweise, richtiges Recht zu setzen; sinnvolle Politik erstrebt richtige Lösungen der politischen Gestaltungsaufgaben. Da dieses „Richtige", wie bereits erwähnt, nicht in einer allgemeingültigen sozialen Modellordnung vorgegeben ist, läßt es sich nur durch einen obersten Wertmaßstab bezeichnen, der für Politik und Recht in gleicher Weise maßgebend ist: das Gemeinwohl. Daraus sind jedoch, wie gesagt, keine bestimmten, eindeutigen Lösungen in concreto ableitbar. Es muß vielmehr hic et nunc ermittelt werden, was das konkrete Gemeinwohl erfordert. Dabei wird sich allerdings vielfach ergeben, daß die in Betracht kommenden und im jeweiligen Ordnungsbereich zu beachtenden Richtigkeitskriterien für Politik und Recht nicht die gleichen sind. Für das politische Handeln stehen Erwägungen der Zweckmäßigkeit ganz im Vordergrund. Solche Erwägungen gelten zwar auch für die Positivierung „richtigen" Rechts; jedoch sind dabei gleichrangig, um nur das Wichtigste zu nennen, auch Anforderungen der Gerechtigkeit spezifisch rechtlicher Art sowie solche der Rechtssicherheit zu berücksichtigen, welche keineswegs immer mit dem konkret Zweckmäßigen übereinstimmen 19 . Infolgedessen kann zwischen den politischen Intentionen und den Anforderungen, die sich für eine geplante Regelung aus rein rechtlichen Gesichtspunkten, Prinzipien und Richtlinien ergeben, eine unter Umständen starke Spannung entstehen. Ein System, in welchem der Totalitätsanspruch der Politik gilt und eine totalitäre politische Ideologie herrscht, setzt sich über die Bedenken und Hemmungen, die sich dem politischen Zweckwollen aus Gründen der Eigengesetzlichkeit des Rechts und seiner spezifischen Rechtswerte entgegenstellen, hinweg und vollzieht die Rechtspositivierung schlechthin als einen Akt der politischen Gleichschaltung. Dort jedoch, wo ein größtmöglicher Einklang von Politik und Recht hergestellt werden soll, gilt es, die auftretende Spannung zwischen dem Politischen und dem Rechtlichen zum Ausgleich zu bringen. Ganz deutlich tritt dieses Spannungsverhältnis in der Stellung hervor, die der rechtliche Normgeber im System der offenen Gesellschaft einnimmt 20 . Er befindet sich hier zunächst in einer Abhängigkeit vom Politischen insofern, als er gehalten ist, als Repräsentant der Sozietät auf dem Gebiet des Rechtswesens den vom Allgemeinwillen getragenen politischen Gestaltungsplan, der in der anerkannten politischen Basisideologie zum Ausdruck gelangt, in seinen rechtlichen Regelungsplan eingehen zu lassen. Doch ist ihm hier ein Spielraum für einen freien schöpferischen Gestaltungs19 Mit diesen „Antinomien" der Rechtsidee hat sidi erstmals und immer wieder Radbruch befaßt (vgl. Rechtsphilosophie, 5. Aufl., S. 71 ff., 168 ff.). Dazu auch eingehend Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 339 ff. 20 Näheres dazu Henkel in der oben Anm. 14 genannten Schrift.

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prozeß gegeben, weil er nicht als abhängiger Funktionär der politischen Macht handelt, sondern als selbstverantwortlicher Gestalter, der eine eigenständige geistige Macht vertritt, das Recht in seiner Eigengesetzlichkeit, mit den ihm immanenten Prinzipien und Zielsetzungen, die sich nicht einfach den Anforderungen einer politischen Ideologie zu beugen haben. Dies verpflichtet ihn, in seiner Eigenschaft als Rechtsorgan den Anforderungen des Politischen als ideologiekritische Instanz gegenüberzutreten und sie im einzelnen auf ihre Vereinbarkeit mit den Anforderungen, den Richtlinien und Prinzipien, die sich aus dem Wesen und der Idee des Rechts ergeben, zu prüfen. Dabei kann und wird es zu Einschränkungen und Modifikationen des Vorstellungs- und Zielgehaltes der herrschenden politischen Ideologie kommen, wenn, wie es mit aller Eindeutigkeit dem rechtsstaatlichen System entspricht, daran festgehalten wird, daß sich letztlich die Maßstäbe des Rechts durchzusetzen haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Recht, von dem hier die Rede ist, spielt nicht nur im Rechtsbildungsprozeß, sondern auch in der Rechtsanwendung, insbesondere in der Stellung und Tätigkeit des Richters, eine Rolle. Diese wird vielfach als unpolitisch aufgefaßt. Soweit diese Einstellung beim Richter besteht, mag sie stimmungsmäßig erklärlich sein aus einem Unbehagen gegenüber der Unberechenbarkeit des Politischen, die als bedrohlich für das festgefügte Normensystem des positiven Rechts, dem der Richter verpflichtet ist, empfunden wird. Doch wird dabei verkannt, daß dieses positive Recht in seiner Grundkonzeption selbst ein Politikum darstellt und damit auch seine Anwendung zwar nicht ausschließlich, aber doch auch politischen Charakter hat 21 . Besteht die Aufgabe der Rechtsanwendung darin, die im positiven Recht zum Ausdruck gelangten Vorstellungen, Begriffe, Prinzipien, Regelungsintentionen im Bezug auf den Einzelfall zu konkretisieren und durch die Entscheidung des Falles zu aktualisieren, so umfaßt diese Tätigkeit sinngemäß auch die dem Gesetz zugrundeliegende politische Konzeption, wie sie entweder aus der zur Anwendung stehenden Einzelnorm oder aus dem Zusammenhang der einschlägigen Rechtsmaterie oder letztlich aus der Gesamtheit der Rechtsordnung ersehen werden kann. Mit der Rechtspositivierung ist eine bestimmte politische Konzeption zum Inhalt und Bestandteil der positivrechtlichen Regelung geworden. Sie verleiht den Rechtsnormen zwar keineswegs ihren gesamten Sinn und Zweck, der ein vielfältiger ist, wohl aber einen Teilaspekt, ihren politischen Sinn und Zweck. Indem der Rechtsanwender die Regelungsintention des Gesetzes in die Einzelentscheidung des Falles umsetzt, hat er damit 21

Übereinstimmend Ryffel, Recht und Politik, a. a. O. S. 471 ff.

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auch das in die Rechtsnorm eingegangene politische Programm mitzuverwirklichen, und gerade dies begründet die Auffassung, daß der judiziellen Tätigkeit das politische Element nicht fremd oder gar feindlich gegenübersteht, sondern daß es als Teilmoment in sie einbezogen ist. Es ist wichtig, daß der Richter sich dieser politischen Qualität und dieser politischen Dimension seiner Tätigkeit klar bewußt ist. Nicht weniger bedeutsam ist es allerdings auch, auf die damit umrissene Grenze des politischen Engagements des Richters hinzuweisen und die judizielle Tätigkeit gegenüber falschen Ansprüchen zu verteidigen. Solche Ansprüche werden vielfach, insbesondere in Zeiten einer revolutionären Geisteshaltung, unter dem Schlagwort „Politisierung der Justiz" in dem Sinne geltend gemacht, daß offen oder versteckt vom Richter erwartet wird, er solle entgegen den im positiven Recht enthaltenen politischen Vorstellungen und Zielsetzungen anderweitige politische Postulate in seiner Spruchpraxis dadurch realisieren, daß er das Gesetz manipuliert und umbiegt, wofür mancherlei taktische Mittel gegeben sein mögen. Solchen Bestrebungen muß aus verschiedenen Gründen entgegengetreten werden. Unverkennbar widersprechen sie dem Grundsatz der Bindung des Richters an das Gesetz, der im Hinblick auf das in diesem enthaltene politische Element besagt, daß er eine Bindung an das im Gesetz enthaltene politische Leitbild miteinschließt, die Realisierung jedes ihm widersprechenden politischen Programms dagegen ausschließt. Im Verlangen „verfassungskonformer Auslegung" des Gesetzes kommt dieser Gedanke zwar nur begrenzt, aber doch zutreffend zum Ausdruck. Dem Richter steht es also nicht zu, seine eigenen politischen Vorstellungen und Überzeugungen, soweit sie von den im Gesetz zum Niederschlag gelangten abweichen, in seiner Spruchpraxis zur Geltung zu bringen. Um seine Tätigkeit gegenüber dem Andrang der beweglichen Strömungen des Politischen, wie sie sich im Alltagsleben der Sozietät in mancherlei Forderungen geltend machen können, abzuschirmen, tritt zu dem Prinzip der Gesetzesbindung dasjenige der Unabhängigkeit der Gerichte hinzu, das die richterliche Spruchtätigkeit nicht nur von direkten Weisungen politischer Stellen, sondern auch von mehr oder weniger versteckten Einflüssen politischer Bestrebungen und Kräfte freihalten soll. Nun ist allerdings, um das positive Recht nidit nur dem Wandel der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und sonstigen Gegebenheiten, sondern auch der Veränderung und Fortbildung der herrschenden politischen Anschauungen und Leitziele anzupassen, die Rechtspolitik eine ständig zu bewältigende Aufgabe der Sozietät. Nur ist klarzustellen, daß es nicht Sache der Gerichte ist, im Gewände ihrer Spruch-

Bemerkungen zum Verhältnis von Redit und Politik

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praxis Rechtspolitik zu treiben, mag diese audi noch so dringlich erscheinen22. In einem entwickelten politischen System darf davon ausgegangen werden, daß der Verrechtlichungsprozeß dazu geführt hat, daß das positive Recht eine Verfahrensordnung für die rechtspolitischen Aufgaben der Rechtsneuschöpfung und Rechtsänderung durch das zur Rechtspositivierung berufene Organ enthält. Hierin äußert sich eine starke Bindung der Politik an das positive Recht, die insoweit zwar nicht die Vorstellungs- und Zielgehalte der Politik inhaltlich festlegt, wohl aber den Austrag und das Ringen um diese Gehalte an die Wahrung von Rechtsformen bindet und damit zu ihrem Teil dazu beiträgt, trotz allen notwendigen und erstrebenswerten Wandels dem Sozialleben eine gewisse Kontinuität zu sichern. 2 2 So klar sich dies im Prinzip aussprechen läßt, so ergibt sich doch bei genauerer Überlegung eine bestimmte Problematik. Nach weitgehend anerkannter Lehre und Praxis steht dem Richter nicht nur die Gesetzesauslegung, sondern auch die Rechtsfortbildung zu (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 382 ff.; ders., Interpretation und Rechtsfortbildung, Festschr. f. Olivecrona [1964], S. 401 ff.). Im Hinbiidt auf das im Gesetz enthaltene politische Element offenbart sich insofern eine neuralgische Stelle. Ist in der Spruchpraxis den Wandlungen der sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Verhältnisse sowie des allgemeinen Rechtsbewußtseins im Wege der Rechtsfortbildung Rechnung zu tragen, so möchte man dies auch für die Wandlungen des im Gesetz zum Niederschlag gelangten politischen Leitprogramms annehmen. Auch dieses ist keine starre, unveränderliche Größe, sondern ist, mag es auch in den Grundzügen fortbestehen, mancherlei Wandlungen im einzelnen unterworfen. Es kann sidi also von den ursprünglichen Vorstellungen, die den Gesetzgeber geleitet haben, entfernen. Grundsätzlich dürfte es im Bereidi richterlicher Rechtsfortbildung liegen, solchen Veränderungen Rechnung zu tragen, mithin das ursprüngliche politische Vorstellungsbild des Gesetzgebers weiterzuentwickeln und zu modifizieren, allerdings nur im Rahmen des grundlegenden politischen Programms, das in seinen wesentlichen Zügen und Zielsetzungen nicht abgeändert oder gar preisgegeben werden darf. Wo dann die Grenze zwischen zulässiger Fortbildung und unzulässiger Änderung gezogen werden muß, ist schwer zu sagen. Das Problem eingehender zu erörtern, ist Sache der juristisdien Methodenlehre.

Theonome Autonomie des Menschen Zur Geschichte der katholischen Naturrechtslehre FRANZ BÖCKLE, B o n n

Jos. Th. Arntz hat in zwei Beiträgen die Entwicklung des Naturrechtsdenkens innerhalb des Thomismus kritisch dargestellt 1 . Seiner Uberzeugung nach erlag die authentische Lehre des Thomas von Aquin im Laufe der Jahrhunderte einer doppelten Fehlentwicklung. Sie wurde „sowohl in einer rationalistischen Richtung ausgebaut, die bei Pufendorf, Thomasius und Christian Wolff zu ihrer Vollendung gebracht werden sollte, als auch in der Richtung einer physizistischen Auffassung vom Naturrecht" 2 , wie sie in der Moraltheologie des 19. und 20. Jahrhunderts vorherrschend wurde. Arntz sieht die Entwicklung in den großen Zügen richtig. Es geht hier nicht darum, seine Darlegungen zu wiederholen; vielmehr soll hier auf einen ergänzenden Gesichtspunkt hingewiesen werden, der in der neueren Diskussion besonderes Interesse gefunden hat: die Begründung einer theonomen Rationalität im thomistischen Denken. 1. Die Interpretation der Lehre des Thomas von Aquin über das natürliche Sittengesetz erfordert eine klare Unterscheidung und Zuordnung von Metaphysik und Ethik, von metaphysischen und handlungsregelnden Aussagen. Wolfgang Kluxen hat in seiner Studie zur philosophischen Ethik bei Thomas deutlich darauf hingewiesen, daß eine „praktisch bedeutsame" metaphysische Erkenntnis noch keine praktische Erkenntnis sei. „Wenn . . . die spekulative Vernunft im Gang der metaphysischen Erkenntnis des Menschen mitsamt dem Bereich seines Seinkönnens als in einer Gesamtordnung stehend begreift, die auf Gott hin ist, so ist diese E r k e n n t n i s . . . für das Handeln .bedeutsam', sofern Ordnen im menschlichen Bereich etwas sinnvoller erscheint, wenn dieses einer Gesamtordnung eingegliedert ist; aber unmittelbar handlungsregelnd ist sie nicht, da die spekulativ erfaßte Ordnung nicht wirkbar, nicht .aufgegeben' ist" 3 . Diese Feststellung 1 Vgl. J . Th. Arntz, Naturrecht und Gesdiidite, in: Concilium 5 (1965) 3 8 3 — 3 9 1 ; ferner: D i e Entwicklung des naturrechtlichen Denkens innerhalb des Thomismus, in: F. Böckle (Hrsg.), D a s Naturrecht im Disput, Düsseldorf 1966. 2 J . Th. Arntz, D i e Entwicklung . . a . a. O., S . 87. 3 W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Walberberger Studien, Phil. Reihe, Bd. II, Mainz 1964, S . 62 f.

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steht bei Kluxen nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem sittlichen Naturgesetz, sondern in einem grundlegenden Paragraphen über die praktische Bedeutsamkeit metaphysischer Erkenntnisse. Sie scheint mir aber fundamental für das Verständnis der Lehre von der „lex naturalis" im Gesetzestraktat der Summa Theologiae (I—II, 91—94). Was Thomas hier entfaltet, ist nicht ein Stück praktischer Philosophie, hier geht es nicht um den Aufweis allgemeinster inhaltlicher Handlungsnormen. Hier wird vielmehr in einer spekulativen Form die normative Vernunft in die Gesamtordnung des sittlichen Subjekts und dieses selbst in die umfassende Ordnung der Schöpfung eingegliedert. Insofern fügen sich die Überlegungen ganz in die Systematik der Prima Secundae ein, die unter dem Leitmotiv der Rückführung der Kreatur zu Gott steht. Erst im Rahmen einer solchen Metaphysik des sittlichen Handelns wird die Eigenart der ethischen Aufgabe, d. h. die Darstellung verbindlicher Tugendhaltungen und sittlicher Normen voll verständlich. Die neuere Thomasinterpretation stellt folgende Gesichtspunkte heraus: An erster Stelle steht die einzigartige Verbindung von Theonomie und autonomer Vernunft4. Thomas übernimmt zwar aus der von Plato über Cicero und Augustinus führenden Tradition den Gedanken der Teilhabe der menschlichen Vernunft an der göttlichen Vernunft (an der „ratio gubernativa in mente divina"); er hat aber diesen Gedanken in ganz entscheidender Weise umgeformt. Das entscheidend Neue liegt in der Betonung des Subjektseins des Menschen. Des Menschen einzigartige Würde liegt in seiner aktiven Teilnahme an der göttlichen Weltlenkung. Er ist im Rahmen seiner kreatürlichen Vernunft sich selbst zugelastet. Er hat an der göttlichen Vorsehung Anteil, indem er dazu bestimmt ist (und diese seine Bestimmung auch erfaßt), daß er vernünftigerweise für sich und andere Vorsorgen muß 5 . Der Mensch wird nicht wie die vernunftlose Kreatur bloß durch natürliche Neigungen und Triebe zu seinen Zielen gelenkt; darin ist sich Thomas mit der Tradition einig. Im Gegensatz zu Augustinus kennt er aber auch keine unmittelbar-direkte Einstrahlung und Erleuchtung von göttlichen Ideen. Thomas spricht wohl von der „Impressio" oder „Irradiatio" des göttlichen Lichtes oder der Weisheit, aber diese „Irradiatio" vollzieht sich „allein auf dem Weg über die Erkenntnis der Schöpfung als des ,effectus' der göttlichen Wirksam4

Vgl. F. Böckle, Theonomie und Autonomie der Vernunft, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Fortschritt wohin? Zum Problem der Normfindung in der pluralen Gesellschaft, Düsseldorf 1972, S. 63—86. 6 I—II, 91, 2: „Inter cetera autem rationalis creatura excellentiori quodam modo divinae providentiae subiacet, inquantum et ipsa fit providentiae particeps, sibi ipsi et aliis providens."

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keit, womit Thomas den neuplatonisdien Begriff von der aristotelischen Erkenntnistheorie her umdeutet und damit erneut seinen Sinn für die irdischen Realitäten beweist"6. Das natürliche Sittengesetz liegt darum nach seiner Konzeption nicht in einer Lenkung der menschlichen Vernunft durch die göttliche Vernunft mittels eines angeborenen Prinzips. Selbst das erste sittliche Prinzip (bonum faciendum malum vitandum) gewinnt der Mensch durch die Tätigkeit seiner Vernunft. Dabei ist die Erfahrung zwar nicht die Quelle des Prinzips, aber das Mittel für sein Erfassen. Wenn es einmal durch die Erfahrung zum Bewußtsein gekommen ist, erweist es sich als unmittelbar einsiditig. Die Teilnahme des Mensdien an der göttlichen Vorsehung (am ewigen Gesetz) liegt daher in der natürlichen Neigung der praktischen Vernunft zu normsetzender Aktivität 7 im Hinblick auf seine aufgegebene Vollendung und Erfüllung. Diese Art von Teilnahme und nur diese bezeichnet Thomas als natürliches Sittengesetz8. Daß der Mensch ein sich selbst aufgegebenes sittlidies Wesen ist, führt Thomas selbstverständlich auch auf Gott zurück. Dieses So-Sein der Vernunftnatur würde er aber nur im uneigentlichen Sinn als Teilhabe an der Vorsehung bezeichnen9. Der Gesetzescharakter des natürlichen Sittengesetzes liegt in der natürlichen Aktivität der praktischen Vernunft (ordinatio rationis), mit der sie grundlegend erfaßt, daß das Gute das ist, was sein soll, das Böse das, was nicht sein soll10. „Wir haben hier ein Beispiel vor uns für das Ineinandergreifen von Gottes ' U. Kühn, Via caritatis. Theologie des Gesetzes bei Thomas von Aquin (Kirche und Konfession, Bd. 9), Göttingen 1965, S. 146, mit Hinweis auf I—II, 93, 2 ad 1 und entsprechender kritischer Distanzierung von M. Wittmann. 7 Vgl. I—II, 91, 2: „Unde et in ipsa participatur ratio aeterna, per quam habet naturalem inclinationem ad debitum actum et finem." Thomas spridit vom Menschen im artspezifischen Sinn und vom Sittengesetz, also nidit vom Individuum und seiner sittlichen Einzelentscheidung; darum ist wohl mit dem debitus actus, mit dem er für sidi und andere sorgt, die „normsetzende Aktivität" gemeint. Vgl. D. Mongillo, L'elemento primario della legge naturale in S. Tommaso, in: La legge naturale, Bologna 1970, S. 118. 8 Vgl. ebd. „talis participatio legis aeternae in rationali creatura lex naturalis dicitur". 9 Vgl. I—II, 90, 1, Ein Gesetz ist immer „aliquid constitutum" per rationem (ad 2), d. h. weder die ratio selbst nodi der Verstandesakt, sondern das, was vom Gesetzgeber konstituiert wird, und zwar insofern es von ihm konstituiert wird: die ordinatio. Im eigentlichen Sinn kann man vom Gesetz sprechen, sofern es im Gesetzgeber als Ausdrude seiner ordnenden Vernunft existiert („in mensurante . . . per hunc modum lex est in ratione sola", ad 1). Sofern das Gesetz außerhalb der regulierenden Vernunft im Regulierten (in regulato) in der Form einer Neigung oder eines Triebes existiert, will Thomas nicht mehr im eigentlichen Sinn von Gesetz sprechen („sed quasi partieipative . . . hoc modo inclinatio ipsa membrorum . . . lex membrorum vocatur", ad 1). 10 Insofern ist es „aliquid per rationem constitutum", I—II, 94, 1.

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und des Menschen Subjektsein bei Thomas, wie es grundlegend in seiner Lehre vom Verhältnis der causa prima zur causa secunda zu finden ist, wonach die geschöpflichen Wirkungen nicht teils von Gott, teils vom Geschöpf, sondern ganz von Gott als der causa prima, zugleich aber auch ganz vom Geschöpf als der causa secunda hervorgebracht werden" 11 . Durch diese spekulative Rückführung der stellungnehmenden (wertenden) Vernunft auf ihren letzten transzendenten Grund wird die Struktur solcher Vernunft selbst nicht verändert. Wohl bekommt der Anspruch zur vernünftigen Selbstverwirklichung durch die Begründung in der lex aeterna einen unbedingten Charakter 12 . Ja man wird im Hinblick auf die gegenwärtige Ethik-Diskussion sagen müssen, daß ein solch unbedingter (kategorischer Sollensanspruch) überhaupt nur durch eine theonome Legitimation zwingend begründet werden kann. Ein immanenter Humanismus kann im Prinzip logisch nur zu einer hypothetischen Forderung führen 13 . Neueste Versuche sollen im Apriori der menschlichen Kommunikations- resp. Argumentationsgemeinsdiaft einen notwendigen und hinreichenden Grund für die Stimmigkeit und den Zusammenhang ihres Argumentierens finden14. Auf der Erfahrungsebene scheint der Anspruch auf Respektierung der Argumente jedes Teilnehmers auch als unbedingte Forderung jedes TeilnahmewiZ/igera einsichtig. Formal-logisch bleibt sie allerdings hypothetisch, weil formal immer noch gilt: „Wenn Teilnahmewille, dann Respektierung der Argumente." Dies macht uns deutlich, daß es eben für den Erfahrungsbereich des Menschen keinen Ansatz gibt, der logisch absolut wäre. Das ist die philosophische Einsicht in das Nidit-zur-Verfügung-haben eines absoluten Sinnes15. 11

U. Kühn, Via caritatis.. a. a. O., S. 149. Im Verständnis des Schöpferglaubens ist der unbedingte Sollensanspruch nichts anderes als die Abhängigkeit eines personal freien Selbst, das in dieser seiner Freiheit total beansprucht ist, über sich in Freiheit zu verfügen. 1S Im gegenwärtigen Bemühen um die Rehabilitierung der praktischen Philosophie (Ethik) spielt das Problem einer Letztbegründung des Sollensanspruchs eine wichtige Rolle. Eine ultimative Antwort auf die ethische Frage (Was sollen wir tun? Und warum sollen wir es tun?) läßt sich wohl ohne Anthropologie nidit geben. Dabei bleibt die Frage offen, ob die Anthropologie selbst imstande ist, „mit ihren eigenen methodologischen Mitteln ihr eigenes Problem, das Problem des Menschen, ultimativ zu lösen". T. Styczen, Ethik und Anthropologie in methodologischer Sicht, in: Theol. und Glaube 62 (1972) 232. 14 Vgl. O. Schwemmer, Philosophie der Praxis, Versuch zur Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren, Frankfurt 1971. Das Moralprinzip kann nicht als konstitutive Leistung des Einzelbewußtseins verstanden werden. Es bildet gleichsam das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Es kann — wie alle Prinzipien — nur „aufgrund der Teilnahme an der gemeinsamen Praxis, in der sie aufgestellt werden, einsichtig gemacht werden" (S. 195). 15 Vgl. H. Lübbe, Theorie und Entscheidung, Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, bes.: Zur Theorie der Entscheidung, S. 7—31. — 12

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Die theologische Reflexion nimmt in ihrer Deutung des Menschen als Kreatur diese philosophische Erklärung in ihre Überlegungen auf. Wenn sie dabei die Vernunft als kreatürlich zu verstehen sucht, ändert sich damit nichts an der Struktur der Vernunft. Sie bestätigt positiv die anthropologische Annahme, daß der Mensch sich selbst weder als Individuum noch als Kollektiv verabsolutieren darf. Im Rahmen dieser Kontingenzerfahrung hat er seinen Freiheitsvollzug zu verwirklichen16. Theonome Legitimation des Sollensanspruchs bedeutet daher nicht irgendeine Absolutsetzung kategorial-sittlichen Verhaltens und der es regelnden Normen, sondern als Aussage über die unbedingte Beanspruchung im ganzen des sittlichen Lebens gerade den Vorbehalt gegen jegliche Verabsolutierung des Kategorialen. Die Annahme der Kontingenz im gläubigen Bekenntnis menschlicher Kreatürlichkeit wird sich dann freilich auf die konkreten Werturteile bei der Normbildung auswirken, doch sind dies eben Konsequenzen, die auch von der anthropologischen Kontingenzerfahrung her zumindest als sinnvoll erscheinen. In unmittelbarer Verbindung mit dieser Begründung des sittlichen Naturgesetzes aus der Eigenart kreatürlicher Vernunft und Freiheit steht nun als zweites die Frage nach der Naturgemäßheit des sittlichen Lebens. Bisher ist klar geworden, daß Thomas dem Menschen eine nicht erst geschichtlich begründete, sondern eine in seiner Natur festgelegte Fähigkeit zu sittlichem Handeln zuweist. Die weitere Frage ist nun, ob sich in der thomasischen Konzeption aus einer vorgegebenen Natur inhaltliche Handlungsnormen ergeben. Daß der Mensch nicht durch natürliche Neigungen und Triebe gelenkt wird, steht außer Konsequenterweise müßte man dann auf eine logisdie Letztbegründung des sittlichen Anspruchs verzichten und sich mit einer pragmatischen Legitimation begnügen. Der Anspruch scheint ultimativ weder aus „Werten an sich" noch aus einer formal-logischen Analyse der Moralsprache nodi aus einer transzendental-philosophisdien Bewußtseinstheorie begründbar zu sein. Versuche dazu zeigen erhebliche Schwierigkeiten. Vgl. I. Craemer-Ruegenberg, Über methodische Schwierigkeiten bei der Auslegung von moralischen Werturteilen, in: M.Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bde., Freib. 1972—73, S. 133—158. 16 Der unbedingte Anspruch, den der Mensch in seiner Freiheit erfährt, muß in kontingenten Einzelakten vollzogen werden. Dabei bleibt das konkrete innerweltliche Tun in seiner Intelligibilität auf den totalen Sinn menschlicher Vernunft hin offen. „Der sittliche Vollzug einer Einzelhandlung qualifiziert den ganzen Menschen, insofern er als Subjekt dieser Handlung sich selbst als Person aktuiert und sich in seiner Bedingtheit annimmt oder nicht annimmt. Durch die sittliche Einzelhandlung kommt die menschliche Person von ihrer Berufung zum Sich-Entscheiden in Freiheit und zum Entschieden-Sein in Freiheit." (J. Fuchs, Moraltheologie und Dogmatik, in: Gregorianum vol. 50 [1969] 699.) Die Absolutheit in der Beanspruchung kommt also nicht aus der Einzelhandlung, sondern aus der Beanspruchung des kontingenten Menschen durch den absoluten Gott.

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Zweifel. Wieweit vermag er aber mit seiner Vernunft aus seinem Wesen und seinen wesentlichen Tendenzen und Beziehungen normative Weisungen abzuleiten? Vom Neo-Thomismus wird der Aquinate gern als Kronzeuge für die Relevanz biologischer Gesetze zu einem vernunftgemäßen Leben zitiert. Die Enzyklika „Humanae vitae" gibt für die These, daß verantwortliche Elternschaft „Kenntnis und Achtung der Funktion biologischer Abläufe" verlange (Nr. 10), Thomas' Lehre von den natürlichen Neigungen (I—II, 94, 2) als Beleg an. Tatsächlich läßt sich nicht übersehen, daß Thomas zur Beurteilung konkreter sittlicher Fragen auch auf die „rectitudo naturalis" zurückgreift. So muß man etwa bei der vernünftigen Regelung im leiblich-sinnlichen Bereich (circa corporalia et sensibilia) durchaus „beachten, daß jeder Teil des Menschen und jeder seiner Akte sein geschuldetes Ziel erreiche"17. Oder auf die Frage, ob jede Lüge Sünde sei, antwortet er entschieden positiv mit dem Hinweis: „Da nämlich die Worte natürlicherweise Zeichen für die Gedanken sind, ist es unnatürlich und ungehörig, mit einem Worte etwas auszudrücken, was man nicht im Sinne hat" 18 . Darum ist die Lüge der Art nach schlecht. Dagegen kann auch selbst der konkrete Fall einer Falschaussage zur Vermeidung größeren Übels nidit ins Feld geführt werden (II—II, 110, 3, ad 4). Gerade in diesem letzten Beispiel scheint sich Thomas durchaus einer Argumentation zu bedienen, die man bei einem „NeoThomisten" als „essentialistisch" bezeichnen würde. J. Endres schreibt denn auch in seinem Kommentar zur Stelle: „In dem Für und Wider die Erlaubtheit der Lüge offenbaren sich zwei grundsätzlich verschiedene Haltungen: die eine will das Leben mit Hilfe der Klugheit den Seinsgesetzen anpassen, die andere will diese der jeweiligen Situation anbequemen, bzw. sie danach umbiegen. Letztlich geht .es um die Frage, ob Theonomie oder Autonomie" 19 . Eine solche Alternierung von Theonomie und Autonomie, wie Endres sie hier vornimmt, scheint mir allerdings sehr fragwürdig. Er würde statt „Autonomie" viel besser sagen „Willkür", denn eine Vernunft, die „anbequemt" und „umbiegt" ist als normative Vernunft nicht ernst zu nehmen. Wir haben jedenfalls in den bisherigen Ausführungen den Begriff Autonomie so verstanden, daß der Mensch als vernünftiges Wesen die für 17 Vgl. ScG. III, 122, „Sicut autem in toto, ita et in partibus, considerari oportet, ut scilicet unaquaeque pars hominis et quilibet actus eius finem debitum sortiatur." Dies als Grundsatz zur Untersuchung der Bedeutung der „emissio seminis" im Zusammenhang mit der Beurteilung der „fornicatio simplex". 18 II—II, 110, 3 „Mendacium aütem est malum ex g e n e r e . . . cum enim voces naturaliter sint signa intellectuum, innaturale est et indebitum quod aliquis voce significet id quod non habet in mente." 19 DThAusg. 20. Bd., Heidelberg 1943, S. 429.

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die mensdiliche Gemeinschaft gültigen Verhaltensnormen selbst bilden muß und daß er bei diesem Tun allein auf seine Vernunft angewiesen ist20. Solches Verständnis von Autonomie steht zur Theonomie nicht im Gegensatz, sondern wird nach Thomas durch die lex aeterna geradezu legitimiert. Der Autonomie widerspricht auch nicht die Notwendigkeit, daß die Vernunft auf der Suche nach dem Vernunftgemäßen ihren Blick auf die Wirklichkeit des Mensdien und seiner Beziehungen richten muß. Das Problem liegt im rechten Verständnis der Seinsordnung als ontologischer Grundlage des Handelns. Und nur, wenn man dieses Problem in einer bestimmten Weise mit Theonomie verbindet, entsteht ein Konflikt zwischen Theonomie und Autonomie. Das Verständnis der Seinsordnung selbst ist nicht ein Problem theonomer oder nicht-theonomer Legitimierung des Sollensanspruchs, sondern eine Frage, die sidi innerhalb wie außerhalb einer theonombegründeten Ethik stellt. Sie hängt zusammen mit der notwendigen Unterscheidung einer metaphysischen Wesensaussage von einem bloß verallgemeinernden Erfahrungsurteil wie auch mit der eingangs erwähnten These, daß eine metaphysische Einsicht zwar für das Handeln „bedeutsam", aber deshalb noch nicht unmittelbar handlungsregulierend sei. Was heißt das nun konkret für die Frage der Naturgemäßheit des sittlichen Lebens? Zunächst läßt sich unter neueren Autoren ein ziemlich breiter Konsens feststellen hinsichtlich der Interpretation der Lehre von den sogenannten „natürlichen Neigungen" (inclinationes naturales I—II, 94, 2) 21 . Mit der gesamten Theologie seiner Zeit rechnet Thomas dazu: die allen Substanzen eigene Neigung zur Selbsterhaltung, die allen Sinnenwesen (Menschen und Tieren) gemeinsame Neigung zur Arterhaltung und die nur dem Menschen zukommende Ausrichtung, gemäß seiner Vernunft zu handeln. In spekulativer Überlegung zeigt Thomas, daß das sittliche Subjekt zu der ihm gestellten Aufgabe insofern von Natur vorbereitet ist, als es in seinem praktischen Verstand mit einiger Überlegung die erfahrbare Neigung als notwendig, gut und erstrebenswert erkennt. Mit den natürlichen Neigungen wird also so20 Von der Möglichkeit einer positiv göttlichen Willensoffenbarung können wir hier im Bereich des natürlichen Sittengesetzes absehen. Es ist dazu aber mindestens anzumerken, daß selbst eine solche Offenbarung sittlicher Forderungen sich in eindeutigen Wertprädikaten an die sittliche Vernunft richten müßte, sollen die Forderungen als sittliche erfüllt werden. 21 Vgl. F. M. Schmölz, Das Naturredit und seine dynamische Kraft, Freiburg 1959, S. 133—138; W. Kluxen, Philosophische Ethik, a. a. O., S. 235 f. J. Th. Arntz, Die Entwicklung des naturrechtlichen Denkens, a. a. O. (Anm. 1), S. 97 f.; L. OeingHanhoff, Der Mensch: Natur oder Geschichte?, in: Naturgesetz und christl. Ethik (Mü. Akademie-Schriften 55) 1970, S. 26 f.; D . Mongillo, L'elemento primario, a. a. O. (Anm. 7), S. 117 f.

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zusagen das Terrain abgesteckt, in dem der Mensch zur Selbstgestaltung schreiten muß, es werden die Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens aufgezeigt, die Gegenstand vernünftiger Regelung sein müssen22. Es werden aber hier keine Obersätze aufgestellt, aus denen dann zu deduzieren wäre, wie sich die Selbstverwirklichung konkret vollziehen müsse. Schwieriger ist die Frage zu lösen, wie Thomas seine konkreten Hinweise zur Naturgemäßheit des sittlichen Lebens verstanden hat. Ich bin nicht geneigt anzunehmen (wie dies einzelne Autoren empfehlen), daß Thomas seinen eigenen Ansatz in der Secunda Secundae selbst nicht durchgehalten habe. Es gibt dafür bessere Erklärungen. Man wird vor allem die von Kluxen so betonten zwei verschiedenen Perspektiven23 beachten müssen: diejenige der praktischen Philosophie, die auf das Leben secundum rationem zielt, und diejenige der Metaphysik des Handelns, die die Fundamente auch des konkreten sittlichen Handelns zu klären sucht. Im Anschluß an Kluxen macht Oeing-Hanhof} darauf aufmerksam, daß die beiden Perspektiven in der Zusammenschau der Theologie gleichsam (im philosophischen Sinn des Wortes) „aufgehoben" werden. „Denn die Theologie sieht nach Thomas gewissermaßen alles mit dem Auge Gottes und sieht so aus einer Blickrichtung und in Einheit, was philosophisch notwendig getrennt und auseinanderzuhalten ist. Wenn man diese Struktur der thomistischen Theologie nicht beachtet, verstellt man sich fast völlig den Weg zu einem angemessenen Verständnis"24. Dazu wird man ebenso notwendig berücksichtigen müssen, daß Thomas seine spezielle Moraltheologie als Tugendlehre und nicht als Gesetzestraktat faßt. Seine Fragerichtung zielt daher grundlegend auf die richtige Haltung des sittlichen Subjekts. Es geht um den gerechten, den wahrhaftigen, den zuchtvollen Menschen. Gewiß wird der Akt und durch den Akt auch der Habitus von dem ihm zugehörigen Objekt bestimmt; aber es geht nicht um die Aufstellung absoluter Handlungsnormen, sondern um die Grundlage des gerechten Handelns in einer entsprechenden sittlichen Haltung des Subjekts. Insofern stellt sich dann immer grundlegend die Frage, ob und warum die Gerechtigkeit oder eine ihr zugeordnete Haltung eine spezielle Tugend sei. Die Antwort kann dann durchaus lauten, die Wahrhaftigkeit sei eine besondere Tugend, weil sie den Mensdien unter einer besonderen Rüdksicht auf das gute Handeln ausrichte. „Es liegt aber eine besondere Zuordnung vor, 2 2 Diese Interpretation wird besonders durch das Responsum ad 2 in I — I I , 94, 2 gestützt: „ . . . omnes huiusmodi inclinationes... secundum quod regulantur ratione, pertinent ad legem naturalem, et reducuntur ad unum primum praeceptum . . 2 3 Vgl. Anm. 3. 2 4 L. Oeing-Hanhoff, Der Mensch: Natur oder Gesdiithte?, a. a. O., S. 32.

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wenn unser Äußeres, seien es Worte oder Taten, in gehöriger Weise auf etwas ausgerichtet ist, wie das Zeichen auf das Bezeichnete"25. Hier haben wir es im Sinne von Kluxen ganz eindeutig mit einer Aussage der spekulativen Vernunft zu tun, die „den Menschen mitsamt dem Bereich seines Seinkönnens als in einer Gesamtordnung stehend begreift" 26 . Solche Aussagen sind für das Handeln „bedeutsam", sie sind aber nicht unmittelbar handlungsregelnd. Im gleichen Sinn kann Thomas dann auch sagen, es sei der Naturzweck (intentio naturae) des Sprechens, das, was man denkt und empfindet, zu sagen, und so sei Unwahrhaftigkeit auch gegen die Natur des Sprechens und damit gegen die menschliche Natur 27 . Audi hier bewegen wir uns im Bereich „der Metaphysik des Handelns, die nicht Normen aufstellt und beurteilt, sondern deren metaphysische Grundlage aufzeigt" 28 . Und Oeing-Hanhoff meint, daß es Thomas mit der ihm eigenen Genialität gelungen sei, den stoischen Gedanken der Naturbestimmtheit des Sittlichen „aufzuheben" in einer Metaphysik des Handelns. Die unmittelbar auf das Handeln gerichtete praktisdie Vernunft bleibt der Vollendung und Erfüllung der menschlichen Natur verpflichtet, ihr Maß und Kriterium gewinnt sie aus dem Blick auf das „bonum humanuni" im umfassenden Sinn 29 . Daraus müßte sich dann logisch ergeben, daß sich die Vernunftgemäßheit eines konkreten Tuns nicht schon aus seiner Natürlichkeit, d. h. aus seiner unmittelbaren Ausrichtung auf den Naturzweck, beurteilen läßt, sondern aus dem Bezug auf das umfassende Wohl des Menschen und der menschlichen Gesellschaft. So müßte denn der vernünftigen humanen Existenz eine Falsdiaussage als geboten erscheinen, wenn z. B. ein vom Feind gefangener Soldat seine Kameraden verraten soll. Doch genau hier wird die von OeingHanhoff gezogene Konsequenz vom Thomastext nicht mehr gedeckt. Thomas bringt dieses Beispiel selbst als vierten Einwand und lehnt eine Falschaussage als innerlich schlecht für jeden Fall (bedingungslos) ab. Daran läßt sich nicht rütteln, und auch ein Rekurs auf eine spekulative Erkenntnis paßt hier nicht hin. Andererseits darf man den Hinweis auf die Worte als natürliche Zeichen auch nicht im Sinne einer oberflächlichen Natürlichkeit deuten. Die Lüge widerspricht in einer 25

II—II, 109, 2, vgl. D T h A 20. Bd., S. 126. Vgl. Anm. 3. 27 Vgl. II—II, 110, 3. S8 L. Oeing-Hanhoff, a. a. O., S. 32. 28 Vgl. L. Oeing-Hanhoff, a. a. O., S. 35. »Aus diesem Abriß der thomistisdien Lehre dürfte deutlidi geworden sein, daß nadi Thomas sittliches Handeln zwar stets naturgemäß ist, weil es die menschliche Natur verwirklicht und vollendet, daß aber die Natur des Menschen und die Naturzwecke seiner Tätigkeiten unmittelbar kein Kriterium für die Sittlichkeit abgeben: Erster unmittelbarer Maßstab für die Sittlichkeit ist das gute menschliche Leben, die vernünftige humane Existenz." M

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viel tieferen Weise der Vernunftordnung. Die Wahrhaftigkeit als eine Grundform der Wahrheit hängt so fundamental mit der Vernunftordnung zusammen, daß sie sozusagen ihr Apriori bildet. Hier scheint das Prinzip der Rationalität selbst durch den Widerspruch gefährdet 30 . Wie immer man zu dieser Interpretation stehen mag, die Hauptlinie der thomasischen Lehre ist klar: Sittliches Handeln ist in erster Linie vernunftgemäßes Handeln, das sich nicht widersprüchlich vollziehen darf, und das gerade als solches die menschliche Natur verwirklicht und vollendet.

2. In der spanischen Spätscholastik öffnen sich zwei Wege für die Weiterentwicklung der thomasischen Naturrechtslehre. Die Erneuerung des naturrechtlichen Denkens in der spanischen Schule des 16. Jahrhunderts steht unter einem doppelten Vorzeichen. Von der politischen Situation her zeigt sich die Notwendigkeit, auch die neu gewonnenen Kolonialvölker in ein einheitliches Recht (Völkerrecht) einzubeziehen. Anstelle der spekulativen Fragerichtung nach der Eingliederung der Sittlichkeit in eine umfassende Ordnung tritt mehr die praktische Frage nach der Verbindlichkeit konkreter Normen. Und geistesgeschichtlich ist gerade diese Frage wie die gesamte Naturrechtsdiskussion stark bedingt durch die langen Auseinandersetzungen mit dem Voluntarismus. Auf diesem Hintergrund muß auch der Schulstreit gesehen werden, der mit den Namen der zwei bekanntesten Jesuitentheologen der Zeit verbunden ist: Gabriel Vazquez und Francisco Suarez. Die beiden standen in einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung über die Begründung des Sollensanspruchs naturrechtlicher Handlungsnormen. Die Kernfrage kreist um die Möglichkeit einer theonomen Rationalität in Gegenüberstellung zu einer voluntaristisch-nominalistischen Moral. Es geht um die Frage, ob Theonomie die sittliche Autonomie des Menschen in Frage stelle oder geradezu begründe. In diesem Zusammenhang gibt es in der Geschichte der katholischen Naturrechtslehre kaum eine interessantere Gestalt als die des umstrittenen Jesuitentheologen Gabriel Vazquez. Nach H. Welzel hat Vazquez „das Naturrecht von dieser theonomen Basis so weit gelöst, daß es zu seiner völligen Säkularisierung im Grunde keines wei3Q

Die „inclinatio ad bonum secundum naturam rationis" ist für das natürliche Sittengesetz schlechthin fundamental. Damit hat der Mensch die Möglichkeit „ad hoc quod in societate vivat" (I—II, 94, 2). Sie ist das entscheidende Prinzip zur Unterscheidung von Gut und Böse überhaupt (I—II, 18, 5). Von der Lüge wird in diesem Zusammenhang zwar unmittelbar nicht gesprochen, aber die Irrationalität der Lüge hat hier doch ihren tiefsten Grund.

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teren Schrittes mehr bedurfte" 31 . Diese Feststellung Welzeis ist verständlich; sie gibt aber eigentlich nur den Vorwurf wieder, den F. Suarez seinem Ordensbruder machte, indem er ihm ständig eine falsche Autonomie der Vernunft vorgeworfen hat. José M. Galparsoro Zurutuza hat auf meine Anregung hin durch eine gründliche Quellenanalyse den Ansatz von Vasquez neu dargestellt und die entscheidenden Differenzen der beiden spanischen Theologen herausgearbeitet 32 . Das Bild ist überraschend. Vazquez verläßt den Weg theonomer Begründung nicht; er war sogar Exponent einer bedeutenden Richtung im iberischen Raum 83 . Sein Ansehen stand nicht hinter dem von Suarez zurück. Er war allerdings schon damals diskriminierenden Verdächtigungen ausgesetzt. Sie wirkten mit, daß in der Folgezeit der suarezianische Ansatz in der katholischen Moraltheologie zur Alleinherrschaft gelangte. Gerade deshalb ist eine kurze Darstellung der beiden Ansätze für unser Thema wichtig. Ich halte midi an die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit Galparsoros. G. Vazquez entwickelt sein Verständnis vom natürlichen Sittengesetz in seinem Kommentar zur Summa Theologiae des Aquinaten. Wenn er sich auch bemüht, dem großen Meister zu folgen, so entwickelt er doch sehr klar sein eigenes Konzept. Er differenziert den Gesetzesbegriff und will beim natürlichen Sittengesetz nicht von einem „constitutum per rationem" sprechen. Das Gesetz ist in diesem Fall nicht etwas, das von der Erkenntnis oder vom Willen hervorgebracht wird, es ist vielmehr dem Verstand und Willen vorgegeben. Nach Vazquez ist das sittliche Naturgesetz die vernunftbegabte Natur des Menschen selbst. Gegen den Voluntarismus betont er mit allem Nachdruck, daß die Wesensnatur des Menschen in bezug auf ihre innere Widerspruchslosigkeit von jedem willensmäßigen und rationalen Element unabhängig sei. Weil die Wesensnatur ihr letztes Fundament in der Natur Gottes hat, ist sie selbst dem göttlichen Erkennen und Wollen vorgegeben. Und weil das Sein Gottes nur in innerer Widerspruchslosigkeit gedacht werden kann, so ist auch die menschliche Vernunftnatur durch die innere Widerspruchslosigkeit geprägt. Dieses Prinzip der inneren Widersprudislosigkeit der Wesensnatur bildet das 31

H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 4 1962, S. 97. Vgl. José M. Galparsoro Zurutuza, Die vernunftbegabte Natur, Norm des Sittlichen und Grund der Sollensforderung, Systematische Untersuchung der Naturreditslehre Gabriel Vazquez', Bonn 1972. " Galparsoro zeigt (S. 22—42) aus bisher unveröffentlichten Manuskripten von Martin de Ledesma, Ignacio Martins, Gaspar Congalvez, Luis de Cerqueira, daß die Berufung auf die „necessitas materiae" mit dem Akzentwechsel v o m „Subjekt auf den Objektpol" (Arrttz) offensichtlich schon vor Vazquez ziemlich verbreitet war. Diese Vertreter zeigen sich in dieser Hinsicht sogar weit radikaler als Francisco Vitoria. 82

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ontologisclie Fundament im System von Vazquez. Aus der Widerspruchslosigkeit der Vernunftnatur als solcher („natura rationalis quatenus rationalis") erwächst der unbedingte Sollensanspruch. In diesem Sinn ist die Verpflichtung nicht im Erkennen oder Wollen Gottes verankert; jedoch für Vazquez nur denkbar auf dem Hintergrund des widerspruchslosen göttlichen Wesens. Wenn daher die Sollensforderung nicht direkt von einem formalen Willensakt Gottes hergeleitet wird, so besagt das keineswegs, dem Anspruch fehle die theonome Basis; solange die menschliche Vernunftnatur nur im Gottbezug als sinnvoll gesehen wird, ist auch die theonome Rückbindung gesichert. Vazquez vertritt daher — wie Galparsoro mit Recht hervorhebt — keine profane Vernunftautonomie, sondern ein System theonomer Rationalität 34 . Die widerspruchslose Vernunftnatur ist aber nicht nur Verpflichtungsgrund, sie hat auch normative Funktion. Die praktische Vernunft, die keineswegs identisch ist mit der vernunftbegabten Natur als solcher, hat die Übereinstimmung oder Nicht-Ubereinstimmung der Handlung mit der Vernunftnatur zu prüfen, aus der sich im genannten Sinn die Verpflichtung ergibt. „Die Sollensforderung erweist sich also letztlich nicht als Wirkung eines verpflichtenden Gehorsams, der dem Menschen auferlegt wurde mit dem Ziel, die .natürliche Ordnung' zu bewahren, sondern als Wirkung jenes Verhältnisses, in dem die Wesensnatur der sittlichen Handlung sich der spezifischen menschlichen Natur gegenüber befindet" 35 . Es ist im Grunde das Prinzip, daß der Mensch sich seiner vernunftbegabten Natur entsprechend vollziehen soll; in der Nichtwidersprüchlichkeit dieser Forderung liegt ihre Unbedingtheit. Auf die Frage, wie die Natur inhaltlich bestimmt sei, gibt Vazquez keine nähere Auskunft. Galparsoro sudit indirekt eine Antwort, indem er die praktischen Schriften dahingehend befragt, woher Vazquez denn konkret die Richtigkeit des Tuns beurteile. Das Ergebnis ist interessant: kein einziges Mal wird in konkreten Fragen auf die Wesensnatur rekurriert. Die sittliche Bewertung stützt sich bald auf die Vernunfteinsicht 36 , bald auf die biologische Natur 37 , auf den natürlichen Instinkt 38 oder auf die Natur der Sache39. Dieser Rekurs auf die verschiedensten Gegebenheiten zeigt deutlich, „daß es sich hier um einen Versuch des denkenden Menschen handelt, den Gehalt ethischer Normen zu finden und zu begründen, auf welchem 34 35 36 37 38 39

Vgl. Galparsoro, a. a. O., S. 197 f. A . a . O . , S. 172. Z. B. zur Beurteilung des Ärgernisses. Etwa zur Beurteilung der Abtreibung, a. a. O., S. 112—119. Die Elternpflicht beruht auf einem natürlichen Instinkt, a . a . O . , S. 119—121. Die Steuerpflidit wird unter diesem Aspekt gesehen, a. a. O., S. 121—123.

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Wege es auch sein mag. Allerdings kommt hier ebenso deutlich zum Ausdruck, wie relativ, zeit- und wissensbedingt diese Begründung ist" 40 . Die lex naturalis, d. h. die widerspruchslose Vernunftnatur des Menschen und der ihr grundsätzlich entsprechende Selbstvollzug, ist darum streng zu unterscheiden von dem konkreten Urteil der Vernunft, diese oder jene Handlung sei der Vernunft angemessen. Die konkrete Beurteilung, was vernunftgemäß sei, muß sich an Kriterien orientieren, die nicht das Ganze zu fassen vermögen. Sie bleibt darum entsprechend der Unterscheidung von Naturgesetz und Vernunfturteil relativ. Galparsoro meint darum abschließend, die radikale Loslösung des Naturgesetzes vom Willen und Verstand bedeute nicht nur eine strenge Absage an den Voluntarismus, sondern bedeute zugleich, „daß der menschliche Intellekt in seiner Beurteilungstätigkeit für den sittlichen Bereich die Wirklichkeit von Naturgesetz weder konstituiert noch den Anspruch erheben kann, genuiner und perfekter Ausdruck von dem zu sein, was die lex naturalis ist" 41 . Man müsse also tatsächlich bei Vázquez von einer Absolutheit des Anspruchs bei einer steten Relativität des konkreten Inhalts ausgehen. Demgegenüber läßt sich bei Francisco Suarez ein deutlich verschiedener Ansatz erkennen. Er hat sich nicht mit gleicher Entschiedenheit vom Voluntarismus abgewandt, sondern schlägt seinerseits einen Kompromiß vor. Grundlegend für die Sittlichkeit ist die innere Ordnung der menschlichen Handlung. Das Urteil der Vernunft zeigt auf diese innere Gutheit oder Schlechtigkeit der Handlung und deutet dann „consequenter" auf den Willen Gottes hin, der entsprechend gebietet oder verbietet 42 . So liegt das sittliche Naturgesetz in der „naturalis ratio" als Urteilskraft über das, was der Natur angemessen oder unangemessen ist43. Dabei kommt die Verpflichtung weder aus dem Vernunfturteil noch aus der inneren Ordnung des Aktes, sondern aus dem Willen Gottes. Das reine Vernunfturteil über die Gutheit oder Schlechtigkeit einer Handlung hätte in sich keine Verpflichtungskraft, wenn nicht der Wille Gottes in dieses Urteil eingeschlossen wäre. „Der Verstandesakt, der im Bereich des Sittlichen über Gutheit oder Schlechtigkeit einer Handlung urteilt, ist eine Signifikation des Willens Gottes und 10

A. a. O., S. 205. A. a. O., S. 202. 42 Vgl. F. Suarez, De Legibus, Lib. II, cap. 6 n. 8: „Ergo ratio naturalis, quae indicat quid sit per se malum vel bonum homini, consequenter indicat esse secundum divinam voluntatem ut unum fiat, et aliud vitetur." 4S Vgl. F . S u a r e z , De Legibus, Lib. II, cap. 5 n. 9: „ . . . e s t vis quaedam illius naturae, quam habet ad discernendum inter operationes convenientes et disconvenientes Uli naturae, quam rationem apellamus." 41

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darum bindend" 44 . Suarez geht einen bedeutenden Schritt in Richtung auf eine objektiv vorgegebene Aktmoral, die er zugleich mit dem Obligationsprinzip des göttlichen Willens verbindet. Zwar wird dieser Wille Gottes noch nicht mit der Wesensstruktur des Aktes identifiziert, aber im Urteilsakt über die Richtigkeit einer Handlung manifestiert sich der Wille Gottes und verleiht ihr eine unbedingte Verbindlichkeit. Das natürliche Sittengesetz nimmt dieses Urteil auf und gebietet oder verbietet den in sich guten respektive den in sich schlechten Akt. Dabei betont Suarez ausdrücklich, daß man aber zum Verständnis eines solchen natürlichen Gebotes „die Bedingungen und Umstände erforschen muß, unter denen der betreffende Akt in sich schlecht oder in sich gut ist" 45 . Damit wird deutlich, daß „malitia intrinseca" nicht einfach gleichbedeutend ist mit einem absoluten Verbot. Der Weg zur inhaltlichen Auffüllung des natürlichen Sittengesetzes mit konkreten Handlungsnormen war eröffnet, die volle Divinisierung und Verabsolutierung der Wesensordnung sollte später folgen. Bruno Schlegelberger hat in seiner Studie über die Stellung der katholischen Moraltheologie zum vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr seit Alphons von Liguori den letzten Schritt zum Essentialismus sehr deutlich markiert 46 . Wer die Kontingenz der unsere menschlichen Handlungen bestimmenden Werte anerkennt, muß grundsätzlich für eine Berücksichtigung der Bedingungen, d. h. für eine Güterabwägung offenstehen. Man kann zwar versuchen von der Gefährdung der Gesamtordnung (ex periculo communi) aus gegen jede Zulassung einer Ausnahme zu argumentieren. Unbedingt zwingend ist dieses Argument nicht. Unter diesen Voraussetzungen haben manche Theologen bis in die neuere Zeit hinein auch die Frage der vorehelichen Beziehungen beurteilt. Demgegenüber setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert immer mehr eine Naturrechtsauffassung durch, wie wir sie im ersten Teil unseres Beitrages kennengelernt haben. Anstelle einer objektiv begründeten Vernunftordnung tritt die göttliche Natur oder Wesensordnung, in die der Wille Gottes selbst eingeschlossen ist. Schlegelberger weist besonders auf die entscheidende Stellung und den Einfluß des Moraltheologen der Gregoriana, Arthur Vermeersch, 44

Vgl. Galparsoro, a. a. O., S. 189. Vgl. F. Suarez, De Legibus, Lib. II, cap. 16, n. 6: „lex autem secundum de spectata non praecipit actum nisi ut illum bonum esse supponit, nec prohibet nisi prout supponit intrinsece malum, et ideo ad intelligendum verum sensum naturalis praecepti, necesse est inquirere conditiones et circumstantias cum quibus actus ille secundum se malus est vel bonus, et haec vocatur interpretatio praecepti naturalis quoad verum sensum eius." 46 Vgl. B. Schlegelberger, Vor- und außerehelicher Gesdileditsverkehr, Die Stellung der katholischen Moraltheologen seit Alphons von Liguori, Remscheid 1970, S. 127—148. 45

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hin 47 . Vermeersch machte den Moraltheologen den Vorwurf, sie dächten zu wenig metaphysisch. Sie sähen in der vorgegebenen Wirklichkeit eine sekundäre Ordnung und beurteilten die einzelnen Akte nach der Bedeutung ihrer Objekte und der möglichen Folgen. Demgegenüber müsse die Wesensordnung, die aus dem Wesen der Dinge bestimmt wird, als Gottes Ordnung selbst gesehen werden. Diese Ordnung könne in ihrer Substanz oder auch nur in ihrer Integrität verletzt werden. Jede Verletzung sei innerlich schlecht, doch sei eine Verletzung der Integrität leichte Sünde, eine solche, die den Menschen und seine Naturanlage betrifft, jedoch als substantielle Verletzung objektiv immer schwere Sünde48. Was Wesensordnung ist, lasse sich durch Verallgemeinerung und Abstraktion aus der Erfahrung gewinnen, und die so gewonnene Ordnung sei als solche die inhaltlidi absolut geltende, weil gottgewollte Sittenordnung. Wir stehen hier bei der neothomistischen Theorie vom natürlichen Sittengesetz, wie sie die Verlautbarungen des kirchlichen Lehramtes in diesem Jahrhundert weitgehend bestimmt hat. Aus solch einer Divinisierung und Verabsolutierung der geschaffenen Welt kann der Weg nicht mehr weiter führen. Es gibt nur einen Weg zurück zu den Quellen; einen Weg zurück zur Vernunft in ihren eigenen kreatürlichen Grenzen. Thomas hat ihn gezeigt, indem er Gottes und des Menschen Subjektsein nicht vermischt, sondern in der unendlidien Distanz die absolute Abhängigkeit der Kreatur begründet und des Menschen theonome Autonomie als seine Gottebenbildlichkeit aufgewiesen hat. 47

A. a. O., S. 128—135. Vgl. A .Vermeersch, De castitate et de vitiis contrariis, Rom 2 1921, n. 305: Text zitiert bei Scblegelberger, a. a. O., S. 129 (Anm. 6). 48

Zur Naturrechtslehre des Luthertums HELLMUTH M A Y E R ,

Kiel

Naturrechtslehre ist der altüberlieferte — auch noch von Hegel verwendete — Name der philosophischen Rechtslehre. Sie bildet mit ihrer engverbundenen Zwillingsschwester, der Ethik, einen unentbehrlichen Systemteil jedes philosophischen Systems. Mutatis mutandis ist das Sachverhältnis von Ethik, Rechtslehre und theologischer Dogmatik das gleiche. Wer Luther als naiven Naturrechtler auffaßt, macht ihn zum theologischen Stümper (zutreffend Johannes Hecket). Naturrechtslehre will materiale Rechtsphilosophie sein. Vielfach wird heute die Möglichkeit einer materialen Ethik oder Rechtslehre geleugnet. Der Theoretiker mag derartige Behauptungen aufstellen, er trägt die Folgen dieser Leugnung nicht unmittelbar. Der Richter müßte sehr bald zu richten aufhören, hielte er die materiale Gerechtigkeit in seiner historischen Situation nicht für erkennbar. Immer wieder steht er in der Praxis vor Fragen, welche weder im Gesetz noch in den dem Gesetz zugrundeliegenden Wertvorstellungen vorentschieden sind. Jhering hat zwar mit seiner Lehre vom Zweck im Recht einen neuen Weg eröffnet. Aber jeder Richter weiß, daß ihm die Wertentscheidung bei konkurrierenden Zwecken vielfach nicht erspart bleibt. Erst recht ist der Jurist de lege ferenda genötigt, zwischen verschiedenen Zwecken nach den Maßstäben materialer Gerechtigkeit sich zu entscheiden. Nichts ist zweckmäßiger als eine Schafherde, nämlich für den Schäfer, der die Schafe nach seinen Bedürfnissen pflegt, scheert, schlachtet oder verkauft. Dieses Sozialideal des Trasymachos versuchte mancher Diktator zu verwirklichen. Luther hat die historische Gestalt der überlieferten Naturrechtslehre entscheidend verändert, indem er Recht und Ethik auf den lebendigen Gott als die einzige Wirklichkeit bezog. Dies ist in der bisherigen Diskussion u. E. nicht hinreichend gewürdigt worden.

A . Theologische Grundlagen I. Der Sünder vor dem lebendigen Gott Luthers Theologie quillt aus dem Gebet. Als Beter gehört Luther der allgemeinen, nicht irgendeiner partikularen Kirche an. Sein Ringen um Gottes Gnade ist nur als äußerste Steigerung mittelalterlicher monastischer Anstrengungen zu begreifen. Erst auf diesem Gipfel

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drängte sich Luther die Erkenntnis auf, daß auch die frömmste menschliche Bemühung, sei sie asketisch-methodisch, mystisch-„entwerdend" oder ethisch-religiös den schrecklichen Graben der Sünde nicht überspringen kann, der den Menschen von Gott scheidet, ja daß sich an der göttlichen Majestät vergreift, wer sich die freie Gnade Gottes nicht schlechthin schenken lassen will (Ev. Luk. 18, 9—17). Schon lange vor Luther hat es manchen klaren Kopf, manchen mutigen Mann gegeben, welcher gegen Mißstände der mittelalterlichen Kirche protestierte. Für den Gebetskampf Luthers blieb dieser Protest ohne tiefere Bedeutung, waren doch ganz offenbar solche Mißstände mit der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur unvermeidlich verbunden, stammten zudem aus ursprünglich berechtigtem Engagement der Kirche für die Welt. Den spezifischen Entartungen monastischer Praxis konnte sich Luther verhältnismäßig leicht entziehen, indem er sich einem observanten Kloster der Augustiner Eremiten anschloß, wo er ernste Frömmigkeit, theologische Tiefe erwarten durfte und sogar in Staupitz einen Pater evangelicus vorfand. Zur geschichtlichen Tat wurde Luther berufen, als er vor seiner eigenen Sünde verzagte und sich der freien göttlichen Gnade unterwarf, denn „meine K r a f t ist in den Schwachen mächtig" (Paulus 2. Kor. 12, 9). Das Urbild solchen Gebets finden wir im Gesicht des Jesajas 6, 5 ff.: „Weh mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen und wohne in einem Volke unreiner Lippen, denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth gesehen mit meinen Augen." „ D a flog der Seraphim einer zu mir, und hatte in der Hand eine glühende Kohle, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe nun sind deine Lippen gerührt, daß deine Missetat von dir genommen und deine Sünde versöhnt sei." Die moderne Anklage gegen Luther und das Luthertum, es fehle das Engagement für den Menschen, insbesondere für seine sozialen Probleme, wiegt, recht besehen, federleicht. Wie Jesaja steht Luther nicht allein, sondern zugleich für sein sündiges Volk, die sündige Menschheit, vor Gott. Erst als Jesajas durch Gott entsühnt ist, spricht die Stimme des Herrn: wen soll ich senden? Jetzt erst antwortet der Prophet: Sende mich. Nur extreme Ignoranz kann der mittelalterlichen Missionskirche, der späteren Armutsbewegung ihre außerordentlichen Verdienste im Kampf gegen Unrecht, im Einsatz gegen menschliches und soziales Leid absprechen. Gerade dieser Einsatz für* den Menschen, beginnend mit den Christenrechten der leges barbarorum verstrickte die Kirche in die Priesterherrschaft. Dies war und ist der Lauf der menschlichen Dinge. Übrigens ist die Rechtfertigungslehre Luthers in Jesajas 6 in nuce enthalten.

Zur Naturreditslehre des Luthertums

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Ernst und Inhalt des Gebetsringens Luthers mögen uns zwei sehr frühe Zeugnisse belegen, welche die übliche Kontroverstheologie vernachlässigt. In den Resolutionen zu den Thesen (WA. Bd. I S. 522 f.) ist zu lesen: Ich kenne einen Menschen, der behauptet, diese Qualen der Hölle des öfteren erlitten zu haben. Es dauerte nur eine kürzeste Zeit, aber so groß und höllisdi waren die Leiden, wie sie keine Zunge aussprechen, keine Feder schreiben und der, der sie nicht erlebt hat, nicht glauben kann. Wenn diese Qualen sich vollendeten oder auch nur den zehnten Teil einer Stunde dauerten, müßte der Mensch von Grund aus verderben. Alle Gebeine würden zu Asche verzehrt. Da erscheint Gott im schrecklichen Zorn und mit ihm gleicherweise die ganze Kreatur. Da ist keine Flucht, kein Trost, nicht innen, nicht außen, alles klagt dich an. Da jammert der Mensch diesen Vers: „Verworfen bin ich vom Angesicht deines Blickes." Und er wagt nicht einmal zu bitten: „Herr verwirf midi nicht in deinem Grimme!" In solchen Augenblicken — es klingt unglaublich — kann die Seele nicht glauben, daß sie irgendwann erlöst werden könnte. Nur daß sie fühlt, die Strafe hat ihr Vollmaß noch nicht erreicht. Und doch ist sie ewig und du kannst sie nicht als zeitliche dir vorstellen. Allein bleibt der nackte Ruf nach Hilfe und das schreckliche Seufzen. Aber die Seele weiß nicht, von wo sie Hilfe erbitten soll. Hier ist die Seele ausgespannt mit Christus, daß alle ihre Knodien gezählt werden und kein Winkelchen ist in ihr, das nicht gefüllt wäre mit allerbitterster Bitternis, mit Schrecken, Angst und Traurigkeit und alle von ewiger D a u e r . . . Es ist die dahingehende Überflutung des ewigen..., untragbarer und untröstbarer Schrecken." Solches Erlebnis gründet objektiv in der Sache, es darf nicht psychoanalytisch aus der besonderen Subjektivität Luthers erklärt werden. Für jeden ernsten Christen ist Gott nicht etwa der harmlose liebe Gott des verfallenden Kulturprotestantismus. Als der alte Bodelsdiwing in Krankheit und Tod seiner vier Kinder die Härte Gottes erleiden mußte, war er zur Liebestat von Bethel bereitet. Immerhin sollte auch der nichtchristliche Denker mit dem Candide Voltaires von dem dümmlichen Optimismus abrücken, der sich vielfach im Positivismus breitmacht. Gerade der Positivist müßte einsehen, daß die Natur höchst grausam ist. So sollte die Vorstellung vom Zorn Gottes, sofern es ihn geben sollte, den Denker nicht befremden. Die Form des Berichtes zeigt die Besonderheit, daß Luther bei der Mystik in die Schule gegangen ist. Alle Mystiker wissen von der quälenden Dürre und Trockenheit der Seele zu berichten, wenn die erhebende Ekstase erlischt. Jeder Mensch kann, wenn er nur will, den Weg der Mystik beschreiten und wird dann die entsprechenden Erlebnisse machen. Der besondere schreckensvolle Gehalt der Lutherstelle ist auch nicht aus einer besondersartigen Psydie, sondern aus dem objektiven Ge-

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danken zu erklären, wie er in den nachstehenden Versen 2 und 3 aus dem Lied von 1523 „Nun freut euch alle Christen gmein" erkennbar wird. Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war idi verloren, mein Sünd mich quälte Nacht und Tag, darin idi war geboren, ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hat mich besessen. Mein guten Werk, die galten nuht, es war mit ihn' verdorben, der frei Will haßte Gottes Gericht, er war zum Gutn erstorben, die Angst mich zu verzweifeln trieb, daß nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Höllen mußt ich sinken. Diese Verse sind meines Wissens der älteste und wichtigste Beleg, wie Luther die Rechtfertigungslehre seines theologischen Meisters Wilhelm von Occam verstand. Dem heiligen Willen des (philosophisch-voluntaristisch verstandenen) persönlichen Gottes steht der freie Wille des Menschen als dessen Wesenskern gegenüber. Dieser menschliche Wille kann sich immerhin im ganzen im personhaften Sein f ü r Gott entscheiden, mag auch die Erbsünde den Menschen bis zu seinem Tode zu Einzelsünden verlocken. Entscheidet sich der Mensch mit seinem Wesen für Gott, so kann er mit Beistand göttlicher Gnade den Kampf der Heiligung aufnehmen. Er wird dann seine Begnadung und fortschreitende Heiligung auch erleben. Luther erfuhr leider das Gegenteil. Der freie menschliche Wille, den Luther hier jedenfalls noch nicht bestreitet, ist nicht frei, sich f ü r Gott wirklich zu entscheiden. Jedermann möge nur den Versuch wagen, sich auch nur f ü r eine Woche im voraus dem heiligen Willen des Herrn in vollkommener Gottes- und Nächstenliebe zu unterwerfen, er wird dann bald einsehen, daß niemand ein solches Versprechen wagen kann. So mußte die Lehre Occams nicht nur Luther, sondern auch viele andere nachdenkliche Menschen bis zur Gegenwart in Verzweiflung stürzen. In der Erzählung „Die erste Beichte" berichtet die katholische Autorin Ebner-Eschenbach über den Beichtunterricht eines siebenjährigen Kindes: „Clary war glücklich in der Gebetsformel, die nach vollbrachter Beichte zu sprechen ist, bis zu dem Satz gelangt: ,Und ich nehme mir ernstlich vor, lieber zu sterben, als Gott wieder durch eine Sünde zu beleidigen'. Dann machte sie eine Pause.

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,Das habe idi gelernt, weil's hier steht', bemerkte sie, ,aber im Beichtstuhle werde ich's nicht sagen.' Pater Joseph (der sidi trotz verständnisvoller Liebe für das Kind von dessen Vater zur vorzeitigen Beichte hatte nötigen lassen) seufzte tief, ,warum nidit?' fragte er mit einer der Verzweiflung verwandten Geduld. .Weil es nicht wahr ist' erwiderte das Kind. ,Wieso nicht wahr?' ,1m Evangelium heißt es, der Gerechte fällt siebenmal an einem Tage, und . . . ' Sie stockte, betroffen über die außerordentliche Traurigkeit, die sich in den Zügen ihres Freundes malten. Nun hätte er von Todsünde, von schwerer Beleidigung Gottes sprechen sollen, aber er sah die flackernde Aufregung, die sich des Kindes bemächtigt hatte, und wollte die Verwirrung in diesem Köpfchen nicht noch vergrößern, so schnitt er jede Erörterung mit den Worten ab ,Genug für heute. Tue, was vorgeschrieben ist, und grüble nicht'. ,Was mir vorgeschrieben ist. Idi muß versprechen, lieber zu sterben, als Gott wieder durch eine Sünde zu beleidigen? Ich muß?' fragte Clary und erblaßte. Die Erzählung berichtet weiter, wie das Kind, auf seine Weise auf den Tod vorbereitet, seine Spielsachen versdienkt, sich mit allen Menschen versöhnt. Der Sprung vom Schloßturm scheitert nur durch einen Zufall. Der Ebner, die hier ein eigenes Jugenderlebnis verarbeitet, muß man wohl abnehmen, daß die Beichtformel im Diözesan-Katechismus von Olmütz so gelautet hat. Natürlich hätte die Mutter des mutterlosen Kindes noch gelebt, so hätte sie ihm die vorzeitige Beichte erspart, notfalls auch sagen können, daß Selbstmord vor Gott kein gangbarer Ausweg aus der Sünde sei. Aber hätte die Mutter den Konflikt lösen können? Die feine Psychologin Ebner irrt nämlich selbst im Hauptpunkt. Das Kind ist nämlich gar nicht ,verwirrt', es denkt nur ebenso folgerichtig wie das viele kluge Kinder tun und wie es der Reformator auch tat."

II. Luthers Trost — Theologie 1. Die Lehre von der

Condeszendenz

Der oben beschriebene Konflikt, der durdi folgerichtiges Denken entsteht, kann nur dadurch gelöst werden, daß das unmittelbare Gotteserlebnis gedanklich richtig verarbeitet wird. Trotz alles modischen Irrationalismus ist nämlich folgendes zu sagen. Luther war zur reformatorischen T a t auch deshalb berufen, weil er zu den seltenen Menschen gehörte, bei denen Denken und Leben ebenso aufrichtig zusammenklingen wie bei aufrichtigen klugen Kindern. Die Erwachsenen lernen im Lebenskampf die nützliche Fähigkeit, die erforderlichen Ausflüchte zu produzieren, mit denen man an den Konflikten vorbei kommt. Außerdem bestand im späteren Mittelalter besonders reichliche Gelegenheit zur Flucht in Mystik und Meditation, welche von

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der Begegnung mit der schrecklichen Heiligkeit des lebendigen Gottes ablenken. N u n soll dem Doktor invincibilis nicht nachgesagt werden, daß er nicht ein ebenso ehrlicher und energischer Denker gewesen sei wie Luther. Falls er wirklich so gelehrt haben sollte, wie Luther ihn verstand, bleibt es also immer merkwürdig,, daß er die unausweichliche Konsequenz seines Gedankens nicht bemerkt haben sollte. Vielleicht drängen sich auch ganz grobe Widersprüche dem Denker doch erst im positiven System auf. Die Theologia moderna w a r aber wesentlich unsystematisch und kritisch, auch entbehren manchmal sehr energische Kritiker der Fähigkeit zur Selbstkritik. D a ß es sich aber wirklich um ein geschichtliches Problem handelte, geht indirekt auch aus den kontrovers-theologischen Antworten hervor, die bisher auf eine von altkirchlicher Seite gestellte Frage gegeben wurden. Die Frage lautet: w a r u m ist denn nur Luther zu diesem grundsätzlichen Angriff auf die altkirchliche Lehre gekommen, während doch viele fromme Mönche den gleichen Konflikt erlebt haben müßten. N u n fühlt man sich bei einzelnen großen Zeitgenossen Luthers an seine inneren K ä m p f e erinnert, aber die altkirchliche These, Luther habe leider der erforderlichen Demut entbehrt, überzeugt ebensowenig wie die protestantische, Luther habe ein ungewöhnlich zartes Gewissen besessen. D e r artige Urteile lassen sich historisch niemals verifizieren und haben nicht einmal eine geringe Wahrscheinlichkeit für sich. Einerseits hat es zu Zeiten Luthers und vorher an Heiligen nach menschlichem Urteil nicht gefehlt, andererseits hat Luther immer wieder in seinen theologischen Arbeiten bezeugt, daß seine Anfechtung auf der gedanklichen Deutung seines Gotteserlebnisses beruhte. Der lebendige Gott wendet sich eben nicht, wie der modische Irrationalismus wähnt, an die untermenschliche Lebendigkeit des Menschen, sondern auch an die Vernunft, welche diese Lebendigkeit erst zur echten Menschlichkeit macht. N u r der junge Luther hat als occamistischer Mönch die Vernunft als H u r e geschmäht, der reife Denker nicht. So müßte man nachträglich O c c a m den Ketzerprozeß machen? W i r haben hier nicht Occamforschung zu treiben, etwa zu untersuchen, inwieweit Luther O c c a m , Biel und seine unmittelbaren E r f u r t e r Lehrer richtig verstanden hat. W i r müssen aber zunächst feststellen, d a ß Occam von gutem biblischen Grund ausgeht. Es kommt wirklich darauf an, daß das Personverhältnis — heute sagt man gern die Grundbefindlichkeit — zwischen Mensch und G o t t in Ordnung kommt, sonst hilft auch ernste sittliche Anstrengung gar nicht. Den Paulinische Spruch „Was nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde" ( R o m . 1 4 , 1 2 ) lehren schließlich auch die alttestamentlichen Propheten. Die A n t w o r t findet Luther bekanntlich in seiner theologia crucis oder besser Trosttheologie, daß der Mensch allein gerechtfertigt werde

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durch Gottes Gnade, die er im Glauben annimmt. Uns interessiert hier nicht die Fülle der Theologumena, welche von der rabies Theologorum ausgeheckt, um diesen Mittelpunkt kreisen, auch nicht die Frage, ob Luther nicht einfach die wahre katholische Lehre wieder ans Licht gezogen habe, wie dies Melanchthon in Artikel 17 der Augustana mittelbar behauptet, indem er die Rechtfertigungslehre in dem Abschnitt über diejenigen Lehren vorbringt, über die man in der Kirche einig sei. Entscheidend ist in unserem Gedankenzusammenhang allein die Frage, ob es Luther gelingt, gerade auch in der Lehre über Versöhnung, Erlösung und Reditfertigung Gott als den lebendigen zu erweisen, ob nicht auch in seiner Dogmatik Gott zu einer metaphysischen Wesenheit erstarrt, von der man dann streiten kann, ob sie intellektualistisdi oder voluntaristisch zu denken ist (vgl. zu dieser Frage Welzel, S. 48 ff.). Die Starrheit des metaphysischen Gottes und seines Handelns hat Gottfried Keller in der Novelle „Das verlorene Lachen" zu kennzeichnen versucht an der Stelle, wo er über die Begegnung von Justine mit zwei liebenswerten Sektiererinnen, Mutter und Tochter, berichtet: „Aber es war nichts Neues und Unerhörtes, was sie vorbrachten, sondern die alte harte und dürre Geschichte vom Sündenfall, von der Versöhnung Gottes durch das Blut seines Sohnes usw Sie brachten es vor nicht mit der menschlich schönen Anmut, die ihnen sonst innewohnte, bei allem was sie taten, sondern mit einer hastigen Trockenheit, eintönig und farblos wie ein Auswendiggelerntes . . . Es war eine wesenlose Welt für sich, von der sie sprachen, und sie selbst mit ihrem übrigen Wesen waren wieder eine andere W e l t . . . Da sah Justine, daß die guten Frauen ihren Frieden woanders herhatten als aus ihrer Kirchenlehre." Wir brechen mit dem Zitat ab, leider sucht Keller keine Antwort auf die Frage, woher nun dieser Friede komme, ob er nicht doch mit der Kirchenlehre zusammenhängt, die sie allerdings nur unzulänglich wiedergeben konnten. Das Luthertum vermeidet die vom Dichter beklagte Dürre und Härte der Lehre durch eine besondere Ausprägung der kirchlichen Überlieferung, welche vielleicht der spezifische Beitrag des Luthertums zur Frömmigkeits- und Dogmengeschichte ist. Ist auch Gott die schreckliche Majestät, so läßt er sich doch in Christus zu uns herab, er wird in Fleischwerdung und Kreuzigung unser Menschenbruder. In der Auferstehung nimmt er seine menschliche Natur wieder hinauf zu Rediten Gottes und wird so zum Erhalter und Fürsprecher seiner Brüder. Diese Lehre von der Condensxendenz ist keine bloße besondere Darstellungsweise der altkirchlichen Dogmatik, sondern der gedankliche Vollzug der Lehre von der Incarnation. Wer will, mag

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dies personale Christusmystik nennen, in der Gott dem Menschen begegnet und die Person des Menschen in dieser Begegnung erhält. Dieser Gott ist lebendig, kein metaphysisches Wesen, nicht vergangen und fern. „Wer dies von Herzen gläubet", der kann nach Luthers Meinung gar nicht anders als in froher und freier Dankbarkeit dem Erlöser und seinen Brüdern dienen. Aus der Auslegung Luthers zum zweiten Glaubensartikel zitieren wir „der midi verlorenen und verdammten Mensdien erlöset hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut und seinem unschuldigen Leiden und Sterben; auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und S e l i g k e i t . . . "

Dem fortreißenden Rhythmus dieses sprachgewaltigen Hymnus kann sich so leicht niemand entziehen, wenn er ihn hört oder auch nur als etwas Auswendiggelerntes sinnvoll nachspricht. Der Sache nach sind hier die wesentlichen Momente der apostolischen Botschaft in inbrünstiger Anbetung zusammengefaßt: Das tiefe Erschrecken ob der eigenen Sündhaftigkeit vor dem Angesichte Gottes, der überschwengliche Lobpreis der Erlösung und der Jubelruf über das neu geschenkte Leben, daß ich in Unschuld sein eigen sei, jetzt und hier und endlich drüben in der Ewigkeit. Nun wird religiöse Überzeugung immer vom Glaubenden auf den Glaubenden übertragen. Immerhin dürfte unter den Voraussetzungen einer lebendigen Volkskirche dieser Lobpreis Luthers auch den kritischen jungen Menschen immer von neuem erfassen. So miserabel auch manchmal Religions- und Konfirmationsunterricht sein mögen, Luthers Worte bewegen den jungen Menschen, werden jedenfalls nicht so leicht von Sdiulmeistern abgetötet wie der seelische Gehalt von Goethes Faust, um das lebendigste deutsche Gedicht zum Vergleich heranzuziehen.

2. Abwehr der Prädistinationslehre und des Antinomismus Soll das bewegende Motiv des Luthertums nämlich die personale Begegnung mit dem lebendigen, zugleich heiligen und gnädigen Gott sich durchsetzen, so mußten die in der Überschrift dieses Absatzes genannten beiden Lehrgestalten als Irrlehren abgewiesen werden. a) Die Prädestination bindet Gott an einen unveränderlichen vor der Zeit festgelegten Ratschluß. Damit wird theologisch theoretisch jede echte personhafte Begegnung des Beters mit Gott unmöglich, mag auch die unglückliche Theorie noch so oft durch die lebendige Frömmigkeit überspielt werden. Der junge Luther übernahm aus der Schule Occams, wie dies Schüler zu tun pflegen, die Prädestinations-

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lehre. Aber er erfuhr, daß diese Lehre das universale Heilsangebot Christi zum Trug entstellt. Der an seinen Ratschluß gebundene Gott will eben in Wahrheit gar nicht, daß allen Menschen geholfen werde. Wie soll dann der Beter seinerseits wissen, ob er zu den Auserwählten oder den Verdammten gehört? Luthers Klosterängste sind nicht nur, aber eben doch auch Prädestinationsängste gewesen. In den frühen reformatorischen Schriften beschränkt sich Luther darauf, die Alleinwirksamkeit der Gnade zu lehren, ohne die Frage der Prädestination näher zu behandeln. In der Streitschrift von 1525 De servo arbitrio verwendet er gegen Erasmus das deterministische Argument nur zur immanenten Kritik des erasmischen Rationalismus. Inzwischen war in der Abendsmahlslehre schon hervorgetreten, daß die Prädestinationslehre mit einer lebendigen Gnadenlehre unvereinbar ist. In der Abendmahlslehre hat Luther sich denn auch implicite entschieden. Der denkerische Neuansatz wird deutlich in der „Trostschrift wider die Anfechtung von der Vorsehung Gottes" von 1528. In der Sache kam es Luther darauf an, dem Menschen das Vertrauen zum universalen Heilswillen Gottes zu geben, daß also im Sakrament Christus in Brot und Wein mit seinem Leib und Blut gegenwärtig sei, ohne alles Dazutun, auch ohne irgendeine vorgängige Glaubensleistung, ohne jede Würdigkeit des Mensdien. Diese Gabe schafft den Glauben, nicht der Glaube die Gabe, die freilich nur im Glauben zum Heil angenommen werden kann. Dies hat die scheinbar schreckliche Konsequenz der manducatio impiorum, die allerdings ein unverzichtbarer Bestandteil der Lehre Luthers ist. In Wahrheit bleiben aber die impii ständig eingeladen, sie essen sich nur dann die Gabe zum Gericht, wenn sie im Unglauben verharren, ebenso wie der Täufling die Taufgnade empfängt, wenn er sie nur zu seiner Zeit annimmt, d. h. nicht zurückweist. Dafür hat Gott keine Ausschlußfristen gesetzt. Die Prädestinationslehre ist als ein logizistisches Sophisma freilich erst von Kant endgültig entlarvt worden, welcher erkannt hat, daß man die a priori gegebenen Voraussetzungen menschlichen Denkens, die Anschauungsformen Raum und Zeit, auch die Kategorien, insbesondere die Kategorie der Kausalität, nur auf die Erscheinungswelt, nicht aber auf das „Ding an sich", besser das „absolutum", (Schelling, Fichte, Hegel) bestimmter auf Gott und sein Gnadenhandeln anwenden darf. Die Prädestinationslehre verfremdet also die christliche Gottesvorstellung, indem sie antike Philosopheme anwendet. Wie sehr dies Calvin tut, zeigt sich im Argument, daß Christus nicht im Sakrament sein könne, weil er sich doch jetzt, also nach der Himmelfahrt, an einem anderen Ort, nämlich im Himmel aufhalte. Mit seiner Lehre von der Ubiquität des prinzipiell außerweltlich gedachten Gottes in der Welt, hat Luther lange vor Kant schon gelehrt, daß man den

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Himmel nicht räumlidi auffassen dürfe, daß Gott schlechthin außer Raum und Zeit und in seinem Gnadenhandeln als für uns ständig gegenwärtig vorzustellen sei, daß Zeit und Raum von ihm gesetzte Gestaltungsmittel sind. Für das genuine Luthertum konnte daher niemals eine „Wohnungsnot" für den lieben Gott entstehen. Diese Tendenz Luthers hat Melandithon zum schulgerechten Vollzug gebracht, so ernst er in seinem ehrlichen Ökumenismus Calvin genommen hat. Die Konkordienformel hat dann die Prädestinationslehre ausdrücklich verworfen, an dieser Stelle liegt der wahre grundlegende Unterschied zwischen Calvinismus und Luthertum, der auch weltgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat. Zugleich war die Lehre von der Prädestination der Punkt, an dem sich das rationale, humanistische Denken mit der reformierten Kirche begegnete. b) Der Antinomismus nötigte Luther gegen Ende seines Lebens den letzten schweren Streit auf, den er mit dem Freunde Agricola führen mußte und der für Luther besonders bitter war. Agricola lehrte einen maßvollen Antinomismus: Die wahre Buße werde nicht durch Gesetzespredigt erweckt, diese wirke nur Tod und Verdammnis, nur die Predigt des Evangeliums erzeuge wahre Buße. Liebe und Glaube an Christus schlössen dann für jeden Christen auch die Reue wegen seiner Sünden ein, der sich bei der Predigt der Heilsbotschaft seines Abfalls und Abstandes von Christus zugleich mit dem Entschluß zur Umkehr bewußt werde (Darstellung nach Aland, Bd. 4, S. 368, Sperrung von uns). Luthers erste These von 1517, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein müsse, gibt aber nur dann einen Sinn, wenn die Buße zuerst den sündigen Menschen vor den heiligen und gerechten Gott stellt, ganz wie Jesajas 6,5. Um seine Sünde kann der Mensch nur wissen, wenn er um Gesetz und Gebot weiß, mit dessen Ubertretung er sich immer willentlich gegen Gottes Willen, also das erste Gebot entscheidet mit der Folge, daß der „freie Wille Gottes Gericht hassen" muß. Sünde ist im Verständnis Luthers nicht Mangel, Abfall oder Abstand, sondern Widerstreit. „Wer nicht für uns ist, der ist wider uns". Wer nicht im Wissen um diesen Widerstreit sich Gericht und Gnade des lebendigen Gottes preisgibt, trifft nicht auf den lebendigen Gott, sondern auf einen erdachten zahnlosen Großvater. In der deutschen Schrift gegen die Antinomer von 1539 (WA 50, 468 ff.) schreibt Luther: „Wer die Sünde wegtut, muß auch das Gesetz wegtuen. Will er die Sünde stehen lassen, so muß er auch das Gesetz stehen lassen . . . Rom. 5, 13.: Wo kein Gesetz ist, da wird Sünde nicht zugerechnet... Denn warum stirbt er (Christus), so kein Gesetz noch Sünde da ist, dafür er sterben müsse Aus dem siehet man, daß der Teufel durch diese Geisterei nicht das Gesetz wegzunehmen meint, denn Christus den Erfüller des Ge-

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s e t z e s . . . Denn er weiß wohl, daß Christus wohl bald und leicht weggenommen werden kann, aber das Gesetz ist in des Herzens Grund geschrieben, das ist nicht möglich wegzunehmen."

Man kann Luthers Meinung dem modernen Menschen vielleicht am besten am Beispiel des Abtreibungsproblemes verdeutlichen. Luther hätte heute in seiner bäuerisch-groben Art vermutlich gesagt, der Teufel wolle die Frauen über das Tötungsverbot hinwegtäuschen, damit sie des Erlösers vergäßen. Die Not, in der sich die einzelne Frau befinden mag, hätte er gewiß nicht geleugnet, aber als teuflische Versuchung gedeutet. Audi in solcher Lage habe Gesetzespredigt die Gewissen wachzurütteln, Gnadenpredigt ohne vorgängige Gesetzespredigt lulle sie ein. Geht es Luther im Antinomerstreit um die Ernsthaftigkeit der Gnade als Begnadigung des Sünders, der Strafe verdient hat, so kann er sich gerade insofern von Melandithon voll verstanden ansehen. Er beruft sich denn audi auf die von diesem verfaßten Bekenntnisschriften Augustana und Apologia. Hier ist kein Unterschied zwischen dem jungen und alten Luther, zwischen ihm und Melanchthon. Aber freilich wollte er auch die volkserzieherische Arbeit Melanchthons decken. Bekanntlich wurde und wird teilweise auch heute der Antinomerstreit unter dem Stichwort vom triplex usus legis ausgetragen. Der usus elenchticus, welche den Sünder seiner Sünde überführt, darf wohl als sicherer Allgemeinbesitz des Luthertums betrachtet werden. N u n wird Luther schwer zu widerlegen sein, daß der usus elenchticus nur unter der Bedingung des usus politicus gilt. Mit dem oben zitierten Satz, daß das Gesetz in des Herzens Grund geschrieben sei und daher nicht weggenommen werden könne, hat er zugleich den Grund für eine Rechtslehre des Luthertums bezeichnet. Betrachtet man die Dinge im größeren religionsgeschichtlichen Zusammenhang, so gehört Luther dem prophetischen Frömmigkeitstyp an, der in der Religion Alten und Neuen Testaments gelebt wird. Der Prophetismus lehrt nicht nur den ethischen Monotheismus, sondern stellt den verantwortlichen Menschen zugleich dem persönlichen Gott gegenüber. Luther konnte und wollte nicht den mystischen Heilsweg der süßen Gottesminne, des Entwerdens in Gott, der Einswerdung mit Gott oder der wesentlichen Einwohnung Christi im Menschen gehen. In dieser Grundhaltung prophetischer Frömmigkeit war er bereits ins Kloster gegangen. A n ihr hielt er sein Leben lang fest und wurde durch die Erfahrungen mit Münzer und Münster begreiflicherweise in seiner Haltung nur bestärkt.

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B. Die gedanklichen Voraussetzungen der Rechtslehre I. Die Aufgabe 1. Die Gedankenentwicklung

von der Antike bis zu Luther

a) Die antike Uberlieferung wurde vom christlichen Denken in einer bestimmten Auswahl übernommen. Demokrit und Epicur galten als grundsätzliche Gegner der christlichen Verkündigung, ihre Anhänger als die grex porcorum Epicuri, auch Heraclit hat doch auf die frühen christlichen Denker wenig gewirkt. So bleibt als Ausgangsvorstellung die idealistische Deutung der ontologisch als „Sein" gedachten Welt. Die Vergänglichkeit und Wandelbarkeit der Dinge entbehrt dann tieferer Bedeutung. Das Weltgeschehen wird keineswegs von den polytheistischen Göttern regiert, welche lebendig genug, sogar nur allzu menschlich von Homer geschildert werden. Sie sind nur personifizierte übermenschliche Naturmächte, befleckt von Willkür und Neid, zu Hütern sittlicher Werte kaum legitimiert. Uber ihnen steht ursprünglich die mythische Moira, das ewige Schicksal. Das idealistische Denken, Piaton, auch Aristoteles, später ein Teil der Stoa, steigert das Schicksal zur lex aeterna sinnvollen Weltgeschehens. Erhebt sich das Denken von diesem Boden aus zu einer Vorstellung von Gott, so kann es nur zum deistischen Gott der natürlichen Theologie gelangen, welcher die Welt begründet und formt und sie dann durch die ihr eingeschaffene lex aeterna regiert. Für die Rechtslehre gestattet dies eine recht einfache Lösung, denn die den Menschen zugewandte Seite der lex aeterna ist eben das Naturrecht. Audi diese Lehre will den Menschen über Leid und Vergänglichkeit hinwegtrösten, namentlich auch im nachchristlichen Zeitalter, das mit dem großen Abfall der Geister in der Aufklärung begonnen hat. Theodor Fontane läßt seinen sterbenden Stechlin, im Zeitalter Bismarcks, sagen: „Das ,Ich' ist nichts, damit muß man sich durchdringen. Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er Tod heißt, darf uns nicht schrecken. In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sittlichen Menschen und hebt ihn."

b) Die in diesem Gedankenzusammenhang ausgebildeten Denkmittel sind wenig geeignet für die christliche Lehrintention, welche doch allemal auf die Verkündigung des lebendigen Gottes zielte. Aber es war eben das Schicksal der christlichen Spätantike, daß sie auf die vorhandenen Denkmittel mehr oder weniger angewiesen war, wollte sie sich mit der gleichzeitigen Geisteswelt verständigen. Diese Verständigung ist unerläßlich, will die Kirche ihren missionarischen A u f trag erfüllen, sich apologetisch behaupten und vor allem der N o t der

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Menschen ihrer Zeit abhelfen. Wann immer die christliche Botschaft in die Welt eingeht, um ihren Dienst zu tun, wird sie ihrerseits von der Welt ergriffen. Die große Leistung der griechischen Väter war die Gottesspekulation in Christologie und Trinitätslehre. Der oft erhobene Vorwurf, in dieser Periode sei die christliche Botschaft durch hellenistischen Idealismus überdeckt worden, überzeugt nicht. Das angeblich biblische, d. h. jüdisch-materialistische Denken, das teilweise im alten Testament vorherrscht, war noch weniger geeignet, die christliche Lehre auszudrücken, sonst wäre nämlich Jesus von Nazareth nicht der Auferstehungspredigt wegen gekreuzigt worden. Die Kritik an der altchristlichen Dogmatik widerlegt sidi selbst in der modernen Ubersetzungsgeschichte des Psalmes 16. Luther hatte ihn christologisch übersetzt, was dem historischen Verständnis der Apostel entsprach. Nachdem er heute wieder in das Altjüdische zurückübersetzt worden ist, verliert er für die christliche Gemeinde jeden Wert. Denn so kann und darf man nach Ostern nicht mehr um die bloße zeitliche Verlängerung des Lebens beten. Sicherlich hat auch die westliche Kirche, welche das Heilsgeschehen, damit auch das Verhältnis von Gott und Welt, Rechtslehre und Ethik, durchdenken mußte, am antiken Erbe schwer getragen. Altkirchliches Denken von Augustin bis Thomas machte die rationale natürliche Theologie mit den Bausteinen zuletzt der aristotelischen (Thomas) Erkenntnistheorie, Metaphysik und Ethik zum Fundament für die übernatürliche Theologie, welche den speziellen unterscheidenden Inhalt der christlichen Glaubenslehre darzulegen hatte. Damit wird die Ubernatur zu einer Hinterwelt (Nietzsche), Gott zu einem metaphysischen Schemen. Säkularem Denken fällt es dann nicht schwer, den supranaturalen Uberbau zu streichen und nur noch das Fundament übrig zu lassen. Dies zeigt gerade auch die mittelalterliche Naturrechtslehre, welche das säkulare Naturrecht der Antike als Behelf für die Entfaltung der christlichen Ethik nutzte, bis sich das Naturrecht praktisch vom Schöpfer emanzipierte. Mit Hugo Grotius setzt sich die Uberzeugung durch, daß das Naturrecht auch dann gelte, etsi daremus quod sine summo scelere dari nequit, non esse deum aut non curari ab eo negotia humana. Diese Entwicklung folgt aus dem supranaturalen Zweistufenbau mit innerer Notwendigkeit. Die These des Grotius ist bekanntlich schon bei Gregor von Rimini, gestorben 1358, zu finden. So wird Gottes Gebot zu einer nur innerweltlichen Ordnung, die Sünde gegen Gott zu einer Störung der innerweltlichen Spielregel. Der Heilslehre entzieht diese Auffassung ihre Grundlage, die Rechtslehre wird zur geschichtsfremden Behauptung genötigt, das Naturrecht sei unveränderlich.

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2. Erst Luther unternimmt es, der christlichen Lehrintention

zu

adäquaten Denkformen zu verhelfen. Dafür war die Zeit nach der langen Vorarbeit der Scholastik reif geworden. Inwieweit die theologia moderna, also Duns, Occam, Biel oder auch die Hochscholastik, namentlich Thomas, dabei hilfreich gewesen sind, kann hier nicht geklärt werden. Hinzuweisen ist nur darauf, daß gerade die deutsche idealistische Philosophie, welche doch im geistigen Raum des Luthertums wurzelt, die von Luther eingeleitete Denkbewegung wesentlich gefördert hat. Luther hätte sicherlich die Bönhasenjagd der Zunfttheologen, wie sie seit 1920 praktiziert wird, nicht mitgemacht, so sehr er sich vielleicht von manchen Ergebnissen distanziert hätte. Aber er hätte Kant niemals mit Erasmus verwechselt.

In seinem Unternehmen bewährt Luther die großartige Konsequenz des Denkers, der von den Sachzwängen weitergeführt wird. Verfolgt man sorgfältig die Denkstufen von den angeblich radikalen Anfängen, denen noch die Eierschalen occamistischer Möncherei anhaften, bis zu ihrer Weiterführung, so verschwinden immer wieder die scheinbaren Widersprüche. Auch die Paradoxien beschränken sich dann auf die sachliche Notwendigkeit, das Absolute dialektisch zu sagen. Daß Luther mit seinem Unternehmen zu Ende gekommen sei, wird kein Vernünftiger erwarten. Unter den gegebenen historischen Bedingungen konnte das neue Denken nicht als fertiges System in die Welt treten. Wer die Sache des lebendigen Gottes führen will, muß abwarten, wann und in welcher Weise die einzelnen Lebensfragen ihm gestellt werden, sonst erkaltet die Prophetie zu intellektuellem Gespinst. Luther mußte immer als Seelsorger das Wort ergreifen, seine Schriften sind abgesehen von der Bibelübersetzung Gelegenheitsschriften im großartigsten Sinne. Es ist nur erstaunlich, wie er immer einen geordneten Zusammenhang erzielt. Auf diesem Wege wurde Luther vom Systematiker Melanchthon begleitet, der dem schöpferischen Propheten nachvollziehend folgte, ihm aber doch gerade in der Rechtslehre vorarbeitete. Wer die beiden Denker trennen will, hat Luthers eigenes Zeugnis gegen sich.

II. Die großen Themen der Philosophie

sowohl wie der

Dogmatik

sind Gott (das Unbedingte, das Absolutum) — Welt (das Bedingte, die Erscheinungswelt, die Realität) — Mensch (das biologische Lebewesen Homo, der Mensch im Verhältnis zu Gott). 1. Der lebendige Gott ist nicht der Gegenstand rationaler Philosophie, nicht Demiurg, nicht Urheber, auch nicht einer lex aeterna, aber Vater, Hüter, Richter und Erlöser der Menschen. Er hat nicht

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nur vor Urzeiten die Welt erschaffen und geordnet, so daß sie jetzt abläuft, er war und ist in allen Wandlungen der Erdgeschichte und der menschlichen Geschichte am Werke, er wirkt die Welt auch noch heute, in der äußeren Natur und im Menschenleben. Man lese in Luthers kleinem Katediismus die Auslegung des ersten Artikels oder die Auslegung der Brotbitte des Herrngebetes. In diesen Dank- und Bittgebeten handelt es sich gerade auch um die menschlichen Kulturgüter. Unter letzteren wird ein gut geordnetes Sozialleben in der modernen Ohren befremdenden Bitte um fromme und getreue Oberherren angesprochen.

Der lebendige Gott ist zugleich der Gott der Religionsgeschichte. Er handelt mit der Menschheit und dem Menschen und teilt sich allen Völkern ständig neu in der allgemeinen Religionsgeschichte mit, wie der große Lutheraner Söderblom großartig aufgezeigt hat. Er hat aber auch sein besonderes Volk des alten Bundes zu seiner Ehre gesammelt, er hat durch die Väter und Propheten geredet, er hat sich endlich im Sohn und Gottmenschen Jesus von Nazareth in unüberholbarer Weise offenbart. Davon spricht immer neu deutend der Heilige Geist in der Gemeinde der Gläubigen. Die natürliche Theologie der Aufklärung dachte ungeschichtlich. Sie klagte die christliche Lehre an, sie setze an die Stelle ewiger Vernunftwahrheiten zufällige Geschichtswahrheiten. Hier gehen in der Tat die Wege des lebendigen Gottes und eines an der lex aeterna orientierten Denkens auseinander. 2. Die Welt besteht nur kraft des lebendigen Willens Gottes. Der Welt kommt kein eigenes „Sein" zu, das ohne Gott gedacht werden könnte. Zöge Gott seinen Willen aus der Welt zurück, so zerfiele sie in nichts. Die Verheißung Gen 8,22: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" stiftet nicht eine Lex aeterna, sondern eine Wohnstatt für die Menschen in ihrer geschichtlichen Begegnung mit Gott. Die Erde selbst ist nicht ewig, sie hat einen Anfang gehabt — die Naturwissenschaft meint heute sogar das Alter der Erde berechnen zu können — sie wird sicherlich auch ein Ende haben. In der Zwischenzeit ist alles irdische Geschehen höchst wandelbar, noch wandelbarer allerdings die angeblich wissenschaftlichen Vorstellungen über das Weltbild. Wer nahe an 80 Jahre herangekommen ist, hat eine Fülle wissenschaftlicher Weltbilder vorgesetzt erhalten. Luther hat mit der Lehre vom lebendigen Gott der modernen Naturwissenschaft den Weg frei gemacht. Vor dem Holzweg in den Naturglauben hat er gewarnt. Denn diese Welt ist schrecklich, dem Tode verfallen, mit Tränen getränkt. Sie ist nicht die reine Schöpfung Gottes, sondern die gefallene Schöpfung.

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Hellmuth Mayer Angeblich soll sich Luther über das heliozentrische System des Kopernikus ereifert haben. Als Beleg kann nur eine unzuverlässige Stelle aus den Tischreden angeführt werden. In Wahrheit hat sich Luther für diese Frage niemals interessiert, die mittelalterliche Vorstellung vom äußeren Aufbau der Himmel als kindisch verworfen. Seine Vorstellung von der Allwirklichkeit Gottes wurde als Ubiquität theologisch wichtig im Abendmahlstreit. Calvin verwarf die Realpräsenz mit dem vordergründigen Argument, Leib und Blut Christi könnten nicht real in Brot und Wein sein, weil Christus im Himmel sitzt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß Nietzsche, welcher die Wohnungsnot des lieben Gottes entdeckte, kein echter Lutheraner war, auch kein Zufall, daß der Lutheraner Kepler frei genug war, die Vorstellung von der Sphärenharmonie der Kreisbahnen aufzugeben und damit den Weg zum Weltbild der modernen Physik endgültig frei zu machen. Bekanntliche hätte Galilei seine Inquisitoren sehr in Verlegenheit gebracht, hätter er sich auf Kepler berufen. Die Inquisitoren konnten nachweisen, daß die Berechnungen des Kopernikus mit den Beobachtungen nicht übereinstimmten, weil dieser noch ebenso wie Galilei an der Kreisbahn festhielt. War das wirklich nur Gelehrteneitelkeit oder war Galilei in der Hauptsache mit den Inquisitoren einig, nämlich in Glauben an Kosmos und lex aeterna?

3. Der Mensch als natürlicher Mensch ist zweifellos Gegenstand der wissenschaftlichen Anthropologie. Aus welchen Trieben sein Handeln zu erklären ist, ob er der Egoist ist, als den Rationalismus und die rationalistische Theologie ihn einmütig darstellen, welche sozialen und sittlichen Leistungen er erbringt, darüber können wir uns nicht aus der Bibel unterrichten, einen so reichen Erfahrungsschatz sie auch erschließt. Aber die Bibel Luthers redet auch nicht vom sittlichen Vermögen des natürlichen Menschen, sondern vom Sünder vor Gott. Luther hat die Bibel niemals als Quelle für empirische Anthropologie mißbraucht. Er lehrt, daß mit dem Sündenfall an die Stelle des amor dei der amor sui tritt, welcher den Menschen zum Maß und Ziel menschlichen Strebens macht. Daraus kann und wird auch die Entartung des Menschen, die wir beobachten, theologisch zu erklären sein. Aber an und für sich enthält Luthers Urteil noch keine Abwertung des empirischen Menschen. Der Mensch als natürlicher Mensch ist immer zugleich Gottes Geschöpf und Sünder, als gläubiger Christ simul justus et peccator. Der Mensch ist nicht etwa seit Adams Fall ganz verderbt, wie Lazarus Spengler leider gedichtet hat. Als Gottes, nicht des Teufels Geschöpf hat er herrliche Fähigkeiten, an denen sich jeder gesunde Sinn freuen kann. Er ist ebenso liebevoll, sogar aufopfernd als eigensüchtig. Der menschliche Kunstsinn befreit des Menschen Herz zur Freude und dient dem Lobe Gottes, wie denn auch Luther die Bilderstürmerei verwarf. Der Mensch kann sein Zusammenleben vernünftig gestalten, er vermag sich sogar in großartigen Gedankensystemen zu Gott zu erheben. Aber er kann das

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eine nidit, auf das alles ankommt, er kann weder erkennend noch handelnd von sich aus zu Gott gelangen, sondern nur demütig und ohne alles Verdienst die Gnade Gottes annehmen. Seit dem Fall ist die unverfälschte Ebenbildlichkeit Gottes allein im Menschen Jesus von Nazareth sichtbar. III. Erkenntnis und

Offenbarung

Diese Zwiegesichtigkeit menschlichen Wesens gilt auch für das menschliche Erkenntnisvermögen. Es ist von Gott ergriffen und widerstrebt doch seinem Herrschaftsanspruch. Es gilt gerade auch von der menschlichen Vernunft, daß sie vom Sündenfall in Mitleidenschaft gezogen ist, sie ist nicht rein und unversehrt geblieben, vielmehr in eine grundsätzliche „Denksünde" verstrickt (Brunstäd). Von ihr gilt das gleiche, was Augustin vom Menschenherzen sagt: Cor nostrum inquietum est, donec requiescat domine in te. Es ist also eine dunkle Frage, wie das menschliche Denken dazu erlöst werden könnte, die Wahrheit Gottes demütig nadizudenken. Sicher ist nur, daß die menschliche Vernunft zur „Hure" wird, wenn sie selbstherrlich Gott begrifflich verfügbar machen will. Geht man unvoreingenommen an Luthers Schriften heran, so wird man zunächst auf ein unmethodisches Nebeneinander von biblischen und philosophischen, historischen und psychologischen, anthropologischen Argumenten stoßen. Wir wollen uns denn auch hier damit bescheiden, die allgemeine Lehrtendenz Luthers aufzuzeigen, wie sie sich geschichtlich entfaltet, ohne daß wir behaupten wollten, Luther sei zu einer einheitlichen Offenbarungsund Erkenntnistheorie gelangt oder daß wir selbst sie begriffen hätten, falls ihm das Unerreichbare wirklich gelungen sein sollte. Luther fand auch in der Erkenntnislehre das metaphysische dogmatische System vor. Es scheidet Natur und Ubernatur, natürliche und auf göttlicher Offenbarung beruhende Erkenntnis. Diese Scheidung scheint der Offenbarungserkenntnis dieselbe Sicherheit zu geben, die sidi der natürliche Mensch in bezug auf die natürliche Welt vortäuscht. Man muß nur die Zeichen wissen, an denen man die übernatürliche Offenbarung erkennt. Die übernatürliche Offenbarung geschieht im Wort Gottes, das in der Bibel aufgezeichnet ist, die Wahrheit wird durch wunderbare Ereignisse „Zeichen", später Mirakel beglaubigt. Die spätere Kirche wird als Stiftung des neuen Bundes angesehen, der Lehrautorität zukommt. Diese Lehrautorität wird auf gewisse Aussagen der Schrift von der Autorität der Apostel und dem Hirtenamt des Apostelfürsten sowie auf die fortwirkende Kraft des heiligen Geistes gestützt. Mit all dem wird allerdings die besondere christliche Uberlieferung noch nicht aus ihrer historischen Einmaligkeit befreit,

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man bedarf also zusätzlidi der Uroffenbarung oder allgemeinen Offenbarung. Nur die neuere sogenannte dialektische Theologie leugnet die allgemeine Offenbarung. In der mittelalterlichen Kirdie entbrennt dann durch die theologia moderna der Streit um den Vorrang der Schrift vor der Tradition. Das sog. Schriftprinzip der Reformation hat in Wahrheit Luther aus seiner Schule zunächst unkritisch übernommen. Erst die zweite Generation hat den Grundsatz sola scriptura formuliert. Dieser Grundsatz verlangt eine Inspirationslehre, welche Calvin bis zur letzten Konsequenz ausgebildet hat. Auf der anderen Seite wird das Prinzip der Tradition und Lehrautorität bis zur Theorie der unfehlbaren päpstlichen Lehrautorität ausgebildet. In diesen Lehrzusammenhang bricht Luther erfüllt und angetrieben vom lebendigen Gott ein. Will man heute seine Erkenntnislehre auf einen Nenner bringen, so könnte man sagen, alle Wahrheitserkenntnis ist Selbstmitteilung des lebendigen Gottes. Damit zerbrechen alle menschlichen Sicherungen. Luther hat zwar gegen den Papst sehr unfreundliche Schriften geschrieben, aber er hat audi nicht die Bibel zum papiernen Papst gemacht. Wir müssen gewissermaßen hier eine große Unterlassung rügen. Weder Luthers Schriften noch die Bekenntnisschriften, auch nicht die Konkordienformel enthalten eine explicite Lehre von der Offenbarung, auch nicht im Sinne des sola scriptura. Zwar wird an vielen Stellen die Schrift als der eigentliche Prüfstein der Lehre bezeichnet, aber dieser Satz wird in seiner Bedeutung weder erläutert noch abgegrenzt. Erst die spätere Orthodoxie namentlich Johannes Gerhard bildet das besondere Lehrstück (Locus) de scriptura sancta aus. So scheint uns hier alles von den Anfängen an unsicher und unbestimmt zu bleiben. Die Lehrentwicklung beginnt bei Luther in seiner persönlichen Gottesbegegnung, er nahm die Botschaft des Evangeliums an, nicht weil er sie in einem heiligen Buch fand, sondern weil sie sein Herz traf. Dabei hat er zweifellos eine höchst persönliche Auswahl getroffen, indem er sich auf die Autorität der paulinischen Briefe stützte. Es lag ihm aber damals noch ganz fern, diese Autorität gegen die Autorität der Kirche auszuspielen. In dem durch die Thesen entfachten Streit kam es zu der Auseinandersetzung mit der altkirchlichen Traditionslehre. Erst in der Leipziger Disputation drängte Eck Luther zum Zugeständnis, daß seine Gnadenlehre mit wichtigen Konzilsentscheidungen in Widerspruch stand, daß also auch Konzilien irren könnten und tatsächlich auch geirrt haben. Damit war die unfehlbare Lehrautorität der Kirche verneint. Die unmittelbare Autorität der Schrift sicherte er dann in seinem Lehrschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation (WA VI, 406 ff.) in dem er das Priester-

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Privileg bestritt, die Schrift allein auslegen zu dürfen. Zu diesem Zweck hat er die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien verworfen. Die Auslegung erfolge in freier Auseinandersetzung der Gläubigen, die alle geistlichen Standes seien, in der Gemeinde. Er vertraute also auf die Macht der göttlichen Wahrheit und verzichtete auf alle menschlidien Sicherungen. Die Schwärmer nötigten ihn zu weiteren Klarstellungen. Er machte Ernst mit der paulinischen These, daß das Gesetz des alten Testaments einschließlidi des Zehngebotes für den Christen überholt sei, daß Jesus Christus aber kein neues Gesetz verkündet habe. Moses habe nur eine hervorragende Zusammenfassung des an sich geltenden Naturrechts geliefert. Die Bilderstürmer dürften sich nicht auf das Zeremonialgesetz des Mosaischen Bilderverbotes oder auf eine gesetzliche Lebensordnung berufen. D a mit war der primitive Biblizismus aufgegegeben. Die Bibel enthalte nur insofern Offenbarung als sie Christtum „treibe". Das moderne Luthertum formuliert, die eigentliche Gottesoffenbarung geschieht in Jesus von Nazareth. Eine viel verbreitete Formulierung ist auch, die Bibel sei Norm, d. h. Prüfstein jeder Lehre, in ihr als norma normae die Erlösungslehre. Entscheidend ist dabei der überzeugende Inhalt, nicht die formale Sicherung, d a ß irgendein Satz in der Bibel steht. Luther hat ein sehr klares Verständnis für die menschliche Seite der Schrift gehabt, bezweifelte die Verbindlichkeit des überlieferten Kanons und unterschied den Verkündigungswert der einzelnen Bücher. Er hat damit dem Mißbrauch der Bibel in den Religionskriegen vorgebeugt und gewissermaßen die Einreden des Rationalismus v o r w e g widerlegt. Nicht mangelnde Bibelkenntnis, sondern hervorragende Bibelkenntnis hat bekanntlich den großen Abfall im 18. Jahrhundert ermöglicht.

C. Die Rechtslehre I. Die Gliederung Unser engeres Thema, die Lehre vom Naturrecht, im Sinne Luther die Lehre vom weltlichen Naturrecht, also das Gegenstück zur Naturrechtslehre der Rechtsphilosophen steht bei Luther in einem größeren Zusammenhang als deren Glied. Diese unsere Welt ist in der Sprache der Bibel ja nur ein Zwischenspiel zwischen dem Äon des Urstands und der Vollendung. Nur für dieses Zwischenspiel gilt das weltlidie Naturrecht. Ohne die christliche Äonenlehre und ihre Problematik erschöpfen zu wollen, heben w i r zunächst hervor, daß Luther eine grundsätzliche V e r wandlung dieser mythischen Vorstellung angebahnt hat. Luther ist be-

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strebt in allen Lehrstücken der Heilslehre die gegenwärtige Wirklichkeit des lebendigen Gottes zur Geltung kommen zu lassen. Deshalb muß er Gott als überzeitliche und überräumliche Wirklichkeit begreifen. Damit werden von selbst der Äon des Urstandes (status naturae incorruptae) und der Äon der Vollendung aus zeitlich sidi folgenden Weltaltern zum überzeitlichen Grund und Ziel der gegenwärtigen Welt. Diese zeitliche Welt ist der empirische vorübergehende Zustand mit Anfang und Ende. Dennoch ist das Christentum kein Piatonismus für das Volk, denn Piaton kennt keinen lebendigen Gott. Die Spekulationen über eine chiliastische Heilszeit am Ende der vergänglichen Welt oder über den Zustand der Vollendung hat Luther nicht mitgemacht, wie er denn auch vom apokalyptischen Schrifttum wenig hielt. Luthers Lehre bedarf keiner modernen Entmythologisierung. Die Rechtslehre Luthers gliedert sich in die Lehre vom Jus divinum, die Reichs- und Regimentenlehre und die eigentliche Naturrechtslehre. II. Jus divinum. Grundlage aller Ethik, Rechts-, Staats- und Soziallehre ist der rechtschaffende Wille Gottes, der das Jus divinum setzt. Von hier aus, nicht vom Willen, Selbstverständnis oder Bedürfnis des Menschen aus ist alles recht zu verstehen. Begriff und Bezeichnung des Jus divinum entnimmt Luther der westlichen an der Ethik orientierten Kirche, welche über Augustinus an die paulinischen Briefe anknüpft. Die deutsche Sprache stellte Luther nur den Ausdruck „Gesetz" zur Verfügung, welche nicht den ganzen Begriffsbereich des Jus divinum deckt, insbesondere als lex maledictionis mißverstanden werden kann. Aus der Mehrdeutigkeit des Wortes „Gesetz" haben sich viele Mißverständnisse ergeben. Der Name „Jus" nötigt zur Anerkennung zweier Begriffselemente. Jus ist: 1. eine Ordnungsbeziehung zwischen Personen, in welcher die Person immer erhalten bleibt. Sonach ist es nicht Gottes Wille, daß die Person in der Liebe zu Gott mystisch untergeht. Die Personalität des Menschen bleibt so gewichtig, daß sie für die ewige Verdammnis ausreicht, falls sie nicht begnadet wird. 2. als Ordnungsbeziehung schafft das Recht eine erkennbare und aussagbare Ordnung, wenngleidi dem Menschen nur unvollkommene Erkenntnis wird. In jeder Ordnung wird das Verhältnis von Regel (Norm, jus strictum) und Ausnahme (Einzelfall) zum Problem, das nur durch die Aequitas gelöst werden kann. Begreiflicherweise legt Luther auf den Gesichtspunkt der Aequitas besonderen Wert. Viel

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schwieriger zu fassen ist die Tatsache, daß ganz offenbar die für den Menschen gültige Ordnung sidi im Laufe der Geschichte ändert. Kant hat sich dieser Schwierigkeit durch den Formalismus seines kategorischen Imperatives entzogen. Das Problem der Opferung Isaaks ist in Wahrheit eine Frage der religionsgeschichtlichen Erörterung. Moses war nicht, wie Kierkegaard wähnt, als Mörder aus dem Lande zu treiben, er tat genau das, was in Vorderasien üblich war. Gott belehrt ihn, daß das Menschenopfer nur vom Menschensohn gebracht werden kann. Das Problem der Situationsethik wird heute theologisch überschätzt. Der Jurist hat diese Frage immer wieder anhand seiner Normen- und Wertordnung zu beantworten und eine andere Antwort ist gar nicht denkbar. Audi hilft die Situationsethik bestenfalls zur nachträglichen Bewertung dessen, was man in der Gewissensnot des Handelnden im Irrtum oder richtiger Erkenntnis längst getan hat. Am hilfreichsten haben sich in der Not immer noch relativ schlichte Ehrbegriffe erwiesen. 3. Kein unverzichtbares Begriffselement für das Jus divinum ist die Sanktion, welche für Kant als Kennzeichen des Rechtes gilt. Das Mittelalter hat dem Sanktionsgedanken in der ständigen Vergegenwärtigung der Höllenstrafen ein bedenkliches Ubergewicht über die freie Gnade Gottes verliehen. Luther, der den Kampf um die göttliche Gerechtigkeit durchstehen mußte, hat den Rechtscharakter schließlich doch nicht aus dem Sanktionsgedanken abgeleitet. III. Die Reichsund Regimentenlehre als der begriffliche Rahmen, innerhalb dessen die verschiedenen Beziehungen des Jus divinum abgehandelt werden, ist Luthers persönliche Neuschöpfung. Die historischen Anknüpfungspunkte, die Unterscheidung zwischen civitas dei und terrena (Augustin) einerseits und die mittelalterliche Zweischwerterlehre andererseits liefern nur sehr unbestimmte Richtlinien für die Problemstellung Luthers. Seine Lehre, welche allmählich aus seelsorgerlichen Antworten auf Gewissensfragen entstand, darf nicht in ein fertiges Schema gepreßt werden. Audi beim Systematiker Melandithon bleiben viele Dinge doch bis zuletzt im Fluß. Wir wollen daher nur versuchen, die Leitgedanken herauszuheben und sie in einen für die Gegenwart fruchtbaren Zusammenhang zu bringen. Wir hoffen allerdings auch den historischen Kern der Sache zu treffen. Die Terminologie bereitet Schwierigkeiten, die weniger aus der vielberufenen Sorglosigkeit Luthers als vielmehr aus dem allmählichen Werden der Theorie zu erklären ist. Verwirrend ist für den modernen Leser der persönliche Bezug der verwendeten Termini. Sie zielen nicht in erster Linie auf eine Staats- und Soziallehre als vielmehr auf die Lehre von der persönlichen Verantwortung der handelnden Personen.

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Reich und Regiment bedeuten zunächst die souveräne oder abgeleitete Herrschaftsgewalt ihrer Träger, dahinter die Reichweite und Auswirkung derselben. Dieser Sprachgebrauch war Luthers Zeit und ihrer historischen Situation mit ihren vielen auf gleichem Raum wirkenden sich bedingenden und durchkreuzenden Herrschaftsrechten besser angemessen, als unser Denkmodell des souveränen Staates, der auf seinem Raum alle öffentliche Gewalt monopolisiert oder mediatisiert. Auch Machiavelli überschrieb sein berühmtes Buch „Ii principe". Im ungeklärten Macht- und Streitverhältnis standen nebeneinander Kaiser und Papst, weltliche und geistliche Gewalt überhaupt. Im Reich standen nebeneinander der Kaiser-König, die Kurfürsten und Reichsstände mit zweifelhaften Kompetenzen. So geht es nach unten weiter. Welches der Umfang der Grafschaft und der mit ihr verbundenen Hoheitsrechte ist, muß immer für den Einzelfall nachgeprüft werden. Relativ sicher ist nur, daß der Graf Gerichtsherr an einer bestimmten Hochgerichtsstätte ist, an der auch die öffentliche Heeresgewalt hängt. Daneben durchkreuzen sich überall öffentliche Gewalt und Vasallität. I m Bauerndorf können verschiedene Grundherren nebeneinander Herrschaftsrechte besitzen. Auf allen Stufen dieser verworrenen Beziehungen entscheidet meist die Obödienz der Betroffenen über den praktischen Umfang der Herrschaft. So sehr viel anders war dies im antiken römischen Reich auch nicht, wie Paulus Rom. 13, 1 ff. zutreffend schildert. Es gab keinen „Staat Neros", es gab nur eine mehr oder weniger erzwungene Föderation von Stadtstaaten zusammengehalten durch den (die) Reichssenat(e) und durch den Imperator im Westen, der zugleich Nachfolger des Makedonischen Großkönigs war. Imperator und Basileus sind anfänglich ganz verschiedenartige Rechtsfiguren. 1. Reich Gottes o d e r regnum Dei bezeichnet daher kein Sozialgebilde, sondern einfach die Herrschaft Gottes, welche allerdings ein Sozialgebilde eigener A r t schafft, in dem G o t t die Menschen sammelt, ihrem Denken und T u n Ziele setzt und sie leitet. I m status naturae incorruptae ist diese Herrschaft Gottes allen sichtbar, der göttlidie Wille wird v o m Menschen v o r dem Fall aus freiem und frohem H e r z e n erfüllt. T r i e b k r a f t dieses echten N ä t u r rechts ist die vollkommene Gottes- und Nächstenliebe. Dies ist die w a h r e N a t u r des Menschen, diese O r d n u n g der prälapsarischen Schöpfung ergibt das w a h r e gottgewollte Naturrecht, denn die w a h r e N a t u r des Menschen ist die conformitas Dei. Dennoch besteht das. Reich Gottes, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel erweist, nicht in gestaltloser Geisterei. G o t t h a t dem Menschen zwei wohltätige Institutionen gegeben, die Kirche für den gemeinsamen Gottesdienst und die E h e für die Aufgaben der ö k o n o m i a , w i r würden heute sagen für die leibliche E r h ä l t u n g und die kulturelle Betätigung. In der Kirche gibt es keine Unterschiede des geistlichen Standes. Dagegen ist in der ö k o n o m i a durch die E h e eine wesentliche Ungleichheit der Menschen gesetzt, dies bestätigt der moderne Egalitarismus,

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durch die Forderung nach Emanzipation der Frau und nach antiautoritärer Erziehung. Luther folgert audi nicht aus dem Gebot allgemeiner Nächstenliebe die Gleichheit der menschlichen Gaben, vielmehr steigert die Ungleichheit der Gaben die Möglichkeit wechselseitigen Liebesdienstes. Aber der status naturae incoruptae bedarf keines Zwanges und damit auch keiner Regimentenlehre. b) Das regnum Dei besteht auch im Zustand der gefallenen Schöpfung weiter. In der nadiösterlichen Schöpfung als regnum Christi, dort aber ist die Herrschaft Christi dem ungläubigen Auge verborgen. Um die offene Wiederherstellung des unverkürzten und sichtbaren regnum Dei fleht der Fromme in der zweiten und dritten Bitte des Herrengebetes, er erwartet nichts anderes als Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben, in welchem er Gott in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit dient. Uber diese Heilsaussagen des Glaubensbekenntnisses hinaus hat Luther über die Gestalt der zukünftigen Welt nichts gelehrt, jedenfalls nichts, was für die Naturrechtslehre herangezogen werden könnte. 2. Die Welt. Im Sündenfall verweigert der Mensch Gott die Obödienz und gerät unter die Herrschaft der Erbsünde. Aus der Schöpfung wird die „Welt", welche im Sinne der Heilslehre auch als das Reich dieser Welt bezeichnet wird; diese Bezeichnung bedeutet allerdings den Gegenstand der Herrschaft, wobei die Person des Herrschers zunächst nicht genannt wird. Das Reich der Welt hat ein dreifaches Gesicht, a) sie ist regnum satanae b) sie bleibt aber zugleich Reich Gottes, allerdings Reich Gottes zur Linken. c) Sie ist endlich der Raum der Heilsgeschichte. All dies bedeutet, daß Satan niemals wirkliche Souveränität gewinnt, der Mensch der Obödienz Gottes in Wahrheit gar nicht entrinnen kann, daß Christus der verborgene Herr dieser Welt ist. Luther hat keine Hamartiologie über die Herkunft des Bösen und die Grenzen seiner Madit aufgestellt. Er lehrt zugleich den Ernst des Endgerichts und die Ohnmadit Satans. Über die Deutung Goethes in Faust Vers 1335 ff. hätte er wohl nur gesagt, daß dies noch nicht die ganze Wahrheit sei. Aber dasselbe hätte der reife Luther wohl über Dantes Hölle auch gesagt. Historisch interessanter ist, daß Goethe seinen Faust nur eine Wette über die Dauer seines Lebens abschließen läßt, weil der Mensch sich dem Teufel gar nicht gültig verschreiben kann. Ein solcher Eingriff in die göttliche Majestät ist schlechthin undenkbar.

zu a) Im Regnum satanae tritt an die Stelle des amor Dei der amor sui, was bedeutet, daß der Mensch das Maß aller Dinge wird. Der militante Atheismus nennt sich folgerichtig Humanismus, weil er die

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Herrschaft des schrecklichen lebendigen Gottes abgeschüttelt hat. Die theologische Kluft zwischen amor Dei und amor sui kann im Sinne Luthers nicht tief genug vorgestellt werden. Sie kann weder übersprungen noch im Wege kulturellen Fortschritts eingeebnet werden, so wenig es zwischen Ja zu Gott und Nein zu Gott eine Vermittlung gibt. Der Anschein solcher Vermittlung ist nur möglich, weil Satan weder die Schöpfung vernichten noch aus dem Menschen als dem Geschöpf Gottes ein Geschöpf des Teufels machen kann. Er versperrt dem Menschen aber die freie Rückkehr zu Gott, indem er ihn in die Unfreiheit der Erbsünde verstrickt. zu b) Das Regnum Satanae bleibt im untauglichen Versuch stecken, weil Gott die Welt als Reich Gottes zur Linken erhält. Er regiert die Menschen durch das weltliche Naturrecht. Dies beruht darauf, daß Gott dem Menschen das Gesetz ins Herz geschrieben hat, ihm auch Vernunft verliehen hat, das Weltleben vernünftig zu ordnen. Aber so hoch diese Gabe des weltlichen Naturrechts zu achten ist, sie kann weder den Menschen zum Heil bereiten noch die schreckliche Entwürdigung des Menschen, das Waten in der Sünde verhindern. zu c) Gott erhält die Welt gerade im Hinblick auf die Heilsgeschichte und das in ihr sich ereignende Regnum Christi, auf das alle Kreatur harrt. Das Regnum Christi ist kein fernes Jenseits, sondern ist für den gläubigen Christen bereits angebrochen. Das Regnum Christi wirkt institutionell in der Kirche. In ihr wirkt der Heilige Geist sichtbar in den Gnadenmitteln. Wo die reine Lehre gepredigt und die Sakramente schriftgemäß verwaltet werden, da ist Kirche. Es kann auch nicht ausbleiben, daß Wort und Sakrament die Gemeinde sammeln. Wenn Luther lehrt, daß wir alle als Priester aus der Taufe gekrochen seien, so lehrt er gerade nicht das Priestertum aller Gläubigen im heutigen Wortverständnis. Dies wäre Donatismus, der von der Augustana ausdrücklich verworfen wird. Jeder ist unterwegs, niemand ist vollendet, jedem, der sich überhaupt zu Wort und Sakrament hält, wird immer neu Gottes Gnade angeboten. Die Spreu vom Weizen zu sondern, hat der Herr sich vorbehalten. Die Kirche als Gemeinschaft ist also insofern sichtbar, als sie die Gnadenmittel allen Gliedern anbietet, die sich wenigstens äußerlich zu Wort und Sakrament halten. Wer zur unsichtbaren Endkirdie gehört, ist eine Frage, die niemand in diesem Äon stellen darf. 3. Die Lehre von den zwei Regimenten bezieht sich nur auf diese Zeitlichkeit. a) Das Kirchenregiment ist die äußere Ordnung, welche sieb die Gemeinde de jure humano für den Dienst an und die Sammlung um Wort und Sakrament gibt. Sie hat dabei folgende Grundsätze zu beachten.

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aa) Alle Getauften sind gleichen geistlichen Standes. bb) Für die Gemeinde hat aber Gott das geistliche Amt für Lehre und Sakramentsverwaltung gestiftet. Es stammt seinem Inhalt nach aus dem Willen des göttlichen Stifters, obgleich die Gemeinde jure humano zu regeln hat, wie der Amtsträger berufen wird. Niemand darf das Amt ausüben, er sei denn rite vocatus, in Notfällen darf jeder Getaufte die Sakramente spenden. cc) Jeder Zwang zum Glauben ist wider Christus. Lehrzucht als bloßes Abberufen aus dem Amt gehört zur Ordnung rechtmäßiger vocation. dd) Die Kirche als äußere Sammlung der Gläubigen lebt in dieser Welt der politia. Sie wird zur Wahrnehmung der äußeren Ordnung auf die staatliche Rechtsordnung niemals gänzlich verzichten können. Sie hat darauf zu achten, daß die Nötigung zu bürgerlich rechtschaffenem Handeln niemals zur Nötigung im Glauben wird. Beispiele: Das Kirchenregiment hat dafür zu sorgen, daß das W o r t Gottes „lauter und rein" gepredigt wird. Es darf daher Lehrzucht ausüben. A b e r es muß dafür sorgen, d a ß der Prediger, der aus dem A m t abberufen wird, ökonomisch versorgt bleibt, damit er nicht aus Furcht vor weltlichem Nachteil zur Glaubensheuchelei gezwungen wird. Die Kirche darf selbstverständlich Beiträge v o n ihren Mitgliedern erheben. Dies kann auch im Interesse sowohl des Staates w i e der Kirche durch eine staatlich erhobene Kirchensteuer geschehen. Die Kirche hat dafür zu sorgen, d a ß niemand zur Steuer herangezogen wird, der sich nicht aus freiem Willen zur Kirche hält. Die Kirche als äußere Institution ist vermögensfähig, rechtmäßige A b g a b e n v o n G r u n d und Boden kann sie einfordern wie der Privatmann, darin kann ein Glaubenszwang nidit gesehen werden.

b) Die Lehre vom weltlichen Regiment ist der wichtigste neue Beitrag Luthers zur Rechtslehre. Sie nimmt eine Schlüsselstellung im System der Rechtslehre ein. Sie wird mißverstanden, wenn man sie als allgemeine Staats- und Soziallehre begreifen will. Der Theologe hat in erster Linie die persönlichen Gewissensfragen zu beantworten. Was nämlich zur friedlichen Förderung des öffentlichen Wohls etwa in Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik dienlich ist, weiß der Theologe mindestens nicht besser als der Weltmann. Dagegen bedarf die Frage nach Recht und Grenzen öffentlicher Gewaltausübung einer theologischen Antwort im Rahmen der Lehre vom Jus divinum. Der historische Luther hatte sich in erster Linie auf Aussagen über die Schwertgewalt der Obrigkeit beschränkt. Mittelbar sind darin auch Aussagen über die Ordnungsfunktion des Staates, also die gesetzmäßige Verteilung der weltlichen Güter enthalten. Die Schwertgewalt der Obrigkeit wird von Menschen ausgeübt, die Lehre vom weltlichen Regiment ist darum genauer als Lehre vom Amt und Beruf der

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Oberpersonen zu verstehen. Der Theologe ist zuständig zur Antwort auf die Frage, was Gottes Wille diesen Oberpersonen gebietet und wie sie mit gutem Gewissen vor Gott handeln können.

aa) Das weltliche Regiment ist als Amt von Gott in die gefallene Welt in das Reich Gottes zur Linken gestiftet, vgl. Paulus Rom 131 ff. Der Amtsinhaber ist in jedem Fall Gott unmittelbar verantwortlich, er kann seine Gewissensentscheidung niemals durch bloße Berufung auf Befehl von oben oder auf Mehrheitswillen beziehen.

Wie der Amtsinhaber

bestellt wird, ist eine Frage des weltlichen

positiven Rechts, über dessen Historizität sidi Luther als guter humanistischer Geschichtskenner, insbesondere der antiken Geschichte klar war. Er wußte, daß demokratische, aristokratische und monarchische Staatsformen in der Gesdiidite gewechselt haben. In seiner Zeit waren die großen Stadtrepubliken wie Nürnberg besonders mächtig. Auch Paulus wußte, daß die verschiedenen Obrigkeiten in den römischen Municipien republikanisch verfaßt waren. Für die theologische Situation der Oberperson macht das keinen Unterschied. Luther hat niemals wie Bossuet das Gottesgnadentum der Könige gelehrt, er hätte heute sicherlich die ideologisierte Demokratie verworfen. Die Lehre Luthers, die Oberperson sei Gott im Gewissen verantwortlich, hat sich im freiheitlichen Rechtsstaat in den Institutionen der richterlichen Unabhängigkeit und dem Verfassungsverbot des imperativen Mandates der Abgeordneten erhalten. Luther stand auch als Mensch und Mitbürger sehr realistisch in der wirklichen Welt. E r hielt die damalige Fürstenmacht für die einzig wirksame progressive und zivilisatorische Institution. Deshalb ist er noch lange kein Fürstenknecht, niemand hat bisher demokratischen Machthabern so hart ins Gewissen geredet wie Luther den Fürsten. Sein geschichtliches Urteil über die Leistungsfähigkeit des Fürstentums in damaliger Zeit wurde von allen „progressiven" Geistern geteilt und später im Grunde auch von Marx und Lenin bestätigt. Von der irrationalen Revolte der Bauern war nichts Gutes zu erhoffen, die Kaisermacht neigte sich zum Untergang. Dennoch hat Luther als guter Reichspatriot die Fürsten, namentlich in Fragen der Türkenabwehr, an ihre Pflichten gegen Kaiser und Reich gemahnt.

bb) Das Amt der Obrigkeit dient ausschließlich dem

weltlichen

Wohl, damals sagte man dem leiblichen Wohl. Die Obrigkeit darf sich in Glaubensfragen nidit einmischen, sie hat nur das Leben ihrer Untertanen überhaupt und damit auch ihr Glaubensleben vor rechtswidriger Vergewaltigung zu schützen. Dagegen hat Luther jeden Gedanken an irgendeinen Kreuzzug, etwa gegen die Türken, verworfen, wohl aber die Fürsten zur Verteidigung des Reichs gegen türkische Gewaltherrschaft aufgerufen.

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cc) Diese weltliche Gewalt ist völlig unabhängig vom Kirchenregiment. Der Kirche ist es schlechthin verboten, in das weltliche Amt einzugreifen, sie hat nur Gottes Rechtswillen in der Predigt gegen Sünde, auch der Obrigkeit, zu lehren. dd) Die obrigkeitliche Gewalt steht im Dienst der Liebe, sie schützt die friedliche Bevölkerung vor Unrecht und Vergewaltigung. Luther und Melanchthon haben zunächst versucht allein mit dem Liebesgedanken die Rechtsgewalt des Staates zu begründen. Bei näherer Betrachtung zeigte sich jedoch, daß die Schwertgewalt mindestens äußerlich eine ganz schreckliche Sache ist. Namentlich die Strafgerechtigkeit, an der die Reformatoren ihre Staatstheorie überhaupt entwickelt haben, kann bezogen auf den verurteilten Verbrecher nicht einfach als Liebestat gelten. Zwar war der Gedanke der Besserung — heute sagt man Resozialisierung — seit der Antike wohl bekannt. Die Scholastiker haben diesen humanen Zweck der Strafe mit besonderer Vorliebe erörtert, aber Luthers Nüchternheit mußte es als bloße Ausrede ansehen, wenn man die Strafgewalt auf den Besserungsgedanken hätte begründen wollen. Die Sdiwertgewalt steht demnach auch im Dienste des Zornes Gottes wider die Sünde. Diese schreckliche Seite des Schwertamtes auszumalen ist Luther niemals müde geworden. Dies ist ihm vielfach als Lobpreis der Gewalt angekreidet worden, in Wahrheit will der bäurische Realismus Luthers die Menschen vor der Sünde der Anarchie warnen, welche die Anwendung des Schwertes herausfordert. Dennoch steht diese schreckliche Gewalt zugleich im Dienst göttlicher Liebe, welche die Welt erhalten will. 4. Was ist an der Reichs- und Regimentenlehre Luthers neu? Luther steht vor dem gleichen Problem, vor dem die christliche Ethik von Anbeginn stand, nämlich wie sich der Radikalismus des Liebesgebotes mit den Notwendigkeiten des Weltlebens vereinbaren lasse. Man hat hier in der Diskussion vielfach ein absolutes und ein relatives Naturrecht unterscheiden wollen, wobei das letztere den notwendigen Kompromiß zwischen reiner Liebesethik und praktikabler Ethik für den Weltmenschen bedeuten soll. Luther hat in seiner Lehre vom Jus divinum grundsätzlich am christlichen Liebesradikalismus festgehalten. Da er aus anderen theologischen Gründen den Unterschied zwischen geistlichem und weltlichem Stand ablehnte, so war ihm von vornherein auch die Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Ethik für die Weltmenschen und evangelischen Räten für die Vollkommenen verwehrt. Dabei spielte wohl auch seine persönliche Klostererfahrung mit, daß man im Kloster eben nicht besonders vollkommen wäre.

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Die Frage lautet also für Luther, wie kann der Christ seiner Liebespflicht, radikal und ohne Abzug sinnvoll in dieser Welt, die zugleich regnum satanae und Reich Gottes zur Linken ist, genügen. Luthers Lehre von den zwei Reichen, vom Reich der Welt und vom Reich Gottes trägt zur Lösung dieser Frage unmittelbar nichts bei. Es kann namentlich keine Rede davon sein, daß der Christ jemals Bürger zweier Reidie sein könnte, Bürger ist er nur im regnum christi, im Reich der Welt ist er ein Fremdling. Aber auch hier hat er Gottes Gebot zu gehorchen. Die Lehre vom Reich Gottes zur Linken hat jedoch die richtige mittelbare Bedeutung, daß dieses Reich der Welt nicht so verloren ist, daß man nicht auch in diesem Reich „radikal" als Bürger des regnum christi handeln könnte. Als völlig neu darf dagegen die Regimentenlehre bezeichnet werden. Zwar hat die Zweischwerterlehre im Mittelalter das Verhältnis von Kaiser und Papst vielfach diskutiert, Occam hatte im Dienst Kaiser Ludwig des Bayern die Unabhängigkeit der kaiserlichen Gewalt gegenüber dem Papst verteidigt. Aber Luther hat mit Recht sich immer gerühmt, daß niemand seit Beginn der Christenheit das obrigkeitliche Amt in seinem Wesen und seiner Selbständigkeit so hoch gepriesen habe. Söderblom verwendet sogar in seiner Lehre von der fortlaufenden Offenbarung die Äußerung Luthers als Beweis für das prophetische Selbstbewußtsein des Reformators. Luthers Lehre will nicht etwa die Eigengesetzlichkeit des staatlichen Geschehens rechtfertigen, sondern bindet die Oberperson an Gottes Willen, lehnt aber eine Kontrolle der Kirche über die weltliche Gewalt ab. Daß diese Lehre Luthers für die moderne Entwicklung in vielerlei Richtung bedeutsam gewesen ist, wird niemand bestreiten wollen, ob sie theologisch haltbar ist, kann erst im Rahmen der Naturrechtslehre als Gesetzeslehre erörtert werden. IV. Die Naturrechtslehre als Lehre von Gottes Gesetz Wie viele Professoren, kommt der Autor nach langen methodischen Vorbereitungen erst am Schluß der Vorlesung bzw. der Abhandlung zum eigentlichen Thema, nämlich der inhaltlichen Darstellung der lutherischen Naturrechtslehre. Aber wir haben ja im Titel auch nur versprochen, einen Beitrag zum Naturrecht des Luthertums zu liefern. Wir wollen daher zum Schluß nur auf einige hauptsächliche Gesichtspunkte hinweisen. 1. Alles Recht beruht nach Luthers Auffassung nicht auf dem Selbstverständnis des Menschen, sondern auf dem Jus divinum. Dies ist auch möglich, weil Gottes Gesetz den Menschen derart ins Herz

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geschrieben ist, daß es nicht weggetan werden kann, und immer wieder der Stachel ist, der zur Buße reizt, zu Erlösung und Versöhnung bereit macht. Dieser Stachel im Gewissen ist nicht eine selbstherrliche, dem Menschen eingepflanzte ratio, sondern ein Stück allgemeine Offenbarung. Auch in der Rechtslehre ist damit der mittelalterliche Zweistufenbau des Denkens überwunden. Die wahre Natur des Menschen ist die unversehrte Natur, wie sie vor dem Fall aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist. Sein wahres Naturrecht ist also die Conformitas

cum deo. Das weltliche Naturrecht ist also nur eine Trübung oder eine Erinnerung an das eigentliche Naturrecht. Nicht von einem rationalen Naturrecht, sondern allein vom jus divinum ist jede Rechtsordnung zu

verstehen. Dies weiß allerdings nur der gläubige Christ, der daher auch berufen ist, das weltliche Naturrecht in seinem eigentlichen Sinn zu deuten. E r verliert darum die gemeinsame Plattform nicht, auf der er sich mit dem Niditchristen in Freiheit begegnen und auseinandersetzen kann. Ist doch auch der Niditdirist sich der Unvollkommenheit und der ständigen Reformbedürftigkeit des Rechts und der Rechtsordnung bewußt. Die besondere historische Situation, in der Luther schreibt und redet, ist die Tatsache, daß er sich bewußt war, „in einem christlichen Körper" (vgl. namentlich die Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation") zu leben. Er hat in diesem Sinn die Vorstellung von einem christlichen Staat nicht abgelehnt. Um nur ja jede Gemeinschaft mit dem katholischen Naturrecht zu vermeiden, hat der „Protestantismus, die historische Wirklichkeit, in der wir uns befinden, abgeleugnet und damit den Zustand herbeigeführt, daß unsere Kinder ohne Religionsunterridit aufwachsen. Sicherlich sind Obrigkeiten nicht sdion deshalb Christen, weil sie behaupten, es zu sein. Es ist aber ein historischer Unterschied, ob sie entsprechend der lutherischen Lehre von der custodia duarum tabularum Religionsunterricht einrichten und dulden. Das Luthertum hat jeden Glaubenszwang abgelehnt, das war im 16. Jahrhundert eine gewaltige Neuerung, aber so einfach mit der Negation kommt man in der heutigen Wirklidikeit nidit davon. Was der Nationalsozialismus nidit zu wege gebracht hat, das bringt allmählich der von den Spiegelredakteuren indoktrinierte Staat wirklich fertig, das Kreuz aus der Sdiule zu verbannen. Diese negative Lehre ist aber keineswegs nur Toleranz, sondern eine positive Abfallpredigt in dem Sinn, daß das Kreuz nur als Marotte einer Minderheit verstanden werden könne. Jesus von Nazareth hat gesagt: „Wer nicht für midi ist, ist wider midi". E r hat übrigens auch das Gegenteil gesagt. Beides ist richtig, jeweils in der vorhandenen Situation.

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Nun hat die angeblich liberale Kritik sicherlich damit Redit, daß jede weltanschauliche oder religiöse Kundgebung, die in einer öffentlichen Institution unter dem Schutz der Autorität derselben geschieht, eine Verletzung der religiösen Neutralität des Staates ist. Aber es ist eben in der Regel auch das Schweigen eine sehr beredte Kundgebung. Welcher Jurist wüßte das nicht schon aus der Lehre über das Rechtsgeschäft. Hier liegt das Problem. Die historische Situation, welche dadurch gegeben ist, daß die öffentliche Autorität die christliche Lehre wenigstens in der Schule zuläßt (Art. 7 GG), ist allerdings erst seit Konstantin gegeben. Das Mailänder Edikt war als bloßes Toleranzedikt gedacht. Erst Theodosius hat die christliche Lehre zur Staatsreligion gemacht und damit die Verbindung zwischen Thron und Altar herbeigeführt. Wer aber den Weg christlicher Toleranz gehen will, wandelt auf einem schmalen Grat, er kann immer nach der einen oder nach der anderen Seite herunterfallen. Daß gegenwärtig in der ganzen Gesellschaft einschließlich der Schule ein starker gesellschaftlicher Zwang besteht, Christus zu verleugnen, dies nicht zu sehen, dazu gehört ein Ubermaß von Naivität. 2. Die Grundentscheidung. Gott verlangt vom Menschen, d. h. von allen Menschen, Gläubigen und Ungläubigen, die vollkommene Gottes- und Nächstenliebe, vermag auch der postlapsarische Mensch dieser Forderung niemals genügen. Hat doch sogar der Mensch, der aus der Vergebung lebt, dies Kleinod noch nicht ergriffen, er jagt ihm nur nach, ob er's wohl ergreifen möchte, Gal. 4,12 ff. Das laue weitverbreitete Geschwätz von christlicher Nächstenliebe verdunkelt sowohl den Ernst als auch den Inhalt dieser Grundentscheidung. Diese verneint nämlich radikal jede Form des Eudämonismus, sowohl das Glücksverlangen als auch das Vollkommenheitsstreben jeder denkbaren Tugendlehre. Luther schreibt in der Freiheit des Christenmenschen: „Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinen Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben führet er über sich in Gott, aus Gott führet er wieder unter sich durch die Liebe gleich wie Christus, 1. Joh. 1,51 sagt, Ihr werdet den Himmel Gottes sehen."

Liebe in diesem Sinne ist mehr als bloße Gemütsbewegung, sie ist freie, frohe, beständige und tätige Hingabe, nicht „Eros", sondern „Agape" im Sinn vom 1. Kor. 13. Dieser Grundentscheidung steht besonders heute das Verlangen nach Selbstverwirklichung gegenüber. Im Hagestolz Adalbert Stifters ist zu lesen: „Jeder ist um sein selbst willen da, aber nur dann ist er da, wenn alle Kräfte, die ihm beschieden worden sind, in Arbeit und Tätigkeit gesetzt

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werden — denn das ist Leben und Genuß — und wenn er daher dieses Leben ausschöpft bis zum Grunde und sobald er so stark ist seinen Kräften allen, den großen und den kleinen, nur allen, diesen Spielraum zu gewinnen, so ist er auch für andere am besten da, wie er nur immer da zu sein vermochte, wie es ja gar nicht anders sein kann, als daß wir auf die wirken, die rings um uns gegeben sind; denn Mitleid, Anteil und Hilfreidiigkeit sind ja audi Kräfte, die ihre Tätigkeit verlangen. Ich sage dir sogar, daß die Hingabe seiner selbst für andere — selber in den Tod —, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, gerade nidits anderes ist, als das stärkste Aufplatz der Blume des eigenen Lebens."

Verstehen wir diese Sätze mit Nietzsche (dieser namentlich zum Nachsommer) als ein Bekenntnis des Dichters zum ethischen Individualismus des starken und edlen Menschen, so hat Melanchthon die Teilwahrheit dieser Lehre anerkannt, indem er gegen den Stoizismus den Wert aller dem Menschen eingeschaffenen natürlichen Kräfte auch der Leidenschaften hervorhob. Er konnte sich dabei insoweit auf Luther stützen, als dieser die umgekehrte Methode der Selbstvervollkommnung, nämlich die asketische ablehnte. Beide waren darin einig, daß jede Bemühung um eigene Vervollkommnung getragen sein müsse vom Gebot der vollkommenen Gottes- und Nächstenliebe. Selbstverständlich ist jeder Mensch auch um seinetwillen da, aber er ist am besten oder überhaupt richtig nur dann da, wenn er völlig in Gottes- und Nächstenliebe steht. Luther geht mit der alten Kirche von einer personalen Grundeinstellung aus. Im freiwilligen Opfer, aliis inserviendo consumor, wird die an Gott gebundene Person erhalten. Insofern stimmt Luther auch mit den höheren Formen des ethischen Idealismus überein. Der moderne sensualistische

Individualismus

des Glücksverlangens

— gleichgültig ob man nun das

Glück im Genuß oder in der Selbstverwirklichung sucht — verläßt die personale Überlieferung. Das Programm der Selbstverwirklichung übersieht, daß das Selbst doch nur Wert hat als Aufgabe, als Bestimmung zur Würde des Menschen. Käme es darauf an, das empirische Selbst zu verwirklichen, so könnte bei den meisten Menschen weder biologisch noch ästhetisch etwas erträgliches herauskommen. Erst recht ist der Kollektivismus mit dem personal verstandenen Liebesgebot unvereinbar, da er die Personalität und Freiheit des Gewissens vernichtet,

b) Tätige Liebe erweist dem Menschen das objektiv Gute, der Nächste ist zunächst jeder Mensch, der unsere Hilfe braucht wie der Verletzte die Hilfe des Samariters. Aber zu Beginn der Neuzeit richtet Luther seinen Blick nicht nur auf die zufällige Einzelbegegnung, sondern auf die allgemeine soziale Verantwortung. Diese Wendung von der Ethik der Selbstvervollkommnung zur Ethik des realen Liebesdienstes am Nächsten ist die entscheidende Tat Luthers, mit der er die neuzeitliche Ethik zugleich als Gewissens- und Sozialethik begründet hat.

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Die umstürzende Veränderung gegenüber dem Mittelalter zeigt sidi besonders in der Almosenpraxis. Im Mittelalter diente sie dem Ziel der Askese, der Befreiung des Frommen vom Mammonsdienst, steht also im Dienst der Selbstvervollkommnung. Die historische Kriminologie weiß aber zu berichten, daß diese Praxis Bettlerheere und Kriminalität heranzüditete. So wurde der Almosenempfänger selbst als bloßes Mittel eigener Askese mißbraucht. Erst von der Reformation an kam es zur sinnvollen Armenfürsorge. Dieser außerordentliche Fortschritt wurde leider dadurdi vermindert, daß das Bettelverbot gelegentlich sehr hart und unvernünftig durchgeführt wurde.

3. Das Liebesgebot wird bis zum radikalen Verbot der eigensüchtigen Selbsthilfe und Notwehr durchgeführt. Wenn die mittelalterlichen Beichtbücher den Satz anerkennen, vim vi repellere licet, so sieht er darin das Zeichen für den Abfall von Gott, ja eine Schändung des heiligen Namens. An der Verwerfung der individualistisch begründeten Notwehr hat Luther bis zu seinem Ende streng festgehalten. Nun ist leicht einzusehen, daß das Notwehrverbot die Welt in die Hand des Bösen geben müßte. An dieser Stelle erweist sich die Schlüsselstellung der Obrigkeitslehre. Die weltliche Gewalt hat das Amt im Reich Gottes zur Linken den Einzelnen und die Gesellschaft (universa multitudo) zu schützen. So kann der Fromme in Frieden unter der Obrigkeit leben. Die Oberpersonen selbst handeln in der Abwehr des Bösen sowohl im Dienst der Liebe zum Nächsten als im Amt des göttlichen Zorns über das Böse. Mag ihr Werk äußerlich hart und schrecklich erscheinen, es ist gut, weil es das Gute fördert. Auf den bloßen Anschein kommt es Luther nicht an, ja er fürchtet sogar, daß der Mensch sidi mit den „scheinenden", d. h. besonders ausgezeichneten Werken der Liebe bloß vor Gott hervortun und sich vom Dienst am Nächsten drücken wolle. Der ehemalige Mönch Luther verwirft das mönchische Leben als Fahnenflucht vor der realen Liebespflicht gegenüber dem Menschen. Die Stellung der Obrigkeit wird zugleich mit dem vierten Gebot begründet, da Luther die Familie als echte ursprüngliche Schöpfungsordnung ansieht. Aufruhr gegen die Obrigkeit ist für Luther Aufruhr gegen Gott, wenn er auch in ganz bestimmten Ausnahmefällen Selbsthilfe gegen den tyrannus universalis und Selbsthilfe zuläßt. Schließlich gelingt es ihm auch, den Weg zur Rechtfertigung der Zivilklage zu finden, wenn diese Klage nur im Dienste der Sache, d. h. zur Abwehr des Bösen und zum Nutzen der Allgemeinheit stattfindet. Im Anfang begründet der junge angeblich radikale Luther sein Nein zur Selbsthilfe recht mönchisch, besonders in den beiden Sermonen über den Wucher. Aber bereits in der Sdirift über die Grenzen der obrigkeitslichen Gewalt sieht er ein, daß Notwehr Selbsthilfe und gerichtliche Klage im Dienst der Allgemeinheit sachlich notwendig sein könnten. Dennoch

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rät er von solchem notwendigen Dienst ab, weil der einzelne allzu leicht das eigene mit dem allgemeinen Interesse verwechseln könne, daher sei es seelengefährlich, bereditigte Selbsthilfe zu üben. Das ist genau die abgelehnte mönchische Lehre von den besonderen guten, d. h. scheinenden Werken. Erst sehr spät ist er von diesen Überresten der Möncherei losgekommen, und zwar in der Notwehrlehre. Hier verwendet er den naturrechtlichen Grundsatz deficiente magistratu populus (d. h. quisque ex populo) est magistratus. Deutsch: wer allein im Walde dem Räuber gegenübersteht, handelt an Kaisers Statt. Dies hat die Konsequenz, daß auch der Zivilkläger, der nach gewissenhafter Prüfung seine Sache dem Richter vorbringt, am Rechtsleben der politia am obrigkeitlichen Amt teilnimmt. Ein Recht zur Revolution ist damit noch lange nicht gegeben. Inwieweit die Obrigkeit so weit defizient werden kann, daß sie zuletzt vom populus abgesetzt werden muß, wäre in der Lehre vom Widerstandsrecht zu erörtern. Angeblich unhaltbare soziale Zustände geben dazu noch lange kein Recht. Luther hat diese Frage an historischen Beispielen, namentlich in seiner Obrigkeitschrift sehr eindringlich erörtert und kam zum Schlußergebnis: „Obrigkeit ändern ist leicht, Obrigkeit verbessern ist mißlich und schwer." Als diskussionswürdigen Fall behandelt er den Freiheitskampf der Schweizer gegen die habsburgischen Vögte, bleibt aber zweifelhaft, ob dabei schließlich etwas Gutes herauskommen werde. Luther könnte heute darauf hinweisen, daß die schweizerischen Ratsgeschlechter Jahrhunderte hindurch ihre überzählige junge Mannschaft gegen einträgliches Blutgeld an den bourbonischen Despotismus verkauften. Das haben deutsche Landesfürsten zwar auch gelegentlich getan, aber immer nur sehr vorübergehend und zum Abscheu nicht nur der öffentlichen Meinung, sondern auch ihrer Standesgenossen. Obrigkeit bessern ist eben eine mißliche Sache. 4. Die konkrete Anwendung des Liebesgebots. M i t all dem ist natürlich noch nicht gesagt, was denn nun das Gute sei, welches der Christ seinem Nächsten z u erweisen habe. Dieser Aufgabe der V e r inhaltlichung hat sich L u t h e r keineswegs entzogen, er löst sie, indem er das Liebesgebot auf die wirkliche gefallene empirische Welt bezieht. In dieser W e l t , so wie sie grundsätzlich ist, ist Liebe zu erweisen. Insofern k a n n man das Naturrecht des Luthertums als relatives Naturrecht bezeichnen, bezogen eben auf diese W e l t . D a r i n liegt keine Erleichterung für den Einzelnen, das Liebesgebot trifft ihn stets in seiner unbedingten Strenge. W a s Luther ablehnt, ist die U t o p i e , welche man sich gewöhnt hat, als „absolutes N a t u r r e c h t " zu bezeichnen. W e r der U t o p i e dient, lebt nidit in der Liebe, sondern im Selbstgenuß seiner ideologischen Reinheit und opfert heute Glück und Frieden seiner Mitmenschen einer angeblich kommenden besseren W e l t . L u t h e r lehnt diese U t o p i e aber nicht nur ihrer faktischen Grausamkeit wegen ab, sondern weil sie überhaupt das Ziel des Christus der Erlösung verfehlt. Dies ist der Sinn des discrimen legis et evangelii. U t o p i e ist für Luther nur eine andere W e n d u n g der Möncherei, des W a h n s menschlichen Vollkommenheits- und Verdienststrebens. Nichts ist in der T a t

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leichter, als auf Eigentum zu verzichten, wenn man sich auf Kosten anderer ernährt und die Seinen, für die man zu sorgen hat, hungern läßt. Das wußten natürlich auch die Schwärmer unter Luthers Zeitgenossen. Sie sind nur zu erklären daraus, daß sie samt und sonders eschatologisch dachten und das bevorstehende himmlische Endreich erwarteten. An ein absolutes Naturrecht in dieser gefallenen Schöpfung glaubten auch sie nicht. Diesen relativen konkreten Gehalt des Liebesgebotes stellt Luther in seinem großen Katechismus, Melanchthon in seinen volkserzieherischen Schriften dar. Dabei ist er zugleich Traditionalist und Neuerer. Neuerer wird er, wie schon oben gezeigt, durch die Lehre von den zwei Reichen und den zwei Regimenten. Durch seine Verneinung einer jure divino eingerichteten äußeren Kirche, ihres monatischen Ideals, der Ehelosigkeit des Priesterstandes, hat er die Welt grundlegend verändert. Durch seine Lehre von der weltlichen Obrigkeit hat er die Berufsethik überhaupt begründet. Bezüglich der säkularen Lebens- und Sozialformen scheint er Traditionalist zu sein. Er nimmt die überlieferten Formen an sich hin, verlangt aber vom Christen, daß er in diesem weltlichen Leben volle Gottes- und Nächstenliebe bewähre. Aber er mißt doch die vorhandenen Zustände zwar nicht am Evangelium, aber an Gottes Gesetz. Die Wege, welche Luther zu seinem Ziel einschlägt, sind so verschiedenartig, daß der moderne Rechtslehrer zunächst nur Methodenwirrwarr sieht. Dieser Wirrwarr bedeutet aber zugleich inhaltlichen Reichtum. Bald hält er sich an ein Bibelwort, bald argumentiert er naturrechtlich aus der Natur der Sache und dem Wesen des Menschen, wie Jesus von Nazareth ja auch nach Matth. 19,1 argumentiert. Niemals beruft er sich auf das isolierte Bibelwort. Wenn er in der Auslegung des sechsten Gebots die Erotomanie verwirft, so deshalb, weil er die Ansicht des Jesaja teilt, daß der Fruchtbarkeitskult die sexuelle Lust zum höchsten Gut macht. Er verwendet eine Fülle historischer Belege aus der Erfahrung der Menschheit. Bekanntlich ist er so wegen der Einehe in Schwierigkeiten geraten. Aber mögliche Irrtümer stören ihn nicht, denn es kommt doch nur darauf an, auf Jesus Christus als den einzigen Grund zu bauen, sei es „Gold, Holz, Heu, Stroh". Das Werk wird im Feuer geprüft werden, aber der Irrende wird keinen Schaden leiden, 1. Kor. 3,11 ff. Luther hat viel Verständnis für das geschichtliche Werden der menschlidien Dinge, er traut dem Heroenrecht der großen Wundermänner Gottes viel zu. Aber natürlich fehlt ihm noch die Vorstellung der Machbarkeit der sozialen Welt. Zweifellos steht sein soziales Weltbild im Widerspruch mit dem Ideal der Gleichheit. Da er Ehe und Familie für gottgegebene prä-

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lapsarische Ordnungen ansieht, so hält er väterliche Leitung für eine der höchsten Schöpfungsgaben Gottes. Daß sich diese väterliche Leitung in dieser sündigen Welt auch des Schwertes bedienen muß, ist Folge des Falls, aber auch in diesem Sinn hält er Herrschaft für etwas Gutes, dessen der Mensch bedarf. Er fordert eine vernünftige Armenpflege, für alle Menschen ein würdiges Dasein, insbesondere allgemeine Freiheit der Eheschließung, letzteres ist nahezu eine Utopie. Aber er verlangt nicht wirtschaftliche Gleichheit. Wenn er häufig genug die moderne Akkumulation der Reichtümer als Mammonsdienst verwirft, so bleibt er wirtschaftlich vielleicht im Mittelalter. Aber wenn er auch die revolutionäre Gütergemeinschaft ablehnt, so deshalb, weil er vom Reichtum nichts hält. Reichtum ist eine seelenverführende unheimliche Madit. Nicht weil der reiche Mann unsozial handelt, sondern weil er sein Herz an den Mammon hängt, wird er kaum ins Himmelreich gelangen. „Reichtum gibt Gott gemeinhin den großen Eseln, denen er sonst nichts Gutes gönnet". Ein bescheidenes Leben in auskömmlichen Umständen ist das wahre weltliche Glück. All das enthält kein Sozialideal im modernen Sinn. Die Theologen und Politiker, welche sich an der vor dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Kriegspropaganda der Westmächte kritiklos heute noch beteiligen, sollten einsehen, daß auf der Habenseite des Luthertums doch einiges steht. Das Luthertum hat niemals einen Kreuzzug weder im Namen Christi noch dem der Zivilisation geführt. Es schloß schon 1555 den Augsburger Religionsfrieden, in dem die evangelischen und katholischen Stände sich wechselseitig als Glieder der christlichen Kirche anerkannten. Wenn sie jeweils die Religionsaufsicht für sich in An-» spruch nahmen, so heißt das nicht einfach, cujus regio ejus est religio. Dies bedeutet nur, daß man damals einen mehrkonfessionellen Staat für nicht regierbar hielt. Der Augsburger Religionsfrieden hat aber jedem Einzelnen insofern Gewissensfreiheit gewährt, als er dem Bürger das Recht zur Auswanderung mit Hab und Gut garantierte. Da zunächst die katholischen Obrigkeiten gar nicht auf treue und fleißige Untertanen verzichten konnten, so wurde bis 1600 fast ganz Deutschland lutherisch. Erst der Religionskrieg von 1618 hat das Blatt gewendet, den hat aber nicht das Luthertum erklärt, das an die unüberwindliche Macht der göttlichen Wahrheit glaubte. Die lutherische Obrigkeitslehre hat die Obrigkeiten in Zucht gehalten, so sehr, daß die Untertanen zu spät sahen, wenn die Oberpersonen moralisch defizient wurden. Aber stehen auf der anderen Seite in der Rechnung wirklich nur moralische Habenposten?

Die Auswirkungen des reformatorisch-calvinistischen Naturrechts im Recht Amerikas DIETRICH OEHLER, K ö l n

In Amerika zeigte das calvinistische Naturrecht 1 zum Teil weitere und andere Auswirkungen als in England 2 . Das kam dadurch, daß sich die Menschen in der neuen Heimat ganz anders entfalten und ihre Reformen unabhängig von irgendwelchen historischen, im Lande ausgebildeten Formen entwickeln konnten. Die Wirkungen des calvinistisdien Naturrechtsdenkens sind in Amerika von großer Bedeutung geworden. Nach der Verfolgung von zwei das Rechtsleben in grundlegendem Maße bestimmenden Faktoren sollen drei Institute des Strafrechts die Wirkung im Besonderen zeigen. I.

Zunächst vermochte der Gedanke des calvinistisdien Naturrechts den moralischen Anruf an den Staat wachzuhalten und in eigenartiger Weise sittengesetzlichen Normen einen rechtlichen Charakter und umgekehrt beizulegen. Dann führte in Amerika der speziell von Calvin betonte Charakter des christlichen Naturrechts als Rechts bei den Gründern der staatlichen Ordnung Amerikas zur Uberzeugung, daß ein Staat nicht auf Gewalt, sondern auf Rechtsbeziehungen der Angehörigen untereinander ruhe3 und das Recht mehr individualisiert werden müsse, damit jene Beziehungen gestärkt werden 4 . 1 Welzel, Naturretht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962, S. 104; in seinem Beitrag zur Rudolf-Smend-Festgabe, 1952, S. 387, Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (John Wise und Samuel Pufendorf), geht er Pufendorfs Einfluß in Amerika nach. Zum calvinistisdien Naturrecht vgl. auch meinen Beitrag in Festgabe für Ernst von Hippel, 1965. S. 220. 1 Vgl. meinen Beitrag in Festschrift für Erich Schwinge, 1973, S. 7 ff. ' Calvin hatte einen körperschaftlichen nichtvertraglichen Charakter des Staates angenommen, vgl. dazu meinen Beitrag in Festgabe für von Hippel, S. 222 mit Lit. Bezüglich der Zusammenhänge von Calvinismus und amerikanischem Staatsrecht vgl. sehr klar Otto Mayer in Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirdie, 3. Aufl., Bd. 18, 713, der Territorialismus und vertragliches Denken für den calvinistisdien Einfluß herausstellt. 4 Roscoe Pound, The Spirit of the Common Law, 1921, p. 42 f., 48 f.

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Beide Gesichtspunkte, der moralische und der rechtliche, bedürfen für die Feststellung der Wirkungen reformatorischen Naturrechts auf Amerika einer Erklärung. 1.

Entscheidend für die ganze Entwicklung Amerikas wurde das independistische Puritanertum, für das das 1629 gegründete Massachusetts den Mittelpunkt bildete. Wenn auch in Virginia und Carolina die anglikanische Kirche Staatskirche wurde, so wurde diese auf die geistige Haltung des Amerikaners nicht bedeutend wirksam, denn die Kolonien in Neu-England wurden von den Puritanern aus der Glaubensverfolgung begründet und erhielten so einen unmittelbaren religiösen Impuls. Deshalb liegen bei den Puritanern die stärkeren seelisdien Kräfte. Durch sie zieht der strenge Calvinismus in Amerika ein. Die Pilgerväter wollen das theokratische Ideal Genfs wieder verwirklichen, nachdem sie in England und Holland keine dauerhaften Heimstätten gefunden hatten. Im Pakt der „Mayflower" vom 11. November 1620 heißt es: having undertaken, for the Glory of God, and advancement of the Christian Faith usw. Bestimmend für die Staatsgestaltung wurde der Wille dieser Puritaner, das Gesetz Gottes ihr Gemeinwesen regieren zu lassen. Gottes Herrschaft sollte in ihrer neuen Heimat verwirklicht werden; ihr kam eine religiöse Sendung auf dieser Welt zu. Wir sehen in der Ausführung dieser theokratischen Idee ganz ähnliche Züge wie in dem Genf Calvins. Kirche und Staat sind in den Funktionen miteinander so verknüpft, daß die Kirche mit ihrer Ethik und ihren Glaubensforderungen den Staat allmählich durchdringt. Die calvinistisdien Impulse, die zu einer engen Verzahnung von Kirche und Staat in den Herrschaften der Neuen Welt führten, ergaben andererseits eine stark legal verstandene Auffassung der Bibel. So ordnete der Staat öfters den Gottesdienstbesuch an, er überwachte den Sittenwandel des einzelnen usw. Dieser Zug des gesetzlichen Moralismus bestimmte das Leben Amerikas stark, und zwar in der Art, daß der Mensch den moralischen Imperativ in das Handeln des Alltags umsetzte. Die Religion bedeutete dem Menschen nichts, wenn sie sich nur introvertiert verschloß, sie mußte sich vielmehr extrovertiert auf das praktische Leben anwenden lassen und angewendet werden. Bei den Puritanern der damaligen Zeit schlug sich der Schwung und die Intensität der reformierten Ethik noch echt in der Religiosität nieder. Die puritanischen Gemeinden wollten ein Zeugnis in der Welt mit ihrem Leben geben. Sie empfanden sich von Gott angerufen und glaubten, eine Sendung in der Welt zu erfüllen.

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Im Jahre 1648 legten die Männer von Massachusetts ihre fundamental orders in einer Urkunde nieder, die sie The Laws and Liberties of Massachusetts nannten 5 . Sie ist am bezeichnendsten unter den sonstigen grundlegenden Satzungen der Ansiedlungen. In der Einleitungserklärung heißt es, daß die Kirche und der Staat gemeinsam in der Kolonie gegründet und aufgewachsen seien und die Gebote Jesu Christi auch dazu dienten, um die zivile Staatsgewalt zu begrenzen6. Es wurde die Menschlichkeit betont, die allen Menschen zukomme: Such liberties, immunities, privileges as humanitie, civilitie and christianitie call for as due to everie man in his place. Die Ansiedlung gewährte neben der maßgeblichen kongregationistischen puritanischen Kirche den anderen Kirchen Freiheit, aber nur mit starken Einschränkungen. Vorbedingung für die Duldung war unbedingt der Glaube an Jesus Christus 7 . Von vornherein wurden allerdings die Jesuiten und Katholiken mit einem Amt innerhalb der katholischen Kirche aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen, aber nicht um ihres Glaubens willen, sondern vielmehr aus Angst vor staatsumstürzlerischen Tendenzen und der Gewalt Roms 8 . Uneingedenk, daß die Puritaner selbst einmal nonconformists waren, verfolgten sie Baptisten und Quäker. Staatlichen Eingriffen in die Kirchen wurde durch das Verbot vorgebeugt: N o injunction shall be put upon any church9. Die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche blieb in Massachusetts bis zum Ende der Kolonialzeit. Als der junge independistische Geistliche Roger Williams in Massachusetts die Freiheit aller Religionen, nicht nur der christlichen Bekenntnisse, predigte, wurde er verbannt. Er begründete die bedeutende Kolonie in Rhode Island, in der volle Unabhängigkeit von Kirche und Staat herrschte. Bezeichnend ist aber, daß Williams nicht etwa ein aufgeklärter Mann im modernen Sinne war, sondern ein strenger Puritaner, der jegliche staatliche Macht in Glaubensfragen 8 Reprinted from the Copy of the 1648 Edition, Cambridge, H. University Press, 1929. • This hath been no small priviledge and advantage to us in N e w England that our Churches, and civil State has been planted, and growne up (like t w o twinnes) together like that of Israel in the wilderness by which wee were put in m i n d e . . . not only together our churches, and set up the Ordinances of Christ Jesus in them according to the Apostolids patterne by such light as the Lord graciously afforded us: but also withall to frame our civile Politic, and lawes according to the rules of his most holy word whereby each do help and strengthen to other (the Churches the civil Authoritie and the civil Authoritie the Churches) . . . a . a . O . : A 2 . 7 All the people of God with in this jurisdiction, who are not in a Church way and be orthodox in judgment and not scandalous in life shall have full libertie to gather themselves into a church estate, provided the doe it in a christian way with due observation of the rules of Christ revealed in his word, a. a. O., S. 18. 8 9 A. a. O., S. 26. A. a. O., S. 18, Ziff. 6.

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ablehnte. Er sah durch einen solchen Eingriff das Prinzip der Herrschaft des Geistes in der Welt gefährdet 10 . Die religiöse Freiheit setzte er zugleich ins allgemeine Menschliche um, indem er die Indianer als Menschen milde und brüderlich behandelte 11 . Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurde die Einwanderung stärker, und es trat in den einzelnen Kolonien eine Vielzahl von Konfessionen auf, die durch die religiös Vertriebenen aus Europa sich bildeten. Neben Kongregationalisten kamen Baptisten, Katholiken, Anglikaner, deutsche und holländische Reformierte, die Brüdergemeinde, Lutheraner usw., und es wurde allmählich unmöglich, eine Kirche zu bevorzugen und die anderen zu Dissenters zu machen. So waren in New Jersey, Pennsylvania, Delaware Staat und Kirche niemals in ein engeres Verhältnis getreten. Eine gewaltige Intensivierung des religiösen Lebens kam um die 30ger Jahre des 18. Jahrhunderts durch das „Great Awakening", eine Bewegung, die alle Kolonien ergriff und mit der pietistischen und methodistischen Bewegung in Europa konform ging. Aber sie griff in Amerika viel tiefer und brachte sowohl dem Calvinismus als den übrigen Konfessionen und Sekten ein mächtiges Aufleben 12 . Soziologisch wurde dies wichtig, als die unteren Volksschichten in großem Ausmaß dadurch erfaßt wurden. In den calvinistischen Kirchen wurde das Gemeindeleben intensiviert, da der einfache Mann eine stärkere Beteiligung in ihm erfuhr. Diese Bewegung des großen Erwachens durchdrang Amerika so mächtig, daß sie ihm einen bleibenden Stempel aufdrückte, nicht nur in den lebendigen Kirchen, sondern auch im politischen Leben. Zunächst erhielt die Forderung nach Nichteinmischung des Staates in kirchliche Angelegenheiten neuen Nachdruck. Die stark von dem Gefühl getragene Erhebung führte zu einem betonten Mitempfinden für die bedrückten Menschengruppen und zu einem Anreiz, ihr Los zu verbessern. Vor allem wuchs das Bestreben, die Humanität zu fördern. Bezeichnend ist der Eifer, mit dem gegen das Sklavenwesen vorgegangen wird und der zu verstärkter Missionstätigkeit unter den Indianern führt 13 . Nadidem schon Pufendorfs Gedanken über John Wise Eingang in Amerika gefunden hatten 14 , drangen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann auch die Anschauungen der europäischen Aufklärung ein, die zugleich mit den gewaltigen Zerstörungen und mit 10 Dazu G. Jellinek, Die Erklärung der Menschenrechte und Bürgerrechte, 3. Aufl., 1919, S. 47 f. 11 Morrison-Commager-Leucbtenburg, The Growth of the American Republic, 6. ed., 1969, p. 59. 12 Darüber Morrison-Commager-Leutenberg, vor. Anm. p. 107 ff. 15 Chitwood-Owsley, A short history of the American People, vol. 1, Toronto, New York, London 1948, p. 163. 14 Welzel, a. a. O., in Smend-Festgabe.

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dem moralischen Verfall der Revolutionszeit von 1763—1783 zu verbreitetem Skeptizismus und Deisms führte. Tom Paine wurde ihr Sprecher. Es ist deshalb wohl unmöglich, in den Verfassungen der amerikanischen Staaten, die am Ende der Kolonialzeit stehen, die religiösen und aufklärerischen Rechtsquellen streng zu scheiden, wie es z. T. versucht worden ist15, und zu zeigen, welche die andere überwiegt. Die Unabhängigkeitserklärung und die virginische Erklärung der Rechte vom 12. Juni 1776, die z. T. Vorbild für die Bundesverfassung wurde, deuten auf den Gedanken der Aufklärung hin. Aber der Schluß der Erklärung von Virginia 16 zeigt das Wirken calvinischer Pflichtäußerung und aktiver Sozialethik, und am Ende der Unabhängigkeitserklärung wird echt puritanisch von dem festen Vertrauen auf die göttliche Vorsehung gesprochen. Die Verfassung der USA von 1787 sagt selbst nichts über Kirche oder Religion. Sie beschränkt sich nur auf rein organisatorische staatsrechtliche Regelungen. Erst in den Zusätzen werden in den Jahren 1789 bis 1791 sehr dürftig gewisse Rechte der Bürger näher geregelt. Im ersten Zusatz gleich wird das Verhältnis von Kirche und Staat mit den wenigen Worten bestimmt, daß der Kongreß kein Gesetz erlassen dürfe, das die Einführung einer Religion zum Gegenstand habe, die freie Religionsausübung beschränke usw. Damit waren Staat und Kirche staatsrechtlich voneinander unabhängig gestellt. Dieser Zustand war die normale Folge der Vielzahl der Glaubensgruppen. In der amerikanischen Entwicklung des Verhältnisses von Religion zum Staat bis zur staatsrechtlichen Trennung von Kirche und Staat ist ein diametraler Unterschied zu den europäischen Kämpfen um die Unabhängigkeit des menschlichen Gewissens vom Staat zu erkennen. Spielt sich in Europa diese Auseinandersetzung auf dem Hintergrunde der Aufklärung mit dem Ziele, die Vernunft an die Stelle der christlichen Religion zu setzen, ab, so geht das Bestreben der Menschen in Amerika dahin, von dem Gewissenszwang des Staates um der persönlichen christlichen Glaubensentscheidung loszukommen. In Deutschland, Frankreich und den anderen europäischen Ländern kämpft man um die Opferung der Religion auf dem Altar der Vernunft, in Amerika um die Rettung der Religion aus den Banden der Gewalt. Das ist das Erbe des Puritanismus. Sein Ziel war die Privatisierung der Religion17. Aber nicht diese soll entmachtet werden, sondern der 15

Vor. Anm., a. a. O., S. 388. See. 16: That religion, or the duty which we owe to our Creator, and the manner of discharging it, can be directed only by reason and conviction not by force and violence, and therefore all men are equally entitled to the free exercise of religion according to the dictates of conscience and that it is the mutual duty to all to practise Christian forbearance, love and diarity towards eadi other. 17 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 158. 18

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Staat vielmehr durch den Entzug der Gewalt über die Seelen der Menschen. Der Staat, ja alle sozialen Gebilde des öffentlichen Lebens werden zu Mitteln, die freie religiöse Betätigung zu gewährleisten. Der Staat wird auf ein begrenztes Maß zurückgeführt, dafür wird dem einzelnen die Freiheit der Religion zur Verfügung gestellt. Damit integriert der Wert des Staates in der Religion, bzw. der Ethik. Ausgangspunkt und Zweck der K ä m p f e sind in beiden Erdteilen verschieden. So ist die Stellung sowohl des einzelnen als auch des Staates zu sittlichen Forderungen eine ganz andere hier und dort. Die Trennung des Staates von der Kirche bewirkte in Amerika, daß der einzelne und die religiöse Gemeinde auf sich gestellt wurden. Sie konnte nur leben durch Missionieren und erhielt damit dauernd eine neue Aufgabe. In Amerika führte die Tatsache, daß der Staat staatsrechtlich auf sich und der einzelne gewissensmäßig vom Staat freigestellt wurde, zu der Erscheinung, daß der Staat einer dauernden kritischen Kontrolle nach sittlichen Gesichtspunkten durch die stark religiös bestimmten Träger unterlag. Und da die Frömmigkeit in Amerika infolge der puritanisdi-calvinistischen Ausgangsbasis in den meisten damaligen Kolonien, mindestens bei den aktiven Elementen, einen bestimmenden moralischen Zug hatte, d. h. das Bestreben zeigte, den Glauben auch in entsprechenden Taten zu zeigen, ist es erklärlich, daß auch das Handeln der Staatsmänner in diese moralisierenden Tendenzen mit einbezogen wurde. Die schlichten Schlußworte der Erklärung der Menschenrechte vom 12. Juni 1776 in Virginia unter sec. 16, daß es die gegenseitige Pflicht aller ist, christliche Milde, Liebe und Barmherzigkeit einander zu üben, sprechen eine solche Sprache. Die strenge puritanische Gewissensbildung des Menschen und das reformatorische Naturrecht werden gemeinsam die Wurzel des amerikanischen Moralismus. Er ist und bleibt puritanisches Erbgut und naturrechtliche Fernwirkung Calvins. Der methodistische Appell an den einzelnen verstärkt dessen Verantwortung und Aktivität. Roscoe Pound kennzeichnet diese Wirkung mit folgenden Worten: Another consequence was to make a moral question of everything, and yet in such a way as to make it a legal question. For moral principles are of individual and relative application. In applying them we must take account of circumstances and of individuals . . . and thus the moral and the legal principle were to be applied in the same way, and that the legal way 18 . Eine Wertung dieser Erscheinung in der Entwicklung des amerikanischen Rechtslebens soll hier nicht gegeben werden, sie ist für unsere Zwecke gar nicht nötig. 18

A. a. O., p. 43, 44.

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2.

Der Sinn für ein Leben im Recht war den frühen Einwanderern schon von Anfang an eigen, da nicht nur die Pilgerväter, sondern audi der größte Teil der übrigen Einwanderer durch absolutistische Machtausübung sich aus Europa verdrängt fühlten und der Gedanke an von Gott audi ihnen gegebene Rechte ihr fester Halt im religiösen Kampf gewesen war. Vor allem bedeutete ihnen Freiheit und Unmittelbarkeit zu Gott — sie hatte schon Luther gebracht —, auch Freiheit zum anderen, zu der Luther und Melanchthon durch die Betonung der Obrigkeit noch nicht gekommen waren. Hier hatten die natürlichen Menschenrechte Calvins über die inzwischen in England in Streit befindlichen Rechte der Engländer hinweg die Auffassung von der Individualisierung der Rechte der Einwanderer zueinander und zur Gemeinschaft bewirkt. Dadurch, daß alle als gleichberechtigt nach der Neuen Welt kamen, keiner mit politischen Vorrechten begabt war, keine überkommene Obrigkeit da war, sondern diese vielmehr erst von den Menschen eingesetzt werden mußte, ergab sich von vornherein ein Zusammenschluß, der auf allein gemeinsam beschlossenem Recht beruhte. Der Vertrag, den die Pilgerväter auf der „Mayflower" vor der Landung untereinander schlössen, ist dafür kennzeichnend: We . . . doe in the presence of God and of one another, covenant and combine our selves togeather into a civile body politick for our better ordering and preservation . . . and by vertue hereof to enacte, constitute and frame, such just and equall lawes, ordinances, acts, constitutions, and o f f i c e s . . . , unto which we promise all due submission and obedience. So hatten sich die Kolonien auf dem Prinzip der gegenseitig vertraglich zugesicherten gleichen staatsbürgerlichen Rechte der Einwanderer gegründet. Damit war im Verhältnis der Ansiedlung zum einzelnen allen Willkürmaßnahmen vorgebeugt. Der Vertrag wurde, indem die Entwicklung über das reformatorische Naturrecht hinausführte, zum beherrschenden Rechtsinstitut, zur Quelle allen Rechts überhaupt, sowohl im Verhältnis zur Gemeinschaft wie zum anderen Menschen. Die europäische Tradition, die den dauernden Streit um die Abgrenzung der Befugnisse des Herrschers mit sich führte, beschwerte die Ansiedler in ihrem Gemeinwesen nicht. Sie gründeten dieses von Anfang an auf Vertrag und damit auf das Recht. Der vorzügliche Ausdruck für den Kampf um das Recht, der vertraglichen Bestimmung der staatsbürgerlichen Rechte, wurde die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Es handelt sich hierbei um einen Protest gegen die Gewaltherrschaft Georgs I I I . und seiner Minister, nicht um Widerstand gegen das eigene Gemeinwesen in

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Amerika. Die Erklärung spricht davon, daß der Schöpfer der Menschen diese mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt habe und daß die Regierung ihre Macht allein von der Zustimmung der Regierten herleite. In der Bundesverfassung selbst wurden keine Menschenrechte aufgenommen. Die zehn Zusätze zu dieser in den Jahren 1789 bis 1791 ergeben nur ganz bestimmte Rechte und Garantien. Eine abstrakte egalitäre Auffassung des Naturrechts im Sinne der französischen Aufklärungsphilosophie ist den Zusätzen fern. Die Unabhängigkeitserklärung dagegen sollte keine Grundlage für das Regieren geben, sondern bildete einen allgemeinen Appell an das Bewußtsein des Menschen. Deshalb konnte sie abstrakter gehalten sein. James M. Bede, Solicitor-General der USA 19 , sagt: „Glücklicherweise hatten die Schöpfer der Verfassung eine harte und schreckliche Lehre der Anarchie, die dem Unabhängigkeitskrieg folgte, durchgemacht. Sie kümmerten sich nicht so sehr um die Rechte der Menschheit als um ihre Pflichten und ihr großes Ziel war, an die Stelle der verschwommenen für einen zügellosen Individualismus schwärmenden Ideen die Autorität des Rechts zu setzen. Von der Hysterie jener Zeit, die ihren Höhepunkt in der französischen Revolution findet, sehen wir in der Verfassung keine Spur . . . Rousseaus Contrat social kümmerte jene Männer weniger als die Sorge, Recht und Gesetz wieder herzustellen". Da die Verfassung und die Zusätze den Bürgern keine abstrakten Rechte gaben, sind sie unverkennbar dem rationalistischen Naturrecht abgeneigt. Dagegen liegen Verfassung und Zusätze in der Weiterentwicklung von Gedanken des reformierten Naturrechts, als sie nur bestimmte, begrenzte Redite — vor allem die Einzelrechte des Engländers aus dem 17. Jahrhundert — den Bürgern zukommen lassen, den Gemeinschaftsgedanken betonen und die Herrschaft des Rechts fest gründen.

II. Selbstverständlich haben sich diese beiden Züge, die das amerikanische Recht des 16. und 17. Jahrhunderts so stark gebildet haben, der moralische und individualisierende Charakter überall in den Rechtseinrichtungen ausgewirkt. Uns sollen hier aus der kontinental-europäischen Sicht drei auffallende Erscheinungen des Strafrechts beschäftigen, die eigenartig der reformierten naturrechtlichen Wurzel dse Staatsdenkens verbunden sind, obwohl der ganze Charakter des Straf rechts, vor allem seine 1 9 James M. Beck, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1926, S. 2 4 4 ff.

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Herbheit, die weitgehende mangelnde Berücksichtigung menschlicher Schwächen u. a. mit davon geprägt sind.

1.

Der individualrechtliche Charakter des Rechts führte zur Territorialisierung des Strafrechts in einer Weise, wie sie weder auf dem Kontinent noch in Großbritannien bekannt war und ist. Z w a r ging und geht das common law in England schon immer nach dem Satze all crime is local vor, aber ursprünglich durchbrach England und später dann Großbritannien in zahlreichen Gesetzen die Allgemeingültigkeit des Territorialitätsprinzips durch statutes und legte diesen öfters extraterritoriale Wirkung bei. Als sich die U S A verselbständigten, galt bei ihnen das englische common law. In dieser Gestalt gilt es auch weiter. Dabei wurden ganz alte statutes zum common law gerechnet, weil sie mit diesen verschmolzen waren 2 0 . Vor allem übernahmen die U S A auch vor 1776 die statute-Regeln des 15. Jahrhunderts, die den Gerichtsstand festgelegt hatten, wenn die T a t als Distanztat die County-Grenze überschritten hatte. Es wurde aber das englische Statute 33 Hen. 8 c. 23, das immer wieder in England erneuert wurde 2 1 , und nach welchem der Engländer, der in fremdem Lande homicide begeht, bei Rückkehr bestraft wird, nicht übernommen. Vielmehr legte die amerikanische Verfassung eine Ausschließlichkeit des Territorialitätsprinzips für Taten, die sich gegen privatrechtliche Rechtsgüter richten, fest. Diese Schärfe, mit der das Territorialitätsprinzip betont wird, ist wesentlich aus der Auffassung vom Recht, wie das calvinistische Naturrecht sie prägte, daneben aus einem speziellen historischen Anlaß zu erklären. Der individualisierende und vertragliche Charakter, den die Puritaner dem Recht gegeben hatten, wirkte sich hier aus. Der Vertrag, den die Einwanderer zur Gründung der politischen Gemeinschaft geschlossen hatten, zielte ausschließlich auf das Verhalten der Mitglieder im Innern dieser. Was der einzelne außerhalb tat, interessierte die Gemeinschaft nicht. Es ging hier nicht um die Durchsetzung der absoluten Gerechtigkeit, sondern um die mit Gottes Geboten übereinstimmende Ordnung in dieser Gemeinschaft. Rosoe Pound schildert den Charakter des Rechts sehr gut mit den Worten 2 2 : From the beginning the Protestant tradition in law has 20 21 22

Vgl. Riley v. State, 9 Humph. (Tenn.) 646 (1849). Zuletzt in Ofiences against the Persons Act 1861, s. 9. A . a. O., p. 54.

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been nationalist. The Protestant jurist theologians of the sixteenth and seventeenth centuries opposed a nationalist conception to the universal authority of the canon law and the universal doctrines of the Jesuit jurists of the Counter-Reformation. For universal authority, they sought to substitute the civil law of each people, sacred because it sprang from the divinely ordained state. The Puritan carried this particularism in law to the extreme because of his conception of states as political congregations. Im übrigen hatte der englische König öfters politische Täter von Amerika nach England zur Aburteilung schaffen lassen, wogegen sidi die Unabhängigkeitserklärung von 1776 ausdrücklich wandte. Diese Verschleppung politischer Gefangener hatte den Bewohnern gezeigt, daß allein die territoriale Beschränkung des Rechts und seiner Durchsetzung wahre Gerechtigkeit verbürgte. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika nimmt in mehreren Bestimmungen direkt oder indirekt auf das Territorialitätsprinzip Bezug. In Art. 3 § 2 c 3, Art. 4 § 1, im 6. Amendment, dann im 5. und 14. Amendment. Entscheidend ist, daß die due-process Klausel (5. Amendment) als das entscheidende Hindernis für eine extraterritoriale Gesetzgebung, jedenfalls für bürgerliche Delikte, angesehen wird. Die Möglichkeit, Gesetzen extraterritoriale Wirkung beizulegen (Art. 3 § 2 c 3 amerikanische Verfassung) wird nur auf gewisse Staatsgüter in ganz engem Rahmen und dann noch meistens nur auf amerikanische Bürger bezogen. Die neueren Entscheidungen U. S. v. Bowman (1922) 260 U. S. 94 und Blackmere v. U. S. (1932) 284 U. S. 421 erhärteten die Rechtslage im einzelnen. Das Prinzip führt sogar so weit, daß amerikanische Soldaten, die während ihrer Stationierung im Ausland — audi im Krieg —, schwere Straftaten gegen Dritte, z. B. Mord, begangen haben, in den USA nicht mehr abgeurteilt werden können, wenn sie inzwischen wieder Zivilisten geworden sind. Im Falle La Dolce v. U. S., In re La Dolce (1952) 106 F. Suppl. 485 hatte Sergeant La Dolce den Major H., die beide hinter den deutschen Linien in Oberitalien im Jahre 1944 als amerikanische Soldaten abgesetzt worden waren, ermordet. Der Täter, der inzwischen aus der Armee ausgeschieden war, konnte weder von einem amerikanischen Militärgericht noch Zivilgericht für diese schwere Tat zur Rechenschaft gezogen werden 23 . Auch im My Lai-Prozeß konnten mehrere frühere Soldaten durch diese Rechtslage nicht mehr verfolgt werden, selbstverständlich auch ungestört aussagen24. 28 24

Vgl. auch Toth v. Quartes (1955) 350 U. S. 11. Telford Taylor, Nuremberg and Vietnam: An Amer. Tragedy, 1970, p. 156.

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2.

In gewissem Zusammenhang, jedenfalls im Ergebnis, steht eine zweite Folge calvinistisch-naturrechtlichen Denkens. Seit Covert v. Reid, Krueger v. Kinsilla (1956) 354 U. S. 1 steht es fest, daß ein amerikanisches Militärgericht, das im Ausland für dort stationierte amerikanische Truppen zuständig ist, nicht über Straftaten des zivilen Gefolges, insbesondere über Ehefrauen der Soldaten, die in keinem unmittelbaren Verhältnis zum Militär stehen, urteilen dürfen. Da aber die amerikanischen Zivilgerichte in den USA infolge des Territorialitätsprinzips auch nicht über Auslandstaten urteilen dürfen, gehen die Täterinnen frei von Strafe aus. In den beiden herangezogenen Fällen hatten die amerikanischen Ehefrauen zweier amerikanischer Soldaten, jeweils auf amerikanischen Militärstützpunkten in England und Japan ihre Männer ermordet. Nachdem die Täterinnen zunächst von dem jeweiligen amerikanischen Militärgericht verurteilt worden waren, wurden im certoriari-Verfahren die Urteile aufgehoben. Die seltsame Folge, daß die Mörderinnen überhaupt nicht von der amerikanischen Gerichtsbarkeit erreicht werden können, ist sowohl für kontinentales Denken wie übrigens auch englisches Recht, das durch die erwähnten statutes solche Taten in seinen Geltungsbereich einbezieht, eigenartig. Ob in den USA die Gesetzgebung angesichts der Verfassung diese unglaubliche Lücke in der Verfolgung von Straftaten überhaupt zu schließen vermag, ist unklar, es ist jedenfalls bisher nicht geschehen. Diese für uns seltsame Beschränkung amerikanischer Gerichtsbarkeit erklärt sich aus dem die Obrigkeit in ihrer Gewalt beschränkenden calvinistischen Naturrecht, insbesondere aus der Überlegung, daß das Recht des Bürgers auf ein ordentliches Gerichtsverfahren nicht durch militärische Macht illusorisch gemacht werden dürfe. Die Entscheidungsgründe schöpfen im wesentlichen ihre Argumente aus der Rechtsüberzeugung Englands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der Zeit, in der Calvinisten wie Coke (gestorben 1633) und andere den Kampf um die Rechte des Engländers führten, der schließlich in der Revolution endete. Die einzelnen englischen statutes des 17. Jahrhunderts, die z . T . die militärische Gerichtsbarkeit auf Zivilisten auf Zeit erstreckten, wurden auf Amerika nicht ausgedehnt 25 . Es blieb deshalb bei dem im Streit mit der Krone sich ausbildenden common law des 17. Jahrhunderts, weldies in keinem Falle zuließ, daß der Bürger dem Militärrecht unterstellt wurde und dadurch des Schutzes des common law 25

Covert v. Reid etc., p. 23.

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verlustig ging26. Aus der verfassungsmäßigen due-process-Klausel folgerte der Supreme Court, daß auch ein amerikanisches statute nicht anordnen könne, es sollten amerikanische Zivilisten, die dem Militär nicht unterworfen sind, der Militärgerichtsbarkeit untergeordnet werden. Es würde sonst ein verfassungsmäßig gesichertes Bürgerrecht — hier auf Aburteilung durch eine jury — durch den Staat verletzt werden. Daß es allerdings infolge der Aussdiließlidikeit des territorialen Grundsatzes gar keine jury in den Vereinigten Staaten von Amerika gebe, die zuständig sei oder sein könne, dürfe das Gericht in seiner Entscheidung, die das Verhältnis von Militärgerichtsbarkeit zu Zivilisten festlege, nicht kümmern. Diese Entscheidung, die ganz aus dem englischen Denken des 17. Jahrhunderts schöpft, wäre wohl im Bereich des Luthertums nicht möglich, weil hier die Absicherung der Rechte des Menschen gegenüber der Obrigkeit nicht besonders entwickelt war und betont wurde. Es handelt sich hier um eine sehr späte, aber trotzdem unmittelbare Wirkung des in England bedeutsam gewordenen reformierten naturrechtlichen Denkens. 3.

An einer dritten Erscheinung sollen die Spuren dieser reformierten Rechtsauffassung verfolgt werden. Im Jahre 1863 faßten zum ersten Male die USA in den „Instructions for the Government of Armies of the U. S. in the Field" das Landkriegsrecht zusammen. Sie waren übrigens von dem früheren Deutschen Franz Lieber, Professor an der Columbia University, N . Y., redigiert worden. Uns interessiert hier der Art. 59, wo es heißt: A prisoner of war remains answerable for his crimes committed against the captor's army or people, committed before he was captured, and for whidi he has not been punished by his own authorities. Gewiß hatten schon früher z. B. Franciscus de Vittoria, Hugo Grotius, Vattel u. a. sich für die Bestrafung von Kriegsverbrechern eingesetzt, auch waren Amnestieklauseln schon in einer Reihe von Verträgen zu finden, aber 1863 kam es zum ersten Male zu einer staatlichen Verordnung über diese Materie. Abraham Lincoln genehmigte ausdrücklich diese Regulations. Aufgrund dieser wurden nach dem Bürgerkrieg mehrere Verfahren durchgeführt. Das berühmteste wurde das gegen Wirz. Er, übrigens ein früherer Schweizer, und Winder waren Kommandanten des Ge26 Die Argumente faßte Hale, History and Analysis of the Common Law of England, 1. ed., 1713, p. 40 f., zusammen.

Reformatorisch-calvinistisches Naturrecht

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fangenenlagers Andersonville der Südstaaten. Die Lebensverhältnisse waren furchtbar, ein Drittel aller Männer starben im Verlaufe weniger Monate. Wer die sogenannte Todeslinie überschritt, oder infolge Schwäche in seiner Nähe zusammenbrach und dadurch jenseits der Linie zu liegen kam, wurde ohne Rücksicht auf Verschulden erschossen. Wirz berief sich auf höheren Befehl und die große eigene Not der Südstaaten. Er wurde zum Tode verurteilt 1865 hingerichtet27. Auch der Präsident der Südstaaten, Jefferson Davis, sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden, wurde aber schließlich amnestiert. Diese amerikanische Rechtsauffassung, die auch in die Tat umgesetzt wurde, beruhte auf dem eigenartigen Verwobensein von Recht und Sittennormen, das die Puritaner gebracht hatten. Uberhaupt ist das moderne Völkerrecht sehr stark vom calvinistischen Geist ausgegangen28. Es heißt in den Armies Instructions: Men who take up arms against one another in public war do not cease on this account to be moral beings, responsible to one another and to God. Deutlicher kann es nicht gesagt werden, auf welcher Auffassung von Recht diese Instructions aufbauen. Es ist das Weiterwirken reformierter Naturrechtsanschauung, die die Obrigkeit nicht nur Gott gegenüber verantwortlich machte, sondern sie vor allem auch gegenüber den ungerecht bedrückten Menschen für ihre Schuld hier auf Erden einstehen ließ und die den einzelnen in all seinem Tun eigenverantwortlich vor Gott und die Menschen stellte. In Europa wurden weder nach den napoleonischen Kriegen noch nach dem Siebziger Krieg irgend ein solches Verfahren durchgeführt, obwohl die Stimmen in dieser Richtung auch laut geworden waren. Es hat sich offensichtlich die amerikanische Anschauung im 20. Jahrhundert durchgesetzt. Mit dem Hinweis auf die Wurzeln dieser Art des Rechtsdenkens soll hier nicht gesagt werden, daß es zu besonderer Gerechtigkeit geführt hat. Die Wertung insoweit soll hier offenbleiben.

27

House Executive Documents vol. 8, No. 23, Serial No. 1381, 4th Congr. 2 c Sess. (1868). 28 Max Huber, Die soziologischen Grundlagen des Völkerrechts, 1928, S. 27, weist für die Ausbildung des Völkerrechts auf die calvinistischen Wurzeln hin. Gentiiis, der um des reformierten Glaubens willens Italien verlassen mußte, förderte wesentlich das Völkerrecht. Hugo Grotius, der calvinistische Arminianer begründete das moderne Völkerrecht. William Penn, der Quäker und Begründer Pennsylvanians entwickelte schon 1629 einen Plan für eine Staatengemeinschaft mit einer Art oberstem Organ. Auch H. von Weber, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handeln auf Befehl, 1948, S. 7 verweist für die Verantwortlichkeit f. den rechtswidrigen Befehl auf Calvin.

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin JOACHIM HRUSCHKA, Hamburg

Wer die thomasische Irrtumslehre 1 zu verstehen sucht, steht, wenn er sich etwa den einschlägigen Abschnitt aus Quodlibetum I vornimmt 2 , vor nicht geringen Schwierigkeiten. Die Stelle stammt vermutlich aus dem Jahre 1269 3 . Thomas antwortet dort auf die Frage, ob eine Verfehlung begehe, wer aus Unkenntnis eine päpstliche Verordnung übertritt, und er gibt eine klare Antwort. Der knappe Text des Hauptstücks (corpus) dieses Artikels sei hier mitgeteilt: Respondeo dicendum, quod ignorantia quae est causa actus, causat involuntarium; unde semper excusat, nisi ipsa ignorantia sit peccatum. — Est autem ignorantia peccatum, quando ignorat quis quae potest scire et tenetur. Constitutionem enim Papae omnes suo modo scire tenentur. Si ergo aliquis nesciat per negligentiam, non excusatur a culpa, si contra constitutionem agat. — Si vero aliquis habeat sufficiens impedimentum, propter quod scire non potuerit; puta si fuit in carcere, vel in terris extraneis, ad quas constitutio non pervenit, vel propter aliquid simile; talis ignorantia excusat, ut non peccet contra constitutionem Papae agens. In Ubersetzung: Zur Antwort ist zu sagen, daß die ein Handeln bedingende ignorantia stets eine Unfreiwilligkeit dieses Handelns begründet, weshalb die ignorantia auch immer entschuldigend wirkt, es sei denn, daß sie selbst eine Verfehlung enthält. — Nun enthält eine ignorantia stets dann eine Verfehlung, wenn etwas ignoriert wird, das man zu kennen verpflichtet und audi in der Lage ist. Eine Verordnung des Papstes aber ist jedermann zu kennen verpflichtet. Daher wird nicht von Sdiuld befreit, wer eine solche Verordnung aus Nachlässigkeit nicht kennt und sich 1 Außer auf die Arbeiten von Welzel, die sich mit der thomasischen Irrtumslehre befassen (vgl. Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 8 ff. und Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 63 ff.), sei aus der neueren Literatur hingewiesen auf Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 1964, der auf S. 197 ff. eine allerdings knappe Ubersicht über den Rahmen gibt, in dem die Irrtumslehre des Aquinaten steht, sowie auf Colavechio, Erroneous Conscience and Obligations, Diss. theol. Washington D. C. 1961, der sich auf S. 67 ff. um eine Sammlung der einschlägigen Stellen des thomasischen Gesamtwerks bemüht, ohne freilich das Material ausreichend zu sichten. 2 Quodl. I q 9 a 3. 3 Diese und die folgenden Datierungen nach Wyser, Thomas von Aquin, Bibliographische Einführungen in das Studium der Philosophie, ed. Bodienski, H. 13/14, 1950, S. 18 ff.

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deshalb gegen sie vergeht. — Anders ist es indessen zu beurteilen, wenn jemand auf ein ausreichendes Hindernis hinweisen kann, auf Grund dessen er die Verordnung nicht kennen konnte, etwa weil er im Kerker oder in fremden Ländern gewesen ist, wohin die Kunde von ihr noch nicht gelangt ist, oder dergleichen; eine solche ignorantia wirkt entschuldigend, so daß keine Verfehlung begeht, wer gegen die Verordnung des Papstes handelt. Der Abschnitt wirft eine Reihe von Fragen auf. Besondere Schwierigkeiten aber ergeben sich, wenn man ihn auf dem Hintergrund der zahlreichen anderen Stellen des thomasischen Gesamtwerks sieht, in denen es kurz und nicht selten ohne jede Einschränkung heißt: Ignorantia iuris non excusat4 oder gar — jedenfalls in einer unten noch näher zu bestimmenden Richtung — noch strenger: Conscientia erronea non excusat5. Dabei ist es nicht etwa so, daß Thomas den Widerspruch, der sich hier auftut, übersehen oder gar verschwiegen hätte. Er hat ihn im Gegenteil ausdrücklich eingeführt. Denn unmittelbar vor dem Hauptstück des Artikels bringt Thomas ein Gegenargument, das er sich zwar in seinen Folgerungen nicht zu eigen macht, das aber jedenfalls an Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt, geht dieses Argument doch von dem anerkannten Satz aus: Ignorantia iuris non excusat, dem es die Feststellung nachschickt: Sed constitutio Papae facit ius, woraus dann gefolgert wird: Ergo qui facit contra constitutionem Papae per ignorantiam, non excusatur. Thomas löst den (scheinbaren) Widerspruch in Quodlibetum I nicht mit ausdrücklichen Worten auf. Es bedarf eines tieferen Eindringens in die thomasische Irrtumslehre, um die Auflösung zu erkennen. Dabei geht es zunächst einmal nur um die — nicht selten mißdeuteten — schlichten Tatsachen der Lehre des Aquinaten. Die Auslegung dieser Lehre von ihrem außerhalb der Irrtumsproblematik liegenden Kerngedanken her muß späteren Arbeiten vorbehalten bleiben.

I. Es gibt einen Abschnitt in der Summa Theologica, der bei näherem Zusehen offenbar einen der entscheidenden Leitsätze der thomasischen Lehre vom irrenden Gewissen ausspricht6. Thomas beruft sich dort 4 IV Sent d 9 q 1 a 3 qla 2 ad 1, d 2 1 q 2 a 2 a d 4 ; de ver. q 17 a 4 ad 5; Ethic. L. Ili 1. I l i (Marietti-Ausgabe n.411, 412); Quodl. Ili q 4 a 2 ; S th I—II q 19 a 6 c, q 105 a 2 ad 9; II—II q 5 9 a 4 a d l ; I I I q 8 0 a 4 a d 5 ; ad Gal. c. 5 1. 1 (Marietti n. 282). « Quodl. V i l i q 6 a 3 , I X q 7 a 2 c; de malo q 2 a 2 ad 8. • S th I—II q 19 a 6 ad 1; vgl. auch II Sent d 39 q 3 a 3 c am Ende.

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin

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zunächst auf einen Satz aus der Schrift des Pseudo-Dionysius Areopagita „Uber die göttlichen Namen", wo es heißt: Bonum causatur ex integra causa, malum autem ex singularibus defectibus, und er fährt dann fort: Et ideo ad hoc quod dicatur malum id in quod fertwr voluntas, sufficit sive quod suam naturam sit malum, sive quod apprehendatur ut malum. Sed ad hoc quod sit bonum, requiritur quod utroque modo sit bonum. In Ubersetzung: Wie Dionysius sagt, geht das Gute aus einer unverdorbenen Ursache hervor, das Böse aber ergibt sich aus den je besonderen Mängeln. Um etwas, auf das ein Wille sich richtet, als böse zu bezeichnen, ist es daher ausreichend, daß es seiner Natur nach böse ist, wie es auch genügt, daß es als böse begriffen wird. U m es aber als gut zu bezeichnen, ist es erforderlich, daß es in beiden Hinsichten gut sei.

Die Stelle bezieht sich in ihrer Kontrastierung dessen, was seiner Natur nach gut oder böse ist, und dessen, was als gut oder böse aufgefaßt wird, auf die grundlegende Differenz zwischen dem Guten, das es zu erkennen gilt, und dem, was als gut erkannt wird, zwischen dem bonum cognoscendum7 und dem, was Thomas gelegentlich das bonum apprehensum8 nennt. Dieser Unterschied wird Thomas nicht eigentlich zum Problem. Er setzt ihn voraus. Für ihn ist die Unabhängigkeit der Maßstäbe von dem, der sich um ihre Erkenntnis bemüht und zu bemühen hat, eine Selbstverständlichkeit. Die Möglichkeit einer selbstgenügsamen und selbstgerechten Autonomie des Menschen tritt gar nicht in sein Blickfeld. Ganz lapidar kann er deshalb einmal erklären: Homo non facit sibi legem9. Für das Gewissen bedeutet das, daß es als ein Erkenntnisakt angesehen werden muß — iudicium conscientiae consistit in pura cognitione10, wird doch erst im Gewissen das zu erkennende zum erkannten Guten, erst in der conscientia das bonum cognoscendum zum bonum apprehensum. Dabei macht es die Gegenüberstellung von bonum cognoscendum und bonum apprehensum möglich, das zu erkennende Gute in eine Reihe zu stellen mit anderen Erkenntnisobjekten, vor allem mit der Welt der Tatsachen, die es für den handelnden Menschen in gleicher Weise zu erkennen gilt wie das an sich Gute, die mithin in gleicher Weise ein cognoscendum ist, das in einer Apprehension ergriffen wird oder doch ergriffen werden kann. Thomas hat daraus, 7

So bezeichnet in Anlehnung an den Sprachgebrauch des Aquinaten selbst, vgl. de malo q 3 a 8 c. 8 Vgl. Quodl. III q 12 a 2 c und etwa S th I—II q 20 a lad 1; gelegentlich spricht Thomas auch vom bonum cognitum, vgl. etwa Ethic. L. III 1. III (Marietti n. 407). • De ver. q 17 a 3 ad 1. w De ver. q 17 a 1 ad 4.

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daß bei aller Erkenntnis die Differenz von cognoscendum und apprehensum dieselbe ist, für den Gewissensbegriff die Konsequenzen gezogen. In den thomasischen Schriften ist der Begriff der conscientia wesentlich weiter als das, was uns heute als Gewissen gilt. Er schließt die Erkenntnis der Tatsachen ein. Die conscientia wirkt mithin zweifach: uno modo secundum quod consideratur an actus sit vel fuerit; alio modo secundum quod consideratur an actus sit rectus vel nonu. Nicht nur, ob ich recht gehandelt habe oder ob ich jetzt recht handele, sagt mir das Gewissen, sondern auch, wie die Tat, die ich begangen habe oder die zu begehen ich im Begriffe bin, ganz unabhängig von ihrer moralischen Qualität beschaffen ist. Heutigem Sprachgebrauch würde es zwar entsprechen, im letzteren Falle statt von „Gewissen" von „Bewußtsein" zu reden 12 . Aber damit werden Dinge sprachlich auseinandergerissen, die sachlich zusammengehören, kann ich über einen Akt als bonum oder malum doch nur urteilen, wenn ich seine wesentlichen Momente kenne, diese aber kann ich nur erkennen, wenn ich um ihre Wesentlichkeit weiß, was sich wiederum gerade und nur durch einen Hinblick auf das bonum oder malum des Akts ergeben kann. Das eine bedingt das andere. Daher wird im folgenden der weite thomasische Sprachgebrauch beibehalten werden, der es auch erlaubt, alle moralisch relevanten Irrtumsphänomene zusammenzufassen. Die zitierte Stelle besagt nun, daß gut nur ein Handeln ist, das sowohl im Hinblick auf das bonum cognoscendum als auch im Hinblick auf das bonum apprehensum gut genannt werden kann; es ist gut nur, wenn es dem Gesetz und dem Gewissen entspricht. In thomasischer Sprache: Der Mensch ist an das Gesetz und an das Gewissen gebunden. Daß die Gesetze, die ich mir selbst nicht gebe, die ich vielmehr zu befolgen habe, für mich verbindlich sind, daran ist nicht gut zu zweifeln, macht doch gerade die virtus obligandi, die Bindungskraft, den eigentümlichen Charakter, das proprium des Gesetzes aus13. Die etymologische Herleitung des Wortes „lex" bei Thomas — dicitur enim lex a ligando, quia obligat ad agendum14 — meint diesen Sachverhalt. Freilich ist damit noch nicht gesagt, daß alle Gesetze — auch ungerechte Gesetze — verbindlich seien; doch muß diese Frage hier dahingestellt bleiben15. 1 1 De ver. q 1 7 a 1 c; vgl. auch II Sent d 2 4 q 2 a 4, S th I q 79 a 13 c und Quodl. III q 12 a 1 c. 1 2 Vgl. auch die Übersetzung der Quaestiones disputatae de Veritate von Edith Stein (Werke Bd. III und I V 1952 und 1955), II. Teil S. 74 Fußn. 1. 1 5 Vgl. S t h l — I I q 90 a 4 c. 1 4 S th I—II q 90 a 1 c. 1 6 Vgl. dazu S th I—II q 9 6 a 4; II—II q 57 a 2 ad 2; q 60 a 5 ad 1.

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Aber auch das Gewissen ist mit einer derartigen virtus obligandi ausgestattet. Das ergibt sich schon aus seiner Formalstruktur. Diese ist gekennzeichnet durch eine spezifische Bezogenheit des bonum apprehensum auf das bonum cognoscendum. Denn das, was das Gewissen als gut hinstellt, das erhebt auch stets den Anspruch darauf, das wahre Gute zu sein. Das für mich, d. h. das nach meiner Erkenntnis Gute wird notwendig als das an sich Gute begriffen. Non enim conscientia dictat aliquid esse faciendum hac ratione, quia sibi videtur, sed hac ratione, quia a Deo praeceptum est16. Natürlich gilt das auch für das irrende Gewissen — ratio errans iudicium suum proponit ut verum11, und das ist auch nicht weiter erstaunlich, weil das bonum apprehensum der Weg ist, auf dem das bonum cognoscendum zugänglich wird, und vor allen Dingen, weil es der einzig mögliche Weg dahin ist. Das wahre Gute kann nur über das Gewissen erkannt werden — conscientiae dictamen nihil est aliud quam perventio praecepti divini ad eum qui conscientiam habet18. Das Verhältnis zwischen bonum cognoscendum und bonum apprehensum läßt sich daher als ein Verhältnis vollständiger Repräsentation beschreiben. Das bonum apprehensum steht nur für das bonum cognoscendum, und es steht immer für das bonum cognoscendum. Deshalb kann Thomas das Gewissen mit einem Statthalter vergleichen, der seine Anordnungen allein unter Bezugnahme auf die Befehle des Kaisers trifft, wobei die Verhältnisse aber so liegen, daß die Befehle des Kaisers ihrerseits allein durch die Vermittlung des Statthalters zum Volke gelangen können19. In derselben Weise, wie die Befehle des Statthalters dann die Befehle des Kaisers repräsentieren, vertritt auch das bonum apprehensum das bonum cognoscendum. Es rückt damit freilich in eine solche Nähe zum wahren Guten, daß bei oberflächlicher Betrachtung, d. h. bei Verkennung des Unterschiedes von Repräsentation und Identität, sich immer wieder Einwände gegen die Möglichkeit eines Gewissensirrtums überhaupt ergeben20. So soll das Gewissen ohne Irrtum sein, weil es die lex intellectus nostri ist21. Das entspricht zwar insofern dem phänomenologischen Befund, als alle unsere willentlichen Handlungen sich auf das Gewissen ausrichten, mögen sie seine Gebote und Verbote nun beachten oder übertreten. Aber trotzdem wird die Mög-

18 17 18 18

II Sent d 39 q 3 a 3 ad 3. S th I—II q 19 a 5 ad 1. De ver q 17 a 4 ad 2. De ver q 17 a 4 ad2;vgl.auch II Sent d 39 q 3 a 3 ad 3 und S th I—II q 19 a 5

ad 2. 20 Zu der allgemeinen Frage, utrum conscientia possit errare, vgl. II Sent d 39 q 3 a 2; de ver. q 17 a 2; Quodl. III q 12 a 1. 21 II Sent d 39 q 3 a 2 obj 3; de ver q 17 a 2 obj 4; Quodl. III q 12 a 1 obj 1.

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lichkeit des Irrtums damit nicht ausgeschlossen. Denn das Gewissen besitzt eben keine virtus propria22, vielmehr: virtus conscientiae principaliter dependet ex principiis iuris naturalis23, es ist nicht die prima lex selbst, sondern eine applicatio primae legis2i, nicht ein naturale iudicatorium per se, sondern per analogiam25, nicht regula humanorum operum schlechthin, sondern regula regulato.26. Aus dem Verhältnis der vollständigen Repräsentation zwischen dem bonum cognoscendum und dem bonum apprehensum folgt notwendig die Verbindlichkeit meiner Gewissensmeinungen. Wenn das zu erkennende Gute nur durch mein Gewissen erkannt wird und der Spruch des Gewissens stets für das bonum cognoscendum steht, tunc idem est contemnere dictamen rationis et Dei praeceptum27, d. h. unter einer solchen Voraussetzung müssen meine wirklichen oder vermeintlichen Erkenntnisse dasselbe Gewicht besitzen wie das zu erkennende Gute selbst. Mit knappen Worten faßt Thomas dieses Argument einmal zusammen — idem est ligamen conscientiae ... et legis Dei; non enim conscientia dictat aliquid esse faciendum vel vitandum, nisi quia credit hoc esse contra vel secundum legem Dei; non enim lex nostris actibus applicatur, nisi mediante conscientia nostra28. Bindet das Gesetz, dann muß auch das Gewissen binden. Das ist der von Thomas von Anfang an festgehaltene Ausgangspunkt: Duobus modis aliquis ad peccatum obligatur, uno modo, faciendo contra legem ..., alio modo, jaciendo contra conscientiam, esti non sit contra legem29. Die Termini „ligatio" und „obligare" stehen dabei für einen präzisen Begriff. Bindung ist stets eine obligatio ad peccatum, das soll heißen, ein Verstoß gegen das bindend Vorgeschriebene führt zu einer moralischen Verfehlung (peccatum). Wer bindende Gebote oder Verbote übertritt, macht sich schuldig und erleidet damit einen Schaden an seiner Menschlichkeit. Hoc est obligare, scilicet astringere voluntatem, ut non possit sine deformitatis nocumento in aliud tendere, sicut ligatus non potest ire30. Die Bindung in moralischen Dingen ist ein Analogon zu der körperlich wirkenden Bindung — ligatio metaphoII Sent d 39 q 3 a 3 ad 3. Quodl. III q 12 a 1 ad 1. 24 II Sent d 39 q 3 a 2 ad 3; vgl. auch de ver. q 17 a 1 ad 1 in contra; Quodl. III q l 2 a l ad 1/2. 25 Vgl. II Sent d 39 q 3 a 2 ad 2; de ver. q 17 a 1 ad 5 und a 2 ad 1; Quodl. III q 12 a 1 ad 1/2. 26 De ver. q 17 a 2 ad 7. 27 S th I—II q 19 a 5 ad 2. 28 Ad Rom. c. 14 1. 2 ad 1 (Marietti n. 1120). 29 Quodl. VIII q 6 a 3 c. 80 II Sent d 39 q 3 a 3 c. 22

23

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rice a corporalibus ad spiritualia sumpta, necessitatis impositionem importat; ille enim qui ligatus est, necessitatem habet consistendi in loco ubi ligatus est, et aufertm ei potestas ad alia divertendi31. Diese Analogie läßt sich sehr weit ziehen. Der Gefesselte kann sich nur so weit bewegen, als seine Fesseln es erlauben; soweit er sich aber bewegen kann, besteht keine Gewähr dafür, daß seine Bewegungen auch zweckgerecht, d. h. in einem weiteren Sinne richtig sind. Dasselbe gilt für die moralischen Bindungen. Wer sie mißachtet, der fügt sich selbst zwar einen Schaden zu, ihre Beachtung gewährleistet aber nicht die Richtigkeit und Rechtheit des Handelns. Für die Bindung durch das Gewissen sagt Thomas das ausdrücklich — non .. . propter hoc conscientia dicitur ad aliquid ligare, quod si illud fiat, ex tali conscientia bonum sit: sed quia si non fiat, peccatum ineurritur32. Aber das gilt in gleicher Weise auch für die vom Gesetz auferlegten Bindungen. Denn ich bin verpflichtet, das Gesetz zu befolgen, ohne daß die äußere Gesetzesbefolgung nun sicherstellt, daß mein Handeln als moralisch gut zu beurteilen ist. Die doppelte Bindung an bonum cognoscendum und bonum apprehensum, an Gesetz und Gewissen, bereitet nun zwar keinerlei Schwierigkeiten, wenn bonum cognoscendum und bonum apprehensum sich inhaltlich dedien; aber sie wird zu einem schwerwiegenden Problem, wenn sich hier Unterschiede oder gar Widersprüche auftun. Ein Unterschied zwischen bonum cognoscendum und bonum apprehensum entsteht bei der irrtümlichen Annahme eines Gebotes oder Verbotes, das an sich zwar nicht besteht, das aber auch dem bonum cognoscendum nicht entgegensteht — so im Schulfall eines vermeintlichen Gebots oder Verbots, einen Strohhalm vom Boden aufzuheben 33 ; und in ein kontradiktorisches Verhältnis geraten bonum cognoscendum und bonum apprehensum, wenn jemand sich etwa verpflichtet wähnt, einen Ehebruch oder einen Diebstahl zu begehen, während das Gesetz einen Ehebruch und einen Diebstahl verbietet 34 . Darüber hinaus gehört aber auch der Fall hierher, daß jemand auf einen Hirsch schießt in der Annahme, es handele sich um seinen Vater 35 , und der Fall, daß jemand sich seiner eigenen Frau in der Annahme nähert, er lasse sich ehebrecherisch mit einer anderen ein36 — durchweg Beispiele, die Thomas selbst, neben anderen, verwendet. Diese Beispiele lassen den Grundsatz der Bindung durch das Gewissen zunächst einmal durchaus 31 38 33 34 35 36

De ver. q 17 a 3 c. De ver. q 17 a 4 c. S th q 19 a 5 c; Quodl. III a 12 a 2 c; Quodl. VIII q 6 a 3 c. Vgl. ad Rom. c. 14 1. 2 (Marietti n. 1120). Quodl. III q 12 a 2 c. IV Sent d 9 q 1 a 3 qla 2 ad 2.

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als zweifelhaft erscheinen. Muß nicht in solchen Fällen die Bindungskraft der Gewissensmeinung aufgehoben werden? Doch Thomas verneint das. Denn es bleibt in allen diesen Fällen dabei, daß gegen Gottes Gebot zu handeln vermeint, wer gegen eine solche Gewissensmeinung handelt. Daher muß in der Zuwiderhandlung gegen die Gewissensmeinung eine Verfehlung liegen37. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, wird von Thomas oft genug gezogen: Omnis conscientia, sive recta, sive errónea, sive in per se malis, sive in i n d i f f e rentibus, est obligatoria; ita quod qui contra conscientiam facit, peccatS8. Thomas hat, wie man sieht, unter der Frage, utrum conscientia errónea liget39, die Fälle behandelt, die die Strafrechtswissenschaft heute den Kategorien „Wahndelikt" und „untauglicher Versuch" zuzuweisen pflegt. Seine moralische Bewertung dieser Fälle ist folgerichtig und streng. In allen diesen Fällen begeht eine Verfehlung, wer gegen seine Gewissensmeinung handelt. Nur auf den ersten Blick kann diese Strenge dem Juristen, dem die Straflosigkeit des Wahndelikts eine Selbstverständlichkeit und die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs eine ernste Schwierigkeit bedeuten, als befremdlich erscheinen. Denn nicht um die Bestrafung durch ein irdisches Gericht geht es hier, nicht um die Verantwortung des Fehlenden vor dem forum externum, sondern darum, ob eine moralische Verfehlung begeht, wer sich nicht nach seiner Gewissensmeinung richtet, d. h. um seine Verantwortlichkeit vor dem forum internum. Gilt dort der Grundsatz nullum crimen sine lege, so gilt er hier nicht, und Thomas war weit davon entfernt, bei einem Wahndelikt strafen zu wollen. Um diese Frage ging es ihm gar nicht. Freilich stellt sich das Problem, für das dem Strafrechtler das Stichwort nullum crimen sine lege steht, in nur wenig veränderter Form auch dem Moralphilosophen. Demgemäß hatte sich Thomas mit dem Einwand auseinanderzusetzen, daß ein Verstoß gegen eine irrige Gewissensmeinung keinem genus peccati zuzurechnen sei40, was bedeutet, daß ein solcher Verstoß letztlich nicht sachlich benannt und damit auch nicht unterschieden werden könne. Doch weist Thomas diesen Einwand zurück. Ratio, quando apprehendit aliquid ut malum, 37 . . . habet voluntatem legem Dei non observandi; unde mortaliter peccet — de ver. q 1 7 a 4 c. 3 8 Quodl. III q 12 a 2 c. Vgl. ferner II Sent d 3 9 q 3 a 3 ; de ver. q 17 a 4; S th I—II q 19 a 5; Quodl. VIII q 6 a 3 und a 5; Quodl. IX q 7 a 2; ad Rom. c. 14 1. 2 (Marietti n. 1 1 1 9 f.). 3 9 Vgl. dazu die in Fußnote 38 angegebenen Stellen. 4 0 II Sent d 39 q 3 a 3 obj 2 ; de ver. q 1 7 a 4 obj 9 ; vgl. auch S th I—II q 19 a 5 obj 3.

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Semper apprehendit illud sub aliqua ratione mali41, in jedem Falle bedeutet nämlich ein Handeln gegen die eigene Gewissensmeinung ein Handeln wider die Gerechtigkeit oder wider das Gebot der Mäßigung, mindestens aber eine Verfehlung gegen die Gehorsamspflicht42. Ein genus peccati ist also stets gegeben, freilich kein besonderes Gesetz, welches das Strafrecht fordern muß. Die doppelte Bindung an Gesetz und Gewissen bleibt mithin auch im Falle eines Gewissensirrtums erhalten. Deshalb kann auch eine Entschuldigung unter wechselseitiger Berufung bald auf das Gesetz, bald auf das Gewissen nicht gelten. Denn das Prinzip der doppelten Bindung läßt die Möglichkeit einer Entschuldigung gar nicht zu. Vielmehr gilt der Grundsatz: Illud autem quod agitur contra legem, Semper est malum; nec excusatur per hoc quod est secundum conscientiam. Et similiter quod est contra conscientiam, est malum, quamvis non sit contra legem43. Nur das, was weder gegen das Gesetz noch gegen das Gewissen geht, kann keine Verfehlung sein, und es ist schon eine Verkürzung dieses Grundgedankens, wenn Thomas den Satz formuliert ignorantia iuris non excusat, weil damit die Frage der Exkulpation bei den ignorantiae facti offengelassen wird. Doch gibt es Stellen im thomasischen Gesamtwerk, in denen das Prinzip der doppelten Bindung ganz zu Ende gedacht worden ist: Si aliquis intendat peccare mortaliter, etiam si committat actum qui de genere suo est peccatum veniale vel nullum, mortaliter peccat, quia conscientia erronea ligat. Si vero aliquis intendat opus meritorium facere committens aliquid quod de genere suo est peccatum mortale, non meretur, quia conscientia erronea non excusat44. Noch in einer anderen Richtung hat Thomas den Gedanken von der doppelten Bindung durch Gesetz und Gewissen konsequent zu Ende gedacht. Wenn das Gewissen nicht entschuldigt, aber trotzdem bindet, dann kann die Situation eintreten, daß jemand notwendig eine Verfehlung begeht, gleichgültig, ob er dem Gewissen nun folgt oder nicht, und zwar ist das stets dann der Fall, wenn nach dem bonum apprehensum etwas als geboten erscheint, was nach dem bonum cognoscendum verboten ist, oder umgekehrt. Handele ich in einem solchen Fall nach meinem Gewissen, dann begehe ich in dem Gesetzesverstoß eine Verfehlung, weil das Gewissen nicht entschuldigt; handele ich aber gegen mein Gewissen, dann begehe ich ebenfalls eine Verfehlung, weil das Gewissen bindet und diese Bindung nicht dadurch kompensiert wird, daß es an einem objektiven Gesetzesverstoß fehlt. Das 41

S th I—II q " Vgl. auch II 4S Quodl. VIII 44 De malo q 2

19 a 5 ad 3. Sent d 39 q 3 a 3 ad 2; de ver. q 17 a 4 ad 9. q 6 a 3. a 2 ad8.

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P r i n z i p d e r d o p p e l t e n B i n d u n g f ü h r t d a m i t ü b e r eine duplex obligatio45

in d e n casus

stricktheit46

hinein.

perplexus,

Thomas

contraria

d . h. in die S i t u a t i o n

nimmt

diese K o n s e q u e n z

der

an,

Ver-

zugleich

b e t o n t er a b e r , d a ß d e r I r r e n d e nicht schlechthin, s o n d e r n n u r u n t e r einer B e d i n g u n g v e r s t r i c k t sei. D e r Mensch k a n n n ä m l i c h seine i r r i g e Gewissensmeinung, e r ausgeht,

etwa

d . i. die v e r k e h r t e die A n n a h m e

positive A n n a h m e ,

des D i e b s t a h l s g e b o t s ,

legen, d a n n ist er nicht m e h r v e r s t r i c k t — potest erroneam, non

est

sicut

et intentionem

perplexus".

pravam,

deponere;

von

der

durchaus

ab-

homo

conscientiam

et ideo

S o l c h e r m a ß e n seine P o s i t i o n e n z u

simpliciter überprüfen,

m u ß a b e r bei v e r n ü n f t i g e r Ü b e r l e g u n g stets möglich sein. D a b e i bed a r f es nicht e i n m a l einer E r k e n n t n i s des w a h r e n bonum dum,

etwa

des D i e b s t a h l s v e r b o t s ,

um

aus d e r

Situation

cognoscender

Ver-

stridktheit h e r a u s z u k o m m e n , es g e n ü g t schlicht d e r V e r z i c h t a u f die eigenen falschen A n n a h m e n . Bleibt d e r I r r e n d e a b e r bei seinen

An-

n a h m e n , d a n n „ l i e g t nichts U n g e r e i m t e s in d e m G e d a n k e n d e r U n v e r meidlidikeit" liegt bereits dato,

einer Verfehlung.

Denn

„in d e r V o r a u s s e t z u n g " 4 8 .

alia contingunt49

die v e r m e i d b a r e Uno

quodam

Verfehlung inconvenienti

.

50

4 5 De ver. q 17 a 5 ad 1. — Es ist dies die Situation dessen, den man heute „Überzeugungstäter" nennt, sofern man diesen Begriff einschränkt auf diejenigen, die sich zu ihrem (rechtswidrigen) Verhalten verpflichtet glauben. 4 6 Vgl. dazu II Sent d 3 9 q 3 a 3 a d 5 ; de ver. q l 7 a 4 c und ad 8; Sth I — I I q 19 a 6 ad 3; Quodl. I I I q 12 a 2 ad 2; ad Gal. c. 5 1. 1 (Marietti n. 282); ad Rom. c. 14 1. 2 (Marietti n. 1120). Zur Geschichte des casus perplexus vgl. A. M. Landgraf, Der casus perplexus in der Frühscholastik, Collect. Francescana Bd. 39 (1959) S. 74 ff. 4 7 II Sent d 39 q 3 a 3 ad 5. 4 8 Helmut Kuhn, Begegnung mit dem Sein, 1954, S. 184. 4 9 Quodl. I I I q 12 a 2 ad 2. 5 0 Man muß sich das Gesamt dieser Argumentation vor Augen halten, um eine Bemerkung kritisch würdigen zu können, die Welzel einmal zur thomasischen Irrtumslehre gemacht hat (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 63 f.; vgl. auch: Vom irrenden Gewissen, S. 10 Fußn. 17). Unter Berufung auf S th I — I I q 19 a 5 heißt es dort, nach Thomas habe „selbst das irrende Gewissen", „soweit es schuldlos irrt, subjektiv-verflithtende Kraft", und Thomas scheue sich nicht, „die Folgerungen hieraus auch in Glaubensangelegenheiten zu ziehen: Wer kraft eines schuldlos irrt, subjektiv-verpflichtende K r a f t " , und Thomas scheue sich nicht, „die etwas Schlechtes sei, der ist in seinem Gewissen verpflichtet, sich vom christlichen Glauben fernzuhalten". Diese Deutung entspricht nicht ganz der thomasischen Lehre, kommt es doch im Hinblick auf die Frage, ob das irrende Gewissen binde, also „subjektiv-verpflichtende Kraft" habe, überhaupt nidit darauf an, ob der Irrtum „schuldhaft" oder ob er „schuldlos" entstanden ist. Denn nach Thomas bindet eine jede irrige Gewissensmeinung — gänzlich unabhängig von ihrer Entstehung. Es darf vermutet werden, daß bei der Formulierung, die Welzel bringt, der Gedanke der „Umkehrung", nach dem die bindende Gewissensmeinung notwendig auch entschuldigt (s. dazu sogleich unter II), Pate gestanden hat.

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin

125

II. Was die Frage der Bindung durch das irrende Gewissen anlangt, so hat Thomas den soeben entwickelten Gedanken schon in der ersten Phase seiner schriftstellerischen Tätigkeit, d. h. genauer, schon in dem zwischen 1254 und 1256 abgefaßten Sentenzenkommentar vertreten und auch in der Folgezeit stets konsequent durchgehalten. Aber auch bereits in diesem Sentenzenkommentar hat er bei der Beantwortung der Frage, ob das irrende Gewissen entschuldige, doch stärker differenziert, als es die bisherige Darstellung erkennen läßt. Mit dem Satz, daß das irrende Gewissen oder doch jedenfalls eine ignorantia iuris nidit entschuldige, war für ihn das letzte Wort noch nicht gesprochen. Freilich stellt sich damit die Frage, wie sich die Möglichkeit einer Entschuldigung durch das irrende Gewissen in das System der thomasischen Irrtumslehre einfügen läßt, das bei strenger Durchführung diese Möglichkeit an sich gar nicht zuläßt, weshalb es auch kein Zufall ist, daß sich so manche Stelle im thomasischen Gesamtwerk findet, in welcher dieses System mit allen seinen Folgerungen immer wieder durchschlägt. Thomas hat diese Schwierigkeiten gesehen, und er hat auch gelegentliche Versuche gemacht, sie zu beheben. Doch ist ihm eine Lösung längst nicht als so wichtig erschienen, wie es sich der spätere Interpret wünschen möchte. Das hängt offenbar mit der aporetischen Denk- und Arbeitsweise des Aquinaten zusammen, der einen Grundriß der Irrtumslehre als ganzer jedenfalls nicht geschrieben hat. Die von Thomas selbst mehr angedeuteten als durchgeführten Harmonisierungsversuche sind, abgesehen von ihrer Bedeutung für das System, auch insofern interessant, als hier überraschend „moderne", d. h. noch — oder wieder — in der heutigen Strafrechtswissenschaft erörterte Argumente auftaudien. Freilich hat der Interpret auch zu bedenken, daß die wenigen einschlägigen Stellen des thomasischen Gesamtwerks ein durchaus unterschiedliches Gewicht haben. Manchen Abschnitten darf nicht allzu viel abverlangt werden, z. B. nicht den scheinbar so radikalen Formulierungen, die Thomas 1270 in Quodlibetum III bringt 51 . Wird diese Stelle wörtlich genommen, so steht sie in einem offenbaren Widerspruch zu dem bisher Ausgeführten, liegt in ihrer Konsequenz doch die Entschuldigung durch einen jeden Irrtum. Omnis autem actus humanus — heißt es dort — habet rationem peccati vel meriti in quantum est voluntarius. Obiectum autem voluntatis secundum propriam rationem est bonum apprehensum. Et ideo actus humanus iudicatur virtuosus vel vitiosus secundum bonum apprehensum, in quod per se voluntas fertur, et non 51

Vgl. Quodl. III q 12 a 2 c.

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126

secundum materiellem obiectum actus. Hier wird bei gänzlicher Vernachlässigung des bonum cognoscendum nur noch auf das bonurn apprehensum abgestellt, und nur nach dem bonum apprehensum wird ein menschliches Verhalten als virtuosum oder vitiosum beurteilt. Aber diese Stelle enthält nicht nur einen Widerspruch zu dem Bisherigen, sie steht auch in einem "Widerspruch zu den unmittelbar an sie anschließenden und ihr zugehörigen Darlegungen des Aquinaten. Denn wenige Zeilen weiter geht Thomas ohne weiteres von der Möglichkeit einer Verstrickung des Menschen aus, einer Möglichkeit, die gar nicht bestände, wenn das zuvor aufgestellte Prinzip wirklich gelten würde. Die Hinnahme der Stelle nach ihrem bloßem Wortsinn impliziert daher die Annahme, daß Thomas sich hier einen groben logischen Fehler geleistet habe. Davon wird man nicht schlechthin ausgehen können. Nimmt man das nun noch zusammen damit, daß es Thomas in Quodlibetum III gar nicht um die Frage der Entschuldigung geht, sondern allein um die der Bindung durch das irrende Gewissen, dann wird man sich nicht dazu entschließen können, für Quodlibetum III von einem grundsätzlichen Wandel in der Irrtumslehre des Aquinaten zu sprechen. Bekanntlich sind ja die Quodlibeta Niederschriften von Antworten, die Thomas als akademischer Lehrer in dazu besonders bestimmten Sitzungen ganz unvorbereitet auf beliebige Fragen aus dem Hörerkreis gegeben hat, und so ist ihm wohl im Eifer der Diskussion eine allzu starke Formulierung unterlaufen. Von größerer Relevanz sind die Ausführungen des Aquinaten in den 1256 bis 1259 verfaßten Quaestiones disputatae de Veritate. Thomas unternimmt es dort 52 , die Möglichkeit einer Entschuldigung durch einen Irrtum schon vom Begriff der Verbindlichkeit her zu denken. Das Gewissen bindet nur kraft der Verbindlichkeit des Gesetzes — eadem virtus est qua praeeeptum ligat et qua (con)scientia ligat: cum (con)scientia (non liget) nisi per virtutem praeeepti. Aber auch das Gesetz seinerseits kann eine Wirkung überhaupt nur auf dem Wege über das Gewissen entfalten. Denn lenken und leiten, also auch fesseln und binden kann ein Gebot oder ein Verbot immer nur insoweit und insofern, als es den jeweiligen Menschen erreicht, an den es sich richtet. Es erreicht diesen Menschen aber nur dadurch, daß es als Gebot oder als Verbot erkannt wird. Nec ex imperio alicuius regis vel domini ligatur aliquis, nisi imperium attingat ipsum cui imperatur; attingit autem ipsum per scientiam. Daher gilt auch der Satz: Eadem virtus est qua praeeeptum ligat et qua (con)scientia ligat: cum praeeeptum non liget nisi per virtutem scientiae. Der Gea

Vgl. de ver. q 17 a 3 c.

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin

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danke der vollständigen Repräsentation des Gesetzes durch das Gewissen kann mithin nicht nur dazu dienen, eine Begründung für die Verbindlichkeit der Gewissensmeinungen zu liefern, sondern er kann darüber hinaus auch zu einer Relativierung der Bindungskraft des Gesetzes führen. Nullus ligatur per praeceptum aliquod nisi mediante scientia illius praecepti. Die Konsequenz, die hieraus gezogen werden müßte, wäre die, daß durch eine Vorschrift nicht gebunden wird, wer sie nicht oder nicht richtig kennt. Aber diese Folgerung zieht Thomas nicht. Er bleibt hinter ihr zurück. Nur wer unfähig ist, die Vorschrift zu erkennen, qui non est capax notitiae, wird durch sie nicht gebunden. Für alle anderen aber wird eine charakteristische Einschränkung gemacht. Wer ein Gebot verkennt, bleibt trotzdem an dieses Gebot gebunden, wenn er verpflichtet ist, das Gebot zu kennen — nec aliquis ignorans praeceptum Dei, ligatur ad praeceptum faciendum, nisi quatenus tenetur scire praeceptum. Damit ist aber der Versuch, die Irrtumslehre unter dem Gedanken der Bindung zu harmonisieren, bereits gescheitert. Denn eine solche Einschränkung läßt sich mit der vorausgesetzten Auslegung des Begriffs der Verbindlichkeit nicht mehr rechtfertigen. Es kommt daher wohl nicht von ungefähr, daß Thomas später nie wieder darauf zurückgegriffen hat. Der wichtigste Harmonisierungsversuch aber steckt in einer Überlegung, die heute im Anschluß an eine Formulierung von Binding als „These von der Umkehrung" zu bezeichnen wäre 53 . Dem heutigen Juristen ist freilich nur der „Umkehrschluß" von der Entschuldigung durch einen Tatbestandsirrtum auf die Bindung durch den sog. umgekehrten Tatbestandsirrtum vertraut — der bekannte sog. Umkehrschluß aus § 59 StGB, in dessen Konsequenz ein ganzes System der „Umkehrung" entworfen werden konnte. Ein Gedanke, der speziell diesem „Umkehrschluß aus § 59 StGB" überraschend ähnlich sieht, taucht einmal sogar auch bei Thomas auf, der an einer frühen Stelle — im Sentenzenkommentar — von der Möglichkeit der Entschuldigung durch einen Tatbestandsirrtum ausgeht, um dann einen Vergleich zu der Bindung durch einen derartigen Irrtum zu ziehen: Sicut ignorantia circumstantiae. .. excusat a peccato, ita error circumstantiae talis causat peccatum54. Indessen erlaubt das rein formale „Umkehrprinzip" solche Vergleiche von jeder Seite her. Wer von der Möglichkeit einer Entschuldigung durch einen Irrtum ausgeht, kann auf die Bindung durch einen entsprechenden Irrtum „schließen"; wer aber statt dessen davon ausgeht, daß ein Irrtum bindend wirkt, kann 53

Vgl. dazu neuestens Engisch, Der „umgekehrte Irrtum" und das „Umkehrprinzip", in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 185 ff., mit weiteren Nachweisen. 54 IV Sent d 9 q 1 a 3 qla 2 ad 2.

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mit derselben Berechtigung „schließen", daß der Irrtum auch entschuldigt. Man kann beide Überlegungen auch zusammennehmen und den „Umkehrgedanken" allgemein formulieren: Was bindet, das muß auch lösen, was löst, das muß auch binden können; ja, man kann den Gedanken auch noch ins Negative wenden und von der Ausgangsthese, daß ein Irrtum nicht entschuldigt, auf die Irrelevanz des Irrtums in bezug auch auf die Bindung und von der Ausgangsthese, daß er nicht bindet, auf seine Irrelevanz in bezug auf die Entschuldigung „schließen". Thomas bringt diese Überlegung einmal auf die wohl knappste aller möglichen Fassungen: Eiusdem est ligare et solvere55. Dabei steht freilich für ihn im Verfolg seines Ansatzes der „Umkehrschluß" von der Bindung durch den heute sog. umgekehrten Irrtum auf die Entschuldigung durch den entsprechenden sog. einfachen Irrtum im Vordergrund. Die Unvereinbarkeit einer derartigen „Umkehrung" mit seinem eigenen Grundgedanken hatte Thomas aber bald durchschaut. Geht man etwa mit ihm von der Voraussetzung aus, daß das irrende Gewissen binde, um daraus dann die Folgerung zu ziehen, daß das irrende Gewissen auch entschuldige, dann würde die strikte Durchführung des „Umkehrgedankens" sich selbst aufheben. Ist nämlich die Folgerung richtig, d. h. entschuldigt das irrende Gewissen in derselben Weise, wie es bindet, dann bleibt moralisch relevant nur noch die Gewissensmeinung, d. h. nur noch das bonum apprehensum, hinter dem das bonum cognoscendum gänzlich verschwinden würde. Das aber hieße nichts anderes als dies, daß das bonum cognoscendum seine virtus obligandi ad peccatum verloren hätte. Das jedoch würde wiederum eine Rückwirkung auf die Bindungskraft des Gewissens selbst haben; denn wenn das bonum cognoscendum nicht mehr bindet, dann kann auch das bonum apprehensum nicht mehr verbindlich sein, weil es seine virtus obligandi allein vom cognoscendum her bezieht. Damit würde aber letztlich auch die Entschuldigung durch das irrende Gewissen wieder entfallen, die nach der gemachten Voraussetzung mit der Bindung durch das Gewissen zusammenhängt. Auch im heutigen deutschen Strafrecht wird die „Umkehrung" nicht wirklich durchgeführt — und das geschieht wohl auch sonst nirgends, was freilich nicht nur die Befürworter, sondern auch die Gegner des „Umkehrschlusses aus § 59 StGB" zu übersehen pflegen. Ist heute der untaugliche Versuch etwa eines Totschlags strafbar, wird also der „umgekehrte" Irrtum dem Täter zugerechnet, so entschuldigt der „einfache" Irrtum, in dem ein Täter etwa verkennt, daß er auf einen Menschen schießt, die dadurch bedingte Tötung doch keineswegs 55

De ver. q 17 a 3 obj. 4.

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin

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so ohne weiteres. Vielmehr muß die Möglichkeit einer Fahrlässigkeitstat geprüft werden, was bedeutet, daß der Täter trotz des Irrtums wegen der Tötung bestraft werden kann, sei es auch mit geringerer Strafe. „Einfacher" und „umgekehrter" Irrtum werden also auch heute nicht als gleichwertig angesehen. Ganz ähnliche Überlegungen hat auch Thomas angestellt, und bereits in den 1256 bis 1259 verfaßten Quaestiones disputatae de Veritate rückt er von dem „Umkehrgedanken" ab, weil eine „Umkehrung" die Unterschiede einebnet, die bei der Entschuldigung von irrtumsbedingten Taten zu madien sind56, und weil sie letztlich schlicht auf einer Verwechselung von Bindung und Entschuldigung beruht 57 . In der Prima Secundae der Summa theologica aber, die aus der Zeit um 1270 stammt, werden die Konsequenzen aus dem Grundgedanken der thomasischen Irrtumslehre expressis verbis gezogen. Der Aquinate antwortet dort auf ein Argument, in dem das „Umkehrprinzip" formuliert wird — voluntas discordans a ratione, etiam errante, est mala; ergo voluntas concordans rationi, etiam erranti, est bona58, mit dem Wort des Pseudo-Dionysius Areopagita und de» Folgerungen hieraus, wie sie oben zu Beginn des Abschnitts I mitgeteilt worden sind. Der Sache nach erklärt er das Argument damit als unschlüssig. Die Analogie von Gesetzes- und Gewissensbindung verbietet eine jede „Umkehrung".

III. Die Schwierigkeiten, Bindung und Entschuldigung durch das irrende Gewissen auf einen Nenner zu bringen, beruhen zum Teil darauf, daß Bindung und Entschuldigung sich sachlich auf je verschiedene modi des Irrtums beziehen: die Bindung auf den Irrtum im modus des error, die Entschuldigung auf den Irrtum im modus der ignorantia. Die Frage nach der Bindung kann überhaupt nur so gestellt werden, daß sie nach der Bindung durch die conscientia erronea fragt 59 . Die Frage nach der Entschuldigung läßt sich zwar ebenfalls so stellen, daß nach der Entschuldigung durch die conscientia erronea gefragt wird, und Thomas tut das gelegentlich auch60. Aber er macht dann sofort darauf aufmerksam, daß die eigentliche Kernfrage damit M

Vgl. de ver. q 17 a 3 ad 4. Vgl. de ver. q 17 a 4 ad 5. 58 S th I—II q 19 a 6 obj 1. 59 Utrum conscientia erronea liget — de ver q 17 a 4; Quodl. III q 12 a 2. Utrutn conscientia errans obliget — II Sent d 39 q 3 a 3. Utrum conscientia erronea excuset — S th I—II q 19 a 6 c. 87

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noch nicht erreicht ist, daß vielmehr weiter zurückgefragt werden muß — haec autem quaestio (nämlich die Frage, ob die conscientia erronea entschuldigt) dependet ab eo quod de ignorantia dictum est61. Die Kernfrage geht mithin darauf, ob die ignorantia entschuldigend wirkt 62 . Damit ist zunächst die Frage nach dem Unterschied von error und ignorantia aufgeworfen. Ignorantia bedeutet Unkenntnis, Unwissenheit. Nun ist jeder Mensch stets mehr oder weniger unwissend. Freilich läßt sich die Unwissenheit doch audi immer wieder hier und da zurückdrängen. Wird diese Möglichkeit kritisch betrachtet, dann erhebt sich die Frage, ob menschlicher Erkenntnis nicht vielleicht prinzipiell unübersteigbare Schranken errichtet sind. Darauf gibt Thomas eine bejahende Antwort, und er unterscheidet demgemäß zwischen der Unwissenheit in bezug auf den Bereich, der menschlicher Erkenntnis grundsätzlich zugänglich ist, und der Unwissenheit in bezug auf jenen anderen Bereich, der menschlicher Erkenntnis prinzipiell verschlossen bleibt, und infolgedessen zwischen der ignorantia privative accepta und der ignorantia negative accepta. Er definiert: Et dico ignorantiam privative acceptam quae est eius quidem quod quis natus est et debet scire quidquid sit illud63. Die ignorantia negative accepta dagegen meint die Abwesenheit von Wissen in bezug auf den jenseits der Grenze möglicher Erkenntnis liegenden Bereich. Auf dieser Unterscheidung baut Thomas die weitere Unterscheidung auf zwischen dem Menschen als einem endlichen Geistwesen, das den seiner möglichen Erkenntnis offen liegenden Bereich nicht voll erfaßt hat, und einem endlichen Geistwesen, das in sich fehlerlos und daher nicht in dieser Weise eingeschränkt ist. Für diese Idee des in sich vollendeten endlichen Geistwesens steht bei Thomas der Begriff des Engels: lntellectus angeli non habet defectum, si defectus accipiatur privative, ut scilicet careat eo quod habere debet. Si vero accipiatur negative, sie quaelibet creatura invenitur deficiens, Deo comparata, dum non habet illam excellentiam quae invenitur in Deo6i. Womit der Boden auch für eine terminologische Unterscheidung vorbereitet ist. Thomas verwendet deshalb meistens für die gelegentlich als ignorantia negative accepta bezeichnete Art der Unwissenheit den Ebenda. •2 Utrum ignorantia excuset peccatum (vel diminuet) oder ähnlich — II Sent d 22 q 2 a 2; S th I—II q 76 a 3 und a 4; de malo q 3 a 8. 63 II Sent d 22 q 2 a 1 c; vgl. auch II Sent d 43 q 1 a 6 c. 64 S th I q 12 a 4 ad 2. Thomas geht dabei als selbstverständlich davon aus, daß ein endliches Wesen = Geschöpf die göttliche Vollkommenheit nicht erreichen kann. Vgl. audi IV Sent d 49 q 2 a 5 ad 8; de malo q 8 a 1 ad 7, q 16 a 6 c; de div. nom. c. 4 1. 4 (Marietti n. 327). 61

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin

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Ausdruck „nescientia" — nescientia simpücem negationem scientiae importat6ä. Die Bedeutung des Wortes „ignorantia" dagegen wird auf den Bereich der privativen Unwissenheit eingeschränkt — ignorantia significat scientiae privationem88. Als eine privatio ist die ignorantia nicht eine unmittelbar greifbare Tatsache, sondern vielmehr das Produkt einer Gedankenoperation, ein ens rationis67. Nach thomasischem Sprachgebrauch meint privatio den Mangel an jener Vollkommenheit68, die der mangelbehafteten Substanz ihrer besonderen Natur nach eigentlich zukommen müßte: Von einer privatio in der genauen Bedeutung des Wortes wird gesprochen, quando removetur ab aliquo quod natum est habere, et in quo tempore natum est habere; sicut carere visu est privatio visus in homine69. An einer anderen Stelle heißt es: Omnis autem privatio est eius quod quis natus est habere et debet habere10. Audi die Blindheit ist beim Menschen eine privatio, weil der Mensch seiner Natur nach mit dem Gesichtssinn ausgestattet ist. Eine privatio steht damit im Gegensatz zu dem ihr jeweils entsprechenden habitus, dessen Vorhandensein nach der Natur etwa des Menschen eigentlich zu erwarten wäre — privatio autem, in rerum natura, nihil est aliud quam carentia oppositi habitus11. Ein habitus aber ist nach Thomas gewissermaßen ein medium inter potentiam puram et purum actum12, genauer eine Eigenschaft, die eine Potenz zum Akt geneigt macht — qualitas quaedam, secundum quam inclinatur potentia ad actum73. Man könnte einen habitus als eine gewisse Gestimmtheit zu jeweils spezifischen Akten beschreiben. Er kann etwa durch Übung erworben werden und ist dann eine Haltung, eine „Angewohnheit", durch die die Vornahme der ihr entsprechenden Akte erleichtert wird. Ein habitus kann aber auch — als habitus naturalis — von Natur aus mitgegeben sein; er ist dann eine natürliche Hinneigung zu gewissen Akten. Fehlt ein derartiger habitus naturalis, dann ist die Substanz „beraubt" (privata), und wir stellen eine privatio fest. 65 De malo q 3 a 7 c; vgl. auch de malo q 8 a 1 ad 7 und S th I—II q 76 a 2 c. Allerdings bleibt die Bedeutung von „nescientia" bei Thomas schwankend; denn bald wird nescientia als umfassender Oberbegriff verstanden, bald in einen ausschließenden Gegensatz zur privativ bestimmten ignorantia gestellt. Thomas ist sidi dieses schwankenden Sprachgebrauchs übrigens bewußt, vgl. dazu IV Sent d 49 q 2 a 5 ad 8. 66 De malo q 3 a 7 c. 67 Vgl. z. B. de ver. q 21 a 2 ad 7 u. a. 8 8 Vgl. etwa de malo q 3 a 7 ad 4. •» De pot. q 9 a 7 ad 11. 7 0 ScG III 6. 71 S th I—II q 36 a 1 c. 72 S th I q 87 a 2 c. 7 3 De ver q 24 a 4 c.

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Audi eine ignorantia ist als privatio einem habitus entgegengesetzt, und zwar ist der ihr korrespondierende habitus naturalis ein Wissen. Daß ich hier und jetzt nicht an eine bestimmte Sache denke, daß ich nicht ein aktuelles Wissen um sie habe, bedeutet noch nicht, daß ich nichts von ihr weiß. Ein Wissen um sie, ein habituelles Wissen, besitze ich vielmehr schon stets dann, wenn ich in der Lage bin, mir meine Kenntnisse von der Sache durch einen Willensakt zu vergegenwärtigen — scientia, cui opponitur ignorantia, non (est) actus qui est operatio, sed habitus1*. Eine ignorantia besteht darin, daß das entsprechende habituelle Wissen fehlt. Ignorantia meint demnach als privatio scientiae den Mangel eines „natürlichen" Wissens, d. h. eines Wissens, das vom Menschen seiner Natur nach eigentlich zu erwarten ist — ignorantia est carentia illius scientiae naturalis quam homo in primo statu (d. i. im Urstande) habuisset75, sie ist mithin, im Gegensatz zur nescientia, der Mangel eines Wissens, der nicht in der menschlichen Erkenntnisstruktur angelegt ist, sondern ein Mangel, der, die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis verfehlend, als tatsächliche Begrenzung menschlichen Wissens zu der grundsätzlichen Begrenzung hinzutritt. Ignorantia vero est quaedam nescientia, eorum scilicet quae homo natus est scire et debet76. Bei aller Präzision fehlt dieser Begriffsbestimmung freilich doch in einer gewissen Richtung die Sdiärfe, was nicht zuletzt auch das Verständnis der einschlägigen Stellen des thomasischen Werkes erschwert; und zwar beruhen die Mißhelligkeiten im wesentlichen auf einer Ungenauigkeit des im Definiens erscheinenden Ausdrucks „debere". Ignorantia ist die Unwissenheit in bezug auf die Dinge, die der Mensch zu wissen geboren ist und die er wissen muß. Das ist zunächst und grundsätzlich objektiv zu verstehen, das soll heißen, daß die ignorantia jene Dinge betrifft, die zu kennen für den Menschen zur Erreichung der menschlichen Vollkommenheit erforderlich ist — ignorantia est nescientia aliquorum quae sciri debent, vel quae necesse est scire71. Da der Ausdruck „debere" aber auch dazu dienen kann, moralische Verpflichtungen zu bezeichnen78, besteht die Gefahr, daß die Unterscheidung zwischen objektiver Notwendigkeit und moralischer Verpflichtung nicht genau genug durchgeführt wird. Tatsächlich findet sich bei Thomas auch ein schillernder Gebrauch des Wortes 79 , aber es gibt daneben Stellen, wo Thomas zwischen der objektiven 74

II Sent d 22 q 2 a 1 ad 3. De malo q 4 a 2 ad 16. 7 ® De malo q 8 a 1 ad 7. 77 S th Suppl. q 92 a 3 ad 8 = IV Sent d 49 q 2 a 5 ad 8. 78 Deutlich z. B. in S th I—II q 74 a 5 c und ad 1. 79 So vor allem in dem hier einschlägigen Artikel II Sent d 22 q 2 a 1 c. 75

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Notwendigkeit und der moralischen Verpflichtung genau differenziert, und dort verzichtet er ganz auf die Benutzung des Wortes „debere". Dann definiert er etwa: Ignorantia vero importât scientiae privationem: dum scilicet alicui deest scientia eorum quae aptus natus est scire80, was dann die Unterscheidung erlaubt, zwischen den ignorierten Dingen, die man zu kennen verpflichtet ist, und jenen, die zu kennen man nicht verpflichtet ist: Horum autem quaedam aliquis scire tenetur... Quaedam vero sunt quae etsi aliquis natus est scire, non tarnen ea scire tenetur*1. Im Gegensatz zur ignorantia, die — zunächst — als die privatio eines natürlichen habituellen Wissens zu bestimmen ist, ist der error ein Akt. So wie jedes habituelle Wissen in ein aktuelles übergehen kann, so kann sich auch eine ignorantia aktualisieren, und eine derartige zu einer ausdrücklichen falschen Meinung sich verdichtende ignorantia nennt Thomas „error" — ignorantia de sui ratione non importât aliquem cognitionis actum; sed error ponit iudicium rationis perversum de aliquo62. Im error wird ein falsches Urteil über die beurteilte Sache gefällt. Daher kann die Differenz von ignorantia und error zunächst bestimmt werden als der Unterschied zwischen der Ablehnung des Wahren und der Annahme des Falschen — ignorantia pertinet ad remotionem veritatis, sed error ad inhaesionem falsitatis83. Ein Irrtum im modus des error schließt deshalb stets einen solchen im modus der ignorantia ein 84 ; weshalb auch davon gesprochen werden kann, daß ein error aus einer ignorantia hervorgehe 85 oder daß jene die „Ursache" (causa)89 für diesen sei. Der aktuelle Irrtum tritt zu der ignorantia hinzu, so daß zwar eine ignorantia ohne error, nicht aber ein error ohne eine ignorantia gedacht werden kann 87 . Nun ist es aber offenbar nicht möglich, daß bloßes Nichtwissen zu einem aktuellen Irrtum führt, sollte es doch eher zu einem Eingeständnis des Nichtwissens führen. In derselben Weise, wie die Vergegenwärtigung von Wissen dieses Wissen als habituell gegeben voraussetzt, muß daher auch ein error von einer habituellen Hinneigung zu einem Urteil bedingt sein, die dann allerdings eine habituelle Hin80

S th I—II q 76 a 2 c; vgl. auch de malo q 3 a 7 c. S th I—II q 76 a 2 c. » S th Suppl. q 51 a 1 ad 1 = IV Sent d 30 q 1 a 1 ad 1. M De div. nom. c. 4 1. (Marietti n. 337). 94 II Sent d 43 q 1 a 1 obj 3. 86 De ver. q 1 7 a 4 a d 5 ; S t h I—II q l 9 a 6 c und ad 3; de malo q 8 a l a d 7 ; Quodl. VIII q 6 a 5 c. 88 S th I—II q 36 a 2 obj in contr. 87 De malo q 3 a 7 c. 81

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Joadiim Hrusdika

neigung zu einem falschen Urteil sein muß. Thomas nimmt daher an, daß, damit es zu einem Irrtum im modus des error kommt, zu der Unwissenheit als einem bloßen Mangel an Wissen ein weiterer Aspekt der Unwissenheit treten muß, das habituelle Scheinwissen. Die ignorantia muß zur aktuellen Fehlbestimmung der Erkenntnisobjekte gleichsam habituell tendieren. Allerdings gelangt Thomas erst nach und nach zu dieser Lösung des Problems. Der entscheidende Schritt wird aber bereits getan mit der Unterscheidung zwischen bloßem Nichtwissen, der ignorantia secundum negationem, die nicht mit der nescientia zu verwechseln ist, und der ignorantia secundum dispositionem corruptam88. Es ist eine verderbte Anlage, eine verkehrte Hinneigung zur Falschheit, die bewirkt, daß ich eine falsche Meinung (error) von einer Sache hege. Wenn ich mich freilich mit einer Sache überhaupt nidit befasse wie der Bauer, den die Frage der Winkelsumme im Dreieck gleichgültig läßt, dann habe ich auch keine Neigung, einen Fehler zu machen. Thomas nennt die ignorantia secundum negationem daher auch ignorantia in non attingendo89. Die ignorantia secundum dispositionem corruptam setzt er dagegen zunächst mit dem error gleich — haec ignorantia idem est quod error90. Das ist insofern richtig, als der Irrtum gerade aus ihr hervorgeht. Später gelangt Thomas dann aber zur Unterscheidung auch zwischen dieser ignorantia und dem error91. Die ignorantia secundum dispositionem corruptam wird dann bestimmt als habitus falsorum principiorum et falsarum opinionum, der dem habituellen Wissen nicht nur in dem Sinne entgegengesetzt ist, daß er an dessen Stelle tritt, wie die bloße privatio scientiae, sondern in dem Sinne, daß er diesem Wissen geradezu widerstreitet. Dabei darf die Unterscheidung zwischen der ignorantia secundum negationem, welche als privatio scientiae die Lücke im Wissen bezeichnet, und der ignorantia secundum dispositionem corruptam nicht etwa als ausschließende Gegenüberstellung zweier verschiedener „Arten" von ignorantia mißverstanden werden. Letztere tritt vielmehr zu der ersteren hinzu und mehrt die Gefahr eines aktuellen Irrtums; sie ist ohne die privatio scientiae nicht denkbar. Ein error ist dann erst die ausdrückliche oder unausdrückliche Zustimmung zu der falschen Sicht der Dinge.

Post. Anal. Post. Anal. in contr. 90 Post. Anal. 91 De malo q 88

89

L. I 1. X X V I I (Marietti n. 222). L. I 1. X X V I I (Marietti n. 222), vgl. audi de malo q 16 a 6 ad 3 L. I 1. X X V I I (Marietti n. 222). 3 a 7 und Kommentar zu de anima L. II 1. X I (Marietti n. 363).

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Die Ausführungen des Aquinaten in den Quaestiones disputatae de Malo 92 , deren Entstehungszeit zwischen 1269 und 1271 liegt, können daher als abschließende Darstellung seiner Analyse des Irrtumsphänomens aufgefaßt werden:

Dicendum quo differt nescientia, ignorantia et error. Nescientia enim simplicem negationem scientiae importât. Ignorantia vero quandoque quidem significat scientiae privationem; et tunc ignorantia nihil est aliud quam carere scientia quam qui natus est habere: hoc enim est de ratione privationis cuiuslibet. Quandoque autem ignorantia est aliquid scientiae contrarium, quae dicitur ignorantia perversae dispositionis; puta, cum quis habet habitum falsorum principiorum et falsarum opinionum, ex quibus impeditur a scientia veritatis. Error autem est approbare falsa pro veris; unde addit actum quemdam super ignorantiam: potest enim esse ignorantia sine hoc quod aliquis de ignotis sententiam }erat; et tunc ignorans est, et non errans; sed quando iam falsam sententiam fert de his quae nescit, tunc proprie dicitur errare. Es ist ein optimistisches Menschenbild, von dem Thomas ausgeht, bedeutet doch die Bestimmung der ignorantia als einer privatio scientiae, daß der Mensch seiner eigentlichen Natur nach um alles das weiß, was für ihn zu wissen notwendig ist. Er ist zu einem Wissen um diese Dinge geboren und auch grundsätzlich mit diesem Wissen ausgestattet (aptus natus)92. Die ignorantia ist eine „Beraubung" in gleicher Weise wie die Blindheit eines Menschen eine „Beraubung" ist, d. h. in einer ignorantia entbehrt der Mensch seiner eigentlichen Natur zuwider des notwendigen Wissens. Selbstverständlich heißt das nicht, daß es keiner Anstrengung bedarf, um zu dem notwendigen Wissen zu gelangen. Die ignorantia ist

eine privatio scientiae quae debet haberi pro tempore illo, d. h. ein

Mangel desjenigen Wissens, das dem Menschen je nach seinem Lebensalter zu besitzen notwendig ist 94 . Die Unwissenheit von Kleinkindern bestimmt Thomas nicht als ignorantia, sondern als nescientia95, und selbst der im Zustande der Vollkommenheit gedachte Mensch, der Mensch im Urstande, muß das Wissen, dessen er bedarf, im Laufe der Zeit inveniendo vel addiscendo — durdi Finden und Lernen — zu erwerben trachten96. Die Möglichkeit einer Entschuldigung durch eine 92 De malo q 3 a 7 c und q 8 a 1 ad 7. Mit der Bestimmung des error als approbare falsa pro veris greift Thomas auf Augustinus zurück — vgl. IV Sent d 30 q 1 a 1 obj 1. 93 Vgl. oben Text zu Fußnote 80. 94 S th I q 101 a 1 ad 2; de ver. q 18 a 7 ad 3. 95 ebenda. 96 S th I q 101 a 1 c; vgl. auch de ver. q 18 a 7 c.

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ignorantia wird daher nicht zuletzt davon abhängen, ob und wie der irrende Mensch die ihm gegebenen Möglichkeiten genutzt hat, das Schädliche und das Angemessene durch seine forschende Vernunft zu erkennen 97 . Dasselbe optimistische Menschenbild hat sich auch in der thomasischen Lehre von der Synderesis niedergeschlagen, die in die Lehre vom irrenden Gewissen zwar ebenfalls hineingehört, die aber hier nur kurz gestreift werden kann. Der Mensch besitzt nach Thomas einen habitus naturalis primorum principiorum operabilium, quae sunt naturalia principia iuris naturalis98, also einen natürlichen habitus für die ersten Prinzipien des Handelns, der auf das Naturrecht gerichtet ist. Diesen dem Menschen eingeborenen (innatus) habitus99 nennt Thomas Synderesis. Durch ihn wird nicht nur bewirkt, daß der Mensch habitualiter zur (theoretischen) Einsicht in das Gute neigt, was die Neigung zur Erkenntnis der lex naturalis einschließt100, sondern darüber hinaus wird durch ihn auch bewirkt, daß der Mensch habitualiter dazu neigt, sich auch (praktisch) gemäß dieser Einsicht zu verhalten — actus autem huius habitus naturalis, quem synderesis nominat, est remurmurare malo et inclinare ad bonum101. Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß der Mensch nicht auch zum Bösen fähig ist, aber die Wirkung der Synderesis reicht immerhin so weit, daß der Mensch nur unter der Gestalt eines scheinbar Guten zu einer Verfehlung verleitet werden kann — cum autem naturaliter insit cuilibet creaturae appetitus boni, nullus ad peccandum inducitur nisi sub aliqua specie apparentis boni102. Dabei kann die Synderesis grundsätzlich im Menschen niemals erlöschen, vielmehr kann sie ihre Kraft überhaupt nur bei jenen verlieren, die infolge einer Krankheit zum Gebrauch der Vernunft unfähig sind103. Es ist dieses optimistische Menschenbild, das die Grundlage für die thomasische Lehre von der Entschuldigung durch eine ignorantia bildet, und nur von ihm aus kann diese Lehre eine gerechte Beurteilung erfahren.

" Vgl. de ver. q 18 a 7 ad 7. 98 De ver. q 16 a 1 c; ebenso S th I q 79 a 12 c. " De ver. q 16 a 1 ad 14. 100 S th I—II q 94 a 1 ad 2. 101 De ver. q 16 a 1 ad 12. 102 De ver. q 24 a 10 c. 10S De ver. q 16 a 3 c; vgl. auch II Sent d 39 q 3 a 1.

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IV. Zu der Frage, ob eine ignorantia entschuldigend wirken kann, schreibt Thomas einmal in der Prima Secundae der Summa Theologica folgendes104. Ignorantia de se habet quod faciat actum quem causat, involuntarium esse . . . Ignorantia dicitur causare actum, quem scientia opposita prohibebat. Et ita talis actus, si scientia adesset, esset contrarius voluntati: quod importat nomen involuntarii. Si vero scientia quae per ignorantiam privatur, non prohiberet actum, propter inclinationem voluntatis in ipsum; ignorantia huius scientiae non facit hominem involuntarium, sed non volentem, ut dicitur in III Ethic. Et talis ignorantia, quae non est causa actus peccati..., quia non causat involuntarium, non excusat a peccato. Diese Überlegung des Aquinaten läßt sich, wie folgt, zusammenfassen: Eine ignorantia ist stets dann die Ursache eines Aktes, wenn ein entgegenstehendes Wissen den Akt verhindern würde. Eine derartige für den Akt ursächliche ignorantia macht den Akt zu einem unfreiwilligen (involuntarium). Denn ein Akt, für den eine ignorantia ursächlich ist, weil ein entgegenstehendes Wissen ihn verhindert hätte, geschieht gegen den eigentlichen Willen des Handelnden — und eben das nennt man „Unfreiwilligkeit". Dagegen madit eine ignorantia den Akt nicht zu einem unfreiwilligen (involuntarium), sondern nur zu einem unwillentlichen (non volentem; auch: non voluntarium105), wenn ein entgegenstehendes Wissen den Akt nicht verhindern würde, weil der Wille sich sowieso auf diesen Akt richtet. Eine solche ignorantia vermag nicht zu entschuldigen; denn sie ist nicht Ursache für seine Unfreiwilligkeit, weil sie nicht Ursache des Akts der Verfehlung selbst ist. Hier wird im Anschluß an eine Stelle in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit einet Entschuldigung durch eine ignorantia in der Absicht formuliert, die sog. ignorantia concomitans aus der weiteren Erörterung auszuscheiden. Voraussetzung für eine Entschuldigung durch eine ignorantia ist es, daß der Akt durch die ignorantia verursacht wird, weil nur eine derartige Verursachung die Unfreiwilligkeit (das involuntarium) des Aktes bewirkt. Diese Bedingung wird von einer bloßen ignorantia concomitans nicht erfüllt, obwohl das nach dem äußeren 104 S th I—II q 76 a 3 c; vgl. audi II Sent d 22 q 2 a 2 c: ignorantia autem quae non est causa actus, non causat involuntarium...; unde illa nullo modo excusat nec diminuit peccatum; sed solum illa quae est causa actus. 105 Ethic. L. III 1. III (Marietti n. 406); S th I—II q 6 a 8 c; de malo q 3 a 8 c.

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Erscheinungsbild einer solchen ignorantia, die den Akt begleitet (concomitatur), d. h. die zeitlich mit ihm zusammentrifft, zunächst durchaus anders aussieht. Aber die ignorantia concomitans ist nicht Ursache des Akts der Verfehlung und verursacht infolgedessen auch nicht seine Unfreiwilligkeit, weil sie nicht wie eine für den Akt ursächliche ignorantia eine Täuschung darüber bewirkt, daß der Akt dem eigentlichen Willen des Handelnden widerstreitet — talis ignorantia non facit involuntarium . .quia non causat aliquid quod sit repugnans voluntati106. Deshalb ist der Akt, den sie begleitet, nicht ein actus contrarius voluntati, sondern ein bloßer actus praeter voluntatem107. Das Kriterium aber dafür, ob eine ignorantia den Akt verursacht oder ob sie nur concomitanter, nur bei Gelegenheit des Aktes besteht, ist nach Thomas dieses, daß bei einer ignorantia causans actum der Handelnde die Begehung des Aktes bedauern würde, wenn er die ignorantia nachträglich als solche erkennen sollte. Nur dann, wenn der hinterher in seiner vollen Tragweite erfaßte Akt Reue zur Folge hat — quando postquam cognoscitur inducit tristitiam et poenitudinem, quae est tristitia circa ea quae quis fecit10S, kann gesagt werden, daß dieser Akt durch die ignorantia verursacht und damit dem wahren Willen des Handelnden entgegengesetzt ist. Fehlt es dagegen an Reue über die Tatbegehung, dann ist die ignorantia eine bloße ignorantia concomitans. Die Konsequenz der mangelnden Ursächlichkeit einer ignorantia concomitans für den Akt der Verfehlung ist die gänzliche moralische Irrelevanz einer solchen ignorantia. Vor allem kann sie den Akt, den sie begleitet, weder ganz noch auch nur teilweise entschuldigen109. Freilich machen die Beispiele, die Thomas bringt, diese Lösung nicht sonderlich plausibel. So handelt in einer bloßen ignorantia concomitans, wer in dem Glauben, einen Hirsch zu töten, seinen Feind erschießt, den er ohnehin umbringen will 110 , oder wer die objektiven Voraussetzungen eines Ehebruchs erfüllt, ohne dies zu mißbilligen, wenn er die Tatsachen nachträglich überblickt, sich vielmehr sogar noch darüber freut 111 . Nach heutiger Lehre wäre in diesen Beispielen, so wie sie geschildert werden, stets ein vorsatzausschließender und damit im Sinne von Thomas ein „entschuldigender" Irrtum anzunehmen. Doch läuft das nicht notwendig auf eine Ablehnung der thomasischen Unterscheidung vom involuntarium und non volunS th I—II q 6 a 8 c. Ethic. L. III 1. III (Marietti n. 406). 108 Ethic. L. III I. III (Marietti n.407); vgl. auch S th I—II q 6 a 8 obj. 3 und de malo q 3 a 8 c. 109 So vor allem II Sent d 22 q 2 a 2 c (oben Fußn. 104) und S th I—II q 76 a 4 c. 110 S th I—II q 6 a 8 c und ad 3, q 76 a 1 c. 111 De malo q 3 a 8 c; vgl. auch II Sent d 22 q 2 a 2 c. 106

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tarium hinaus. Wer objektiv einen Totschlag oder einen Ehebruch begeht und dann noch jubelt, wenn er die Wahrheit erfährt, würde auch heute nicht so ohne weiteres von Schuld freigesprochen werden, liegt dodi die Annahme eines dolus eventualis hier gar zu nahe. Immerhin ist es nicht unzweifelhaft, ob Thomas wirklich derartige Beweisprobleme im Auge hat, die er nicht genau genug von der Sachfrage trennt, oder ob die thomasische Lehre hier nicht doch strenger nach dem Wortsinn gedeutet werden muß. Aber alle Kritik an der Lehre von der ignorantia concomitans, die sich an eine strengere Deutung anschließen müßte, kann sich doch nur gegen das Kriterium richten, nach dem Ursächlichkeit und Nicht-Ursächlichkeit einer ignorantia für den actus peccati bestimmt werden. Daß nicht eine jede beliebige bei Gelegenheit der Tat bestehende ignorantia auch moralisch relevant ist, ist dagegen fester Bestandteil auch der heutigen Irrtumslehre, mag das als scheinbare Selbstverständlichkeit auch nur selten ausgesprochen werden. Zumindest insoweit ist daher der Begriff der ignorantia concomitans gerechtfertigt112. Nun ist es aber nur eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung für die Entschuldigung eines actus peccati durch eine ignorantia, daß die ignorantia für den Akt ursächlich ist. Auch wenn feststeht, daß die ignorantia den Akt verursacht hat, bestehen immer noch zwei Möglichkeiten. Es kann sein, daß die ignorantia entschuldigend wirkt, es kann aber auch sein, daß sie nicht entschuldigend wirkt. Letzterenfalls ist die ignorantia selbst nicht nur Ursache des äußeren Akts der 112 Eine andere Frage, die sich mit der Frage nach dem Kriterium der Ursächlichkeit einer ignorantia für den Akt einer Verfehlung nicht deckt, sondern von ihr schon als positiv beantwortet vorausgesetzt wird, ist die Frage, ob eine ignorantia überhaupt Ursache des Akts einer Verfehlung sein kann. Das ist deswegen problematisch, weil eine ignorantia ja per definitionem nichts Tatsächliches ist, sondern ein ens rationis, Thomas sie aber trotzdem durchaus als eine causa efficiens vel movens des actus peccati, also als (Wirk-)Ursache in dem heutigen Sinne des Wortes auffaßt (vgl. de malo q 3 a 6 c und ad 7; S th I—II q 76 a 1 c). Audi diese Frage erörtert Thomas. Er selbst trägt einmal als Argument vor: Quod non est, nullius est causa. Sed ignorantia est non ens: cum sit privatio quaedam scientiae. Ergo ignorantia non est causa peccati (S th I—II q 76 a 1 obj 1 — hier geht es zwar um die engere Frage, ob eine ignorantia causa peccati sein könne, aber das Argument ist übertragbar; denn es ist eine notwendige Bedingung für die Anerkennung einer ignorantia als causa peccati, daß sie causa actus peccati ist — zu dem Unterschied zwischen diesen Begriffen vgl. oben den Text). Aber Thomas hält den Einwand nicht für durchschlagend. In derselben Weise, wie eine remotio prohibentis, die „Zurückhaltung eines Hindernden" — heute bekannt etwa unter dem Stichwort „Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs" — Ursache einer Wirkung sein kann, kann auch eine ignorantia causa actus sein, wenn und weil sie das Wissen zurückhält, das die Begehung des deformierten Akts verhindern würde (vgl. de malo q 3 a 6 c, S th I—II q 76 a 1 c und ad 1).

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Verfehlung, sondern Ursache einer Verfehlung schlechthin; sie ist dann nicht nur causa actus peccati, sondern sogar causa peccati, d. h. in heutiger Redeweise: nicht nur Ursache der objektiv rechtswidrigen Tat, sondern darüber hinaus Ursache der schuldhaften Tatbegehung überhaupt. Thomas kann deshalb zwei Fragen stellen, die nicht unabhängig voneinander beantwortet werden können: die Frage, utrum ignorantia excuset peccatum vel diminuet, und die Frage, utrum ignorantia possit esse causa peccati — zwei Fragen, die er tatsächlich, freilich nicht von Anfang an, sondern erst im voll entwickelten System in einem unmittelbaren Zusammenhang sieht und deshalb nebeneinanderstellt 113 . Der sachliche Zusammenhang dieser beiden Fragen ist ein doppelter. Einmal setzt die Beantwortung beider Fragen in jedem einschlägigen konkreten Falle die Beantwortung der Vorfrage voraus, ob die gerade in Rede stehende ignorantia den Akt der Verfehlung überhaupt verursacht hat. Darum kann die ignorantia concomitans sowenig causa peccati sein, wie sie eine Verfehlung entschuldigen kann: Non quaelibet ignorantia peccantis est causa peccati: sed illa tantum quae tollit scientiam prohibentem actum peccati. Unde si voluntas alicuius esset sie disposita quod non prohiberetur ab actu parricidii, etiam si patrem agnosceret; ignorantia patris non est huic causa peccati, sed concomitanter se habet ad peccatum11*. Dieselben Gründe, die die Unmöglichkeit einer Entschuldigung durch eine ignorantia concomitans ergeben haben, sprechen auch für die Unmöglichkeit der Verursachung einer Verfehlung durch eine solche ignorantia. Darüber hinaus aber besteht der Zusammenhang der beiden Fragen darin, daß mit der Beantwortung der einen auch die andere Frage sdion beantwortet ist. Eine ignorantia causans actum peccati ist entweder causa peccati, oder aber sie hat entschuldigende Wirkung. Wenn sie nicht entschuldigt, dann ist sie Ursache der Verfehlung; wenn sie nicht Ursache der Verfehlung ist, dann entschuldigt sie — eine Alternativität, die Thomas einmal ausdrücklich an einem Beispiel erläutert: Scientia interdum aliquis a peccato prohibetur, sicut aliquis considerans fornicationem esse peccatum, abstinet a fornicatione; et si per ignorantiam removeretur talis scientia, ignorantia esset fornicationis causa; et si esset talis ignorantia quae non omnino excusaret a peccato . .., talis ignorantia esset causa peccati115. 113 Vgl. S th I—II q 76 a 1 einerseits und a 3 und a 4 andererseits, de malo q 3 a 6 einerseits und a 8 andererseits. 114 S th I—II q 76 a 1 c. 115 De malo q 3 a 6c.

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Unberührt von dieser Alternative bleibt freilich, daß die ignorantia, die für den äußeren Akt der Verfehlung ursächlich ist, auf jeden Fall dessen Unfreiwilligkeit bewirkt, gleichgültig, ob sie nun entschuldigt oder nicht entschuldigt und damit eine Verfehlung verursacht. Daraus ergibt sich die Möglichkeit eines Aktes, der einerseits zwar unfreiwillig (involuntarie) begangen wird, andererseits aber trotzdem eine Verfehlung, ein peccatum enthält. Nur scheinbar ist es ein Einwand gegen diese Möglichkeit und damit gegen die gesamte thomasische Konzeption, daß alle Verfehlung notwendig auf Freiwilligkeit beruht — rationem culpae non habet peccatum nisi ex eo quod est voluntarium116, oder (im Anschluß an Augustinus) peccatum enim adeo est voluntarium, quod si non sit voluntarium, non est peccatum117. Denn der Grundsatz der Freiwilligkeit aller Verfehlung wird durch die Anerkennung der Möglichkeit eines unfreiwillig begangenen Aktes, der gleichwohl eine echte Verfehlung enthält, jedenfalls dann nidit durchbrochen, wenn der Zusammenhang von peccatum und voluntarium auf eine andere Weise hergestellt ist. Solche anderweitige mehr mittelbare Verknüpfung ist aber schon immer dann gegeben, wenn die die Unfreiwilligkeit des Aktes bewirkende ignorantia ihrerseits selbst den Charakter der Freiwilligkeit hat, und zwar hat sie diesen Charakter dann, wenn sie selbst vom Willen bewirkt wird und damit dem Willen gegenüber als eine ignorantia consequens anzusehen ist — consequenter se habet ignorantia ad voluntatem, inquantum ipsa ignorantia est voluntaria119. Eine derartige ignorantia voluntaria vel consequens voluntatem macht den ihr nachfolgenden actus peccati zu einem unfreiwilligen, ohne zugleich einen Entschuldigungsgrund zu liefern. Allerdings ist auch hiergegen noch ein Einwand denkbar. Wie kann eine freiwillig herbeigeführte ignorantia die Unfreiwilligkeit des ihr nachfolgenden Aktes bewirken? In der Tat wird man bei einer soldien ignorantia von einer Unfreiwilligkeit des nachfolgenden Aktes schlechthin nicht gut sprechen können — cum autem ipsa ignorantia sit voluntaria. . non potest causare simpliciter involuntarium119, denn der Akt ist jedenfalls in seiner Ursadie freiwillig — voluntarius in sua causa, wie Thomas einmal in einem anderen Zusammenhang120 sagt. Trotzdem führt eine solche ignorantia doch in gewisser Weise die Unfreiwilligkeit des Aktes herbei, insoweit nämlich, als sie einem Willensentschluß vorangeht, der sich auf etwas De malo q 2 a 2 c. De malo q 3 a 6 obj 1; Quodl. I q 9 a 3 obj 1. 118 S th I—II q 6 a 8 c. «• S t h l — I I q 6 a 8 c . 120 S th I—II q 77 a 7 c. 114 117

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richtet, worauf er sidi nicht richten würde, wenn das entsprechende Wissen zuhanden wäre — causat tarnen secundum quid involuntarium, inquantum praecedit moturn voluntatis ad aliquid agendum, qui non esset scientia praesente121. Das klare Kriterium, nach dem sich entscheidet, ob eine Handlung voluntarie oder involuntarie begangen wird, braucht also nicht aufgegeben zu werden; und es enthält auch keinen Widerspruch, wenn Thomas gelegentlidi schreibt, daß das, was auf eine freiwillig herbeigeführte ignorantia folge, den Charakter der Freiwilligkeit habe — id quod ex ignorantia (voluntaria) sequitur, voluntarium iudicatur122. Denn nicht schlechthin freiwillig ist ein solcher Akt, vielmehr ist er als actus voluntarius in sua causa nur in einer bestimmten Hinsicht, nur „gewissermaßen", nur quodammodo voluntarius123. Damit zeigt sidi im Ansatz auch schon, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen einer ignorantia causans actum, die entschuldigend wirkt, und einer ebensolchen ignorantia, die den Akt zu einer Verfehlung macht. Die ignorantia entschuldigt, wenn sie in keiner Weise eine Freiwilligkeit enthält — si enim sit talis ignorantia cui nullo modo admisceatur ratio culpae, ex eo quod ignorantia est, sie excusat in toto12i; sie entschuldigt nicht, wenn sie selbst freiwillig ist — quando ipsa ignorantia est voluntaria125, was bedeutet, daß es sidi um eine ignorantia consequens voluntatem handelt. Thomas geht sogar noch einen Schritt weiter, sieht er doch in vielen Fällen die freiwillig herbeigeführte ignorantia, die ein moralisch relevantes Wissen verhindert, bereits selbst als eine Verfehlung, als peccatum omissionis126 an. Freilich enthält nicht eine jede derartige ignorantia, soweit sie nicht entschuldigt, auch schon eine Verfehlung: ignorantia enim circumstantiae non est peccatum, sed tarnen potest causa peccati127. Doch kann diese Frage hier ausgeklammert werden. Es bleibt jedoch die entscheidende Frage zu beantworten, wann eine ignorantia denn nun freiwillig ist und damit zu einer Verfehlung führt und wann sie unfreiwillig ist und damit den Akt der Verfehlung entschuldigt. Thomas ist dieser Frage mehrfach und unter verschiedenen Gesichtspunkten nachgegangen, und er hat eine Reihe von Unterscheidungen eingeführt. Davon ist einiges hervorzuheben. S th I—II q 6 a 8 c. De malo q 3 a 6 ad 1. 123 De malo q 3 a 8 c. 124 II Sent d 22 q 2 a 2 c. 125 Vgl. z. B. S th I—II q 76 a 3 c und de malo q 3 a 6 ad 1. 128 Vgl. II Sent d 22 q 2 a 1 c, ad 2 und ad 4; S th I—II q 76 a 2 c und ad 3; de malo q 3 a 7 c und ad 12. 127 De malo q 3 a 6 ad 5; vgl. auch die malo q 3 a 7 ad 6. 121 122

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Eine ignorantia kann direkt und sie kann indirekt freiwillig sein 128 . Die ignorantia directe voluntaria nennt Thomas in seinen späteren Schriften auch ignorantia affectata129 oder ignorantia vitiosa130. Sie ist die erstrebte, die herbeigewünschte ignorantia. In solcher ignorantia handelt, w e r bewußt im Zustande der Unkenntnis verharrt, etwa um eine Verfehlung leichter begehen zu können 1 3 1 , oder gar um einen Entschuldigungsgrund zu haben 1 3 2 . Häufiger ist freilich die ignorantia indirecte voluntaria. Bei ihr wird der bekannte und damals wie heute wesentliche Unterschied bedeutsam zwischen einer ignorantia, durch welche bei Kenntnis aller Umstände doch die deformitas actus, die Ungestalt des A k t s der Verfehlung verkannt wird (puta cum aliquis nescit fornicationem esse peccatum), und einer ignorantia, durch welche die circumstantiae actus, die Tatumstände verkannt werden (cum aliquis accedit ad mulierem quam credit esse suam)133. Terminologisch ist Thomas dabei nicht festgelegt; vielmehr benutzt er nebeneinander die auf Aristoteles zurückgeführten Ausdrücke „ignorantia universalis" und „ignorantia particularis" oder „ignorantia circumstantiae" und die von den iurisperiti, den Juristen entlehnten Ausdrücke „ignorantia iuris" und „ignorantia facti"131. Zur ignorantia indirecte voluntaria heißt es in den Quaestiones disputatae de Malo 1 3 5 : Ignorantia dicitur voluntaria indirecte quia non adhibet Studium ad cognoscendum; et haec est ignorantia negligentiae. Sed quia non dicitur aliquis negligere nisi cum debitum praetermittit, non videtur ad negligentiam pertinere quod aliquis non applicat animum ad quodlibet cognoscendum, sed solum si non applicet animum ad cognoscendum ea quae cognoscere debet vel simpliciter et secundum omne tempus (unde ignorantia iuris ad negligentiam reputatur), vel in aliquo casu, ut cum quis emittit sagittam in aliquo loco ubi homines solent transire, ad negligentiam sibi imputatur si scire non studeat, an tunc aliquis transeat; et talis ignorantia per negligentiam contingens voluntaria iudicatur. 128 Ygi

v o r

a

l l e m § th I — I I q 19 a 6 c, q 76 a 3 c und de malo q 3 a 8 c.

S th I — I I q 6 a 8 c, q 76 a 4 ad 3, III q 47 a 5 ad 3 ; de malo q 3 ad 8 ad 1 und ad 5. In II Sent d 22 q 2 a 2 c hatte Thomas die ignorantia affectata noch mit der ignorantia vincibilis, dem kontradiktorischen Gegenteil der sogleich zu behandelnden ignorantia invincibilis, gleichgesetzt. 1 3 0 De malo q 3 a 6 obj. 5. 1 3 1 Vgl. S th I — I I q 76 a 3 c, q 76 a 4 c ; de malo q 3 a 8 c. 1 5 2 Vgl. S th I — I I q 6 a 8 c. 1 3 3 De malo q 3 a 8 c; vgl. auch S th I — I I q 7 7 a 2 c. 134 y g i i i Sent d 22 q 2 a 2 c, wo die Terminologie ausdrücklich erörtert wird. 1 3 5 De malo q 3 a 8 c. 129

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Die indirekt freiwillige ignorantia ist also eine ignorantia der Nachlässigkeit138. Nachlässigkeit aber bedeutet einen Mangel an Eifer bei der Aneignung dessen, was zu wissen erforderlich ist. Dabei handelt, wie Thomas betont, nicht nachlässig, wer es versäumt, sein Augenmerk auf beliebige wißbare Dinge zu richten, sondern nachlässig ist nur, wer nicht um jene Dinge weiß, die er kennen muß. Diese aber sind in zwei Gruppen einzuteilen, die Gruppe jener Dinge, die man schlechthin und jederzeit, und die Gruppe der Dinge, die man im konkreten Einzelfall kennen muß. Zur ersten Gruppe gehören, wie Thomas an einer anderen Stelle schreibt, alle jene Dinge, durch die der Mensch in seinen Handlungen gelenkt wird, wozu nicht nur die Sätze des Dekalogs und die Sätze des christlichen Glaubens gerechnet werden, die jedermann zu kennen verpflichtet ist, sondern auch jenes allgemeine Wissen, dessen der einzelne bei der Erfüllung seiner spezifischen Pflichten, z. B. seiner Amtspflichten, bedarf. Tenetur ... scire quilibet ea quibus dirigatur in propriis actibus. Unde omnis homo tenetur scire ea quae jidei sunt, quia fides intentionem dirigit; et tenetur scire praecepta decalogi, per quae potest peccata vitare, et bonum facere... Unusquisque autem super haec tenetur scire quae ad suum officium pertinentni. Was zur zweiten Gruppe gehört, läßt sich dagegen so allgemein nicht umschreiben. Hier gibt Thomas ein Beispiel. Es ist die konkret gefährliche Situation, die der Schütze pflichtwidrig verkennt, obwohl er an einem Ort schießt, an dem Menschen vorbeizukommen pflegen. Es kann — davon geht Thomas aus — in der Regel nur Nachlässigkeit sein, wenn jemand jenes allgemeine oder dieses besondere Wissen nicht besitzt, und eben dadurch wird eine ignorantia zu einer indirekt freiwilligen, zu einer ignorantia consequens voluntatem. Legt man diese Regel zugrunde, dann folgt aus ihr, daß die ignorantia und insbesondere die ignorantia iuris sive universalis regelmäßig nicht entschuldigt; eine Regel, die im thomasischen System also zunächst einmal durchaus als ein Erfahrungssatz oder doch als ein anthropologischer Quasi-Erfahrungssatz zu verstehen ist, der indessen gut zu dem Grundsatz der doppelten Bindung an Gesetz und Gewissen paßt und dadurch mittelbar den Charakter sozusagen einer Rechtsregel gewinnt. Wie kann Thomas zu einer solchen Regel kommen? Es ist der Glaube an das Gute im Menschen, an die Unauslöschlichkeit seiner Hinneigung zum Guten, auf dem allein eine solche Regel beruhen kann. Zwar werden dem Menschen bei der Erkenntnis des Guten

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Vgl. audi S th I—II q 6 a 8 c. De malo q 3 a 7 c; vgl. auch II Sent d 22 q 2 a 1 c und S th I—II q 76 a 2 c.

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Anstrengungen abgefordert, aber er kann diese Anstrengungen doch prinzipiell leisten, und es liegt dann an seiner Nachlässigkeit, wenn er die ihm abgeforderte Leistung nicht erbringt. Es ist Nachlässigkeit, wenn der Mensch sich anderen Geschäften hingibt und deswegen die Kenntnisse nicht erwirbt, deren er zur Vermeidung von Verfehlungen bedarf, cum aliquis propter laborem, vel propter alias occupationes, negligit addiscere id per quod a peccato retraheretur138. Demgemäß entschuldigt eine ignorantia den Fehlenden nur dann, wenn sie entweder Dinge betrifft, die er zu kennen nicht verpflichtet ist, oder wenn die ignorantia für ihn schlechthin unüberwindlich ist. Si vero sit talis ignorantia quae omnino sit involuntaria, sive quia est invincibilis, sive quia est eius quod quis sehe non tenetur; talis ignorantia omnino excusat a peccato139. In solchen Fällen verhält sich, wie Thomas gelegentlich sagt, die ignorantia antecedenter zum Willen, und er spricht von einer ignorantia antecedens14°. Das soll heißen, daß die ignorantia dann weder direkt noch indirekt freiwillig herbeigeführt ist, also in keiner Weise auf einem Willensakt beruht und mithin der Sache nach allen Willensakten vorangeht. Ersichtlich handelt es sich hier um Ausnahmen von der Regel, die in denselben Voraussetzungen ihre Wurzel haben wie die Regel selbst. Daß die Unkenntnis in bezug auf jene Dinge, die man nicht zu kennen braucht, dann, wenn sie doch Ursache für den Akt einer Verfehlung geworden ist, nicht causa peccati sein kann, sondern entschuldigend wirken muß, das ist nur eine andere Folge der Prämissen, aus denen sich auch die Regel ergeben hat. Vor allem die zufälligen Tatsachen, die contingentia particularia braucht man — von „Rechts" wegen — normalerweise nicht zu kennen, nisi in casu, d. h. wenn nicht im konkreten Fall eine Ausnahme gilt141. Für diese Tatsachen läßt sich daher der Grundsatz, daß eine ignorantia nicht entschuldigt, wenn sie auf Nachlässigkeit beruht, aus dem sich auf dem Hintergrund des thomasischen Menschenbildes die Regel ergibt, daß eine ignorantia üblicherweise nicht entschuldigt, weil sie auf Nachlässigkeit zu beruhen pflegt, in eine Regel umformulieren, die nur scheinbar etwas anderes, tatsächlich aber genau dasselbe besagt: daß nämlich eine solche Unkennt189

S t h l — I I q 76 a 3 c. »» Ebenda. 140 Vgl. S th I—II q 6 a 8 c. Der Begriff ignorantia antecedens ist ein bloßer Hilfsbegriff, der in der durch die Begriffe der ignorantia concomitans und der ignorantia consequens bestimmten Trichotomie der ignorantiae die von diesen beiden Begriffen noch nidit erfaßten Möglichkeiten decken soll. 141 Vgl. S th I—II q 76 a 2 c. Nur am Rande sei erwähnt, daß es auch noch andere Dinge gibt, zu deren Kenntnis der Mensdi nidit verpflichtet ist, etwa die theoremata geometriae, die Thomas an derselben Stelle erwähnt.

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nis der Tatsachen oder der konkreten Umstände entschuldigt, bei der der Handelnde den ihm auferlegten Sorgfaltspflichten nachgekommen ist. Daraus erklärt sich die für Thomas charakteristische Regel ignorantia particularis excusat, adhibita tarnen debita diligentia1*2, die zunächst gar nicht in sein System hineinzupassen scheint. Sie beruht auf der sprachlichen Möglichkeit, ein Regel-Ausnahme-Verhältnis auch so in Worte zu fassen, daß die Ausnahme als Regel und die Regel als Ausnahme erscheint, ohne daß sachlich dabei etwas geändert zu werden braucht. Zu beachten ist dabei lediglich, daß die Klausel debita diligentia adhibita stets impliziert ist, wenn Thomas davon spricht, daß eine ignorantia facti entschuldige. Fehlt es gelegentlich an einer ausdrücklichen Einschränkung 143 , so ändert das nichts daran, daß diese Einschränkung stets mitgedacht ist und mitgedacht werden muß 144 . Besondere Aufmerksamkeit hat die andere von Thomas zugelassene Ausnahme erregt 145 , nach der eine ignorantia invincibilis den Irrenden gänzlich entschuldigt. Unüberwindlich kann jeder Irrtum sein, also auch etwa ein Verbotsirrtum, und in der Tat bezieht Thomas die Ausnahme, daß ein unüberwindlicher Irrtum entschuldige, gelegentlich auch ausdrücklich auf eine ignorantia iuris: ignorantia iuris non excusat a peccato, nisi forte sit ignorantia invincibilis . .., quae omnino excusat146. Bedeutet das nicht, daß Thomas einem „unvermeidbarem Verbotsirrtum", so wie ihn die heutige Strafrechtswissenschaft versteht, eine entschuldigende Wirkung zumißt? Doch kann davon zunächst durchaus noch keine Rede sein. Wenn Thomas von einer ignorantia invincibilis spricht, dann denkt er allein an diejenigen, die das erforderliche Wissen deswegen nicht besitzen, weil sie nicht zu einem normalen Verstandesgebrauch fähig sind. Nirgends bringt er die Unüberwindlichkeit eines Irrtums mit anderen Gründen 1 4 2 II Sent d 22 q 2 a 2 c. Vgl. auch IV Sent d 9 q 1 a 3 qla 2 c, d 30 q 1 a 2 c und ad 3 ; S th I — I I q 6 a 8 c , q 77 a 7 ad 2 ; Quodl. III q 12 a 2 c; ad Rom. c. I l . V I I (Marietti n. 124). 143 Vgl. z. B. IV Sent d 21 q 2 a 2 ad 4; de ver. q 17 a 3 ad 4 und a 4 ad 5; S th I — I I q 19 a 2 ad 3, I I I q 80 a 4 ad 5. 1 4 4 D a z u etwa S th I I — I I q 68 a 3 ad 1, a 4 ad 1, q 70 a 4 ad 1, wo Thomas auf den Einwand, daß eine ignorantia facti dodi entschuldige, stets mit Sorgfaltsanalysen antwortet. — Es soll hier im übrigen davon abgesehen werden, daß Thomas auch den kanonistisdien Grundsatz des versari in re illicita vertreten hat (vgl. dazu S th I I — I I q 64 a 8 c, ad 1 und ad 3 sowie IV Sent d 25 q 2 a 2 qla 2 ad 3), was indessen auf die allgemeine Ausgestaltung seiner Irrtumslehre keinen Einfluß gehabt hat! 1 4 5 Vgl. Welzel, Vom irrenden Gewissen S. 9 f. und Naturrecht und materiale Gerechtigkeit S. 64. 1 4 6 Q u o d l . I I I q 12 a 2 ad 2. Vgl. ferner II Sent d 22 q 2 a 2 c, d 41 q 2 a 1 ad 3 ; S th I — I I q 76 a 3 c; de malo q 3 a 8 c.

Conscientia erronea und ignorantia bei Thomas von Aquin

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zusammen als mit den Verstandesdefekten des unüberwindlich Irrenden, und wenn er das invincibilis irgendwo mittelbar oder unmittelbar erläutert, dann wird die ignorantia stets auf einen derartigen Mangel zurückgeführt 147 . Für Thomas ist es offenbar eine Selbstverständlichkeit, daß unüberwindlich nur die ignorantia eines Menschen ist, der des normalen Verstandesgebrauches entbehrt, und es kommt danach nicht von ungefähr, daß die zitierte Stelle vollständig lautet: ignorantia iuris non excusat a peccato, nisi forte sit invincibilis, sicut est in furiosis et amentibus, quae omnino excusat. Auch aus den gelegentlichen Umschreibungen der ignorantia invincibilis ergibt sich nichts anderes, wenn Thomas davon spricht, eine ignorantia invincibilis sei eine ignorantia dessen, was der Mensch nicht wissen kann — non autem imputatur homini ad negligentiam, si nesciat ea quae scire non potest; unde horum ignorantia invinciblis dicitur: quia scilicet studio superari non potestli9. Denn nur wer seinen Verstand nicht in der gehörigen Weise gebrauchen kann, ist nicht in der Lage, die ignorantia durch ein Studium der Dinge zu überwinden. Faßt man die explizite Lehre des Aquinaten von der Möglichkeit einer Entschuldigung durch eine ignorantia zusammen, dann ergibt sich, daß auch hier der Grundsatz von der doppelten Bindung an das bonum cognoscendum und das bonum apprehensum leitend geblieben ist. Die Bindung an das bonum cognoscendum hat dabei zur Folge, daß einer ignorantia causans actum peccati für den Regelfall keine Entschuldigungswirkung zugesprochen werden kann. Allerdings hat sich das durch den Grundsatz der doppelten Bindung bestimmte System nicht ohne Modifikationen durchführen lassen. Andere Gesichtspunkte treten hinzu und erweisen sich als bedeutsam, vor allem der Gesichtspunkt, daß eine Entschuldigung nur bei einer direkt freiwillig oder bei einer durch Nachlässigkeit herbeigeführten ignorantia verweigert werden kann. Darin liegen Ansätze zu einer Durchbrechung oder „Überwindung" des Grundsatzes der doppelten Bindung. Sie werden deutlich insbesondere bei der Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in der Formel ignorantia facti excusat debita diligentia adhibita, die sich nur damit erklären läßt, daß wenigstens bei einer ignorantia facti die Vermutung nicht aufrechterhalten werden kann, daß die ignorantia regelmäßig auf einer Sorgfaltswidrigkeit und damit auf Nachlässigkeit beruhe, aber auch in der Ausnahmeformel ignorantia invincibilis omnino excusat, die mehr zu besagen 147

S th I—II q 88 a 6 ad 2; vgl. audi S th I—II q 74 a 5 ad 1 und q 76 a 3 ad 3. S th I—II 7 6 a 2 c; vgl. auch II Sent d 2 2 q 2 a 2 c : quaedam (ignorantia) autem non est in potestate eius (d. h. des irrenden Menschen), et haec dicitur invincibilis. 148

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scheint, als sie wirklich besagt149, die damit aber auch erweiterungsfähig ist 150 . Trotzdem wird man sagen müssen, daß der Grundsatz der doppelten Bindung von Thomas im wesentlichen durchgeführt worden ist. Es ist erforderlich, sich vor Augen zu führen, daß in diesem System ein sinnvoller Kern steckt. Auch wir sind heute nicht ernsthaft, d. h. auch wir sind nur in fiktiven Fällen bereit, für die Tatbestände, die zu dem geredinet werden, was man den „Kernbereich des Strafrechts" nennt, etwa für einen Mord, die Möglichkeit eines unvermeidbaren Verbotsirrtums, d. h. die Möglichkeit anzuerkennen, daß der Täter ohne Unreditsbewußtsein gehandelt hat, ohne daß ihm das vorzuwerfen wäre. Geben wir hier auch abstrakt die Möglichkeit eines unvermeidbaren Verbotsirrtums zu, so würden wir in concreto doch stets schlicht die Unvermeidlichkeit des Irrtums leugnen, und es ist denn auch kein Fall bekannt, in dem für einen geistig gesunden Mörder ein unvermeidbarer Verbotsirrtum angenommen worden ist. Der thomasische Ansatz erweist sich damit als durchaus berechtigt.

V. Wie läßt sich die eingangs zitierte Stelle aus Quodlibetum I in dieses System einordnen? Daß diese Stelle im Hinblick auf das System einen ausgesprochen exzeptionellen Charakter hat, läßt sich nicht gut bezweifeln. Thomas anerkennt hier, ohne freilich einen Begriff dafür einzuführen, einen unvermeidbaren Verbotsirrtum im heutigen Sinne. Es fragt sich, ob damit nicht das System gesprengt wird, das auf dem Grundsatz der doppelten Bindung beruht. Oder ist Thomas, so muß man sich auch fragen, ähnlich wie in Quodlibetum III 151 nur in seinen Formulierungen zu weit gegangen, zumal sich, soweit ersichtlich, bei ihm keine parallele Stelle findet152? Beides ist jedoch offenbar nicht der Fall und angesichts der sehr genauen Fragestellung und der nüchternen Ausführungen in Quod149 Deshalb ist es audi erklärlich, daß die Auffassung vertreten werden konnte, die ignorantia invincibilis entspreche dem „unvermeidbaren Verbotsirrtum" im heutigen Sinne. 150 Die relativ unbestimmte Umschreibung einer ignorantia invincibilis, daß nämlidi eine soldie ignorantia außerhalb der potestas, der Macht des Irrenden liegen müsse, die zunädist nur auf die furiosi und amentes zugeschnitten ist, wird von Thomas selbst in Quodlibetum I zur Erweiterung benutzt. 151 S. o. Text zu Fußnote 51. ,5S Die in der benutzten Marietti-Ausgabe der Quaestiones Quodlibetales von 1956 bezeichneten angeblichen Parallelstellen befassen sich durchweg nidit mit dem speziellen Problem von Quodl. I q 9 a 3.

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libetum I im Grunde auch nicht zu erwarten. Der Grund für die Anerkennung eines unvermeidbaren Verbotsirrtums in Quodlibetum I liegt vielmehr ersichtlich darin, daß es dort um eine constitutio Papae und damit um ein „positives" Gesetz153 geht, während Thomas sonst — neben den Grundsätzen des christlichen Glaubens, auf die er aber im Rahmen seiner Irrtumslehre nicht im einzelnen eingeht — nicht die „positiven" Gesetze, sondern die lex naturalis im Auge hat, wenn er fragt, ob eine ignorantia entschuldige oder nicht. In bezug auf die lex naturalis aber, zu der vor allem auch die praecepta decalogi gehören154, kann es deswegen keinen unvermeidbaren Irrtum geben, weil der Mensch habitualiter zu ihrer Erkenntnis neigt155, weshalb es eben nur Nachlässigkeit sein kann, wenn er einem Irrtum verfällt. Für die „positiven" Gesetze gibt es eine entsprechende habituelle Hinneigung jedoch nicht, weshalb „positive" Gesetze etwa auch einer formellen Promulgation bedürfen 158 . Trotz redlicher Mühe um ihre Aneignung kann es daher in bezug auf sie einen unvermeidbaren Verbotsirrtum geben. Thomas hat diesen Unterschied offenbar gesehen, und er hat die Konsequenzen daraus gezogen, was auch beweist, daß sein Denkansatz durchaus kein dogmatischer war. Freilich hat er die Lehre vom Irrtum über „positive" Gesetze nicht weiter ausgebaut und vor allem auch nicht in ein Verhältnis zu seiner Lehre vom Irrtum über die lex naturalis gesetzt. Doch steht es der Gegenwart schlecht an, darüber zu rechten. Seit der bekannten Entscheidung aus dem Jahre 1952, in welcher der Bundesgerichtshof157 die Möglichkeit einer Entschuldigung durch einen Verbotsirrtum anerkannt hat, womit der Stand von Quodlibetum I wieder erreicht worden ist, hat die Irrtumslehre in Deutschland in wesentlichen Punkten stagniert. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, daß wir für die Abgrenzung von Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums und damit für die Lösung eben des Problems, das Thomas hinterlassen hat, mit der „gehörigen Anspannung des Gewissens"158 letztlich doch auch nur Formelhaftes zu bieten haben 159 . ,5S Zur Problematik des Begriffs eines „positiven" Gesetzes in Konkurrenz zu einem „Naturrecht" vgl. vom Verfasser, Das Verstehen von Reditstexten, 1972, S. 20 ff. 154 S. o. Text zu Fußnote 137. 155 S. o. Text zu den Fußnoten 100 f. »«• S th I—II q 90 a 4 c und ad 2. 157 Amtlidie Sammlung der Entsdieidungen in Strafsachen Bd. 2 S. 194 ff. 158 Ebenda S. 201. lM Es bedarf wohl kaum eines Hinweises darauf, daß im Vorstehenden nur die Grundzüge, nicht aber das ganze System der teilweise sehr weit ausgebauten Irrtumslehre des Aquinaten dargestellt worden ist.

Rechtsgut, kultureller Wert und individuelles Bedürfnis ERNST-JOACHIM LAMPE,

Bielefeld

Mein Beitrag behandelt das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Kulturanthropologie. Ich will dieses Verhältnis anhand von den vier aufeinander aufbauenden Thesen diskutieren. Die beiden ersten Thesen lauten: 1. Rechtsgüter haben kulturelle Werte zur Grundlage. 2. Kulturelle Werte haben individuelle Bedürfnisse zur Grundlage. Beide Thesen lassen sich als logischer Kettenschluß darstellen: Immer wenn etwas ein Rechtsgut ist, dann ist es audi ein kultureller Wert; und immer wenn etwas ein kultureller Wert ist, dann liegt ihm auch ein individuelles Bedürfnis zugrunde. Daraus folgt logisch, daß jedem Rechtsgut ein individuelles Bedürfnis (oder gleichbedeutend: ein individuelles Interesse) zugrunde liegt — eine Erkenntnis, die sich gelegentlich in den Kommentaren spiegelt und damit ihre auch praktische Brauchbarkeit dokumentiert. So heißt es etwa bei Schönke/Schröder: aus dem Rechtsgüterschutz des § 303 StGB (Sachbeschädigung) müßten solche Gegenstände ausscheiden, an denen der Eigentümer keinerlei Interesse hat 1 . Aus der Logik ergibt sich ferner, daß der Kettenschluß nicht umkehrbar ist — und deshalb auch aus seiner Umkehrung nicht widerlegt werden kann. Denn selbstverständlich richtet sich nicht jedes individuelle Bedürfnis auf einen kulturellen Wert: so das Bedürfnis, sich an der Macht zu berauschen, oder das Bedürfnis, Sachen, die man nicht redlich erwerben kann, kurzerhand zu stehlen. Desgleichen trägt nicht jeder kulturelle Wert ein Rechtsgut: der Wert der Höflichkeit bleibt von der Rechtsordnung meistens unbeachtet, auch stehen weite Bereiche der künstlerischen und wissenschaftlichen Tradition, etwa die Werke der großen Dichter und Denker, rechtsschutzlos da, wenn sie, statt korrekt bewundert, modisch interpretiert oder bearbeitet werden. Die logische Unumkehrbarkeit meiner ersten beiden Thesen zwingt mich allerdings auch, noch zwei weitere Thesen einzuführen, welche jene Zusatzbedingungen nennen, unter denen ein individuelles Bedürfnis zum kulturellen Wert und unter denen ein kultureller Wert zum Rechtsgut erstarkt. Diese beiden Zusatzbedingungen lauten: 1

Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch (16. Aufl., 1972), Dreher, Strafgesetzbuch (33. Aufl., 1972), § 303 Anm. 1 B.

§303

Rdn. 3;

ebenso

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3. Individuelle Bedürfnisse werden zu kulturellen Werten, wenn sie sozial dominant sind. 4. Kulturelle Werte werden zu Rechtsgütern, wenn das Vertrauen in ihren Bestand rechtsschutzbedürftig erscheint. Damit ist sowohl der Gang meiner Darlegungen als auch ihr Ergebnis vorgezeichnet. Es bleibt mir noch, einige Bemerkungen über den logischen Charakter der Begründung für meine Thesen vorauszuschicken. Die Begründung ist pragmatisch. Was dies bedeutet, sei kurz am Gegensatz zur semantischen Begründung veranschaulicht: Nehmen wir z. B. an, ein Wasserhahn tropft. Die Begründung, weshalb er tropft, wird auf den in der Wasserleitung vorhandenen Druck und auf den ungenügenden Gegendruck des Ventiltellers hinweisen, wodurch das allmähliche Entweichen von Wasser aus der Leitung — eben das Tropfen — verursacht wird. Diese Begründung ist semantisch, d. h. sie ist unabhängig von dem, der sie gibt, nicht weniger aber auch von dem, der sie erhält. Behauptet nun derjenige, der die Begründung erhält, er verstehe sie nicht, für ihn bleibe der Vorgang des Tropfens unerklärlich, so wird man ihm vielleicht dieselbe Begründung noch einmal genauer oder mit anderen Worten wiederholen; versteht er dann immer noch nicht, wird man ihn für nicht einmal mäßig intelligent halten, ohne die Begründung als solche in Zweifel zu ziehen. — Anders steht es mit der pragmatischen Begründung. Hier wird die begründende Funktion von Sätzen von vornherein an eine oder mehrere Personen gebunden, für die etwas hinreichender Grund von etwas anderem ist. So kann der Satz „Daß die C D U die letzte Wahl verloren hat, liegt daran, daß sie keine klaren Alternativen zum Programm der Regierungsparteien entwickelt hat" dem einen die hinreichende Begründung für den Mißerfolg der C D U sein, während der andere darin kein genügendes Argument zu erkennen vermag. Das Ausbleiben des Evidenzerlebnisses bei dem anderen wird diesmal aber nicht dazu führen, an seinen Verstandesgaben zu zweifeln, vielmehr kann dem angeführten Grund die Uberzeugungskraft tatsächlich fehlen. Es handelt sich eben nur um eine pragmatisch-argumentative und nicht um eine semantisch-nomologische Begründung wie im Falle des tropfenden Wasserhahnes. Auch meine Begründung der vier angeführten Thesen wird — um nun darauf zurückzukommen — pragmatisch-argumentativ sein. Die Thesen werden also nicht nomologisch bewiesen, sondern topologisch abgestützt. Der Eintritt des Evidenzerlebnisses beim Leser ist kein Beweis für, das Ausbleiben des Erlebnisses kein Beweis gegen seine Intelligenz. Was ich mir gleichwohl erhoffe, ist ein möglichst breites Feld des Konsenses, auf dem es zu einer Einbeziehung von Erfahrungswissenschaft, und zwar hier vor allem der Kulturanthropologie,

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in die wissenschaftliche Diskussion kommen kann. Denn daß diese Einbeziehung nötig ist, wenn die Rechtswissenschaft nicht im Glanz ihrer Dogmatik erstarren will, darüber besteht ja heute weitgehend Einigkeit. Doch damit genug der wissenschaftstheoretischen Vorbemerkungen. Ich wende mich meiner ersten These zu.

1. Rechtsgüter haben kulturelle Werte zur Grundlage Ziel dieser These ist die Begründung von Rechtsgütern aus kulturellen Werten. Dabei soll die Bestimmung, was ein „Rechtsgut" ist, nicht am Anfang, sondern am Ende meiner Ausführungen stehen. Ich führe den Begriff zunächst Undefiniert ein und stelle lediglich ein gewisses Vorverständnis dahingehend in Rechnung, daß es sich beim „Rechtsgut" um einen den Rechtsschutz auslösenden und gleichzeitig begründenden Gegenstand handelt. Die Struktur eines Rechtssatzes kann daher so wiedergegeben werden: „Wenn und weil das Rechtsgut R durch das Verhalten V betroffen wird, dann und deshalb soll die rechtliche Folge F eintreten." Die Behauptung, daß jedes Rechtsgut auf einem kulturellen Wert beruht und nur deshalb rechtliche Folgen zu seinem Schutz auslöst, geht von einem sehr weiten Begriff der Kultur aus2. Max Ernst Mayer3 hat ihn einst so definiert: „Kultur ist wertvoll gewordene Wirklichkeit und darum auch wirklich gewordener Wert." Bringt man ihn weniger feierlich zur Geltung, so kann man sagen: Kultur ist die Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und i. e. S. kulturellen Ordnung einer Gesellschaft. Hiermit ist bereits etwas Wesentliches ausgedrückt: Die Kultur ist ein normatives System, ein System der Ordnung, das den Menschen deshalb umgibt, weil er zur Einpassung in seine Umwelt eines engmaschigen Netzes organisatorischer Regeln bedarf, aus denen er erfährt, was er in welcher Situation zu tun und zu lassen, kurz wie er sich zu benehmen hat — als Fußgänger, als Führer eines Kraftfahrzeuges, als Student, als Kirchgänger, als Ballpartner, als Geschäftsfreund, Duzfreund, Hausfreund, als Ranghöchster, als Rangletzter usw. usw. H a t der Blick dann erst einmal die ungeheure Weite dieses Undsoweiter erfaßt, wird es ihm nicht schwerfallen, selbst in Schützengilden und Züchtervereinen (ganz ohne Ironie übrigens) einen Teil jener festgefügten Kulturordnung zu - Der „Kultur"-Begriff ist nicht feststehend und hat im Laufe der Geschichte erhebliche Wandlungen durchgemacht. 5 M. E. Mayer, Rechtsphilosophie (1932) S. 34.

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sehen, ohne die die Menschheit offenbar nicht bestehen kann. Begründen läßt sich das von zwei Seiten her: Man kann erstens davon ausgehen, daß der Mensch ein soziales Wesen ist. Lebt ein Wesen aber in sozialer Gemeinschaft, so muß es nicht nur für die Anforderungen der natürlichen, sondern auch und gerade für die Anforderungen der sozialen Umwelt ausgerüstet sein. Eine solche Ausrüstung hat die Natur gleichsam in zwei Modellen entworfen: einmal als einen hochgradig auf soziale Anpassungsleistungen spezialisierten Instinktmedianismus — mit ihm sind die Insektengesellschaften ausgerüstet; zum anderen gerade umgekehrt als Reduktion von Instinktgebundenheit — das ist die Ausstattung der Humangesellschaften. Im letzten Fall bedarf es freilich noch eines Auslösers, der die zunächst nur möglidie Anpassungsleistung aktualisiert: diese Funktion übernehmen die kulturellen Normen als Leitbilder für alles menschliche Sozialverhalten, welches sich als wiederholbar und somit allgemein darstellt. Die zweite Begründung für dasselbe Ergebnis geht davon aus, daß der Mensch ein instinktarmes, nicht festgestelltes Wesen ist. Ein solches Wesen ist nicht in die Umwelt eingepaßt, sondern findet seine Einpassung als Aufgabe vor. Da aber die Umwelt als ein „unendliches Überrasciiungsfeld" auf ihn trifft, wird für ihn erst einmal „Orientierung notwendig" 4 : er muß die „Uberraschungsfülle der Eindrücke" reduzieren auf „Reihen leicht übersehbarer Zentren" 5 . Dies geschieht, indem er eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Kulturumwelt schafft, sie aufgliedert, Bezugssysteme errichtet und schließlich sich und anderen systembezogene Rollen zuteilt. Die Rollenaufteilung bringt wiederum die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen mit sich: Man erwartet, daß der andere die ihm zugewiesene Rolle ausfüllt, man verläßt sich darauf, und damit man sich verlassen kann, institutionalisiert man die Rollenerwartungen in kulturellen Normen, so daß sie verläßlich werden. Beide — hier nur stichwortartig vorgeführten — Begründungen des kulturellen Normensystems sind heute im wesentlichen anerkannt. Weniger erörtert und schon deshalb problematischer ist dagegen die Bindung des Rechts an das kulturelle Normensystem. Drei Gründe vor allem, so scheint mir, lassen sich hierfür anführen: ein historischer, ein soziologischer und ein anthropologischer. Historisch gesehen8 entstammen Kultur und Recht einer Wurzel, lange Zeit blieben sie ununterschieden. Erst mit dem allmählichen * Gehlen, Der Mensch (6. Aufl., 1958) S. 140. 5 Gehlen, a. a. O., S. 43. • Vgl. Hoebel, Das Redit der Naturvölker (1968) S. 367 ff.

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Zerfall der kulturellen Einheit in Bluts- und Kultgemeinschaften, in Interessengruppen und Herrschaftsverbände usf. vergrößerten sich die sozialen Gegensätze, und es kam zur Herausbildung einer streng formalen, „publizitären", „zeremoniellen" Ordnung, die gegenüber den allgemeinen Gewohnheitsregeln mit höheren Garantien, insbesondere mit allgemein anerkannten Sanktionen ausgestattet wurde: eben der Rechtsordnung. Wohlgemerkt — nicht der Inhalt der kulturellen Ordnung änderte sich, sondern ein Teil dieser Ordnung nahm eine besondere Form an: die Form des Rechts und da insbesondere die des Gesetzes und des Rechtsgeschäfts. Aneignung i. S. des täglichen Lebens wurde zur gesetzlich geregelten Eigentumsbegründung, Tausch i. S. des täglichen Lebens wurde zum rechtsgeschäftlichen Vertrag. Die Rechtsordnung nahm anstelle der Kulturordnung das soziale Leben allmählich in ihre Zange — „der Gestalt der sozialen Sachverhalte nach Kräften angepaßt, um diese packen und rechtlicher Behandlung zuführen zu können" 7 . Wie aber das Recht aus der Kultur hervorging, so blieb es auch an sie gebunden. Damit komme ich zum zweiten, zum soziologischen Argument. Jede Entbindung des Rechts von den Normen der Kultur, von ihren Gewohnheitsregeln und ihrem Brauchtum, würde die Komplexität der sozialen Ordnung erhöhen. Die Rechtsnormen würden neben die Kulturnormen treten und zusätzliche Bezugssysteme schaffen, die sich mit denen der Kultur vielfältig überschnitten; Unsicherheit und Ratlosigkeit im gesellschaftlichen Handeln wären die Folgen. Zwar würde auf einigen Gebieten die formale K r a f t des Rechts, sein Zwangscharakter, ausreichen, um die kulturellen Normen zu verdrängen oder zu verändern; insgesamt aber könnten die kulturfremden Rechtsregeln sich nicht einleben und würden durch Sitte und Gewohnheit wieder verdrängt — zunächst vielleicht nur faktisch, schließlich aber auch de iure 8 . Zwei Beispiele sollen das erläutern: Bei der Kolonialgesetzgebung der europäischen Weltmächte forderte die Übertragung des mutterländischen Rechts auf die Kolonialgebiete die Anpassung an das Eingeborenenrecht — vor allem dort, wo die Eingeborenen in die Anwendung einbezogen wurden. Die meisten Gesetze, welche europäisches Recht in den Kolonialgebieten einführten, versahen deshalb die Rezeption von vornherein mit der Klausel: das europäische Recht solle nur gelten, soweit es mit den örtlichen Verhältnissen vereinbar sei. Fehlte die Klausel aber einmal, wie z. B. in Kanada und teilweise in Indien, dann machten die Gerichte ausnahmslos kraft einer Usance 7 8

Radbruch, Rechtsidee und Reditsstoff, in A R W P Bd. 17 (1924) S. 343. Vgl. W. Arnold, Cultur und Rechtsleben (1865) S. 199 ff.

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davon Gebraudi. Wie notwendig dieses eigenmächtige Verfahren der Gerichte war, zeigt sich darin, daß — mit oder ohne Klausel — die Anpassung oft so stark wurde, daß an die Stelle des europäischen Rechts überhaupt das Eingeborenenrecht trat, und zwar mit der lapidaren Begründung: es werde den Verhältnissen der Eingeborenen am besten gerecht9. — Ein anderes Beispiel, diesmal nicht räumlicher, sondern zeitlicher Anpassung an veränderte kulturelle Auffassungen, stellt die deutsche Rechtslage nach 1945 dar. Nach dem Grundsatz cessante ratione legis cessat lex ipsa wurde ein Teil des nationalsozialistischen Rechts von den Gerichten nicht mehr angewendet, weil es mit dem neuen Kulturbewußtsein, vor allem mit der demokratisch-rechtsstaatlichen Auffassung nicht übereinstimmte. Legitimiert wurde die Nichtanwendung durch ein Naturrechtsbewußtsein, welches die Geltung abendländischer Kultur- und Rechtsprinzipien höher stellte als die Geltung der abweichenden Gesetze10. Beide Beispiele zeigen, wie sehr sich das Recht der jeweiligen kulturellen Ordnung eines Volkes anpassen, wie weitgehend es jeweils vorhandene Sozialstrukturen aufnehmen muß, um sozial effektiv zu sein. Idi gehe nun weiter und behaupte, daß ein Recht, welches diese Aufgabe nicht leistet, ein auch anthropologisch unrichtiges Recht ist. Zur Begründung weise ich auf die allgemeine Entlastungstendenz im menschlichen Organismus hin, welche zu möglichst einfachen, prägnanten, schon immer erfahrenen Ordnungen drängt. Schon immer erfahren aber sind die vorgefundenen kulturellen Verhaltensnormen, welche sich desto intensiver einprägen, je einfacher und je prägnanter sie sind. Deshalb widersprechen Rechtsnormen der menschlichen Natur um so mehr, je stärker sie die Grundlagen seiner Kultur verändern wollen. Sie werden als hemmend, bedrückend, autoritär, ja unrichtig empfunden und deshalb entweder nur als „formal" verbindlich ins Rechtsbewußtsein aufgenommen oder aber vollständig abgelehnt. Kultur- und Rechtsbewußtsein müssen — so der rechtsanthropologische Grundsatz — übereinstimmen; wir können kein Kulturbewußtsein ohne entsprechendes Rechtsbewußtsein, kein Rechtsbewußtsein ohne entsprechendes Kulturbewußtsein entwickeln. Von den möglichen Einwendungen gegen diesen Grundsatz will ich an dieser Stelle nur einen berühren. Er besagt, daß nicht nur, wie bisher beschrieben, Recht auf Kultur, sondern auch Kultur auf Recht beruhe. Jede Kultur sei wandelbar, und als Mittel zum Zweck, einen kulturellen Wandel herbeizuführen, könne auch das Recht eingesetzt 9

Wengler, Die Nichtanwendung nationalsozialistischen Rechts im Lichte der Rechtsvergleichung und der allgemeinen Rechtslehre, in JR 1949/67 (68). 10 Wengler, a. a. O. S. 69.

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werden (Stichwort: „revolutionäres Recht"). Beispiel seien die Änderungen der Eigentumsordnung, die tief in die kulturelle Ordnung eingriffen und zumeist durch Rechtsgesetz gegen vorhandene kulturelle Beharrungstendenzen erzwungen würden. Dieser Einwand verkennt, daß eine die vorhandene Kultur ändernde Strömung, welche das Recht als Mittel zur Änderung einsetzt, ihrerseits auch kulturell begründet ist. Denn die Kultur ist nicht statisch; sie erneuert sich selbst und nimmt hierfür nach Bedarf auch ihre strengste Form, das Recht, in Anspruch. Weder verharrend noch sich wandelnd sind Recht und Kultur also einander Gegensätze — selbst dann nicht, wenn einmal die Wandlung von Kultur und Recht nicht mit gleicher Dynamik und deshalb nicht genau parallel zueinander vorangetrieben wird 11 . Insgesamt allerdings wird sogar die Parallelität von Kultur und Recht der normale Zustand sein. Deshalb ist es verständlich und richtig, wenn die Rechtsdogmatik ihn einfach mutmaßt und, etwa im Strafrecht, für die Erkenntnis von normativen Tatbestandsmerkmalen die „Parallelwertung in der Laiensphäre" genügen läßt. Gelehrt wird, der Täter müsse die Tatbestandsmerkmale nicht juristisch-exakt qualifizieren, es genüge vielmehr, „wenn er Kenntnis davon hat, welche besondere Bedeutung und Funktion die mit den Begriffen bezeidineten Sachverhalte im sozialen Leben besitzen, auf denen auch ihre juristische Einschätzung im Gesetz beruht" 12 . Am Beispiel verdeutlicht: Was juristisch eine Urkunde ist, braucht der Täter nicht zu wissen; aber er muß wissen, daß das Schriftstück, welches er fälscht, im sozialen Leben beweiserheblich ist. Fehlt ihm diese Kenntnis „des sachlichen Bedeutungsgehalts im sozialen Leben" 13 , so handelt er unvorsätzlich. Worauf aber beruht nun der „sachliche Bedeutungsgehalt im sozialen Leben", worauf beruht der kulturelle Wert eines Gegenstandes? Hierzu lautet meine zweite These:

2. Kulturelle Werte haben individuelle Bedürfnisse zur Grundlage Zur Begründung dieser These gehe ich zunächst — in Ubereinstimmung vor allem mit der anglo-amerikanischen Literatur 14 — davon aus, daß Werte nicht anschaulich gegeben, sondern nur durch Beobach" Vgl. dazu auch H. Steinwenter, Recht und Kultur (1958) S. 18 ff. « Welzel, Das Deutsche Strafrecht (11. Aufl., 1969) § 13 IV (S. 76). >» Welzel, a. a. O. 14 Vgl. Rudolph, Die amerikanische „Cultural Anthropology" und das Wertproblem (1959) S. 124 ff.

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tung menschlichen Verhaltens (dies allerdings im weitesten Sinne verstanden) zu erschließen sind. Werte müssen auf den Menschen als biologisches, gesellschaftliches und kulturelles Wesen bezogen, sie müssen in irgendeiner Form in seinen Motivationsprozessen aufgefunden werden. Da Motivationsprozesse aber nicht nur durch Wertvorstellungen (etwa moralischer Art), sondern auch durch Bedürfnisse (etwa leiblicher Art) beeinflußt werden, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Bedürfnisse und Werte (um mit Brecht zu sprechen: „Fressen und Moral") zueinander stehen. Zur Beantwortung dieser Frage öffnen sich zwei Wege. Der erste führt von der Feststellung aus, daß der Mensch ein instinktarmes, nicht festgestelltes Wesen ist. Bei einem solchen Wesen ziehen die Bedürfnisse das ihrer Befriedigung dienende Verhalten nicht unmittelbar und unausweichlich nach sich, sondern sie fordern lediglich auf, aus einer freigegebenen Welt von Möglichkeiten das befriedigende Verhalten zu wählen. D a eine solche Wahl aber nicht möglich ist, ohne daß Maßstäbe hierfür vorliegen, müssen die realen Möglichkeiten mit Vorzugswerten in Verbindung gebracht werden, die einige von ihnen als die Bedürfnisse des Handelnden befriedigend, die anderen als weniger befriedigend kennzeichnen. Das Ergebnis des ersten Weges ist also: Die kulturellen Werte werden durch individuelle Bedürfnisse als Vorzugswerte begründet (: „erlaubt ist, was gefällt"). — Der zweite Weg führt von der Feststellung aus, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, d. h. ein Wesen, welches die Befriedigung seiner Bedürfnisse nur in Kommunikation mit anderen findet. Von diesem Ausgangspunkt her läßt sich folgern, daß die Bedürfnisse des Menschen eine auf die Gesellschaft bezogene Formbarkeit besitzen, daß sie „soziabel" sind. Diese Soziabilität wird durch Lernvorgänge soweit aktualisiert, daß an die Stelle der beim Menschen reduzierten Instinkte kulturelle Werte treten, welche das Handeln in Führung nehmen. Das Ergebnis ist: Die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse wird durch kulturelle Werte geleitet (: „erlaubt ist, was sidi ziemt"). Betrachten wir nun das auf beiden Wegen erreichte Gesamtergebnis, so erscheint es in gewisser Weise dialektisch: Einerseits formen die individuellen Bedürfnisse die kulturellen Werte, weil jeder kulturelle Wert eine Befriedigungsfunktion für individuelle Bedürfnisse markieren muß; andererseits formen aber auch die kulturellen Werte die individuellen Bedürfnisse, weil sie sie mit immanenten kulturellen Richtungsweisern versehen. Ich will jetzt weder versuchen, diese Dialektik stärker herauszuarbeiten noch sie gar aufzulösen; vielmehr will ich mich dem Rechtsbereich zuwenden, wo sie sich ebenfalls auffinden läßt.

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Unsere Rechtsordnung wird bekanntlich durchzogen von den Ausstrahlungen einer Anzahl von Grundrechten, die ihrerseits nichts anderes darstellen als die verfassungsrechtliche Anerkennung grundlegender menschlicher Bedürfnisse: die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Ehe und Familie und auf Eigentum mögen als Beispiele dienen. Diesen Grundrechten muß einerseits die gesamte Rechtsordnung Chancen zur Verwirklichung bieten; sie enthalten, wie allgemein anerkannt wird, verbindliche Wertungsmaßstäbe für die Auslegung und Fortbildung der gesamten Rechtsordnung 15 . Andererseits aber werden ebendiese Grundrechte durch die Kulturordnung qua Rechts- und Sittenordnung wiederum immanent begrenzt, weil die Ausübung aller Rechte in einer sozialen Gemeinschaft, also auch der Grundrechte, nicht schrankenlos sein kann, sondern die dort herrschenden Ordnungsregeln beachten muß 16 . Gleichsam dialektisch läuft also der Ausstrahlung der Grundrechte in die Rechtsordnung eine Ausstrahlung der Rechts- und Sittenordnung in die Grundrechte entgegen. Am Beispiel des Art. 2 Abs. 1 GG nochmals verdeutlicht: Der grundrechtliche Schutz des Bedürfnisses nach freier Entfaltung der Persönlichkeit durchzieht die gesamte Rechtsordnung und bestimmt als Richtwert die Auslegung ihrer Normen. Wie aber die Persönlichkeit sich entfalten darf, das bestimmt nicht sie selbst, sondern die Kulturordnung, der sie angehört und die sich in der geltenden Rechtsordnung (der „verfassungsmäßigen Ordnung") und im „Sittengesetz" niederschlägt. Somit wirkt nicht nur das Grundrecht bestimmend auf die Rechtsordnung, sondern die Kulturordnung als Rechts- und Sittenordnung auch auf das Grundrecht. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber [zu ergänzen; und das Sittengesetz] zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens . . . zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt 17 ." Ich kann aus Raumgründen bei diesem vielschichtigen Problem nicht länger verweilen, sondern muß mich der sich hieran anschließenden Frage zuwenden, unter welcher Voraussetzung menschliche Bedürfnisse bestimmende Bedeutung für kulturelle Werte erlangen und somit in die Rechtsordnung ausstrahlen. Hierzu lautet meine dritte These: 15 Aus der Rechtsprechung vgl. BVerfGE 7/198 (205 ff.), 25/156 (263); nodi weitergehend BAG 1/185 (191 ff.), 13/168 (174 ff.). " Hamel, Deutsches Staatsrecht I (1971) S. 81 ff., 100 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsredlts in der BRD (3. Aufl., 1969) S. 123 ff. 17 BVerfGE 4/7 (158); 30/1 (20).

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3. Individuelle Bedürfnisse werden zu kulturellen Werten, wenn sie sozial dominant sind Zur Begründung gehe ich von dem Ergebnis aus, welches die Diskussion meiner zweiten These erbracht hat und welches ich noch einmal zusammenfasse: Kulturelle Werte haben individuelle Bedürfnisse zur Grundlage, denn kulturelle Werte kennzeichnen Befriedigungsfunktionen für individuelle Bedürfnisse; aber die individuellen Bedürfnisse sind ihrerseits auch kulturell fundiert, weil sie infolge ihrer Soziabilität der Ergänzung durdi Kulturnormen bedürfen. Wenn ich jetzt innerhalb dieses gegenseitigen Fundierungsverhältnisses von Bedürfnissen und Werten noch zusätzlich die einseitig bestimmende Funktion von Bedürfnissen auf Werte herauszuheben versuche, dann kann dies allenfalls in dem Umfang geschehen, daß ich auf Bedürfnisse hinweise, die so stark, so sehr im Wesen des Menschen verwurzelt sind, daß jede Kultur ihre Wertordnung auf sie anlegen muß. Die Begründung kultureller Besonderheiten bleibt also hier unerörtert. Gibt es nun solche für „den" Menschen wesentliche Bedürfnisse? Wir alle wissen, daß zumindest jeder Einzelne Bedürfnisse in sich trägt, die ihm wesentlich sind, die ihn prägen, die seinen Charakter bestimmen und die ihn erst frei lassen, wenn er ihnen Genüge getan hat. Ich will hierauf nicht weiter eingehen. Denn von diesen den Einzelnen charakterisierenden Bedürfnissen sind jene Bedürfnisse zu unterscheiden, die den Charakter des Menschen als solchen prägen. Sie sind zwar auch beim Einzelnen vorhanden (wenn auch nicht notwendig bei jedem Einzelnen), besitzen darüber hinaus aber — und das ist hier entscheidend — eine überindividuelle, ubiquitäre Qualität, welche uns berechtigt, in ihnen Kennzeichen des menschlichen Wesens zu sehen. Man bezeichnet sie als Grundbedürfnisse. Beispiel eines solchen Grundbedürfnisses ist die Selbsterhaltung18, welche sich am schärfsten ausprägt im Bedürfnis, am Leben zu bleiben — und zwar nicht nur individuell als Einzelner, sondern auch überindividuell als Sippe, Stamm, Volk oder Nation. Dieses Grundbedürfnis ist in allen menschlichen Gemeinschaften sozial-dominant — und es wird deshalb, wie uns Kulturvergleiche lehren, auch von jeder kulturellen Ordnung als Wert anerkannt. Ausnahmen sind nur dort bekanntgeworden, wo Kulturen von außen zerstört und so die Wechselbeziehung zwischen Kultur und Bedürfnis vernichtet wurde: etwa bei einigen Gruppen von Melanesiern und Polynesiern, in deren Territorium und Kultur die Weißen eingriffen und die daraufhin nach kur18

Hierzu Klineberg, Social Psydiology (1940) S. 119 f.

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zer Zeit ausstarben, weil sie als Gemeinschaft nicht mehr das Bedürfnis verspürten, am Leben zu bleiben. Von solchen Ausnahmen abgesehen aber berechtigt das Bedürfnis nadi Selbsterhaltung überall nicht nur den Einzelnen zur Notwehr gegen gefährdende Angriffe, sondern es verpflichtet als Wert auch überall Stamm, Volk oder Nation zum Überleben. Die zuletzt genannte Uberlebensverpflichtung umfaßt dann noch näher die kulturelle Verpflichtung zur Fortpflanzung, zur Sorge für die Entwicklung einer gesunden und leistungsfähigen Jugend sowie zur Erhaltung des nötigen Lebensraumes, etwa durch Verteidigung gegen äußere Feinde. Auf unser eigenes heutiges Kulturbewußtsein bezogen: Wir halten uns für kulturell verpflichtet, zumindest eine Konstanz der Geburten zu gewährleisten, Familien mit Kindern staatlich zu fördern (etwa im Rahmen der Steuergesetzgebung), Ausbildungs- und Sporteinrichtungen zu schaffen sowie ein Heer zur Verteidigung der Staatsgrenzen zu unterhalten. Neben das Grundbedürfnis nach Selbsterhaltung tritt noch eine Anzahl weiterer Bedürfnisse, die ebenfalls ubiquitären Charakter und damit kulturbestimmende Bedeutung besitzen. Ich kann sie hier nicht einzeln namentlich aufführen und brauche es auch deshalb nicht zu tun, weil ich bereits im ersten Band meiner „ Rechtsanthropologie" — und zwar im Anschluß an den gegenwärtigen Stand der psychologischen Motivationsforschung — ein System von Grundbedürfnissen entwickelt habe, welches die drei großen Themenkreise im menschlichen Leben: vitale Entfaltung und vitaler Kontakt, personale Entfaltung und sozialer Kontakt, metaphysische Entfaltung und existenzielle Integration, schwerpunktartig abdeckt 19 . An dieser Stelle ist lediglich eine Einschränkung anzubringen, welche die kulturbestimmende Kraft all dieser Grundbedürfnisse betrifft: jene kulturbestimmende Kraft ist zwar ausnahmslos vorhanden, jedoch ambivalent. Ein Blick auf die christliche Ethik, aber auch auf die Ethik fast aller anderen höheren Kulturen zeigt nämlich, daß es durchaus als Ziel des Menschen angesehen werden kann, elementaren Bedürfnissen gerade nicht oder nicht mehr als unumgänglich Genüge zu tun. Der Befriedigung des Besitz-, Liebes- und Machtstrebens stellen sich dann „Armut, Keuschheit und Gehorsam" als Leitwerte wahrhaft menschlicher Lebensgestaltung entgegen und wandeln den natürlichen Wert der Bedürfnisbefriedigung zum sittlichen Laster. Nicht in der Lust, so heißt dann die Ordo, sondern in ihrer Uberwindung liege die menschliche Aufgabe, seien Wert und wahres Glück der Menschen enthalten! — Ich kann mir natürlich nicht anmaßen, über ein so schwieriges ethisches Problem, wie es damit aufgeworfen wird, gewissermaßen im 19

Lampe, Rechtsanthropologie I (1970) S. 230 ff., 269 ff.

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Vorübergehen zu urteilen; ich stelle hier nur fest, daß kulturelle Werte durch die Ubiquität von Bedürfnissen offenbar noch nicht vollständig determiniert sind, sondern daß die „soziale Dominanz" als Kriterium für das wertvoll Werden von Bedürfnissen zusätzlich von einer aus den Bedürfnissen nidit ableitbaren Wertauszeichnung abhängt — von einer spezifisch kulturellen Auszeichnung also, weldie die Bedürfnisbefriedigung über ihre Bedeutung als allgemein Gewünschtes hinaushebt und ihr den Charakter des Wünschenswerten verleiht 20 . Wiederum scheint hier die dialektische Spannung zwischen Bedürfnis und Kultur auf. Wie aber verhält sich nun das Recht innerhalb dieses Spannungsverhältnisses? Ist es zur Stellungnahme aufgerufen und wenn ja, wie nimmt es Stellung? Hierzu lautet meine vierte und letzte These:

4. Kulturelle Werte werden nur dann zu Rechtsgütern, wenn das Vertrauen in ihren Bestand rechtsschutzbedüftig erscheint Das Schwergewicht dieser These liegt im Begriff des Vertrauens, der hier speziell im Sinne eines Wertvertrauens zu begreifen ist: Nicht jeder kulturelle Wert erstarkt zum Rechtsgut, sondern nur derjenige, auf dessen Bestand man im sozialen Handeln vertraut. Zur Begründung greife ich auf die Ergebnisse zurück, welche die Diskussion meiner ersten These erbracht hat: Die Kultur, so hieß es dort, ist ein Normensystem, welches Rollenerwartungen institutionalisiert und dadurch verläßlich gestaltet. Das Vertrauen baut auf dieser durch die Kultur geschaffenen Lage auf; denn man vertraut dem, was man erwartet: beispielsweise, daß der Erklärende das Erklärte will, oder daß der Verkäufer eines Zentners Äpfel Eßäpfel mittlerer Art und Güte und nicht Pferdeäpfel oder halb verfaultes Obst liefert. Das Vertrauen richtet sich also auf das nach kultureller Anschauung Normale; normal ist aber und als normal gilt der von der Kultur geschaffene Zustand. Zweierlei ist damit gesagt: Einerseits, daß Vertrauen erweckend nicht ein kulturell erstrebter, sondern nur ein kulturell bestehender Zustand ist. Weichen daher erstrebter und bestehender Zustand voneinander ab, so ist der bestehende Zustand maßgeblich. Als Beispiel diene die voreheliche Keuschheit. Ich weiß nicht, ob sie heute über20 Vgl. dazu V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen (2. Aufl., 1951) S. 222 ff.

Wertlehre

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haupt noch als kulturell erstrebenswert anerkannt ist; jedenfalls kennzeichnet sie gewiß nicht den in Deutschland bestehenden Zustand. Deshalb kann das deutsche Recht die geschlechtliche Enthaltsamkeit vor der Ehe, selbst wenn sie kulturell normiert ist, nicht zur erwartbaren wesentlichen Eigenschaft eines Ehepartners machen. Andere Menschen, andere Sitten; andere Sitten, anderes Recht! Dasi gilt auch in zeitlicher Hinsicht. Der Irrtum über einen vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht nur des Mannes, sondern (entgegen der Rechtsprechung21) auch der Frau begründet heute nicht mehr die Aufhebung der Ehe nach § 32 EheG. Ist somit einerseits nur ein bestehender Zustand geeignet, Vertrauen zu erzeugen und damit Rechtsschutz zu erlangen, so hat andererseits doch nicht jeder bestehende Zustand diese Folge. Denn nidit jede bestehende Sitte ist eine gute Sitte! Mißbräuche, mögen sie noch so verbreitet sein, verdienen den Schutz des Rechts nicht. So wird die Dirne, obwohl gewohnt, entlohnt zu werden, keinen Rechtsanspruch auf Lohn für ihre Dienste erwerben können, solange diese Dienste den guten Sitten einer Kultur widersprechen. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß bei einem Widerstreit zwischen Bedürfnis und Kultur das Recht nicht einseitig Stellung beziehen darf. Vielmehr ist ihm aufgegeben, wie anderwärts so auch hier das rechte Maß zu finden, um einerseits den individuellen Bedürfnissen (und Interessen22) soweit wie möglich, andererseits den kulturellen Anforderungen soweit wie nötig Rechnung zu tragen. Das gilt auch für die Aufnahme der kulturellen Werte in den Friedensbereich der Rechtsgüter. Kulturelle Werte werden also zu Rechtsgütern, wenn sie im Leben einer Gemeinschaft Bestand haben und die Allgemeinheit auf ihren Bestand vertraut. Hinzutreten muß dann noch ein weiteres: daß sich die kulturellen Werte als des Rechtsschutzes bedürftig erweisen. Die Forderung nach einem solchen Schutzbedürfnis ergibt sich aus der formalen Eigenständigkeit der Rechtsordnung gegenüber der kulturellen Ordnung. Inhaltlich zwar 21 RGZ in JW 35/3095; vgl. auch die heutige Rechtsprechung zu § 1300 BGB: BGHZ 20/195 (196); 28/375 (383); ferner BGHSt. (GS) 6/46 (54). Wie hier ausdrücklich Gernhuber, Lehrbuch des Familienredits (2. Aufl., 1971) § 14 III 4 (S. 122 F N 10). !2 Auf die „lnteressenjurisprudenz" kann idi hier selbstverständlich nicht eingehen, möchte aber darauf hinweisen, daß sie vielfach über der (berechtigten) Heraushebung der Interessen die leitenden Gesichtspunkte für die Bewertung der Interessen in der Kultur- und Rechtsordnung vernachlässigt hat. Vgl. etwa Coing, System, Gesdiidite und Interesse in der Privatreditswissensdiaft, in JZ 1951/481 (485): „Die moralischen Werte von Gleichheit, Vertrauen, Achtung vor der Personenwürde sind nidit irgendwelche Interessen neben anderen: sie sind vielmehr die eigentlich entscheidenden Ordnungselemente des Privatrechts."

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gleichen Werte und Rechtsgüter einander: Werte sind Legimitationsgründe für kulturelle Normen und ihre soziale Sanktion; Rechtsgüter sind Legitimationsgründe für Rechtsnormen und ihre staatliche Sanktion. Formal indessen sind sie verschieden; denn das Recht ist gegenüber der Kultur die strengere, die zwangsbewehrte Ordnung. Deshalb muß ein kultureller Wert des zusätzlichen Schutzes durch staatlichen Zwang bedürfen, um zum Rechtsgut zu erstarken. Genauer definiert sind Reditsgüter daher diejenigen kulturellen Werte, auf deren Bestand die Allgemeinheit vertraut und zu deren Schutz sie den Einsatz von Zwang für erforderlich hält 23 . Eine letzte Einschränkung ist freilich auch hier noch anzubringen: sie betrifft die legitimierende Wirkung der Rechtsgüter für die staatliche Sanktion. Seit sich das Recht als formales Instrument von der Kultur emanzipiert hat, ist die legitimierende Wirkung in vielen Bereichen immer entfernter, immer mittelbarer geworden, während die unmittelbare Legitimation für die Sanktion immer mehr aus der Normverletzung entnommen wird. So wird beispielsweise die Stabilität der Währung heute als Rechtsgut anerkannt, ohne daß sich jedoch Sanktionen an ihre Verletzung anschlössen. Sie ist, wie sich aus § 3 Bundesbankgesetz ergibt, zwar das Ziel, nicht aber der Inhalt rechtlicher Regelung; Inhalt der rechtlichen Regelung sind Geldumlauf und Kreditversorgung, also die Mittel, mit denen die Währungsstabilität erreicht wird. Damit schiebt sich eigenständig zwischen das Rechtsgut und die Sanktion die Norm. Ihr Tatbestand ist nicht mehr — oder jedenfalls nicht mehr allein — die ratio cognoscendi eines materiell begriffenen Unrechts, sondern weit stärker die ratio essendi einer formell begriffenen Rechtsordnungswidrigkeit. Allgemein gesprochen: Das Recht unterliegt kultureller Bindung dann und deshalb nicht, wenn und weil es als formales Instrument zur Ordnung eines Bereichs eingesetzt wird, der infolge seiner hochgradigen Differenziertheit durch die kulturelle Ordnung nicht oder nicht vollständig erfaßt werden kann, gleidiwohl aber im Interesse der sozialen Gemeinschaft der Ordnung bedarf 24 . In diesem Augenblick aber, wo das Rechtsgut in den Hintergrund tritt und der Norm die Legitimation für die Sanktion überläßt, erreicht die kulturanthropologische Betrachtungsweise ihre Grenze. 23 Mit der lange vernachlässigten Reditsgutlehre beschäftigen sich jetzt drei ausführliche Monographien: Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut". Prolegomena einer materialen Verbrechenslehre (1972); Amelung, Rechtsgütersdiutz und Schutz der Gesellschaft (1972); Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973). 24 Es kann deshalb insofern auch nicht durch kulturelle Regeln ergänzt werden. Vgl. OLG Freiburg in NJW 1952/886 (887): „Es ist richtig, daß die Ausfüllung einer Gesetzeslücke durch rechtsfortbildende Analogie dann nicht möglich ist, wenn

Reditsgut, kultureller Wert und individuelles Bedürfnis

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Und da mein Beitrag auch seine räumliche Grenze erreicht hat, möchte ich schließen. Nicht daß alles gesagt wäre, was zu dem vielschichtigen Verhältnis von Recht, Kultur und Bedürfnis zu sagen ist; nur allzu gut weiß ich, daß die hier gegebene pragmatische Begründung der vier Thesen sich einer semantischen wenigstens noch annähern ließe. Gleichwohl haben, so hoffe ich, bereits die bisherigen kurzen Ausführungen gezeigt, daß die Rechtswissenschaft künftig — wie Hans Welzel, der verehrte Jubilar, schon 1935 gefordert hat — „durch die gesetzlichen Begriffe hindurch zu den konkreten realen Lebensgestaltungen wird hinabsteigen müssen. Wie das, was rechtlich geordnet ist, nur Stück und Teil unseres realen Lebens ist, so ist die Art, wie es geordnet ist, d. h. das spezifische Rechtliche daran, Niederschlag einer konkreten Werthaltung, die niemals aus allgemeinen Wertbegriffen heraus konstruiert werden kann. Gerade weil die Rechtsordnung in doppelter Hinsicht ,Lebensordnung' ist, nämlich einmal in ihrem Gegenstand (dem rechtlich zu ordnenden Material), und zweitens in ihrem Inhalt (der Art, wie sie das Material ordnet, als Ausdruck konkreten Lebensstils), deshalb braucht sie sich nicht erst nachträglich dem Leben anzuschmiegen"25. Der Geist der Kultur ist also auch der Geist der Gesetze. Und es ist, um mit Montesquieu zu sprechen, der Geist der Gesetze, der dann die rechtliche Ordnung schafft26.

das lückenhafte Gesetz keine echte, also auch vom Reditsgefühl getragene Rechtsnorm, sondern lediglich Richtungs- (oder Ordnungs-)Norm ist. Denn die vom Gesetz geschuldete Antwort kann nidit — oder wenigstens nidit mit hinreichender Bestimmtheit — aus der bestehenden Reditsordnung, und auch nicht aus dem Reditsbewußtsein heraus gegeben werden." Vgl. dazu auch Riezler, Das Rechtsgefühl (3. Aufl., 1969) S. 137 ff. " Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafredit (1935) S. 75. 26 Vgl. Montesquieu, De l'esprit des lois (1748) I 3.

Rechtsinformatik und juristische Tradition HERBERT FIEDLER, Bonn

Die Rechtsinformatik tritt heute als neues Glied in den Kreis juristischer Methoden und Disziplinen. Das große Gewicht und der rasche Fortschritt der Datenverarbeitung in Recht und Staat verleihen ihr dabei eine praktische Bedeutung, die eine rasche Entwicklung auch von Forschung und Lehre verlangt und erwarten läßt. D e m gegenüber ist das nur recht begrenzte Interesse zu beklagen, welches traditionelle Jurisprudenz und Rechtsinformatik bis jetzt füreinander haben aufbringen können 1 . Mitbegründet ist dies vielleicht durch eine A r t von wissenschaftstheoretischem Isolationismus der traditionellen Rechtswissenschaft, der aber angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung rational-exakter Methoden immer mehr zu einer Rückzugsposition zu werden droht. Gerade die Datenverarbeitung ist das wichtigste Vehikel dieser zunehmenden Bedeutung, indem sie nicht nur die wissenschaftliche Anwendung rational-exakter Methoden fördert oder überhaupt erst ermöglicht, sondern diese zunehmend in die Konstituierung gesellschaftlicher Verhältnisse selbst einbringt. In diesem Sinne versteht sich auch die Rechtsinformatik als partikularer Exponent der universellen Bedeutung einer rationalen Einstellung und

1 Speziell zum Verhältnis von Recht und Juristen zur Datenverarbeitung wären immerhin etwa zu nennen: Zeidler, Uber die Technisierung der Verwaltung, Karlsruhe 1959, mit der daran anschließenden Diskussion, insbes. Bull, Verwaltung durch Maschinen, 2. Aufl. Köln 1964; Fiedler, Rechenautomaten als Hilfsmittel der Gesetzesanwendung, Deutsche Rentenversicherung 1962, 149; Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. Berlin 1966; Simitis, Rechtliche Anwendungsmöglichkeiten kybernetischer Systeme, Tübingen 1966; ders., Automation in der Rechtsordnung, Karlsruhe 1967; ders., Informationskrise des Rechts und Datenverarbeitung, Karlsruhe 1970; ders., Computer, Sozialtechnologie und Jurisprudenz, Referate und Mitteilungen des Schweizer. Juristenvereins, H. 3, Basel 1972; Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966; Podlech, Anforderungen der Kybernetik an die Rechtswissenschaft, Recht und Politik 1967, 87; ders., Anforderungen der Kybernetik an die Juristen, Recht und Politik 1968, 21; ders., Logische Anforderungen kybernetischer Systeme an ihre Anwendung auf Rechtssätze, BB 1968, 106; ders., Rechtskybernetik — eine juristische Disziplin der Zukunft, Juristenjahrbuch 1969/70, 157; Jähnig, Automation in der öffentlichen Verwaltung, DÖV 1970, 465; Raiscb, Überlegungen zur Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen in der Gesetzgebung und im Rechtsfindungsprozeß, JZ 1970, 433; Steinmüller, Reditstheorie, Reditsinformatik und Rechtspolitik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. II, Düsseldorf 1972, 373; Ruckriegel, Quo vadis, ADV? ÖVD 1973, 3. Mehr oder weniger implizit enthält natürlich die ganze neuere Litratur der Rechtsinformatik Beiträge zu diesem Thema.

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Herbert Fiedler

Methodik, deren Unverzichtbarkeit auch für Recht und Rechtswissenschaft gerade von Welzel betont worden ist. Im folgenden sollen behandelt werden: Der Entwicklungsstand von Datenverarbeitung, Informatik und Rechtsinformatik (I); die Notwendigkeit der Datenverarbeitung in Recht und Staat (II); Ansatz und Gliederung der Rechtsinformatik (III); Elemente juristischer Tradition und Wissenschaftstheorie (IV); Verbindungslinien zwischen traditioneller Jurisprudenz und Rechtsinformatik (V).

I. Entwicklungsstand von Datenverarbeitung, Informatik und Rechtsinformatik Nach ihrem gesellschaftlichen Stellenwert bedeutet Datenverarbeitung nicht nur „Rationalisierung", sondern den Übergang zu einer neuen Stufe der Rationalität. Es geht hier nicht nur um die Perfektionierung eines speziellen Instruments („Rechenmaschine"), sondern allgemein um eine neuartige Mobilisierung des „objektiven Geistes" im Bereich des Präzisierbaren, um die Automatisierung exakten „Denkens" im objektiven Sinne („Informationsverarbeitung"). Durch Datenfernverarbeitung und Realzeitbetrieb schließen sich heute die Computer zu intelligenten Netzen zusammen. Sie treten dem Menschen nicht mehr nur als Werkzeug oder als spezieller Kommunikationspartner („Roboter") gegenüber, sondern regulieren als Organisationsprinzip und Kommunikationsmedium wichtige Lebensvorgänge menschlicher Gemeinschaften. Ihre Programmier- und Dialogsprachen nähern sich der menschlichen Ausdrucksweise, ermöglichen ihnen aber so audh, Prozesse der zwischenmenschlichen Verständigung zu mediatisieren. Die Normierung ihrer Daten und Datenstrukturen könnten dazu führen, daß die menschliche Lebenswelt nur noch in der Sichtweise einer bestimmten „Verdatung" aufgefaßt wird. All dies beschränkt sich nidit auf das Quantitative, Arithmetische2, sondern erfaßt das Geistige allgemein, soweit es vollständig in einer Symbolik objektiviert werden kann 3 . Die Computer 8 Innerhalb der Datenverarbeitung hatte man vorübergehend das Schlagwort „Nichtnumerik" geprägt, um den Bereidi der entsprechenden Anwendungen zu benennen. Bezeichnenderweise hat sich diese Benennung nicht eingeführt — weil es inzwischen in der Datenverarbeitung allzu selbstverständlich ist, daß man sich generell auch mit „Niditnumerik" beschäftigt. * Vgl. Fiedler, Automatisierung im Recht und Juristische Informatik, JuS 1970, 432 ff. — Daß es andererseits wiederum ganz spezifische Grenzen formaler Darstellbarkeit und Entscheidbarkeit gibt, hat gerade die mathematische Logik und Grundlagenforschung selbst präzise herausgearbeitet, längst vor der Entstehung aller Computerpraxis. Vgl. z . B . Fiedler, Mathematik und moderne Logik, ARSP 1961, 553.

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realisieren den „objektiven Geist" der Gemeinschaft nicht nur als Struktur, sondern als Medium und als überindividuellen Prozeß — mit Operationsgeschwindigkeiten von milliardstel Sekunden und Speicherkapazitäten von Milliarden Zeichen. Natürlich soll mit diesen Andeutungen nicht eine neue Computermythologie begründet werden. Sie sollen nur bildhaft auf die große und immer grundsätzlichere Bedeutung hinweisen, welche der Datenverarbeitung heute zukommt. Maßgebend ist hierfür die Möglichkeit, manche Prozesse der geistigen Arbeit („Algorithmen") zu automatisieren. Es ergeben sich so grundsätzlich weitergehende Konsequenzen als bei der Mechanisierung sonstiger Arbeitsprozesse, z. B. der Motorisierung. Die Informationsverarbeitung ist nicht nur Objekt, sondern zugleich Element der wissenschaftlichen Verfahren und erzielt so einen besonderen Effekt der Selbstverstärkung. Man spricht hier mit Recht von einer „Revolutionierung der geistigen Arbeit" — allerdings in begrenztem Maße und auf bekannter Grundlage. Grundlage und Grenzen sind hier durch die Methoden der modernen Logik und Mathematik umschrieben. Diese gehen nur ihrerseits — entgegen einem verbreiteten Mißverständnis — über den Bereich des „Quantitativen" hinaus und umfassen ganz allgemein das Strukturelle und symbolisch Präzisierbare 4 . Auch die „Geisteswissenschaften" werden zunehmend davon betroffen. Hieraus erklärt sich einerseits die selbstverstärkende, teilweise explosive Entwicklung in der Datenverarbeitung: Computer konstruieren Computer, lehren die Computerbenutzung usw. Innerhalb der Nachkriegsjahrzehnte entwickelte sich die Datenverarbeitungsindustrie zu ihrer heutigen Schlüsselposition. Die Förderung der Datenverarbeitung und ihrer Anwendungen wurde allenthalben zum Politikum strategischen Ranges, auch in der Bundesrepublik zum Gegenstand großangelegter Förderungsprogramme 5 und der „Großforschung"6. All dies kann ja nicht nur eine Angelegenheit der „Praxis" sein, welche an der Entwicklung der Datenverarbeitung allerdings entscheidenden Anteil hat. Grundlagen und Konzeptionen der Datenverarbeitung stammen aus klassischen Theoriebereichen der Logik und Mathematik (man beruft sich mit Recht auf z. B. Leibniz und Pascal als Stammväter). Auch die heutige, so schwer bewegliche Universitätsorganisation entwickelte hier (wenn auch z. B. in der BundesrepuVgl. z. B. Fiedler, a. a. O . , S. 5 5 4 ff. So das erste und zweite Datenverarbeitungsprogramm der ® Als „Großforsdiungseinriditung" ist in der Bundesrepublik für Mathematik und Datenverarbeitung" ( G M D ) auf diesem besitzt neuestens ein eigenes Institut für Datenverarbeitung im z. B . die Mitteilung in Ö V D 1973, 3 3 6 . 4

5

Bundesregierung. die „Gesellschaft Gebiet tätig. Sie Reditswesen, vgl.

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blik nur mit Verspätung und Nadihilfe von außen) immerhin mit Rekordgesdiwindigkeit eine zugehörige neue Disziplin in Gestalt der „Informatik". Darin geht es — unter gleichzeitiger Orientierung an der technologischen Machbarkeit — um die Theorie der systematischen Informationsverarbeitung schlechthin7. Man könnte die Informatik daher im weiten Rahmen der Informationswissenschaften zu den „ Strukturwissenschaften " rechnen8. Gemäß ihrer universellen Bedeutung sind andererseits Datenverarbeitung und Informatik nicht auf den engen Kreis der informationsverarbeitenden Automaten und ihrer eigenen Theorie beschränkt geblieben, sondern haben ihre Bedeutung nur dadurch gewonnen, daß sie auch tatsächlich auf den verschiedensten Gebieten eine lange Reihe von spezialisierten „Anwendungen" erschließen konnten. Hierbei entsteht eine enge Wechselwirkung zwischen Datenverarbeitung und Anwendungsgebiet, gewissermaßen eine „methodische Symbiose" als eigenartige, hochkomplexe Organisation. Gerade an deren Probleme knüpfen die anwendungsorientierten „Spezialinformatiken" an, wie die medizinische, wirtschaftswissenschaftliche oder juristische Informatik. Obwohl die Rechtsinformatik ein noch recht junges Mitglied in diesem Kreis der „Anwendungsinformatiken" ist, sdieint es doch, daß gerade ihr besondere Bedeutung zukommt. Recht und Rechtswissenschaft beschäftigen sich ja gerade thematisch mit den Regeln gesellschaftlich verbindlicher Information und Entscheidung — ob nun zu gesellschaftlicher Gesamtsteuerung, zur Prävention oder Schlichtung von Konflikten. Die öffentliche Verwaltung im weitesten Sinne, der bürokratische Staatsapparat sind geradezu als Systeme zur Erzeugung verbindlicher Entscheidungen (d. h. eines bestimmten Produkts von Informationsverarbeitung) beschrieben worden 9 . Muß nicht die Tatsache und schon die Möglichkeit einer Automatisierung in diesem Bereich den Kern des juristisch-fachlichen Interesses berühren? Es geht hierbei keineswegs um nur spekulative Möglichkeiten. In manchen Bereichen des Rechtsvollzugs (Sozialversicherung, z. T. Finanz- und Steuerwesen) ist die Datenverarbeitung bereits jetzt conditio sine qua non des inzwischen gewohnten Funktionierens. In weiteren Bereichen der öffentlichen Verwaltung (z. B. Personalwesen, Melde- und Einwohnerwesen) steht Ähnliches bevor oder ist bereits im Gange. Auch in die Domäne des „Juristen" im engsten Sinne, den 7 So der Studien- und Forschungsführer Informatik, hersg. von der G M D und dem D A A D , Bonn und Bad Godesberg 1973, S. 12. 8 C. F .V.Weizsäcker, Die Zukunft der Wissenschaft. In: „Das 198. Jahrzehnt", Hamburg 1969. 9 So Luhmann, a. a. O., 21 ff.

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Justizbereich, beginnt die Datenverarbeitung einzudringen, vom Registerwesen über die Rechtsdokumentation zu den richterlichen Aufgaben im klassischen Sinne (auch wenn dabei keineswegs erstrebt wird, die idealtypische Richtergestalt gegen die Horrorvorstellung des „Richterautomaten" auszuwechseln). Gesetzesplanung und Gesetzgebungstechnik werden zunehmend von der Datenverarbeitung unterstützt und beeinflußt. Integrierte Gesamtsysteme staatlicher Information und Entscheidungshilfe bieten dem Juristen völlig neue Regelungsaufgaben, wobei nur das Stichwort „Datenschutz" genannt sei. Der Computer wandelt sich vom Verwaltungsroboter zum Zentrum der „nerves of government". All dies soll natürlich hier nicht dargestellt oder belegt werden inzwischen gibt es dafür allein in der Bundesrepublik eine Reihe eigener Publikationsorgane 10 . Auch ohne Detailschilderungen ist heute erkennbar, daß die Datenverarbeitung in Recht und Verwaltung nicht nur Nebensächlichkeiten betrifft. Dabei sind dies erst die Anfänge der Automatisierung in Systemen, die von ihrer Grundkonzeption her durch Aufgaben der „Informationsverarbeitung" definiert sind. Eine spezifisdie, differenzierte Theorie wird sich dessen annehmen müssen.

II. Zur Notwendigkeit der Datenverarbeitung in Recht und Staat Sicherlich soll die Computerisierung hier nicht etwa als eine Art „Naturereignis" hingestellt werden, dessen Wünschbarkeit insbesondere im Bereich des Rechts- und Staatswesens gar nicht mehr in Frage steht. Immerhin sind hier zwei Bemerkungen naheliegend: Erstens ist mangelnde Reflexion über die Wünschbarkeit künftiger Ereignisse eventuell weniger schlimm als deren falsche Prognose. Und zweitens: Insgesamt ist eine weitgehende Computerisierung tragender Funktionsbereiche ganz eindeutig conditio sine qua non desjenigen Niveaus an zivilisatorischem Komfort, kulturellem Reichtum und gesellschaftlicher Befriedung, welches heute als selbstverständliches Ziel gilt. 10 So die Zeitschriften „Datenverarbeitung im Recht" (DVR), J . Schweitzer Verlag; „Datenverarbeitung in Steuer, Wirtschaft und Recht" (DSWR), C. H. Beek Verlag; „öffentliche Verwaltung und Datenverarbeitung" (ÖVD), Kohlhammer Verlag. — Zur Einführung in die Rechtsinformatik vgl. Steinmüller u. a., EDV und Recht — Einführung in die Rechtsinformatik, JA-Sonderheft 6, Berlin 1970; Fiedler, Automatisierung im Recht und juristische Informatik, Aufsatzreihe in JuS 1970/ 1971.

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Für die Notwendigkeit der Computerisierung im Rechtswesen hochindustrialisierter Staaten können natürlich konkrete Motive angegeben werden. Diese stehen übrigens großenteils mit demjenigen Effekt in Zusammenhang, welcher so eindrucksvoll als „Positivierung" gerade derartiger Rechtsordnungen beschrieben worden ist 11 . Dieser Effekt erfordert einerseits die Möglichkeit dauernder kritischer Überprüfung und rationaler Planung des Rechts, wie andererseits die Herausbildung einer dementsprechend anspruchsvollen Rechtstechnik. In diesem Sinne wären hier als Motive der Computerisierung zu nennen: 1. Die hochgradige, „mit freiem A u g e " kaum mehr überblickbare Komplexität der Rechtsordnung und der verschiedenen Teilrechtsordnungen in ihrer gegenseitigen Beziehung. Nichtsdestoweniger muß in Vollzug und Rechtsfortbildung eine sinnvolle „Kohärenz" erhalten werden. 2. Die Änderungsgeschwindigkeit der Rechtsordnung. Es gibt heute kaum ein Rechtsgebiet, das sich nicht gerade im Stadium der „ R e f o r m " befände — im Stadium einer permanenten Reform, wie man hinzufügen möchte. 3. Die Zukunftsorientierung vieler reditlicher Überlegungen und die Notwendigkeit einer dauernden rationalen Planung des Rechts. All diese Gründe sind vielfältig angeführt worden, um die Forderung nach dem Computer in Recht und Verwaltung zu motivieren, sinngemäß jeweils für Vollzug, Dokumentation und Planung des Rechts. Zwischenglied der Überlegung ist dabei der Gedanke, daß Computer hochkomplexe formale Sachverhalte differenziert darstellen und rasch bearbeiten können, insofern dem Menschen weit überlegen. Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß hier eine allzu globale Betrachtungsweise manche Befürworter der juristischen Informatik zu Irrtümern verleitet hat. Diese können einerseits z. B. in der unbesehenen Annahme liegen, daß elektronische Dokumentation die „Informationskrise des Rechts" auch tatsächlich generell beheben kann. Andererseits wäre es z. B. zu viel verlangt, wenn man als Voraussetzung der Vollzugsautomation die logische Formalisierung und Axiomatisierung der betreffenden Gesetze fordern wollte. In Wirklichkeit ist es nötig, die Spanne zwischen Automatisierungswunsch und den jeweiligen technologischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung durch ganz konkrete methodische Konstruktionen aus" Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1972.

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zufüllen 12 . Hierzu gehört nicht nur die Programmierung und „Software" im engeren Sinne, sondern auch die entsprechende Strukturierung und arbeitsmethodische Organisation des Anwendungsgebiets. Der Computer als algorithmischer Universalautomat setzt zu seinem sinnvollen Einsatz diese methodische Strukturierung des Anwendungsgebietes voraus, insbesondere die präzise Darstellung der Zusammenhänge und Verfahren als Daten und Algorithmen. Dies gilt z. B. im Bereich der computergestützten Dokumentation nicht weniger als im Bereich formaler Planungsmethoden. Die Anwendung der Datenverarbeitung in Recht und Staat ist damit nicht etwa nur ein technologisches Problem. Die Forderung nach dem Computer ist sinnvoll nur unter der Voraussetzung, daß Strukturen und Methodik des Anwendungsgebiets entsprechend präzisiert sind oder präzisiert werden können. Es ist eine — allerdings zu wenig beachtete — Selbstverständlichkeit, daß die Einführung der Datenverarbeitung zu wesentlichen Teilen ein methodisches Problem des Anwendungsgebiets bietet. Speziell für die Anwendung in Recht und Staat bedeutet dies nicht nur eine akzidentelle „Rationalisierung", sondern z. T. durchaus die Möglichkeit und Notwendigkeit einer neuen Rationalität der juristischen Praxis — in Parallele zu anderen Lebensbereichen, etwa der Wirtschaft. Damit würde sich die Jurisprudenz zugleich in einen neuen wissenschaftstheoretischen Zusammenhang hineingestellt finden, welcher nicht nur ihren traditionellen „geisteswissenschaftlichen" Aspekt betont, sondern zugleich den Aspekt formal-rationaler Verfahrensweisen. Auch die rationale „Praxis" in diesem Sinne wird ja zunehmend zum Gegenstand wissenschaftstheoretischer Reflexion 13 .

III. Ansatz und Gliederung der Rechtsinformatik Während weitgehend Einigkeit darüber besteht, daß Ausgangspunkt und Gegenstand der Rechtsinformatik die Datenverarbeitung in Recht und Staat bildet, ist die genauere Abgrenzung und Orientierung noch in der Diskussion. Zur Abgrenzung stellt sich z. B. die Frage nadi dem Verhältnis zwischen Rechts- und Verwaltungsinformatik. Für die Orientierung wird eine eher erweiternd wirkende Tendenz von Steinmüller vertreten: Rechtsinformatik wird aufgefaßt als die Lehre von den Möglichkeiten, Voraussetzungen und Fol14 Vgl. als Beispiel zur Systemanalyse etwa den Bericht der Projektgruppe „Das Juristische Informationssystem", hersg. vom Bundesminister der Justiz, 1972 (Vertrieb C. F. Müller, Karlsruhe). l s Vgl. insbes. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissensdiaftstheorie..., Bd. IV / Halbbd. 1, Berlin 1973, S. 3 ff.

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gen der Datenverarbeitung im Recht 14 . Die Rechtsinformatik erscheint hier als „Problemwissenschaft", die in voller interdisziplinärer Breite alle Aspekte der Datenverarbeitung in Recht und Verwaltung erfaßt. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob nicht ganz allgemein jede — auch anwendungsorientierte — Informatik vor allem an das Spezifikum der Datenverarbeitung anknüpfen sollte, nämlich an die mathematische Methodik. Zur Vermeidung einengender Mißverständnisse dieser Methodik wird diese hier mit einer für alle mathematischen Wissenschaften und deren Anwendung im weitesten Sinne geltenden Umschreibung „strukturell" genannt. Die Rechtsinformatik könnte so als Strukturwissenschaft gesehen und, wie die Informatik in allen ihren Anwendungsarten, an einer mathematischen Methodik orientiert werden. Die gesellschaftliche Bedeutung der Datenverarbeitung ist nicht allein aus einer Technologie (etwa der Nachrichtenübertragung und -speicherung), sondern gerade in einem tieferen Sinne nur aus der in der Informationsverarbeitung zugrunde gelegten mathematischen und logischen Methodik zu verstehen. Die Technologie der Datenverarbeitung ist nichts anderes als die Verkörperung dieser Methodik. Die gesellschaftliche Bedeutung der Datenverarbeitung hängt danach eng zusammen mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Mathematik im weitesten Sinne der „Strukturwissenschaften" (einschl. der formalen Logik, Kybernetik usw.). Demgemäß wird es hier für zweckmäßig gehalten, auch die Rechtsinformatik schwerpunktmäßig zugleich als methodenorientiert aufzufassen und in ihrem Kern als Strukturtheorie zu verstehen 15 . Diese Tendenz verdeutlicht, daß gerade die „strukturellen" Zusammenhänge der Datenverarbeitung für ihre Möglichkeiten, Voraussetzungen und Folgen maßgebend sind. Außerdem bietet sie den Vorteil, daß auch über den Anlaß der tatsächlichen Datenverarbeitung-Anwendung hinaus eine spezifische Erweiterung der Rechtsinformatik im Sinne einer allgemeinen Strukturtheorie der juristischen Information und Entscheidung möglich ist, welche nicht der Rechtstheorie schlechthin zusammenfällt. Folgt man der hier vertretenen Tendenz einer spezifisch-methodischen Orientierung, so ist für die Konzeption der Rechtsinformatik folgendes wesentlich: — Ausgangspunkt und Basis der juristischen Informatik ist die praktische Anwendung der Datenverarbeitung in Recht und Staat. 14 Steinmüller, EDV und Redit, S. 30; vgl. jetzt auch ders., Recht, in: Mertens (Hersg.), Angewandte Informatik, Berlin 1972, S. 111; ders., Gegenstand, Grundbegriffe und Systematik der Reditsinformatik . . . , DVR 1972, 113. 15 Fiedler, JuS 1971, 229.

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Hierbei ist „Recht" gewissermaßen das abstrakte System, „Staat" ein zugehöriges konkretes System. Es genügt für die moderne Jurisprudenz — und erst recht die Rechtsinformatik — nicht mehr, nur das abstrakte System des Rechts zu betrachten. Gerade für die Anwendungsproblematik der Datenverarbeitung ist es unumgänglich, daß man sich audi mit der Realisierung und Fortentwicklung des Rechts in Gesellschaft und Behördenapparat beschäftigt, mit der Wirksamkeit, Kritik und Planung des Rechts. Daher ist die Rechtsinformatik von der Informatik der Regierung, Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz nicht scharf trennbar. Vor allem nach der Vorstellung des „Rechtsstaats" muß sie diese Gebiete zwangsläufig mit einbeziehen. — Das Interesse der Juristischen Informatik richtet sich auf die Struktur rechtlich normierter, zugleich als gesellschaftliche Realität betrachteter Zusammenhänge (z. B. Organisationen, Verfahren, Regelungen, Dokumente) im Hinblick auf die Datenverarbeitung. Insbesondere in der mathematisch fundierten empirischen Strukturanalyse von Organisationen, Verfahren, Regelungen, Dokumenten im Hinblick auf die Datenverarbeitung sind für eine juristische Informatik sehr konkret faßbare Ansatzpunkte gegeben, welche für sie spezifisch sind. Diese Strukturanalyse muß anhand der tatsächlichen Durchführung von Datenverarbeitungsanwendungen laufend überprüft werden. Hieraus ergeben sich die interdisziplinären Verwandtschaften der Rechtsinformatik: methodisch zu den Strukturwissenschaften (Mathematik, Logik, Informatik); inhaltlich zu den Sozialwissenschaften, insbesondere den „Informationswissenschaften". Durch die Rechtsinformatik tritt der im engsten Sinne rechtswissenschaftliche Aspekt zwangsläufig in Beziehung zur Verwaltungswissenschaft, Justizforschung, Gesetzgebungslehre, Regierungs- und Politikwissenschaft. Neben Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte wird gerade für die Rechtsinformatik eine Rechtszukunftsforschung (Rechtsfuturologie) treten müssen. Das letztere ergibt sich aus der erheblichen Zeitdimension der Planungen von Datenverarbeitungsanwendungen und deren Realisierung. Hier ergibt sich eine konkrete Notwendigkeit der Prognose und Vorausplanung von Recht aus technologischen Gesetzlichkeiten. Eine Rechtsfuturologie oder Zukunftsforschung des Rechts16 könnte dabei insbesondere 3 Dimensionen einschließen: die Prognose rechtlich relevanter Tatsachen; die Prognose von Rechtsentwicklungen und schließlich eine in einem genaueren Sinne zukunftsbezogene Reditspolitik. 16 Vgl. audi Maihof er, Realistische Jurisprudenz, in: Reditstheorie — Beiträge zur Grundlagendiskussion, hersg. v. Jahr und Maihof er, Frankfurt/M. 1971, S. 430 ff.

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Beim Versuch einer formelartigen Zusammenfassung ergibt sich für die hier vertretene Auffassung etwa die Umschreibung: Rechtsinformatik ist die Strukturtheorie der Datenverarbeitung in Redit und Staat. Faßt man die allgemeine Informatik in hinreichend weitem Sinne auf, so würde dies ungefähr der Formulierung entsprechen: Rechtsinformatik ist die spezielle Informatik von Recht und Staat; oder: die Anwendung der Informatik auf rechtliche Zusammenhänge in Staat und Gesellschaft. Demgemäß ist die Rechtsinformatik einerseits an der Anwendung der Datenverarbeitung orientiert, enthält andererseits Ansätze zu einer mathematisch fundierten Informationswissenschaft des normativen Bereichs in Staat und Gesellschaft. Nodi besser verdeutlichen läßt sich der hier vertretene Standpunkt durch Angabe einer Gliederung der Rechtsinformatik, nach welcher diese folgende Gebiete umfaßt: a) spezielle Rechtsinformatik, d. h. strukturell orientierte Theorie der Datenverarbeitung in Recht und Staat (Regierung, Verwaltung, Gesetzgebung, Justiz); b) allgemeine Rechtsinformatik, d. h. an der Datenverarbeitung orientierte Strukturtheorie der rechtlich bestimmten Information und Entscheidung; c) Dogmatik des Rechts der Datenverarbeitung und eines allgemeinen Informationsrechts (wegen enger Wechselwirkung zwischen dogmatischen und strukturellen Methoden wird diese dogmatische Disziplin zweckmäßig in den Bereich der Rechtsinformatik einbezogen). Eine Erläuterung scheint hier vor allem zu den Begriffen „strukturell" und „Strukturtheorie" nötig. Diese wurden hier eingeführt als eine solche Umschreibung des Wesens der Formalwissenschaften, wie formale Logik und Mathematik, welche kein einengendes Mißverständnis insbesondere der Mathematik befürchten läßt. Die Hinzufügung dieser Begriffe bedeutet nichts anderes, als daß die hier vertretene Auffassung auch die Rechtsinformatik methodisch an den Formalwissenschaften orientieren möchte. Dies bedeutet zwar insbesondere die Betonung der Bedeutung von Präzisierung und mathematischer Analyse als Voraussetzung der praktischen Anwendung wie des theoretischen Verständnisses von Datenverarbeitungssystemen. Es bedeutet aber nicht das Erfordernis einer Mathematisierung aller Überlegungen im Sinne irgend eines bestimmten, vorgegebenen Formalismus. Die Betonung der Eigenschaft als „Strukturtheorie" soll gerade bedeuten, daß die verschiedensten Mittel der Strukturierung und

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exakten Beschreibung herangezogen werden können. Hierzu gehören etwa auch exakte verbale Beschreibungen, nicht etwa allein quantitative Angaben. Am besten wird man Ansätze und Möglichkeiten einer „Strukturtheorie" auf juristischem Gebiet anhand schon gelieferter Beispiele struktureller Betrachtungen klarmachen können. Hierher gehören etwa die Strukturuntersuchung (Systemanalyse) des juristischen Informationswesens, welche für das Projekt „Juristisches Informationssystem" unternommen wurden 17 . Entsprechendes gilt für andere Planungen und Systemanalysen für Datenverarbeitungssysteme in Recht und Verwaltung. Hierher gehören aber auch die mehr theoretischen Konstruktionen und Strukturüberlegungen zur Datenverarbeitung im Recht 18 , und ebenso allgemeine strukturwissenschaftliche Untersuchungen im Recht 19 .

IV. Juristische Tradition und Wissenschaftstheorie Die Bestimmung dessen, was heute als Hauptstrom der „Juristischen Tradition" zu gelten hat, ist keineswegs unproblematisch. Die verschiedensten Zweige der juristischen Praxis, Forschung und Lehre wären hier zu berücksichtigen. Die tatsächlichen Funktionen und Berufsbilder der Juristen in Regierung, Wirtschaft, Verwaltung orientieren sich keineswegs nur am „idealtypischen" Bild der Justiz. Außerdem sind „als juristisch" manche Berufsgruppen z. B. in der öffentlichen Verwaltung oder Steuerberatung zu berücksichtigen, deren Mitglieder typischerweise nicht akademisch ausgebildete Juristen sind. Gerade im Zusammenhang mit der Datenverarbeitung muß sich jede Betrachtung an der gesellschaftlichen Realität orientieren, nicht nur an formal-akademischen Einteilungen und Qualifikationen — sonst würden wirtschaftlich nicht verantwortbare Fehlplanungen entstehen20. Nichtsdestoweniger soll in unserem Zusammenhang von der Lehrtradition der Juristischen Fakultäten ausgegangen werden, allerdings "

Vgl. oben Anm. 12. Z . B . Suhr u . a . , Computer als juristischer Gesprächspartner, Berlin 1970; Suhr u. a., Begriffsnetze, Invarianten, Routinen der Kritik, Berlin 1971. 1 1 Vgl. hier auch einige für Anwendungen der Datenverarbeitung evtl. den Weg bereitende Überlegungen der formalen juristischen Logik, z . B . zuletzt Rödig, Die Denkform der Alternative im Recht, Berlin 1969; ders., Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, Berlin 1973; sowie die Untersuchungen zu einer formalen Modellbildung im Recht, etwa Haag, Rationale Strafzumessung, Köln 1970. 2 0 So muß z. B. die „Benutzerforschung" für juristische Informationssysteme nicht etwa nur von der juristischen Qualifikation ausgehen, sondern von der tatsächlich z. B. im Gesetzesvollzug ausgeübten Funktion und dem von daher entstehenden juristischen Informationsbedürfnis. Vgl. zur Benutzerforschung Seidel, N J W 1973, 1676. 18

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nicht ohne Berücksichtigung des oben erwähnten weiteren Zusammenhangs. Die Fragestellung „Rechtsinformatik und Juristische Tradition" ist im Ansatzpunkt ein Problem akademischer Disziplinen, mag sie auch in ihrer kritischen Verfolgung auf manche Erweiterung führen. Nach dieser Beschränkung ist nun ohne weiteres eine „herrschende Lehre" identifizierbar, weldie sich als Ausgangspunkt der gesuchten Gegenüberstellung anbietet — und gerade gemäß ihrem eigenen Anspruch wie ihrer tatsächlichen Wirksamkeit dazu auch tauglich ist. Danach 21 ist die „eigentliche" Rechtswissenschaft (nach Gegenstand und Methode von anderen Wissenschaften zu unterscheiden) die Rechtsdogmatik. Die Disziplinen der Rechtsvergleichung, Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtstheorie rechnen zur Rechtswissenschaft nur „im weiteren Sinne" und nur von ihrem Gegenstand, nicht von der Methode her 22 . Die Rechtsdogmatik aber ist als wissenschaftliche Überprüfung von Rechtssatzbehauptungen innerhalb einer Rechtsordnung aufgrund geltender Rechtssätze 23 an der „verstehenden Methode" der „Hermeneutik" orientiert — welche einer nicht nur verbreiteten, sondern sicherlich ebenfalls herrschenden Auffassung 2 4 nach sogar die schlechthin umfassende Methode im Recht bildet. So muß hier den Ausgangspunkt der Betrachtung eine in sehr pointierter Weise „geisteswissenschaftliche" Orientierung der Rechtswissenschaft und juristischen Tradition bilden. Natürlich muß auch insofern noch vieles offengelassen werden. So etwa innerhalb der Rechtswissenschaft „i. w. S." die Orientierung der Rechtstheorie, welche sich in den verschiedensten Ausrichtungen darstellt 25 . Auch ist das gerade gezeichnete Bild nicht mehr unstreitig, wie sich z. B. an der Frage einer grundsätzlichen Interpretation der Rechtswissenschaft als Sozialwissensdiaft 26 zeigt. Auch die heute so vielfältig geforderte Berücksichtigung einer wissenschaftlich fundierten Rechtspolitik wäre geeignet, einige Akzente zu verschieben. Dies alles 21 Repräsentativ insofern Jahr, Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, in: Reditstheorie — Beiträge zur Grundlagendiskussion, hersg. von Jahr und Maihof er, Frankfurt/M. 1971, S. 309 f. 22 So ausdrücklich Jahr, a. a. O., der damit tatsädilich der herrschenden Meinung Ausdruck gibt. 23 Jahr, a. a. O., S. 303. 24 Mayer-Maly, Hermeneutik und Evidenz im Recht, in: Hermeneutik als Weg heutiger Wissenschaft, hersg. von Warnach, Salzburg 1971, S. 130. 2 5 Vgl. z. B. nur die beiden Sammelbände zur Rechtstheorie, Rechtstheorie-Beiträge zur Grundlagendiskussion (oben Anm. 21) und Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. II (oben Anm. 1). 26 Vgl. z. B. neuestens Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, Frankfurt/M. 1973.

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so sehr, daß durchaus zweifelhaft sein mag, wie lange im juristischakademischen Bereich die heute noch als „herrschend" zu bezeichnende Grundtendenz das weiter bleiben wird. Nun ist es hier nicht die Aufgabe, die so stark vernachlässigte wissenschaftstheoretische Problematik der Jurisprudenz und ihre Einzeldisziplinen aufzuarbeiten. In unserem Zusammenhang darf festgehalten werden: Nach der verbreiteten und herrschenden Lehrtradition ist die Rechtswissenschaft eine dogmatisch-hermeneutische Disziplin von „geisteswissenschaftlichem" Charakter. Geht man der letzteren Bestimmung weiter nadi, so zeigt sich, daß diese von Juristen weitgehend durch ihre Gegenüberstellung mit der „naturwissenschaftlichen" Betrachtungsweise profiliert wird, ebenso wie die Hermeneutik 27 . Als typisch für die Naturwissenschaften wird dabei insbesondere angesehen die scharfe Trennbarkeit von Subjekt und Objekt, die Wertfreiheit, die Beschäftigung mit statischen Objekten und die scheinbar nur durch all dies ermöglichte „Exaktheit". Außerhalb der Naturwissenschaften — so scheint es nach dieser mehr oder weniger reflektierten wissenschaftstheoretischen Standardauffassung vieler Juristen — gibt es eine derartige Exaktheit nicht. An dieser Stelle drängt sich nun eine Bemerkung auf: Mit der Akzeptierung des skizzierten „Weltbildes" einer erschöpfenden Scheidung in „exakte" Naturwissenschaften einerseits, „Exaktheit" gar nicht erstrebende Geisteswissenschaften andererseits wäre der Ausgangspunkt unserer Betrachtung überhaupt aus dem Gesichtsfeld verschwunden. Die gesamten Formalwissenschaften, Mathematik und Datenverarbeitung außerhalb ihrer naturwissenschaftlichen Anwendungen finden darin keinen Platz, ganz zu schweigen von neueren strukturwissenschaftlichen Entwicklungen wie Informatik und Kybernetik. Die Vorstellung von der ausschließlichen Bindung exakter Methoden an die Naturwissenschaften ist ein grundlegender Irrtum, welcher sich angesichts der modernen Entwicklung gerade gesellschaftsbezogener Systeme der Wissenschaft und Praxis immer mehr als folgenschwer erweisen muß. Schon die Mathematik selbst bietet ein Gegenbeispiel, da sie ja keineswegs eine Naturwissenschaft ist. Inzwischen zeigt sich ihre universelle Bedeutung und Anwendbarkeit immer deutlicher, in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie schließlich — gewissermaßen experimentell — in den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Datenverarbeitung. Es geht also hier nicht nur um einen wissenschaftstheoretischen Irrtum an sich. Vielmehr beseitigt eine Verkennung der universellen Bedeutsamkeit der formalwissenschaftlichen 2 7 Hierzu Gadamer als Gewährsmann vieler juristischer Methodiker: Wahrheit und Methode, 3. Aufl. Tübingen 1972, S. 321 ff.

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(„exakten") Methoden jede Voraussetzung zum Verständnis ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen, speziell auch zum Verständnis der gesellschaftlichen Auswirkungen der Datenverarbeitung. Insbesondere mit dem Fortschreiten der Datenverarbeitung gewinnen die Formal Wissenschaften eine immer größere gesellschaftliche Bedeutung. Natürlich wird in einer computerisierten Gesellschaft der Computerbenutzer und Computerbetroffene keineswegs schon dadurch zum Datenverarbeitungsfachmann, Informatiker oder Mathematiker. Aber er wird mit all seinen computerbezogenen Aktionen und Aspekten auf die selbstverständlichste Weise zum definierten, zählbaren „Datum". Die computerisierte Gesellschaft hat die Möglichkeit, ihre Zusammenhänge automatisch zu präzisieren und zu dokumentieren (die gegenwärtigen Bestrebungen zum „Datenschutz" sind der noch etwas hilflose Versuch, juristisch damit fertigzuwerden). Eine formalwissenschaftliche Methodik (z. B. die Systemanalyse) muß schon zur Vorplanung der Datenverarbeitung daran anknüpfen. Die Beschreibung gesellschaftlicher Zusammenhänge wie auch ihre (soziale, rechtliche usw.) Normierung wird sich darauf stützen, adäquatdurchschaubar weithin nur noch mit Hilfe formalwissenschaftlicher Methoden. Zugleich wird der Realitätsbezug der entsprechenden Normierungen durch die Definiertheit und Zählbarkeit der zugeordneten gesellschaftlichen Daten zwangsläufig enger. Auf die Perspektiven, aber auch schon die gegenwärtige Entwicklung der Datenverarbeitung mit ihren Anwendungen wurde deshalb wiederum hingewiesen, weil diese eine offensichtliche und tendenziell zunehmende wissenschaftstheoretische Bedeutung besitzen. Die universelle Bedeutung der Datenverarbeitung zeigt auch die universelle Bedeutung einer präzisierenden, im weitesten Sinne mathematischen Denkweise. Diese ist keineswegs etwa „naturwissenschaftlich" (insbes. in dem juristischerseits oft so verstandenen Sinne), sondern strukturwissenschaftlich; es geht darin nicht um „Mechanik", sondern um Logik. Die Analyse von Subjekt/Objekt-Beziehungen, von sprachlichen Zusammenhängen, Bewertungen, von dynamischen Zusammenhängen gehört durchaus zu ihren Aufgaben. Hier kann auch daran erinnert werden, daß ja gerade die Untersuchung des Veränderlichen, „Unendlichen" einer der Ansatzpunkte der neueren Mathematik seit Newton und Leibniz in Gestalt der „Infinitesimalrechnung" (zunächst z. T . auch „Fluxionsrechnung" genannt) war. Die moderne Mathematik und logische Grundlagenforschung hat diese Ansatzpunkte i. S. der Mengenlehre präzisiert, von den zunächst naturwissenschaftlichen Aufgabenstellungen abstrahiert und wendet sich immer mehr auch der strukturellen Untersuchung sprachlichlogischer Zusammenhänge zu. Die heutigen Bestrebungen der Infor-

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matik, der Informationswissenschaft und der „ K y b e r n e t i k " sind die Fortsetzung dieser Entwicklungsrichtung. Die von juristischer Seite herangezogenen Abgrenzungskriterien der „Geisteswissenschaften" („Hermeneutik") erweisen sich damit in unserem Zusammenhang zunehmend als funktionslos. Sie meinen tatsächlich negativ nur die Naturwissenschaften und treffen nidit die Methoden der Mathematik oder Informatik mit ihren Anwendungen. Diese Methoden besitzen heute gerade im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich zunehmende Bedeutung. Mit H i l f e der Datenverarbeitung dienen sie nicht nur der Darstellung, Beschreibung und A n a lyse gesellschaftlicher Zusammenhänge, sondern dringen in deren Konstituierung selbst ein. Es w i r d damit gerade aus praktischen Gründen unumgänglich, die wissenschaftstheoretischen Vorstellungen der traditionellen Jurisprudenz zu berichtigen. Neben der Dichotomie v o n „Geistes-" und „Natur-"Wissenschaften muß die universelle Bedeutung der Formalwissenschaften berücksichtigt werden, welche nicht etwa der „Naturwissenschaft" zuzuschlagen sind. Gerade eine Reflexion über die wissenschaftstheoretischen Annahmen der juristischen Tradition ist geeignet, Verständnisschwierigkeiten zwischen Jurisprudenz und Rechtsinformatik zu identifizieren. Bereits durch die A u f k l ä r u n g einiger Mißverständnisse könnte vieles gebessert werden. Zugleich geht es hier aber neben der Wissenschaftstheorie um die sehr praktische und wichtige Frage der weiteren Ausrichtung der beruflichen Bildung der Juristen und ihrer beruflichen Einsatzfähigkeit. Die gegenwärtig herrschende mißverständliche A b grenzung des juristischen Interesses, welche die „Naturwissenschaften" anspricht und dabei tatsächlich statt dessen die Formalwissenschaften auch mit ihren Anwendungen im gesellschaftlichen Bereich eliminiert, könnte hier schweren Schaden anrichten. Sie müßte mit ihrer Tendenz z u r Isolation von den heute wichtigsten wissenschaftlichen Entwicklungen auf die Dauer zur Beschränkung beruflicher Einsatzmöglichkeiten und sogar der geistigen Kontaktfähigkeit führen. D e r „geisteswissenschaftliche" Charakter eines Faches kann kein A l i b i bieten f ü r die Vernachlässigung strukturwissenschaftlicher Präzisierung. Speziell in der Beziehung der Jurisprudenz zu den Gesellschaftswissenschaften bedeutet dies, daß nicht nur deren „kritische", der traditionellen Vorstellung der „Geisteswissenschaft" näherstehende K o m p o nente zu berücksichtigen ist, sondern ebenso deren „analytischer", strukturell präzisierender Teil. Für den Stellenwert v o n Recht und Rechtswissenschaft würde eine pointiert „geisteswissenschaftliche" Beschränkung auf das nidht-exakte, nicht-präzisierbare künftig immer mehr eine radikale, ihrer gesellschaftlichen Funktionsbestimmung zuwiderlaufende Selbstbe-

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schränkung bedeuten. In einer immer mehr computerisierten Gesellschaft würden so die Möglichkeiten adäquaten Verstehens ihrer funktional wichtigen Zusammenhänge, ihres effektiven „Funktionierens" zunehmend verlorengehen. In Regierung, Verwaltung, Gesetzesplanung und selbst in der Rechtspflege würde die Kompetenz vom Juristen immer mehr auf den Betriebswirt, Sozialwissenschaftler und Planungsfachmann übergehen. Audi der Gedanke der Rechtsstaatlichkeit selbst würde so in Gefahr geraten, immer mehr zur funktionslosen Ideologie zu werden.

V. Verbindungslinien zwischen traditioneller Jurisprudenz und Rechtsinformatik Obwohl schon viele konkrete Anwendungen der Datenverarbeitung in Recht und Verwaltung vorliegen, sind doch die Verbindungslinien jetzt nur sehr wenig herausgearbeitet worden. Sicherlich ist es richtig, daß heute das Gebiet der Rechtsinformatik noch weitgehend Neuland der Forschung bildet 2 8 . Dabei ist aber natürlich — mit neuartigen Methoden — an überkommene Zusammenhänge und Problemstellungen anzuknüpfen. So kann die Rechtsinformatik legitimerweise zwei Wissenschaftsbereichen zugerechnet werden: nach ihrem Gegenstand der Rechtswissenschaft, nadi ihrer Methode der Informatik. Die Informatik wird als Theorie und Methodik der systematischen Informationsverarbeitung im juristischen Bereich angewendet. Hiermit wird — juristisch gesehen — die Rechtsinformatik i. e. S. ein Teil ebenso der Rechtstheorie wie der juristischen Methodenlehre; die Rechtsinformatik i. w. S. ergibt zusätzlich noch einen Teil der juristischen Dogmatik in Gestalt der Theorie des Datenschutzrechts, des Organisationsrechts der Datenverarbeitung, usw. Im einzelnen ergibt sich gemäß der hier befolgten Systematik der juristischen Informatik: a) Spezielle Rechtsinformatik Die spezielle Rechtsinformatik bildet als Theorie der Datenverarbeitung in Recht und Staat einen besonderen und neuartigen Teil der juristischen Methodenlehre und insofern auch der Dogmatik i. w. S. Im einzelnen geht es hier zunächst um die Methodik der Automatisierung rechtlicher Vollzugsaufgaben in Justiz und Verwaltung. 2 8 Wofür hier wiederum weiterverwiesen werden muß: s. Fiedler, Forschungsaufgaben der Juristischen Informatik, in: Münchener Ringvorlesung, hrsg. von Arthur Kaufmann, EVD und Recht — Möglichkeiten und Probleme, Berlin 1973, S. 229 ff.

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Im Verwaltungsbereich sind hierher zu rechnen z. B. die Automatisierung des Steuer- und Sozialrechts, die Automatisierung im Finanz-, Personal- und Einwohnerwesens. Im Justizbereich geht es heute um die Computerisierung des Registerwesens, aber auch um die Unterstützung der Rechtsprechung und die Automatisierung geeigneter Spezialfälle (z. B. Mahnverfahren). Weiterhin gehört hierher die Methodik der elektronischen Rechtsdokumentation, welche eng mit den Methoden der juristischen Interpretation, Fallbeschreibung und -wiederauffindung sowie der juristischen Problemlösung zusammenhängt. A l l dies sind nicht nur Aufgaben der Verwaltungslehre und Rechtskunde, sondern echte Probleme juristischer Methodik. Ihre Zusammenhänge erstrecken sich von der Systematik einzelner Rechtsgebiete bis zur Gesetzestechnik (z. B. für Fragen der Gesetzesdokumentation). b) Allgemeine

Rechtsinformatik

Die allgemeine Rechtsinformatik ist — von der Rechtswissenschaft aus gesehen — ein besonderer und neuartiger Teil der Rechtstheorie. Dieser wurde oben bereits als eine an der Datenverarbeitung orientierte Strukturtheorie der juristischen Information und Entscheidung beschrieben. Zwangsläufig schließt dies zugleich Ansätze einer mathematisch fundierten Informationswissenschaft des juristischen Bereichs ein. Ganz allgemein scheint es ja wohl, daß die Abgrenzung zwischen „Informatik" und „Informationswissenschaft" kaum haarscharf zu treffen sein wird. So gehören hierher auch z. B. allgemeine (präzisierte) Lehren des juristischen Informations- und Problemlösungsverhaltens, der juristischen Benutzer- und Anwenderforschung. Hier entsteht ebenso eine enge Beziehung zu den entsprechenden Arbeitsrichtungen der Rechtssoziologie wie der Verwaltungswissenschaft. Es geht hier zugleich um eine deskriptive wie normative Entscheidungstheorie des juristischen Bereichs. In diesem Sinne ist hier schließlich die Gesetzesplanung und Gesetzgebungslehre zu nennen, insbesondere mit computerisierten Methoden wie der Simulation sowie das wichtige Thema der automationsgerechten Rechtssetzung. c) Dogmatik des Rechts der Datenverarbeitung und eines allgemeinen Informationsrechts Während die Gebiete der speziellen und allgemeinen Rechtsinformatik zugleich Jurisprudenz und Informatik im eigentlichen Sinne verbinden, ist das Recht der Datenverarbeitung eher juristische Dogmatik bzw. Rechtspolitik allein und gehört daher zur Rechtsinformatik nur im weiteren Sinne. Immerhin ist die Abhängigkeit von Fragen

184 der Informatik so eng, daß es sinnvoll nur in deren Zusammenhang behandelt werden kann. Gegenstand sind hier die rechtlichen Regelungen, welche durdi die Datenverarbeitung unmittelbar oder mittelbar nötig werden. So werden durch die Datenverarbeitung allein und unmittelbar gefordert z. B. das Recht der Organisation und Verfahren der Datenverarbeitung sowie das Datenschutzrecht29. In einem mehr mittelbaren und teilweisen Zusammenhang stehen damit Fragen des Urheber-, Verlags- und Wettbewerbsrechts. Durch die Sensibilisierung, welche die Methoden der Datenverarbeitung in Bezug auf die Probleme und Regulationen der Information mit sich bringt, entsteht schließlich die Frage eines allgemeinen Rechts der Information („Informationsrecht" im objektiven Sinne). All dies ist Dogmatik und Rechtspolitik im klassischen Sinne mit ihren Verzweigungen bis hin zum z. B. „Datenschutzstrafrecht". Über die bisherige juristische Systematik hinaus entstehen jedoch die Probleme und Notwendigkeiten übergreifender Verbindungen, insbesondere zwischen Gebieten des öffentlichen und des Privatrechts oder zwischen Bundes-, Landesund Kommunalrecht. Als Resume läßt sich feststellen, daß die Rechtsinformatik gegenüber der juristischen Tradition ebenso Kontinuität bewahrt wie Neuartigkeit aufweist. Die Kontinuität liegt mehr in den behandelten Inhalten und Gegenständen, die Neuartigkeit in der präzisierenden, an der Datenverarbeitung orientierten Behandlungsmethode. In der Anwendung der Datenverarbeitung verbindet sich diese mit der Jurisprudenz zu einer „methodischen Symbiose", welche eigenen Gesetzen folgt und neuartige Probleme stellt. Hier knüpft die Rechtsinformatik an und bringt dabei gegenüber dem Spektrum der traditionellen Jurisprudenz Ergänzungen und neue Akzente. Solche liegen insbesondere in der erweiterten Anwendung und stärkeren Betonung exaktrationaler Methoden, auch für den Bereich gesellschaftswissenschaftlidier und gesteswissenschaftlicher Zusammenhänge. Insofern wird sidi auch die Rechtsinformatik als Vehikel nicht nur der „Rationalisierung" sondern einer neuen Stufe der Rationalität im Recht erweisen.

29 Vor allem zu den Problemen des Datenschutzrecht existiert inzwischen eine ausgedehnte eigene Literitur, welche die engen Verbindungen zu vielen Problemen der traditionellen Dogmatik sehr deutlich erkennen läßt. Vgl. nur den Sammelband Datenschutz. Juristische Grundsatzfragen beim Einsatz elektronischer DatenverKilian-Lenk-Steinarbeitungsanlagen in Wirtschaft und Verwaltung (hrgs. von müller), Frankfurt/M. 1973.

Stato di diritto e „Gesinnungsstrafrecht" GIUSEPPE B E T T I O L ,

Padova

1. La nostra attenzione deve essere attirata da ogni novità che possa innestarsi sul tronco del sistema per indagare se attraverso la stessa possa o non prodursi una modificazione o uno spostamento di accento sulle tradizionali impostazioni del sistema penale stesso. Sarebbe ormai ultroneo parlare della grande svolta che dal 1940 in poi è determinata nella dogmatica penalistica per opera di Welzel che oggi onoriamo, il quale, con la sua concezione finalistica dell'azione e personalistica dell'illecito, ha operato un vero capovolgimento di una metodologia meccanicistico-causale che per un secolo aveva dominato il campo del diritto penale. L'opera di Welzel rimane come un'opera di significato storico che tutti riconoscono per le conseguenze che essa ha avuto nel processo di eticizzazione e di umanizzazione delle categorie penalistiche, non più mere figure astratte di qualificazione giuridica ma connesse ad un momento ontologico e quindi all'essenza ed al valore delle cose. E' pur vero che così il sistema, passando, per quanto concerne il reato, da una piattaforma oggettiva ad una soggettiva, può aver provocato anche delle interpretazioni o delle impressioni errate, ma il soggettivismo di Welzel non è il soggettivismo del «Willensstrafrecht» di amara memoria, nè un soggettivismo di carattere «borghese» come i giuristi della Germania orientale rimproverano allo stesso autore quasi che con l'azione finalistica venisse messa in pericolo la sicurezza giuridica stessa. Quando si parte dal presupposto che il diritto penale è tutela di beni giuridici in un quadro di stretta legalità, non c'è posto per l'arbitrio che rompe la legge, anche sa momenti soggettivi vengono presi in maggior considerazione. Ma sono pur sempre momenti soggettivi che vengono in esame a parte obiecti, a parte delieti e quindi non in relazione ad un voluto e deliberato aumento dei poteri discrezionali soggettivi del giudice come nei sistemi politici antiliberali. Più che di soggettivizzare le categorie penalistiche si tratta di umanizzare le stesse onde legarle ad una sostanza di vita dalla quale vivevano staccate. Ecco quindi emergere l'azione finalistica come un dato che rompe e capovolge un sistema tradizionale. Si potrà accettare la stessa in una concezione sistematica sino alle sue più lontane conseguenze o si potrà limitare la sua por-

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Giuseppe Bettiol

tata in un quadro sistematico più limitato, ma certo è che essa ha umanizzato ciò che era stato incenerito, vale a dire quel concetto di azione che è il supporto di ogni costruzione penalistica. L'azione finalistica non è un dato di cieca natura ma è il momento veggente di un essere che sa dirigere le sue azioni in un mondo ove sussistono momenti di valore, proprio perchè essi sono legati o innestati su dati personalistici. Welzel nel suo «Diritto penale» 11 Ed. pag. 79 indica alcuni di questi dati: a) l'intenzione che dà all'azione dolosa finalistica una particolare intensità; b) particolari tendenze dell'azione come in certi delitti sessuali che non si intendono se prescindiamo da certi orientamenti libidinosi del soggetto; c) i particolari momenti della «Gesinnung» che ritroviamo in certe particolari fattispecie delittuose (sui quali lo Scbmidhàuser ha per primo attirato la nostra attenzione: es.: agire per «brutale malvagità», uccidere per «gusto di uccidere», usare particolari crudeltà e via di seguito). Dice Welzel che questi momenti soggettivi-personali vengono spesso in risalto nel fatto di reato e colorano il contenuto etico-sociale dell'azione in un determinato senso. Dal tipo soggettivo di atteggiamento o dalla posizione dell'Autore, si può determinare in maniera rilevante il particolare significato etico-sociale dell'azione. Welzel in sostanza apprezza l'individuazione di questi momenti etico-personalistici, ma fa al riguardo una asserzione di grande valore. L'insigne autore afferma che sino a tanto che tutto ciò non intacca il «fatto» — e quindi la certezza giuridica — non si corre alcun pericolo, mentre ritiene che in certe situazioni il fatto attraverso l'incidenza di questi momenti etico-personalistici possa illanguidirsi, restringersi, limitarsi, e si possa arrivare alla accettazione di un Gesinnungsstrafrecht, vale a dire a punire un semplice atteggiamento interiore del soggeto, il che sarebbe in contrasto con la nostra politica criminale, con la nostra legislazione e la nostra dogmatica.

2. Chi scrive ha avuto modo in Italia di attirare recentemente l'attenzione degli studiosi su questi momenti personalistici che si ritrovano nella ricerca scientifica. Lo scritto «Sul diritto penale dell'atteggiamento interiore» (Riv. Ital. 1971) ha però trovato delle forti resistenze e delle opposizioni. Sono stati anzitutto i positivisti con il Santoro (Scuola positiva 1972) a dire che in tutto ciò che il Bettiol aveva scritto non vi era nulla di nuovo, perchè già valorizzato dal positivismo criminologico italiano. Dice anzi il Santoro che tutto si riduce a parole che volano (verba volani), come se il positivismo con

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le sue soggettivazioni non si fosse di già volatilizzato e finito nel nulla. Ma non v'è dubbio che con il dogmatismo degli ultimi epigoni italiani della scuola positiva non c'è assolutamente niente da fare. Sono dei fossili che rifiutano ogni modifica alle loro tradizionali impostazioni e soluzioni dei problemi penalistici ripetendo critiche ormai superate dalle conclusioni di lunghe ricerche proprio nel settore di quelle scienze naturalistiche che — secondo loro — dovrebbero ancora suffragare una concezione statica e mummificata della realtà umana. Non c'è nessuna possibilità di un dialogo fecondo perchè il concetto di «uomo», di «personalità umana» è inteso nei termini del tutto statici come se la biologia, la psicologia, la sociologia fossero ancora ferme sulle posizioni di un secolo fa quando le espressioni «costituzione», «ambiente», «riflessi condizionati», «ereditarietaà» erano ritenute parole magiche in grado di risolvere tutti i problemi che il diritto penale e la criminologia portavano avanti. Dobbiamo però riconoscere — pur nel giudizio complessivamente negativo che esprimiamo — che i positivisti della Nouvelle défense sociale hanno rotto questo incantesimo in una impostazione più sciolta, più viva, più colorita dei problemi penalistici ammettendo ciò che un positivista tradizionale e ortodosso riteneva una eresia. Santoro è uno di questi che ben poco somiglia ad un Marc Ancel o a un Gravenì E' certo che l'«atteggiamento interiore» come noi lo riteniamo, riconducendolo a uno «stato di coscienza eticamente rilevante» e inseribile nel mondo giuridico, non può essere inteso da chi fa ancora del puro positivismo naturalistico e legale. Se anche per costoro l'etica è legata ad una metafisica, essa deve scomparire come la metafisica che non ha nessuna ragione di esistere in quanto è una pura illusione della mente umana. L'unica impostazione etica accettabile diventa quella della «simpatia» o della «felicità del maggior numero» non quella «categoriale» che scaturisce dalla voce di una coscienza legata ad un «assoluto». Diventa quindi del tutto inutile che i positivisti ci vengano a dire che il loro sistema è intriso di eticismo perchè non condanna ma «comprende», quando per noi funzione della morale è appunto il giudizio di merito o di demerito, non già la semplice indagine sulle cause o condizioni che possono aver portato un soggetto ad un delitto risolvendo in un puro dato di natura ciò che invece è una espressione dello spirito. Ma lo spirito, nell'ambito del loro sistema, è morto e la natura è inerte per cui nessun progresso scientifico è dato ritrovare nelle loro elucubrazioni e ricerche. Se la «pericolosità del delinquente» è il centro del loro sistema die ci dice questo concetto dell'«uomo»? Una cosa è certa: essa pericolosità pur essendo una categoria personalistica non ha nulla a che vedere con la

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Gesinnung o atteggiamento interiore del soggetto agente. Ma anche quando si parla della pericolosità non si intende affatto riferirsi all'uomo «persona» ma all'uomo «cosa». La personalità della pericolosità è puro punto di relazione ma non presenta alcun valore ontologico. Per il positivismo l'unico valore ontologico è l'uomo come puro e semplice «frammento del cosmo», di un cosmo che è una realtà chiusa in sè stessa, opaca, cristallizzata e quindi ferma e bloccata. Non c'è— ripetiamolo — un'apertura su di un mondo finalisticamente interpretato ma solo causalmente inteso. Se la pericolosità è probabilità di nuovi eventi delittuosi (secondo la definizione di Grispigni), questa probabilità si innesta sulla causalità la quale soggiace solo ad un giudizio naturalistico. Il giudizio morale investe solo l'atto compiuto o quello che si sta compiendo. Il futuro sfugge ad un giudizio etico perchè per la morale esso non esiste. Se, invero, il reato perpetrato è solo occasione del giudizio di pericolosità, questa sfugge ad ogni possibilità di un giudizio di valore il quale suppone la trasgressione di un obbligo. Solo nella colpevolezza questo giudizio è possibile in quanto è rimproverabilità per un fatto compiuto; se quindi di stati di coscienza si può parlare questi sono ammissibili solo nell'ambito e nell'intensità di un giudizio di colpevolezza. Si comprende quindi l'impossibilità per un positivista di intendere e di valutare uno stato di coscienza il quale non può identificarsi con un puro dato psicologico che può costituire un impulso, per l'azione. Cosi i «motivi», pure essendo dati positivi di carattere soggettivo, non sono necessariamente espressione di «stati di coscienza» o quanto meno un positivista non li potrà mai comprendere e valutare in questo senso. Il positivista è morto a questo mondo di valori, di impulsi coscienti, eticamente rilevanti, da fini che illuminano l'animo di chi opera nel mondo sociale. Per essi la coscienza crea delle illusioni, non autorizza a giudizi, a prospettive etiche valide per l'azione. Il Santoro non è riuscito nè poteva riuscire ad entrare in questo mondo. 3. Un'ampia valutazione del mio scritto sul diritto penale dell'atteggiamento interiore è stata scritta da Torio (Armario de derecho penai — Madrid 1973). Lo scritto è pieno di attenzione e di comprensione fatta con quella cura che è una delle caratteristiche della pubblicazione madrilena. Il Torio, affermato che è indubbio l'influsso metodologico che lo scrivente ha avuto sulla nuova generazione di giuristi spagnoli (e di questo riconoscimento lo ringrazio), passa a puntualizzare ampiamente i momenti salienti della mia pubblicazione mera-

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vigliato però del fatto che avessi osato oltrepassare taluni limiti e creare lo scompiglio nelle file dei giovani che ancora giurano in verbo magistri. Credo opportuno fermarmi al riguardo. Dice Torio che l'ampia sintesi da lui fatta del contenuto della mia pubblicazione è «sufficientemente indicativa del «giro» che rappresenta questo contributo del professore di Padova nell'insieme della sua opera scientifica». Il lavoro, quindi, rappresenterebbe di per se stesso una svolta nei criteri metodologici di ricerca sinora perseguiti, e sebbene non rappresenti un rifiuto degli elementi oggettivi del reato essa rappresenta pur sempre un pericolo per la sicurezza giuridica e per i principi di un diritto penale che intende essere inserito nella cornice dei principi di uno Stato di diritto. Sussiste, quindi, quanto meno nello spirito di un diritto penale dell'atteggiamento interiore un pericolo per le libertà individuali che solo lo Stato di diritto garantisce. E' ben vero che Torio non mi fa il torto di inserirmi nel novero degli irrazionalisti più o meno contemporanei ai quali va riferita la crisi di sicurezza portata da un «Willensstrafrecht» quarant'anni or sono nel cuore dell'Europa, ma non c'è dubbio che la osservazione critica dello scrittore spagnolo va colta e discussa per dissipare dei dubbi e delle incertezze che una affrettata meditazione delle mie pagine potrebbe portare. Anzitutto io nego che si tratti di un «giro». Giro vuol dire cambiare strada, fare il rovescio di quello che si è fatto prima, indicare diversi criteri di ermeneutica. Vorrei anzitutto dire che le costanti logiche del diritto penale sono pienamente rispettate: nessuno pensa a toccare o a rovesciare la correlazione «fatto-reato», «reato-retribuzione», «retribuzione-pena» per negare o scambiare i termini tra di loro. Solo allora saremmo — come dice Nuvolone — al di fuori dei termini di un diritto penale vero e proprio. N o n siamo di fronte al binomio «pericolosità-pena» o «colpa-misura di sicurezza». Questo sarebbe il giro di boa che abbiamo voluto sempre decisamente evitare. I termini classici del diritto penale restano invariati nel loro ordine: da un lato il reato, dall'altro la pena retributiva. Solo che nell'ambito di un diritto penale dell'atteggiamento interiore non il limite logico ma il tono può venire a cambiare. Se è vero che ci muoviamo pur sempre sul terreno del classicismo è pur anche vero che il classicismo di oggi non è quello di ieri e che pure nell'ambito di una stessa impostazione logica contenuto e significato di certi concetti possono subire una mutazione. Il diritto penale sente l'influsso e la cultura di oggi non è il razionalismo formale di Carrara o l'ancor timida dialettica di Pessina.

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Le correnti di pensiero hanno subito delle profonde trasformazioni e sarebbe assurdo che il diritto penale non ne subisse le conseguenze. Si pensi al codice penale italiano del 1931 e alle numerose correnti filosofiche che lo hanno influenzato: razionalismo liberaleggiante, dialettica hegeliana, filosofia dell'autoritarismo e via dicendo. Ogni filone ha lasciato la sua traccia. Solo cambiando la correlazione logica «reato-pena» cambia il diritto penale, ma sino a tanto che questa correlazione rimane un mutamento o un arricchimento dei criteri metodologici di ricerca e di interpretazione saranno pienamente leciti ed anche opportuni. Il disprezzo professato da molti verso la scienza giuridica è stata la conseguenza dell'immobilismo della dogmatica e del suo rifiuto di adeguarsi ai tempi. A mio avviso il diritto penale dell'atteggiamento interiore o degli stati di coscienza è appunto il frutto di una nuova maturazione di tempi che — senza negare ciò che la tradizione e lo Stato di diritto ci ha dato — reca un arricchimento metodologico che prospetta la persona umana sotto una luce diversa. Esso non è in contrasto con alcuna regola tradizionale che il liberalismo e lo Stato di diritto ci hanno tramandato. Invero: a) non nega la validità del principio di legalità per ciò che riguarda reato, pena, misura di sicurezza. Questa è l'unica base sulla quale si può costruire un diritto penale al servizio della libertà e dei diritti fondamentali della persona umana anche se oggi nella fattispecie troviamo incastonati dei momenti normativi un tempo considerati inammissibili per la sicurezza giuridica; b) non nega la interpretazione logico-razionale della norma penale anche se in situazione di difficoltà suggerisce un metodo teleologico di ricerca che potrà per taluni essere ragione di un circolo vizioso. Ma la logica questi circoli viziosi li ha sempre conosciuti; c) non rifiuta il Tatbestand ma anzi si richiama a Beling. Dopo tanto irrazionalismo diciamo con Rittler: Zurück zu Beling! E ciò rappresenta sul piano programmatico un'esigenza di sicurezza con la tipicità posta alla base di ogni ricerca; d) non rifiuta i limiti psicologici del dolo e della colpa come tipi di nessi di causalità soggettiva anche se non risolve la colpevolezza nella sola loro presenza; e) non nega la retribuzione come fondamento della pena e quindi è ostile alla pena indeterminata e guarda con sospetto alle misure di sicurezza. Se ciò è vero a noi pare che lo Stato di diritto con le sue fondamentali ed essenziali esigenze di sicurezza sia salvaguardato. La sicurezza giuridica non è posta in discussione anche se un certo quale margine viene riconosciuto alla discrezionalità del giudice, nota questa di tutto il diritto penale moderno.

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4. Tutto quello che è stato detto rimane, ma è pur vero che qualche cosa si cambia nell'evoluzione delle cose e delle idee. Quarantanni e più or sono — al tempo della elaborazione del Codice penale italiano — il concetto di una responsabilità oggettiva veniva tranquillamente accolto come se esso rappresentasse quasi un modo di essere normale del diritto penale e non già un'aberrazione di tempi passati. Veniva accettata come la sola valida in tema di causalità oggettiva tra l'azione e l'evento la teoria condizionalistica in base alla quale la causalità era legata solo ad un dato logico-naturalistico come se in essa invece non si riflettesse l'uomo con la sua carica spirituale e psicologica. Dolo e colpa erano costruiti solo su dati psicologici senza riferimento alcuno all'impegno di coscienza tipico dell'uomo quando agisce in modo conforme o difforme da come l'ordinamento giuridico vuole. Ergo tutto un mondo chiuso entro le strette di una concezione di pura natura meccanicistica che non lasciava trapelare la luce di una concezione spirituale-personalistica dell'uomo posto al centro di ogni valore sociale. Quando abbiamo affermato nel passato che la norma costituzionale (art. 25) la quale afferma la personalità della responsabilità penale è una norma rivoluzionaria del sistema, siamo stati considerati in termini negativi, ma la verità si è che un qualche cosa di nuovo è entrato nell'ordinamento penale e cioè il concetto di «persona». Se anche ricordiamo tutta la evoluzione della scuola classica non troviamo una espressione simile alla quale il diritto penale sia ancorato. Si parla di uomo (quando se ne parla), di individuo, di soggetto attivo del reato, di destinatario di norme giuridiche, ma se la espressione «persona» viene usata è in un significato naturalistico che la stessa è adoperata o non viene adeguata al fatto. In effetti se un significato ha la «persona» è quello di essere l'«anti-sistema», vale a dire una idea di valore che trova in sè stessa il suo significato senza bisogno di essere relazionata all'altro o agli altri che costituiscono invero il sistema entro il quale essa può venire inserita, ma anche vanificata. Il diritto penale è il diritto dell'«individualità» che vede nei «rapporti» del diritto stesso una sovrastruttura formale, un qualche cosa che può servire a spiegare taluni aspetti del diritto penale, ma mai a comprenderlo, tanto è vero che malgrado la distanza abissale tra classicismo e positivismo il problema dei «rapporti» non cambia. Spiega la vocazione normale interpretativo-sistematica del diritto penale ma dimentica che il diritto penale è paradossalmente il diritto della solitudine. Diritto della solitudine che vuol significare rientrare in noi stessi per ricercare le ragioni ultime dell'azione le quali non sono psicologiche

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in senso naturalistico, ma sono morali. Se anche è vero che l'uomo opera sotto la spinta di motivazioni coscienti, tali motivazioni sono state studiate alla luce di una psicologia naturalistico-descrittiva, ma non sono state riferite agli stati di coscienza die ogni singola persona ha rispetto a tutto ciò che lo circonda. L'uomo emerge non quando opera sotto l'influsso di stimoli psicologici anche ben definiti, ma quando — pure non negligendo gli stessi — prende una posizione di significato affermativo o negativo rispetto agli aspetti del mondo in cui vive. E non sono le cose o gli stimoli in senso naturalistico che destano le soluzioni, ma le esigenze che ne scaturiscono. Qui i motivi non contano più; contano le valutazioni di coscienza che urgono nell'uomo, vale a dire il valore che l'uomo attribuisce ad un determinato fine e l'impegno che sente per rispettare o negare il valore stesso. Sotto questo profilo il diritto si sublima nell'etica. Ma si può concepire un diritto penale senza un rapporto stretto con l'etica? Non è che il diritto penale tuteli solo le esigenze etiche di carattere sociale: il minimo etico del Manzini. Questo sta bene ed è la riprova che anche un tecnico-positivista come il Manzini il quale rifiutava ogni influsso filosofico nel diritto penale in effetti lo recepiva attraverso l'oggetto della tutela penale. Ma ciò che in effetti conta è il modo attraverso il quale il diritto penale chiama l'uomo a rispondere. L'atteggiamento di coscienza rispetto ai valori è il vero criterio di fondo che conta ai fini di una responsabilità penale personalisticamente intesa. Persona è sintesi di natura, storia e valore. L'uomo non è pura natura, ma è storia in quanto opera e si muove per dei valori, nel quadro degli stessi e in vista degli stessi. La sua responsabilità soggettiva sta proprio in ciò e solo da ciò il diritto penale acquista un suo (o il suo) significato etico che lo caratterizza e contradistingue l'uomo come l'essere che non può soggiacere passivamente a delle pure schematiche legali. E' in ogni caso la coscienza dell'uomo nella sua singolarità il criterio decisivo di scelta. Tutto il problema dei conflitti tra doveri contrastanti in diritto penale rimane un enigma insolubile se non viene riferito ad uno stato di coscienza sulla base del quale anima la scelta. Con tutto ciò non siamo nel campo di formule prive di significato nè in quello di astrazioni, perchè dolo, colpa, buona fede, coscienza della illiceità del fatto, recidiva e via dicendo, sono nozioni che possono essere comprese solo nell'approfondimento o nella incidenza che i valori possono avere nella coscienza umana. Quanto tempo, invero, è andato perduto per tentare di spiegare tali concetti sul piano di una psicologia formale-naturalistica, quando tutto questo serve solo a segnare limiti esterni di ricerca, non mai ad esprimere un contenuto. Senza invero andare alla ricerca di un minimo comune denominatore tra dolo e colpa sul piano pura-

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mente psicologico, basti sottolineare che dolo e colpa sono concetti che scaturiscono da un impegno di coscienza che sta alla radice dell'azione del soggetto. Lo stesso concetto di buona fede (tanto predicato ma mai applicato) è un mistero al di fuori di un riferimento ad uno stato di coscienza che esclude ogni impegno nel male nella persona che opera. E solo l'uomo-persona può essere oggetto di riferimento di uno stato di coscienza perchè la persona «senza coscienza» è l'opaco nel senso che si identifica con l'oggettività che lo circonda, senza intendere, senza inserirsi nel mondo dei valori morali che soli possono rendere comprensibile la vita o la storia e quindi l'ambiente in cui uno vive ed opera. 5. D a quanto detto sembra risulti chiaro che il diritto penale dell'atteggiamento interiore è il diritto penale riportato alla persona eticamente intesa. Esso è il diritto penale della personalità eticamente e singolarmente intesa. Dopo l'orgia del collettivo esaltato e organizzato da un sociologismo brutale che riferiva la persona umana al collettivo, esso deve oggi esprimersi in tutta la sua pienezza. Ciò non significa negare la società per fare trionfare l'anarchia individualista. Il diritto penale dell'atteggiamento interiore sa bene che il diritto è proportio hominis ad hominem e che la relazione intersoggettiva — anche se dato formale — è pur sempre necessaria alla nozione del diritto, ma c'è tipo di società e tipo di società. C'è la società libera o permissiva e la società oppressiva. C'è un diritto penale oppressivo che subordina tutto alla ragione di Stato in termini di asprezza e durezza; c'è un diritto penale libero o permissivo che subordina l'intervento dello Stato nel campo della punibilità a precise esigenze etiche, politiche, sociali. Vorrei dire che ogni riferimento ad esigenze contingenti è escluso. N o n si nega il diritto di punire, e la comunità (comunione di uomini liberi) ha tale diritto se lo esercita nella tutela più assoluta della personalità umana. Ciò vuol dire rispetto dell'autonomia, della dignità, della libertà dell'uomo sotto il particolare riflesso dei suoi stati di coscienza che si riflettono nel fatto delittuoso. Non temiamo di incorrere nelle critiche di coloro che affermano che con ciò si identifica il giudizio giuridico con il giudizio morale. Per noi il diritto penale è sempre stato una morale cristallizzata in regole precise onde non cadere nell'arbitrio, onde non si abbia a finire in ogni carenza di garanzia. La garanzia formale deve rimanere e con ciò tutte le garanzie dello Stato di diritto offre al cittadino, ma c'è una garanzia di carattere sostanziale che deve essere tenuta presente sulla quale va graduata e fondata la colpa

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morale dell'uomo. Se è vero che trent'anni or sono nel nostro «Diritto penale» (1945) abbiamo parlato di un primato dell'antigiuridicità nel quadro degli elementi del reato lo abbiamo fatto a ragion veduta perchè allora certe determinanti aberranti tendenze portavano al diritto penale della volontà con il relativo aberrante giudizio di colpevolezza, ma oggi la situazione è cambiata nel senso che l'ambiente culturale ha subito una profonda trasformazione sotto l'influsso della filosofia personalistica. Noi non neghiamo il bene giuridico, non neghiamo una interpretazione teleologica della norma slegata dalla ratio, ma se di un primato si deve parlare questo riguarda la colpevolezza nei limiti dell'atteggiamento interiore del soggetto agente. Ciò è richiesto dalla nuova Costituzione italiana che trova la sua più alta espressione nel riconoscimento che la «responsabilità penale è personale». Come altre volte detto non può tale norma essere semplicisticamente intesa come ogni esclusione di ogni responsabilità penale per fatto altrui. Anche questo la norma vuol dire, ma si tratta di un'affermazione pleonastica. In ogni caso la responsabilità per fatto altrui fuoriesce dallo schema logico costante che caratterizza il diritto penale. Non c'era bisogno di affermarlo sul piano costituzionale se non come reazione a tristi episodi del tempo che fu. Ma la stessa responsabilità oggettiva per fatto «proprio» è fuori del diritto penale perchè è al di fuori della personalità dell'uomo. L'uomo risponde nei limiti del voluto o quanto meno del prevedibile che suppone una successione normale tra un tipo di azione e un tipo di evento. Anche la eccezione è al di fuori del diritto penale. L'aspra campagna che abbiamo invano combattuta in commissione di giustizia del Senato per l'accoglimento esplicito della causalità adeguata nel Codice penale contro la teoria della conditio sine qua non in tema di rapporto causale, risponde anch'essa ad un'esigenza di personalizzazione della stessa responsabilità in tema di causalità. L'evento eccezionale scavalca la persona appunto perchè esso non è dallo stesso prevedibile. Solo un diritto penale chiuso può accettare la teoria condizionalistica. Non si umanizza il diritto penale solo mitigando le pene. Anche un diritto penale umanizzato in tal senso può essere chiuso ed opaco quando in tema di reato accoglie o fa proprie idee e concezioni dalle quali ogni soffio di umanità è scomparso. Se è vero — come afferma lo Jescheck — che la umanizzazione deve essere considerata una delle linee costanti e fondamentali di un diritto penale moderno, tutta la materia penale non deve essere permeata e non solo la conseguenza giuridica del reato, cioè la pena. Non si possono collegare tra di loro due termini dei quali l'uno rimane chiuso e l'altro aperto: ciò vorrebbe dire spaccare il concetto unitario del diritto penale e fare

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opera di prevaricazione scientifica. Anche le categorie «formali» del diritto devono essere umanizzate. Quando la Corte Costituzionale italiana nega la possibilità di rispondere per fatto altrui, ma non reietta esplicitamente la responsabilità oggettiva e in più sottolinea che il processo di umanizzazione è irreversibile, cade in una serie di confusionismi che non spingono in avanti il diritto penale ma anzi lo fanno arretrare. Ogni momento o frammento del sistema deve invece uscirne illuminato. E che ragione ha allora lo stupore di chi pensa che un ulteriore esame e approfondimento sui momenti soggettivi del reato (salvi in ogni caso tutti gli aspetti o momenti oggettivi) possa rappresentare un giro di boa pericoloso per una dogmatica penalistica che punta sulla sicurezza giuridica? Si tratta solo di un approfondimento soggettivo in merito agli stati di coscienza del soggetto agente che norme penali specifiche o generali impongono al ricercatore. Una cosa, invero, è la causalità e la interpretazione del fatto, altra quella della motivazione, ed altre ancora quelle dell'atteggiamento interiore o di coscienza rispetto al valore che il fatto esprime. Così noi avviciniamo e in certi casi identifichiamo la capacità a delinquere (cap. art. 133 c. p.) con gli stati di coscienza del reo. Vuol dire con ciò rompere o spaccare la corteccia della sicurezza giuridica o non arricchire invece la ricerca con momenti o situazioni che danno maggior rilievo o significato all'elemento soggettivo del reato, meglio allora colpevolezza? Se questa non è un dato puramente psicologico (ergo naturalistico) ma è un'essenza normativa che esprime il non dover essere della volontà rispetto ad un fatto delittuoso, non è forse valido criterio ermeneutico anche l'esame dello stato di coscienza del soggetto agente rispetto al fatto nel suo disvalore che sta compiendo? Così i motivi sono una cosa (psicologica) ma il loro carattere abietto e futile (ad esempio art. 62 c. p.) è una nota o una colorazione che essi assumono rispetto ad un orientamento della coscienza del reo. Se il codice ne tiene conto perchè la dottrina non ne può trarre delle conseguenze di carattere ermeneutico o sistematico? Il diritto penale tradizionale della «volontarietà del fatto» ne esce arricchito e umanizzato per l'atteggiamento di coscienza in quanto nel fatto volontario si riflette il tono della personalità del reo, il suo carattere e i suoi orientamenti. C'è una filosofia che parla della «morte dell'uomo» come una teologia che parla oggi della «morte di Dio». La filosofia della morte dell'uomo è nata prima con i sistemi positivistici da un lato che riducono l'uomo ad un «frammento cieco della natura» e con quelli dell'idealismo assoluto che lo dissolve nella dialetticità dello Spirito. L'uomo, come persona al singolare che vive e che fa la storia, non esiste più. E ' un semplice mito, una semplice creazione di menti che

196 pretendono di vedere l'assoluto nella fine di ogni trascendenza metafisica o religiosa. Oggi anche taluni teologi sono pronti a convalidare la desacralizzazione della teologia e tutto ciò che alla stessa è collegato come il diritto, sulla base che ogni sistema giuridico si riallaccia ad un precetto. E allora si parla di un «requiem per i diritti dell'uomo» (De Menasce in «Studium» 1973, n. 4) perchè il diritto può sussistere solo là dove il concetto di uomo è ancora riconosciuto come un concetto vivo e vitale, come una realtà biologica-razionale che vive nella storia eticamente intesa e interpretata. Il diritto penale deve portare il suo contributo ad una tale concezione dell'uomo perchè solo là dove c'è l'uomo c'è un diritto penale che lo garantisce nei suoi diritti scaturenti dalla sua natura morale evitando le concezioni tanto del positivismo come dell'idealismo assoluto. Per intendere l'uomo e per considerarlo come il fulcro del diritto pena non basta invero costruire i concetti relativi allo stesso sulla base di dati naturalistici. Bisogna prendere in considerazione anche i dati di coscienza perchè è la coscienza che fa l'uomo, cioè la possibilità di sentire e di esprimere un giudizio di valore sui motivi e sulle ragioni dell'azione e quindi sul significato morale della stessa rispetto ai valori tutelati. Senza la coscienza del significato morale dell'azione, senza la prova di un dato atteggiamento di coscienza e il relativo grado di sensibilità di fronte al bene e al male non si crea l'uomo che serve ai fini del diritto penale. L'uomo balza vivo davanti a noi non solo perchè intenda o voglia qualche cosa, ma perchè si impegna in qualche cosa per una ragione che intende come lecita o come illecita. Gli stati di coscienza sono eticamente rilevanti se l'uomo non è inteso solo come un'entità naturalistica-zoologica; e il diritto penale — legato come è all'etica — non può dagli stessi prescindere non già per sostituirli (e questo è il punto) al fatto o alla volontarietà, ma solo per misurare il grado della colpevolezza o della rimproverabilità proprio ad ogni suo comportamento. Il diritto penale dell 'atteggiamento interiore («Gesinnungsstrafrecht») non è solo ancorato — come in Germania — ad alcune espressioni tipiche di alcune fattispecie, ma esprime una idea più ampia e più profonda in quanto partendo dalla natura etica dell'uomo intende sensibilizzare tutti i settori del diritto penale ad una data concezione dell'uomo unica realtà etica della Storia. Si tratta di uno spostamento significativo di accento non già di un giro di boa che intende far capire il diritto servirsi di una concezione aperta e dinamica dell'Uomo. E lo Stato diritto legato ai diritti dell'uomo ne esce fortificato e non già umiliato.

Werner Bergengruen vor dem Forum der Strafrechtslehre Hans Welzels ARTHUR KAUFMANN,

München

Seit jeher ist der Rechts- und Gerichtsfall ein bevorzugter Gegenstand dichterischer Gestaltung. Vor allem dem Drama, insonderheit der Tragödie, hat das Recht immer wieder Modell gestanden, findet sich doch das Wesenselement des Dramas, der tragische Konflikt, die unlösbare Antinomie, nirgends echter und lebendiger als in der Welt des Rechts. Dafür lassen sich unzählige Beispiele anführen: von Sophokles' „Antigone", Shakespeares „Kaufmann von Venedig", Goethes „Götz von Berlichingen", Schillers „Räuber" und „Wilhelm Teil" über „Kleists „Prinz von Homburg", Grillparzers „Ahnfrau", Hebbels „Agnes Bernauer" bis schließlich zu den Modernen: etwa Brechts „Dreigroschenoper", Zuckmayers „Des Teufels General", Dürrenmatts „Ehe des Herrn Mississippi" — es ist unmöglich, auch nur die Wichtigsten alle aufzuzählen. Die gegenseitige Berührung von Recht und Dichtung ist außerordentlich vielgestaltig1. Ja, es gibt sogar eine eigene Kunstform, die ihren Namen aus dem Juristischen entlehnt hat: die Novelle. Bekanntlich ist das justinianische Gesetzgebungswerk vom Jahre 534 in der Folgezeit durch zahlreiche Einzelgesetze fortgeführt worden, und weil diese den Codex nicht nur ergänzten, sondern wichtige Teile ganz neu regelten, nannte man sie „leges novellae" 2 . Das Merkmal des „Neuen" ist es denn auch, was die Novelle als Form der erzählenden Dichtung (sie entstand im späten Mittelalter) mit diesen Gesetzesnovellen gemein hat, freilich in einem analogen Sinne: Die verkürzende und verdichtende Darstellungsweise läßt den für die Novelle charakteristischen Wendepunkt als etwas Unerwartetes, kausal nicht Ableitbares, ja als etwas Unerhörtes erscheinen. Goethe hat dafür eine sehr treffende Formulierung gefunden (in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" von 1794/95): „Was gibt einer Begebenheit den Reiz? Nicht ihre Wichtigkeit, nicht der Einfluß, den sie hat, sondern die Neuheit. Nur das Neue scheint gewöhnlich wichtig, weil es ohne Zusammenhang Verwunderung erregt und unsere Einbildungskraft einen Augenblick in Bewegung s e t z t . . . " 1

Vgl. den knappen Oberblick mit Angabe des wichtigsten Schrifttums bei Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1965, S. 93 ff., 122. ' Siehe Kunkel, Römische Rechtsgesdiichte, 7. Aufl. 1973, S. 155 ff.

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Arthur Kaufmann

Diese novellistische Grundkonzeption ist bereits von Boccaccio in seinem „Decameron" zur höchsten Vollendung entwickelt worden. In der Rahmenerzählung werden Personen und Umstände mit derart behaglicher, listenreicher Gesprächigkeit geschildert, daß infolge der gestauten Spannung das überrasdiende Gipfelereignis — die „Novität" — wie ein Blitz aus heiterem Himmel herausspringt. Eine der bekanntesten ist die neunte Novelle des fünften Tages im „Decameron", wo es einem verschmähten und darob — sit venia verbo — völlig frustierten Liebhaber wider Erwarten doch noch gelingt, das Herz seiner Angebeteten zu gewinnen, indem er ihr seine letzte Habe, einen edlen Falken, zur Speise vorsetzt. Übrigens hat der Falke noch manchem späteren Novellisten — man denke nur an Goethe („Der Falke", 1776; Fragment) und Bergengruen („Die drei Falken", 1937) — als Leitbild oder Motiv gedient, so daß der Ausspruch Paul Heyses, in einer Novelle solle man immer auf den „Falken" neugierig sein, schließlich zum geflügelten Wort geworden ist. Aber man verwechsle den „Falken" nicht mit dem „Deus ex machina" des antiken Theaters. Dieser brachte immer die Lösung der Verwicklung, der „Falke" jedoch kann entfliehen und macht dann dem Leser die Schroffheit der Antinomie erst recht deutlich. Bei Kafka ist das ja unverkennbar, daß der abrupte Schluß auf das Bewußtmachen einer erschreckenden Leere abzielt, und nicht anders ist das in den „short stories" eines Hemingway, Faulkner, Steinbeck... Indessen gibt es da doch auch einen Unterschied zu den Klassikern. Freilich stellen auch diese uns vor den Abgrund des Chaos, aber sie tun dies nicht, um in existentialistischer Manier das Nichts zu künden, sondern um Kräfte zur Uberwindung der lauernden Gefahren zu wecken: Goethe in der „Novelle", Kleist im „Michael Kohlhaas",, E. T. A. Hoffmann in seinen „Nachtstücken". Diesen Dreien vor allem ist auch Werner Bergengruen zuzuordnen 3 , und so gesehen darf man ihn durchaus zu den Klassikern unter den Novellisten zählen. II. Als „Klassiker" könnte man Bergengruen noch in einer anderen Hinsicht bezeichnen. So sehr Bergengruen seine Zeitgenossen angesprochen hat — als er 1964 starb, hinterließ er eine große Gemeinde 3 Bergengruen hat sich vielfach zu ihnen bekannt. Über E. T. A. Hoffmann hat er 1939 eine Biographie veröffentlicht. — Von den vielen anderen, in deren Tradition sich Bergengruen wußte, seien noch genannt: Johann Peter Hebel, Jean Paul, Novalis, Paul Ernst und nidit zu vergessen Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Gogol..., die dem gebürtigen Balten (Riga) besonders nahe standen.

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treuer Leser, und die Gesamtauflage seiner Werke war auf mehrere Milllionen Exemplare geklettert — , ein „Moderner" ist er dodi nie gewesen, kein genialischer Weltverbesserer, der sich vom bisher Dagewesenen losgesagt und nach neuen Ufern gesucht hätte. Bergengruen hat keine Epoche gemacht, und er war auch nie eigentlich „im Gespräch", wie etwa Kafka in den Literaturkreisen diskutiert wurde und noch immer diskutiert wird. E r hat ganz bewußt seine Romane, seine Novellen und vor allem auch seine Lyrik nach den herkömmlichen — „klassischen" — Mustern geschaffen, er wollte Manierist sein, und in diesem Sinne hat er sich mit einer seiner liebenswertesten Figuren, dem „letzten Rittmeister", zweifellos identifiziert. Aber ihn nun einfadi als geistreichen Plauderer, als weltmännischen Causeur abzuloben 4 (was wohl gar nicht so selten aus einer falsch verstandenen Liebe und Verehrung heraus geschah), das ist denn doch ein arges Understatement. Gewiß eignete Bergengruen ein ausgeprägter Sinn für ritterliche Noblesse — das chevalereske Element in seinem Werk zeugt davon ebenso wie seine erklärte Abneigung, dem Leser private Bekenntnisse zu offenbaren. Doch wer Bergengruen ritterlich oder aristokratisch nennt, der muß noch eine weitere Eigenschaft hinzufügen, die untrennbar dazugehört: die Strenge. Das gilt für ihn persönlich, und das gilt nicht minder für sein Werk. Die Stilreinheit seiner literarischen Produkte ist für ihn von ebensolcher Wichtigkeit wie die inhaltliche Aussage. Gerade weil er in der Dichtung wesentlich Mitteilung sieht, ist er sorgsam darauf bedacht, das Werkzeug der Mitteilung, die Sprache, so zuchtvoll wie nur möglich zu formen. Daher kommt es, daß seinen Werken oft etwas Formales oder sogar Konstruiertes anhaftet. Zugleich geht davon aber auch eine ästhetische Wirkung aus. Es ist sicher kein Zufall, daß der am reinsten durdikomponierte und am nüchternsten konstruierte Roman Bergengruens: „Der Großtyrann und das Gericht" (1935) auch sein erfolgreichster geworden ist (schon zu seinen Lebzeiten hat die Auflage die Millionengrenze überschritten). Dennoch, Epoche hat er nicht gemacht, selbst als Lyriker nicht 5 . Aber er hat Maßstäbe gesetzt bzw. wieder zur Geltung gebracht6. Er hat den zuchtlosen Lyrismen und Impressionen so mancher Moderner, deren Ehrgeiz es ist, keinen logischen Satz zu schreiben, das Maß der 4 Vgl. Ernst Johann, Dichtung ohne Diskussion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 9.1964. 5 Wiewohl Emil Staiger ihn „zweifellos als größten lebenden Lyriker Deutschlands" bezeichnete (Neue Zürcher Z e i t u n g vom 24.11. 1940). 6 In der Gesamtbeurteilung ähnlich Bänziger, Werner Bergengruen und sein Werk, 2. Aufl. 1961, bes. S. 91 ff.

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durchgeformten: durchsichtig gemachten Sprache entgegengesetzt. Natürlich, wer das Wesensmerkmal großer Dichtkunst in deren Unverständlichkeit erblidkt, muß Bergengruens Werken jeglichen künstlerischen Wert absprechen. Aber wie ist nach allem zu erklären, warum es alsbald nach Bergengruens Tod ziemlich still um ihn geworden ist — in auffallendem Gegensatz zu anderen bedeutenden Dichtern unserer Zeit, etwa Fallada, Kafka, Camus, Brecht, und vielleicht muß man audi Bergengruens besten Freund hier nennen, Reinhold Schneider? Wahrscheinlich haben gerade Bergengruens Verehrer am meisten zu diesem Stillewerden beigetragen, liebten ihn doch viele um deswillen, was man heute mit einem Modewort „Nostalgie" nennt: die Hinwendung zum Vergangenen, zum Schönen und Guten der alten Zeit, zur „heilen Welt". So ist ja Bergengruen immer wieder interpretiert (und zuweilen auch verspottet) worden: als Dichter einer im tiefsten Seinsgrund verwurzelten Geborgenheit, als Künder eines „unbekümmerten Ja zur heilen Welt" 7 . Und nun, da Bergengruen nicht mehr ist und aus seinen Werken lesen kann (seine Dichterlesungen gehörten zu den wenigen brillanten im deutschen Sprachraum), ist auch die „heile Welt" dahingegangen. Zweifellos hat Bergengruen manches Wort geschrieben, das solchen Vorstellungen Nahrung gibt (einem seiner bedeutendsten Lyrik-Büdier hat er sogar den Titel „Die heile Welt" gegeben). Bei genauerem Zusehen erweisen sich diese Deutungen jedoch als eklatante Mißverständnisse. Die Grundstimmungen, die in fast allen Werken Bergengruens immer und immer wiederkehren, heißen Furcht, Einsamkeit, Schwermut, Angst und vor allem Bedrohtheit: denn dies ist geradezu „das Kennzeichen des Lebendigen . . . , seine Bedrohtheit" 8 . Indessen muß man bedenken, daß Bergengruen seine Leser den bösen Mächten, dem Bereich des Unheimlichen, den Gefährdungen, den unausweichlichen Grenzsituationen nicht in nihilistischer Absicht gegenüberstellt, vielmehr beschreibt er diese Ängste, Schmerzen und Gefahren, um aufzurütteln, zur Entscheidung zu führen und so die Verwirrungen zu bestehen. Darauf aber kommt es ihm wesentlich an, daß der Mensch „auf unserer gebrechlichen Erde", auf der „ja der Vollkommenheit keine Stätte gegeben" ist9, fort und fort vor Entscheidungen gestellt wird, da doch „der Gedanke, man müsse nur eine bestimmte Schlüsselformel wissen, eine Patentlösung, eben ein Rezept, und schon sei alles gewonnen" ein „Spintisierergedanke" ist 7 8 9

Vgl. Klemm, Werner Bergengruen, 4. Aufl. 1958, S. 54. Am Himmel wie auf Erden, 1940, 4. Teil. Herzog Karl der Kühne, 1950, 6. Teil.

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und sonst nichts10. Wir sind nun einmal keine „Eingeborenen" mehr, und deshalb nennt Bergengruen in seiner Novelle „Das Hornunger Heimweh" (1942) die Sehnsucht nach „heimatlicher Geborgenheit" rundweg eine Illusion. Noch drastischer sagt er es später in der „Rittmeisterin" (1954): „ . . . d e r Platz zwischen den Stühlen ist der einzige, von dem man mit unbekleckertem Hosenboden aufsteht, um fortzugehen"11. Die Welt, die unser Dichter uns vorstellt, ist keineswegs „heil". Reinhold Schneider, der vertrauteste Kenner, spricht darum in einer Würdigung Bergengruens auch vorsichtiger und treffender nicht von einer „heilen", sondern von einer „heilbaren" Welt: in ihr „hat das Leid seinen Ort; zu ihr gehört das Ruinenfeld der Geschichte. . . " , der „Verlust der Heimat" . .., „gehören die Schatten nicht mehr aus eigener Kraft bestandener Nächte . . ," 12 . Nein, um Neoromantik, um die Flucht aus der Gegenwart in eine idealisierte Vergangenheit, in eine Traumwelt, geht es bei Bergengruen wahrlich nicht. Hören wir noch einmal ihn selbst: „Man kann sich über die Gegenwart ärgern..., das versteht sich. Man kann an der Vergangenheit hängen, das versteht sich auch. Aber in der Vergangenheit leben wollen, das sind Betisen. Leben kann man nur in seiner Zeit, alles andere ist läppisch"13. Eine resolutere Zurückweisung dessen, was man heute als „Nostalgie" bezeichnet, kann man sich kaum denken. Genug. Es ist hier nicht der Ort, Bergengruens Bedeutung für die Literatur unter Abwägung von Pro und Contra umfassend zu würdigen. Das sei getrost dem Urteil der Fachleute und dann ja wohl auch der Geschichte anheimgegeben. Die vorliegende, einem der profiliertesten Rechtsgelehrten unserer Zeit gewidmete kleine Studie ist ja auch nicht aus einem literarischen, sondern einem juristischen Interesse geschrieben — zugleich aber auch aus einem persönlichen: Der Verfasser möchte — gerade audi im Hinblick auf die Wahl des speziellen Themas — für sich ein Wort unseres Dichters in Anspruch 10 Die Rittmeisterin, 1954, 23. Kap. — Ganz ähnlich hat sidi Welzel geäußert: Es gibt „keine letzte Aussage über die Richtigkeit des einen oder anderen Verpflichtungsanspruches''; auch das Gewissen liefert keinen „Beweis"; da wir aber „den Widerstreit nicht offenlassen" können, „müssen wir uns eindeutig für die eine oder andere Alternative entscheiden" (Gesetz und Gewissen, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben; Festschr. z. hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. 1, 1960, S. 397). 1 1 Die Rittmeisterin, 15. Kap. 15 Reinhold Schneider, Werner Bergengruen, in: Die Lesestunde, 33. Jg., 1957, Nr. 9, S. 225. — Ähnlich wie im Text auch Grenzmann, Werner Bergengruen, in: Stdzt 144 (1949), 280 ff.; Bänziger (wie Fußn. 6), S. 31, 36, 91, 99; Fechner, Rechtsphilosophie; Soziologie und Metaphysik des Rechts, 2. Aufl. 1962, S. 14. 18 Die Rittmeisterin, 6. Kap.

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nehmen, das in der kurzen Erzählung „Die Maus" (1935) zu finden ist: „Es ist leicht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Aber die Wahrheit einholen, das ist schwer. Denn sie will sich nicht greifen lassen und läuft vor einem davon . . . wie eine Maus. Darum bin ich so oft in Eile". — Eingangs wurde schon bemerkt, daß es unzählige Dichter gegeben hat, die Rechtsfälle für ihre Dramen, Romane, Novellen, Satiren und sonstigen Werke verwendet haben. Klein dagegen ist die Zahl derer, die sich für rechtliche Probleme als solche interessiert, diese aufgegriffen und auch unter juristischen Gesichtspunkten verarbeitet haben. Und wieviele Literaten haben darüber hinaus auch noch den Juristen ein bescheidenes Verständnis entgegengebracht? Mit Spott hat man „den elegant geleckten süßlichen Troubadour der Pandekten" (Heinrich Heine über Friedrich Carl v. Savigny) reichlich bedacht, mehr als reichlich. So wird man schon verlegen, will man die Dichter nennen, die die Juristen überhaupt als die „ihrigen" in Anspruch nehmen dürfen: E. T. A. Hoffmann, Heinrich Kleist, Adalbert Stifter, wohl noch diesen oder jenen, schwerlich Goethe und Schiller14. Aber ganz sicher Werner Bergengruen. Bergengruen hat — im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern — nur ganz selten über sich und seine Arbeit geplaudert. Umso aufschlußreicher sind die wenigen vorhandenen Selbstzeugnisse. Uber die Entstehung des „Großtyranns" gibt es eine recht ergiebige authentische Notiz, in der sich folgende Passagen finden: „Seit je hat mich die Frage nadi der Gerechtigkeit beschäftigt. Ich denke dabei nicht an die jedem Menschen von der Natur eingepflanzte Art, sich über vorkommende Ungerechtigkeiten zu empören, eine Neigung, über welcher man manchmal Gefahr läuft, alle Maßstäbe aus den Augen zu verlieren . . . Aber es entsprach meiner Natur, mir Gedanken über das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Macht, Gerechtigkeit und Staatsräson, Gerechtigkeit und Lebensanspruch zu machen und nach der unlöslichen Verbindung, aber auch den unlöslichen Widerstreit zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit zu fragen. Der alte lateinische Spruch, wonach das höchste Recht zugleich das höchste Unrecht ist, hat mir schon in meiner Kindheit einen starken Eindruck gemacht". — Wiewohl „eine vollkommene Lösung dieser Fragen" hienieden gewiß nicht möglich ist, darf uns das aber nicht hindern, „uns um die Lösung innerhalb der Begrenzung unseres täg14

Natürlich kann man da im einzelnen verschiedener Meinung sein. Ich verweise nur auf Fehr, D a s Recht in der Dichtung, 1931; Erik Wolf, V o m Wesen des Rechts in deutscher Dichtung, 1946; Wohlhaupter, Dichterjuristen, 3 Bde., 1952 ff.; Bodeelmann, D a s Problem der Kriminalstrafe in der deutschen Dichtung, 1967.

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lidien Daseins immer von neuem zu mühen. So habe ich, ohne Jurist zu sein, stets ein Interesse an der Klärung verwickelter Rechtsfragen gehabt, insbesondere soweit ihnen für die beteiligten Menschen wirklich eine schicksalhafte Bedeutung zukam . . ," 15 . Danach verwundert es wohl nicht, daß schon Bergengruens erster Roman mit Juristischem zu tun hat, jedenfalls mit einem Studenten der Jurisprudenz: „Das Gesetz des Atum" (1923), ein Buch, das mittlerweile in Vergessenheit geraten ist — gewiß kein Schaden für die Literatur. Lebendig geblieben sind aber die beiden großen RechtsRomane: „Der Großtyrann und das Gerichtwo es um Recht, Macht und Unrecht, um Gerechtigkeit, Sicherheit und Staatswohl, um Schicksal, Schuld und Sühne geht — eine grandios komponierte Tragödie des Machtmenschen, im Erscheinungsjahr 1935 von geradezu unheimlicher Aktualität; und sodann der in mancherlei Hinsicht an Kleists „Michael Kohlhaas" erinnernde Roman „Das Feuerzeichen" (1949), wo die Hauptfigur ein Opfer der Strafjustiz, genauer: der unvollkommenen Gesetze wird und sich nun — psychologisch meisterlich ausgefeilt — im Konflikt zwischen Fügung und Stolz, zwischen Gewissen und Rechthaberei, zwischen Aufsichnehmen der Strafe und Annahme der Gnade bis zum bösen Ende aufreibt (daß der Fall — übergesetzlicher Notstand — von Bergengruen strafrechtlich falsch gelöst worden ist, ändert nichts an der grundsätzlichen Problematik; davon abgesehen mag dies vielleicht sogar den Reiz der Lektüre erhöhen). Es wäre verlockend, insonderheit diese beiden Romane einmal des näheren aus rechtlicher, rechtsphilosophischer Sicht zu analysieren. Hier kann dies freilich nicht geschehen. Doch soll wenigstens noch darauf hingewiesen werden, daß Bergengruen auch in fast allen anderen Romanen, mehr oder weniger zentral, Rechtsfragen nachspürt — genannt sei jetzt nur noch das 1940 erschienene großangelegte Opus „Am Himmel wie auf Erden", in dem in einer erschütternden Vision der Untergang Berlins vorweggenommen wurde. So faszinierend Bergengruens Romane sind, jedenfalls einige unter ihnen, im Mittelpunkt seiner Erzählkunst steht doch die Novelle. Auch das hat mit seiner Vorliebe für die dichterische Gestaltung von Rechtsproblemen zu tun. „Jeder Erzähler", bekennt er, „hat einen ganz bestimmten Ausgangspunkt: beim einen ist das Primäre das, was man mit einem nicht sehr glücklichen und viel mißbrauchten Wort das Milieu nennt, beim anderen ist es ein Charakter, bei mir ein Vorgang, eine Handlung; damit hängt wohl auch meine Neigung zur Novelle zusammen" 18 . Wieder werden wir an Kleist erinnert: 15 18

Zitiert nadi Bänziger (wie Fußn. 6), S. 68 f. Wie Fußn. 15, S. 69.

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die Dynamik der Darstellung, das Vorantreibende im Fluß der Handlung. Vornehmlich um menschliche Handlungen geht es nun auch im Recht, zumal im Strafrecht, doch nie um eine einzelne Handlung in ihrer Singularität, sondern immer nur in ihrer Modellhaftigkeit, Wiederholbarkeit: in ihrer Typizität. Und ebenso ist im Bereich der Dichtung die Novelle diejenige Kunstform, die mehr als irgendeine andere dem Typischen menschlicher Handlungen zugewandt ist. Hierzu noch einmal Bergengruen selbst: „Fragt man mich nach meinem erzählerischen Kredo, so möchte ich nicht die Aufgaben des Epikers schlechthin, wohl aber die mir persönlich als Epiker und insbesondere als Novellisten gewiesenen Aufgaben folgendermaßen kennzeichnen: Ohne das Typische menschlicher Zusammenhänge, den großen Gemeinschaftshintergrund aller Erzählkunst je aus dem Auge zu verlieren, soll die Erzählung handlungsmäßig vom außerordentlichen Ereignis ausgehen, wie es alle ursprüngliche Fabulierkunst von ihren ersten Anfängen an getan hat. Unter dem außerordentlichen Ereignis verstehe ich in diesem Zusammenhange nicht das Sensationelle, Willkürliche und womöglich gar vom Zufall Getragene, sondern das aus der Menge der Geschehnisse durch Bewegung, Reichtum und Steigerung der Lebensgefühle Hinausragende" 17 . Dieser seiner Richtschnur folgend, hat Bergengruen kraft seiner schier unerschöpflichen Phantasie ein wahres Füllhorn von Novellen ausgeschüttet, von denen manche so bekannt sind, daß man oft den Autor nicht mehr weiß. Nur einige wenige können hier genannt werden: „Der spanische Rosenstock", „Sternenstand", „Die Flamme im Säulenholz", „Die Hände am Mast", „Das Tempelchen", „Schatzgräbergeschichte", „Die Zwillinge aus Frankreich" 18 . Unter juristischen Gesichtspunkten — keineswegs aber nur unter juristischen — verdienen die folgenden vier Novellen besondere Beachtung: „Die Feuerprobe", „Die drei Falken„Das Netz" und „Musketengeschichte"19. Ausschließlich der letztgenannten Novelle, der Musketengeschichte, wollen wir uns im folgenden zuwenden, freilich immer im 17 Die Feuerprobe; Novelle (1933), Ed. Reclam, 1954, S . 6 4 f f . : Bekenntnis zur Höhle; Ein Nachwort (S. 71 f.). — Vgl. auch Die Rittmeisterin, 23. Kap.: „Es ist wichtig, die Gesetzlichkeiten zu erkennen, nach denen ein Menschenschicksal läuft. Die Lebenseinzelheiten, an denen seine Gesetze sich bewähren, sind unwichtiger. Sie haben nur Beispielsdiarakter." 18 Viele Novellen sind in Sammlungen vereinigt: Das Buch Rodenstein (1927; erweitert 1950); Der Tod von Reval (1939); Zorn, Zeit und Ewigkeit (1959); Novellenbuch (1962) u. a. m. l » Die Feuerprobe, siehe Fußn. 17; Die drei Falken, 1937; Das Netz, 1956; Musketengeschichte, zitiert nach: Novellenbuch (siehe Fußn. 18), S. 139 ff.

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Hinblick auf das zuvor über Bergengruen und sein Schaffen im allgemeinen Gesagte. Daß wir gerade die Musketengeschichte herausgreifen, hat folgenden Grund: In dieser Miniaturerzählung sind die Wesenselemente Bergengruenscher Novellen in einer solchen Weise konzentriert, daß man sie in mehrfacher Hinsicht als beispielhaft ansehen kann. Auf engstem Raum schildert der Dichter in einer kaum zu übertreffenden Dynamik der Gestaltung einen dramatischen Handlungsablauf, der geradezu gespickt ist mit rechtlichen, strafrechtlichen Problemen: Schuld und Schicksal, Voraussehbarkeit und Zufall, Finalität und Kausalität, Wille und Erfolg, Recht und Entscheidung . . . Einem Kriminalisten muß bei der Lektüre dieser Novelle Hans Welzel in den Sinn kommen. Denn die Konvergenzen springen in die Augen. Ob Welzel und Bergengruen sich einmal begegnet sind? Sollte dies nicht der Fall sein, so wären die Ubereinstimmungen im Denken beider umso mehr ein Indiz dafür, daß es doch wohl so etwas gibt wie „ontologische" oder „sachlogische Strukturen" im Objekt der rechtlichen Regelung, Strukturen, die wir beachten müssen, wenn wir die zu regelnde Sache nicht verfehlen wollen — freilich kein geschlossenes Naturrechtssystem, aber doch „ewige Wahrheiten" in dem Sinne, daß es sich hierbei um transzendente Vorgegebenheiten handelt, die unser Denken, Wollen und Tun sowohl binden als auch verbinden (z. B. die Struktur der Handlung, der Teilnahme, der Schuld)20. Der Analytiker mag hier unwissenschaftliche Metaphysik wittern. Nun gut, aber wir wollen ja auch dem Denker und dem Dichter das Wort geben21. III. Bergengruens „Musketengeschichte"22 könnte bei oberflächlicher Lektüre einfach nur als Schilderung eines Soldatenabenteuers erschei20

Vgl. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 3. Aufl. 1960, S. 197 f., sowie Wahrheit und Grenze des Naturrechts, 1963, bes. S. 8 f., 14 ff. — Auch Bergengruen ist kein Prediger des alten Naturrechts, aber daß es einen „ewigen und unverrückbaren Maßstab des Rechts" gibt, legt er nicht nur dem jugendlichen Idealisten Diomede in den Mund (Der Großtbrann und das Gericht, 12. Kap.), dazu steht er auch selbst: „ . . . der Einzelfall, und sei es der abenteuerlichste und scheinbar isolierteste", ist mir „nichts als die Manifestation ewig gültiger Gesetze, und deren Offenbarwerden, nicht deren vordringliche Predigt, das, was ich als metaphysische Pointe bezeichnen möchte, scheint mir denn auch der Kern jeder erzählenden Kunst zu bilden" (Die Feuerprobe, wie Fußn. 17, S. 72). 21 Zur Gleichheit und deshalb auch Versdiiedenheit des Diditens und Denkens vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 7. Aufl. 1955, bes. S. 50 f. 22 Im folgenden wird die Nacherzählung dieser Novelle zur besseren Übersicht etwas eingerückt.

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nen. In Wahrheit steckt viel mehr dahinter. Das Wesentliche sind nicht die beschriebenen Ereignisse, vielmehr werden diese ausschließlich vom Ende der Erzählung her bestimmt — man kann ruhig sagen: final gesteuert —, von der Frage nämlich, worauf es für die Beurteilung einer Handlung ankommt: auf den Willen, welcher des Menschen ist, oder auf die Tat, welche des Schicksals ist? Es geht also m. a. W. um das Problem von Akt- und Erfolgswert bzw. -unwert, das Welzel gleich zu Beginn seines Lehrbuchs als eines der zentralen Probleme des Strafrechts erörtert23. — Die Geschichte beginnt so: Zwei degradierte Offiziere, Coloni und Jastrzembowicz, dienten im Infanterieregiment des Grafen von Tiefenbach als gemeine Soldaten, der eine in der ersten, der andere in der dritten Kompanie. Sie waren seit langem verfeindet, und diese in mehreren Duellen ausgetragene Feindschaft war auch der Grund für den Verlust ihrer Charge. Das Regiment lag hinter der Front in einem unwirtlichen Gelände; Wasser gab es nur in einem etwas abseits gelegenen Teich. Zu diesem Teidi ging eines Morgens Jastrzembowicz, um sich zu waschen. Als er an einem Gebüsch vorbeikam, schrie ihm Coloni, der sich dahinter versteckt hatte, zu: »Jetzt bist du hin!" Gleidi darauf drückte Coloni seine Muskete ab. Jastrzembowicz stürzte, Coloni aber ging lachend in seine Unterkunft zurück. Es dauerte nicht lange, und Coloni wurde verhaftet. Noch am selben Tag wurde Anklage erhoben und die Kriegsgerichtsverhandlung anberaumt: Mord an Jastrzembowicz. Coloni war außer sich: „Ja, zum Satan, ist er denn tot?", schrie er. „Das ist Hexenwerk, das ist Zauber! Der Jastrzembowicz soll tot sein? Wo ist denn die Wunde? Ich schwöre, ich hatte blind geladen!" Das Kriegsgericht trat unter dem Vorsitz Tiefenbachs zusammen. Sein Adjutant Streifflingen verlas die Anklage und auch ein Gutachten des Regimentsmedikus. Coloni verstand nichts. Was man da gegen ihn vorbrachte, war ihm unbegreiflich und schreckenerregend. Erneut beteuerte er: „Ich habe ihm nur einen Possen spielen wollen; die Muskete war blind geladen." Sein Verteidiger, ein junger Kompanieoffizier namens Larisch, plädierte erregt: „Die Herren wollen bedenken, daß es ein Zufall war, ein verfluchtes Zusammentreffen. Der Leichnam weist keine Spur von Kugel und Wunde auf. Es war ein Schießen, kein Erschießen. Merkmal des Schießens ist der Schuß, Merkmal des Erschießens ist der Einschuß." „Merkmal des Erschießens ist der Tod", warf ein anderer Offizier ein. „Ach was", erwiderte ein altgedienter Kapitän grob: „Kerl Eins schießt, Kerl Zwei fällt tot um, Kerl Eins wird gehängt. Fertig." Der Verteidiger versuchte es noch einmal: „Nicht am Schusse ist Jastrzembovicz gestorben, sondern an seiner Angst. Ein feiger Soldat aber v e r d i e n t . . . " Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn M Welzel, Das deutsdie Strafrecht; Eine systematische Darstellung, 11. Aufl. 1969, S. 1 ff.

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M a j o r von Radeleben, der unmittelbare Vorgesetzte von Jastrzembovicz, verbat es sich, einem seiner Leute Feigheit vorzuwerfen. Tiefenbach, der sich alles schweigend angehört hatte, schloß die Sitzung: „Ich werde das Regiment meine Entscheidung wissen lassen."

Hier hat nun die Novelle den Punkt erreicht, an dem die Wende eintreten muß, das Gipfelereignis, die „Novität". Die Neugierde auf den „Falken" ist geweckt. Zuvor aber wollen wir einige Augenblicke zu einer juristischen Lagebesprechung innehalten. Jastrzembovicz ist nicht erschossen worden, er hat vielmehr einen tödlichen Schreck erlitten, als Coloni den blinden Schuß — den „Schreckschuß" — auf ihn abgab. Daß es sich so verhält, kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Danach hat Coloni den Tod des Jastrzembovicz verursacht. Denn unter Zugrundelegung eines „ontologischen" Kausalbegriffs und der Theorie von der „Gleichwertigkeit" aller Bedingungen (als Bedingungen!) ist eine Handlung auch dann ursächlich, „wenn sie nur infolge der besonderen körperlichen oder seelischen Verfassung des Verletzten . . . den Erfolg herbeiführte" 24 . Dem Kapitän, der für juristische Quisquilien offensichtlich nichts übrig hat, genügt diese Kausalitätsfeststellung (seine schneidige Condicio-sine-qua-non-Formel verdient Beachtung!), um den Coloni an den Strang zu liefern. Bekanntlich hat es das wirklich gegeben — und man braucht nicht sehr weit zurückzugehen in der Geschichte —, daß schon die bloße Kausalität als hinreichender Grund für die Bestrafung erachtet wurde. Aber zumindest in der Lehre ist diese Auffassung längst überwunden. Hierzu Welzel: „Für einen Erfolg kann nur der haftbar gemacht werden, der ihn verursacht hat. Aber ob er wirklich haftbar gemacht wird, hängt jenseits der Kausalfrage von den weiteren Voraussetzungen des Verbrechensbegriffs ab, in erster Linie davon, wieweit der Kausalzusammenhang Teilmoment der Tatbestandshandlung ist" 2 5 . Wir müssen also fragen, ob das Verhalten des Coloni überhaupt eine Tötungshandlung im Rechtssinne darstellt. Was da geschah, war ja ein völlig atypischer, geradezu abenteuerlicher Kausalverlauf — „Hexenwerk" nannte es Coloni, und sein Verteidiger sprach von „Zufall" und „verfluchtem Zusammentreffen". Folgt man der „kausalen Handlungslehre", dann muß man allerdings auch unter solchen Umständen von einer Tötungshandlung sprechen. Doch sinnvoll ist das gewiß nicht. Coloni hat sich ja nicht den Tod des Jastrzembovicz zum Ziel gesetzt, und er hat auch keine Mittel ausgewählt, die zu 24 25

Welzel, Strafredit, S. 43 f. Welzel, Strafredit, S. 45 (Hervorhebung im Original).

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dessen Tötung geeignet waren (Adäquanzgedanke); daß der böse Erfolg dennoch eintrat, lag an der „Verkettung ungeahnter Umstände", die ihn lediglich „als zufällige Folge des Handlungswillens" erscheinen lassen26. Es fehlt mithin am Finalzusammenhang zwischen der Abgabe des blinden Schusses und dem Tod des Jastrzembowicz. Genau darauf zielt auch das Argument des Verteidigers Larisch: „Es war ein Schießen, kein Erschießen." Vielleicht hatte er das Lehrbuch Welzels zu Rate gezogen: „Wer, um sich zu üben, auf einen Baum schießt, hinter dem — ihm verborgen — ein Mensch steht, und diesen Menschen tötet, gibt zwar einen finalen Übungssdiuß ab, nimmt aber keine finale Tötungshandlung vor" 27 . Nach allem hat Coloni nicht vorsätzlich getötet, denn „alle Wirkungen, die jenseits des vom (Tatbestands-) Vorsatz umfaßten Kausalzusammenhangs eintreten, scheiden für die Tatbestände der vorsätzlichen Delikte aus" 28 . Aber vielleicht könnte sein „finaler Schreckschuß" trotzdem strafrechtlich relevant sein. In gewissem Umfang nämlich „befaßt sich die Rechtsordnung mit finalen Handlungen nicht so sehr im Hinblick auf das Ziel, sondern im Hinblick darauf, daß der Handelnde bei der Steuerung und Lenkung seiner Handlung auf das Ausbleiben sozial unerwünschter Erfolge vertraut oder an sie nidit denkt". Es ist klar, was gemeint ist: die fahrlässigen Begehungsdelikte29. Aber bevor wir Colonis Verhalten unter diesem Gesichtspunkt würdigen, wollen wir zuerst den Ausgang des Gerichtsverfahrens hören. D a s Regiment war aufgestellt, Coloni stand dem Exekutionskommando gegenüber. D a s von Tiefenbach gefällte Urteil wurde verlesen, und nachdem dieser sich, militärischem Brauch gemäß, von dem noch immer fassungslosen Verurteilten verabschiedet hatte, gab er das Zeichen zur Vollstreckung. D i e S a l v e krachte, Coloni stürzte, der Medikus eilte zu ihm und meldete sodann: „ D e r Delinquent ist tot, eine Kugel hat seine Brust durchschlagen und i s t . . W e i t e r k a m er nicht, denn Tiefenbadi schrie entgeistert: „ E i n e Kugel? Alle Teufel, ich hatte blind laden lassen!" Er hatte in der T a t blind laden lassen, aber nur dreiundzwanzig Mann waren dem Befehl nachgekommen, einer hatte scharf geladen. Wer es

26 Welzel, Strafredit, S. 73 und überhaupt S. 33 ff. — Idi selbst folge Welzels „finaler Handlungslehre" nur teilweise; in den entscheidenden Punkten (namentlidi in den hier relevanten) besteht jedodi weitgehende Ubereinstimmung; vgl. insbes. meine Abhandlung: Die ontologische Struktur der Handlung — Skizze einer personalen Handlungslehre, in: Festschr. f. H. Mayer, 1966, S. 79 ff. (audi in: Schuld und Strafe; Studien zur Strafrechtsdogmatik, 1966, S. 25 ff.). " Welzel, Strafredit S. 36. 28 Welzel, Strafrecht S. 45. 2» Welzel, Strafredit S. 37 f.

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war, ließ sich nicht ermitteln. Tiefenbach wollte von seinem Adjutanten wissen, was er mit den Schützen anfangen solle — alle vierundzwanzig füsilieren lassen oder jeden dritten? Doch Streifflingen gab nur eine ausweichende Antwort. Tiefenbach grübelte. Nach einer Weile sagte er zu Streifflingen: „Das mit der Kugel ist gegen meinen Willen und Befehl geschehen. Allein, wenn dieser Ausgang außer Betracht bleibt, habe ich recht gerichtet?" „Nein", erwiderte Streifflingen böse und ohne Schonung, „dieses Spiel hätte nicht gespielt werden sollen. Coloni wußte nicht, was aus seinem Schuß entstehen konnte, die Exzellenz aber ist durdi ein Beispiel unterrichtet gewesen." Tiefenbach widersprach nicht, er litt sichtlich. Vor allem eine Frage quälte ihn: „Streifflingen, was richtet man? Den Willen, welcher des Menschen ist, oder die Tat, welche des Schicksals ist?" Und als Streifflingen nicht antwortete: „So rede doch! Bis auf diesen Tag habe ich geglaubt, es müsse dem Menschen möglich sein, rechtes Recht zu sprechen." Doch Streifflingen zuckte nur die Achseln.

Jetzt also ist das unerhörte Ereignis eingetreten, und ganz groß steht die entscheidende Frage da: Was richtet man? Tiefenbach wollte „rechtes Recht" sprechen, wollte Gleiches mit Gleichem vergelten: den „finalen Schreckschuß" mit einer „finalen Schreckexekution". Doch statt des von ihm gewollten Rechts ist krasses Unrecht eingetreten. Gleichwohl möchte sich Tiefenbach rechtfertigen. Wenn man den Ausgang außer Betracht lasse, dann habe er doch recht gerichtet! Und den Erfolg müsse man außer Betracht lassen, denn dieser sei vom Zufall abhängig. Nur sein Wollen könne man dem Menschen zurechnen, nicht sein Schicksal und sein Unglück. Sagt dies nicht auch Welzel? Oft und oft hat er betont, daß das entscheidende Unrechtselement einer Straftat nicht im Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert liegt, sondern im Akt- oder Handlungsunwert, der von jenem „relativ unabhängig" ist, da eine Handlung auch dann ihren Unwertcharakter behält, wenn der gewollte schlimme Erfolg (Rechtsgutsverletzung) nicht eingetreten ist (evtl. als Versuch strafbar). Die Präponderanz des Aktunwerts gegenüber dem Erfolgsunwert besteht nun aber nicht nur bei der Vorsatztat, sondern auch — und darauf kommt es Welzel wesentlich an — beim fahrlässigen Delikt. Vom Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs hängt zwar die Strafbarkeit der Handlung ab, dodi ob diese als „fahrlässig" zu bewerten ist, richtet sich in erster Linie nach dem Aktunwert: der Sorgfaltsverletzung. Beruht der kausal verursachte Erfolg nicht auf einer Sorgfaltsverletzung, dann kann er dem Handelnden auch nicht zugeredinet werden; eine solche Rechtsguts Verletzung ist wohl ein Unglück, nicht aber ein Unrecht30. 30

Siehe Welzel, Strafredit, S. 1 ff., 34, 46, 127 ff., 135 f.

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Man richtet also den guten oder bösen Willen bzw. die Beobachtung oder Nichtbeobachtung der gebotenen Sorgfalt, nicht den Erfolg. Heißt das nun, daß Tiefenbach recht getan hat? Sein Adjudant Streifflingen verneint dies entschieden, und zwar aus zweifachem Grund. Coloni konnte nicht voraussehen, daß Jastrzembowicz vor Schreck tot umfallen würde. Auch ein „einsichtiger und besonnener Mensch" hätte unter den gegebenen Umständen nicht daran gedacht, daß mit dem blind geladenen Gewehr ein solches Unheil angerichtet werden könnte, denn dies widersprach aller Lebenserfahrung 31 . Einer Sorgfaltsverletzung machte sich Coloni daher nicht schuldig (zumindest nicht hinsichtlich einer Tötung). Folglich durfte Tiefenbach ihn auch nicht bestrafen, selbst in der Weise nicht, wie er es beabsichtigt hatte. Das ist der eine Grund. Der andere Grund, warum Tiefenbach im Unrecht ist, liegt in der Erfahrung, die er gerade im Fall Coloni gemacht hat: er war durch ein Beispiel gewarnt. Deshalb durfte er nicht darauf vertrauen, daß nichts passieren werde. Er ging ein Risiko ein, das nicht mehr sozialadäquat war. Und darum ist Colonis Tod die Folge seiner Sorgfaltsverletzung; das war nicht einfach nur ein Unglück32. Es gibt keinen Zweifel, daß Bergengruens Rechtsauffassung sich mit derjenigen Streifflingens deckt. Der Schuldige ist Tiefenbach, nicht Colini. Aber ebenso unzweifelhaft teilt Bergengruen auch die von Tiefenbach durch bittere Erfahrung gewonnene Einsicht, daß es dem Menschen nicht gegeben ist, rechtes Recht zu sprechen. Vollkommenes gibt es nicht auf unserer Erde, also auch kein vollkommenes Recht33. Mit einer über den Wolken schwebenden rein ideellen Gerechtigkeit können wir nichts anfangen, nur was Bezug zur Wirklichkeit hat, geht uns an 34 . Zu dieser Wirklichkeit gehört aber auch das Schicksal, gehört die Verkettung in Widersprüche und Ausweglosigkeiten, gehört die unvermeidbare Verstrickung in Schuld35. Und so sind auch unsere Entscheidungen nicht aus absoluten Ideen, Prinzipien oder Begriffen ableitbar, ihre Richtigkeit hängt vielmehr von uns selbst ab36, wir tragen die Verantwortung dafür, tragen das Risiko und, so wir versagen, auch die Schuld37. Aber auch wenn uns keine Schuld trifft, wenn wir alle nur mögliche Sorgfalt und Auf31

Vgl. Welzel, Strafrecht S. 46, 131 ff. Vgl. Welzel, Strafredit, S. 36, 68 f., 130, 132 ff. 33 Herzog Karl der Kühne, 6. Teil; Die Rittmeisterin, 14. Kap. 84 Der Großtyrann und das Geridit, 12. Kap. 35 Der spanisdie Rosenstock, 32. Aufl. 1964, S. 48 f. 38 Das Feuerzeidien, 1949, 11. Kap. 37 Vgl. Welzel, Vom irrenden Gewissen; Eine reditsphilosophisdie Studie, 1949, S. 22 f. 32

Werner Bergengruen

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merksamkeit walten lassen, treffen wir nie das absolut Richtige, nie das rechte Recht, sind wir doch selbst in keinem Augenblick im Zustand völliger Ubereinstimmung mit dem, was wir sein sollen. Unsere Entscheidungen haben daher stets den Charakter der Bedingtheit, Vorläufigkeit, Korrekturbedürftigkeit. Die letzte Entscheidung fällen wir nicht. Darum endet die Musketengeschichte auch nicht mit dem Disput zwischen Tiefenbach und Streifflingen. Keiner von beiden hat das abschließende Wort. Die „metaphysische Pointe" kommt erst. G e r a d e als Tiefenbach seine bohrenden Fragen an Streifflingen gerichtet und von diesem eine Antwort verlangt hatte, wurde die Tür aufgerissen, und ein Kornett trat ein. Er salutierte und überreichte dem Obersten eine versiegelte Ordre. Tiefenbach öffnete und las. D a n n sagte er zu seinem Adjutanten: „ S o oder so, die Rechnungen sind gelöscht. Lassen Sie Generalmarsch blasen. Der Angriff ist befohlen."

Mit einem Federstrich werden alle juristischen Argumente wieder in Frage gestellt. Der „Falke" ist entflogen. Die Antinomie bleibt. Neue Entscheidungen müssen gefällt werden. Aber Bergengruen will damit nur auf die letzthinnige Fragwürdigkeit unseres Rechts und unserer Auffassungen vom Recht hinweisen. Keinesfalls will er die „Kraft des Faktischen" über das Recht siegen lassen. An die Kraft glaubt man, wenn man jung ist. „Glaubt ein Junger an das Recht, so ist er ein Schwärmer. Man muß Jahrzehnte gelebt haben, um an das Recht glauben zu können, das den Triumph der Ohnmacht gebären kann. Die K r a f t siegt jede Woche, das Recht bedarf der Jahrhunderte, aber es bindet sie auch" 38 . Hans Welzel hat aus der Erfahrung von Jahrzehnten dieselbe Uberzeugung gewonnen: daß die bloße Macht des Stärkeren nie Recht schaffen kann; nur als „Ausgeburt einer makabren Phantasie" wäre derartiges denkbar 39 . Ohne diese Überzeugung, ohne den Gedanken, daß letzten Endes doch das Recht und nicht die Macht siegt, könnte man sich Welzels Werke schwerlich vorstellen. Denn warum sonst ist er nie müde geworden, die „Maus" zu greifen, den „Falken" einzufangen — will sagen: die Wahrheit zu ergründen und der Gerechtigkeit eine Gasse zu bahnen?

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Herzog Karl der Kühne, 3. Teil. Welzel, Gesetzmäßige Judentötungen?, in: N J W 1964, 522 f.

Über den Begriff des Unrecht-tuns bei Aristoteles anläßlich einer Kritik gegen die finale Handlungslehre ANNA BENAKIS,

Athen

Als Welzel im Jahre 1955 vor Mitgliedern und Studenten der Reditswissenschaftlichen Fakultät Athen über die finale Handlungslehre sprach1, schloß er seinen Vortrag mit folgenden Worten ab: „Die Lehre über den Zweck ist eine alte Erkenntnis. Sie wurde vor zweieinhalb Jahrtausenden in dieser Stadt begründet. Aristoteles entwickelte die Aufbauelemente der finalen Handlungslehre, die bis zum heutigen Tag gelten. So kann ich meinen Vortrag nicht besser abschließen als mit dem Ausdruck meiner Hochachtung und Bewunderung gegenüber dem Vorfahren der finalen Handlungslehre, Ihren alten Mitbürger Aristoteles2." Die unmittelbare Antwort zu diesem feierlichen Schluß gab der griechische Strafreditslehrer Chorafas, ein entschiedener Gegner des Finalismus und treuer Beling-Anhänger3, bald danach4. „Die Lehre Welzeis — meint er — befindet sidi gerade auf den Antipoden der aristotelischen Lehre über das Sxovaiov (hekusion, das Freiwillige). Denn während Aristoteles sowohl die vis absoluta als auch den Tatbestandsirrtum in die Lehre über die Schuld einordnet, rechnet Welzel beide zur Handlungslehre." Noch weiter zieht Chorafas5 Aristoteles heran, um seine Gegnerschaft gegen jede Einbeziehung von subjektiven Momenten in das Unrecht zu stützen und zugleich seine Auffassung, daß das Unrecht die äußere-objektive Seite des Verbrechens sei, zu belegen. Dieses, meint er, hat schon Aristoteles richtig erkannt, indem er sagte: A8ixr][ia öe xai öixaiojiQäYTma öpiatai tai exouakp xai äxouaicü' otav yä.Q exoiiaiov FJ, ipevexai, äua ÖE xai A8IXRM legen zu lassen. Insbesondere aber wirft die von ihm stark hervorgehobene Möglichkeit zeitlicher Vorverlegung zulässiger „Sterbehilfe" ernste Fragen auf. Sobald man eine äußerstenfalls denkbare Rechtfertigung nicht von vornherein absolut auf den Bereich beschränkt, in dem es im strengen Sinne um Hilfe beim Sterben, die Verkürzung eines bereits erlöschenden Lebens geht, bildet die Gefahr, daß die Achtung vor dem Rechtsgut nach und nach aufgeweicht wird, ein für die Gesellschaft kaum zu tragendes Risiko. Dieses Risiko einzugehen, dürfte um so weniger Anlaß bestehen, weil die Fälle des Frühstadiums in aller Regel so liegen, daß der Betreffende, wenn er will, sich auch selbst das Leben nehmen könnte. Jedenfalls aber sollte sich der Gesetzgeber nicht dazu verleiten lassen, nun auch noch das Problem einer gesetzlichen Regelung zulässiger Euthanasie aufzugreifen. Abgesehen von der bisher geringen praktischen Bedeutung, kann es der Notstandslehre überlassen bleiben. N u r wäre, um allen Tätern gerecht zu werden, de lege ferenda zu erwägen, in § 2 1 6 StGB die bisherige Untergrenze der Freiheitsstrafe herabzusetzen, auch weil dann die Anwendung von § 14 StGB nicht mehr schlechthin verstellt ist. f) Zusammenfassend ist zur Strafbarkeit der aufgrund Einwilligung begangenen Tötung nach alledem zu konstatieren, daß sie entgegen der von Schmitt und anderen vertretenen Auffassung weder einen Widerspruch noch einen Anachronismus darstellt. Vielmehr besteht eine sachlich begründete Notwendigkeit, an der grundsätzlichen Strafbarkeit festzuhalten, wobei die Tötung auf Verlangen im Hinblick 6 8 Beispiele medizinischer Befunde, die ggf. eine solche Situation entstehen lassen könnten, bei Simson, a. a. O. S. 94. Weniger problematisch sind die Unterlassungsfälle, da der Arzt nicht verpflichtet ist, ein qualvoll verlöschendes Leben durch aktive Maßnahmen künstlich zu verlängern, vgl. für die h. M. die Nachweise bei Welzel Lb. 11. Aufl., S. 281. 68a pü r di e Eröffnung der Möglichkeit des Freispruchs auch Engisch, Der Arzt an den Grenzen des Lebens, 1973, S. 52, wobei er jedoch an der Rechtswidrigkeit festhalten will.

Einwilligung und Selbstbestimmung

797

a u f den gegenüber den N o r m a l f ä l l e n vorsätzlicher T ö t u n g geminderten Handlungsunwert weiterhin als privilegiertes Delikt zu regeln ist 6 9 .

6. a) I m R a h m e n der Ausführungen zur einverständlichen T ö t u n g ist bereits alles Prinzipielle z u m Verhältnis v o n Einwilligung und Selbstbestimmung gesagt worden. F ü r die Einwilligung in die K ö r p e r v e r letzung — entsprechendes h a t für die in die Freiheitsberaubung zu gelten — kann deshalb d a r a u f weitestgehend Bezug genommen w e r den. D i e Besonderheit liegt hier darin, daß es nicht um die A l t e r n a t i v e Unbeachtlichkeit oder Beachtlichkeit, sondern um die F r a g e begrenzte oder unbegrenzte Beachtlichkeit geht. I m Unterschied zu § 2 2 6 a S t G B und § 1 5 2 E 1 9 6 2 , die eine Limitierung der Einwilligung vorsehen, soll nach § 1 1 2 Abs. 1 A E grundsätzlich jede mit (im übrigen mangelfreier) Einwilligung begangene Körperverletzung zulässig sein. In der Begründung heißt es hierzu, daß mündige Menschen grundsätzlich frei seien, über ihre Körperintegrität zu verfügen 7 0 . U n d Schmitt71 69 Nadi der Begründung zu § 101 AE, der dort vorgesehenen Nadifolgevorschrift des § 216 StGB, soll sich die Privilegierung daraus ergeben, daß eine „geringere Rechtsgutsverletzung" vorliege. Falls man damit sagen will, daß infolge der Einwilligung ein vermindertes Reditsgut Gegenstand der Verletzung sei, wäre das aus den im vorhergehenden zur Rechtsgutsfrage angeführten Gründen abzulehnen. Das Reditsgut fremden Lebens ist im Verletzungszeitpunkt in vollem Umfang existent, gleichgültig, ob eine Einwilligung erklärt worden ist oder nidit. Das ausdrückliche und ernstliche Verlangen berührt hier daher nur den Handlungs-, nicht den Erfolgsunwert der Tat, vgl. Jesdoedt, AT 2. Aufl., S. 279 f.; Maurad), BT 5. Aufl., S. 12, 14; Noll, Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, im besonderen die Einwilligung des Verletzten, 1955, S. 79 f. Im übrigen bleibt von dem obenstehenden Ergebnis unberührt, daß es dem Betroffenen in gewissen Fällen möglich ist, in lebensgefährdende Handlungen rechtfertigend einzuwilligen (RGSt. 57, 172; RG J W 1925, 2250; BGHSt. 4, 88 [93]; 7, 112 [115]; h. M.; dagegen insbes. Zip}, Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, S. 70). Dies macht zusätzlich deutlich, daß Rechtsgutsund Einwilligungsfrage auf zwei verschiedenen Ebenen liegen. Denn dogmatisch erhellt daraus, daß es genau genommen nicht um die Verfügungsbefugnis über das Rechtsgut, sondern präziser — und insofern ist der Reditsschutzverzichtstheorie beizupflichten — um die Dispensierungsbefugnis von zum Schutze des Rechtsguts aufgestellten Rechtsnormen geht. So liegt es beim Reditsgut fremden Lebens derart, daß eine Einwilligungsmöglidikeit bezüglich der Übertretung des das Allgemeininteresse an der Tabuisierung absolut sichernden Verbots der vorsätzlichen Tötung nicht besteht, bezüglich der Einhaltung des Verbots der fahrlässigen Tötung dagegen nicht völlig ausgeschlossen ist. Die beim Reditsgut aufgeworfene Frage nadi Hödistpersönlichkeit oder Allgemeininteresse ist mithin genauer betrachtet die Frage nach der Abdingbarkeit der zu seinem Schutze aufgestellten jeweiligen Normen, oben also des Verbots der vorsätzlichen Tötung. Der Inhalt des Rechtsguts bleibt derselbe. 70 S. 45 Vorbem. vor § 108. 71 A. a. O. S. 119.

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Hans Joachim Hirsdi

wendet sich gegen eine Einschränkung mit dem Argument, daß man die in § 226 a StGB enthaltene Begrenzung im Jahre 1933 hauptsächlich zur Vermeidung der Straflosigkeit einverständlicher Unfruchtbarmachung eingeführt habe und dabei die bevölkerungspolitischen Ziele des Dritten Reichs maßgeblich gewesen seien. Da die §§ 224, 225 StGB ausschließlich ein höchstpersönliches Rechtsgut schützten und zudem die bevölkerungspolitischen Ziele des Dritten Reichs heute nicht mehr in die Waagschale geworfen werden könnten, sei nicht ersichtlich, warum eine mangelfreie Einwilligung nicht zur Straflosigkeit führen solle. Es ist jedoch offensichtlich verfehlt, die Limitierung als im wesentlichen nationalsozialistisches Gedankengut abzuqualifizieren. Immerhin findet sie sich bereits in § 293 KE 1913, § 239 E 1925 und § 264 E 1927. Audi sind Rspr. und überwiegende Lehre nicht vor Einführung des § 226 a StGB von einer uneingeschränkten Einwilligungsbefugnis bei den §§ 223 ff. StGB ausgegangen72. Es entspricht vielmehr den Rechtsordnungen der Kulturstaaten, daß nicht in jede Körperverletzung, sei sie noch so schwerwiegend, strafbefreiend eingewilligt werden kann. Schmitts Behauptung, es sei dem NS-Gesetzgeber bei § 226 a StGB darum gegangen, die Strafbarkeit der freiwilligen Sterilisation zu ermöglichen, ist zudem historisch unrichtig73. Und das Argument, mündige Menschen müßten grundsätzlich frei sein, über ihre Körperintegrität zu verfügen, läßt unberücksichtigt, daß zu unterscheiden ist zwischen dem, was der mündige Mensch sich selbst antun darf, und dem, was Dritte mit ihm anstellen dürfen. Deshalb bedeutet es auch keinen Widerspruch, einerseits die Selbstverletzung straflos zu lassen, andererseits die sdiweren Fälle der einverständlichen Fremdverletzung zu bestrafen. Auf die entsprechenden Fragen bei der Tötung auf Verlangen kann verwiesen werden. Auch bei der Einwilligung in die Körperverletzung geht es darum, daß der Gesichtspunkt der Verantwortung der Gesellschaft für die Wahrung des Respekts vor der physischen Integrität des Mitmenschen eingreift. Während er jedoch bei der vorsätzlichen Tötung eine rechtfertigende Wirkung der Einwilligung überhaupt ausschließt, läßt er hier angesichts des sehr unterschiedlichen Gewichts möglicher Beeinträchtigun72

Vgl. die Nachweise bei Mezger, Strafrecht, 2. Aufl. 1933, S. 215 ff., der auch darauf hinweist, daß der Satz volenti non fit iniuria nicht schrankenlos zu verstehen ist. 73 Es lag genau umgekehrt. Die Vorschrift wurde erlassen, um die rechtlichen Bedenken auszuräumen, die der, wie es hieß, im öffentlichen Interesse gebotenen Vornahme von Sterilisationen oder Kastrationen mit Einwilligung der Betroffenen entgegenstanden, vgl. Schäfer-Dohnanyi, Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935, § 226 a Anm. I V 1.

Einwilligung und Selbstbestimmung

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gen einen Freiraum; die Notwendigkeit der Tabuisierung besteht nur hinsichtlich des Kernbereichs der Körperintegrität, insoweit aber recht deutlich74. Daß der A E demgegenüber auf die Selbstbestimmung verweist, ist um so überraschender, weil er bei der Tötung auf Verlangen zutreffend der Tatsache Rechnung trägt, daß bei schwerwiegenden Eingriffen in die Person eines anderen das Interesse der Allgemeinheit an der Achtung des Rechtsguts dem konkreten Individualwillen vorgeht. Das eigentliche Rechtsproblem der Einwilligung in die Körperverletzung liegt nicht bei der Frage, ob überhaupt eine Limitierung erfolgen soll, sondern wie diese vorzunehmen ist. Es besteht heute wohl Einverständnis darüber, daß der Gesichtspunkt „Sittenwidrigkeit der Tat" kein brauchbares Kriterium darstellt. Nachdem eine Sonderregelung für die freiwillige Sterilisation vorgesehen ist, bietet sich die Grenze zur schweren Körperverletzung als Zäsur an; wobei audi zu berücksichtigen ist, daß es sidi bei den §§ 223 und 223 a StGB nur um Privatklagedelikte handelt75. b) Bemerkenswert ist, daß Schmitt in seinen weiteren Ausführungen, in denen er auf die damals geplante Neufassung des § 11 OpiumG (jetzt § 11 BetäubungsmittelG) eingeht76, die zuvor zur Einwilligung vertretenen Thesen nicht durchhält. Er lehnt die nach der Vorschrift bestehende Strafbarkeit von Fällen abstrakter Gefährdung der Gesundheit einwilligender Dritter und sogar des Täters nicht etwa als systemwidrig ab. Denn das geschützte Rechtsgut sei hier nicht die Gesundheit des einzelnen, sondern die „Volksgesundheit" und damit ein Reditsgut der Allgemeinheit. Gleichwohl liegt ein Widerspruch vor.

74 Näher zu diesen Fragen Hirsch, ZStW 83, 165 ff.; L K 9. Aufl., § 226 a Rdn. 36 f. 75 Dazu im einzelnen Hirsch, ZStW 83, 167 f.; L K 9. Aufl., § 226 a Rdn. 7. — Soweit die Einwilligung beachtlich ist, bildet sie hier dogmatisch einen Rechtfertigungsgrund. Neuere Tendenzen, den Unterschied zwischen tatbestandsausschließender und rechtfertigender Einwilligung einzuebnen (vgl. zuletzt D . Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand infolge Einwilligung des Rechtsgutsträgers, 1970, mit weit. Nachw.), hängen u. a. mit der oben kritisierten Auffassung zusammen, die den Reditsgutsbegriff bei Reditsgütern der Person durch den Autonomiegesichtspunkt subjektiviert. Es bedeutet jedoch einen Unterschied, ob der Angriff auf die Motivationsfreiheit oder aber der auf ein unabhängig vom Willen des Trägers bestehendes, für sidi allein einen Wert verkörperndes Objekt verboten wird. Während eine mit Einverständnis des Betroffenen begangene „Nötigung" schon keine Rechtsgutsverletzung darstellt, bildet die mit Einwilligung erfolgte Körperverletzung immer eine Verletzung des geschützten Reditsguts. Der Unterschied spiegelt sich auch deutlich in dem zu verlangenden Vorsatzinhalt wider. n

A . a. O. S. 122 ff.

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Hans Joachim Hirsch

Ist man wie Schmitt der Ansicht, daß es ganz Sache der Selbstbestimmung des einzelnen sei, ob er sich körperlich verletzen oder töten lasse, folgt daraus notwendig, daß das ebenfalls für den Drogenmißbrauch zu gelten hätte. Hinter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Volksgesundheit steht doch das Allgemeininteresse am Schutz der Gesundheit der Bürger. Dies soll aber nach Schmitt wegen der Selbstbestimmung gerade keine strafrechtliche Relevanz haben. Seine Ansicht läuft darauf hinaus, daß man einerseits eine Mitsprachemöglichkeit der Allgemeinheit in Einwilligungsfällen absolut verneint, andererseits sie dennoch bejaht, sobald nur der Gesetzgeber ein abstraktes Gefährdungsdelikt formuliert. Warum soll sie dann aber nicht auch beim Verletzungsdelikt Bedeutung haben können? Es besteht doch wohl ebenfalls ein gewichtiges Allgemeininteresse daran, daß Menschen, auch wenn sie darin einwilligen, nicht verstümmelt oder getötet werden! Die Funktion des abstrakten Gefährdungsdelikts liegt nur in der Vorverlegung der Strafbarkeit.

7. Die vorliegende Untersuchung führt mithin zu dem Ergebnis, daß der von Schmitt und anderen erhobenen Forderung, bei allen mit (mangelfreier) Einwilligung des Verletzten begangenen Taten, also auch vorsätzlichen Tötungen und jeglichen vorsätzlichen Körperverletzungen, die Strafbarkeit abzuschaffen, entschieden entgegenzutreten ist. Jene Forderung zieht von einem extrem individualistischen Ansatz her strafrechtliche Folgerungen, die zwar wegen des Muts zur Konsequenz von intellektuellem Reiz sind, aber vom Sozialleben und seinen Zusammenhängen wenig Kenntnis nehmen. D a ß der Mensch nicht eine vereinzelte Insel, sondern Teil eines sozialen Archipels ist, tritt dabei doch gerade in letzter Zeit wieder stärker ins Bewußtsein. Man hat den Eindruck, daß die kritisierte Auffassung stark von einer überspitzt individualistischen kriminalpolitischen Richtung der zweiten Hälfte der sechziger Jahre motiviert ist, die zwar hier und da noch nachwirkt, aber unter dem Blickpunkt der sozialen Gesamtentwicklung als überholt gelten darf.

Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht EBERHARD SCHMIDHÄUSER,

Hamburg

1. Befragt man die deutsche Rechtsprechung und Literatur der letzten hundert Jahre, um zu erfahren, wie Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord von Strafrechtswissenschaft und -praxis gesehen werden, so macht man eine seltsame Erfahrung: Rund achtzig Jahre lang findet sich kaum eine höchstrichterliche Entscheidung, die sich auf einen Sachverhalt bezieht, in dem ein Selbstmord vorkommt 1 . Und auch die deutsche Strafrechtswissenschaft all dieser Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs behandelt die Frage des Selbstmords und der Beteiligung am Selbstmord nur ganz knapp, und zwar jeweils am Rande der Darstellung der Tötungsdelikte als sozusagen unproblematisch 2 . Die Straftatbestände der Tötungsdelikte werden dahin verstanden, daß sie nur die Tötung (und die versuchte Tötung) eines anderen meinen; der Selbstmord ist straflos, die Beteiligung daran (als Anstiftung und als Beihilfe) ist ebenso straflos. Erst mit der Entscheidung des ersten Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 12. 2. 1952 (BGHSt 2, 150) verwandelt sich die Szene völlig. Der etwas makabre Sachverhalt ist hinreichend bekannt: Ein geistig gesunder Mann tötete sich wegen ehelicher und häuslicher Zerwürfnisse durch Erhängen. Als er in der Schlinge hing und schon bewußtlos, aber noch zu retten war, kam seine Ehefrau — die spätere Angeklagte — hinzu, erkannte, daß er noch lebe, ließ ihn aber hängen. Sie war „mit dem Verlauf der ohne ihr Zutun in Fluß gekommenen Dinge einverstanden" und „wollte ihn nicht durch Hilfeleistung abändern"; sie hätte ihren Mann mit geringer Mühe und ohne Gefahr für sich selbst durch Abschneiden retten können,

1 In RGSt. 7, 332 aus dem Jahre 1882 ging es um die Selbstentleibung einer Geisteskranken in einer Anstalt und um die Frage, ob dieser Tod den unaufmerksamen Wärterinnen zuzuredinen sei. — R G J W 1921, 579: ein Fall der Tötung auf Verlangen und nidit der „(straflosen) Beihilfe zum Selbstmord". — RGSt. 70, 313 aus dem Jahre 1936: ein einseitig fehlgeschlagener Doppelselbstmord, als Beihilfe zum Selbstmord straflos. 2 Vgl. etwa die Kommentierung bei Trank, StGB, 18. Aufl., 1931, S. 461 f.: gegen die herrschende Lehre werden nur Binding und Kohler angeführt. — Ganz in diesem Sinne z. B. audi Niethammer, Lehrbuch des Besonderen Teils, 1950, S. 119.

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Eberhard Schmidhäuser

wie sie es Jahre zuvor schon einmal getan hatte. — Der 1. Strafsenat prüfte den Sachverhalt im Hinblick auf Totschlag oder fahrlässige Tötung als Garantenunterlassen, ferner im Hinblick auf die unterlassene Hilfeleistung gem. § 330 c StGB. Er kam für die Rechtsanwendung zu dem Ergebnis, daß eine Selbsttötung kein Unglücksfall i .S. des § 330 c sei, wenn nicht besondere Umstände (z. B. die Geisteskrankheit des Selbstmörders) gegeben seien; auch als „Beihilfe" zur Selbsttötung sei die Tat nicht strafbar; wer aber eine Rechtspflicht habe, Lebensgefahr von einem anderen nach Kräften abzuwenden, und diese Pflicht kenne, die Selbsttötung aber trotzdem nicht hindere, obwohl er es könne, sei — je nach seinem Willen und seiner Haltung zur Todesfolge — in der Regel der vorsätzlichen oder fahrlässigen Tötung schuldig. Seit dieser Entscheidung mußte sich die höchstrichterliche Rechtsprechung mit einer ganz erstaunlichen Anzahl von Selbstmordfällen befassen8; und in den Lehrbüchern finden sich nunmehr viel ausführlichere Erörterungen als zuvor, außerdem in den Zeitschriften eine große Zahl von Abhandlungen und Urteilsanmerkungen vor allem zur Frage der Strafbarkeit der Selbstmordbeteiligung4. Man wird also fürs erste sagen dürfen: die Strafrechtspraxis hat offenbar ein Problem zu bewältigen, und die Strafrechtswissenschaft ist bemüht, durch kritische Analysen die erwünschten Entscheidungshilfen zu leisten. Das Strafrechtslehrbuch Hans W e l z e i s spiegelt diesen Wandel wider: Noch in der zweiten Auflage (1949) findet sich bei den Tötungsverbrechen unter Hinweis auf RGSt 70, 313 nur die knappe Feststellung: „Selbstmord ist straflos, daher auch die Teilnahme daran" (S. 138); bei der allgemeinen Darstellung der mittelbaren Täterschaft wird der Fall der Hildegard Hoefeld als Beispiel eines Mords in mittelbarer Täterschaft angeführt: ein 16jähriges Mädchen wird durch seelische Zermürbung und durch Drohungen zum Selbstmord veranlaßt — ein Fall, den W e l z e l schon in ZStW 58 (1939), S. 544 in diesem Zusammenhang erörtert hat, und zwar mit dem Bemerken, daß — von solchen Nötigungssituationen abgesehen — die Veranlassung und Unterstützung von Selbstverletzungen nicht strafbar sei; wie die vorsätzliche, so bleibe auch die fahrlässige Beihilfe zum Selbstmord als Mitwirkung an einer nicht tatbestandsmäßigen 3 Genannt seien hier nur die veröffentlichten BGH-Entsdieidungen aus den Jahren 1954 bis 1972: J R 1955, 104; N J W 1960, 1821; MDR 1960, 939; BGHSt. 6, 147; 7, 268; 13, 162; 19, 135; 24, 342. 4 Vgl. die Darstellung bei Maurad), Strafredit, Bes. Teil, 5. Aufl., 1969, S. 16—19 und 470; Schönke/Schröder, StGB 16. Aufl., 1972, vor § 211 Rdnr. 15—20.

Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht

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Handlung straflos (S. 60). — In der dritten Auflage von Welzels Lehrbuch (1954) findet sich eine etwas ausführlichere Behandlung bei den Tötungsverbrechen, ohne daß allerdings auf die oben angeführte Entscheidung BGHSt 2, 150 näher eingegangen würde (S. 202). — Heute dagegen (11. Aufl., 1969) wird auch in der knappen Darstellung des Welzel'sdien Lehrbuchs eine weiterreichende Problematik erkennbar, wenn u. a. gesagt wird: Versuchter Selbstmord sei eine bewußt straflos (tatbestandslos) gelassene Tat, er sei aber kein strafrechtlich irrelevanter Vorgang, sondern eine Rechtsgutsverletzung, deren Herbeiführung für nicht strafbar erklärt sei; darum sei auch die Teilnahme an ihm mangels Sondervorschrift straflos, gleichgültig ob es sich um Beihilfe oder um Anstiftung handele; ebenso sei die Nichtabwendung eines Selbstmords straflos. Doch gelte dies nur hinsichtlich des echten Selbstmords, d. h. derjenigen Selbsttötung, bei der der sich selbst Tötende die volle Tatherrschaft habe; wo dagegen ein die Selbsttötung veranlassender oder unterstützender Hintermann die Tatherrschaft über die Selbsttötung habe, z. B. infolge Nötigung oder Täuschung, sei er mittelbarer Täter i. S. der §§ 211/212. Zur Täterschaft genüge aber nicht der bloße Täterwille des objektiv lediglich Unterstützenden. In diesem Zusammenhang werden neben einer Reihe von Zitaten aus dem Schrifttum vier BGH-Entsdieidungen angeführt (S. 380 f). Zur unterlassenen Hilfeleistung wird an anderer Stelle ausdrücklich vermerkt, daß der Selbstmord(versuch) kein Unglücksfall i. S. des § 330 c sei (S. 471).

2. Ein unbefangener Betrachter könnte durdi die Tatsache, daß die Strafrechtswissenschaft und die Strafgerichte sich nun so oft und vielfältig mit Selbstmordfällen befassen, zu dem Schluß verleitet werden, es hätten sich wohl erst in den letzten zwanzig Jahren so zahlreiche Fälle ereignet, in denen die Beteiligung am Selbstmord eine Rolle spielt. Aber ein solcher Schluß wäre verfehlt. Zwar läßt sich ein entgegenstehender Nachweis heute kaum mehr führen; gleichwohl ist zu vermuten, daß auch in den vorangegangenen Jahrzehnten mehrfach Fälle vorgekommen sind, in denen der Selbstmord eines Menschen von anderen Personen ermöglicht, veranlaßt oder doch trotz Gegebenseins eines nahen Verhältnisses zu dem Selbstmörder nicht verhindert worden ist. Wenn diese Fälle gleichwohl die Strafrechtsprediung nicht beschäftigt und die Wissenschaft nicht zu kritischer Reflexion herausgefordert haben, so gewiß deshalb, weil sie als unproblematisch i. S. der Straflosigkeit des jeweils „Beteiligten" an-

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gesehen wurden. O f t wird es — so darf weiter vermutet werden — in solchen Fällen sdion gar nicht zu einer Strafanzeige, und wenn doch, dann nicht zur Klageerhebung gekommen sein; oder es war eine schließlich ergangene richterliche Entscheidung im Hinblick auf die uns hier beschäftigenden Rechtsfragen nicht so bedeutsam, daß eine Veröffentlichung der Entscheidung angezeigt gewesen wäre. Wenn dies wirklich so sein sollte — und vieles spricht für die Richtigkeit dieser Vermutung —, dann wäre freilich weiter zu fragen, warum die Straflosigkeit der Beteiligung am Selbstmord auf einmal nidit mehr so selbstverständlich erschien, so daß es nunmehr zu der Entscheidung B G H S t 2, 150 und zu der ganzen folgenden wissenschaftlichen Diskussion wie auch zu der überraschend großen Anzahl neuer höchstrichterlicher Urteile gekommen ist. D a in einer Reihe späterer Entscheidungen die Strafbestimmung des § 330 c S t G B über die unterlassene Hilfeleistung angewandt wird, ist zunächst zu fragen, ob der Wandel letztlich auf eine Änderung im Strafgesetz zurückzuführen sei. Zwar ist diese Strafbestimmung im Jahre 1935 als Nachfolger des früheren sog. Liebesparagraphen (§ 360 I N r . 10) ins StGB eingefügt und es ist dadurch die unterlassene Hilfeleistung unabhängig von einer diese Hilfe gebietenden polizeilichen Aufforderung unter Strafe gestellt worden; aber diese neue Bestimmung, an der auch im Jahre 1953 bei der Neufassung festgehalten wurde, kann schwerlich als Grund angeführt werden. Gerade die die Wende in der Selbstmordbeurteilung einleitende Entscheidung B G H S t 2, 150 hat ja noch ausdrücklich erklärt, daß die Selbsttötung kein Unglücksfall i. S. des § 330 c sei, wenn nicht besondere Umstände gegeben seien. D a also die Gesetzgebung den Anstoß zu der geschilderten Änderung nicht gegeben haben kann, könnte der naive Beobachter vermuten, man habe plötzlich ein Problem entdeckt, das man bisher übersehen hatte, und deshalb sei es zu der wissenschaftlichen Diskussion und der neuen Rechtsprechung gekommen. Aber auch diese Annahme ginge fehl. Es ist nicht etwa ein Problem, das schon immer in der Sache steckte, jetzt erst erkannt worden; vielmehr ist das Problem jetzt erst „entstanden", und zwar aufgrund eines tiefgreifenden Wandels des Zeitgeistes, aus dem heraus ein Verhalten, nämlich die Beteiligung am Selbstmord, nun offenbar erstmals in dringlichster Weise als strafwürdig erschien. Auf diese Phänomene des geistigen Lebens der Gegenwart wies Gallas schon im Jahre 1960 hin, als er bei Erörterung der Frage des „strafbaren Unterlassens im Fall einer Selbsttötung" von der unverkennbaren Tendenz sprach, die Verhaltensregeln des Rechts über das liberale ethische Minimum hinaus denen der Moral anzupassen, wenn er ferner diese Tendenz auf die zunehmende „Vergemeinschaftung" der

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gegenwärtigen Sozialstruktur zurückführte und von einem „legitimen Strafbedürfnis" in derartigen Fällen sprach5. Freilich: Mit solchen Gesichtspunkten allein läßt sich gewiß der Grund des Wandels in der Rechtsprechung aufzeigen, nicht aber dessen Legitimität dartun. Denn alle Strafrechtsanwendung muß sich vor dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, also dem Grundsatz nulla poena sine lege, verantworten. Das heißt: Solange der Selbstmord nicht als „tatbestandlich" gesehen werden kann oder solange die Teilnahme am Selbstmord nicht als solche unter Strafe gestellt ist, kommt eine strafbare Teilnahme nach dem sachgerechten Verständnis der geltenden Teilnahmestrafbestimmungen nicht in Betracht 6 . Aufgrund dieser Schranke für staatliches Strafen werden alle Argumente zugunsten einer „praktizierten Strafwürdigkeit" fragwürdig. Man könnte zwar meinen, dies gelte nur für die eigentlichen Teilnahmebestimmungen (Anstiftung und Beihilfe) und nicht für die selbständige Strafbestimmung des § 330 c, die das Unterlassen der Hilfeleistung bei Unglücksfällen unter Strafe stellt. (Dann wäre also die unterlassene Verhinderung eines Selbstmords zwar nicht als Garantenunterlassen i. S. der Tötungsdelikte — sei es als Täterschaft oder als Beihilfe —, wohl aber als unterlassene Hilfeleistung gem. § 330 c zu bestrafen.) Aber es erscheint sehr bedenklich, diese Bestimmung in solcher Weise uneingeschränkt einzusetzen, wenn zugleich die aktive Teilnahme am Selbstmord unter dem Aspekt der Tötungsdelikte straflos bleibt. Die Strafrechtsanwendung steht nicht nur unter dem Gebot der Rechtssicherheit, sondern auch unter dem der Gerechtigkeit. Es ist nicht von ungefähr, daß gerade in diesem Zusammenhang axiologische Gesichtspunkte in der Diskussion eine große Rolle spielen, etwa derart: Wenn schon aktive Anstiftung und aktive Beihilfe zum Selbstmord straflos seien, dann dürfe nicht etwa die unterlassene Abhaltung des Selbstmordwilligen von der Ausführung seines Vorhabens zur Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung führen 7 . Ist also die Prämisse richtig, wonach der Selbstmord nicht tatbestandlich erfaßt ist, so kann unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten 5

Gallas, JZ i960, S. 653 und S. 692. • Audi wenn man nicht von Teilnahme am Delikt, sondern von „Teilnehmerdelikt" spricht, gehört die „mit Strafe bedrohte Handlung" des Haupttäters zum Unrechtstatbestand des Teilnehmerdelikts; vgl. dazu Schmidhäuser, Strafrecht, Allg. Teil, 1970, RdNr. 14/2, 93 f. — Nur wer auch diese Bindung verneint, kommt ohne die im Text genannten Voraussetzungen zu einer Strafbarkeit der „Teilnahme" am Selbstmord; so Lüderssen, Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 168. — Kion, Die Beteiligung am Selbstmord, Diss. Frankfurt, 1970, S. 77, 103, hält jede vorsätzliche Mitwirkung an einem Selbstmord für Totschlag, da es eine Teilnahme am Selbstmord nicht gebe. 7 Vgl. etwa Dreher, M D R 1967, S. 271.

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nur die Folgerung richtig sein, daß jede Strafbarkeit im Hinblick auf den Selbstmord (soweit es sich um die „freie" Selbsttötung eines geistig vollsinnigen und reifen Menschen handelt) entfällt — und zwar auch in Gestalt der unterlassenen Hinderung des Selbstmörders an der Ausführung seines Vorhabens und der unterlassenen Rettung des aufgrund seines Handelns sdion bewußtlos gewordenen Selbstmörders. Insoweit gibt es nur einen Ausweg aus dem Dilemma:Wenn man die Straflosigkeit in den genannten Fällen als unerträglich empfindet, dann kann nur der Gesetzgeber abhelfen.

3. Der deutsche Gesetzgeber hat sich bisher einer Regelung beharrlich enthalten. Zwar fand sich in den Entwürfen der zwanziger Jahre ein entschiedener Anlauf, wenigstens die Verleitung zum Selbstmord unter Strafe zu stellen, so u.a. im Entwurf 1927 (§ 248). In der großen Strafrechtskommission — und zwar in der Sitzung vom 5. 3.1958 — ist die Pönalisierung der Selbstmordbeteiligung jedoch abgelehnt worden 8 , obwohl sie in den Vorarbeiten im Anschluß an die Entwürfe der zwanziger Jahre empfohlen worden war 9 . Gallas faßt die Gründe hierfür, die von der Frage der Respektierung des Selbsttötungswillens unabhängig seien, wie folgt zusammen: „strafökonomische Erwägungen, die mangelnde Strafwürdigkeit zumindest gewisser Grenzfälle, Beweisschwierigkeiten, die Scheu vor der Konsequenz, gegebenenfalls das gesamte Privat- und Familienleben des Lebensmüden durchforschen zu müssen, und die Überlegung, daß bei Ausübung irgendwelchen Druckes eine Bestrafung wegen mittelbarer Täterschaft in Betracht kommt" 10 . So kam es jedenfalls dahin, daß im Entwurf 1962 eine entsprechende Strafvorschrift nicht vorgesehen wurde, obwohl sie durch die Rechtsvergleichung — auch mit dem Strafrecht der Nachbarländer Österreich und Schweiz — nahegelegt wurde 11 . Aber auch der Alternativentwurf der Strafrechtslehrer (Besonderer Teil, §§ 100 und 103) stellt ausdrücklich nur die Tötung eines andern unter Strafe und erwähnt die „Nichthinderung einer Selbsttötung" als Straftat nur für den Fall, daß der Selbstmörder das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder aufgrund einer 8

Niederschriften über die Sitzungen der Gr. Strafreditskomm., 7. Bd., S. 87 ff. Jedenfalls bezüglich der Verleitung zum Selbstmord, Schröder, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd. 1954, S. 292 f. 10 Gallas, JZ 1960, S. 653. 11 Vgl. die gründlichen Hinweise bei SimsonjGeerds, Straftaten gegen die Person und Sittlichkeitsdelikte in reditsvergleichender Sicht, 1969, S. 70 f. — Vgl. auch den Gesetzgebungsvorschlag von Scbwalm, Festschr. für Engisch, 1969, S. 558. 8

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seelischen Störung handelt „und daß der Unterlassende aufgrund einer gesetzlichen oder freiwillig übernommenen Rechtspflicht gegenüber der Allgemeinheit oder dem Anderen dafür zu sorgen hat, daß der Erfolg nicht eintritt" 12 . Blickt man auf diese Geschichte der Entwürfe zur deutschen Strafgesetzgebung, so wird man die Gründe, die gegen eine Pönalisierung der Selbstmordbeteiligung vorgebracht werden, gewiß nicht leicht von der Hand weisen können. Aber diese Gründe sind inzwischen noch fragwürdiger geworden als zur Zeit der Beratungen vor nunmehr 15 Jahren, — fragwürdiger deshalb, weil sich inzwischen die Rechtsprechung in der Sache selbst eher auf eine Pönalisierung hin entwickelt hat. Es erschiene mir sogar bedenklich, heute mit einer Neufassung des Gesetzes gegen diese inzwischen entstandene Reditswirklichkeit anzugehen13. Dabei ist zu bedenken, daß auch manches Argument, das früher aus dem Strafrahmen des Gesetzes hätte hergeleitet werden können (daß nämlich die Teilnahme am Selbstmord eine so schwere Strafe nicht verlange) weggefallen sein mag, und zwar angesichts der großzügigen Handhabung, die das Strafgesetz dem Richter heute nicht nur in der Strafaussetzung zur Bewährung, sondern auch in der Umwandlung von Freiheitsstrafen in Geldstrafen einräumt. Doch dies soll hier nicht weiter Gegenstand der Betrachtung sein; denn es geht hier nicht u meine Erörterung de lege ferenda, sondern um eine solche de lege lata.

4. Sehen wir von ausdrücklichen Strafbestimmungen ab, die es zur Zeit nicht gibt, so müssen wir gleichwohl — wenn wir die durch die höchsten Gerichte praktizierte Rechtsanwendung nicht außer Betracht lassen — als Rechtswirklidikeit der Gegenwart eine begrenzte Strafbarkeit der Beteiligung am Selbstmord feststellen. Die unsicheren Anfänge sind insoweit heute schon überwunden: Nachdem die die Wende einleitende, oben bereits erwähnte Entscheidung BGHSt 2, 150 es abgelehnt hatte, in der Selbsttötung einen Unglücksfall i. S. des § 330 c zu sehen, brachte die nächste profilierte Selbstmordentscheidung gerade in diesem Punkt eine entschlossene Korrektur: In der in BGHSt 6, 147 veröffentlichten Entscheidung aus dem Jahre 1954 bezeichnete der Große Senat für Strafsachen die durch einen Selbst12

Baumann (u. a.), Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Straftaten gegen die Person, Erster Halbband, 1970, S. 20 S. 13 Wie es der Alternativ-Entw. a. a. O., S. 23, ausdrücklich versucht, indem er „der verfehlten Rechtsprechung" „entgegentreten" will.

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mordversuch herbeigeführte Gefahrenlage als einen Unglücksfall i. S. des § 330 c StGB. In der Begründung dieses Urteils wird u. a. hervorgehoben, daß der Selbstmordversuch ebenso wie die Teilnahme daran in unserem Recht nicht mit Strafe bedroht seien; aus der Straflosigkeit des Selbstmordversuchs könne indes nichts gegen die vom Großen Senat vertretene Ansicht für den Fall hergeleitet werden, daß bei besonderer Sachgestaltung die unterlassene Hilfeleistung rechtlich zugleich als Beihilfe zum Selbstmordversuch aufgefaßt werden könne. Der Gesetzgeber habe das Sittengebot der Hilfeleistung in gewissen Fällen zu einer durch Strafe erzwingbaren Rechtspflicht erhoben, die nach Sinn und Zweck des § 330 c sich auch auf die Folgen des Selbstmordversuchs erstrecke; dieser Rechtspflicht gegenüber müsse die formalrechtliche Folgerung, daß Teilnahme am fremden Selbstmordversuch als solche straflos sei, zurücktreten. — Diese Linie setzte der B G H im Urteil des 4. Strafsenats aus dem Jahre 1959 (BGHSt 13, 162) bekanntermaßen fort, und zwar unter Erweiterung des auf einen Selbstmordvorgang bezogenen Begriffs „Unglücksfall". Während es nämlich in der zuvor genannten Entscheidung des Großen Senats um die Rettung einer aufgrund des Selbstmordversuchs bereits bewußtlos gewordenen Frau ging, handelte es sich in der neuerlichen Entscheidung um einen Sachverhalt, der zur Strafbarkeit des Unterlassenden nach § 330 c nur führen konnte, wenn die Pflicht zum Eingreifen schon vor der eigentlichen Selbstmordhandlung des Lebensmüden einsetzt. Der Strafsenat hat diese Frage bejaht; der Angeklagte hatte untätig geschehen lassen, daß seine Schwiegermutter sich in Selbsttötungsabsicht in das Wasser eines Teiches hatte gleiten lassen und dann — ohne daß nunmehr noch hätte eingegriffen werden können — durch Ertrinken starb. Nach der Formulierung des Urteils treten der Unglücksfall und damit die Pflicht zur Hilfeleistung ein, sobald sich ein Lebensmüder in (erkannter) Selbsttötungsabsicht in unmittelbare Lebensgefahr begibt. Zwar hat der B G H in den Entscheidungen BGHSt 2, 150 (wo die Ehefrau den bewußtlosen Ehemann nicht rettete), BGH-JR 1955, 104 (wo der Verlobte den Selbstmord seiner Verlobten nicht verhinderte) und BGH-NJW 1960, 1821 (wo die Verlobte den Selbstmord ihres Verlobten nicht verhinderte) die Unterlassungstäterschaft des jeweiligen Garanten i. S. von (vorsätzlichen und fahrlässigen) Tötungsdelikten bejaht oder für möglich erklärt. Aber ob der BGH nach der zahlreichen Kritik 14 diese Auffassung heute noch mit derselben Begrün14 Vgl. u.a. in zeitlicher Folge: Heinitz, J R 1955, 105 f.; Gallas, J Z 1960, 689; Roxin, Täterschaft und Tatherrsdiaft, 1963, S. 474; Dreher, J R 1967, 271; Herzberg, Die Unterlassung im Strafredit und das Garantenprinzip, 1972, S. 265 ff.; Welp, J R 1972, 429.

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dung verträte, ist zu bezweifeln 15 . Doch wir brauchen uns nur an die beiden anderen Entscheidungen BGHSt 6, 147 und BGHSt 13, 162 zu halten 16 , deren Linie kaum verlassen werden dürfte, dann ist sicher: Diese Rechtsprechung besagt, daß die Beteiligung am Selbstmord in gewissen Fällen strafbar geworden ist — zwar nicht unter dem Aspekt und innerhalb des Strafrahmens der Tötungsdelikte, wohl aber als unterlassene Hilfeleistung mit der in § 330 c StGB normierten Rechtsfolge. Auf die Widersprüche, die sich daraus ergeben, daß die aktive Untersützung des Selbstmords als straflos angesehen, das Unterlassen rettenden Eingreifens aber bestraft wird, ist im Schrifttum oft zum Teil mit drastischen Beispielen hingewiesen worden 17 . Aber solche Widersprüche finden sich offenbar leicht in einem Übergangsstadium, in dem sich die Grenzen der Strafbarkeit aufgrund des sich wandelnden Zeitgeistes verschieben und neue Antworten in der Rechtsanwendung gesucht werden. Der rechtsstaatliche Grundsatz nulla poena sine lege macht es einer neu erlebten Strafwürdigkeit allerdings mit Recht schwer, sich in der Rechtspraxis durchzusetzen18. Aber die Erfahrung zeigt, daß hier Widersprüche für eine gewisse Zeit eher „nicht zur Kenntnis genommen" werden, als daß man ein als sehr dringlich erlebtes Strafbedürfnis unbefriedigt lassen würde. In einer solchen Situation der Unsicherheit und Widersprüchlichkeit ist es die dringliche Aufgabe der Wissenschaft, sachgerechte Entscheidungshilfen zu geben. Dabei kann es nicht nur um die innere Widerspruchsfreiheit gehen; vielmehr muß auch nach Wegen gesucht werden, im Rahmen des rechtsstaatlidh Zulässigen den Bedürfnissen 15 Aufschlußreich ist insoweit das Urteil des Schwurgerichts Berlin aus dem Jahre 1966 (JR 1967, 269), das mit allerdings unsicherer Begründung (u. a. auch unter Heranziehung der subj. Teilnahmetheorie) den Ehemann, der die Ehefrau durch Selbstmord umkommen läßt, nicht aus § 212, sondern nur aus § 330 c bestraft, und zwar unter Anführung der von Gallas und Heinitz geübten Kritik. 18 Wie es audi das Schwurgericht Berlin in der vorstehend angeführten Entscheidung getan hat. 17 Dazu schon oben Anm. 14). 18 Zum Begriff der Strafwürdigkeit: Schmidbäuser, Strafrecht, RdNr. 2/14 ff. — Der allmähliche Wegfall bisher erlebter Strafwürdigkeit setzt sidi in der S t a f rechtspraxis leichter durch als eine neu erlebte Strafwürdigkeit. Auch ohne Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege muß die strafbarkeitsausdehnende Auslegung gegen den „favor traditionis" angehen, den Hruscbka jüngst methodologisch untersucht hat (Larenz-Festschrift 1973, S. 181 ff.). Der allmähliche Wegfall der Strafwürdigkeit führt dagegen zum Nachlassen der Strafverfolgung, das offenbar trotz des zunächst immer gegebenen Verstoßes gegen das strafprozessuale Legalitätsprinzip relativ leicht zu verkraften ist; man erinnere sidi nur an das offensichtliche Nachlassen der Strafverfolgung bei männlicher einfacher Homosexualität vor den Jahren 1969/70, also vor der Abschaffung des früheren § 175 StGB.

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gerecht zu werden, die zu der Verunsicherung geführt haben. Der Vorschlag, den Welzel und andere machen19, ist hier gewiß widerspruchsfrei, nämlidi: jede Strafbarkeit der Beteiligung am Selbstmord, eben auch die im Rahmen des § 330 c, zu verneinen. Aber wenn man schon davon ausgehen muß, daß in Fällen der genannten Art ein Strafbedürfnis zu bejahen ist, so sollte zunächst auch gefragt werden, ob nicht schon de lege lata durch eine neue Analyse dem unguten Reditszustand abgeholfen werden kann. Erst wenn eine gleichermaßen widerspruchsfreie Beurteilung unter Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze, aber aus neuem Ansatz nidit möglich ist, wird man für die konsequente Straflosigkeit eintreten und auf die Abhilfe durch den Gesetzgeber warten müssen.

5. Will die Strafrechtswissenschaft ihren Beitrag zur Wiedergewinnung einer angemessenen Sicherheit in der Rechtsprechung leisten, so muß zuerst gefragt werden, wie die Straflosigkeit des Selbstmords in den systemgebundenen Schritten der Strafrechtsanwendung, also innerhalb der allgemeinen Merkmale der Straftat, zu verstehen sei. Diese Frage ist, soweit ich sehe, bisher und seit langem ganz einhellig beantwortet worden. Man braucht nur etwa in Belings „Lehre vom Verbrechen" (1906) nach Antwort zu suchen und findet: Jeder Angriff des Täters gegen sich selbst ist „offensichtlich unfähig, den Tatbestand zu erfüllen"; der Selbstmord ist „keine typische Tötungshandlung" i. S. der §§ 211 ff StGB; er mag daher rechtswidrig oder nicht rechtswidrig sein, strafbar ist er nicht; einer Prüfung der Rechtswidrigkeit bedarf es nicht20. Für Belirtg war diese Sicht zwingend systematisch vorgezeichnet; wenn der Tatbestand (und die Rechtswidrigkeit) die objektive und wenn die Schuld die subjektive Seite der Tat meint, dann kann die Beschränkung der Tötungsdelikte auf die Tötung eines anderen nur in einer tatbestandlichen Einschränkung liegen. Der Selbstmord macht eben nach Beling keinen Verbrechenstypus aus, weil die Tötungstatbestände sämtlich auf Tötung eines andern zugeschnitten sind21. An dieser Art von Begründung der Straflosigkeit des Selbstmords (die immer auch für den Lebensmüden selbst bedeutsam wird, wenn " Welzel, Strafredit a.a.O., S. 281 und 471 (zu § 330 c unter Berufung vor anderen auf Heinitz, JR 1954, 405 und Dreher, JR 1967, 629). 20 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 219 f. 21 Beling, a. a. O. S. 223; vgl. auch .S 417 f.

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die Ausführung seines Vorhabens im Versuch Stedten bleibt) wird auch heute noch allgemein festgehalten 22 . Wenn zugleich betont wird, daß der versuchte Selbstmord kein strafrechtlich irrelevanter Vorgang sei, sondern eine Rechtsgutsverletzung, dann wird deutlich, daß die Straflosigkeit des Selbstmords im Bereich der Tötungsdelikte insoweit nicht anders begründet wird als etwa die Straflosigkeit des bloßen sog. Gebrauchsdiebstahls im Bereich der Eigentumsdelikte. Auch hier läßt der Gesetzgeber aus Gründen eines wie immer verstandenen Mangels an Strafwürdigkeit eine bestimmte Art von Rechtsgutsverletzungen straflos. Bei der ohnehin allgemein anerkannten 23 fragmentarischen N a t u r des Strafrechts ist dies demnach nichts eigentlich Auffälliges; aus der Fülle der Rechtsgutsverletzungen wird in den strafgesetzlidien Tatbeständen nur eine begrenzte Anzahl geschildert und damit unter Strafe gestellt. So wie unter den Eigentumsverletzungen, die auf Sachentziehung beruhen, nur die auf erhebliche Dauer gerichtete Entziehung als Diebstahl erfaßt wird, nicht aber die auf vergleichsweise kurze Dauer gerichtete Entziehung zu bloßem Gebrauch der Sache, so wird bei den Lebensverletzungen nur die Handlung des Täters bestraft, die einen anderen tötet (oder zu töten versucht), nicht aber die, die gegen das eigene Leben gerichtet ist. Maurach betont dies mit besonderem Nachdruck: „Der Rechtsgutswert bleibt auch beim Selbstmord bestehen, da das menschliche Leben ohne Rücksicht auf seinen Lebenswillen geschützt wird; die Straflosigkeit des Selbstmordes ist mithin nur eine Folge der Tatbestandstechnik, nicht die einer geänderten Güterbewertung: der Selbstmörder tötet nicht; hieran schließt sich die Indifferenz echter Teilnahme" 2 4 . Aber es ist zu fragen, ob die Straflosigkeit des Selbstmords in der Struktur richtig erfaßt wird, wenn man sie dergestalt mit der Straflosigkeit des bloßen Gebrauchsdiebstahls strukturell gleichsetzt. Stellt man sich den letztlich gemeinten Unwertsachverhalt als verwirklicht vor, so ist die langdauernde Sachentziehung (die dem Diebstahl i. S. des § 242 StGB in der „Zueignungsabsicht" zugrundeliegt) etwas wesentlich anderes als die nur vorübergehende Sachentziehung (die 22 Vgl. außer Welzel (oben im Text der 1. Abschnitt) etwa Maurad), a . a . O . , S. 17; Lackner-Maassen, StGB, 7. Aufl. 1972, § 2 1 1 , 4; Schönke-Schröder, a.a.O., vor § 211 R d N r . 15. — Eine neue Begründung für das Fehlen der Vertatbestandlidiung des Selbstmords bringt Langer, Das Sonderverbredien (Strafr. Abh./N. F. Bd. 9, 1972), S. 416, 492: da der Täter hier das ihm selbst „überantwortete" Leben verletzt, ist der Unwert der T a t so sehr vermindert, daß die für das Unrecht erforderliche Strafwürdigkeit entfällt. 25 Wie dies neuerdings wieder Maiwald, Festschrift für Maurach, 1972, S. 9 ff., bestätigt. 24 Maurach — wie Anm. 22.

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von Sondertatbeständen abgesehen straflos bleibt); dagegen ist bei Fremd- wie bei Selbsttötung der letzlich gemeinte Unwertsachverhalt jeweils genau der gleidie: daß nämlich ein menschliches Leben vor seinem natürlichen Ablauf beendet wird. Von daher ergeben sich schon die ersten Zweifel, ob die Straflosigkeit des Selbstmords so, wie sie innerhalb der allgemeinen Merkmale der Straftat herkömmlicherweise gesehen wird, richtig begründet werden kann. Diese Zweifel werden noch verstärkt, wenn man bedenkt, wie weit wir uns im strafrechtswissenschaftlichen Gespräch von der Straftatsystematik Belings (den wir oben als Gewährsmann angeführt haben) in den Jahrzehnten seit dem Erscheinen seiner Verbrechenslehre entfernt haben. So müssen wir diesen Zweifeln näher nachgehen. Um dabei nicht Gefahr zu laufen, von vornherein in den traditionellen Denkbahnen gefangen zu bleiben, sollten wir jedoch zuerst einen vergleichenden Blick auf eine ganz andere Strafbestimmung richten, die uns eine ähnliche Problematik anschaulich machen kann. Ich denke an die Bestimmung über die Strafbarkeit der Abtreibung (§ 218 StGB); hier geht es zwar nicht wie bei Fremd- und Selbsttötung um Strafbarkeit und Straflosigkeit, wohl aber um die schwerere Bestrafung des „Außenseiters" und die mildere Bestrafung der Schwangeren im Falle der Abtötung der Leibesfrucht. Vor dem 1. Strafrechtsreformgesetz von 1969 war der Unterschied in der Deliktsnatur sogar der von Verbrechen zu bloßem Vergehen (damals Absatz III und Absatz I); heute ist die Ausgangsstrafdrohung für den Außenseiter und die Schwangere gleich, lediglich „in besonders schweren Fällen" ist für den Außenseiter eine schwerere Strafe vorgesehen. Gleichwohl muß auch heute noch nach dem Grund für die (möglicherweise) unterschiedliche Strafdrohung gefragt werden. Der eigentlich rechtsgutsverletzende Unwertsachverhalt, nämlich die Abtötung der Leibesfrucht, ist beidemal der gleiche, ob man nun die Tat der Schwangeren selbst oder die des Dritten betrachtet. So meint denn auch Welzel, das strafwürdige Unrecht sei in beiden Fällen der gleiche Angriff auf das keimende Leben; er werde wegen der verschiedenartigen persönlichen Situation an der Schwangeren milder, am Dritten strenger bestraft 25 . Versuchen wir, diese „verschiedenartige persönliche Situation" in den allgemeinen Merkmalen der Straftat einzuordnen, so stoßen wir sogleich auf den entschuldigenden Notstand (§54 StGB); wenn auch bei der Schwangeren keine die Rechtsschuld ausschließende Notstandslage gegeben ist, so kann doch im Hinblick auf das Austragen der Schwangerschaft und auf die Geburt von einer „notstandsähnlichen Lage" gesprochen werden. Jedenfalls befindet sich die Schwangere — 25

Welzel,

Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 300.

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wie es Lange formuliert — „typischerweise in schwersten Konflikten" 2 6 . Wie aber dieser Notstand die Schuld betrifft, so läßt sich der Unterschied der Strafdrohungen innerhalb der Strafbestimmung gegen die Abtreibung sachgerecht nur aufgrund unterschiedlicher Schuldmomente erfassen. Lange spricht von „schuldmindernden Umständen" bei der Schwangeren 2 7 ; Mamach spricht bei Erörterung der verschiedenen Tatbestände innerhalb des § 2 1 8 ausdrücklich von „der Verantwortlichkeit jedes Mitwirkenden nach dem Maße seiner persönlichen Schuld" 2 8 . Halten wir diese Beurteilung für sachgerecht, so haben wir damit vielleicht auch schon den Ausgangspunkt für eine neue Betrachtung der Straflosigkeit des Selbstmords gewonnen. Wir müssen lediglich prüfen, ob die axiologischen Gesichtspunkte, die uns die unterschiedlich schwere Strafdrohung bei der Abtreibung (insbesondere in der unmittelbar vor dem 1. S t r R G von 1969 geltenden Fassung) verständlich machen, auch auf den Unterschied von Straflosigkeit der Selbsttötung und Strafbarkeit der Fremdtötung passen. Für diese Prüfung im Rahmen der allgemeinen Merkmale der S t r a f t a t gehe ich — wie auch an anderer Stelle 2 9 entgegen der Auffassung Welzeis 3 0 — davon aus, daß innerhalb des Straftatbestandes Unrechts- und Schuldtatbestand zu unterscheiden sind und daß die Vorsätzlichkeit als Schuldmoment 3 1 zu begreifen ist. Dann ergibt sich folgendes: Im Unrechtstatbestand geht es bei Fremd- wie bei Selbsttötung allemal um die Tötung eines Menschen; der Unwertsachverhalt und damit der Unrechtsgehalt ist beidemal der gleiche 32 . Gehen wir weiter davon aus, daß durch die Selbsttötung kein vorrangiger Rechtsgutsanspruch wahrgenommen wird, so ist das im Unrechtstatbestand be-

26

Kohlrauscb/Lange, StGB, 42. Aufl., 1959, § 218, I I I 2. Wie Anm. 26. 28 Maurad), a. a. O., S. 65. 29 Schmidhäuser, Strafrecht, 1970, R d N r . 6/2 ff., bes. 6/11, 25, ferner überhaupt das 8. und 10. K a p . — Vgl. schon Gallas, ZStW 67 (1955), S. 31. Ferner ]escheck, Lehrbuch des Strafrechts, 2. Aufl. 1972, S. 352. 30 Welzel, a. a. O . S. 48, 58, 138 spridit von Tatbestand nur beim Unrecht, nicht bei der Schuld, und unterscheidet nur noch den Tatbestand „im engeren Sinne" von dem „im weiteren Sinne", der die „Gesamtheit der Strafbarkeitsvoraussetzungen umfaßt", S. 58. S1 Schmidhäuser, Strafrecht, bes. R d N r . 10/29 ff. 3 2 Auch dann, wenn man die Straflosigkeit des Selbstmords als Ausdruck des fragmentarischen Charakters des Strafrechts sehen wollte, wäre nicht vorauszusetzen, daß die Auswahl schon im Unrechtstatbestand getroffen sein müßte. Maiwald a. a. O., S. 12 f. bezieht zu Recht „Motive, Absichten und Tendenzen" in die Begründung der Auswahl ein, womit keine Beschränkung auf das Tatunrecht gemeint sein dürfte. 27

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gründete Unredit nicht ausgeschlossen, der Selbstmord also nicht gerechtfertigt; — hierzu sind freilich unten noch einige Gedanken nachzutragen. Ist im Einzelfall die Schuldfähigkeit gegeben, die beim Selbstmord ebensowenig ausgeschlossen zu sein braucht 33 wie etwa in Fällen des entschuldigenden Notstands (§ 54/§ 35 n. F.), so spricht im übrigen kein grundsätzliches Bedenken gegen die Annahme des Schuldtatbestandes der vorsätzlichen Tötung. Wenn gleichwohl der Selbstmord, auch als Versuch, nicht strafbar ist, der Straf-Tatbestand der Tötungsdelikte die Selbsttötung also nicht umfaßt, so kommt sachgerecht nur die Annahme einer „Entschuldigung", also des Ausschlusses der Rechtsschuld in Betracht. Ein Blick auf die Figur des weithin anerkannten übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes 34 möge uns hier weiterhelfen: geht es dort um das Erlebnis eines unlösbaren Pflichtenkonflikts beim Täter, um das moralisch Verständliche an seiner wertverletzenden Entscheidung, so zeigt sich, daß der Selbstmordentschluß der Wertstruktur nach in diese Gruppe von Sachverhalten paßt. Haben wir doch jeweils davon auszugehen, daß der Selbstmörder sein Leben als so wertlos erlebt, daß er in der Beendigung dieses Lebens den alleinigen Ausweg sieht. Manche Bemerkungen in Literatur und Rechtsprechung weisen ganz eindeutig in die straftatsystematische Richtung dieses Verständnisses. So spricht Gallas in diesem Zusammenhang von einer Situation „höchstpersönlicher Daseins- und Gewissensnot" 35 ; und in der schon oben angeführten Entscheidung des Großen Senats heißt es, eine Strafdrohung wäre dem Selbstmörder gegenüber fehl am Platze „angesichts der tragischen Spannungen, aus denen heraus er meist oder doch oft handelt" 36 . In derartigen Äußerungen liegt — wenn wir von der unten noch näher zu erörternden Rechtswidrigkeit der Selbsttötung ausgehen — der Sache nach nichts anderes als die Anerkennung eines besonderen, auf die Selbsttötung bezogenen Entsdiuldigungsgrundes, der zwar nicht ausdrücklich, aber doch notwendig in der gesetzlichen Regelung der Straflosigkeit enthalten ist. Gewisse Parallelen finden sich in der Straflosigkeit der Angehörigen- und der Selbstbegünstigung, ferner in der Straflosigkeit der Selbstbefreiung des Gefangenen; m. E. handelt es sich hier — wie ich an anderer Stelle 33 Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, S. 58, geht dagegen von einer gesetzlichen Vermutung fehlender Schuld aus, womit die Strafbarkeit einer mit dem Selbstmordversuch verbundenen Fremdtötung ebenfalls ausgeschlossen sein müßte. 34 Welzel, a. a. O. S. 184, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Pflichtenwiderstreit (Gewissenskonflikt)", in den der Täter aufgrund fremder Leibes- oder Lebensnot gerate. '5 Gallas, JZ i960, 655. 98 BGHSt. 6, 147 (154).

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dargetan habe 37 — um „besondere gesetzliche Entschuldigungsgrün de". Gewiß paßt der herkömmliche Hinweis auf die „notstandsähnliche Situation" nicht unmittelbar auf den Selbstmord, durch den der Täter das Leben, das er in den sonstigen Notstandsfällen zu retten sucht, gerade preisgibt. Aber wir brauchen im Notstand nur die als ausweglos erlebte Lebenslage zu sehen, die den Täter in die Begehung des Unrechts treibt, so ist die Parallele offensichtlich: Ausweglosigkeit ist auch da, wo das Leben selbst seinen Sinn für den Lebenden so völlig verliert, daß er nur noch die gewaltsame Beendigung dieses Lebens als Weg zu sehen vermag. Die hiermit vorgeschlagene Analyse der Straflosigkeit des Selbstmords bedeutet demnach eine Abkehr von der traditionellen Sicht: Nach wie vor fehlt es zwar an einem Straftatbestand des Selbstmords (was praktisch insbesondere bedeutet, daß der versuchte Selbstmord straflos ist). Der Grund der Straflosigkeit ist aber — straftatsystematisch gesehen — nicht etwa darin zu finden, daß schon die Rechtsgutsverletzung vom Gesetzgeber tatbestandlich ausgespart worden wäre; vielmehr entspricht die Selbsttötung wie die Fremdtötung dem Unrechtstatbestand der Tötungsdelikte. Ihre Straflosigkeit beruht allein auf der gesetzlichen Anerkennung eines speziellen, die Rechtsschuld ausschließenden Entschuldigungsgrundes, nämlich des Erlebnisses der völligen Sinnlosigkeit des eigenen Lebens durch den Täter. Bevor jedoch die Folgerungen aus dieser Auffassung dargetan werden, ist die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Selbstmords deutlicher als bisher aufzuwerfen, zumal da in der wissenschaftlichen Diskussion diese Rechtswidrigkeit weitgehend verneint wird.

6. Wir haben oben die Rechtswidrigkeit der Selbsttötung mehr vorausgesetzt als dargetan und gingen dabei in der straftatsystematischen Analyse der „üblichen" Selbstmordfälle davon aus, daß das tatbestandlich begründete Unrecht der Tötungsdelikte hier nicht durch eine vorrangige Gutsbeaditung ausgeschlossen, die Tat also nicht gerechtfertigt werde. Aber mit einer so kurzen Bemerkung werden wir weder dem Stand der Diskussion noch der Sache geredit, und so ist — wie schon oben angekündigt — hier wenigstens das Nötigste nachzutragen.

" Schmidhäuser, Strafrecht, RdNr. 11/47.

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Immerhin könnte das Gut, das in der Selbstbestimmung des Menschen liegt, als vorrangig auch gegenüber dem Achtungsanspruch seines eigenen Lebens gesehen werden ( — und eine extrem liberale Rechtsordnung wird von einem derartigen Rangverhältnis auszugehen versuchen, solange es nur irgend vertretbar erscheint). Aber ein solcher Vorrang ist auch dann fragwürdig, wenn wir nicht auf „das Sittengesetz" zurückgreifen, durch das nach Art. 2 I des Grundgesetzes das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit begrenzt wird und das (vom BGH manchmal nahezu wie ein positiver Rechtssatz angewandt38) auf der Grundlage des christlich-abendländischen Wertbewußtseins ein „Recht" zur Selbsttötung verneint. Begnügen wir uns wie Gallas, der dieser Frage schon vor Jahren umfassend nachgegangen ist, mit dem Hinweis auf die herrschende Moral, so werden wir mit ihm die Annahme eines Rechts darauf, sich selbst zu töten, jedenfalls als mit Art. 2 I GG unvereinbar bezeichnen müssen39. Gallas selbst glaubt, die Selbsttötung als „unverbotenes" — d. h. weder rechtmäßiges nodi rechtswidriges — Verhalten kennzeichnen zu können40. Offensichtlich beruht diese Kennzeichnung vor allem darauf, daß der Selbstmord nicht mit Strafe bedroht ist. Aber sowenig wir die straflos bleibende, im entschuldigenden Notstand begangene Fremd-Tötung als unverboten bezeichnen, sowenig trifft diese Bezeichnung m. E. auf die Selbst-Tötung zu. In den Strafrechtssätzen geht es nicht um die Setzung von Verboten, sondern um die Normierung von Strafrechtsfolgen und deren Voraussetzungen; und das sozialethische Verbotensein bestimmter Handlungen ist ( — abgesehen vom reinen Ordnungsstrafrecht — ) allemal schon vorausgesetzt. So kann m. E. das „Unverbotensein" der Selbsttötung nur so verifiziert werden, daß wir versuchen, uneingeschränkt die Folgerungen aus dieser Annahme zu ziehen, und sodann fragen, ob wir bereit sind, diese Folgerungen für die praktizierte Rechtsordnung der Gegenwart zu ziehen. M. E. würde zu diesen Folgerungen gehören, daß jeder, der einen Lebensmüden mit Gewalt von der Begehung des Selbstmords abhält, wegen Nötigung belangt werden müßte, — daß das Eindringen in eine fremde Wohnung zur Rettung eines Lebensmüden, der aufgrund seines Selbstmordhandelns schon bewußtlos geworden ist, als Hausfriedensbruch verfolgt werden könnte, — daß wir es hinnehmen müßten, wenn ein Arzt eine Selbsttötungsklinik eröffnete, in der er lebensmüden Mitmenschen Beratung und Betreuung bei dem von ihnen geplanten und ganz allein von ihnen selbst durchzuführenden 38 39 40

So z. B. BGHSt. 6, 153. Gallas, JZ i960, 653. Gallas, JZ i960, 654 f. Ihm zustimmend Roxin, a. a. O. S. 229.

Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht

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Selbstmord angedeihen ließe. M. E . wird niemand derartige Folgerungen für die geltende Rechtsordnung hinzunehmen bereit sein. — Die Annahme eines „rechtsfreien Raumes" erscheint mir daher als eine Notlösung, die die Sanktionslosigkeit des Selbstmords (d. h. vor allem: des Versuchs) a m falschen Punkte verständlich zu machen sucht 41 . Nach allem spricht nichts gegen die Annahme der Rechtswidrigkeit des Selbstmordhandelns; wenn dessen Straflosigkeit — wie es oben geschehen ist — auf einen besonderen gesetzlichen Entschuldigungsgrund zurückgeführt wird, dürfte diese Bejahung der Rechtswidrigkeit vielleicht weniger befremden als im Rahmen der herkömmlichen Auffassungen. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß die Rechtswidrigkeit des Selbstmords nur bejaht werden kann, wenn man zugleich die Pflicht des einzelnen zum Weiterleben gegenüber der Gemeinschaft bejaht 4 2 . Aber dies ist nicht so ungeheuerlich, wie es zunächst erscheinen will: Ein Gemeinwesen, das sich selbst ernst nimmt, wird seine Existenz nicht in das Belieben aller einzelnen stellen können, sondern die Achtung v o r dem Leben aller seiner Glieder auch gegenüber der Versuchung zum Selbstmord fordern müssen ( — und z w a r insofern durchaus im Einklang mit einem kategorischen Imperativ, dem freilich damit der W e r t einer Fortexistenz der Menschheit zugrundeliegt 4 3 ). — Praktisch wird eine solche Pflicht zum Weiterleben innerhalb der Gesellschaft auch ständig vorausgesetzt, so etwa in den relativ häufigen und hinreichend bekannten forcierten Einsätzen von Polizisten, Feuerwehrleuten, Ärzten und Krankenhauspersonal (u. U . schon v o r der Selbstmordhandlung, meistens aber erst nach „beendetem Selbstmordversuch", und dies auch in den Fällen, in denen etwa ein Abschiedsbrief eindeutig den wohlüberlegten Sterbewillen ergibt). Sehen wir die Dinge aus dem Blickwinkel des Strafrechts, so fügt sich die mit der Rechtswidrigkeit des Selbstmords postulierte Pflicht zum Weiterleben voll in die gegenwärtige Rechtsordnung ein. Es ist heute allgemein anerkannt, daß das gewaltsame Abhalten des Lebensmüden vom Selbstmord nicht als Nötigung gem. § 2 4 0 S t G B bestraft werden kann, und z w a r weil die rechtsgutsverletzende Einwirkung gegen den Willen des Lebensmüden zur Rettung seines Lebens (in 41 Es ist hier nicht der Platz, auf die Problematik des „rechtsfreien Raums" näher einzugehen. Der Begriff wird neuerdings entschieden verteidigt von Arthur Kaufmann, Maurach-Festschrift 1972, S. 327 ff. 42 Vgl. auch hierzu Gallas, J Z 1960, 654. 4 3 Hierzu Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ausgabe der wissensch. Buchgesellschaft (Hrsg. Weischedel) Bd. IV, S. 6 1 ; Metaphysik der Sitten, ebenda, S. 554.

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rediten Maßen geübt) nicht „als verwerflich anzusehen" ist 44 . — Auch für den Aspekt der Notwehr ist nichts Unangemessenes zu befürchten: Ganz abgesehen davon, daß niemand zur massiven Gewalt gegen andere verpflichtet ist, der sich nicht selbst (etwa als Polizist) innerhalb des Gemeinwesens zur Gewaltanwendung verpflichtet hat, scheitert eine uneingeschränkte Notwehrhilfe gegen den rechtswidrigen Angriff des Lebensmüden auf sein eigenes Leben schon daran, daß hier Angreifer und Angegriffener eine Person sind: die Nothilfe gegenüber dem Angegriffenen darf daher nicht zur ernstlichen Verletzung des Angreifers führen, wenn nicht zugleich der Angegriffene selbst soll gefährlich verletzt werden dürfen. Schließlich fügt sich unser Bild der strafrechtlichen Beurteilung des Selbstmords auch in eine sachgerechte Sicht der üblichen Fälle des entschuldigenden Notstandes ein. Die Straflosigkeit der Tat dessen, der einen anderen tötet, um sich selbst vor dem Tode zu erretten, ist nur dann recht zu verstehen, wenn wir in der Gleichrangigkeit der Güter die der Pflichten sehen; wenn der einzelne verpflichtet ist, fremdes Leben zu achten, so ist er auch verpflichtet, das eigene zu achten, da es keinen geringeren Wert hat als fremdes Leben; wenn er verpflichtet ist, fremdes Leben zu retten, ist er also auch verpflichtet, eigenes zu retten. Nur von daher ist es auch zu verstehen, daß die „Entschuldigung" eingeschränkt ist, soweit Feuerwehrleute, Soldaten, der Wettermann im Bergwerk u. a. in den spezifischen Gefahrlagen ihres Pfliditenbereichs eine gewisse Leibes- und Lebensgefahr auf sich zu nehmen haben ( — in der nicht gerade glücklichen Terminologie des § 35 n. F.: soweit dem Täter, „weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen") 45 . — Mancher souveräne Geist erschrickt, wenn er von Selbsterhaltungsund Weiterlebenspflicht reden hört; und selbst wo er eine sittliche Pflicht der Selbsterhaltung „für den Regelfall" anerkennt, wird er sie doch als Rechtspflicht ablehnen ( — als ob er den Polizisten neben sich sähe, der ihm das Gift aus der Hand schlägt und damit den letzten großen Schritt seines Lebens unmöglich macht). Aber hier sind allemal Konsequenzen, die klares Denken nicht umgehen kann. Simson und Geerds führen eine Reihe von Stimmen aus der Geistesgeschichte der Jahrhunderte an, die sich für den Selbstmord aussprechen, und meinen, angesichts der sich unvereinbar gegenüberstehenden Auffassungen lasse sich nicht behaupten, daß ein allgemein 44 Gallas, JZ 1960, 655, zur Entwicklung der Meinungen. Für heute: StGB (1972), § 240, 1 Bc; Schäfer in LK, 9. Aufl., 1972, § 240 RdNr. 93. 45 Hierzu Sdimidhäuser, Strafrecht, 1970, RdNr. 11/20.

Dreher,

Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht

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gültiges Sittengesetz den Selbstmord erlaube oder verbiete 46 . Doch wer unter denen, die sich für die Zulässigkeit des Selbstmords aussprechen, brächte es fertig, ohne jedes Bemühen um Erhaltung des fremden Lebens den Selbstmord eines gesunden jungen Mannes neben sich geschehen zu lassen? Wir sehen sofort, daß jede Stimme zugunsten des Selbstmords auf die Vorstellung zu beziehen ist, daß sich die Person in einer existentiell als einzigartig erlebten Situation befinde und sich darin nicht nur über das Rechtsgebot, sondern auch über das Sittengesetz hinwegsetze. Es findet sich hier jeweils die letzte Subjektivität der Selbstverwirklichung, nicht einmal mehr Selbst-gesetz-gebung, da es um Unwiederholbares, auch nicht auf andere Übertragbares geht. „Aber anderen Fehl denket der Weltsinn sich, andern ehernen Dienst übt er und anders Recht" — so kennzeichnet Hölderlin (Der Abschied) in anderem Zusammenhang die Kluft zwischen sublimster Selbstbestimmung und den Regeln, die sozusagen von außen an den Menschen als Forderung herantreten. Auch die sittliche Autonomie der Person läßt sich in dem, worin sie sich verwirklicht, nicht eigentlich zum Gegenstand des Gesprächs machen, das immer auf Verständigung ausgeht und damit auf das — wenn auch in engen Grenzen — Verallgemeinerungsfähige. So verfehlt jede Erörterung über das Erlaubtsein von Selbsttötung schon im Ansatz den gemeinten Gegenstand — schon für das Sitten-„Gesetz", erst recht für den Bereich der Rechtsordnung. Sie muß auch gegenüber der Autonomie des Einzelnen von seiner Weiterlebenspflicht ausgehen, und das bedeutet für unseren nüchternen strafrechtlichen Gegenstand, daß das in der Selbsttötung begründete tatbestandliche Unrecht der Tötungsdelikte nicht aus der Autonomie „gerechtfertigt" wird, mag es im Einzelfall noch so sehr nachvollziehbar und verständlich erscheinen (und damit in den Kategorien des Strafrechts „entschuldigt" sein).

7. Bleibt es demnach bei unserer Auffassung, daß der Selbstmord tatbestandliches Unrecht i. S. der Tötungsdelikte ist und daß von einer generellen Rechtfertigung der Selbsttötung jedenfalls nicht ausgegangen werden kann, dann gilt es nunmehr, die Folgerungen zu ziehen, die sich aus dieser Auffassung für das Strafrecht im Hinblick auf die Beteiligung am Selbstmord eines andern ergeben. Unter den Möglichkeiten aktiver Teilnahme erörtern wir zunächst typische Beihilfehandlungen, und zwar indem wir den gelungenen u

Simson/Geerds,

a. a. O. S. 64 f.

820

Eberhard Sdimidhäuser

Selbstmord voraussetzen. Wenn der Beteiligte hier die Pistole oder das Gift geliefert hat, so hat er damit — in den Worten des § 49 StGB — dem Täter zur Begehung einer als Verbrechen oder Vergehen mit Strafe bedrohten Handlung durdi Tat Hilfe geleistet. Soweit der Gehilfe — was faktisch die Regel sein dürfte — „durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen" des Lebensmüden dazu bestimmt worden ist, die Hilfe zu leisten, kommt von vornherein nur der Strafrahmen in Betracht, der in § 216 StGB für die Tötung auf Verlangen vorgesehen ist — hier freilich nochmals mit der Milderungsmöglichkeit des § 49 II StGB. Schon aus diesen Hinweisen ergibt sich, daß die bisher als straflos behandelte Beihilfe zum Selbstmord nun nicht etwa mit einer unangemessen hohen Strafdrohung verbunden wird. Die Mindeststrafe für den auf Verlangen tötenden Täter beträgt lediglich 6 Monate Freiheitsstrafe; nimmt man die Strafmilderungsmöglichkeit des § 49 II für die Strafe des Gehilfen hinzu und bezieht man die Regelung des § 14 StGB (wonach Freiheitsstrafen unter 6 Monaten regelmäßig in Geldstrafen umzuwandeln sind) in die Betrachtung mit ein, so wird heutzutage kaum ein Gericht im Hinblick auf eine unangemessen hohe Strafe davor zurückzuschrecken haben, die Beihilfe zum Selbstmord zu bestrafen (— wobei also ganz von den Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung abgesehen werden darf. Etwas schwieriger sind in dieser Hinsicht die Überlegungen bezüglich des Anstifters, der ja nidit „durch das ernstliche Verlangen" des Selbstmörders zu der Anstiftung bestimmt worden sein kann, sondern dieses Verlangen und den Entschluß zur eigenen Ausführung beim Selbstmörder erst hervorgerufen hat. Insoweit kann hier der Strafrahmen des § 216 nicht in Betracht kommen. Das ist aber durchaus sachgerecht. Nicht von ungefähr hat man — wie die Entwürfe der zwanziger Jahre beweisen — die Verleitung zum Selbstmord schon immer als am dringlichsten strafwürdig angesehen. Da nach § 48 II StGB (und in Zukunft nach § 26 i. d. F. des 2. StRG) für die Strafe des Anstifters der Strafrahmen für die Täterschaft gilt, wäre bei heutiger Gesetzeslage gem. §§212, 48 die Mindeststrafe für die Verleitung zum Selbstmord 5 Jahre Freiheitsstrafe. Denkt man freilich an Fälle, in denen der Anstiftende lediglich einen Entschluß weckte, der dem Lebensmüden ohnehin schon nahelag (etwa in seiner Verzweiflung über eine qualvolle Krankheit oder eine sonst ausweglos erscheinende Lebenssituation), so werden für die Tat des Anstifters ohne große Schwierigkeit mildernde Umstände i. S. des § 2 1 3 StGB angenommen werden können mit der Folge, daß dann auch für ihn die Mindeststrafe nur noch 6 Monate beträgt. Eine für das Rechtsgefühl der Gegenwart unangemessen schwere Bestrafung dürfte sich also auch insoweit nidit ergeben.

Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord in strafrechtlicher Sicht

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Die bisher so umstrittenen Fälle des nichthandelnden Beteiligten47 würden unter den bisher erörterten Prämissen keine Schwierigkeiten für die Rechtsanwendung mehr bereiten. Ist der Nichthandelnde Garant für die Erhaltung des Lebens des Lebensmüden, so kann der Unterlassende, der vor oder während der Selbstmordhandlung nicht abwendend eingreift, wegen Beihilfe zum Tötungsdelikt bestraft werden48; soweit das Opfer bereits bewußtlos, aber noch zu retten ist, sogar wegen eigener Täterschaft. Auf die Entwicklung der Details ist hier zu verzichten, da es sich jeweils nur um Folgerungen aus anderweitig anerkannten Begriffen handelt. Lediglich die Anwendbarkeit des § 216 StGB ist kurz zu erörtern, da es in Fällen der gedachten Art an einem „ausdrücklichen" Verlangen des Lebensmüden fehlt; jedoch wird man hier mit Gallas anzunehmen haben, daß sowohl die Kundgabe des Verlangens wie auch die Ausdrücklichkeit nicht in Worten zu liegen brauchen, daß vielmehr „schon in jedem ernstlichen Unternehmen der Selbsttötung als solchem" „das, wenn audi nur konkludent, so doch unmißverständlich an die Angehörigen gerichtete Verlangen des Lebensmüden zu sehen" sei, ihn an seinem Selbsttötungsvorhaben nicht zu hindern49. In sachgerechter Weise würde also damit auch in derartigen Fällen — sei es nun für die Täterschaft des Unterlassenden, sei es für die bloße Beihilfe — immer der Strafrahmen des § 216 eröffnet. Ist der Nidithandelnde nicht Garant für die Erhaltung des Lebens des Lebensmüden, so kommt nur das Gemeindelikt der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 330 c StGB in Betracht. Nunmehr ergeben sich aus dem Hinweis auf die aktive Selbstmordbeihilfe keine Gerechtigkeitswidersprüche mehr, wenn in dem unmittelbaren Bevorstehen der Selbsttötung des Lebensmüden ein Unglücksfall i. S. des § 330 c gesehen wird. Die Strafbarkeit mag sich also daraus ergeben, daß etwa der schon bewußtlose Selbstmörder nodi zu retten war, oder daraus, daß unmittelbar vor der Handlung des Selbstmörders noch eingegriffen werden konnte — in jedem Falle kann dem von uns als legitim anerkannten Strafbedürfnis, wie es sich in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes BGHSt 6, 147 und 13, 162 ausdrückt, in angemessener Weise Redinung getragen werden. Soweit ein fremder Selbstmord fahrlässig unterstützt worden ist oder — trotz gegebener Garantenpflicht — fahrlässig nicht verhindert 4 7 Dazu in systematischer Darstellung: Roxin a . a . O . , S. 473 ff.; Herzberg a. a. O., S. 265 ff. 4 8 Die Selbstmordfälle bereiten jedenfalls insoweit keine besonderen Schwierigkeiten. Zum Text vgl. Schmidhäuser, a. a. O., RdNr. 17/14f., mit Angabe der Gegenmeinung, die bei Erfolgsdelikten jede Beihilfe ablehnt und immer Unterlassungstäterschaft bejaht. 48 Gallas, J Z i960, 649 f.

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worden ist, kommt fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB in Betracht50. Daß Fälle dieser Art die Rechtsprechung laufend beschäftigen, zeigt zuletzt die in BGHSt 24, 342 veröffentlichte Entscheidung, auf deren Einzelheiten hier jedoch nicht eingegangen werden kann. Alles in allem ergibt sich jedenfalls aus den hier zugrundegelegten Prämissen eine widerspruchsfreie und in jeder Hinsicht gerechte Strafbarkeit für die Beteiligung an fremder Selbsttötung.

8. In den vorangegangenen Abschnitten dieses Beitrags zur Festschrift für Hans Welzel ist im umstrittenen Bereich der Beteiligung am Selbstmord ein Weg für die Strafrechtsanwendung aufgezeigt, der — wie ich glaube — genauso folgerichtig ist wie der, den Welzel und andere vorschlagen. Einen Mittelweg kann es hier offenbar nicht geben, und zwar weder de lege lata noch de lege ferenda, wenn man es mit der relativen Gerechtigkeit staatlichen Strafens auch nur einigermaßen ernst meint. Entweder gibt es den Weg völliger Straflosigkeit der Selbstmordbeteiligung oder den Weg zwar maßvoller, aber durchgängiger Strafbarkeit. Wenn wir die geistige Entwicklung der letzten Jahrzehnte richtig einschätzen, so ist schon nach geltendem Recht die durchgängige Strafbarkeit das Gebot der Stunde. Allerdings ist ein solcher Schritt der Rechtsanwendung leichter zu fordern als praktisch zu verwirklichen. Die Gewichte der Tradition wiegen schwer; Recht heißt nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Rechtssicherheit. Aber von der durch das herkömmliche Verständnis begründeten Rechtssicherheit ist die Strafrechtspraxis ohnehin schon ein ganzes Stück abgerückt. Die Rechtsprechung zeigt in bezug auf Fälle der Beteiligung am Selbstmord seit zwei Jahrzehnten alle Zeichen des Ubergangs. Die derzeitige Inkonsequenz ist auf die Dauer nicht zu ertragen. Solange man sich freilich an das bisher allgemeine Verständnis der „Tatbestandslosigkeit" des Selbstmords gebunden sieht, ist aus den Schwierigkeiten nicht herauszukommen. „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande." So sollte man die Straflosigkeit des Selbstmords von Grund auf neu überdenken. Vielleicht können die vorstehenden Überlegungen die Dinge ein wenig vorantreiben und auf die Dauer gesehen auch eine Entscheidungshilfe für die Strafrechtspraxis abgeben. 50 Also ganz i. S. der Entscheidung BGH JR 1955, 104 und insoweit entgegen BGHSt. 24, 342, — und zwar auf der Grundlage des m. E. für die fahrlässigen Erfolgsdelikte geltenden Einheitstäterbegriffs; vgl. Schmidhäuser, Strafrecht, RdNr. 14/9, 123 f.

Zum Zweck und Mittel der Nötigung G U N T H E R ARZT,

Göttingen

I. Die Nötigung ist rechtswidrig, „wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist", § 240 II StGB. Was damit gemeint ist, ist in vielen Einzelheiten umstritten. Umstritten ist aber auch die grundsätzliche Bedeutung der Zweck-Mittel-Relation, und zwar de lege lata wie auch de lege ferenda1. Die Einzelfragen und der Maßstab der Verwerflichkeit sind unter dem Gesichtspunkt der Nötigung eingehend diskutiert worden2. Im Folgenden geht es darum, diese speziellen Betrachtungen durch die Aspekte zu ergänzen, die sich dadurch gewinnen lassen, daß man die Zweck-Mittel-Relation als elementares Strukturprinzip sieht. Der Einsatz dieses Strukturprinzips hat bei anderen Sachverhalten zu Fragen geführt, deren Beantwortung — vielleicht — bei den speziellen Nötigungsproblemen weiterhilft. 1. Schon in der gedanklichen Trennung von Zweck und Mittel steckt eine Errungenschaft. Sie ist uns so selbstverständlich geworden, daß wir die Leistung (und die Leistungsfähigkeit dieser Trennung als Hilfe bei der juristischen Problembewältigung) oft gar nicht mehr wahrnehmen. In dem geflügelten Wort „Der Zweck heiligt die Mittel" ist noch etwas von dem Schock zu spüren, den die Erkenntnis, daß Zweck und Mittel nicht eines sind, ausgelöst hat. Das Pochen darauf, daß der Zweck die Mittel heilige, ist — so gesehen — ein Versuch, die zerstörte Einheit wieder herzustellen. Auch juristisch war die Trennung von Zweck und Mittel keineswegs selbstverständlich. Daß beispielsweise dem Staat mit bestimmten Aufgaben nicht zugleich die 1 Zu den Vorschlägen de lege ferenda vgl. § 170 E 62 und die Niederschriften der Großen Strafrechtskommission, Bd. 5 = Nied. 5 S. 301 f. (dort auch der Vorschlag von Welzel)-, Nied. 6, 276 ff. — Vgl. ferner § 116 A E . * Hansen, Die tatbestandlidie Erfassung vom Nötigungsunredit, Baden-Baden 1972; Reents, Die Verwerflichkeitsklausel, Diss. Göttingen 1969; Roxin, Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, JuS 64, 371 ff., hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Strafrechtliche Grundlagenprobleme, Berlin, New York 1973, S. 184 ff.

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Mittel zu ihrer Bewältigung zugewiesen sind, ist eine Erkenntnis des öffentlichen Rechts, die noch gar nicht alt ist und die — einmal ausgesprochen — durchaus nicht als selbstverständlich akzeptiert wurde. 2. Was das Strafrecht angeht, hat sich der Zweckgedanke3 allmählich und mit Schwierigkeiten durchgesetzt. Beim Streit um die Strafzwecke geht es bis heute nicht nur um jeweils unterschiedlich definierte Zwecke, sondern um die grundsätzlichere Frage, ob die Strafe überhaupt als Mittel gesehen werden kann, das zur Erreichung bestimmter Zwecke eingesetzt wird, oder ob die Strafe als unauflösliche Einheit von Mittel und Zweck gesehen werden muß. Die sog. absolute Straftheorie steht der Idee nach auf dem letzten Standpunkt: Strafen wird als zweckfrei oder — was auf dasselbe hinausläuft — als Selbstzweck angesehen. Für eine Zweck-Mittel-Relation fehlt damit schon der für die Relation unentbehrliche zweite Bezugspunkt.

3. Als Problem des Bezugspunktes läßt sich auch die für die Nötigung unmittelbar relevante Auseinandersetzung um Vorsatz, Absicht und Motiv charakterisieren. Ein „normaler" Tatbestand (von § 240 zunächst abgesehen) läßt sich in Form der Zweck-Mittel-Relation dahin ausdrücken, daß das Mittel — das ist die tatbestandsmäßige Handlung — ohne Rücksicht auf den vom Täter verfolgten Zweck verwerflich ist 4 . Wegen des Mittels bleibt jede der unendlich vielen Zweck-Mittel-Relationen verwerflich, so daß der Zweck gesetzgebungstechnisdi gar nicht in Erscheinung tritt. Dementsprechend kann der Vorsatz definiert werden als zweckhafter Einsatz eines (tatbestandsmäßigen, d. h. regelmäßig verbotenen) Mittels. Da es auf die mit dem Mittel erstrebten Zwecke nicht ankommt, kann der Zweck offengelassen werden (Blankozweck). Deshalb schadet es auch nichts, wenn man den Einsatz des Mittels als den Zweck definiert, den der Täter anstrebt. Man muß sich dabei nur im klaren sein, daß dies ein

3

lff.

Grundlegend von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafredit, ZStW Bd. 3 (1882)

4 Bei Graf zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905 S. 53 heißt es, das tatbestandsmäßig-rechtswidrige Verhalten sei unrichtig, weil nicht rechtes Mittel zu rechtem Zweck. — Diese bekannte Formulierung macht nicht deutlich, daß das tatbestandsmäßig-rechtswidrige Verhalten schlechthin falsches Mittel (zu irgendeinem Zweck) ist, ein Relationsproblem also nicht besteht.

Zum Zweck und Mittel der Nötigung

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Zweck unter vielen und vor allem, daß dieser Zweck regelmäßig Mittel (zur Erreichung anderer Zwecke) sein wird 5 . Daß es unter den unendlich vielen Zweck-Mittel-Relationen einige wenige Fälle gibt, in denen der Zweck ausnahmsweise doch die tatbestandsmäßige Handlung rechtfertigt, bewältigen wir nicht durch Hinweis auf die Zweck-Mittel-Relation beim jeweiligen Tatbestand, sondern über Rechtfertigungsgründe, d. h. über die Benennung der „guten" Zwecke. Da eine absdiließende Benennung solcher rechtfertigender Zwecke nicht möglich ist, hat der Gesetzgeber jetzt die Zweck-Mittel-Relation als allgemeines Ausnahmeprinzip formuliert, § 34 d. 2. StrRG 6 . Dieses relativ einfache Schema hat der Gesetzgeber bei einigen Tatbeständen dadurch abgewandelt, daß er bei spezifischen Mittel-ZweckRelationen eine gesteigerte Verwerflichkeit annimmt, höhere Strafe androht. Der Einsatz eines bestimmten Mittels (z. B. Töten) ist zwar an sich bei jedem Zweck unangemessen (§ 212), bei bestimmten, vom Gesetzgeber benannten Zweck-Mittel-Relationen jedoch in besonderem Maße. Zwischen dem angestrebten Zwedk der finanziellen Bereicherung und dem eingesetzten Mittel des Tötens besteht eine gegenüber anderen denkbaren Zwecken besonders große Diskrepanz. So beruht die Habgier jedenfalls in ihrem Kern auf einer besonders verwerflichen Mittel-Zweck-Relation. Dasselbe läßt sich für die niedrigen Beweggründe generell sagen und wird besonders klar, wenn die Tötung „aus nichtigem Anlaß" als Mord bestraft wird 7 . Wie einfache Tatbestände auf der unangemessenen Zweck-Mittel-Relation beruhen (Blankozweck), so beruhen auch die Beispielsfälle auf demselben Prinzip, nur daß der Zweck mehr oder weniger genau festgelegt wird. Ein struktureller Unterschied, der mit dem Stichwort der Gesinnungsmerkmale beschrieben werden müßte oder auch nur könnte, ist jedenfalls in den genannten Fällen nicht vorhanden 8 . Was soeben mit Blick auf §211 ausgeführt ist, trifft auch in den Fällen zu, in denen der Einsatz eines Mittels bei einer bestimmten Absicht qualifiziert bestraft wird. Audi in solchen Fällen handelt es sich um eine besondere Mittel-Zweck-Relation, wobei die Absicht den betreffenden Zweck und mit ihm den Bezugspunkt für die zum 5

Welzel, Strafrecht (LB), 11. Aufl. 1969 § 8 I spricht treffend vom „MittelZwedc-Gefüge" der menschlichen Handlung und vom „mehrfachen Handlungssinn". * Vgl. dazu Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965; zur Zweck-MittelRelation bes. S. 87 ff. 7 BGH, NJW 67, 1140; vgl. auch schon BGHSt. 3, 180, 183 (kein „berechtigter" oder „verständiger" Anlaß); ferner AE, Straftaten gegen die Person, 1. Halbband 1970 S. 19. 8 Anders die h. M., vgl. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958 S. 223 ff.

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Mittel zu bildende Relation bestimmt. §211 (Straftatverdeckungsabsicht) illustriert den engen Zusammenhang dieser Absichtsdelikte mit den zuvor genannten besonderen Mittel-Zweck-Relationen. Sehr viel problematischer ist die Umschreibung der Verbotsmaterie mit Hilfe der Absicht dort, wo sich die Absicht nicht auf einen mit dem Mittel verfolgten weiteren Zwedk bezieht, sondern auf den Einsatz des Mittels. Die Versuche, hier zu einer Steigerung des Vorsatzes derart zu kommen, daß man den Einsatz des Mittels als Selbstzweck betrachtet, haben zu keiner akzeptablen Lösung geführt. Der pönalisierte Erfolg ist immer Mittel für weitere Zwecke, nie Selbstzweck. Deshalb ist es zwar sinnvoll, das Anstreben eines Erfolges dann (besonders) zu bestrafen, wenn der Täter damit einen bestimmten (weiteren) Zweck verfolgt. Nicht sinnvoll ist es dagegen, nur das absichtliche Anstreben eines Erfolges zu pönalisieren. Einschlägige Tatbestände beruhen entweder auf der unrichtigen Vorstellung, der absichtlich angestrebte Erfolg könne von anderen Erfolgen dadurch unterschieden werden, daß er Zweck des Handelns des Täters und nicht Mittel (für weitere Zwecke) sei oder aber auf einer — hier nicht weiter zu verfolgenden — unnötigen Bezeichnung des Vorsatzes als Absicht9. Das Strukturprinzip der Zweck-Mittel-Relation ist so geeignet, die vielschichtigen Absichtsprobleme, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, aufzuhellen.

II. 1. Betrachtet man nunmehr die Nötigung, so fällt zunächst auf, daß die Diskussion weitgehend auf die Verwerflichkeit der Zweck-MittelRelation fixiert ist, ohne daß die davorliegende Frage des für die Relation maßgeblichen Zwecks bzw. Mittels geklärt wäre. In Judikatur und Literatur stößt man auf eine weite und eine enge ZweckMittel-Relation, wobei das Verhältnis dieser Relationen zueinander ungeklärt bleibt, weil die Diskrepanz zumeist gar nicht empfunden wird. Zunächst zur weiten Zweck-Mittel-Relation: Wie jeder Täter verfolgt auch der Nötigende mit der tatbestandsmäßigen Handlung, d. h. mit der Einwirkung auf die Willensfreiheit seines Opfers gem. § 240 I, weitergehende Zwecke. Es liegt nahe, diese weitergehenden Zwecke in eine Relation zu dem Mittel (Beeinflussung der Willens9

Wie hier Baumann,

Strafredit (AT) 5. Aufl. 1968 § 26 III 2 a mit Nachweisen.

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freiheit durch Gewalt oder durch Drohung) zu bringen. Zur Begründung der Rechtswidrigkeit würde es dann nicht ausreichen, daß jemand in Verfolgung irgendeines Blankozwecks sich so verhält, wie es § 240 I umschreibt, sondern es müßte hinzukommen, daß der Einsatz dieses Mittels in Beziehung zu einem (weiteren, mehr oder weniger bestimmten) Zweck besonders unangemessen wäre. Die Struktur des § 240 liefe dann auf ein Absichtsdelikt im Sinne der Umschreibung vorstehend I 3 hinaus. Ein Blick in die Judikatur und Literatur zeigt, daß § 240 vielfach so interpretiert wird. Schröder10 bemerkt lakonisch, „Zweck i. S. des Abs. 2 ist die subjektive Zielsetzung des Täters". In der Gesetzgebungsgeschichte hat diese weite Relation ihren Niederschlag in § 240 VE 1909 gefunden, wo es heißt: „Wer in rechtswidriger Absicht einen anderen durch Gewalt usw. zu einer Handlung usw. nötigt" 11 . — Dabei begegnen die vom AbsichtsbegrifF hinlänglich bekannten Schwierigkeiten, Zwecke und Motive zu unterscheiden (weil ein späterer Zweck das Motiv für das Anstreben eines davorliegenden Zwischenzieles sein kann). So prüft der BGH, ob das Mittel der Nötigung im Hinblick auf das Ziel des Täters, seinen Unmutsaufwallungen Luft zu machen, besonders unangemessen ist 12 oder er berücksichtigt, daß der Täter sein Opfer „aus begreiflicher Wut" genötigt hatte 13 . Gegen ein solches Vorgehen gibt es nichts zu erinnern, vorausgesetzt, die Prämisse stimmt, also die Konstruktion des § 240 als eines Tatbestandes, bei dem über den Vorsatz i. S. des § 240 I noch eine überschießende Innentendenz zu berücksichtigen ist. Diese überschießende Innentendenz wäre dann der Zweck, während die Nötigung als Mittel in die Mittel-Zweck-Relation einzusetzen wäre. Wenn Roxinu dem B G H entgegenhält, bei § 240 spielten „Gesinnungselemente" bei der Umgrenzung des Unrechts keine Rolle und die begreifliche Wut o. ä. könne allenfalls im Rahmen der Schuld relevant werden, so ist das solange nicht schlüssig, als man sich die Prämisse des B G H zu eigen macht15. 10 Schönke-Schröder, StGB, 16. Aufl. 1972, § 2 4 0 Bern. 24; ähnlidi Hansen, a. a. O. S. 100. 11 Zum weiteren Schicksal des Absiditsmerkmals vgl. Hansen, a. a. O. S. 35 ff. Welzel, Nied. 5, 302 hat bei der Ehrennötigung eine Konkretisierung auf die Vorteils- bzw. Nachteilsabsidit vorgeschlagen. 12 BGHSt. 18, 389, 392 ( = J Z 64, 29 mit Anm. Schröder). 1S BGHSt. 17, 328, 332. 14 Roxin, a. a. O. S. 189 bzw. S. 196. 18 So illustriert Roxin, a. a. O. S. 193 die These, eine nidit sehr ins Gewicht fallende Nötigung solle nicht materiell sozialschädlich sein, mit dem „aus Schabernack" handelnden Täter, wobei er ein entsprechendes Beispiel von Schröder, J Z 64, 31; Schönke-Schröder, § 240 Bern. 18 aufgreift.

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Gegen diese Prämisse und damit gegen die weite Zweck-MittelRelation bestehen jedoch erhebliche Bedenken, und zwar noch ehe die Frage der Verwerflichkeit in die Betrachtung einbezogen wird (dazu III). Interpretiert man § 240 StGB nämlich in Richtung auf § 240 V E 1909, hat man ein Absichtsdelikt ohne nähere Fixierung der Absicht vor sich. Das wäre gesetzgebungstechnisch de lege lata ein Unikum 16 , was wegen der Fixierung auf die Irrtums- und Verwerflichkeitsprobleme nicht genügend beachtet worden ist. Man muß sich nur einmal vergegenwärtigen, wie sehr man sich sonst gegen Ansätze in diese Richtung zur Wehr setzt. Bei § 192 StGB wird gegen die Meinung, die Beleidigungsabsidit konstituiere die Formalbeleidigung, von alters her bis in die jüngste Zeit mit dem Argument zu Feld gezogen, „für den Eingriff in ein Rechtsgut genügt nicht, daß der Täter ihn erstrebt, sondern er muß ihn auch verwirklichen" (Hans J . Hirsch)17. Wenn man jedoch bezweifelt, ob bei einem „an sich" nicht ehrverletzenden Verhalten die hinzutretende Beleidigungsabsicht die Strafbarkeit begründen könne, dann ist nicht ersichtlich, warum ein „an sich" die Willensfreiheit nicht verletzendes Verhalten beim Hinzutreten einer unspezifischen Absicht bestraft werden soll18. — Diese Bedenken werden durch die Einbeziehung der mit der Verwerflichkeit zusammenhängenden Fragen noch verstärkt, dazu unten III. Auch der Wortlaut des § 240 StGB spricht gegen die weite Relation. 2. Bei unbefangener Lektüre bildet § 240 II eine enge Zweck-MittelRelation, nämlich die zwischen dem Nötigungserfolg, d. h. der Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Opfers und dem Nötigungsmittel, d. i. die Gewalt oder die Drohung. Auch diese am Wortlaut orientierte Interpretation des § 240 II hat in zahlreichen Entscheidungen und literarischen Stellungnahmen ihren Niederschlag gefun16 De lege ferenda ergeben sich Parallelen zu § 182 E 62, wo der Gesetzgeber zu der Klausel „ohne verständigen Grund" Zuflucht genommen hat. Näher zu den durdi diese Gesetzgebungstechnik auftretenden Problemen Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, Tübingen 1970 S. 181 ff. (zur Verwerflichkeit S. 182, S. 195). 17 Hans J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, Karlsruhe 1967 S. 218. 18 Ob die Kritik an § 192 schlüssig ist, ist zweifelhaft, weil der Wahrheitsbeweis Ähnlichkeit mit einem Rechtfertigungsgrund besitzt, so daß ohne entsprechendes subjektives Element die Strafwürdigkeit bestehen bleiben könnte, vgl. Arzt, a. a. O. S. 199 f. Darauf kommt es hier jedoch nicht an, sondern auf die Diskrepanz zwischen dem Widerstand, der der subjektiven Theorie bei § 192 entgegengesetzt wird und der Selbstverständlichkeit, mit der z. T. bei § 240 von der weiten ZweckMittel-Relation ausgegangen wird.

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den. So setzt Schäfer19 ohne weiteres den Zweck mit „dem in § 240 I genannten Handeln, Dulden oder Unterlassen" gleich und BGHSt 5, 245, 246 meint, als Zweck gelte „nur das Verhalten, zu dem genötigt werden soll", „welche weiteren Ziele der Angeklagte... erreichen wollte", sei „ohne Bedeutung". In diesem Sinne wird gesagt, je gröber das Nötigungsmittel, desto eher werde seine Anwendung zur Willensbeugung des Opfers unangemessen sein. Diese einfache Überlegung hat den BGH 20 dazu gebracht, beim Einsatz von Gewalt die Verwerflichkeit der Mittel-Zweck-Relation regelmäßig als erfüllt anzusehen, und sie hat die Große Strafrechtskommission veranlaßt, denselben Effekt durdi eine nähere Umschreibung der Drohung zu erreichen. Die Bedeutung dieser engen Relation liegt zunächst darin, daß sowohl über das Nötigungsmittel als auch über den Nötigungserfolg der Umfang der Rechtsgutseinbuße zur Abgrenzung der Verbotsmaterie herangezogen werden kann. Normalerweise entscheidet das Ausmaß der Schädigung nur über das Wie, nicht über das Ob der Bestrafung, vgl. § 13 II StGB. Freilich wird der Umfang der Schädigung bei allen Tatbeständen schon im Rahmen des Ob der Strafbarkeit berücksichtigt. Dem Bagatellprinzip 21 wird bei Tatbeständen wie § 223 oder § 242 über die Sozialadäquanz Rechnung getragen22. Auch das prozeßrechtlidhe Korrektiv der Einstellung wegen Geringfügig-? keit gehört hierher 23 . Diese Einbeziehung quantitativer Momente stößt deshalb auf Schwierigkeiten, weil die menschliche Entschliessungs- und Handlungsfreiheit ein formalisiertes Rechtsgut darstellt. Der Umfang der Rechtsgutsbeeinträchtigung kann erst berücksichtigt werden, wenn man diese Formalisierung wieder aufbricht. Wie bei den Eigentumsdelikten eine quantitative Abstufung möglich wird, indem man von der Formalisierung des Rechtsguts absieht und auf den Wert abstellt, obwohl das Eigentum ohne Rücksidit auf den Wert geschützt ist, so kann man in § 240 das quantitative Moment nur auf Kosten der Formalisierung des Rechtsguts einbringen. Der Umfang der Beeinträchtigung der Freiheit i. S. des § 240 hängt von der konkreten Handlung des Verletzten ab, deren Vornahme oder Nicht19

Schäfer, LK 9. Aufl. § 240 Bern. 62. BGHSt. 23, 46, 55; Übereinstimmung mit den Reformbestrebungen, die eine in der Tatbestandsabgrenzung weitgehend unproblematische Nötigung durch Gewalt von einer problematischeren Ehrennötigung trennen wollten, dazu Sdowalm, Nied. 6, 276; Welzel, Nied. 5, 301; 6, 282. 21 Roxin, a. a. O. S. 193 (Geringfügigkeitsprinzip). 22 Der AE zieht das Bagatellprinzip unverhüllt zur Tatbestandsabgrenzung heran, indem er mit der Erheblichkeit einer Beeinträchtigung arbeitet, vgl. z. B. §§ 125, 127, 128 AE. 23 Richtig Schäfer, LK § 240 Bern. 43. 20

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vornähme der Täter erreicht. Je wichtiger diese konkrete Handlung ist, desto empfindlicher greift der Täter in die Freiheit des Opfers ein24. Die Bedeutung der engen Mittel-Zweck-Relation liegt darin, daß als Zweck der konkrete Nötigungserfolg und mit ihm der Umfang der Verletzung bei der Abgrenzung der Verbotsmaterie berücksichtigt werden kann. Der Umfang der Beeinträchtigung der Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit richtet sich jedoch nicht nur nach der konkreten Handlung des Opfers, sondern auch nach dem konkreten Nötigungsmittel. Je massiver das Nötigungsmittel, desto empfindlicher wird die Freiheit des Opfers verletzt, und je wichtiger dem Opfer ein konkretes Verhalten sein wird, desto massiver muß der Druck des Täters sein, wenn er das Opfer beeindrucken soll. Das heißt, die Schwere der Rechtsgutsverletzung drückt sich sowohl in dem konkreten Nötigungsmittel als auch in dem konkreten Nötigungszweck (Nötigungserfolg) aus. 3.

Daraus folgt: Der Regelungsgehalt des § 240 fällt verschieden aus, je nachdem, ob man sich für die enge oder weite Zweck-MittelRelation entscheidet. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Der schnelle Fahrer verdrängt den langsameren durch dichtes Auffahren von der Uberholspur. Bei der weiten Relation wäre die (nach B G H gewaltsame) Verdrängung von der Uberholspur das Mittel, die Zielsetzung des Täters der Zweck. Die für die Verwerflichkeit maßgebliche Relation würde sich danach richten, ob der Täter eilig zur schwerkranken Mutter oder zum Diebestreff wollte; ob er seinem Ärger Luft machen oder den Langsamen belehren wollte usw.25 — Bei der engen Relation wären Zweck und Nötigungserfolg identisch (Spurwechsel). Die Schwere der Beeinträchtigung des Opfers kann sich aus diesem angestrebten Erfolg und/oder dem eingesetzten Mittel ergeben. Was den Erfolg angeht, so ist das Räumen der Überholspur bei freier Strecke ein relativ geringfügiger Eingriff in die Willensbetätigungsfreiheit, ein empfindlicher Eingriff jedoch dann, wenn das Opfer in eine Lücke gezwängt und damit zu einem selbstgefährlichen Handeln gezwungen wird. — Vom Mittel aus betrachtet liegt

So auch Hansen, a. a. O. S. 158. Mit der geradezu kuriosen Konsequenz, daß man dem Täter nichts anhaben kann, wenn man nicht weiß, was er eigentlich bezweckte, so OLG Celle VRS 17, 349. Daß der BGH in solchen Fällen seine Zuflucht zur engen Relation genommen hat (vgl. BGHSt. 18, 389, 393), ändert nichts daran, daß man in anderen Fällen auf die weite Relation abstellt. 24

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in beiden Fällen ein erheblicher Druck und insoweit eine empfindliche Beeinträchtigung der Willensentscheidungsfreiheit vor. Es versteht sich, daß auch von der engen Relation aus noch zahlreiche Fragen offen bleiben, insbesondere wann der Umfang der Beeinträchtigung als erheblich anzusehen ist28. Es versteht sich aber auch, daß die enge Relation das bei allen Erörterungen im Vordergrund stehende Problem der Verwerflichkeit entscheidend entlastet. Zur Konkretisierung des Tatbestandes bzw. der Reditswidrigkeit 27 wird der Umfang der Rechtsgutsbeeinträchtigung herangezogen, ein relativ bestimmtes Kriterium. Konstruiert man § 240 dagegen über die weite Relation als Absichtsdelikt, ohne die Zwecke zu benennen, so läuft das auf den Offenbarungseid des Gesetzgebers hinaus: Einerseits knüpft § 240 I bei der Beeinträchtigung der Willensfreiheit durch Gewalt oder Drohung an keinen (und damit an jeden) Zweck an, den der Täter verfolgt. Andererseits besagt in dieser Interpretation Abs. 2, bestraft solle das Verhalten nur werden, wenn der Täter einen besonderen Zweck verfolge, ohne daß dieser überschiessende Zweck benannt würde. Damit kommt der Verwerflichkeit der Relation umfassende und zugleich kaum zu erfassende Bedeutung zu. 4.

Die Konfusion zwischen enger und weiter Zweck-Mittel-Relation wirkt in die Frage hinein, ob bezüglich des Nötigungserfolges Absicht oder Vorsatz gegeben sein müsse. Die h. M. 28 läßt dolus eventualis genügen, Schröder29 verlangt dagegen Absicht i. S. zielgerichteten Handelns unter Berufung auf § 240 II (Zweck!). Damit werden die beiden Zweck-Mittel-Relationen vermengt. Der Zweck gemäß § 240 II soll nach Schröder i. S. der weiten Relation zu verstehen sein. Es ist nidit ersichtlich, wie man diesen weiten Zweck vom engen Zweck der Beeinträchtigung des Opfers unterscheiden soll und wie man den Schluß vom einen auf den anderen Zweck zu verstehen hat. Auf welchen Zweck soll es z. B. beim eine Ausfahrt blockierenden Parken ankommen? Auf die subjektive Zielsetzung des Täters, z. B. pünktlich zu einer Verabredung zu kommen; kostenlos zu parken; den 2 ® So ist fraglich, ob man die weiteren Zwecke des Opfers beim Umfang seiner Beeinträchtigung berücksichtigen kann, z. B. daß das Opfer es eilig hatte, weil es zur schwerkranken Mutter wollte usw. Die Einbeziehung solcher Fernzwecke des Opfers setzt natürlich voraus, daß sie dem Täter bekannt sind. 27 Auf die Frage, auf welcher Ebene § 240 II die Verbotsmaterie festlegt, soll hier nicht eingegangen werden. 28 BGHSt. 5, 245, 246; Schäfer, LK § 240 Bern. 95. 29 Schönke-Schröder, § 240 Bern. 27.

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Anlieger zu blockieren? Soll nur im letzten Fall — der praktisdi kaum je vorliegen wird — § 240 I gegeben sein, die Verwerflichkeit i. S. des § 240 II aber von den weiteren Zwecken des Täters abhängen, z. B. seine dringende Verabredung wahrzunehmen, den Anlieger zu ärgern, dessen Trunkenheitsfahrt zu verhindern 30 ? Nimmt man hinzu, daß die gängige Gewaltdefinition (Kraftentfaltung zur Überwindung eines Widerstandes) die Vorsatzprobleme noch vermehrt, wird deutlich, daß man ohne Klarheit über die maßgebliche Zweck-Mittel-Relation nidit hoffen kann, in der Frage der Verwerflichkeit der Relation voranzukommen.

III. 1. Es bleibt die Frage nach der Relation und damit nach der Verwerflichkeit. Wie passen die üblichen Gruppierungen — von der Verwerflichkeit bei Rechtswidrigkeit des Mittels und des Zwecks bis hin zur Verwerflichkeit bei Rechtmäßigkeit des Mittels und des Zwecks — in das hier vorgeschlagene Schema der engen MittelZweck-Relation? Auch hier ist es nützlich, zunächst einen kurzen Blick auf die Mittel-Zweck-Relationen außerhalb der Nötigung zu werfen. Normalerweise steckt hinter der Zweck-Mittel-Relation das Güterabwägungsprinzip, so bei der einfachsten Spielart der ZweckMittel-Relation, dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs. Bei diesem gleichermaßen polizei- und strafrechtlichen Prinzip 31 geht es darum, unter einer begrenzten Anzahl von Zweck-Mittel-Relationen eine auszuwählen, wobei die geringstmögliche Rechtsgutsvernichtung ein einfaches Auswahlprinzip liefert. Daß der Zweck den Einsatz eines — eben des mildesten — der mehreren Mittel rechtfertigt, wird dabei unterstellt. Bezieht man die beim Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs ausgeklammerte Frage, ob der Zweck den Einsatz eines der mehreren Mittel rechtfertigt, mit in die Betrachtung ein, kommt man 30 Wenn man Absicht schon bejaht, wenn der tatbestandlidie Erfolg dem Täter als Mittel zu weiteren Zielen dient (Schönke-Schröder, § 59 Bern. 71), ist man mit der Lösung der einzelnen Fallvarianten nicht viel weiter. Ist z. B. die Blockade Mittel zum weiteren Ziel des kostenlosen Parkens (dann Absicht), oder ist die Blockade sichere und notwendige Nebenfolge des Umstandes, daß der Täter nirgends sonst kostenfrei parken konnte (dann keine Absicht, Schönke-Schröder, § 59 Bern. 52). Zum Absichtsbegriff vgl. Welzel, N J W 62, 62. 31 Zum Polizeiredit vgl. z. B. § 5 I PolG Bad.-Württ. — Im Strafrecht wird das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs über die Erforderlichkeit der Verteidigung bei der Notwehr durchgesetzt.

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zu dem wesentlich schwieriger zu handhabenden Proportionalitätsprinzip. Als Beispiel mag der polizeirechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 32 oder die Gebotenheit der Notwehr 33 dienen. Die bekannten Schwierigkeiten dieses Prinzips liegen darin, daß sich die Proportion nicht in einem quantitativen Vergleich des Zweckes (Rechtsgutserhaltung) mit dem Mittel (Rechtsgutsvernichtung) erschöpft. Trotzdem ist dieses Prinzip noch relativ einfach, weil jedenfalls der Zweck und oft auch die möglichen Mittel feststehen. 2.

Was § 240 angeht, so ist der Vergleich mit dem Proportionalitätsprinzip geeignet, die Unsicherheit zu verdeutlichen, die entstünde, wenn man die subjektive Zielrichtung des Täters als den Zweck ansehen wollte, den er mit dem Mittel der Beeinträchtigung der Willensfreiheit seines Opfers zu erreichen sucht. Da das Gesetz den Zweck nicht festlegt, bliebe der für die Relation wesentliche Bezugspunkt offen. Die Zahl der Ziele, die ein Mensch (an sich legitimerweise) verfolgen kann, geht ins Unendliche. Selbst wenn man auf das in concreto verfolgte Ziel abstellen wollte, wäre man nicht viel weiter, da man auch dann oft vor einer Vielzahl von Zwecken stehen würde. Beim Verhältnismäßigkeitsprinzip ist dagegen regelmäßig nicht nur das Mittel, sondern auch der Zweck vom Gesetz eingegrenzt. Selbst wenn z. B. die den Schußwaffengebrauch rechtfertigenden Zwecke durch das Polizeirecht nicht näher umschrieben würden, bestünde doch eine erhebliche Fixierung. Die Ziele, die ein Polizeibeamter in Ausübung seines Amtes (an sich legitimerweise) verfolgen darf, sind von vornherein begrenzt. Für die Verwerflichkeit wird ein viel präziserer Bezugspunkt gewonnen, bildet man die enge Zweck-Mittel-Relation. Bei ihr ist die Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Opfers der Zweck, den der Täter verfolgt. Vergleicht man diese Zweck-Mittel-Relation mit dem Proportionalitätsprinzip, so springt als Unterschied ins Auge: Bei der Relation Nötigungsmittel/Nötigungserfolg geht es nicht um eine Zweck-Mittel-Relation der Art, wie sie dem Proportionalitätsprinzip typischerweise zugrunde liegt, nämlich die Beziehung zwischen Rechtsgutsvernichtung und Rechtsgutserhaltung. Die enge Zweck-MittelRelation bei §240 ist im Unterschied zum Proportionalitätsprinzip 82

Z. B. §§ 5 II, 9 I PolG Bad.-Württ. Zur Frage der Harmonisierung des polizeireditlidien Proportionalitätsprinzips und des Maßstabes der Gebotenheit der Verteidigung vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. Göttingen 1973 S. 161. ss

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und im Unterschied audi zur weiten Mittel-Zweck-Relation bei § 240 nicht am Güterabwägungsgedanken orientiert. Es geht nicht um ein Gegeneinander verschiedener Rechtsgüter, sondern um die Erfassung des einen Rechtsguts der Willensfreiheit. Das Nötigungsmittel ist, wie oben II dargelegt, vom Nötigungserfolg nicht lösbar, sondern durch das Nötigungsmittel wird der Nötigungserfolg quantifizierbar. 3. In § 240 II steckt jedoch mehr als der Hinweis darauf, daß sich der Umfang der Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Opfers sowohl an dem abgenötigten konkreten Verhalten als auch an der Intensität des ausgeübten Druckes ablesen lasse. Es geht zugleich um die Lösung der für das Rechtsgut Willensfreiheit charakteristischen Verbindung von materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Elementen. Um es an einem viel erörterten Beispiel34 zu verdeutlichen: Der Täter hat einen fälligen Anspruch auf Übereignung eines Bildes. Da der Anspruchsgegner sich von dem Bild nicht trennen kann, nimmt es sich der Täter eines Tages mit Gewalt. — Vom Rechtsgut Eigentum aus gesehen, soll nach h. M.35 keine Rechtswidrigkeit vorliegen. Maßgebend soll sein, daß die hergestellte Lage dem materiellen Recht entspricht. Die im Verfahren liegende Fehlerhaftigkeit des Vorgehens wird im Rahmen des Rechtsguts Eigentum nach dieser h. M. nicht beachtet. — Betrachtet man denselben Sachverhalt vom Rechtsgut der Willensfreiheit aus, könnte man zum selben Ergebnis kommen. Der Täter hat einen (materiell-rechtlichen) Anspruch nicht nur auf das Eigentum, sondern auch auf die entsprechende Disposition. Damit wäre die Eigenmacht weder vom Rechtsgut Eigentum noch vom Rechtsgut Willensfreiheit aus gesehen rechtswidrig. Der Kurzschluß dieser Argumentation ist auf die Ignorierung des prozessualen Elements im Rechtsgut Willensfreiheit zurückzuführen. Zwar steht es dem Opfer nicht frei, ob es das Bild herausgeben will oder nicht, so daß die erzwungene Disposition in diesem Sinne auch keine Willensfreiheit verletzt. Dem Täter steht es seinerseits jedoch nicht frei, sich das Bild zu nehmen, sondern er ist auf ein bestimmtes Verfahren

S4 Solche Beispiele sind in der Gesetzgebungsgeschichte wiederholt erörtert worden, vgl. Hansen, S. 36 ff. Soweit man bei Zwang zu einem Verhalten, zu dem der Genötigte verpflichtet war, § 240 nicht eingreifen lassen wollte, liegt der im Beispiel behandelte „Kurzschluß" zugrunde, der durch die weite Relation gefördert wurde. 35 RGSt. 64, 210; BGHSt. 17, 87; Sckönke-Schröder, § 242 Bern. 57. — Zur Gegenmeinung s. u. Anm. 47.

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und auf bestimmte Druckmittel beschränkt. Im Beispiel folgt das zweifelsfrei aus §§ 229, 230, 858 ff. BGB. Wie die Notwehr durch die §§ 229, 230 BGB weitgehend im öffentlichen Interesse beschränkt wird, so enthält auch das Individualrechtsgut des § 240 einen massiven öffentlich-rechtlichen Einschlag. Wie über die Beschränkung des Notwehrrechts wird auch über § 240 StGB die Einhaltung des ordentlichen Verfahrens erzwungen.

Soweit ein Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten eines anderen

besteht, ist regelmäßig zugleich ein Verfahren für die Durchsetzung dieses Anspruchs vorgesehen. Dann ist der Gebrauch der Nötigungsmittel zur Beugung des Willens des Opfers regelmäßig unangemessen, „verwerflich". Dieses Prinzip steckt voller Einzelprobleme. So gilt insbesondere die wichtige Ausnahme, daß es dem Berechtigten freisteht, zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Verfahren hinzuweisen, d. h. mit der Einleitung dieses Verfahrens zu drohen. Das Prinzip macht jedoch deutlich, warum insbesondere im Straßenverkehr bei den meist wechselseitigen Beeinträchtigungen der Willensfreiheit nicht der aus § 240 bestraft wird, der „angefangen" hat. Die scheinbar paradoxe Situation, daß der aus § 240 bestraft wird, der sidi am Rande einer Notwehrlage befindet, läßt sich damit erklären, daß die Verwerflichkeit der Mittel-Zweck-Relation auf der eigenmächtigen Rechtsdurchsetzung und damit auf der Umgehung des besonderen Verfahrens beruht 36 .

Soweit kein Anspruch auf ein bestimmtes Verhalten eines anderen

besteht, darf man sich normalerweise um dieses Verhalten (oder um den Erwerb eines Anspruchs auf dieses Verhalten) bemühen. Eine rechtliche Regelung des Verfahrens fehlt meistens ganz oder ist, wie im Wirtschaftsleben, nur mehr oder weniger rudimentär ausgebildet. Der Sache nach geht es auch hier darum, daß die Willensfreiheit nur in einem nicht verrechtlichten, aber vorreditlichen, sozialadäquaten Prozeß beeinflußt werden darf. Gewalt und Drohung sind nur dann angemessene Mittel zur Willensbeeinflussung, wenn dieses Vorgehen in einem inneren Zusammenhang zum Erfolg steht. Auf die „Konnexität" hat Goldschmidt37 schon 1897 hingewiesen. 86 Deutlich wird dieser Schutz des richtigen Verfahrens und das Verbot der Eigenmacht in Straßenverkehrsfällen wie BayObLG, NJW 70, 1803; BGHSt. 18, 389. Zu dem Zusammenhang zwischen Beschränkung des Selbsthilfe- und Notwehrrechts und Nötigung Baumann, NJW 61, 1745. — Roxin, a. a. O. S. 193 f. stellt die Prinzipien „des Vorranges staatlicher Zwangsmittel'' und „des mangelnden Zusammenhangs" nebeneinander. Das erste ist jedoch nur ein Anwendungsfall des zweiten. 87 Goldschmidt, Die Strafbarkeit der widerrechtlichen Nötigung nach dem RStGB, StrAbh. Bd. 6 (1897) S. 23.

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Er zitiert in diesem Zusammenhang Geyer38, bei dem das prozedurale Element in § 240 deutlich hervortritt. Roxin39 spricht vom Prinzip des (mangelnden) Zusammenhangs. Die Erwägung, daß es um bestimmte Formen der Beeinträchtigung der Willensfreiheit geht, erklärt, daß es nicht so sehr auf die Intensität der Beeinflussung als auf den Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck ankommt. Der Geschlechtsverkehr mag durch die Drohung, sonst das Verlöbnis aufzulösen, erzwungen werden — nicht durch die an sich weniger gravierende Drohung mit Entlassung aus einem Dienstverhältnis. Allerdings genügt die Unangemessenheit des verfahrensmäßigen Vorgehens für sich allein nicht zur Begründung der Verwerflichkeit. Audi wo der Täter gegen das Prinzip des Zusammenhangs verstößt, bleibt noch zu prüfen, ob die Willensbeeinträchtigung gravierend ist. Dabei ist die Selbstverantwortung des Rechtsgutsinhabers für seine Rechtsgüter mit zu berücksichtigen40. Wo vom Opfer ein schwerwiegendes Verhalten mit relativ leichtem Druck verlangt wird, kann es sein, daß die Relation zwischen dem abgenötigten Verhalten und dem ausgeübten Druck ergibt, daß es das Opfer und nicht der Täter zu verantworten hat, wenn es nicht widersteht. Die Empfindlichkeit der Drohung ist nicht abstrakt, sondern in bezug auf das abgenötigte Verhalten zu bestimmen, oben II. Das dürfte der berechtigte Kern der Fälle sein, in denen man trotz fehlenden Zusammenhangs Nötigung ablehnt. Was Roxin41 als Autonomieprinzip bezeichnet, stellt den Versuch dar, Ausnahmen vom Zusammenhangsprinzip zu kategorisieren. Solche Ausnahmen dürften jedoch nicht auf die Autonomie des Täters, sondern auf die Selbstverantwortung des Opfers zurückzuführen sein42. 38

Geyer, in Holtzendorff's Handbuch des deutschen Strafredits, Bd. III Berlin 1874, S. 574, Nötigung als Erzwingung eines Verhaltens, „welches in dieser Weise herbeizuführen der Nötiger nicht berechtigt ist". 38 Roxin, a. a. O. S. 194; BGHSt. 2, 194, 196 spricht von der „Verquickung" von Mittel und Zweck. Formulierung des Prinzips in § 116 II AE. 40 Dazu Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1971 S. 33 f. Dieses Prinzip ist auch sonst bei der Tatbestandsbegrenzung zu verwerten. So geht es bei § 239 zu weit, wenn Freiheitsberaubung vorliegen soll, weil das Opfer einen „ungewöhnlichen" Ausweg nicht nutzt, vgl. zur h. M. Schönke-Schröder, § 239 Bern. 5. Welzel, LB § 43 II 1 b stellt dagegen — enger — auf Gefährlichkeit oder Unzumutbarkeit des Auswegs ab. 41 Roxin, a. a. O. S. 194. 42 Besonders plastisch bei dem (für das Autonomieprinzip) zu § 116 II Nr. 3 AE angeführten Beispiel, daß der Arbeitgeber eine Frau nur einstellen will, wenn sie sidi ihm hingebe, AE Begr. zu § 116, S. 65. Soweit die Notlage des Opfers leicht wiegt, hat das Opfer ein etwaiges Nachgeben selbst zu verantworten. Mit dem Selbstverantwortungs- und Autonomieprinzip kommt man zur Ablehnung der Nötigung. Bei gravierenden Notlagen kommt nach dem Selbstverantwortungsprinzip

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Soweit es um ein Verhalten geht, das — weil verboten — niemand vom Opfer verlangen darf, gilt bezüglich des Einsatzes von Gewalt oder Drohung ebenfalls das Zusammenhangsprinzip. Dabei werden die Fälle selten sein, in denen die Beeinflussung des Opfers in Richtung auf ein rechtswidriges Verhalten in den Rahmen eines sozialadäquaten Willensbildungsprozesses fällt. Denkbar und praktisch nicht selten ist das jedoch insbesondere beim Pochen auf enge familiäre Bindungen oder auf Bindungen unter Ganoven. Hier kann es so sein, daß der Täter erwarten darf, daß die Solidarität nicht exakt dort aufhört, wo die Legalität endet 43 . Dann steht die Drohung, z. B. das Verhältnis zum Opfer zu lösen, nicht außer Zusammenhang zu einem dem Opfer angesonnenen strafbaren Verhalten. Der Mann, der den glücklich gewilderten Hasen heimbringt und seine Frau zum Braten und Mitverzehren mit der Drohung veranlaßt, sonst seien sie geschiedene Leute, sollte nicht aus § 240 bestraft werden 44 . 4. Es versteht sich, daß diese hier nur dem Typus nach entwickelten Anwendungsfälle der Zweck-Mittel-Relation Einzelfragen offenlassen. Zahlreiche weitere Probleme im Bereich des Tatbestandes oder der Rechtswidrigkeit der Nötigung lassen sich überhaupt nicht in die vorstehend beschriebenen Fallkonstellationen einordnen. So ist beispielsweise die Reditswidrigkeit der mit Demonstrationen verbundenen Nötigungen deshalb umstritten, weil der Täter einen besonderen außertatbestandsmäßigen Zweck, eben den der Demonstration, anstrebt. Dieses Reditswidrigkeitsproblem läßt sich mit der engen, innertatbestandlichen Mittel-Zweck-Relation, wie sie hier als für die Nötigung charakteristisch angesehen wird, nicht erfassen. Die Erkenntnis, daß es sich um ein strukturell von § 240 II zu unterscheidendes Problem handelt, ist nützlich. Sie zwingt zur Suche nach einem spezifischen Rechtfertigungsgrund. Zugleich wird deutlich, daß die mögliche Rechtfertigung kraft Demonstrationsrechts kein Nötigungsproblem darstellt, sondern bei anderen Rechtsgütern genau so auftritt. Warum sollte die Frage, ob die Willensfreiheit im Hinblick Nötigung in Betracht, nadi dem Autonomieprinzip wäre dagegen Nötigung abzulehnen. 4S A. A. Roxin, a. a. O. S. 193 („Reditswidrigkeitsprinzip"). Zum Vorrang des Bagatellprinzips auch gegenüber dem Reditswidrigkeitsprinzip Reents, a. a. O. S. 54. Um solche Bagatellen geht es jedoch hier nicht. 44 Roxin, a. a. O. S. 194 könnte über das Autonomieprinzip im Beispielsfall zum selben Ergebnis kommen. Freilich bleibt das Verhältnis zwischen Reditswidrigkeitsprinzip und Autonomieprinzip unklar, vgl. auch Hansen, a. a. O. S. 126 ff.

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auf das Demonstrationsrecht restriktiv zu interpretieren ist, nach anderen Regeln zu entscheiden sein als die Frage, ob das Demonstrationsrecht Eingriffe in den Hausfrieden oder das Sacheigentum recht-

fertigt? Wenn man dagegen die weite Zweck-Mittel-Relation

bildet,

schreibt, Rechtfertigungsgründe

Aber

handelt man nur konsequent, wenn m a n § 2 4 0 II die Eigenschaft zu-

gewissermaßen

aufzusaugen45.

das ist eine Flucht nach vorn, denn auf diese Weise bringt man § 2 4 0 I I um seine Kontur und nimmt ihm zugleich seine besondere Funktion, die Schwierigkeiten zu lösen, die bei der Umschreibung der Verbotsmaterie speziell des § 2 4 0 auftreten. Die Neigung, § 2 4 0 II in eine allgemeine Güterabwägungsklausel aufzulösen, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß der geschlossene Katalog der Rechtfertigungsgründe mehr und mehr als beengend empfunden wird. So läßt sich bei vielen Tatbeständen das Bestreben nachweisen, eine Einschränkung im Tatbestands- oder Rechtswidrigkeitsbereich mit Hilfe einer allgemeinen Güter- und Interessenabwägung zu erreichen 4 6 . Das Verhältnis dieser allgemeinen, in den Konturen wenig präzisen und nicht als Ausnahme-, sondern als Regelprinzip verstandenen Interessenabwägung zur Interessenabwägung als Ausnahmeprinzip in F o r m des rechtfertigenden Notstandes ist außerordentlich unklar. Dieses allgemeine Problem wird jedoch bei § 2 4 0 nicht gelöst, sondern nur verdeckt, wenn man mit allen Rechtfertigungsgründen auch eine solche allgemeine Interessenabwägung in den § 2 4 0 II einbringt. Die besondere Bedeutung der engen Zweck-Mittel-Relation des § 2 4 0 I I liegt — wie dargelegt — nicht im Bereich der Güterabwägung, sondern im Versuch, mit einem Rechtsgut sowohl materiellen als auch formellen Schutz zu gewähren: Schutz der Verfügungsfreiheit und — w o sie wegen einer Verpflichtung, zu disponieren, „an sich" nicht besteht — zugleich Schutz v o r der A r t und Weise, wie ein Anspruch auf eine Disposition durchgesetzt wird. Das besondere Interesse an einem so konstruierten Tatbestand ist leicht erklärlich. Denn auch bei anderen Rechtsgütern, bei denen der formelle und materielle Aspekt klarer getrennt ist, bereitet die Relation der beiden Gesichtspunkte zueinander Schwierigkeiten. Das gilt für die Eigentumswie für die Vermögensdelikte 4 7 und, wie sich bei der Einwilligungs4 5 So z.B. Maurach, Strafrecht BT 5. Aufl. 1969 § 14 II vor A, speziell zur Notwehr Baumann, MDR 65, 346. — Zu diesen Fragen eingehend Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen 1960 S. 291 ff. und in ZStW 74, 78, 118. — Zu Reditfertigungsgründen als „Typen nicht gegebener Verwerflichkeit" Hansen, a. a. O. S. 190. 4« Vgl. Arzt, Intimsphäre S. 83 ff., S. 304 ff. 4 7 Die beim Eigentum vorgenommene Trennung von materiellem Anspruch und verfahrensmäßiger Durchsetzung (oben Anm. 35) ist streitig, dagegen Welzel, LB

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Problematik zeigt, letztlich für alle disponiblen Rechtsgüter. Bei § 240 sieht man sich nur besonders deutlich auf die Frage zurückgeworfen, wieweit sich Mittel und Zweck trennen lassen. Es gehört zu den Elementarvorstellungen, im Verfahren das Mittel zu sehen, mit dem der Zweck verfolgt wird, das materielle Recht durchzusetzen48. Am Strafrecht zeigt sich, wie fragwürdig schon diese elementare Mittel-ZweckBeziehung zwischen dem Prozeßrecht und dem materiellen Recht ist. So ist zweifelhaft, wieweit es eine andere als die in einem ordentlichen Verfahren festgestellte Schuld oder Unschuld überhaupt gibt, wieweit der staatliche Strafanspruch von vornherein und untrennbar unter dem Vorbehalt des korrekten Prozesses steht49. Ein Tatbestand wie § 240, der Nötigungsmittel und Nötigungszweck trennt, und dann doch in einem Rechtsgut vereinigt, verdient auch wegen dieser allgemeinen Fragen besonderes Interesse.

§ 47, 3; Hirsch, JZ 63, 149 ff. — Beim Vermögen werden zwar durdi wirtschaftliche Betrachtung materielle und prozessuale Aspekte bis zu einem gewissen Punkt verschmolzen, etwa wenn ein Schaden wegen des Prozeßrisikos bejaht wird, h. M. — Andererseits soll derjenige, der einen Anspruch hat und ihn durch Täuschung (z. B. durch gefälschte Beweismittel) durchsetzt, dem Gegner keinen Schaden zufügen, ebenfalls h. M. Hier wird plötzlich materielles Recht und Verfahren wieder auseinanderdividiert. 48 Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973 S. 108 f. 4 » Vgl. Schönke-Schröder, §239 Bern. 10; RG, HRR 1938 Nr. 1568; BGHSt. 3, 4; siehe ferner BGHSt. 14, 358, 365.

Versicherungsmißbrauch (§ 265 StGB) FRIEDRICH GEERDS,

Frankfurt a.

M.*

Der Versicherungsmißbrauch ist zwar kein ganz junger, aber nach wie vor dunkler Deliktstyp, obwohl nicht nur seine kriminalpolitische Bedeutung erheblich ist, sondern er auch über den konkreten Gegenstand hinaus Zusammenhänge und Probleme der Strafrechtswissenschaft treffend zu beleuchten vermag. Es soll daher hier, was audi der Rahmen verbietet, nicht um Einzelfragen der geltenden oder einer zukünftigen Regelung, sondern nur um das Grundsätzliche, das für den Deliktstyp Charakteristische gehen. Was wir unter Versicherungsmißbrauch verstehen, ist heute nur ganz fragmentarisch durch § 265 StGB unter Strafe gestellt, weshalb man gegenwärtig bei derartigen Verhaltensweisen auf § 263 StGB zurückgreifen muß, obwohl dem Betrugstatbestand, da er sich auf ein Individualdelikt bezieht, in Wahrheit lediglich eine ergänzende Funktion zukommen kann 1 . Dennoch gehen auch heute manche bei § 265 StGB nur von einem besonderen, im Hinblick auf die strengere Strafdrohung qualifizierten Fall des Betruges aus2. Wie andere spricht dagegen auch der Jubilar, dessen Verdienste um den Besonderen Teil des Strafrechts vielleicht wegen seines Engagements für die allgemeinen Lehren nur zu leicht übersehen werden, von einem „betrugsähnlichen'' Straftatbestand 3 . Diese Distanzierung vom Betrug als einem individuellen Vermögensdelikt ist zwar richtig, läßt aber letztlich die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Deliktstypen offen. Am deutlichsten wird dieses noch von jenen erfaßt, die im Gegensatz zu dem durdi § 263 StGB geschützten Individualvermögen bei § 265 StGB vom Sozialvermögen sprechen4. Ist aber das durch diese * U m den wissenschaftlichen Apparat knapp und übersichtlich zu gestalten, werden bei mehrfach zitierten Arbeiten Abkürzungen verwendet. Das Literatur- und Abkürzungsverzeichnis findet sich am Ende dieses Beitrags. 1 Kritisch zur ganzen Regelung Kohlhaas VersichR 1961-1; vgl. schon Briel, 31 ff., Kastner, 47. 1 Sdiönke/Schröder, § 265-1, R N r . 1, Maurad}, BT 333; so in früherer Zeit schon Heintzmann, 24 f. — Kohlrausch ¡Lange, § 265-1 betonen jedoch die Gemeingefährlichkeit der „Vorbereitungshandlung". Dagegen aber bereits Briel, 34. ' W eitel, 378, 379; ähnlich Mezger/Blei, I I 202, Lackner/Maassen, §265-1, Jagusch, LK § 265-1, Kohlhaas, VersichR 1965-5. Aus früherer Zeit vgl. Briel, 3, 34, Kastner, 16 ff., Oberhansberg, 12 ff., Rein, 18 f., Matschewsky, 25 ff. 4 So vor allem Schad, 107 f.; Dreher, § 265-1 stellte beim „Sonderdelikt* jedenfalls auf das Interesse der Allgemeinheit an den geschützten Versilberungen ab, ebenso BGHSt. 11, 398 ff.

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Vorschrift unter Strafe gestellte Verhalten ein Sozialdelikt, wären nicht nur der heutige systematische Standort und möglicherweise die daran anknüpfende Regelung verfehlt, sondern erhebt sich zugleich die Frage, welcher Gruppe von Sozialdelikten der Versicherungsmißbrauch zugerechnet und wie er seinem Wesen nach am besten geregelt werden sollte.

I. Die geltende Regelung Um die gegenwärtige Lage zu beleuchten, ist kurz die geltende Regelung zu schildern, wobei wir aber nicht auf Einzelheiten eingehen können, sondern uns — wie gesagt — auf das Grundsätzliche und neuralgische Punkte beschränken werden. 1. Zum Anwendungsbereich und zu neuralgischen des J 265 StGB

Punkten

Obwohl der Deliktstyp des Versicherungsmißbrauchs etwa zu derselben Zeit wie der des Betruges verselbständigt wurde 5 , ist er — wie der systematische Standort im Gesetz zeigt — doch alsbald in den Sog des Betrugstatbestands gekommen. Dem Betrug 6 widmete man im 18. und 19. Jahrhundert bei wachsendem Interesse für den Schutz individueller Rechtsgüter gerade auch vermögensrechtlicher Art, was sich noch in jüngster Vergangenheit und Gegenwart im Bestreben extensiver Interpretation auswirkt, ungleich mehr Aufmerksamkeit als vielen Delikten gegen die Allgemeinheit. Bei diesen gilt das, da die Dinge wegen der damaligen staatlichen und politischen Verhältnisse für Straftaten gegen den Staat und seine Organe naturgemäß anders lagen, besonders für diejenigen Normen, die sich auf das Gemeinschaftsleben als solches beziehen. Da wir auf die geschichtlichen Zusammenhänge noch einmal zurückkommen werden, sei hier nur festgehalten, daß man die soziale Komponente des hier zu behandelnden Deliktstyps aus den Augen verlor und sich angesichts der dort ähnlichen Praktiken mehr als gut am Betrug orientierte. Die in jener Zeit bestehende Lage, die entscheidend durch die Frühphase des Versicherungswesens gekennzeichnet wird, hat wegen der infolgedessen und aus technischen Gründen nur begrenzt möglichen einschlägigen Praktiken auch für den Anwens Zur reditsgesdiiditlidien Entwicklung mit weiteren Nachweisen Schad, 15 ff.; vgl. auch Anm. 53. 8 Zur Entwicklung des Betrugstatbestands eingehend Naucke, 62 ff.

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dungsbereich des heutigen § 265 StGB fatale Konsequenzen gehabt. Man hat sich den zu jener Zeit begrenzten Bedürfnissen folgend letztlich auf zwei Formen als sozial besonders gefährlich erachtete Handlungen und damit auf den Schutz von Feuer- und Seeschadenversicherung beschränkt7. Diese Auswahl versicherter Objekte und damals üblicher Begehungsweisen8 mutet überaus willkürlich an, wenn man sich einmal die gegenwärtigen Funktionen des Versicherungswesens an Hand seiner vielfältigen Sparten und die damit ermöglichten illegalen Praktiken vor Augen führt. Eine Konsequenz der Anlehnung an den Betrugstatbestand ist auch das Erfordernis einer „betrügerischen Absicht", die sowohl dem Wissenschaftler als auch dem Praktiker mancherlei Kopfzerbrechen bereitet 9 , wobei noch ganz von der schon allgemein umstrittenen Konstruktion der Erfolgsabsicht abgesehen werden soll10. Audi bei Anwendung der Vorschriften über Täterschaft und Teilnahme ergeben sich merkwürdige Probleme11, weil man zu anderen Ergebnissen kommt, wenn man auf die Tatausführung als solche abstellt, als wenn man auf das Verhältnis der Beteiligten zu der Versicherung Gewicht legt; dann setzt Täterschaft voraus, daß der Versicherungsnehmer an der Tat als Ausführender oder zumindest als Mitwisser beteiligt ist. 2. Zur ergänzenden Funktion des § 263 StGB Ist mithin der Anwendungsbereich des § 265 StGB außerordentlich begrenzt und im übrigen unsicher, kann bei dem verzweigten und sozial sehr bedeutsamen Versicherungswesen unserer Zeit nicht überraschen, daß man in Fällen ungerechtfertigter Inanspruchnahme von Versicherungen heute auf § 263 StGB zurückgreift, um das grob unsoziale Verhalten jedenfalls noch unter dem hier dominierenden Aspekt des Individualvermögensschutzes zu erfassen12. Kommt man somit auch in der Praxis mit Hilfe dieser Strafvorschrift in vielen der7 Im einzelnen dazu mit weiteren Nachweisen SchöttkejSchröder, § 265-11, RNr. 2—5, Dreher, § 265-2, Jagusch, LK § 265-2 und Scbad, 75 ff. 8 Hierzu mit weiteren Hinweisen Scbad, 72 ff., Jaguscb, LK § 265-3 und SdiönkelSchröder, § 265-III, RNr. 6—9. 9 Vgl. hier die Darstellung und die Hinweise bei Schönke/Schröder, § 265-V-2, RNr. 12—14 und Dreher, § 265-1-B, Mezger/Blei, II 203, Welzel, 379; vgl. auch Mauradi, BT 333, Jagusch, LK § 265-5-b, Lackner/Maassen, § 265-5 und aus der Rspr. BGHSt. 1-209 ff., 6-252 ff. (257 f.). 10 Dazu mit weiteren Nadiweisen Scbad, 82 ff. 11 Siehe z. B. Maurach, BT 333, Kohlrausch/Lange, § 265-11 und Schad, 84. 12 Zu den vielfältigen Einzelfragen, die bei den hier interessierenden Fällen auftaudien, mit weiteren Nadiweisen Schad, 90 ff.

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artigen Fällen zum gewünschten Ergebnis der Bestrafung, so ist dies doch aus mancherlei Gründen unbefriedigend. Die meisten und besonders gefährliche Praktiken des Versicherungsmißbraudis liegen, wie schon die Begehungsweisen des § 265 StGB zeigen, im Vorfeld oder Versuchsstadium des Betruges. Die damit verbundenen Abgrenzungsschwierigkeiten können auch nicht überzeugend dadurch wettgemacht werden, daß man bei Vermögensverfügung und vor allem beim Begriff des Vermögenssdiadens scheinbar aktuell einer dem Strafrecht unangemessenen extensiven Interpretation das Wort redet, indem man etwa für den vorausgesetzten Schaden die sublimste Gefährdung ausreichen läßt 1 3 , was übrigens bewirkt, daß man u. U. Versuchsfälle zur vollendeten Tat emporstilisiert. Das Vorsatzerfordernis des Betruges ist hier zwar theoretisch weniger problematisch, weil auch der Versicherungsmißbrauch vorsätzliches Handeln erfordert. Doch ist in der Praxis der Nachweis des Betrugsvorsatzes oft schon deshalb problematisch, weil Machenschaften des Versicherungsmißbrauchs u. U. weit vor dem Zeitpunkt des Herantretens an die betreffende Versicherung liegen. Diese wenigen Hinweise müssen hier genügen, um darzutun, warum § 263 StGB hier nur eine Notlösung — um nicht zu sagen: eine brüchige Krücke — bieten kann. Das Verfehlte dieses Wegs, worauf beim Unrechtsgehalt genauer einzugehen sein wird, zeigt sich übrigens auch bei der Strafzumessung. Wenn es beim Betrug um den Schutz des Individualvermögens geht, sollte zumindest zweifelhaft sein, ob man die für den Versicherungsmißbrauch ausschlaggebenden sozialen Gesichtspunkte in dem Maße als lediglich strafschärfend berücksichtigen darf, wie das der Strafrahmen des § 265 StGB jedenfalls für die dort behandelten Praktiken dieser Art nahelegt 14 . 3.

Reformvorschläge

Aufschlußreich sind auch an § 265 StGB anknüpfende Reformbestrebungen 15 . Während der Vorentwurf 1909 und der Gegenentwurf 1911 keinen entsprechenden Straftatbestand vorsahen, weil man die allgemeine Betrugsvorschrift für ausrechend hielt, haben der Kommissionsentwurf 1913 und der Entwurf 1919 eine in etwa dem geltenden § 265 StGB entsprechende Regelung, bezeichnenderweise aber in Nachweise dafür bei Schad, 95 f. und allgemein Naitcke, 101 ff. Kritisch bereits Geerds, 213 und Schad, 106 f. 1 5 Vgl. hierzu die Nachweise bei Schad, 19 ff. sowie ferner Suchan, 80 ff. und schon frühere Dissertationen wie z. B. Rein, 44 ff. und Matschewsky, 8 ff. 15

14

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den Absdinitt „Gemeingefährliche Handlungen, Störungen des öffentlichen Verkehrs", aufgenommen. Aber schon der Entwurf 1925 und ihm folgend die Entwürfe 1927 und 1930 schlugen — wohl an den von Gustav Radbruch verfaßten Entwurf 1922 (§ 303) anknüpfend — diesen Straftatbestand wieder dem Abschnitt „Betrug und Untreue" zu. Daran haben die Entwürfe der 30er Jahre, obwohl sie erstmals den Anwendungsbereich erweiterten, nichts geändert. Zumindest auf dieser Linie liegen auch die letzten Reformvorschläge der Entwürfe 1960 und 1962. Wichtiger als der Umstand, daß gewisse einschlägige Praktiken beim schweren Betrug (§253 E 1962) ausdrücklich als Beispiel f ü r eine Strafschärfung erwähnt werden, ist jedoch § 256 E 1962, der — obwohl im Zusammenhang mit dem Betrug — ausdrücklich von „Versicherungsmißbrauch" spricht 16 , dessen Anwendungsbereich allgemeiner umschreibt und beträchtlich erweitert. Auch wenn in der Kriminalisierung damit erstmalig drastische Konsequenzen gezogen werden, bleibt so doch das Verhältnis des Versicherungsmißbrauchs zum Betrug unklar.

II. Zur kriminalpolitischen Situation Den Schlüssel zu einer strafrechtswissenschaftlidi überzeugenden Konzeption des Versicherungsmißbrauchs bietet u. E. die nunmehr zu behandelnde kriminalpolitisdie Situation. Hierbei müssen wir uns in diesem Rahmen auf drei Fragenkreise beschränken, die besonders aufschlußreich sind, um im übrigen auf die insoweit von Kriminologen und Kriminalisten bereits erarbeiteten, sicher noch zu vertiefenden Erkenntnisse zu verweisen, an denen die Strafrechtler leider immer noch zu häufig achtlos vorbeigehen. 1. Geschichtliches Außerordentlich aufschlußreich für die heutige Funktion des Versicherungsmißbraudis als eines Deliktstyps ist u. E. — wie schon angedeutet — die geschichtliche Entwicklung 17 . Sie läßt besonders deutlich erkennen, welche Rolle dem Versicherungswesen nach seinem ungewöhnlichen Aufschwung gerade im 19. und 20. Jahrhundert für die heutige Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur zukommt. Neben die 14 Zur „Begründung" siehe Deutscher Bundestag Drucksache IV/650, S. 427 f. sowie die Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafreditskommission, 8. Bd. Bes. Teil (76.—90. Sitzung), Bonn 1959, S. 57 ff. 17 Ausführlich hierzu mit zahlreichen Nachweisen Schad, 11 ff.; vgl. auch Rein,

9 ff. und Matscbewsky, 2 f.

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relativ früh entwickelte Feuerversicherung, die vor Verarmung durch Brandschaden schützen soll, und die Seeschadenversicherung sind zahlreiche andere und heute wohl noch bedeutsamere Versicherungssparten getreten, wenn man beispielsweise an Lebens-, Unfall-, Haftpflichtversicherung oder an Hausratsversicherung und die weit über den Seeschaden hinaus entwickelte Transportversicherung denkt. Das Versicherungswesen ist so gesehen nicht nur ein Spiegelbild der Fortschritte von Technik und Verkehr, sondern ein wesentliches Element unserer Gesellschaft. Auch wenn verständlich ist, daß sich historische Gesetzgeber ebenso wie das noch geltende Strafgesetzbuch an den zur damaligen Zeit wesentlichen Versicherungssparten und den ihnen abträglichen Praktiken orientiert haben, darf man die heute doch viel größeren Zusammenhänge nicht mehr verkennen. 2. Entwicklung und Ausmaß derartiger

Verhaltensweisen

Über die Entwicklung und das gegenwärtige Ausmaß derartiger Verhaltensweisen kann man nur ungenaue Angaben machen, weil die gesetzliche Regelung statistische Methoden, die sich hier ja auf strafrechtliche Kriterien stützen, kaum greifen läßt 18 . So erklärt sich aus dem kleinen Anwendungsbereich, daß die Zahl der Verurteilungen nach §265 StGB verhältnismäßig gering ist; sie kommt im Reichs-bzw. Bundesgebiet kaum jemals über 100 im Jahr hinaus, liegt oft zwischen 20 und 40 19 . Zahlreicher sind auf Grund der oben geschilderten Situation diejenigen Fälle des Versicherungsmißbrauchs, die heute nach § 263 StGB als Betrug geahndet werden. Obwohl auch hier nach den bisherigen Untersuchungen exakte Angaben schwierig sind, kommt man, wenn man von einem vorsichtig auf 5—10 % geschätzten Anteil ausgeht, bei 26 451 Verurteilungen im Jahre 1970 auf weitere rund 1300—2600 tatsächlich geahndete Fälle des Versicherungsmißbrauchs. Will man jedoch das Ausmaß des Versicherungsmißbraudis real einschätzen, muß man die hier besonders erheblichen Unsicherheitsfaktoren berücksichtigen. Schätzt man beispielsweise die Dunkelziffer beim Betrug auf 1 : 10 und bei der zumindest teilweise einschlägigen vorsätzlichen Brandstiftung auf 1 : 8, müssen die statistisch nicht erfaßten Fälle des Versicherungsmißbrauchs ungleich höher liegen. Denn sowohl die unglückliche gesetzliche Regelung als auch die schon davon 18 Zu diesen Schwierigkeiten und zum Ganzen genauer Schad, 22 ff., zu einzelnen Versicherungszweigen Farny, 34 ff., 65, 83 f., 103; vgl. auch Suchan, 78 f. und

Heintzmann, 15 f. 19

Die amtliche Kriminalstatistik weist für 1970 insgesamt 36 nach § 265 StGB Verurteilte aus.

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ungünstig beeinflußte Praxis bewirken, daß viele derartige Taten im Dunkel bleiben, weil m a n entweder überhaupt nicht auf den Gedanken krimineller Machenschaften kommt oder es doch wegen der hier vielfach technisch bedingten Beweisschwierigkeiten an f ü r ein Strafverfahren hinreichenden H a n d h a b e n fehlt. Auf die so oder so verurteilten Täter bezogen d ü r f t e die Zahl der den Strafverfolgungsbehörden unbekannt gebliebenen Fälle des Versicherungsmißbrauchs mit 1 : 30 20 eher noch zu tief angesetzt sein. Diese Einschätzung läßt sich auch durch andere Tatsachen untermauern, die zugleich beweisen, in welchem U m f a n g e Praktiken des Versicherungsmißbrauchs im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert hierzulande zugenommen haben müssen. Nach einer durch Schadensfälle und H ö h e der Entschädigung zu verifizierenden Schätzung der Kraftfahrzeugversicherer der Bundesrepublik 2 1 entfiel 1970 von einer kriminell bedingten Schadenssumme, die in dieser Branche über 400 Millionen D M betrug, mehr als die H ä l f t e — nämlich etwa 230 Millionen D M — auf manipulierte Reparaturleistungen, wobei m a n d a f ü r lediglich einen Anteil von 10 °/o geschätzt hat. Diese wenigen Beispiele demonstrieren nicht n u r die gewaltige Bedeutung dieser Formen kriminellen Verhaltens, sondern tun zugleich dar, wie wichtig hier die wirtschaftliche Betrachtungsweise ist. Denn v o n abnormen Wettbewerbssituationen abgesehen, geht der Versidierungsmißbraudi letztlidi nicht zu Lasten des Vermögens der im konkreten Falle geschädigten Versicherung, sondern diese wälzt ihn durch Prämienerhöhung und dergleichen auf alle ihre Versicherungsnehmer ab 22 . 3.

Kriminalphänomenologisches

Aufschlußreich f ü r die kriminalpolitische Situation erscheint schließlich ein Blick auf die allerdings noch zu vertiefenden Erkenntnisse der Kriminalphänomenologie, die typisierend kriminelles Verhalten erfassen und so die Lebenswirklichkeit überschaubar zu machen sucht 23 . Betrachten w i r zunächst einmal alle Fälle des Versicherungsmißbraudis zusammenfassend, so ist klar, daß vordergründig als O p f e r ein Versicherungsunternehmen fungiert. Die damit verbundene An20

So im Minimum Schad, 32. Vgl. Alois Deidl „Die volkswirtschaftlidie Bedeutung der Massenkriminalität aus der Sicht der Versicherer", in: Zum Phänomen der Massenkriminalität und zu den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung hrsg. v. Polizei-Institut Hiltrup, 1972, S. 145 f. 22 Darauf hat bereits Heintzmann, 24 hingewiesen; ebenso Weichbrodt, 9. 23 Zum Folgenden vgl. allgemein Geerds, Kriminalistik 1968-303 f. und insb. Schad, 33 ff. 21

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onymität begünstigt die Einschätzung derartiger Taten wie überhaupt bei sogenannten White-Collar-Crimes als Kavaliersdelikte 24 . Insbesondere derjenige, der Beiträge entrichtet hat, kann sich selbst dann zu einer Gegenleistung der Versicherung f ü r berechtigt halten, wenn diese illegal erstrebt wird. Typischer Täter ist selbstverständlich der Versicherungsnehmer, was aber keineswegs bedeutet, daß nicht auch Dritte, häufig ihm persönlich verbundene Menschen, Interesse an der Zahlung haben, insb. wenn sie sich davon Vorteile für sich versprechen. Auch für den Strafrechtswissenschaftler wichtig ist die Ausführungsart, die allerdings nidit ohne weiteres mit strafrechtlichen Begehungsweisen identisch ist, obwohl sie gerade hier für die Reichweite einer Strafvorschrift aufschlußreich sein dürfte. Streng genommen gelangt man hier bereits in den Bereich der Kriminalistik, die in der Verbrechenstechnik — es sei an das modus-operandi-System erinnert — die technischen Ausführungsmöglichkeiten typisierend zu erfassen sucht, um daran anknüpfend die Mittel der Kriminaltechnik, etwa Sachverständige, wirksam einzusetzen und überhaupt bei der Verbrechensaufklärung kriminaltaktisch zweckmäßig vorzugehen. Wertet man als das für den Versicherungsmißbrauch typische Tatmittel die verschiedenen Arten der trickhaften Manipulation, mit denen Unberechtigte Versicherungsleistungen zu erlangen suchen, lassen sich zumindest vier auch f ü r den Strafrechtler interessante Ausführungsarten unterscheiden 25 . Bei der betrügerischen Vertragsgestaltung handelt der Täter bereits im Augenblick des Vertragsabschlusses arglistig, indem er z. B. über den Wert der versicherten Sache oder über besondere Gefahren bzw. darüber täuscht, daß ein Schaden schon eingetreten ist. Vom Vortäuschen eines Versicherungsfalles spricht man bei Praktiken, die bei einem tatsächlich eingetretenen Schadensfall darauf hinauslaufen, diesen als Versicherungsfall erscheinen zu lassen; es wird beispielsweise ein einfacher, nicht zu Versicherungsleistungen berechtigter Diebstahl zum schweren Diebstahl „frisiert". Nodi weiter geht der Täter beim arglistigen Herbeiführen eines Schadensereignisses zur Vortäuschung eines Versicherungsfalles. Nur diese Ausführungsart ist in § 265 StGB für einzelne Versicherungszweige erfaßt. Doch geht es nicht nur um seit langem bekannte Taten zum Nachteil von Feuerversicherungen, sondern gibt es Derartiges auch bei Einbruch-, Unfall-, Invaliden- und sogar Lebensversicherung. 24 25

16 ff.

Instruktiv dazu Farny, 20 ff. So im Grunde sdion Helmer,

90, zustimmend Sucban, 68; vgl. audi Farny,

Versicherungsmißbrauch (§ 265 StGB)

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Schließlich ist das bereits erwähnte arglistige Ausnutzen eines Versicherungsfalles, die betrügerische Schadensliquidation, zu nennen, bei der zwar ein Versicherungsfall tatsächlich vorliegt, jedoch zu Unrecht überhöhte Leistungen verlangt werden; so macht man beispielsweise falsche Angaben über Zahl oder Wert der versicherten Gegenstände oder läßt nach einem Kraftfahrzeugunfall — u. U. in doloser Kooperation mit einem Werkstätteninhaber — anderweitig bedingte Reparaturen auf Kosten der Versicherung durchführen. Sind alle diese Dinge u. E. auch strafrechtlich bemerkenswert, stellen doch die besonderen Erscheinungsformen den eigentlichen Schwerpunkt der Kriminalphänomenologie dar. Denn hier wird die typischerweise unterschiedliche Funktion auch solcher Formen kriminellen Verhaltens verdeutlicht, die der Strafjurist gewissermaßen eindimensional unter einen einzigen Straftatbestand subsumiert. Ohne in diesem Rahmen eine erschöpfende Darstellung anstreben zu können, sind doch einige Ausführungen angezeigt, weil mit dem kriminalphänomenologisch aufbereiteten Material der Lebenswirklichkeit die rechtswissenschaftliche Diskussion sowohl über die Voraussetzungen der Strafbarkeit als auch über die Rechtsfolgen erleichtert wird. Da es für die soziale Funktion dieser Formen kriminellen Verhaltens offenbar mehr auf die Versicherungszweige als auf die soeben genannten Ausführungsarten ankommt, sollte man sich in der Tattypologie hier an den verschiedenen Versicherungssparten orientieren, wobei auch zugleich verdeutlicht werden kann, daß diese für die geschilderten Praktiken verschieden anfällig sind 26 . Im Bereich der Feuerversicherung, die für Brand sowie für Explosion und Blitzschlag haftet, ist außer an den Prototyp der betrügerischen Brandstiftung 27 auch an Brandvergrößerung und ggf. an Brandduldung zu denken. Seltener können, wenn nämlich Fahrlässigkeit Versicherungsleistungen entfallen läßt, sogar fahrlässig verursachte Brände bedeutsam werden 28 . Weit verbreitet ist hier jedoch die betrügerische Brandschadensliquidation 29 , die selbstverständlich im konkreten Falle auch mit einer betrügerischen Brandstiftung kombiniert werden kann. Bei der Transportversicherung ist außer auf die interessanten, aber nidit so häufigen Diebstähle „a l'americaine", bei denen ein Werts ' Hierzu und zum Folgenden vgl. die instruktive Darstellung von Schad, 38 ff. mit zahlreichen Beispielen und Hinweisen. Vgl. früher sdhon Heintzmann, 18 ff. 87 Vgl. Schad, 39, Nelken, 50 ff., Farny, 23 ff., Suchan, 68 ff., Helmer, 94, Sebald u. a. ArchKrim. 127-61 ff. (1961), Poxleitner u. Schöntag, ArchKrim. 130-121 ff. (1962). 88 Dazu Schad, 40. l » Beispiele bei Schad, 40 f., Helmer, 93,Katte, ArchKrim. 123—123 ff. (1959).

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paket gegen ein gleidi aussehendes anderes Paket vertauscht oder der wirkliche bzw. angebliche Inhalt auf ähnliche Weise entwendet wird 30 , an das betrügerische Herbeiführen eines Transportschadens 31 sowie die betrügerische Ausnutzung eines solchen zu denken 32 . Beim Hausrat und im Geschäftsleben spielt die Einbruchsversicherung eine in der Praxis erhebliche Rolle, wenn man an fingierte33 oder die bereits erwähnten frisierten Einbrüche sowie an Täuschungen über die Höhe eines an sich versicherungspflichtigen Diebstahlsschadens denkt 34 . Selbst Naturschadenversicherungen sind nicht vor Praktiken des Versicherungsmißbrauchs gefeit35, wenngleich die Bedeutung derartiger krimineller Aktivitäten geringer ist. Es hat nicht nur Bauern gegeben, die nadi leichtem Hagelschlag die schledit stehende Ernte niedergetrampelt haben, um dann statt ihrer Kühe ihre Versicherung zu melken, oder weit überhöhte Schadensangaben von Landwirten, sonsondern man hat in Kooperation mit dem dafür zuständigen Beamten auch Leitungswasser benutzt, um die für Schönwetterversicherung wesentliche Regenwassermenge zu erhöhen 36 . Sozial viel bedeutsamer ist heute natürlich die Kraftfahrzeugversicherung, wie schon die oben genannten Zahlen erkennen lassen. Außer an die Kraftfahrzeugkaskoversicherung, bei der es um das Transportmittel geht, dessen Schädigung oder Verlust zu Unrecht — eventuell nur der Höhe nach — behauptet wird 37 , ist hier an die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung zu denken; neben frisierten Unfällen 38 spielt vor allem die betrügerische Schadensliquidation eine große Rolle39. In den USA und in Italien betreibt man dies sogar schon bandenmäßig 40 . Als wichtigste Personenversicherung sei die Lehensversicherung erwähnt. Neben der hier bedeutsamen betrügerischen Vertragsgestal30

Eingehender hierzu Schad, 41 f., Helmer, 94 und Nelken, 21 ff., 40 ff. Beispiele bei Schad, 42 f., Helmer, 94, Gemmer, Kriminalistik 1957-213 ff. 32 Näher dazu Schad, 43. 33 Zahlreiche Fälle bei Sthad, 43 f., Nelken, 108 ff., Farny, 58 ff., Helmer, 92; vgl. auch Schöntag, ArchKrim. 121-169 f. (1958). 34 Einige Beispiele berichten Schad, 44 und Farny, 63 f. 35 Zum ganzen Komplex mit weiteren Nachweisen Schad, 44 f. 36 Zur Sturmversicherung Helmer, 91. 37 Reichhaltiges Material bietet Schad, 46 f.; vgl. auch Nelken, 138 ff., Helmer, 91 und Suchan, 76 f., Fälle bei Ita, Kriminalistik 1955-111, Erlbeck, Kriminalistik 1956—328 f., Hesselink, ArchKrim. 117-61 (1956), Katte u. Specht, ArchKrim. 118-30 ff. (1956), Schöntag, ArchKrim. 126-90 ff., 121 ff. (i960), Lichtblau, Kriminalistik 1963-131 ff. 38 Ausführlich hierzu Schad, 47 ff.; vgl. auch Helmer, 92 und Suchan, 77 f. 39 Vgl. Schad, 49. 40 Nachweise bei Sdiad, 48. 31

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tung 41 gibt es sogar Fälle von Versicherungsmord42, bei dem ein tödlicher Unfall oder — bei Helfershelfern — sogar der eigene Tod vorgetäuscht wird, was nicht nur mit einer fremden Leiche, sondern sogar auch ohne eine solche geschehen kann 43 . Die Unfall- oder Haftpflichtversicherung, die außer für Todesfall Schutz für Invalidität oder vorübergehende Arbeitsunfähigkeit bietet, wird durch — z. T. merkwürdige — Praktiken des Versicherungsmißbrauchs geschädigt. Derartige Täter führen nicht nur vorübergehende, sondern durch Selbstverstümmelung — oft mehrfach — bleibende Gesundheitsschäden herbei, um auf diese Weise Versicherungsleistungen zu erlangen44. Wesentlich mehr verbreitet sind selbstverständlich Täuschungen über die Art und Weise des Unfalls und seiner Folgen45. Diese Beispiele müssen hier genügen, um das Phänomen des Versicherungsmißbrauchs zu verdeutlichen und so eine dem angemessene strafrechtliche Bewertung zu ermöglichen, obwohl dafür auch z. T. bereits erzielte Erkenntnisse über die Ursachen und die Persönlichkeit dieser Rechtsbrecher46 für den Juristen von Nutzen sein dürften. III. Über den Unrechtsgehalt des Versicherungsmißbrauchs Erst auf dem Hintergrund der hier skizzierten kriminalpolitischen Situation kann man m. E. mit der Aussicht auf ein überzeugendes Ergebnis über den Unrechtsgehalt des Versicherungsmißbrauchs diskutieren. 1. Stand der Meinungen

und

Kritik

Dabei ist vom Stand der Meinungen auszugehen, was überdies zeigen dürfte, wie unklar man sich noch heute über diesen Deliktstyp ist. In großen Zügen lassen sich beim Sinn und Verbotsinhalt des Dazu einige Beispiele bei Nelken, 148 ff. Zu diesen Modalitäten genauer Schad, 50 f., Nelken, 151 ff., Farny, 70 f., und Karl Schultz, „Versidierungsmord", Hamburg 1956. 43 Zu derartigen Fällen Schad, 51 f., Nelken, 151 ff., Farny, 75 ff. und Helmer, 95; vgl. im übrigen audi Suchan, 72 ff. und Berg, ArchKrim. 122-81 ff. (1958). 44 Eingehender dazu mit weiteren Nachweisen Schad, 53 f., außer Nelken, 184 ff. vgl. auch Farny, 92 ff., Weichbrodt, 13 ff., 22 ff., 33 ff., 63 ff., Helmer, 94 f. und Sudjan, 75 f. 4 5 Vgl. hierzu die Darstellung von Schad, 55 f., Farny, 97 ff. und Weichbrodt, 22 ff. 46 Hierzu insb. Schad, 56 ff., 70 ff. und allgemeiner Geerds, Kriminalistik 1968304 ff.; vgl. audi Farny, 18 ff., 29 ff., 65, 81 ff., 102 und W. A. Fürl, „Vom Wesen und Verhalten der Versidierungssdiwindler", Kriminalistik 1961-220. 41

42

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§ 265 StGB zwei Meinungen unterscheiden, die letztlich aber beide nicht zu überzeugen vermögen. Eine früher verbreitete, aber auch heute noch vertretene Ansicht wertet das in § 265 StGB unter Strafe gestellte Verhalten, wie das der üblichen Terminus „Versicherungsbetrug" nahelegt, als einen besonderen Fall des Betruges47. Das ist schon angesichts der im Vergleich zu § 263 StGB strengeren Strafdrohung nicht leicht, weil diese zeitlich im Vorbereitungs- oder bestenfalls Versuchsstadium des Betruges zum Nachteil des Individualvermögens einer Versicherung liegen. Auch wenn man derartige Praktiken als besonders gefährlich und kriminell intensiv wertet 48 , besticht doch die Annahme eines qualifizierten Betrugs schon deshalb nicht, weil vollendete Verstöße gegen § 265 StGB gemessen an § 263 StGB an sich straflose Fälle der Vorbereitung zum Betrug oder bestenfalls ein Versuch wären 49 . Für diese Ansicht sprechen neben dem systematischen Standort der Vorschrift, der jedoch auf einem Fehlgriff des Gesetzgebers beruhen könnte, nur Merkmale, die wie die betrügerische Absicht an den Betrugstatbestand angelehnt worden sind. Doch ist die hier zu erörternde Frage gerade die, ob dies sachgerecht ist. Diesen Bedenken trägt eine weitere Gruppe von Ansichten Rechnung, welche § 265 StGB mehr oder weniger vom Betrug zu distanzieren sucht. Mit der These vom „betrugsähnlichen" Delikt will man überwiegend zum Ausdruck bringen, daß neben dem Schutz des Individualvermögens auch der Zweck anerkannt wird, einen allgemeineren sozialen Schaden zu vermeiden, der in einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme der Versicherung liegen würde 50 . Das ist sicher richtig, ändert aber zumindest solange nichts im Grundsätzlichen, als man sich bei Anerkennung von zwei Rechtsgütern nicht zu entschliessen vermag, dem letztgenannten das Übergewicht einzuräumen 51 . Denn solange bliebe der in § 265 StGB kriminalisierte Straftatbestand im Kern eine Vorschrift zum Schutze des Individualvermögens. Die eigentliche Frage ist also die, ob man demgegenüber mehr Gewicht auf das Sozialvermögen der Versicherungsträger legt, was bisher aber 47

Siehe die Nachweise in Anm. 2. In dieser Richtung vor allem Kohlrausch/Lange, § 265-1, der damit an den früher von manchen betonten Aspekt der Gemeingefährlichkeit anknüpft. 4 ' Zwar ist es richtig, wenn Schönke/Schröder, § 265-VII, RNr. 18 wirkliche Konkurrenz (Idealkonkurrenz; str.) mit § 263 StGB bejahen, aber vom Standpunkt des „Betrugsdelikts" aus ist dies Ergebnis doch wenig gereimt. Zur im Schrifttum breit behandelten Konkurrenzproblematik mit Nachweisen Schad, 88 f. 50 In diesem Sinne außer Welzel, 378 f. auch Lackner/Maassen, § 265-1, Mezger/ Blei, II 202; vgl. im übrigen Anm. 3. 51 So am deutlichsten nodi Dreher, § 265-1 und BGHSt. 11-398 ff. 48

Versicherungsmißbraudi (§ 265 StGB)

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audi diejenigen kaum tun, die dieses Wort benutzen 52 . Das beweisen im Grund auch nahezu alle bisher gemachten Reformvorschläge. 2. Die eigene Ansicht und ihre Konsequenzen Sdion angesichts der geltenden Regeln sollte die Diskussion über den Unrechtsgehalt des Versicherungsmißbrauchs am besten vom Verhältnis der §§ 263, 265 StGB ausgehen. Hier aber zeigt die geschichtliche Entwicklung, die erst relativ spät zu diesen Deliktstypen führte 6 3 , daß die Anlehnung an den Betrugstatbestand ein Fehlgriff war, der sich dogmatisch aus einem sehr verengten, auf Gegenständliches zugeschnittenen Rechtsgutsbegriff und politisch aus einer damals vorherrschenden Uberschätzung von Individualeigentum und -vermögen erklärt. Führt man sich das zur praktischen Bedeutung dieser Verhaltensweisen und zu ihrer Kriminalphänomenologie Gesagte vor Augen, kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß es für den Unrechtsgehalt dieser Taten entscheidend auf das Sozialvermögen ankommen muß 54 . Denn das Individualvermögen der Versicherungen ist bereits durch § 263 StGB umfassend und wenn man die extensive Interpretation hinzunimmt in einem Maße geschützt, daß einem bange werden kann. Soweit der ansonsten begrenzte Anwendungsbereich des § 265 StGB in das Stadium von Versuch und Vorbereitung greift 55 , beweist das nur, daß die an sidi weiten Grenzen des § 263 StGB im Ergebnis als unbefriedigend und wenig sachgerecht empfunden worden sind — und das mit Recht, weil hier ein Individualdelikt keine sinnvollen Grenzen zu bieten vermag. Unzutreffend und sozial ungereimt ist es, den Versicherungsmißbrauch, wie das in § 265 StGB geschehen ist, auf die damals wohl wichtigsten Versicherungssparten der Feuer- und Seeschadenversicherung zu beschränken 56 ; jedenfalls sind heute andere Versicherungsarten, wie dargelegt, volkswirtschaftlich und sozial ungleich wich-

51

Eine Ausnahme bildet insoweit Schad, 107 f. Das preußische ALR, da® als erste größere Kodifikation die betrügerische Brandstiftung in § 1520 II. T. X X . Titel unter Strafe stellte, hatte dies noch im XVII. Abschnitt bei den „Beschädigungen mit gemeiner Gefahr" getan. Zur Entwicklung des Deliktstyps siehe im übrigen audi Oberhansberg, 11, Rein, 11 ff., Matschewsky, 3 ff. 54 Überzeugend hierzu Schad, 107 f.; so auch Geerds, Kriminalistik 1968-354. 85 Ebenso Kohlhaas, VersichR 1965-1. 54 Siehe hier die Kritik von Schad, 108 und seinen Vorschlag S. 117, ferner Kohlhaas, VersichR 1965-1, 3, 6 f. und Heintzmann, 17 ff., Kastner, 44 f., Rein, 56. 53

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tiger und daher ebenso schutzwürdig vor Praktiken des Versicherungsmißbrauchs57. Kommt es mithin beim Versicherungsmißbrauch nicht auf den Schutz des Individualvermögens, sondern auf das Sozialvermögen an, weil illegale Inanspruchnahme einer Versicherung letztlich alle anderen Versicherungsnehmer schädigt58, handelt es sich primär um ein Delikt gegen das Gemeinschaftsleben. Als solches ist der Versicherungsmißbrauch u. E. der einstweilen nur in vagen Umrissen erkennbaren Gruppe der echten Wirtschaftsdelikte zuzuordnen, die ein unserem Wirtschaftssystem konformes Verhalten im sozialen Bereich des Wirtschaftslebens garantieren wollen. So gesehen ist der ziemlich verunglückte § 265 StGB im geltenden Strafgesetzbuch die einzige Vorschrift, die ein Wirtschaftsdelikt i. e. S.5fl unter Strafe stellt60. Diese Zusammenhänge und vor allem die Funktion des Versicherungswesens dürften den sonst vielleicht mißverständlichen Begriff des Sozialvermögens präzisieren. Ist damit der Schutzzweck dieses Deliktstyps grob umrissen, muß selbstverständlich auch der angesichts des Gebots bestimmter Tatbestände im allgemeinen bedeutsamere Handlungsunwert noch klarer als bisher herausgearbeitet werden. Hier wirkt die historische Anleihe bei gewissen gemeingefährlichen Verbrechen, wie sie sich in § 265 StGB findet, ebenfalls nur irritierend 61 . Klare und praktikable Grenzen des strafbaren Bereichs lassen sich u. E. am ehesten mit Hilfe der oben genannten Ausführungsarten finden. Neben dem für Feuerund Seeversicherung schon heute in § 265 StGB erfaßten vorsätzlichen Herbeiführen eines Schadensereignisses zur Vortäuschung eines Versicherungsfalles müssen sicher auch Praktiken genügen, durdi die ein Schadensereignis als Versicherungsfall dargestellt ist, wenngleich die kriminelle Intensität hier in der Regel bereits geringer sein dürfte. Und daß dies ungeachtet der unterschiedlichen Anfälligkeit für alle Versicherungsarten gelten muß, braucht wohl nidit näher ausgeführt zu werden 62 . — Zweifelhafter könnte jedoch sein, ob man diesen Fällen des Versicherungsmißbrauchs auch diejenigen gleichstellen will, die wir oben allgemeiner als betrügerische Vertragsgestaltung und 67

Hierzu ausführlidier Kohlhaas, VersichR 1965-4. Audi dazu Schad, 107 f., 109 ff. und allgemeiner Helmer, 89 f.; vgl. schon Heintzmann, 24 und Weichbrodt, 9. 19 Hierzu mit weiteren Hinweisen Geerds, 213 ff., 221 f. und Geerds, Kriminalistik 1968-354 f. 60 So insb. Schad, 110 ff., 115 f. und Geerds, Kriminalistik 1968-354. 61 Kritisch hierzu Schad, 106 mit Vorschlägen S. 114 ff. (Gefährdungsdelikt), S. 117 f. ®2 Im Ergebnis ebenso Schad, 118 und Kohlhaas, VersichR 1965-3. 58

Versicherungsmißbraudi (§ 265 StGB)

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betrügerische Schadensliquidation bezeichnet haben. Ist im erstgenannten Falle die Gefährdung des Sozialvermögens auch noch nicht so ernst wie bei betrügerischer Herbeiführung eines Schadensereignisses oder Vorgabe eines Versicherungsfalles63, ist doch zu bedenken, daß angesichts des vorsätzlich handelnden Täters die Gefahrenlage nicht unterschätzt werden darf 64 . Ebenso mögen Fälle der betrügerischen Schadensliquidation oft menschlich verständlicher als andere Praktiken des Versicherungsmißbrauchs sein und überhaupt regelmäßig eine merklich geringere kriminelle Intensität aufweisen; dennoch gibt es bei der Frage der Kriminalisierung keinen überzeugenden Unterschied65. Beide Fallgruppen könnten bestenfalls in den Rechtsfolgen zu einer von den anderen Fällen differenzierenden Regelung mit einem weniger strengen Strafrahmen führen. Für den hier in erster Linie interessierenden Deliktstyp des Versicherungsmißbrauchs besagt das jedoch nichts66. Er ist mithin als ein vom Betrug unabhängiges Sozialdelikt, und zwar ein Wirtschaftsdelikt i. e. S., als strafwürdig zu erachten67. Gewiß ist die hier skizzierte Konzeption des Versicherungsmißbrauchs noch genauer zu präzisieren, wenn man eine sachgerechte und praktikable Regelung erreichen will. Immerhin bietet sie auch insoweit selbst für den im Anwendungsbereich unserem Vorschlag am nächsten kommenden § 256 E 1962 hinreichend kritisches Material. Zudem ging es hier vor allem darum darzutun, daß nicht nur die Berücksichtigung dieser Fälle als strafschärfender Umstand beim Betrug (§ 253 E 1962) überflüssig ist, sondern der Versicherungsmißbrauch als selbständiges Sozialdelikt völlig vom Betrug gelöst werden muß — eine Konsequenz, die der in diesem Punkt sonst fortschrittliche Entwurf 6 8 leider noch nicht zieht. Allerdings sieht sich derjenige, der die hier vertretene Konzeption für richtig hält, vor das Dilemma M

Audi dürfte in diesen Fällen zumindest versuchter Betrug anzunehmen sein. Hier a. A. Schad, 117. 65 Insoweit Ubereinstimmend Schad, 118; abweichend jedoch Kohlhaas, VersichR 1965-9. M Von untergeordneter Bedeutung ist auch, ob man — wie § 256 E 1962 — an der Konstruktion der Erfolgsabsidit festhält oder eine entsprechende Eignung genügen läßt, auf die sich der Vorsatz beziehen kann; dazu Schad, 82 ff., 108 f., 119. " Zur künftigen Anwendung allgemeiner Vorschriften Schad, 119 f. zugleich mit einem Gesetzesvorschlag. Noch umfassender ist der Vorschlag von Matschewsky, 43. — In andere Richtung aber gehen die Vorschläge von Kastner, 59 und Oberhansberg, 57. 68 Im Grunde zustimmend auch Kohlhaas, VersichR 1965-8; insoweit positiv auch Suchan, 80 ff., der sich ansonsten aber kritisch gegen die Strafbarkeit einer solchen „Vorbereitungshandlung" äußert. Er überschätzt entschieden die Brauchbarkeit des § 263 StGB. 64

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gestellt, d a ß bisher nodi kein deutscher Strafgesetzentwurf einen besonderen Abschnitt oder dergleichen für Wirtschaftsdelikte (i. e. S.) vorgesehen h a t , was u. E . eine der wichtigsten Forderungen für die R e f o r m des Besonderen Teils ist 6 9 . A b e r auch v o n diesem Effekt, der z u m Nachdenken veranlassen sollte, abgesehen scheint der Versidierungsmißbrauch als Sozialdelikt, das überdeutlich die Synthese v o n Strafrechtsdogmatik und Kriminologie b z w . Kriminalistik verlangt, ein guter Prüfstein für eine Strafrechtswissenschaft zu sein, die bestrebt ist, a u f der H ö h e ihrer Zeit zu sein.

Literatur- und Abkürzungsverzeichnis70 Briel, Reinhold: Der Versicherungsbetrug des §265 StGB und seine Reform — Diss. Tübingen — Urach/Württ. 1938; Dreher, Eduard: Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Verordnungen — Kurz-Kommentar — begr. v. Otto Schwarz — 33. Aufl. — München 1972; Farny, Dieter: Das Versicherungsverbrechen, Erscheinungsformen, Motive, Häufigkeiten und Möglichkeiten der versicherungstechnischen Bekämpfung — Veröff. d. Sem. f. Versicherungswirtschaft d. Univ. Köln N. F. l . B d . — Berlin 1959; Geerds, Friedrich: Das Wirtschaftsstraftat als Aufgabe für Wissenschaft und Gesetzgebung — in: Grundfragen der Wirtschaftskriminalität, Vortragsreihe Bundeskriminalamt, Wiesbaden 1963, S. 211 ff.; Geerds, Friedrich: Probleme der Wirtsdbaftskriminalität und ihrer Bekämpfung — in: Kriminalistik 1968, S. 234 ff., 300 ff., 356 ff.; Heintzmann, Otto: Der Versicherungsbetrug nadi geltendem und zukünftigem deutschen Strafredit — Diss. Heidelberg — Wiesbaden 1930; Helmer, Georg: Betrug zum Nachteil der Versicherung — in: Betrug und Urkundenfälschung, Vortragsreihe Bundeskriminalamt, Wiesbaden 1956, S. 89 ff.; Kastner, Heinz: Der Versicherungsbetrug (§ 265 StGB) — Diss. Tübingen — Tübingen 1928; Kohlhaas, Max: Der Betrug in der Versicherung — in: Versicherungsrecht 1965-1 ff.; Kohlrausch/Lange: Strafgesetzbuch mit Erläuterungen und Nebengesetzen — 43. Aufl. — bearb. v. Richard Lange — Berlin 1961; Lackner, Karl / Maassen, Hermann: Strafgesetzbuch mit Erläut. — 7. Aufl. — München 1972; LK: Strafgesetzbuch (Leipziger Kommentar) — begr. v. Ebermayer u. a. — 8. Aufl. — hrsg. v. Jagusch u.a. — 2. Bd. — Berlin 1958.; Matschewsky, Hans: Der Versicherungsbetrug im künftigen Recht — Diss. Köln — Düsseldorf 1934; Maurad), Reinhart: Deutsches Strafrecht. Besonderer Teil — Ein Lehrbuch — 5. Aufl. — Karlsruhe 1969; Blei, Hermann: Strafredit. II. Besonderer Teil — Ein Studienbuch — begr. v. Edmund Mezger — 9. Aufl. — München/Berlin 1966; Naucke, Wolfgang: Zur Lehre vom strafbaren Betrug — Krim. Forschungen Bd. 3 — Berlin 1964; Nelken, S.: Verbrechen und Versicherung — Berlin 1928; Oberhansberg, Heinrich: Der Versicherungsbetrug und sein Verhältnis zu Betrug, Brandstiftung und Sachbeschädigung nach geltendem und künftigen Recht — Diss. Köln — Kaldenkirchen So schon Geerds, 222, 226 ff., Geerds, Kriminalistik 1968-359. Das Verzeichnis kann in diesem Rahmen audi mit den in den Fußnoten noch genannten Arbeiten keine erschöpfende Zusammenstellung bieten; so ist auch auf Angabe weiterer einschlägiger Dissertationen ebenso wie auf medizinisches und versidierungsrechtlidies Schrifttum verzichtet worden, zumal da hier genannte Werke leicht den Zugang dazu öffnen. ,9

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(Rhld.) 1931; Rein, Will: Der Versicherungsbetrug nach dem Reichsstrafgesetzbuch und den neuen Strafgesetzentwürfen — Diss. Tübingen — Oehringen 1932; Schad, Thomas: Betrügereien gegen Versicherungen. Ein Beitrag zur kriminologischen und strafrechtlichen Problematik der Wirtschaftskriminalität — Diss. Kiel — München 1965; Schönke/Sdiröder: Strafgesetzbuch. Kommentar — begr. v. Adolf Schönke, fortg. v. Horst Schröder — 16. Aufl. — München 1972; Suchan, Hans Joachim: Versicherungsmißbrauch — Erscheinungsformen und Strafrechtsreform — in: Die Verbrechen in der Wirtschaft, hrsg. v. Klaus Tiedemann, Karlsruhe 1970, S. 67 ff.; Weichbrodt, Raphael: Der Versicherungsbetrug — Bern 1940; Welzel, Hans: Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung — 11. Aufl. — Berlin 1969.

Systematische Stellung und Rechtsgut der Sexualstraftaten nach dem 4. StrRG FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

Angesichts der umwälzenden Thesen des Jubilars auf dem Gebiet des Allgemeinen Teils des Strafrechts wird nicht immer gebührend gewürdigt, daß er auch eine der wenigen wissenschaftlichen Darstellungen des Besonderen Teils nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt und darin zahlreiche originelle Ansichten vertreten hat. I. Grundproblem einer Darstellung des Besonderen Teils ist die systematische Einteilung, die Gliederung der einzelnen Tatbestände. D e r gelegentlich verwendete Begriff der „Rechtsgüterordnung" 1 ist insofern nicht ganz sachgerecht, als er bereits einen der möglichen Gliederungsgesichtspunkte, wenn auch den praktisch allein in F r a g e kommenden, vorwegnimmt. A u f der anderen Seite hat sich der Begriff der „Klassifikation" der strafbaren Handlungen, der die Deduktion als weitere F o r m der Systematik in Rechnung stellt 2 , im deutschen Sprachraum nicht durchgesetzt 3 , offensichtlich wegen seiner übertriebenen methodischen Genauigkeit und der Fremdheit gegenüber dem allgemeinen Sprachgebrauch. Nicht durchgesetzt hat sich auch der im Dritten Reich stereotyp verwendete Ausdruck „ A u f b a u " des Besonderen Teils 4 . D e r Begriff der „Legalordnung" schließlich 1 Wärtenberger, Das System der Rechtsgüterordnung in der deutschen Strafgesetzgebung seit 1532 (Strafr. Abh. 326), 1933 (der Titel dieses Buches ist übrigens pleonastisdi); Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 5. Aufl. 1969, S. 6 ff. 1 Philipsborn, Die Klassifikation der einzelnen strafbaren Handlungen, 1906, S. 18 ff. * Anders z. B. für Italien Antolisei, Manuale dt diritto penale. Parte speciale, Bd. I, 5. Aufl. 1966, S. 18 ff. 4 Nationalsozialistisches Strafrecht. Denkschrift des Preuß. Justizministers, 1933, S. 19; Freister in: Das kommende deutsche Strafrecht. Bes. Teil, 2. Aufl. 1936, S. 13 ff.; Entwurf 1936, Begr. S. 6. Der Grund für diese offensichtlich bewußte Sprachregelung ist mir unklar. Die Fremdwortfeindlichkeit des Nationalsozialismus dürfte als Erklärung nicht ausreichen. Die Preußische Denkschrift, die diesen Begriff erstmals verwendete, gelangte zu ihm wohl durch die Fixierung des „Aufbaus einer organischen Volksgemeinschaft" als oberstes Staatsziel; das Postulat, daß die Systematik des Besonderen Teils diesem Staatsziel entsprechen müsse, hat sich dann vermutlich auch auf die Begriffsbildung ausgewirkt. Anscheinend hat man von da ab den neuen Sprachgebrauch ohne nähere Reflektierung als „fortschrittlich" angesehen.

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gilt nur für die Systematik des Besonderen Teils von Gesetzbüchern und hat überdies den Nachteil, daß er das Spezifikum seines Gegenstandes, nämlich die Systematik des Besonderen Teils, nicht zum Ausdruck bringt. So empfiehlt es sich, bei dem überkommenen Sprachgebrauch der „Systematik des Besonderen Teils" zu verbleiben. Welzel meint allerdings, daß es sidi wegen der geschichtlichen Bedingtheit der Verbrechensarten und des dadurch gegebenen fragmentarischen Charakters des Besonderen Teils im Gegensatz zum Allgemeinen Teil nicht um ein „System im strengen Sinne", ein „materiales System" handle, sondern nur um ein „System in einem weiteren Sinn", als Erkenntnishilfsmittel 5 . Hiermit ist, wenn audi unter diskriminierender Terminologie, die Unterschiedlichkeit der Systembegriffe6 angesprochen. Auffallend ist zunächst, daß anderwärts die Ansicht vertreten wird, ein materiales System könne sich gerade nur in einer bestimmten, historischen Rechtsordnung verwirklichen7. In Welzeis Unterscheidungen dürften selbst verschiedene Systembegriffe verwendet werden, insbesondere der denklogische und der sadilogische Systembegriff 8 und der axiomatisch-deduktive Systembegriff. Konkret ist Welzel entgegenzuhalten, daß 1. auch der Allgemeine Teil geschichtlich und „fragmentarisch" (Erfolgshaftung, übergesetzlicher Notstand) ist und 2. auch die Systematik des Besonderen Teils nicht nur ein Erkenntnishilfsmittel ist, sondern durchaus von Werterwägungen getragen sein kann.

II. Die Funktion der Systematik des Besonderen Teils besteht zunächst und unbestritten in der Erleichterung des Zugangs zu dem Stoff für jeden Adressaten, sei es der Reditsanwender, der Wissenschaftler, der Lernende oder auch „nur" der an seiner Rechtslage interessierte Rechtsgenosse. Außerdem strahlt aber die Systematik des Besonderen Teils auch auf die Auslegung der einzelnen Tatbestände aus9. An 5

Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 278; Niedersdir. über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 5. Bd., 1958, S. 137. 6 Vgl. Radbruch, Zur Systematik der Verbrechenslehre, in: Frank-Festgabe, 1930, Bd. I, S. 158 ff.; Mittasch, Die Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens in der Strafrechtssystematik, 1939; Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium generale 1957, 173 ff.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatredits, 1969. 7 Engisch, a. a. O. S. 182; Canaris, a. a. O. S. 20. 8 Vgl. Radbruch, a. a. O. S. 158; Canaris, a. a. O. S. 13. * Siehe F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafredit, 1970 S. 1, 293; Canaris, a . a . O . S. 86ff. Nach Maurach, Die Systematik des Besonderen

Sexualstraftaten nadi dem 4. StrRG

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dieser Tatsache kommt man nicht vorbei, ist doch die systematische Auslegung eine der anerkannten Auslegungsmethoden. Man kann daher verstehen, daß der Gesetzgeber die insoweit mit jeder Kodifikation verbundene Festlegung scheut. Aber die anläßlich der Strafrechtsreform ausgesprochene Warnung davor, daß mit Hilfe der Legalordnung „Auslegungskünste getrieben" würden 10 , und der Vorschlag, zum Ausdruck zu bringen, daß die Nachbarschaft von Vorschriften zueinander keine sachlichen Schlüsse auf ihre Verwandtschaft erlaube11, erinnern doch sehr an die Auslegungsverbote der Aufklärungszeit. Zuzugeben ist selbstverständlich, daß eine Systematik sich in dieser Hinsicht mehr oder weniger festlegen kann, formaler oder materialer sein kann. Am meisten umstritten ist die Frage, ob die Systematik eine Wertund Rangordnung zum Ausdruck bringen soll oder gar unausweichlich mit sich bringt. Daß Systematiken des Besonderen Teils eine solche Rangordnung zum Ausdruck bringen können, insbesondere Legalordnungen, steht außer Zweifel 12 . Allerdings ist hierbei das Streben des Gesetzgebers, eine solche Rangordnung zu vermeiden, legitimer. Insbesondere gibt es brauchbare Alternativen, wie etwa die praktische Bedeutung der Delikte 13 , die Entfaltung von einfachen zu komplizierten Tatbeständen 14 oder schließlich die Entfaltung vom Schutz des einzelnen über den der näheren Gemeinschaften bis zum Schutz des Staates und der Völkergemeinschaft. Zu weitgehend ist daher die Auffassung Maurachs, wonach sich in der Rangfolge einer jeden Legalordnung eine Wertauffassung des Gesetzgebers zeige15.

III. Es wurde schon angedeutet, daß der einzig erfolgversprechende Ausgangspunkt für die Systematik des Besonderen Teils in der Teils eines neuen Strafgesetzbuchs, Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., 1954, S. 231 ff., 232, 233, kann die Systematik ein „Hilfsmittel", die „Grundlage" der teleologischen Auslegung bilden. 10 Dreher, Niederschriften Bd. 5, S. 146. 11 Bockelmann, a. a. O. S. 145. 18 Vgl. vor allem Oehler, a. a. O. passim. M Hierauf beruht — wie in der deutschen Diskussion vielfach verkannt — die Voranstellung der Delikte gegen den einzelnen im schweizerischen StGB, vgl. Schroetter, a. a. O. S. 256 f. 14 Doerr, Die Systematik des besonderen Teils des Strafrechts, GA Bd. 64, 29 ff., 31. Nach Welzel, Niederschriften Bd. 5 S. 138 beruht die Voranstellung der Delikte gegen den einzelnen in seinem Lehrbuch allein auf pädagogischen Gesichtspunkten. 15 Die Systematik des Besonderen Teils eines neuen Strafgesetzbuches, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd. 1954, S. 231, 233.

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Differenzierung der Rechtsgiiter liegt. Der Begriff des Reditsguts ist freilich neuerdings zunehmend problematisch geworden 16 . Indessen betrifft die Neubesinnung vor allem die kriminalpolitisdie Funktion des Rechtsgutsbegriffs; die systematische Funktion wird davon weniger berührt. Hierbei geht es nur um die Fragen, ob sich innerhalb der positiv gegebenen Rechtsgüter innere Einheiten ergeben und wie diese Gruppen systematisch zu ordnen sind, oder, von einer positiven Legalordnung ausgehend, ob die darin postulierte Einheitlichkeit einer materiellen Uberprüfung standhält und ob die systematische Einordnung dem Rechtsgut entspricht. Allerdings darf hierbei nicht verkannt werden, daß auch die systematische Funktion des Rechtsgutsbegriffs sich von der kriminalpolitisdien nicht völlig trennen läßt, sondern daß diese systematische Funktion ihrerseits kriminalpolitische Funktionen wahrnimmt. Die Auswirkung der Systematik auf die Auslegung wurde bereits erwähnt. Daß die Systematisierung damit eine bedeutsame kritische Funktion entfaltet, ist evident 17 . Umgekehrt ist mit Recht festgestellt worden, daß innerhalb der Auslegung kriminalpolitische Gesichtspunkte, und das sind vor allem Gesichtspunkte des Rechtsgüterschutzes, legitim sind 18 . Zum anderen geht die Feststellung, daß sich für einen bestimmten Tatbestand ein Rechtsgut nicht ermitteln läßt, unter der Voraussetzung einer strafrechtsbegrenzenden Funktion des Rechtsgüterschutzgedankens ohne weiteres in eine Kritik de lege ferenda über. Schließlich ist im Rechtsgüterschutzgedanken das Prinzip der Differenzierung, Spezialisierung und Privilierung der geschützten Güter begriffsnotwendig enthalten. Damit setzt die kritische Funktion des Rechtsgutsbegriffs auch dann ein, wenn sich als „Rechtsgut" nur noch so abstrakte Schutzobjekte wie die Rechtsordnung, die allgemeine Sittlichkeit, die öffentliche Ordnung und dgl. ermitteln lassen, die auch alle anderen spezielleren Rechtsgüter in sich aufnehmen könnten 19 .

16 Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, Festschrift für Richard M.Honig, 1970, S. 151 ff.; Otto, Rechtsgutsbegriff und Deliktstatbestand, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, hrsg. von Müller-Dietz, 1971, S. 1 ff.; Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut", 1972; Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973. 17 Nicht berücksichtigt jedoch bei Hassemer, a. a. O. S. 19 ff. 18 Arzt, Die Strafrechtsklausur, JuS 1970, S. 567. " F.-C. Sdiroeder, a. a. O. S. 294 f.; kritisch jedoch Amelung, S. 244 ff., 305.

Sexualstraftaten nach dem 4. StrRG

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IV. Bei der Systematisierung des Besonderen Teils geht es nicht nur darum, Gruppen von Tatbeständen nach dem zugrunde liegenden Rechtsgut zusammenzufassen, sondern vor allem auch darum, diese Gruppen ihrerseits in eine bestimmte Ordnung zu bringen. Während eine Rangordnung unter vielen dieser einzelnen Gruppen nicht möglich ist, erscheint doch jedenfalls die Bildung von Obergruppen unerläßlich. Sie findet sich denn auch, mindestens implizit, in allen bisherigen Systematiken des Besonderen Teils, sei es im Gesetz, sei es in wissenschaftlichen Darstellungen. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532, in der sich erstmals eine durchdachte Legalordnung findet, gliedert den Besonderen Teil zwar nicht explizit, aber doch bei näherer Betrachtung, in folgender Weise: 1. Religionsdelikte 2. Staatsdelikte 3. Fälschungsdelikte 4. Sexualdelikte 5. Delikte gegen die öffentliche Ordnung 6. Delikte gegen das Leben 7. Diebstahl. Hierin deutet sich bereits die spätere Unterscheidung zwischen den öffentlichen und den privaten Delikten an, die expressis verbis erstmals Decian vornimmt und die im 18. Jahrhundert in die deutsche Wissenschaft Eingang findet 20 . Diese Unterscheidung befolgt auch das Preußische Landrecht von 1620/1685/ 1721, obwohl es sich nach dem Dekalog richtet, der jedoch seinerseits eine solche Gliederung enthält 21 . Dem Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 wird allgemein eine einleuchtende Gruppierung abgesprochen22; sie dürfte jedoch ebenfalls in diesem Sinne zu verstehen sein. Die Theresiana von 1768 enthält mit ihren acht Abschnitten eine deutliche Untergliederung in die Gruppen Delikte gegen Gott — gegen den Staat — gegen den einzelnen. In den folgenden Gesetzbüchern, nämlich dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1791/1794, den Codes Pénales von 1791 und 1810 sowie dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 findet sich die grundlegende Unterscheidung in Privatverbrechen und Staatsverbrechen. Diese Gliederung hat sich über das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 bis in das geltende Recht erhalten. î0 Ahegg, Beiträge zur Lehre von der systematischen Anordnung des besondern Theils des deutschen Strafredits, im Verhältnisse zu den Quellen des positiven Rechts, Archiv für Criminalredit N . F., 1835, S. 367 ff.; Philipsborn, a . a . O . S. 54; Oehler, a. a. O. S. 68; a. A. Wärtenberger, a. a. O. S. 28 ff., 62. 11 v. Weber, Der Dekalog als Grundlage der Verbredienssystematik, in: Festschrift für Sauer, 1949, S. 44 ff., 48, 51 ff. ™ Wärtenberger, a . a . O . S. 116; Oehler, a . a . O . S. 92 f.; Peitzsd}, Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex Juris Criminalis Bavarici von 1751, 1968, S. 5 f.

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Innerhalb dieser großen Gruppen lassen sich weitere Untergruppen erkennen. So standen und stehen an der Spitze der Staatsverbrechen die Delikte gegen den Staat selbst; darauf folgen die Delikte gegen einzelne staatliche bzw. überstaatliche Gemeinschaftswerte. Innerhalb der Delikte gegen den einzelnen stehen an der Spitze die Delikte gegen Ehre, Leib, Leben und Freiheit, währen die folgenden Abschnitte — mit gewissen historisch überkommenen Inkonsequenzen — das Vermögen schützen. Dementsprechend sah der Vorentwurf von 1909 eine Untergliederung des Besonderen Teils in die vier Bücher Verbrechen und Vergehen gegen den Staat — gegen Einrichtungen des Staates — gegen die Person — gegen das Vermögen vor. Von den großen Lehrbüchern der Weimarer Zeit stellten LisztSchmidt23 und Meyer-Allfeld2i auf den Unterschied zwischen Delikten gegen den einzelnen und gegen die Gesamtheit ab. Bei LisztSchmidt umfaßten allerdings die Delikte gegen die Gesamtheit nur die Delikte gegen den Staat, die Staatsgewalt und die Staatsverwaltung, während alle übrigen Delikte „Delikte gegen den einzelnen" waren, wogegen bei Meyer-Allfeld umgekehrt die Delikte gegen die Gesamtheit sich in Delikte gegen „Rechtsgüter der Gesellschaft" und „Rechtsgüter des Staates" mit einer entsprechenden Erweiterung unterteilten. Gerland2s befolgte die schon von Stübel26 und später vor allem von Philipsborn21 bekämpfte Dreigliederung in Delikte gegen den Staat, die Gesamtheit und den einzelnen. Die StGB-Entwürfe der Weimarer Zeit sahen von einer Unterteilung des Besonderen Teils ab. Erst der Entwurf von 1936 sah wieder eine Untergliederung vor, die mit den Gruppen 1. Schutz des Volkes 2. Schutz der Volkskraft 3. Schutz der Volksordnung 4. Schutz der Persönlichkeit 5. Strafbarer Eigennutz in zeitgemäßer Verfremdung und mit einer originellen Einordnung der weder unter den Staatsschutz noch unter den Schutz staatlicher Einrichtungen fallenden Delikte gegen Rechtsgüter der Gesamtheit in das Kapitel „Schutz der Volkskraft" die überkommenen Bemühungen um eine Untergliederung widerspiegelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Untergliederung des Besonderen Teils über die Grundeinteilung in Delikte gegen den einzelnen und gegen die Gesamtheit hinaus vollends durchgesetzt. Maurach stellt zwar grundsätzlich auf diese Unterscheidung ab, sieht 2>

Lehrbudi des Deutschen Strafredits, 25. Aufl. 1927. Lehrbudi des Deutschen Strafrechts, 8. Aufl. 1922. 25 Deutsches Reichsstrafrecht, 2. Aufl. 1932. 26 Allgemeine Bemerkungen über den zweiten Teil des Kriminalgesetzbuches. Anhang zu Mittermaier, Über den neuesten Zustand der Kriminalgesetzgebung, 1825, S. 11 ff. 27 A. a. O. S. 129 ff. 24

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aber im Rahmen dieser Zweiteilung eine klare Vierteilung: 1. Straftaten gegen Persönlichkeitswerte 2. Straftaten gegen Vermögenswerte 3. Straftaten gegen überstaatliche Gemeinschaftswerte 4. Straftaten gegen den Staat vor 2 8 . Mezger schlug eine ganz ähnliche Vierteilung vor, welche allerdings noch gewisse Inkonsequenzen aufwies: 1. Straftaten gegen die Person und gegen die Sittlichkeit 2. Straftaten gegen das Vermögen und Fälschungsstraftaten 3. Straftaten gegen die Gemeinschaft in ihren einzelnen Beziehungen 4. Straftaten gegen den Staat und gegen die Gemeinschaft als solche29. Ihre klarste Ausprägung hat diese Tendenz in der von dem Jubilar von Anfang an verfolgten Systematik des Besonderen Teils erfahren. Er gliedert den Besonderen Teil in 1. Straftaten gegen die Persönlichkeit 2. Vermögensverbrechen 3. Verbrechen gegen das Gemeinschaftsleben 4. Staatsverbrechen 30 . Die Aufgabe der Zweigliederung des Besonderen Teils in die Delikte gegen den Einzelnen und gegen die Gesamtheit ist vor allem deswegen unausweichlich, weil Vermögenswerte sowohl dem einzelnen als auch der Gesamtheit zustehen können und letzteres in der Gegenwart auch in den westlichen Staaten bekanntlich in immer stärkerem M a ß der Fall ist 31 . Im E 1962 wurden die Delikte gegen Gemeinschaftswerte auf einen plastischeren Kern, nämlich die „Straftaten gegen die Sittenordnung" reduziert und die bisher darin enthaltenen Geld- und Urkundendelikte sowie die gemeingefährlichen Delikte den Straftaten gegen die öffentliche Ordnung zugeschlagen, welche gleichzeitig von den Straftaten gegen den Staat abgespalten wurden 32 . Mit Recht wurden ferner die Straftaten gegen ausländische Staaten aus ihrer Verklammerung mit dem Schutz des eigenen Staates gelöst und zusammen mit dem Völkermord als „Straftaten gegen die Völkergemeinschaft" verselbständigt.

V. Die Sexualstraftaten haben im Rahmen dieser Einteilung des Besonderen Teils in Obergruppen seit jeher eine ambivalente Stellung Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 5. Aufl. 1969. Strafrecht II. Besonderer Teil, 1949; jetzt 9. Aufl., 1966. 3 0 Zuerst: Das Deutsche Strafrecht in seinen Grundzügen, 1947. Siehe jetzt: Das Deutsche Strafredit. Eine systematische Darstellung, 11. Aufl., 1969, S. 2 7 7 f. 8 1 In dem Vorläufigen Vorschlag der Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums zur Systematik des Besonderen Teils (Umdruck J 54) ist die Aufgliederung zwischen Straftaten gegen die Person und gegen Vermögenswerte allerdings nur deshalb vorgenommen worden, um einen zu großen und unübersichtlichen Abschnitt zu vermeiden, vgl. Niederschriften, Bd. 5 S. 141, 2 5 9 f. 3 2 Vgl. hierzu Niederschriften Bd. 5 S. 144 ff. 28 20

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eingenommen. In der Carolina rangieren sie zwischen den Fälschungsdelikten und den Delikten gegen die öffentliche Ordnung und damit eindeutig im Rahmen der Delikte gegen die Gesamtheit. Dagegen setzt sich in der vom Naturrecht beeinflußten Literatur um die Mitte des 18. Jahrhunderts (Kemmerich, Engau, Koch33) die Einordnung in die Delikte gegen den einzelnen durch, wobei freilich noch der stark von einer religiösen Betrachtung der Sexualdelikte her geprägte Begriff „Fleischesdelikte" beibehalten wird. Zu den Delikten gegen den einzelnen gehören die Sexualdelikte in den preußischen Landrechten von 1620/1685/1721. Auch in der freilich bisher nidit als solcher anerkannten 34 Zweigliederung des Codex Juris Bavaris Criminalis von Kreittmayr erscheinen die Sexualdelikte im Rahmen der Delikte gegen den einzelnen, bilden allerdings deren Ende und grenzen damit eng an die Delikte gegen die Gesamtheit. Diese Ambivalenz wird noch deutlicher in der Theresiana, da diese die Delikte gegen den Staat voranstellt, so daß die Sexualstraftaten den Ubergang zu den Delikten gegen den einzelnen bilden. In der Aufklärung werden die Sexualdelikte dann ganz eindeutig in die Delikte gegen den einzelnen eingeordnet, allerdings unter weitgehender Abschiebung von nicht unmittelbar gegen den einzelnen gerichteten Tatbeständen in die Polizeidelikte. Dies gilt zunächst für die Berner Preisschrift von Globig und Huster, bei welchen von den „Fleischlichen Verbrechen" nur Ehebruch, Vielweiberei und Notzucht übrigbleiben, während die Unzucht, die Prostitution, die Kuppelei, die Sodomie und die Blutschande Polizeivergehen darstellen 35 . Im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten bleibt diese systematische Stellung trotz der Beibehaltung des überkommenen Kreises der Tatbestände und der Eingliederung zahlreicher Vorbeugungstatbestände erhalten. In Feuerbachs bayerischem Strafgesetzbudi von 1813 wird die Gruppe völlig aufgelöst und erscheint nur noch unter den Verbrechen und Vergehen an der Person. Wenngleich diese Einteilung durch die Ausscheidung einer Reihe von Tatbeständen wie insbesondere der Sodomie und der bloßen Unzucht erleichtert wird, so geht es doch — um im Bilde zu bleiben — nicht ohne eine Vergewaltigung der Tatbestände ab. So gilt die Blutschande, und zwar nicht nur zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie, sondern auch zwischen Geschwistern, desgleichen die Kuppelei zu derartigen Taten, als „Mißbrauch rechtlicher Privatgewalt zu persönlichen Mißhandlungen" 38 34 35

Nähere Nachweise bei Oehler, a. a. O. S. 87 ff. S. o. Anm. 22. Abhandlungen von der Criminal-Gesetzgebung, 1783, S. 227 ff.

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(Art. 204 ff.); als Vergehen an der Person gelten u.a. die Nötigung von Kindern zur Ehe und die Verführung zum Beischlaf durch Eheversprechen (Art. 372 ff.). Im übrigen findet sich im Lehrbuch unter den „Polizey-Vergehen" ein Abschnitt „Fleichesverbrechen", der mit dem außerehelichen Beischlaf, der Hurerei, dem Konkubinat, der Blutschande, der Sodomie und der Kuppelei fast das gesamte überkommene Tatbestandsarsenal enthält36. Die Einordnung der Sexualdelikte in die Delikte gegen den einzelnen bleibt auch in sämtlichen Entwürfen für das preußische Strafgesetzbuch bis 1843 erhalten, freilich jetzt bereits unter der Bezeichnung „Verbrechen wider die Sittlichkeit". Erst im Entwurf von 1845 kommt es zu einem radikalen Umschwung, deren Grund offensichtlich die Auffassung ist, daß hier wichtigste geistige Interessen des Staates wie die öffentlichen Sitten, die Heiligkeit der Ehe und die Reinheit der Familienverhältnisse betroffen seien37. Allerdings zeigt sich auch hier noch eine gewisse Unsicherheit. Die „Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit" bilden den letzten Titel der Delikte gegen die Allgemeinheit und stehen damit in engster Nähe zu den Delikten gegen den einzelnen. Außerdem waren im Entwurf von 1845 die gewaltsame Unzucht und die Schändung bei den Freiheitsdelikten eingeordnet. Bei dieser Gliederung ist es auch im Rechsstrafgesetzbuch von 1871 und in den Entwürfen bis zur Gegenwart geblieben. Die wissenschaftlichen Darstellungen des Besonderen Teils sind ihr vielfach nicht gefolgt. Während Meyer-Allfeld die Delikte gegen die Sittlichkeit aufspalten in solche gegen den einzelnen und gegen die Gesamtheit38 und Mezger-Blei in ihrer bereits erwähnten Viergliederung die Straftaten gegen die Person und gegen die Sittlichkeit in einem Teil zusammenfassen, wobei die Grenze zwischen Straftaten gegen den einzelnen und gegen die Gesamtheit mitten durch den Gesamtabschnitt verlaufe39, ordnen Bindingi0 und v. Liszt-Schmidt41 die Sexualstraftaten sämtlich in die Delikte gegen den einzelnen ein.

3 6 Lehrbuch des Gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 11. Aufl. 1832, S. 298 ff. 3 7 Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuchs von 1843, Berlin 1845, Bd. 2, 5. 159, 169; Motive zum Entwurf des Strafgesetzbuchs für die preußischen Staaten, 1851, S. 36 f. 3 8 A. a. O. S. 394 ff., 506 ff. 8 9 A. a. O. S. 7, 70 f. 4 0 A . a . O . und: Druckbogen zum deutschen Strafredit. Besonderer Teil, 5. und 6. Aufl. 1911, S. 32 ff. 4 1 A. a. O. S. 536 ff.

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Welzel hingegen ordnet die Sexualstraftaten in die Straftaten gegen das Gemeinschaftsleben ein; audi bei Maurad} fallen sie unter die Delikte gegen Gemeinsdiaftswerte.

VI. Die Richtigkeit der im vorhergehenden geschilderten Einordnungen der Sexualstraftaten soll hier nicht näher erörtert werden. Im folgenden geht es vielmehr darum, wie die Sexualstraftaten nach der Reform durch das 4. StrRG einzuordnen sind. Damit wird zugleich ein erster Schritt getan, aus der bisher weitgehend rechtspolitischen Erörterung der vom 4. StrRG vorgesehenen Regelungen zu deren systematischer Erfassung und Auslegung überzugehen. Daß die Tatbestände der Notzucht, der Gewaltunzucht und der Schändung dem Schutz der sexuellen Freiheit dienen, war niemals bestritten; aus diesem Grunde sollten die Tatbestände ja sogar — wie erwähnt — bei der erstmaligen Einordnung des gesamten Abschnitts in die Delikte gegen die Gesamtheit aus ihm ausgegliedert werden. Diese Schutzrichtung wird jetzt bei der Schändung noch sehr viel deutlicher als früher, da nicht mehr auf die bloße Geisteskrankheit des Opfers, sondern auf dessen Widerstandsunfähigkeit abgestellt wird, die darüber hinaus „ausgenutzt" werden muß. Die bisherige Fassung konnte insoweit nur als abstraktes Gefährdungsdelikt gedeutet werden, ließ allerdings auch die Deutung offen, geisteskranke Frauen sollten vom außerehelichen Beischlaf schlechthin ausgeschlossen bleiben. Von den aus dem bisherigen § 174 StGB hervorgegangenen Tatbeständen wird bei den §§ 174 Abs. 1 Nr. 2 (Sexuelle Handlungen an Anvertrauten unter 18 Jahren) und § 174 b (Sexuelle Handlungen von Strafverfolgungsbeamten) mit dem Merkmal des Mißbrauchs der Abhängigkeit das Schutzobjekt im Tatbestand deutlich genannt. Das Gleiche gilt für § 180 Abs. 3 (Bestimmung von Anvertrauten unter 18 Jahren zu sexuellen Handlungen mit Dritten). Auch bei dem neuen § 174 a Abs. 2 (Sexueller Mißbrauch von Kranken in Anstalten) ergibt sich die Schutzrichtung gegen den einzelnen aus dem Erfordernis des „Mißbrauchens unter Ausnutzung der Krankheit oder Hilfsbedürftigkeit", wenngleich kaum vorstellbar ist, wieso Krankheit und Hilfsbedürftigkeit zu einer über die Nötigung hinaus schutzwürdigen sexuellen Abhängigkeit führen sollen42. 42 Vgl. F.-C. Schroeder, Die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nadh dem Entwurf eines 4. StrRG, Zeitschrift für Reditspolitik 1961, S. 14 ff., 18.

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Sehr viel zweifelhafter ist die Schutzrichtung allerdings bei § 174 a Abs. 1, dem sexuellen Mißbrauch von Gefangenen und behördlich Verwahrten. Zwar ist gerade anläßlidi einer ausgedehnten Diskussion über das zu weite Schutzobjekt das Tatbestandsmerkmal „unter Mißbrauch seiner Stellung" eingefügt worden 43 , doch zeigt die Diskussion im Sonderausschuß zur Genüge, daß es sich hierbei um eine bloße Leerformel handelt, die die Gegner jeglicher Einschränkung für bedeutungslos hielten. In der Tat hat ja auch die Rechtsprechung zum geltenden Recht die Tatbestandsmerkmale „Mißbrauch zur Unzucht unter Ausnutzung seiner Stellung" in dieser Weise ausgelegt44. Nun steht freilich die Auslegung der neuen Bestimmung noch aus. Die Tatsache, daß dieses Merkmal ausdrücklich in den Regierungsentwurf eingefügt worden ist, kann bei der Auslegung sicher nicht unberücksichtigt bleiben. Im übrigen könnte man sich damit behelfen, daß hier die Abhängigkeit des einzelnen unwiderleglich vermutet wird nach Art eines abstrakten Gefährdungsdelikts. Freilich haben gerade wir davor gewarnt, Tatbeständen mit Hilfe des Gedankens der abstrakten Gefährdung ein nicht existentes Rechtsgut zu verleihen oder sie zu Gefährdungen höherrangiger Rechtsgüter aufzuwerten 45 . Anders ist es jedoch, wenn ein Tatbestand in seinem Kernbereich eindeutig konkrete Verletzungen des genannten Rechtsgutes erfaßt und der Gedanke der abstrakten Gefährdung lediglich zur Abdeckung eines darüber hinausgehenden Randbereichs verwendet wird. Will man dieser Auffassung nicht folgen, so bleibt doch jedenfalls festzuhalten, daß die Ausnutzung der Abhängigkeit und damit der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung den Kernbereich dieser Vorschrift bildet. Die genannten Erwägungen gelten noch stärker für eine Beurteilung des § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3. Wenn die Begründung zum Regierungsentwurf — ebenso wie übrigens audi bei der Unzucht mit Gefangenen — darauf hinweist, daß durch die Aufnahme sexueller Kontakte in aller Regel der erzieherische Einfluß erschwert, wenn nicht sogar vereitelt wird, so verschiebt sich das Rechtsgut auf die Erziehung im allgemeinen, die durch den Fremdkörper der sexuellen Komponente gestört wird 46 . Der Gedanke einer Vermutung der Abhängigkeit würde hier wesentlich weniger befriedigen als bei der Unzucht mit Gefangenen. Als plausibelsten Grund für die Strafbar43 Beratungen des Sonderausschusses für die Strafreditsreform, 6. Wahlperiode, S. 1341 ff. ** BGHSt. 2, 93, 94. 45 F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafretht, 1970, S. 4, 194, 309 f. ** Siehe F.-C. Schroeder, ZRP 1971, 17.

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keit wird man ansehen können, daß im Rahmen eines derartigen Autoritätsverhältnisses kein echtes Partnerschaftsverhältnis zustandekommt und daß aus einem solchen autoritätsgebundenen sexuellen Verhältnis schädliche Folgen für die sexuelle Reifung des Jugendlichen entstehen. Damit dienen die genannten Tatbestände jedenfalls in dem durch die Ausnutzung der Abhängigkeit nicht abgedeckten Bereich dem Schutz der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Seinen Schwerpunkt hat dieser Schutz in § 176. Auch § 175 gehört hierher, zumal seitdem von ihm nur noch die Homosexualität mit Männern unter 18 Jahren erfaßt wird. Die gegenüber dem allgemeinen sexuellen Mißbrauch von Kindern erhöhte Altersgrenze läßt sich ohne weiteres damit rechtfertigen, daß bis zu diesem Alter noch eine anderweitige Fixierung des Sexuallebens möglich erscheint. Zum Jugendschutz gehören auch § 180 Abs. 1 und 2 und die jugendgefährdende Prostitution nach § 184 b. Bei dem Schutz der Jugend könnte man meinen, daß er bereits ein Rechtsgut der Allgemeinheit darstellt. Hierfür würde u. a. die Tatsache sprechen, daß es auf die subjektiven Interessen der geschützten Jugendlichen nicht ankommt und dementsprechend auch eine Einwilligung unbeachtlich ist. Im Strafgesetzbuch der DDR lautet das vierte Kapitel „Straftaten gegen Jugend und Familie", wobei die Jugend offensichtlich als ein Rechtsgut der Gesamtheit angesehen wird. Indessen läßt sich der Schutz der Jugend wie überhaupt die gesamte Erziehung auch durchaus individualistisch dahingehend auffassen, daß hier nicht eine gesellschaftsnützliche oder auch nur gesellschaftskonforme Entwicklung gesichert wird, sondern daß dem Jugendlichen in seinem eigenen Interesse eine Schutzzone bis zur Reifung seiner eigenen Persönlichkeit garantiert wird. Von hier aus gesehen verliert die Unbeachtlichkeit der Einwilligung ihre Indizwirkung gegen einen Sdiutz des einzelnen und ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen der Einwilligungsfähigkeit. Eine solche Auffassung des Jugendschutzes drängt sich vor allem dann auf, wenn der Gesetzgeber so zurückhaltende, nur gravierendste Einflüsse abwehrende Vorschriften vorsieht wie das 4. StrRG. Bockelmann ist freilich der Ansicht, daß in dem Ziel der Abwehr von Entwicklungsstörungen begriffsnotwendig der Schutz einer bestimmten Sexualethik stecke47. Indessen geht es bei dem Jugendschutz des 4. StrRG lediglich darum, vorfristige Festlegungen des Sexualtriebes zu verhindern, den Menschen solange für eine Ausprägung seines eigenen Sexuallebens offenzuhalten, bis er 47 Zur Reform des Sexualstrafredits, Festschrift für Maurach zum 70. Geburtstag, hrsg. von Schroeder und Zipf, 1972, S. 391 ff., 410.

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die nötige Reife gewonnen hat. Von hier aus bleibt der Sdhutz der Jugend unmittelbarer Schutz des Individuums. Für § 180 Abs. 1 S. 2 war zunächst das umstrittene „verlängerte Erzieherprivileg" vorgesehen, wonach bei einem Handeln des zur Sorge f ü r die Person Berechtigten oder eines anderen mit seiner Einwilligung, sofern nicht eine gröbliche Verletzung der Erziehungspflicht vorliegt, der Tatbestand nicht anzuwenden sein sollte. Damit hätte sich das Rechtsgut in diesem Bereich vom Schutz des Jugendlichen auf das elterliche Sexualerziehungsrecht verlagert 48 . Denn die negative Fassung des Erzieherprivilegs konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Tatbestand praktisch lautete: „Wer gegen den Willen des Sorgeberechtigten...". Die bei den letzten Beratungen des Sonderausschusses von dem Vertreter des Bundesjustizministeriums angenommene Beschränkung des Elternprivilegs auf Konfliktsituationen 49 hat weder im Gesetzestext noch auch nur in den Materialien einen hinreichenden Niederschlag gefunden; im Gegenteil, die Begründung nennt ausdrücklich die Gewährung eines gewissen Spielraumes bei der Sexualerziehung 50 . Indessen ist das „verlängerte Erzieherprivileg" im Vermittlungsausschuß gefallen. Das übrig gebliebene einfache Erzieherprivileg wird zwar der Rechtsprechung noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten, hat aber nicht die Sprengkraft f ü r das Rechtsgut wie das „verlängerte Erzieherprivileg". I Aus dem Tatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses gliedert das 4. StrRG die Belästigung einer anderen Person durch eine exhibitionistische Handlung heraus (§ 183). In diesem Tatbestand kommt die Richtung gegen das Individuum deutlich zum Ausdruck. Das gleiche gilt f ü r die unverlangte Zusendung von Pornographie nach § 184 Abs. 1 N r . 3 und die Verbreitung pornographischer Darbietungen durch den Rundfunk nach § 184 Abs. 2. Freilich sichern diese Vorschriften zugleich die Belange des Jugendschutzes. Bei dem Tatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 a) scheint dagegen die Annahme einer Richtung gegen die Allgemeinheit unausweichlich. Der Tatbestand ist fast in der bisherigen Fassung erhalten geblieben, und hier hatten Rechtsprechung und Schrifttum wegen des Merkmals der Öffentlichkeit einhellig ein Delikt gegen die Allgemeinheit angenommen. Hieraus h a t die Rechtsprechung wichtige Folgerungen gezogen, wie etwa, daß keine wollüstige Absicht erforderlich ist 51 und daß bei Ärgernisnahme verschiedener Personen ein 48

S. F.-C. SchroedeT, ZRP 1971, 19. « SA-Beratungen, 7. Wahlperiode, S. 26. t0 Bundestags-Drucksache VI/3521 S. 45. " RGSt. 68, 193.

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Fortsetzungszusammenhang möglidi ist52. Allerdings ist auch mit Recht auf die in dem individualistischen Erfordernis der konkreten Ärgernisnahme durch eine Einzelperson liegende Inkonsequenz hingewiesen worden 53 . Nach Auffassung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform soll das Rechtsgut ein völlig anderes sein als das der bisherigen Vorschrift, nämlich der Anspruch des einzelnen auf Achtung seiner Anschauungen; damit komme das Delikt der Beleidigung sehr nahe 54 . Der Tatbestand sei überhaupt nur eine Auffangvorschrift für die Beleidigung, da sich bei Handlungen vor einer unbestimmten Vielzahl von Personen die Voraussetzungen des § 185 häufig nicht feststellen ließen55. Indessen wird die Auffassung, daß in Sexualstraftaten immer eine Beleidigung enthalten sei, neuerdings gerade angegriffen 56 , was auch im Sonderausschuß bekannt war 57 . Ferner wurde versucht, die neue Schutzrichtung des Tatbestandes durch eine Neubestimmung des Begriffs der Öffentlichkeit durchzusetzen58. Dabei wurde freilich die Rechtsprechung ziemlich resolut in Pflicht genommen: „Das Problem sei, wie man die Rechtsprechung dazu bringen könne, den Begriff „öffentlich' vernünftig auszulegen" 59 ; „Die Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs .öffentlich' werde sich ändern müssen" 60 . Auch hier fühlt man sich verblüfft an die Auslegungsverbote bzw. die Auslegungsmonopole der Aufklärungszeit erinnert. Indessen gibt es in der Tat ein Argument dafür, daß der Tatbestand neuerdings zu einem Individualschutztatbestand geworden ist. Es wurde schon erwähnt, daß das Erfordernis der konkreten Ärgerniserregung einen individualistischen Einschlag enthält. Durch das subjektive Erfordernis der Absicht bzw. Wissentlichkeit hat nun dieses Merkmal eine sehr viel bedeutendere Stellung erhalten als bisher. Das Merkmal der Öffentlichkeit tritt dem gegenüber in den Hintergrund und hat nicht einmal die Funktion, daß der Ärgernisnehmende mit dem Täter nicht durch persönliche Beziehungen verbunden sein darf; die Öffentlichkeit ist ja auch gegeben, wenn nur weitere Personen die Möglichkeit des Zutritts haben. Allerdings erscheint unter diesem Gesichtspunkt die Erhebung der bisherigen Tatbestandsfassung 112

RG HRR 1935, 217. Siehe Geilen, NJW 1970, 2304. 54 Beratungen des Sonderausschusses für die Strafreditsreform, 6. Wahlperiode, S. 1782, 1783, 1785; Bundestags-Drudsache VI/3521, S. 56 f. 58 Bundestags-Drucksache VI/3521, S. 57. 68 Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 61 ff.; Welzel, Das deutsdie Strafrecht, a. a. O., S. 307. 57 Beratungen, 7. Wahlperiode, S. 85. 88 SA-Beratungen, 6. Wahlperiode, S. 1784, 1791, 1792, 7. Wahlperiode, S. 22. M Müller-Emmert, SA-Beratungen, 6. Wahlperiode, S. 1791. M Schlee, a. a. 0 . 1 7 9 2 . 53

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zur offziellen Überschrift als total verfehlt; richtig wäre die Überschrift „öffentliche Erregung von Ärgernis"! Nach unserer Durchmusterung der Tatbestände auf die Rechtsgüter persönliche Freiheit, Nichtabhängigkeit, ungestörte Entwicklung und Anspruch auf Achtung der eigenen Anschauung hin sind nur noch Teile des § 184 sowie die § § 180 a, 181, 181 a und 184 a für eine Analyse verblieben. Bei § 184 a handelt es sich um eine Blankettbestimmung, deren Reditsgut aus dem Zweck der Verbotsmöglichkeit zu entnehmen ist. Dieses ist nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 des 5. StÄG der Schutz der Jugend oder des öffentlichen Anstandes. Letzteres deutet auf den Schutz eines Rechtsguts der Allgemeinheit hin. Indessen ist bei der Änderung des § 361 Nr. 6 c StGB durch das 10. StÄG zur Ausfüllung des Merkmals der Gefährdung des öffentlichen Anstandes vor allem auf die Belästigung der Bewohner hingewiesen worden 61 . Damit rückt auch hier das individuelle Schutzobjekt der Belästigung einzelner in den Vordergrund. Bei § 184 Abs. 1 Nr. 9 ist die Erkenntnis ebenso evident wie verblüffend, daß es sich hier um einen Schutz ausländischer Rechtsordnungen handelt 62 . § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 StGB dienen eindeutig dem Jugendschutz, auch wenn die Gefährdung des Jugendlichen durch die aufgeführten Verhaltensweisen umstritten sein mag. Das gleiche gilt nach der Begründung für die Tatbestände des § 184 Abs. 1 Nr. 3, 4 und 7 StGB, obwohl hier der Strafschutz sehr weit vorverlagert ist, so daß nur sehr abstrakte Gefährdungsdelikte gegeben sind. Noch stärker gilt dies für den Vorbereitungstatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB. § 184 Abs. 3, die Verbreitung sadistischer, pädophiler oder sodomitischer Schriften, läßt sich zunächst einmal als Jugendschutztatbestand, hinsichtlich der sadistischen und pädophilen Schriften auch als Abwehr der Gefährdung der Rechtsgüter der sexuellen Freiheit und des Jugendschutzes begreifen, stellt doch die Äußerung gegen bestimmte Rechtsgüter eine Form des Angriffs auf sie dar 63 . Es verbleiben damit die §§ 180 a, 181,181 a. Bei § 180 a lassen sich die Abs. 2 Nr. 1 (Wohnungsgewährung zur Prostitution an unter 18jährige) und Abs. 4 (Anhaltung von unter " Bundestags-Drucksache VI/293 S. 3. • 2 So auch Bundestags-Drucksache VI/3521 S. 61; Bundestags-Drucksache 7/514

s.u. M

Vgl. F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafredit, 1970, S. 321 f.

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21jährigen zur Prostitution) durchaus als Jugendschutztatbestände in dem dargelegten Sinn ansehen. Abs. 1 N r . 1 (Gewerbsmäßige Unterhaltung eines Betriebs, in dem Personen der Prostitution nachgehen und in persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden) enthält schon seinem Wortlaut nach einen Schutz der Unabhängigkeit. In diese eindeutig lozierbaren Tatbestände werden nun aber, wenn nicht bewußt, so doch jedenfalls objektiv verwirrend Tatbestände sehr zweifelhaften Schutzobjekts eingebettet. An den Abhängigkeitstatbestand in Abs. 1 N r . 1 wird ein Tatbestand angehängt, der die Förderung der Prostitutionsausübung durch über das übliche Maß hinausgehende Maßnahmen erfaßt. Im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens ist immer wieder versucht worden, diesen Tatbestand als „Vorfeld" des Abhängigkeitstatbestandes nach Abs. 1 N r . 1 und damit als Rechtsgut die Unabhängigkeit der Prostituierten darzustellen 64 . Indessen handelt es sich hierbei um ein reichlich abstraktes Gefährdungsdelikt. Noch problematischer ist die Anhaltung eines Mieters zur Prostitution oder die Ausbeutung nach § 180 a Abs. 2. Im Sonderausschuß wurde unverhohlen erklärt, ratio legis sei die Pönalisierung der Ausbeutung 65 . Allerdings wurde dies materiell damit begründet, daß die Ausbeutung die Prostituierte immer tiefer in die Prostitution hineintreibe. Diese Erwägung dürfte zutreffen. Während der zunächst bestehende Entschluß, der Prostitution nachzugehen, noch andere Alternativen des Lebensunterhalts offenläßt, zwingen die exorbitanten Zimmerpreise die Prostituierten in der Tat dazu, noch sehr viel stärker als zum normalen Lebensunterhalt notwendig „anzuschaffen". Noch zweifelhafter im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut erscheint allerdings § 180 a Abs. 3, die gewerbsmäßige Anwerbung zur Prostitution oder zur Verlagerung der Prostitution in ein fremdes Land. Das strafbegründende Merkmal gegenüber der straflosen Verleitung eines Erwachsenen zur Prostitution liegt hier allein in der Gewerbsmäßigkeit. Von hier aus erscheint es nicht einmal über die zweifelhafte Konstruktion des abstrakten Gefährdungsdelikts möglich, ein individuelles Rechtsgut des Tatbestandes aufzuspüren. Selbst wenn man mit der Begründung des Regierungsentwurfs anerkennt, daß die Prostitution f ü r denjenigen, der sich diesem Erwerb hingibt, ein Übel ist, das die Rechtsordnung in seinem Interesse nach Möglichkeit verhüten sollte 66 , erscheint eine solche Pönalisierung fragwürdig, da nicht ein64 Regierungsentwurf, Bundesrats-Drucksache 7. Wahlperiode, S. 20, 54, 55, 59. 65 SA-Beratungen, 7. Wahlperiode, S. 84. M Bundesrats-Drucksache 489/70, S. 25.

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S. 26;

SA-Beratungen,

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mal die gewerbsmäßige Verleitung zum Selbstmord strafbar ist. Bei einer unvoreingenommenen Betrachtung ergibt sich, daß der Gesetzgeber offensichtlich die Prostitution als ein Übel ansieht, deren Ausübung er aus pragmatischen Gründen nicht unter Strafe stellt, deren Förderung er aber unter jedem halbwegs hinreichenden Vorwand zu pönalisieren sucht. Auf der anderen Seite ist es allerdings schwierig, diese Kriminalisierungstendenz in die Formel eines Rechtsguts zu bringen und dem Gesetzgeber entlarvend ein nichtgewolltes Reditsgut vorzuhalten. Es handelt sich hier offensichtlich um eine mehr irrationale Pönalisierung, wobei freilich auch das Streben nach einer Erfüllung der Konvention der Vereinten Nationen von 1949 eine Rolle gespielt haben dürfte 67 . § 181 ist in Nr. 1 (Zuführung zur Prostitution mit Gewalt, Drohung mit einem empfindlichen Übel oder List) ein eindeutiger Freiheitsschutztatbestand, in Nr. 2 (Anwerben oder Entführung zur Verbringung zu sexuellen Handlungen) angesichts des Tatbestandsmerkmals der Ausnutzung der Hilflosigkeit in einem fremden Land ein Tatbestand zum Schutz der Unabhängigkeit. Die Erfassung der Zuhälterei in Form der Ausbeutung einer Prostituierten oder von deren Überwachung bei der Ausübung der Prostitution seines Vermögensvorteils wegen läßt sich auf die Entscheidungsfreiheit der Prostituierten beziehen, da Zuhälter in der Tat einen erheblichen Einfluß auf die Entscheidungsfreiheit der Prostituierten ausüben. Fragwürdig ist allerdings die Erfassung der gewerbsmäßigen Vermittlung der Prostitutionsausübung nach § 181 a Abs. 2. Nach dem Bericht des Sonderausschusses werden diese Verhaltensweisen deshalb erfaßt, weil sie für die Prostituierte die Gefahr begründen, in die in Abs. 1 umschriebene Beschränkung der persönlichen oder wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zu geraten 68 . Nach dem eben Gesagten handelt es sich allerdings bereits in Abs. 1 um die Vermutung einer Gefährdung, mit anderen Worten um eine abstrakte Gefährdung. In Abs. 2 geht es somit um die Gefahr einer Gefährdung. Letztlich dürfte es sich auch hier wieder um die Erwägung handeln, daß die Prostitution ein Übel darstellt, als solche aber nicht strafrechtlich erfaßbar ist, während Beteiligungshandlungen erfaßt werden könnten. Das führt aber dazu, daß alleiniger Bestrafungsgrund die Gewerbsmäßigkeit ist. Es hat sich somit gezeigt, daß die von dem 4. StrRG in dem Abschnitt „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" vorgesehenen Tatbestände ganz überwiegend Rechtsgüter des einzelnen sdiüt• 7 Bundesrats-Drucksache 489/70, S. 27. 68 Bundestags-Drucksache VI/3521, S. 50.

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zen. Eine Ausnahme gilt ganz offensichtlich für § 184 Abs. 1 Nr. 9, der die Beziehungen zu ausländischen Staaten schützt. Die Tatbestände der §§ 180 a, 181 a werden zwar dem Prinzip des Schutzes des Individuums nicht ganz gerecht, enthalten aber andererseits auch keine Rechtsgüter der Allgemeinheit, sondern entziehen sich insoweit einem Rechtsgutsdenken überhaupt. Weitere Bedenken hinsichtlich eines Schutzes des Individuums ergaben sich allenfalls hinsichtlich der Randbereiche der §§ 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3, 174 a. Das Problem einer Zergliederung der Sexualdelikte, die schon vom preußischen Entwurf 1829 verworfen worden war 6 9 und seitdem immer wieder abgelehnt worden ist 70 stellt sich daher nicht mehr. Es geht lediglich noch um die nicht sonderlich bedeutungsvolle Frage, ob man die einzige klar aus den Angriffen gegen den einzelnen herausfallende Bestimmung, nämlich § 184 Abs. 1 Nr. 9, systematisch im Rahmen der Delikte gegen die guten Beziehungen zum Ausland behandelt oder aber als ein Anhängsel bei den Sexualstraftaten beläßt.

VII. Eine letzte Frage besteht darin ob sich für die in dem 13. Abschnitt des StGB in der Fassung des 4. S t r R G geschützten Rechtsgüter eine gemeinsame Sammelbezeichnung finden bzw. sich die Schutzrichtung gegen den einzelnen noch näher spezifizieren läßt. Die bisherige Uberschrift „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit" diskreditierte schon bisher unnötigerweise einen Teil der in diesem Abschnitt vorhandenen Vorschriften und ist nach dessen Umstrukturierung vollends unhaltbar geworden. Der Regierungsentwurf hatte die Überschrift „Sexualstraftaten" vorgesehen. Wir hatten diesem Begriff alsbald entgegengehalten, daß er von der üblichen Bezeichnung der Abschnitte nach Rechtsgütern abweicht und nur noch auf einen bestimmten Lebensbereich abstellt 71 . Es kam hinzu, daß die in dem Abschnitt vorgesehenen Tatbestände aucii nicht sämtlicii dem herkömmlichen Begriff der „Sexualstraftaten" entsprechen72. Wir hatten daher vorgeschlagen, dem Abschnitt die Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" zu geben 73 . Im 6 9 Motive zu dem von dem Revisor vorgelegten, Ersten Entwurf des Criminalgesetzbuches für die preußischen Staaten, III. Bd., 2. Abteilung, 1829, S. 239. 70 Mittermayer, VDB IV S. 9; Maurad), Besonderer Teil, S. 426. 7 1 ZRP 1971, 14 f. 7! Geerds, SA-Beratungen, 6. Wahlperiode, S. 900; Bundestags-Drucksache VI/ 3521 S. 19. 7 3 ZRP 1971, 14 f.

Sexualstraftaten nadi dem 4. StrRG

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Sonderausschuß für die Strafrechtsreform hat der Abgeordnete Freiherr Ostmann von der Leye diese Anregung aufgegriffen und sich unermüdlich für sie eingesetzt 74 . Diesem Begriff wurde entgegengehalten, daß er den Jugendschutz, die Erregung öffentlichen Ärgernisses und die Verbreitung pornographischer Schriften nicht umfasse. Hier sei die Gefahr einer eingehenden Auslegung gegeben. Hiergegen ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Begriff „Selbstbestimmung", wie sich auch aus seiner Verwendung im politischen Sprachgebrauch ergibt, einen weiteren Umfang hat als der der persönlichen Freiheit. Darunter fällt ohne weiteres die Aufdrängung sexueller Vorgänge und Darstellungen gegen den Willen des Betroffenen. Darunter fällt aber auch der Jugendschutz, da dieser sich nur damit begründen läßt, daß bei einem Jugendlichen die Reife des Erwachsenen gegenüber geschlechtlichen Reizen noch nicht gegeben ist und die Verhaltensweise des Jugendlichen daher nicht von ihm selbst, sondern von Faktoren außer ihm bestimmt wird 75 . Unzutreffend ist auch der Einwand, der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung erfasse nicht den für die Erziehung typischen Vorgang des Gebens und Empfangens 76 . Denn die einschlägigen Tatbestände sichern in der Tat nur die Freiheit von Einflüssen, nicht aber ein Geben! Hinsichtlich der ausbeuterischen Zuhälterei ging der Einwand gegen den Oberbegriff der sexuellen Selbstbestimmung weniger gegen den Begriff der Selbstbestimmung als vielmehr dagegen, daß hier die „sexuelle" Selbstbestimmung tangiert werde 77 . Indessen wurde als Rechtsgut der Zuhälterei ja gerade von den Vertretern des Bundesjustizministeriums die Freiheit der Prostituierten angegeben, und zwar die fehlende Freiheit, sich aus dem Milieu der Prostitution zu lösen. Das Übel der Prostitution kann doch aber in nichts anderem liegen als darin, sich fortgesetzt sexuellen Beziehungen mit wechselnden Personen ohne nähere Bindung hingeben zu müssen. Damit liegt auch hier ein Delikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung vor. Uberhaupt muß man festhalten, daß die Einwendungen der Regierungsvertreter gegen die Verwendung des Begriffs der „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" hinsichtlich der Kuppeleitatbestände zum Teil in einem gewissen Widerspruch standen zu den früheren Darlegungen, mit welchen diese Tatbestände als verlängerter Freiheitsschutz dargetan wurden. 74

Protokolle 6. Wahlperiode S. 1301, 2031 ff., 2118; 7. Wahlperiode S. 8, 48 ff. Unglücklich allerdings die Äußerung Ostmann von der Leyes, es handle sich hierbei um eine Fiktion (Beratungen, 7. Wahlperiode, S. 48)! 76 Horstkotte, SA-Beratungen, 7. Wahlperiode, S. 49. 77 Horstkotte, SA-Beratungen, 6. Wahlperiode, S. 2033; Sturm, SA-Beratungen, 7. Wahlperiode, S. 49. 75

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Auf der anderen Seite ist dem Begriff der „sexuellen Selbstbestimmung" auch entgegengehalten worden, er sei zu allgemein; letztlich könne jede Bestimmung des Strafgesetzbuches in irgendeiner Form auf das Selbstbestimmungsrecht bezogen werden 78 . Dies ist allerdings kein Gegenargument. In der Tat steht hinter fast allen Delikten gegen den einzelnen die Mißachtung des fremden Willens, und mit Redit wird daher neuerdings die Einwilligung zunehmend bereits in Rechtsgut und Tatbestand eingebaut. Das Rechtsgut „sexuelle Selbstbestimmung" enthält jedoch eine durchaus beachtliche Spezifizierung der allgemeinen Riditung gegen den einzelnen. Es ist nach alledem zu begrüßen, daß der Sonderaussdiuß für die Strafrechtsreform in letzter Minute und mit knappster Mehrheit die Abschnittsüberschrift beschlossen hat: „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung". Die Vertreter des Bundesjustizministeriums haben zwar noch listenreich versucht, die hierin enthaltene Aussage aufzuheben, indem sie mit Erfolg die Einfügung des Wortes „jeweils" vor „das geschützte Rechtsgut" in § 184 c beantragten. Indessen deutet dies schon der Aussdiußbericht treffend dahin, daß „sich das einheitliche Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung in den einzelnen Tatbeständen in verschiedener Weise konkretisert" 7 9 .

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Krüger, SA-Beratungen, 6. Wahlperiode, S. 2033. Bundestags-Drucksadie 7/514 S. 12.

Zum „Rechtsgut" der Bestechungsdelikte FRITZ LOOS,

Bonn

Als es in den Jahren 1959 bis 1961 aus Anlaß einiger die Öffentlichkeit beunruhigender Bestechungsskandale zu einer heftigen Kontroverse um die Auslegung der Bestechungsdelikte kam, war Gegenstand des Streits auch das „Rechtsgut" oder die „Rechtsgüter" dieser Delikte. Auf eine kurze Formel gebracht standen sich zwei Ansichten gegenüber1: nach der einen Auffassung sollten die §§331 f. StGB vor einer „Verfälschung des Staatswillens" schützen, nach der anderen war Schutzobjekt die Funktionsfähigkeit der staatlichen Verwaltung 1 ". Wortführer der ersteren Ansicht war Eberhard Schmidt2, dem wohl die Mehrzahl der Stimmen in der Wissenschaft beipflichtete3. Die Gegenthese wurde zur Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs4, der Unterstützung in einer Reihe von Aufsätzen von Richtern und Staatsanwälten fand 5 ; aber auch Hans Welzel6 und Horst Schröder1 stimmten dem BGH zu. Nach der ersteren Aufassung ist unter den beiden Tatbeständen der passiven Bestechung, auf die sich die hier vorgelegte Untersuchung beschränkt, der Tatbestand des § 332 StGB der „leitende": erst mit der pflichtwidrigen Amtshandlung, die im Gegensatz zu § 331 in § 332 als Äquivalent des Vorteils erforderlich ist, wird der Bereich der Staatswillensverfälschung erreicht. § 332 1

Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafredit, 11. Aufl., 1969, S. 539. Die hier — im wesentlichen Horst Schröder, GA 1961, S. 289, 290—292 folgend — formulierte Alternative ist insbesondere deswegen vereinfachend, weil die Anhänger der „Staatswillensverfälschungslehre" fast immer auch die Funktionsfähigkeit der Verwaltung im allgemeinen als Schutzgut verstehen. Vgl. dazu insb. Fn. 39, 40 und Text zu diesen Fußnoten. 2 Die Bestediungstatbestände in der hödistriditerlichen Rechtsprechung von 1879 bis 1959, 1960, S. 79 ff., insbes. 81 f. (Nr. 139 ff., insbes. Nr. 143); Die Sache der Justiz, 1961, S. 62 ff. 3 Z.B. Baumann, Zur Problematik der Bestediungstatbestände, 1961, S. 8 ff.; Bockelmann, ZStW Bd. 72, S. 251, 257; Henkel, JZ 1960, S. 507, 508; Arthur Kaufmann, JZ 1959, S. 375—377; Ulrich Klug, JZ 1960, S. 724, 725; Maurach, BT, 5. Aufl., 1969, S. 749 f. * Grundlegend BGH 15, S. 88, 96 f.; vgl. BGH 15, S. 352, 354; BGH 15, S. 239, 242. 5 Die Rechtsgutsproblematik wird freilich nur selten gründlicher aufgenommen; vgl. z.B. Kirschbaum-Schmitz, GA 1960, S. 321, 344; Stein, NJW 1961, S. 433, 435 ff.; deutlicher dagegen Hans Fuhrmann, ZStW Bd. 72 (1960), S. 534, 537—539. 6 Vgl. Das Deutsche Strafrecht, 9. Aufl., 1965, S. 488. 7 Das Rechtsgut der Bestechungsdelikte und die Bestechlichkeit des Ermessensbeamten, GA 1961, S. 289 ff.; Sthönke-Schröder, 11. Aufl., 1963, Rn. 1; ähnlich schon a. a. O., 10. Aufl., 1961 § 331 I. la

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wird zu einem „weit in den Versudisbereich" vorverlegten Delikt 8 ; hinreichend, aber auch notwendig ist die Absicht der Staatswillensverfälschung im Zeitpunkt der Annahme, des Forderns oder des Sich-Versprechen-Lassens eines Vorteils9. § 331 wird demgegenüber zu einer „Art abstrakten Gefährdungsdelikts"10, da sich der Beamte, der für eine pflichtwidrige Amtshandlung einen Vorteil annehme11, in die Gefahr begebe, später auch um des Vorteils willen eine pflichtwidrige Amtshandlung vorzunehmen12. Demgegenüber sehen der BGH 1 3 und insbesondere Schröder, der die von der Rechtsprechung entwickelten Gesichtspunkte in einen systematischen Zusammenhang zu bringen versuchte14, in jeder Vorteilsannahme, also gleichgültig, ob der Vorteil Äquivalent einer pflichtmäßigen oder einer pflichtwidrigen Handlung ist, eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung, und zwar durch die Erschütterung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Sachlichkeit der Verwaltungsentscheidungen. § 332 wird dann zur Qualifikation des § 331, da eine stärkere Erschütterung des Vertrauens des Publikums eintrete durch den Anschein der Käuflichkeit pflichtwidriger Amtshandlungen15 16 . Aus diesen gegensätzlichen Rechtsgutsbestimmungen sind keineswegs für alle konkret-praktischen Fragen, die im eingangs erwähnten Streit kontrovers waren, Folgerungen gezogen worden. Gerade für die damals am heftigsten umstrittene Frage, unter welchen Voraussetzungen nämlich die Amtshandlung eines Ermessensbeamten pflichtwidrig 8 So schon Binding, Handbuch I 2, 1905, S. 7 2 6 ; zustimmend Eb. Schmidt, Bestechungsdelikte, S. 80 (Nr. 141). 6 Z. B. Baumann, a. a. O. S. 29 ff., 34 f.; Eb. Schmidt, Bestediungsdelikte, S. 79 ff. (Nr. 140 ff.). 10 Arthur Kaufmann, J Z 59, 377; zustimmend Eb. Schmidt, Bestediungsdelikte S. 149 (Nr. 2 6 7 ) ; Maurach, BT. 5. Aufl., S. 749 f. 11 Aus Gründen der einfacheren Darstellung wird hier und weiter unten die Vorteilsannahme stellvertretend auch für die anderen Handlungsmodalitäten verwandt. 12 Zu dieser bis auf Feuerbach zurückgeführten Begründung vgl. Binding, a. a. O., S. 7 3 1 ; Arthur Kaufmann, a. a. O., S. 377. 13 B G H 15, S. 88, 96 f.; S. 352, 354. Damit wird die Entscheidung R G 39, S. 193, 201 f. im Ergebnis bestätigt. 14 G A 61, S. 2 9 2 ; vgl. Baldus, L K (9. Aufl.), Vor § 331 Rn. 20. 15 Schröder, GA 61, S. 2 9 2 ; B G H 15, S. 354. M Diese beiden Alternativen der Charakterisierung des „Wesens" der Bestechungsdelikte dürften nach dem heutigen Diskussionsstand allein noch relevant sein. Die Deutungen, geschützt seien die „Unentgeltlichkeit" von Amtshandlungen bzw. die „Reinheit" der Amtsführung (Literaturnachweise bei Schönke-Schröder, § 331, Rn. 1 a) sind entweder zu formal oder zu unbestimmt; meist werden sie sich freilich, wie sich in der Formel von der „Unverkäuflidikeit" von Amtshandlungen andeutet, an eine der beiden im Text genannten Alternativen annähern lassen. Erheblich sind freilich noch die Versuche, beide Alternativen zu kombinieren; dazu unten Anm. 40 und dort im Text.

Zum „Rechtsgut" der Bestechungsdelikte

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i. S. des § 332 sei, ist auf die Rechtsgutsargumentation nur am Rande rekurriert worden 17 . In der Tat läßt sich aus den oben wiedergegebenen Lehren zum Rechtsgut der Bestechungsdelikte für diese Frage nichts gewinnen, denn beide Lehren setzen voraus, daß der Umfang der Pflichtwidrigkeit der Amtshandlung, sei es als Charakteristikum der Staatswillensverfälschung, sei es als Qualifikationsmerkmal der Erschütterung des Publikumsvertrauens, schon zuvor geklärt ist. Praktisch relevant werden die Rechtsgutsüberlegungen erst bei der Kontroverse, ob der Beamte zur Erfüllung des Tatbestandes des § 332 die pflichtwidrige Amtshandlung tatsächlich beabsichtigt haben müsse — so die „Staatswillensverfälschungstheorie" Eb. Schmidts18 — oder ob die Bekundung einer solchen Absicht, gleichgültig, ob der Täter sie wirklich hat, noch schwankt19 oder sie nur vorspiegelt, genügt — so die „Vertrauensgefährdungslehre" des B G H und Schröders, nach der der Anschein der Käuflichkeit pflichtwidriger Handlungen ausreicht20 2 1 . Die Diskussion um die Bestechungsdelikte endete 1961 ziemlich abrupt, ohne daß in den Streitpunkten, insbesondere auch über das 17 Die von Schröder, GA 61, S. 289, 293 in Aussicht gestellte Lösung der Problematik der Pflichtwidrigkeit der Ermessensentscheidung mit Hilfe seiner Rechtsgutserwägungen wird bei genauerem Zusehen nicht gegeben. Schröder behandelt vielmehr ausschließlich die Frage, ob der Beamte bei Vorteilsannahme die Absicht gehabt haben müsse, die pflichtwidrige Handlung zu begehen (S. 293 ff.); das aber ist keine für den Ermessensbeamten spezifische Problematik, wie auch Rudolf Schmitt, ZStW Bd. 73 (1962), S. 414, 436 f. für die Auffassung, die auf die Erklärung abstellt, zugibt (vgl. allerdings auch a. a. O. S. 432 ff.). — Zur Problematik der aktiven Bestechung bei Ermessensbeamten vgl. neuestens Dornseifer, J Z 73, S. 267 ff. 18 Vgl. nur Bestediungsdelikte S. 81 (Nr. 143), 149 (Nr. 267). 19 Diese Fallkonstellation ist, soweit ersichtlich, in der Judikatur nicht aufgetaucht und wird auch literarisch nicht erörtert. Die von R. Schmitt, a. a. O., S. 433 f., erwähnten Parallelfälle sind anders gelagert. 2 0 BGH 15, S. 96 f.; Schröder, GA 61, S. 292. 2 1 Außerdem wird die Relevanz der Rechtsgutsbestimmung noch für die Frage behauptet, ob zwischen einer Tat nach § 331 und einer Tat nach § 332 Fortsetzungszusammenhang möglich ist. Der BGH hatte in der Entscheidung B G H 12, S. 146, also vor der Grundsatzentscheidung BGH 15, S. 88, Fortsetzungszusammenhang zwischen einfacher und schwerer Bestechlichkeit verneint, da zwischen § 331 und § 332 nicht das Verhältnis von Grundtatbestand und Qualifizierung bestehe; die in § 331 vorausgesetzte pflichtmäßige Amtshandlung schließe die pflichtwidrige des § 332 aus. Arthur Kaufmann, der dieser problematischen Auffassung zum Verhältnis von § 331 und § 332 zustimmt, hält diese Argumentation nidit für ausreichend; entscheidend sei — und damit stimmt er im Ergebnis dem BGH zu —, daß § 331 nur ein abstraktes Gefährdungsdelikt, eine Art „Polizeidelikt" sei und deshalb mit dem Staatswillensverfälsdiungsdelikt des § 332 kein Fortsetzungszusammenhang in Betracht kommen könne (JZ 59, 377; zustimmend Eb. Schmidt, Bestediungsdelikte S. 147 ff. [Rn. 266, 267]). Demgegenüber hält Schröder Fort-

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„Wesen" der Bestechungsdelikte, Einigkeit erzielt worden wäre. Gemeinsam war bisher nur die Uberzeugung, daß die „Staatswillensverfälschungslehre" zur Konsequenz habe, die Absicht der Begehung einer pflichtwidrigen Handlung als Voraussetzung der Erfüllung des Tatbestandes des § 332 zu fordern. Demgegenüber führte die „Vertrauensgefährdungslehre" zum Verzicht auf dieses Merkmal. Diese gemeinsame Überzeugung wird nun in Frage gestellt in der Begründung des Entwurfs zu einem Einführungsgesetz zum StGB21". Dieser Entwurf sanktioniert weitgehend die Rechtsprechung des BGH, insbesondere wird durch § 332 III n. F. klargestellt, daß das „SichBereitzeigen" zur pflichtwidrigen — freilich künftigen — Diensthandlung bereits den Tatbestand der schweren Bestechlichkeit22 erfüllt 23 . Die Begründung zum Entwurf rückt aber von der systematischen Konzeption des BGH und seines Interpreten Schröder ab und sucht die Regelung des § 332 III n. F. mit dem Gesichtspunkt der Staatswillensverfälschung in Verbindung zu bringen. Schon die Erklärung der Bereitschaft zur pflichtwidrigen Diensthandlung bedeute setzungszusammenhang für möglich, da beide Bestechlichkeitsdelikte abstrakte Gefährdungen der Integrität der Verwaltung darstellen (Schönke-Schroeder, 16. Aufl., § 331 Rn. 3, 30; überraschenderweise ohne Begründung abweichend Baldus, LK, 9. Aufl., § 331 Rn. 44). — Demgegenüber hält Geerds, Uber den Unreditsgehalt der Bestechungsdelikte und seine Konsequenzen für Rechtsprechung und Gesetzgebung, 1961, S. 55 Anm. 293, Fortsetzungszusammenhang zwischen dem abstrakten Gefährdungsdelikt § 331 und dem konkreten Gefährdungsdelikt § 332 für möglich. In diesen Zusammenhang gehört audi die Frage, ob der Beamte, der irrig die von ihm vorgenommene Amtshandlung als pflichtmäßig qualifiziert, wegen vollendeter einfacher Bestechlichkeit nadi § 331 bestraft werden könne oder ob nur strafloser Versuch vorliege (für letzteres Eb. Schmidt, Bestechungsdelikte, S. 114 [Nr. 202]; nicht ganz eindeutig Arthur Kaufmann, JZ 1959, S. 375, 376). Soweit hier darauf abgestellt ist, daß § 331 von einer an sidi nicht pflichtwidrigen Amtshandlung spricht, dürfte das Gegenargument von Geerds, a. a. O., S. 55 Fn. 293, überzeugen, daß es sidi um eine bloße Abgrenzungsformel handele. Wird dagegen der Unrechtsgehalt von § 331 und § 332 als in völlig heterogenen Ebenen liegend angesehen, wie es wohl Eb. Schmidts Intention entspricht (Bestechungsdelikte, S. 147 f. Nr. 267), könnte man der Formel positive Bedeutung zusprechen. 210 Freilich hatte Baumann (Bestediungsdelikte, S. 11) darauf hingewiesen, daß im Falle der Bestechungsdelikte erst die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale Klarheit über das geschützte Rechtsgut verschaffe (zustimmend Baldus, LK, Vor §331, Rn. 18; Maurach, BT, S. 749). Die hier vorgelegte Untersuchung ist geeignet, diesen Verdacht zu bestätigen; ihre Aufgabe ist es gerade, zu klären, warum die Rechtsgutsargumentation im Bereich der Bestechungsdelikte besonders problematisch ist. 22 In der Terminologie des Entwurfs zum EGStGB, der hier nadi der Drucksache 7/550 der 7. Wahlperiode des Deutschen Bundestages zitiert wird, der „Bestechlichkeit" im Gegensatz zur „Geschenkannahme". 25 In § 332 III des Entwurfs wird klargestellt, daß sidi der Beamte zur künftigen pflichtwidrigen Diensthandlung bereit zeigen muß und die Begründung

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eine — offenbar k o n k r e t e — G e f a h r einer Staatswillensverfälsciiung i m k o n k r e t e n F a l l e 2 4 . D a m i t k ö n n t e gemeint sein — die B e g r ü n d u n g ist nicht eindeutig — , d a ß m i t G e s c h e n k a n n a h m e u n d B e r e i t e r k l ä r u n g d e r B e a m t e sich einer D r u c k s i t u a t i o n aussetzt, so d a ß er sich t r o t z gegenteiliger Absicht v e r a n l a ß t sehen k ö n n t e , schließlich doch die pflichtwidrige H a n d l u n g v o r z u n e h m e n : aus F u r c h t v o r d e r O f f e n b a r u n g des Bestechers 2 5 . D i e A r g u m e n t a t i o n s b a s i s d e r B e g r ü n d u n g z u m E G S t G B ist also ebenfalls die Staatswillensverfälschungslehre. D a m i t w i r d die F r a g e , o b diese L e h r e de lege l a t a u n d de lege f e r e n d a den S t r a f g r u n d der Bestechungsdelikte angemessen deutet, v o r r a n g i g v o r Ü b e r l e g u n g e n , o b die B e g r ü n d u n g einen psychologisch richtigen Gesichtspunkt v o n statistischer R e l e v a n z trifft o d e r o b d a m i t n u r der „ V e r d a c h t " bestätigt w i r d , hier w e r d e verdeckt die — angeblich bedenkliche — B e weiserleichterung eingeführt, d e r R i c h t e r u n d S t a a t s a n w ä l t e w e g e n d e r besonderen Beweisschwierigkeiten offen das W o r t geredet h a t t e n 2 8 .

(S. 273 f.) betont, daß der Beamte eine Äußerung abgeben muß, die objektiv als Sich-Bereit-Erklären zu einer pflichtwidrigen Diensthandlung zu deuten ist; es genügt also nicht die Annahme des Beamten, der Partner verstehe die Vorteilsannahme als Bereit-Erklären. Auf die entsprechende Äußerung und nidit auf die Vorstellung des Partners muß sich entsprechend auch der Vorsatz des Beamten beziehen. Darin könnte eine gewisse Abweichung von der Auffassung in BGH 10, S. 237, 241 f., die von BGH 15, 98 rezipiert zu sein scheint (nidit ganz eindeutig BGH 15, S. 239 ff.: S. 242 einerseits, S. 250 andererseits), gesehen werden, wonach es genüge, wenn der Beamte mit „bedingtem Vorsatz" von einer entsprechenden Vorstellung des Partners ausgehe. Wegen der besonderen Situation bei kommunikativen Akten dürfte der Unterschied freilich kaum erheblich sein: auch nach dem Entwurf genügt es, wenn der Beamte bei Geschenkannahme damit rechnet, der Adressat verstehe die Geschenkannahme als konkludente Bereiterklärung (vgl. Begründung a. a. O., S. 274). Nur eine „objektive" Unerkennbarkeit, bei der freilich der „Empfängerhorizont" kaum ausgeklammert werden kann, nicht aber ein Mißverständnis des Partners dürfte nach dem Gesetzeswortlaut auch in Zukunft die Vollendung ausschließen. 24 A. a. O. S. 269 f., 273 f. — Die Begründung zum Entwurf nennt freilich als primäres Rechtsgut die „Lauterkeit des öffentlichen Dienstes" (a. a. O., S. 269). Die nähere Erklärung lautet dahin, daß „die Käuflichkeit von Diensthandlungen und die Befangenheit der Bediensteten durch einen Vorteil bei der Erfüllung ihrer Pflichten und damit auch eine Verfälschung des Staatswillens" verhindert werden solle. Aus dem Dreischritt Käuflichkeit-Befangenheit-Staatswillensverfälschung wird die Annäherung an die Staatswillensverfälschungslehre deutlich, wenn auch die Entwurfsbegründung eine eindeutige Stellungnahme vermeidet und auch die Deutung der Bestediungsdelikte vom Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit her nicht ganz ausschließt (a. a. O., S. 269 f.). 25 Im Falle des noch Unentschlossenen, der auch hier nicht erwähnt wird, ließe sidi a fortiori argumentieren. 24 Vgl. neuestens Baldus, LK, Vor § 331 Rn. 20.

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Die Staatswillensverfälschungslehre ist einer ausdrücklichen Kritik von Horst Schröder unterzogen worden 27 . Schröders Kritik stützt sich auf die Gesetzeslage, die, wie sich zeigen wird, insoweit freilich durch das EGStGB unverändert bleiben wird; sein Ansatz ist im Prinzip ein positivistischer. — Schröder gewinnt sein erstes Argument daraus, daß die Bestechungsdelikte, und zwar auch die schwere passive Bestechung, keine „Bestimmungsdelikte" seien, da auch die nachträgliche Belohnung für die Tatbestandserfüllung ausreiche28. Demnach gehe es nicht an, § 332 als „Verkauf des Staatswillens" zu verstehen 29 . Damit ist allerdings nur nachgewiesen, daß § 332 nicht vom do-ut-des-Prinzip, Staatswillensverfälschung gegen Vorteil, ausgeht. Gegen die konstitutive Bedeutung der Staatswillensverfälschung selbst läßt sich daraus nichts ableiten. Entscheidend ist auch für Schröder allerdings ein weiteres Argument. Schröder30 weist darauf hin, daß die pflichtwidrige Amtshandlung, also die Staatswillensverfälschung, als solche nicht generell strafbar ist und, so können wir hinzufügen, es auch nach dem EGStGB nicht sein wird. Dagegen führt die Geschenkannahme für eine Amtshandlung stets zur Strafbarkeit, zur verschärften allerdings nur, wenn die Geschenkannahme im Zusammenhang mit einer pflichtwidrigen Amtshandlung steht. Daraus schließt Schröder, daß nicht die Staatswillensverfälschung, sondern die Geschenkannahme im Mittelpunkt der Bestechungsdelikte stehe, und er folgert weiter, nicht die konkrete Staatswillensverfälschung, sondern die abstrakte Gefährdung des Vertrauens in den Staatsapparat solle durch § 331, aber auch durch § 332 verhindert werden 31 . Der erste Schluß Schröders scheint unmittelbar einleuchtend. Es läßt sich freilich einwenden, die Staatswillensverfälschung geschehe typischer- und gefährlicherweise gerade im Zusammenhang mit Vor27

GA 1961, S. 289 ff. Ansätze zur Kritik werden freilich auch schon von Arthur Kaufmann, JZ 1959, 375 ff., erörtert. 29 Das ist heute ganz unbestrittene Auslegung (a. A. Binding, Handbuch a. a. O., S. 712 ff., 727 f.) und wird in §§ 331, 332 des Entwurfs zum EGStGB ausdrücklich geklärt („eine Diensthandlung vorgenommen hat"). In § 332 III des Entwurfs wird allerdings, offenbar unter dem Eindruck der Kritik Eb. Schmidts an der mangelnden Gleichwertigkeit der Verhaltensweisen (Bestediungsdelikte, S. 91 [Nr. 162]), die Strafbarkeit wegen schwerer Bestechlichkeit auf die Fälle beschränkt, in denen der Beamte einen Vorteil für eine künftige Diensthandlung annimmt, wenn er sich bereit zeigt, seine Pflichten zu verletzen oder sein Ermessen durch den Vorteil beeinflussen zu lassen. Vgl. dazu noch unten Anm. 58. 29 A. a. O., S. 290. 50 A. a. O. S. 291; hierzu auch der Hinweis von Baldus, LK, Vor § 331 Rn. 19, daß § 334 trotz seiner gegenüber § 332 noch erhöhten Strafdrohung eine „Staatswillensverfälschung" nicht voraussetzt. 31 A. a. O. S. 291 f.

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teilsgewährungen 32 . Die diesem Einwand zugrundeliegende H y p o these hätte sogar einige Wahrscheinlichkeit für sich. Zwar dürften pflichtwidrige Amtshandlungen aus sehr unterschiedlichen Motiven begangen werden. Ohne empirische Untersuchungen 33 scheinen sich aber nur noch zwei typische Gruppen herausheben zu lassen: die Gruppe der Eigenbegünstigung und die Gruppe der Protektion, sei es, um sich eine Klientel zu schaffen 34 , sei es aus Gruppensolidarität 3 5 . Die wichtigsten Fälle der Eigenbegünstigung dürften aber schon von den Vermögenstatbeständen — einschließlich der qualifizierenden und ergänzenden Amtsdelikte — erfaßt werden, jenseits dieser dürfte die Möglichkeit der Eigenbegünstigung durch pflichtwidrige Amtshandlungen eher zufällig sein. Die Fälle der Protektion dagegen sind — im Vergleich zur relativ eindeutigen Vorteilsgewährung — tatsächlich schwerer greifbar und ihre Bewertung dürfte kaum ganz unumstritten sein. Schröders Argumentation verliert damit sicher nicht alle Plausibilität, aber doch ihre Stringenz. Deshalb soll untersucht werden, ob sich eine Kritik an der Staatswillensverfälschungslehre nicht von einem anderen Ausgangspunkt als dem Schröders führen läßt. Statt nach der Vereinbarkeit einer Rechtsgutskonzeption mit der konkreten Gesetzeslage zu fragen, soll zu klären versucht werden, was denn eigentlich Staatswillensverfälschung bedeutet, welche Schutzobjekte dadurch verletzt werden oder ob diese letztere Fragestellung vielleicht ganz unangemessen ist. Was die Auswirkungen der Staatswillensverfälschung betrifft, so läßt sich zunächst nicht bestreiten, daß durch pflichtwidrige Amtshandlungen „Zustände" geschaffen werden, welche die Rechtsordnung mißbilligt, oder „Zustände" nicht geschaffen werden, welche die 3 2 Die Begründung mit der typischen Gefahr führt allerdings zu Schwierigkeiten in den Fällen, in denen der Beamte nachträglich einen Vorteil annimmt, ohne bei der Durchführung der pflichtwidrigen Handlung an eine mögliche Vorteilserlangung gedacht zu haben. 3 3 Der empirische Ansatz von Geerds und der von ihm herangezogenen Untersuchungen (Geerds, Über den Unrechtsgehalt der Bestechungsdelikte, S. 18 ff., 27 ff.) ist für diese Fragestellung zu eng, da er Fallgruppen im Bereich der gegenwärtigen Bestediungstatbestände untersucht, nicht aber Fallgruppen von allgemeinen Amtspflichtverletzungen. 5 4 In einem Teil dieser Fälle wäre vom Standpunkt des subjektiv-immateriellen Vorteilsbegriffs (vgL Schönke-Schröder, 16. Aufl., § 331 Rn. 7) sogar an Bestechung i. S. des geltenden Rechts zu denken. Freilich ist außer einem Vorteil i. S. der §§ 331 ff. StGB, der im Zuwachs an Einfluß liegen könnte, auch erforderlich, daß er nach der „Unrechtsvereinbarung" vom Protegierten zu gewähren ist. D a s käme in Betracht, falls Erkenntlichkeit versprochen wird. D a hier aber gleichermaßen Aktualität und Konkretheit fehlen, dürften die möglichen Grenzen auch eines extensiv verstandenen Vorteilsbegriffs überschritten sein. 3 5 Im letzteren Fall kommen natürlich auch Benachteiligungen in Betracht.

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Rechtsordnung zu schaffen verlangt. Damit scheint sogar dem traditionellen Rechtsgutsbegriff — das Rechtsgut als positiv gewerteter Zustand — Genüge getan zu sein36. Damit wären allerdings Schutzgüter der Bestechungsdelikte sämtliche Objekte, auf die staatliche Verwaltungstätigkeit überhaupt Einfluß nimmt. Das bedeutet nicht nur, daß Schutzobjekte der Bestechungsdelikte wichtigste Realisierungen von Staatszwecken genau so sein können wie minimale Abweichungen von irgendwelchen Verwaltungsvorschriften, wobei im letzteren Falle der Strafrahmen des § 332, auch der des Entwurfs 37 , schwer erklärlich wird. Unabhängig von dieser Erfassung von qualitativ und quantitativ Ungleichartigem ergäbe sich das Kuriosum eines völlig unspezifischen Schutzobjekts38. Obwohl die Vertreter der Staatswillensverfälschungslehre ihre Prinzipien nirgendwo näher erläutern39, läßt sich freilich annehmen, daß ihnen ein derartiges Schutzobjekt ebenso wenig vorschwebt40, wie man bei §§ 153 ff. StGB das konkrete im Streit befangene Objekt als Schutzgut betrachtet41. An der Idealkonkurrenz von §§ 331 f. mit z. B. § 346, 347, 348 StGB wird denn auch ebensowenig gezweifelt, wie an der Idealkonkurrenz von Meineid mit Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft oder mit Prozeßbetrug. Wenn aber auch nach dem Ausgangspunkt der Staatswillensverfälsdiungslehre nicht die konkreten „Zustände" die Schutzobjekte der §§ 331 f. StGB sind, dann bleibt offenbar der Verstoß gegen das Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung 8 8 Die Kennzeichnung der Rechtsgüter als Zustände läßt sich mindestens bis auf den unter Bindings und Oppenheimers Einfluß stehenden Max Hirschberg (Die Schutzobjekte des Verbrechens, 1910, S. 7 2 ) zurückverfolgen. Diese in der Dogmengeschichte immer wieder auftauchende Formel findet sich in der monographischen Literatur zum Reditsbegriff zuletzt bei Jäger, Strafgesetzgebung und Rechtsgüter schutz bei den Sittlichkeitsdelikten, 1957: Rechtsgüter sind werthafte, verletzbare und schützbare soziale Zustände (a. a. O. S. 14). 8 7 Regelstrafrahmen: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 3 8 Vgl. auch hier wiederum den Hinweis von Baldus, L K , Vor § 331, Rn. 19 auf § 334, der sich einer solchen Rechtsgutsdeutung von vornherein nicht einfügen ließe. 3 * So findet sich etwa keine eindeutige Aussage dazu, ob die Zwecke der in den Amtspflichten konkretisierten Normen zu Schutzobjekten werden oder das Prinzip gesetzmäßiger Verwaltung; vgl. dazu sogleich im Text. 4 0 Das wird deutlich bei allen Autoren, die dazu neigen, die Staatswillensverfälsdiung als qualifizierte Gefährdung der allgemeinen Verwaltungstätigkeit zu verstehen (vgl. z . B . Baumann, a . a . O . S. 8 ; besonders eindeutig Geerds, a.a.O., S. 53 ff., der sich freilidi insoweit auch von Arthur Kaufmann, a. a. O. S. 376 f. und Eb. Schmidt, Bestechungsdelikte, S. 147 ff. [Nr. 267] absetzt). Vgl. aber auch Schröder, der sidi gegen die Orientierung der von ihm bekämpften Lehre an der konkreten Amtshandlung absetzen will (GA 1961, S. 289, 291 f.). 4 1 Vgl. nur Kohlrausch-Lange, 43. Aufl., 1961, Vor § 153 Bern. I I I ; SchönkeSchröder, Vor § 153 Rn. 2 ; Rudolphi, GA 1969, S. 129 ff., 137 ff.

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als solches. Damit aber wird die Struktur des Schutzzweckes der Bestechungsdelikte grundlegend verschoben. Entscheidend sind dann nicht mehr die durch das Fehlverhalten hervorgerufenen Auswirkungen, das Verfehlen der konkreten Verwaltungszwecke, entscheidend ist dann vielmehr, daß das Verhalten der Beamten von dem ihnen vorgeschriebenen Verhalten abweicht; denn das Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung ist als ein normatives Prinzip nicht „kausal" verletzbar. Es besteht vielmehr lediglich ein Widerspruch zwischen dem tatsächlichen Verhalten und einem normativen Prinzip, vermittelt durch den Widerspruch gegen eine konkrete Norm41". Daraus folgt keineswegs, daß nach der Staatswillensverfälschungslehre die den Bestediungstatbeständen zugrundeliegenden Normen nichts anderes als die Achtungsbezeugung vor dem Geßlerhut verlangten. Als Sinn der Bestechungsdelikte bleibt offenbar auch nach dieser Lehre der Schutz des Funktionierens der Verwaltung gegen die Gefahren, die ihr durch Bestechlichkeit drohen. Damit ist der Ausgangspunkt der Sdiröderschen Bestimmung des Schutzzweckes, nämlich Schutz vor „abstrakter" Gefährdung der staatlichen Verwaltung, als zutreffend erwiesen. Ob das freilich zu den von Schröder gezogenen Konsequenzen führen muß, erfordert eine grundsätzlichere Überlegung darüber, wie eine Institution wie die staatliche Verwaltung überhaupt gegen „abstrakte Gefährdungen" geschützt werden kann. Soziale Institutionen und individuelle Interessen können als die beiden „Letztzwecke" von Strafrechtssätzen angesehen werden42.

410 Sieht man im (noch näher zu bestimmenden) „Verstoß" gegen das Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung das Qualifikationsmerkmal des § 332 gegenüber § 331, wird die Beschränkung des § 332 auf die Diensthandlung im geltenden Recht und im Entwurf zweifelhaft. Auch in den Fällen, in denen der Beamte für eine den Bürger begünstigende Tätigkeit, zu der er verpfliditet ist, einen Vorteil verlangt, wird gegen das genannte Prinzip verstoßen. Allerdings dürfte das kriminalpolitisdie Bedürfnis nach einer derartigen Erweiterung des § 332 wegen der Abdeckung zumindest der wichtigsten Fälle durch §§253/331/73 (möglicherweise kommt auch ergänzend § 240 in Betracht), nicht allzu drängend sein, zumal hier als außerstrafrechtliches Regulativ der auch präventiv wirksame verwaltungsrechtliche Rechtsschutz eingreift. 42 Die folgenden Ausführungen sind zu einem erheblichen Teil den begrifflichen Klärungen in Amelungs „Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft" (1972) verpfliditet (vgl. vor allem a . a . O . S. 87 ff., 174 ff., 201 ff., 273 ff.); Amelung hat seinerseits den erheblichen Gewinn, den die Unterscheidung Weheis zwischen dem Schutzobjekt der Norm (Rechtsgut i. S. Welzels) und dem Schutzzweck der Sanktion (in: Studien zum System des Strafrechts, ZStW Band 58, 1939, S. 491, S. 511 Anm. 30) für die Rechtsgutslehre darstellt, in ein deutliches Licht gerückt und darauf aufgebaut (insbes. a. a. O., S. 165 ff., 187 ff., 212 f., 273 ff.). Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Amelung ist im vorgegebenen Rahmen nicht möglich. Ich beschränke mich daher auf die Andeutung einiger Vorbehalte gegen die bei Amelung zumindest als Gefahr auftauchende monistische Deutung der Strafrechtszwecke von

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Beide Gruppen von Schutzobjekten lassen sich wieder aufeinander reduzieren: je nach Perspektive erscheinen die sozialen Institutionen als Voraussetzungen individueller Interessenbefriedigung oder individuelle Interessenbefriedigung als Voraussetzung des Bestandes sozialer Institutionen 43 . Mit einer derartigen Reduzierung ist aber nichts gewonnen, im Gegenteil, wichtige Unterschiede zwischen den verschiedenen Schutzzwecken zuzuordnenden Deliktsgruppen, die sich typischerweise auch in der Tatbestandsstruktur niederschlagen, werden dadurch verwischt. Das Problem des strafrechtlichen Institutionenschutzes tritt in der Gegenüberstellung mit der regelmäßigen Gestaltung des strafrechtlichen Schutzes von Individualinteressen deutlicher ins Relief. Normalerweise enthält ein Tatbestand der letzteren Art die Verletzung bzw. Gefährdung eines „Rechtsguts" i. S. eines Substanzhaften, direkt Verletzbaren. Zumindest dem Typus nach werden hier nicht konkrete Handlungschancen, sondern Potentiale für derartige Handlungschancen geschützt. Diese Potentiale können biologisch anschaulich, wie Leben oder Gesundheit, sein. Es kann sich aber auch um durch soziale (z. B. rechtliche) Regeln garantierte Verfügungsmacht über Sachen handeln, wie bei den Vermögensdelikten. Damit sind freilich nur die relativ einfachsten Rechtsgüter angesprochen. Wie es zur Abgrenzung derartiger Potentiale kommt, wie hier die strafgesetzliche Begriffsbildung auf vorrechtlicher und außerstraf rechtlicher Begriffsbildung aufbaut, kann hier nicht untersucht werden. Entscheidend ist, daß, wenn es gelungen ist, ein derartiges Potential zu definieren, für Gesetzgebung und Interpretation die klärende Frage gestellt werden kann, ob durch die in Betracht kommende Handlung ein derartiges Potential tatsächlich verletzt oder gefährdet werden kann. Demgegenüber kann der Institutionenschutz zwar auch durch den Schutz der „Handlungspotentiale" der Institutionen erfolgen; bei den Vermögensdelikten z. B. ist es nach geltendem Recht gleichgültig, ob der Täter das Vermögen eines Individuums oder des Staates tangiert. Bestandserhaltung und Funktion von Institutionen, von sozialen einer gesamtgesellschaftlich orientierten Systemsoziologie her (dazu im Text sogleich). Im übrigen verfolgt die hier vorgelegte Untersuchung Probleme der Tatbestandslehre und der Auslegung, die von Amelung nur am Rande erörtert wurde (vgl. die Abschiebung derartiger Probleme in die „Hermeneutik" a. a. O. S. 283 [vgl. auch a. a. O. S. 173] und die noch tastenden Ansätze a. a. O. S. 393—395), für die aber audi frühere Analysen schon Ansatzpunkte liefern (vgl. Anm. 57). Zu Amelung's Hinweisen zu den Bestechungsdelikten vgl. Anm. 45, 46, 49. 4 9 Vgl. Amelung, a. a. O. S. 388 ff. Zu der grundsätzlichen forschungsstrategischen und politischen Bedeutung der unterschiedlichen Ansätze vgl. Schelsky, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 1, S. 37 ff., insbes. S. 56 f.

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Systemen 4 3 0 sind aber in erster Linie dadurch gefährdet, daß Systemmitglieder und Dritte bestimmte das System und sein Funktionieren sichernde soziale Regeln (soziale N o r m e n ) nicht einhalten. Das läßt sich gerade an der Gefährdung der Verwaltung durch Bestechung und Bestechlichkeit mit besonderer Deutlichkeit zeigen. Bestechungskontakte von Systemmitgliedern (Verwaltungsfunktionären) mit Außenstehenden bedrohen einmal die interne Ordnung, indem sie die Gefahr heraufbeschwören, daß sich die Mitglieder nicht an der O r d nung der Organisation und ihren Zielen orientieren; es k o m m t zu einer „Vermischung von privaten und öffentlichen Interessen" 4 4 , einer Bedrohung des Systembestandes dadurch, daß die „Grenze" zwischen dem System „Verwaltung" und seiner Umwelt, dem Publikum, nicht scharf markiert bleibt 4 5 . Diese Bedrohung „nach innen" läßt sich — simplifizierend 48 — als Beeinträchtigung des Amtsethos der Verwaltungsfunktionäre charakterisieren 4 7 . „Nach außen" hin bedrohen Bestechungsfälle das „Vertrauen des Publikums in die Sachlichkeit von Verwaltungsentscheidungen" 4 8 , in systemsoziologischer Formulierung: bedroht ist die Bereitschaft der Systemumwelt zur „Abnahme" der

4 , a „Institution" und „soziales System" werden hier als gleichbedeutend benutzt (vgl. zu beiden termini Helmut Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: Zur Theorie der Institution, hgg. von VI. Schelsky, 1970, S. 9, 11). Im Hinblick auf die relative Eindeutigkeit des hier behandelten Gegenstandes, der staatlichen Verwaltung, werden die kontroversen Definitionsversudie zu beiden termini nicht erörtert. 44 Vgl. z. B. Geerds, a. a. O., S. 50 ff., insb. 52 f., 55; Schlemmer, Der Begriff des Vorteils und seine Stellung innerhalb der Bestechungstatbestände, Diss. Mündien 1962, S. 28 f. 45 Vgl. N. Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964, S. 220 ff., insbes. 228, 258; ders., Grundrechte als Institution, 1967, S. 178, insbes. Fn. 22; an die Systemtheorie anschließend Amelung, a. a. O., S. 349. 4 8 Die „Entdifferenzierung", die „Systemverflechtung" (vgl. Amelung, a. a. O.) ist Konsequenz und wieder Voraussetzung der mangelnden Bereitschaft zur Einhaltung der formalen Rollenanforderungen durch die Systemmitglieder. Die auf einen psychischen Tatbestand abstellende Formulierung „Amtsethos" (dazu im Text sogleich) ändert sachlich nichts. 47 Zur Funktionsrelevanz des „Amtsethos" neuestens Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit, 1973, S. 26. — Das durch § 331 geschützte Amtsethos, also die „Reinheit" der Amtsführung in dem Sinne, daß „aus Pflicht" gehandelt wird (vgl. hierzu Welzel, ZStW 58 [1939], S.511 Anm. 30 [S. 513]), läßt sich durchaus als positive Systembedingung fassen, nidit nur als „Gefahr", auch — später — eine Normabweichung zu begehen. Zweifelhaft kann allerdings sein, ob die hier vorausgesetzte Einstellung notwendig „Ethos", also „primäre Motivation" sein muß (vgl. Luhmann, Funktionen und Folgen, S. 89 fF.). 4 8 Vgl. Schönke-Schröder, § 331 Rn. 2; Welzel, Das Deutsche Strafredit, 11. Aufl., S. 539.

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Entscheidungen der Verwaltung 49 . Die soziologische Formulierung läßt die Bedeutung des „Vertrauens" des Publikums deutlich werden. Ohne ein Mindestmaß an Fügsamkeit der Bürger würde staatliches Verwalten zusammenbrechen; man denke nur daran, daß gegen alle belastenden Verwaltungsakte Widerspruch und anschließend Klage erhoben würde. Weil die prinzipielle Fügsamkeit Funktionsbedingung der Verwaltung ist, läßt sich — entgegen Baumann50 — nicht sagen, das Vertrauen in die Integrität der Verwaltung statt diese selbst zum Schutzgut der Bestechungsdelikte zu erheben, sei ebenso verfehlt, wie den Schutz des Vertrauens auf die Sicherheit des Lebens statt das Leben selbst als „Rechtsgut" des § 212 StGB anzusehen. Der Schwund des Vertrauens in die Integrität der Verwaltung beeinträchtigt die Bereitschaft zur Abnahme von Entscheidungen und damit eine Funktionsbedingung staatlichen Verwaltens unmittelbar 51 . Dagegen führt fehlendes Vertrauen in die Sicherheit des Lebens nur zur Gefährdung des Lebens selbst, wenn deswegen Lebenserhaltungsmaßnahmen unterlassen werden51" oder die Abschreckungswirkung auf potentielle Täter abnimmt. Das aber bedeutet, daß kausales Zwischenglied das nachlassende Vertrauen in die faktische Geltung gerade der Norm des § 2 1 2 selbst ist. Wenn man also Bestechungen als Angriff auf — abgekürzt ausgedrückt — die Funktionsbedingungen der Verwaltung „Amtsethos" und „Abnahmebereitschaft des Publikums" versteht, bleibt die Frage, wie denn diese Schutzgüter verletzt werden können. Sicher kommt es nicht darauf an, daß etwa beim konkreten Bestechungspartner das Vertrauen in die Verwaltungsintegrität erschüttert wird: auch derjenige, bei dem die Verwaltung nicht mehr den geringsten Kredit genießt, ist tauglicher Adressat oder Partner des bestechlichen Beam49 Vgl. Luhmann, Funktionen und Folgen, S. 108 ff-, insbes. 111 f.; zur Bedeu-» tung des „Systemvertrauens" im hier interessierenden Zusammenhang allgemeiner Luhmann, Vertrauen. Ein Medianismus der Reduktion sozialer Komplexität, 1968, S. 52 ff. — Amelung hat a . a . O . , S. 380 Anm. 131 auf die sadilidie Obereinstimmung überkommener strafrechtlicher „Re