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German Pages [771] Year 2021
Ringo Müller
»Feindliche Ausländer« im Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges
Ringo Müller
»Feindliche Ausländer« im Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein 2017 als Dissertation angenommen an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Auszug der Russen aus Bad Kissingen, 24. August 1914 (Ausschnitt). Quelle: Stadtarchiv Bad Kissingen, Postkartensammlung Josef Bötsch. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-36767-0
Für Anne und Josefine
Inhalt
1. Archivieren und Historisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Archivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Recherchieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Beherrschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Verschriftlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Improvisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Hervorbringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Perspektivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Anknüpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Planen und Verdächtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Militärische Ungewissheiten eines kommenden Krieges . . . . . . . . . . . . . . 63 Wirtschaftliche Erfordernisse und Abhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Gegensätzliche Standpunkte am Übergang in den Krieg . . . . . . . . . . . . . . 75 Verdacht und Gewissheit während der Mobilmachung . . . . . . . . . . . . . . . 81 Resümee: Die Suche nach Loyalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Identifizieren und Überwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Sicherheit zwischen Mobilität und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Unsicherheiten zwischen täglicher Routine und Überlastung . . . . . . . . . 123 Resümee: Die Unabschließbarkeit der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4. Ausweisen und Einquartieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Sicherheit zwischen Kalkül und Eigendynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Uneinheitliche Entscheidungen und variierende Motive . . . . . . . . . . . . . . 183 Provisorische Einquartierungen als vielfältige Herausforderungen . . . . . 197 Verbotene Orte und unerwünschte Aufenthalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Resümee: Die Bürde der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
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Inhalt
5. Sorgen und Unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Wohlfahrtspflege zwischen Frieden und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Helfen vor Ort im Wissen um viele Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Fürsorge als umtriebiges und unnachgiebiges Tätigsein . . . . . . . . . . . . . . 269 Resümee: Die Unterstützungskultur der Fürsorgenden . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6. Grenzen ziehen und verschieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Irritationen sprachlicher Vielstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Provokationen alltäglicher Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Konkurrenzlosigkeit nationaler Bildungsprivilegien . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Ermöglichungsmomente nationaler Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . 377 Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit sozialer Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . 394 Resümee: Die Projektionen gesellschaftlicher Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . 410 7. Einschränken und Entrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Wirtschaftliche Vergeltungen als Kalkül und Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . 416 Unternehmerische Unselbstständigkeit zwischen Kontrolle und Enteignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung . . . . . . . 439 Arbeiten zwischen Zurückhaltung und Anwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Resümee: Die Organisation von Notwendigkeit und Vergeltung . . . . . . . . . 504 8. Internieren und Freilassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Juristische Urteile über das Unerwartete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Gefangennahmen im Angesicht des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Vermessungen und Zugriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 Verhandlungen der Diplomaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 Wege in eine eingeschränkte Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 Resümee: Die Vielfalt der Internierungen und ihre Misserfolge . . . . . . . . . . 697 9. Parallelgeschichten »feindlicher Ausländer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 10. Erinnern und Erzählen – ein Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
Inhalt
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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Quelleneditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Amtliche Drucksachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 Zeitgenössische Darstellungen und Druckschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 Autobiographien, Briefwechsel, Tagebücher und Prosa . . . . . . . . . . . . . . . 741 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767
»[Günther Anders:] ›[…] Die haben nicht etwa nur bei Kriegsanfang gejubelt, sondern auch noch mittendrin. Ist es nicht wirklich zum Schämen, daß selbst diese Supergescheiten so gründlich naiv gewesen sind. So hatten werden können? Sich freiwillig so naiv hatten machen können? Und daß sie gescheit genug gewesen sind, Mittel zu finden, um so naiv auch zu bleiben? […]‹ Nach einer langen Pause fragte sie [Hannah Arendt]: ›Und glaubst du, wir sind gefeit? Wir wären gefeit in einer solchen Situation? Und würden unklug genug bleiben, nicht naiv zu werden?‹«1 Hannah Arendt und Günther Anders beim Kirschenentkernen auf ihrem Balkon in Drewitz, um 1930
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Günther Anders, Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt und ein akademisches Nachwort, hg. von Gerhard Oberschlick, München 2011, S. 52 (Die Irrelevanz des Menschen; Herv. im Org.).
1. Archivieren und Historisieren
An vier Seiten mit jeweils einem Stück Schnur gebunden, zwischen zwei alten, dicken Pappdeckeln ruhend, stapeln sich hunderte DIN A5 große, an den Rändern zerfallende Papierzettel im Bayerischen Kriegsarchiv.1 Sie überdauerten die Jahre seit dem Ersten Weltkrieg geordnet und zusammengeschnürt zu handlichen Stößen. Unter dem Licht der Archivlampen behaupten sie beharrlich eine scheinbar einfache wie eindeutige Geschichte des Krieges, indem sie sorgsam »Belgier«, »Engländer«, »Franzosen« und »Russen« sowie »Serben« voneinander und zugleich von »Deutschen« trennen. Die Papierzettel sind ein Artefakt des Krieges. Ausländische Zivilisten hatten im Spätsommer 1914 durch Zeitungsmeldungen und Maueranschläge erfahren, dass sie sich in den nächstgelegenen Polizeiämtern Münchens melden mussten. Dort wurden neben dem Familien- und Vornamen, der Wohnanschrift und dem Beruf ebenso das Geburtsdatum und der -ort sowie ihr militärischer Status notiert. Unter den Registrierten befanden sich Touristen und Reisende, Unternehmer und Kaufleute, Facharbeiter und Saisonarbeiter/innen, Dienstmädchen und Künstler/ innen, Privatlehrer/innen und Studierende. Allen gemein war ihr rechtlicher Status. Sie gehörten jenen Staaten an, gegen die das Deutsche Reich in den Krieg gezogen war. Während der Jahre 1914 bis 1918 verbreitete sich für sie die Bezeichnung feindliche Ausländer und Ausländerinnen. Ihre ausführliche Erfassung im Zuge militärischer Anordnungen ermöglichte ihre anschließende Unterteilung, die häufig zur Grundlage weiterführender Maßnahmen wurde. Die Meldezettel gewähren Einblicke in die Zeit des Krieges, indem sie verdichtete Momente des Denkens und Handelns bewahrten. Sie berichten von den Erwartungen, den Interessen und den Entscheidungen politischer und militärischer Eliten. Sie deuten die Praktiken jener Polizeibeamten an, die Angaben erhoben und Informationen auswerteten. Sie halten Spuren jener Menschen fest, die ihre Lebensverhältnisse offenbaren mussten, weil sie eine ausländische Staatsangehörigkeit besaßen. Die Zettel sind ein Produkt des Krieges und doch stellen sie keine Notwendigkeit oder Zwangsläufigkeit dar. Davon handelt diese Darstellung.
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Verzeichnisse der in den einzelnen Amtsbezirken sich aufhaltenden Ausländer, Sept. 1914, Stadt München, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2150.
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Archivieren und Historisieren
Fragen Nachfolgend wird gefragt, welche Ansichten, Überzeugungen und Interessen, welche Entscheidungen, Handlungen und Prozesse den Umgang mit feindlichen Ausländerinnen und Ausländern im Deutschen Reich regelten, beeinflussten und bestimmten. Im Mittelpunkt stehen zum einen die Akteure, die durch ihr Wirken Einfluss auf das Leben ausländischer Zivilisten beanspruchten und ausübten. Zum anderen werden die konfliktreichen Auseinandersetzungen betrachtet, die sie führten. Denn die vielfältigen Unterscheidungen und Abgrenzungen von Inländer/ innen und (feindlichen) Ausländer/innen, die in den Kriegsjahren festzustellen sind, mussten fortwährend inszeniert, hervorgebracht und aufrechterhalten werden. Dafür hatten die zu betrachtenden Akteure neben politischen, institutionellen und militärischen ebenso soziale und kulturelle Wege zurückzulegen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Hürden zu überwinden. Welche Kategorien und Methoden entwickelten Akteure in Deutschland, um kriegsbedingte Ungleichheiten von Zivilisten herzustellen? Innerhalb welcher historischen Kontexte handelten sie und welchen Abhängigkeiten unterlagen sie? In welche Netzwerke waren sie verflochten? Wie artikulierten sie ihre Ziele? Welche Motive und Argumente legten sie ihrem Tätigsein zugrunde? Wann und aus welchen Gründen gewährten oder verweigerten staatliche Akteure ausländischen Staatsangehörigen Freiheiten und Rechte beziehungsweise schränkten diese ein? Welche Möglichkeiten eröffneten sich deutschen Bürger/ innen gegenüber Zivilisten anderer Länder? Was war in Bezug auf sie sag- und durchsetzbar, oder gerade nicht durchsetzbar? Welche daraus resultierenden Konsequenzen erlebten die Betroffenen in den Kriegsjahren? Welche Spielräume boten sich ihnen, auf ihre Lebenssituation Einfluss zu nehmen? Und schließlich soll danach gefragt werden, ob und wie sich der Umgang mit feindlichen Ausländern und Ausländerinnen während des Krieges veränderte.
Archivieren Die Antworten auf diese Fragen werden in einer möglichen Geschichte entfaltet. Ihren Ausgangs- und Bezugspunkt bilden eine Vielzahl an historischen Archiven und die dort verwahrten Überlieferungen.2 Denn die Münchner Meldezettel stellten keinen Einzelfall dar. Sowohl im Archiv des bayerischen Militärs als auch in Stadt-, Landes- und Staatsarchiven sowie im deutschen Bundesarchiv überdauerten verschiedenartige Überreste das 20. Jahrhundert, die bezogen auf ausländische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen verfasst worden waren. In Archivmappen und -kar2
Zur Definition des historischen Archivs siehe: Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart 2008, S. 60–64.
Archivieren
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tons lagern neben der Zettelsammlung beispielsweise Verordnungen, Anweisungen, Erlasse, Denkschriften, Eingaben, Gerichtsurteile, Rapporte, Sitzungsprotokolle und Fotografien. Außerhalb der Verwaltungsbehörden entstanden in der Kriegszeit politische, karitative und juristische Schriften, Zeitungsartikel, Tagebücher und Briefwechsel, in denen Stimmen für oder wider die Zivilisten des Feindes erhoben wurden. Mit dem Kriegsbeginn im August 1914 gravierten sich vielfältige Spuren nicht-deutscher Staatsangehöriger in das schriftliche Vermächtnis des Deutschen Kaiserreichs ein. Im Ausnahmezustand des Krieges wurde über Ausländer und Ausländerinnen nicht zuletzt geschrieben. Im Zuge dessen erscheinen die historischen Archive und die zugänglichen Überreste »maßlos«. Ein Eintauchen in diese »Meere« offenbart eine Mannigfaltigkeit an Überlieferungen, die sich politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Handlungsfeldern zuordnen lassen.3 In ihnen kann ein kleiner »Teil der riesigen Schreibmaschine […], die dieser Krieg in Gang setzt[e]«, erahnt werden.4 »Was sie alles enthalten, läßt sich kaum ausschöpfen.«5 Indes geben die Archivmeere den Blick überwiegend auf Einzelfälle frei, die unvermittelt zwischen amtlichen Bekanntmachungen einsetzen und nicht selten ebenso unerwartet abbrechen, womöglich hunderte Dokumente später oder in anderen Akten eine Fortsetzung finden. Dem Eintauchenden begegnet ein Übermaß an Bruchstücken, die durch ihre institutionelle Herkunft verbunden sind und durch feine Fäden der Aktenbindung zusammengehalten werden. »Ebenso wie es überschwemmt und überflutet, verweist es [das Archiv, d. Verf.], durch seine Maßlosigkeit, in die Einsamkeit. Eine Einsamkeit, in der es von so vielen ›Lebewesen‹ wimmelt, dass es kaum möglich scheint, von ihnen Rechenschaft abzulegen, aus ihnen Geschichte zusammenzufügen«, bangt Arlette Farge bei ihren Streifzügen durch das französische Staatsarchiv.6 Die Knoten der Archivare gelöst, erscheinen ebenso die Meldezettel als ein unergründlich vielstimmiges Durcheinander. Und doch schweigen sie in ihrer Zerstreutheit als Zeugnisse Einzelner wie in ihrer Abgeschlossenheit als Sammlung zu vielen Fragen. Sie erklären nicht, warum die Beamten auf eine Angabe der Nationalität verzichteten. Sie bezeugen nicht, dass alle Aufgeforderten sich regis3 4
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Vgl. zum historiografischen Arbeitsprozess im Archiv: Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, übers. aus d. Franz. von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke, Göttingen 2011, zu den Assoziationen des Meeres hier S. 9. Heike Gfrereis, Zur Ausstellung »August 1914. Literatur und Krieg«, in: August 1914. Literatur und Krieg. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, Oktober 2013 bis März 2014, hg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, Marbach a.N. 2013, S. 46–70, hier S. 47. Reinhart Koselleck, Archivalien – Quellen – Geschichte, in: Ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 68–79, hier S. 79. Farge, Der Geschmack des Archivs, S. 16.
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Archivieren und Historisieren
trieren ließen. Sie verwehren einen Zugang zum Verständnis darüber, wie und wann der Zettelkatalog verwendet wurde. Sie enthüllen nicht die Konsequenzen der Registrierung für die Betroffenen. »Das Archiv ist kein Lager, aus dem man nach Belieben schöpft, es ist stets ein Mangel.«7 Den zahlreichen Überlieferungen stehen schweigende Archive gegenüber. In der Anfangsphase des Krieges weisen verantwortliche Akteure oftmals auf telefonische Absprachen und Auseinandersetzungen hin, von denen keine Niederschriften angefertigt wurden. Von vielen Konsultationen existieren lediglich Ergebnisprotokolle, die schwierige Verhandlungen und widersprüchliche Meinungen selten abbilden. Vorgänge außerhalb städtischer und polizeilicher Zuständigkeitsbereiche wie die Errichtung von Internierungslagern fanden kaum Erörterungen im alltäglichen Geschäftsgang. Hinzu traten vor dem Hintergrund einer zunehmenden Mangelwirtschaft in der zweiten Kriegshälfte Rationalisierungsanstrengungen, die darauf abzielten, Farbbänder zu schonen und den Papierverbrauch zu minimieren.8 Dies zeigt sich deutlich an den Akten über feindliche Ausländer. Das Foliopapierformat wurde häufig abgelöst von Handzetteln in der Größe von Telegrammformularen. Gegen Kriegsende lassen sich Berichte, umfassende Stellungnahmen und verwaltungsinterne Erörterungen nur noch vereinzelt zwischen allgemeinen Rundschreiben und Erlassen auffinden. Des Weiteren waren Kassations- und Überlieferungsgeschichten prekär. Die Aussonderung jener Akten, die nicht mehr erforderlich waren, gehörte unter wachsenden staatlichen Papierbergen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu den vorrangigen Aufgaben der Archivare. Die an Aktenverkäufen an Altpapierhändler beteiligten Beamten erhielten gar eine Provision.9 In der Nachkriegszeit stand die Überlieferungsbildung darüber hinaus programmatisch unter der Prämisse, den Kriegsleistungen staatlicher Behörden wie der Bevölkerung zu gedenken.10 Der Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen gehörte nicht dazu. Bisweilen wurden ausdrücklich nur beispielhafte Vorgänge archiviert. Die Vollständigkeit von Schriftwechseln und Verwaltungsunterlagen kann aus diesen Gründen nicht garantiert werden. Vereinzelt erfuhren Akten zivilstaatlicher Herkunft nach dem Krieg eine Fortführung, indem Entschädigungsverfahren oder weitergeführte Überwachungsbestimmungen in diese Eingang fanden. Die polizeilichen Meldezettel entgingen den Papierkörben der Beamten, obwohl sie bereits nach wenigen Wochen überholt waren, und entrannen den Stürmen 7 8 9 10
Ebd., S. 45. Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000, S. 269 f. Ebd. Robert Kretzschmar, Obsolete Akten, Bewertungsdiskussion und zeitgeschichtliche Sammlungen. Der Erste Weltkrieg und die Überlieferungsbildung in Archiven, in: Reiner Hering, Robert Kretzschmar u. Wolfgang Zimmermann (Hg.), Erinnern an den Ersten Weltkrieg. Archivische Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivitäten in der Weimarer Republik, Stuttgart 2015, S. 11–28, bes. S. 13–18.
Recherchieren
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der Revolution. Aber vielleicht fielen einige Zettel bereits in den Amtsstuben zu Boden, ließ ein Versehen manche in einer Ablage verschwinden oder wurden mehrere in andere administrative Abläufe übernommen? Wie sie in das Kriegsarchiv unter die Akten des stellvertretenden Generalkommandos des I. bayerischen Armeekorps gelangten, ist nicht bekannt. Bei Kassationen in den 1920er Jahren wurden sie übergangen. Schließlich versiegten nicht wenige zeitgenössische Dokumente abseits der Eingriffe der Archivare. Im Zweiten Weltkrieg gingen beispielsweise die Akten des Preußischen Heeresarchivs und des Stadtarchivs Friedrichshafen fast vollständig verloren.11 Die Einsamkeit in der Masse trifft auf die einer beklemmenden Stille und Vergänglichkeit. Konfrontiert mit einem nuancierten Panorama aus Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Vergangenheit, folgen Grenzen des historiografisch Darstellbaren. Der recherchierte Quellenkorpus verweigert sich einem Gestus der Restlosigkeit. Die zu erzählende Geschichte erhebt nicht den Anspruch, alle Aspekte des Umgangs mit ausländischen Staatsangehörigen lückenlos darzustellen.
Recherchieren Die Recherchen konzentrierten sich in einem ersten Schritt auf die Ermittlung reichsweiter ebenso wie regionaler Grundsätze und Regelungen. Diese bedeuteten für staatliche Akteure einen maßgeblichen Orientierungs- und Handlungsrahmen, eine Legitimationsinstanz und ein Argumentationsgerüst. Darüber hinaus galt es, die militärischen Richtlinien und Erlasse des Berliner Kriegsministeriums zu rekonstruieren. Da eigenständige Kriegsarchive in Bayern, Sachsen und Württemberg existierten, die Akten der dortigen Militärbehörden verwahrten, lag die Aufmerksamkeit auf den heute zuständigen Hauptstaatsarchiven in München, Dresden und Stuttgart. Die umfangreichen militärischen und zivilen Überlieferungen des Königreiches Sachsen bildeten hierbei einen wichtigen Referenzpunkt der Recherchen. Daran anschließend ruhte der Blick auf lokal verorteten Debatten und Ereignissen. Diese sollten mehrere Akteure in Bewegung gesetzt, Resonanzen erzeugt und weitergehende, gegebenenfalls überregionale Reaktionen ausgelösten haben, die nicht selten wiederum in verfestigte Verfahrensweisen übergingen. Bei der Auswahl der Quellen stand die Identifizierung von unterschiedlichen, gelegentlich widersprüchlichen Vorstellungs-, Ermessens- und Handlungsspielräumen im Vordergrund, innerhalb derer mannigfaltige Möglichkeitsgefüge erforscht werden konnten. 11 Zur Bestandsgeschichte des Preußischen Heeresarchivs siehe: Sven Uwe Devantier, Das Heeresarchiv Potsdam. Die Bestandsaufnahme in der Abteilung Militärarchiv des Bundesarchivs, in: Archivar, Jg. 61 (2008), Heft 4, S. 361–369.
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Archivieren und Historisieren
Ausgehend von dem dargelegten Fragenkatalog und den herangezogenen Archiven scheinen durch die Mehrzahl des recherchierten Schriftgutes hindurch die Protagonisten des Wilhelminischen »Obrigkeitsstaates«12 auf. Die zeitgenössische Ablage ihres verschriftlichten Handelns strukturierte die Erkundungen in den Archiven vor. Beamte ordneten und formierten staatliches Tätigsein in Akten, Faszikeln oder Büscheln, die sie sachbezogen mit Titeln wie Feindliche Ausländer, Ausländische Staatsangehörige oder Die Behandlung der Engländer, Franzosen und Russen versahen. Die darin aufbewahrten Dokumente datieren in der Regel aus den Jahren 1914 bis 1918. Den heutigen Leser/innen begegnen diese Sammlungen als Bündelungen administrativer Kommunikations-, Vermittlungs- und Vollzugsprozesse. Sie gewähren einen verdichteten Zugang zum Umgang mit nicht-deutschen Staatsbürgerinnen und -bürgern. Aber sie akzentuieren Akteure deutscher Staatsangehörigkeit im Dienste des Staates. Dagegen rücken die Erfahrungen betroffener Ausländer und Ausländerinnen, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte sowie ihre biographischen Pfade durch den Krieg in den Hintergrund. Ferner sind Praktiken im persönlichen Kontakt und in alltäglichen Begegnungen mit ihnen selten in Randbemerkungen und verschriftlichten Auseinandersetzungen greifbar. Dennoch werden sie als Ursprung der zu schildernden Geschichte durch ein ständiges Rauschen präsent sein und in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, wenn sie durch ihr Handeln Verwirrung stifteten, Diskussionen anzettelten, Akteure mobilisierten und Reaktionen provozierten. Wie sich zeigen wird, war dies keineswegs selten.
Beherrschen Für die zu Wort kommenden Minister und Diplomaten, (stellvertretenden) Generalkommandeure und Bürgermeister, Landräte und Amtsvorstände stellten Hamburg wie Königsberg, Stuttgart wie Breslau, Düsseldorf wie Berlin Schauplätze ihres Tätigseins dar. Obschon sie in verschiedenartigen politischen Landschaften, Kultur- und Wirtschaftsräumen lebten und wirkten, verband sie ihr Agieren innerhalb staatlicher Institutionen.13 Sie exekutierten gemeinsam das Deutsche Reich, 12 Zum Begriff des Obrigkeitsstaates siehe: James Retallack, Obrigkeitsstaat und politischer Massenmarkt, in: Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 121–135, hier S. 124–129. Zur Bürokratie als Herrschaftszentrum siehe: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 857–864 u. 1020–1034. 13 Dieter Langewiesche, Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich: Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur – eine Skizze, in: Oliver Janz, Pierangelo Schiera u. Hannes Siegrist (Hg.), Zentralismus und Förderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000, S. 79–90.
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ein »Kunstprodukt, zusammengestückelt aus verschiedenen Eroberungsschichten eines der Aufklärungszeit entstammenden, halb durchdachten, halb noch sehr feudalen Staates, dessen rationale Bürokratie ein vorrangig auf Schreibverkehr beruhendes Verwaltungs-Netz-Werk oberhalb zufälliger Bevölkerungsfragmente und ihrer diversen Netze darstellte«.14 Im Anschluss an Jürgen Joachimsthaler sollen sie als Akteure staatlicher Netzwerke innerhalb des Territoriums des Kaiserreichs verstanden werden. Sie behaupteten einen einheitlichen deutschen Staat, der aber als ein erdachtes Gebilde vor allem auf die Zukunft verwies.15 »Politically, there is no such place as ›Germany‹. There are the twenty-five States, Prussia, Bavaria, Württemberg, Saxony, etc., which make up the ›German Empire‹, but there is no such political entity as ›Germany‹«, hob der ehemalige US-amerikanische Botschafter James W. Gerard (1867–1951) rückblickend hervor.16 Die eine Administration konnte es in dem 1871 gegründeten Reich nicht geben. In einem Spannungsfeld zwischen nationalstaatlichem Zentralismus und bundesstaatlichem Föderalismus bestanden unterschiedliche Verwaltungsverflechtungen und -praktiken.17 Ungeachtet einer preußischen Hegemonie und einer voranschreitenden Stärkung der Reichsinstitutionen, verblieb die Umsetzung von Reichsgesetzen bei den Kommunalverwaltungen. Deshalb hing es auch 1914 noch vom Wohnort des einzelnen Bürgers ab, wie hoch seine Steuern waren oder welche sozialen Absicherungen ihn in Krisenzeiten auffingen. Während des Ersten Weltkrieges wurde der Föderalismus um das Element der Militärverwaltungen erweitert. Mit der Erklärung des reichsweiten Kriegszustandes im Juli 1914,18 der auf einem Gesetz aus dem Jahre 1851 beruhte, ging die vollziehende Gewalt an 62 Militärbefehlshaber über.19 Deren Zuständigkeitsbereiche überlagerten die zivile Verwaltungsorganisation und zerrissen deren Einheiten. 14 Jürgen Joachimsthaler, Angst im Netz-Werk. Wilhelminien offline, in: Kakanien revisited, URL: https://www.kakanien-revisited.at/beitr/ncs/JJoachimsthaler1.pdf (Erstveröffentli chung 9.6.2004). 15 Zu unterschiedlichen historiografischen Perspektiven auf das Deutsche Reich siehe: Cornelius Torp u. Sven Oliver Müller, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, in: Dies. (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 9–27. 16 James W. Gerard, My Four Years in Germany, New York 1917, S. 35. 17 Langewiesche, Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich. 18 Die Ausdehnung des Belagerungszustandes auf das gesamte Deutsche Reich im Krieg wurde 1912 beschlossen. In Bayern galt ein gesondertes Kriegszustandsgesetz. Siehe: RAdI an d. Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 4.4.1912, in: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914–1918, Bd. 1/I, bearb. von Wilhelm Deist, Düsseldorf 1970, Dok.-Nr. 1, S. 3. 19 Verordnung betr. d. Erklärung d. Kriegszustandes, 31.7.1914, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1914, S. 263. Umfassend zum Kriegszustand im Deutschen Reich aus rechtshistorischer Perspektive siehe: Christian Schudnagies, Der Kriegs- oder Belagerungszustand im Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges. Eine Studie zur Entwicklung und Handhabung des deutschen Ausnahmezustandsrechts bis 1918, Frankfurt a. M. 1994. Das Preußische Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851, in: Ebd., S. 229–234.
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Denn Armeekorpsbezirke und Festungen überschritten mit Ausnahme des Königreiches Württemberg und der Provinz Brandenburg zahlreiche Regierungsbezirksgrenzen.20 Indem die zivilen bundesstaatlichen wie die lokalen Institutionen den Bekanntmachungen und Anweisungen der Befehlshaber nachzukommen hatten, wurden die staatlichen Netzwerke neu organisiert und gewannen an Komplexität hinzu. Unterdessen fehlte eine staatliche Instanz, die reichsweit kontrollierend und koordinierend gegenüber den Militärbefehlshabern auftrat. Der Kaiser, der die oberste Kommandogewalt innehatte und vor dem allein sich die (stellvertretenden) kommandierenden Generäle und die Festungskommandanten verantworten mussten, trat nicht als eine solche in Erscheinung. Der Reichskanzler ebenso wie die Verantwortungsträger der Reichs- und Landesbehörden hatten den Militärbefehlshabern gegenüber keinerlei politische Machtbefugnisse. Da selbst der preußische Kriegsminister ihnen keine Befehle erteilen konnte und stets um eine gleichmäßige Umsetzung erlassener Richtlinien bitten musste, ergaben sich Zuständigkeits- und Machtkonflikte sowie Rechtsunsicherheiten. Zu einer einheitlichen Durchführung militärischer Maßnahmen kam es lediglich in Bayern, wo das dortige Kriegsministerium vor dem Hintergrund eines separaten Kriegszustandsgesetzes das Vorgehen abstimmte.21 Darüber hinaus überstiegen die Befugnisse und Aufgaben der Militärbefehlshaber die der Zivilbehörden. Nicht die »Begriffe des modernen Rechtsstaates« sollten nach Ansicht der Verantwortlichen des Preußischen Kriegsministeriums beachtet werden, sondern die Kontexte des 1851 erlassenen Gesetzes. »Nach ihnen hatte die vollziehende Gewalt nicht nur die zur Vollziehung der Gesetze erforderlichen, sondern überhaupt alle Anordnungen zu treffen, die sich im Interesse der gefährdeten Sicherheit des Staates als erforderlich herausstellten.«22 In diesem Zusammenhang urteilten die Richter des III. Strafsenats des Reichsgerichtes während des Krieges, dass es unzutreffend sei, dass »die öffentliche Sicherheit sich nur auf die militärische und politische Sicherheit bezieht[.] […] Sie hat […] die allgemein gebräuchliche Bedeutung einer Sicherheit des Publikums vor Gefahren und Beunruhigungen jeder Art.«23 Angesichts dessen begründeten die Militärbefehlshaber ihre Verbote fortwährend mit einer Gefährdungslage. »Die ausdrückliche Erwähnung dieses Zweckes ist aber kein Erfordernis für die Rechtsgültigkeit der Verordnung, es genügt, 20 Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914–1918, Bd. 1/I, S. XL–LI. 21 Vgl. Schudnagies, Der Kriegs- oder Belagerungszustand, S. 128–135. 22 Preuß. KM (gez. v. Wandel), betr. d. Auslegung d. Begriffes d. vollziehenden Gewalt nach § 4 d. BZG, an d. Gouverneur d. Reichskriegshafens Kiel, 28.4.1915, (Auszug) in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 11, S. 24 f. 23 Urteil d. III. Strafsenats des Reichsgerichts, 22.2.1915, Az. III 10/15, betr. Belagerungszustand, Verordnung d. Militärbefehlshabers, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 1880–1944, Bd. 49, Leipzig 1916, S. 89–91, hier S. 91.
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daß sich aus ihrem Inhalte erkennen läßt, daß sie bestimmt ist, der öffentlichen Sicherheit zu dienen«, entschied wiederum der IV. Strafsenat des Reichsgerichts.24 »Ob die Anordnung sich ausdrücklich als Verbot kennzeichnet oder ob letzteres sich in die Form ein Gebotes kleidet, ist hierbei gleichgültig.«25 Der Begriff der »öffentlichen Sicherheit« verkam zu einer Worthülse, die mit vielen Argumenten angereichert werden konnte, um Verbote und Forderungen zu begründen.26 Die Militärbefehlshaber etablierten eine »Ausnahmegewalt«, die einen Zugriff auf nahezu alle öffentlichen Lebensbereiche der in ihren Armeekorpsbezirken anwesenden Personen bedeuten konnte.27 Infolgedessen erließen sie unzählige Geund Verbote, die vom Einzelnen kaum noch angemessen zu überblicken waren.28 Dieser Zustand war nicht nur für den Umgang mit ausländischen Zivilisten von grundlegender Bedeutung. Das Deutsche Reich, überspannt mit administrativen Netzwerken und deren Bezugspunkten, begegnet dem Zurückblickenden als ein uneinheitlicher Entscheidungs- und Verwaltungsraum. Gleichwohl kristallisierten sich in diesem Schnittstellen heraus, an denen Informationen gebündelt, Wahrnehmungen vervielfältigt und weitergegeben sowie Handlungsorientierungen vermittelt wurden. Der stellvertretende Generalstab, das Preußische Kriegsministerium und das Reichsamt des Innern wirkten in diesem Sinne vereinheitlichend. Dies zeigte sich zuerst in deren personeller und organisatorischer Umstrukturierung. Adolf Wild von Hohenborn (1860–1925), der von Januar 1915 bis Oktober 1916 als preußischer Kriegsminister agierte, äußerte sich über seine Zusammenarbeit mit dem Generalstab folgendermaßen: »Wir besprachen Alles, das Operative, das Politische, das Personelle; es gab kein Vorenthalten von Absichten und Ansichten. Ich hatte meinen Wigwam im Gebäude des Generalstabs aufgeschlagen, unangemeldet kam Jeder in des Anderen Zimmer, unsere Mahlzeiten waren gemeinsam[.]«29 Der Staatssekretär des 24 Urteil d. IV. Strafsenats d. Reichsgerichts, 21.5.1915, Az. IV 223/15, betr. Ausfuhrverbote d. Militärbefehlshabers, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 49, S. 253– 258, hier S. 256. 25 Urteil d. IV. Strafsenats d. Reichsgerichts, 7.5.1915, Az. 47/15, betr. Festsetzung von Höchstpreisen durch Militärbefehlshaber, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 49, S. 161–163, hier S. 162. Zur daran anschließenden Diskussion innerhalb der preußischen Verwaltung siehe: Preuß. Justizminister (gez. Beseler), betr. Kompetenzen d. Militärbefehlshaber, an d. preuß. Landwirtschaftsminister, 28.11.1915, in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 18, S. 35–39. 26 Vgl. Gunther Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung in Württemberg 1914–1918, Stuttgart 1983, S. 154–158. 27 Schudnagies, Der Kriegs- oder Belagerungszustand im Deutschen Reich, S. 135–142. 28 Fritz Klein u. a., Deutschland im Ersten Weltkrieg. Bd. 1: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914, Berlin 1968, S. 414–416. 29 Wild v. Hohenborn an Prof. Zorn, 1.1.1916, zit. nach: Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, übers. von Norma von Ragenfeld-Feldman, Berlin 1985, S. 51 (Herv. im Org.).
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Reichsamtes des Innern, Clemens von Delbrück (1856–1921), schilderte in ähnlicher Weise dessen organisatorischen Umbau. »In den beiden vorderen Sitzungssälen des Reichsamts des Innern wurde […] ein Kriegsbüro eingerichtet, in dem die betreffenden Referenten, Expedienten und Schreiber zusammensaßen, so daß die sonst im Geschäftsgang so unerquicklichen Verzögerungen und Reibungen […] so gut wie ausgeschaltet wurden. Das Büro bekam nach allen Seiten direkte telephonische Verbindung.«30 Den staatlichen Akteuren kann auf Grundlage der Perspektive Jürgen Joachims thalers ein gleichgerichtetes wilhelminisches Staatsinteresse unterstellt werden.31 Es gründete in wahrgenommenen und reproduzierten Differenzen zwischen Staat und Gesellschaft. Aus Sicht der Politiker und Beamten erwuchs daraus eine im Keim zu erstickende Konkurrenz. »Es gibt eine Angst vor Bedeutungsauflösung, vor Widerspruch, vor Opposition.« In anderen Netzwerken wie beispielsweise polnischen Nationalorganisationen, Foren der Arbeiterbewegung, bürgerlichen Vereinen oder Institutionen der katholischen Kirche sahen sie den Staat in Frage gestellt. Deshalb tendierte die Administration dazu, die Zivilgesellschaft vollständig kontrollieren zu wollen. Deren heterogene Mitglieder erschienen ihr in weiten Teilen als »›vaterlandslos‹, ›staatsgefährdend‹, ›umstürzlerisch‹«, als »Ansammlung feindlicher Bevölkerungen«. Militärische Akteure erweiterten dieses Spektrum um Spione, Saboteure, Bolschewisten und Pazifisten. Außerdem sahen sich die Akteure des Deutschen Reiches mit den kritischen und meist vorurteilsvollen Stimmen ausländischer Regierungen und internationaler Zeitungen, mit den Stellungnahmen neutraler Beobachterkommissionen und den veröffentlichten Worten der Betroffenen konfrontiert, die ihre Deutungshoheit über innenpolitische Vorgänge in Zweifel zogen. Gleichzeitig schotteten sich staatliche Netzwerke durch »konsequente Demokratieverweigerung« und eine sozial abgeschlossene Rekrutierungspolitik ab.32 Sie verhinderten dadurch eine Vermittlung und einen Austausch zwischen dem Staat und einer vielgestaltigen Gesellschaft, die sozial, wirtschaftlich und politisch in der Hochindustrialisierungsphase in fieberhafte Bewegung geriet, und der sie doch angehörten. Dieses Kommunikationsdefizit führte zu »sich verselbstständigende[n] Fantasien über feindliche Netz-Werke«. Anstatt den Pluralismus der eigenen Bevölkerung anzuerkennen, entwickelten sich im Kaiserreich identitätsstiftende politische Feindbilder ihr gegenüber. Die Angst gebar Verschwörungstheorien. Die Netzwerke des Staates entfalteten eine Eigenlogik. Ihre Akteure als statische Elemente in militärischen und zivilen Verwaltungshierarchien zu
30 Clemens von Delbrück, Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914, aus d. Nachlass hg. von Joachim von Delbrück, München 1924, S. 106. 31 Joachimsthaler, Angst im Netz-Werk. 32 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 860–864 u. 1121–1125.
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begreifen und lediglich die Gesellschaft als »lebendig« zu charakterisieren, würde ihren Rollen daher nicht gerecht werden. Dies trifft gleichfalls auf ihre Strategien zur Verwirklichung von Anordnungen und Gesetzen zu. Staatliche Akteure vor Ort handelten eigensinnig.33 Ihr Verhalten lässt sich nicht in einer bipolaren Interpretation von Befolgung oder Widerstand auflösen. Einerseits versuchten sie, wie Thomas Ellwein zeigt, den Willen der Entscheidungsträger zu antizipieren. Andererseits waren für ihr Agieren aber in gleichem Maße Freiräume kennzeichnend. Sie interpretierten Bestimmungen und loteten ihre Möglichkeiten aus, während die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen meist begrenzt waren.34 Sie hegten nationale und soziale Vorurteile. Sie verband ein privates Netzwerk aus Freund- und Verwandtschaften sowie Interessenten. Schließlich spielten nicht auszuschließende Einsprüche der Verwalteten für sie eine Rolle. »Verwaltung mußte abwägen zwischen dem, was sie vollziehen sollte, und den Reaktionen und Möglichkeiten der vom Vollzug Betroffenen«, resümiert Ellwein in seiner Geschichte der Verwaltungsentwicklung.35 In diesen »Mittlerpositionen« erlangten Beamte auf Kommunalebene eine Selbstständigkeit, innerhalb derer sie sich an ihren Zielgruppen orientieren konnten. Diese Beziehung verlor allerdings nicht nur im Zuge von Kommunikationsdefiziten an Bedeutung. Sie drohte gleichfalls, mit einer zunehmenden Verflechtung staatlicher Institutionen abzureißen. Die Medialisierung forderte diese isolationistische Tendenz heraus.36 Das expandierende Zeitungswesen sorgte für eine »Verdichtung des öffentlichen Raumes: Ereignisse, die in der entferntesten Peripherie stattfanden, wurden unhintergehbar in das Zentrum der Berliner Politik geführt.« Eine kritische Berichterstattung, die Skandale lancieren konnte, verlangte für eine politisierte Öffentlichkeit Einfluss auf Entscheidungen und Strukturen. Nicht selten überbrückten repräsentierte Meinungen regionale und soziale Grenzen,37 und der liberale Protest blieb nicht gänzlich auf eine »politische Ohnmacht« reduziert.38 Unter diesen Bedingungen stellten Amtsstuben und Büros der öffentlichen Verwaltung des Deutschen Reiches Laboratorien der Wirklichkeit dar. In ihren ausschließenden Zirkeln wurden Informationen im Allgemeinen zweckorientiert 33 Alf Lüdtke, Eigensinn, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 64–67. 34 Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe. Bd. 1: Die öffentliche Verwaltung in der Monarchie 1815–1918, Opladen 1993, S. 54 f. u. 470 ff. 35 Ellwein, Der Staat als Zufall und Notwendigkeit, S. 472. 36 Frank Bösch, Grenzen des »Obrigkeitsstaates«. Medien, Politik und Skandale im Kaiserreich, in: Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 136–153. 37 Bösch, Grenzen des »Obrigkeitsstaates«, S. 152. 38 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1249.
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kontrolliert, bewertet und verteilt, um Entscheidungen herbeizuführen. »Die Bürokratie als Herrschaft […] beruht wesentlich auf der […] Fähigkeit, sich im Büro anhand eines Modells der zu verwaltenden Wirklichkeit […] zu entscheiden.«39 Um Ausführungsbestimmungen und Regeln anzuwenden, wurde in ihnen Wirklichkeit »ausschnitthaft« und »verkürzt« abgebildet. Die Münchner Meldezettel können als ein Versuch gelesen werden, feindliche Ausländer und Ausländerinnen in der bayerischen Landeshauptstadt auf Papier zu modellieren, sie in eine bürokratische Ordnung zu überführen. Die ausländischen Staatsangehörigen wurden im Zuge dessen bestätigt und konkretisiert. Gleichwohl kann vorweggenommen werden, dass bei diesem Prozess kein idealtypischer virtueller »Amtsstubenausländer« der spitzen Feder entsprang. Indem lokale polizeiliche und militärische Akteure gewillt waren, ihre Mittlerposition zwischen national- wie bundesstaatlichen Entscheidungsträgern und Registrierten beizubehalten, brachen sie allzu einfache Vorstellungen über Zivilisten feindlicher Staaten auf. Überdies nahmen sie diese Rolle ebenso gegenüber zivilgesellschaftlichen Akteuren ein, die Zeitungen nutzten, um persönliche Meinungen zu popularisieren. Am unbedingten Kontrollanspruch der Beamten und an ihrer selektiven Beschreibung des Anderen änderte dies nichts. Im Akt des Notierens der erfragten Auskünfte etablierten sie ein neues Spannungsfeld zwischen einer verschriftlichten Faktizität und vielen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten. Die Frage danach, ob und wie die hierbei entstandenen Kontroversen bewältigt wurden, wird sich durch die folgenden Kapitel ziehen.
Verschriftlichen Bereits die ersten Materialsichtungen offenbarten eine grundlegende Bedingtheit der historischen Überlieferungen: Die Schreibarbeiten staatlicher wie nicht-staatlicher Akteure über feindliche Ausländerinnen und Ausländer entstanden überwiegend in Reaktion auf wahrgenommene und als bedeutsam erachtete Probleme, Konflikte und Kontroversen. Berichtet und begründet, beklagt und verteidigt, reglementiert und verhandelt wurde das, was als Nicht-Selbstverständlich in einem Krieg gelten sollte, das gegen Erwartungen und Routinen Verstoßende, die Störung, das NichtAlltägliche. Berichte, Erlasse, Bekanntmachungen oder Eingaben zielten auf ihre Beantwortung und Bewältigung ab. Die Münchner Meldezettel entstanden, weil Zivilisten gegnerischer Staaten als eine »große Gefahr« wahrgenommen wurden.40 Ausländische Staatsangehörige gewinnen demzufolge für gegenwärtige Betrachter zumeist an Sichtbarkeit und Bedeutung, wenn ihre Anwesenheit Konflikte 39 Ellwein, Der Staat als Zufall und Notwendigkeit, S. 74. 40 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Regierungen (KdI) u. d. Distriktspolizeibehörden, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976.
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befürchten ließ, sie eingeforderte oder erwartete Vorgaben überschritten, sie Rahmen der zivilen und militärischen Ordnungsvorstellungen nicht eingehalten hatten, wenn vorausgesetzte oder angeeignete Wirklichkeiten, Deutungsmuster oder Bedeutungssysteme individueller oder kollektiver Akteure sich widersprachen, gebrochen oder infrage gestellt wurden, wenn Akteure in ihrem Handlungsvollzug scheiterten oder ihre Ziele nicht erreichten. Die archivalischen Überlieferungen und zeitgenössischen Veröffentlichungen repräsentieren mithin eine konfliktträchtige Vergangenheit. Diese soll in ihren Kontroversen ausgelotet und in ihrem Nebeneinander von unterschiedlichen Erzählungen und Handlungen dargestellt werden. Dabei entsteht in der Befragung und Infragestellung des Recherchierten eine »Verunsicherung in Permanenz«, die mögliche historische Wirklichkeiten zum Vorschein bringt.41 Die eine Gruppe feindlicher Ausländer und Ausländerinnen wird in der nachfolgenden Konfliktgeschichte nicht entdeckt. Die eine nachvollziehbare Ordnung der Meldezettel täuscht. Denn die entstandene Datensammlung konnte auf unterschiedliche Weise zu verschiedenen Zwecken organisiert und befragt werden. Die möglichen Ordnungen und Antworten reduzierten die nicht-deutsche Staatsangehörigkeit zu einem Merkmal unter vielen, zum kleinsten gemeinsamen Nenner. In gleichem Maße wurden in und mit mannigfaltigen Schreibarbeiten feindliche Ausländerinnen und Ausländer facettenreich angeeignet und ihnen unterschiedlichste Rollen zugeschrieben: Spione und Saboteure, Studierende und Touristen, Bemittelte und Unbemittelte, Ausgewiesene und Geflüchtete, Deportierte und Evakuierte, Passinhaber und Staatsangehörige, Meldepflichtige und Internierte, Wehrpflichtige und Geiseln, Arbeiterinnen, Arbeiter und Arbeitslose, Kranke und Tote. Im Angesicht des Krieges stellten feindliche Ausländer und Ausländerinnen ein »Bündel von Möglichkeiten« dar,42 innerhalb dessen sie in Texten in Szene gesetzt und durch situatives Handeln wie Praktiken hervorgebracht wurden. Sie erschienen weder als statische Grundannahmen eines Krieges noch als endgültige Gewissheiten. Sie waren Ausdruck sich verändernder Aktionen, Perzeptionen und Reaktionen. Indem sie als ein neuartiges Phänomen des europäischen Kriegsschauplatzes hervortraten, gewährt ihre Genese Einblicke in Ungewissheiten und Zweifel, unbeständige Vorstellungen und gegenläufige Denkbewegungen.
41 Achim Landwehr, Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte, Bd. 61 (2012), S. 7–14, hier S. 13 f. 42 Entsprechung findet dieser Zugang in der Biographik nach: David E. Nye, The Invented Self. An Anti-biography, from Documents of Thomas A. Edison, Odense 1983, bes. S. 186–198 u. Ders., Nach Thomas Edison, in: Bernhard Fetz u. Wilhelm Hemecker (Hg.), Theorie der Biographie. Grundlagentext und Kommentar, Berlin 2011, S. 347–360, hier zitiert S. 353.
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Improvisieren Die betrachteten prekären Verfahren staatlichen Handelns wie deren Inszenierungen werden im Folgenden als Improvisation beschrieben. Diese historiografische Betrachtungsweise knüpft an das Forschungsergebnis Thomas Ellweins an. Im Zuge der Ausdehnung des Verwaltungsstaates habe eine stetige Unentschiedenheit darüber bestanden, welche öffentlichen Angelegenheiten dem Staat und welche der Zivilgesellschaft zufallen sollten. Dabei hebt Ellwein die Tendenz zur zufälligen Aufgabenfindung im Anschluss an soziale und ökonomische Herausforderungen hervor. Erst in der Kriegszeit sei eine Entscheidung zu Gunsten des Staates gefallen. Dessen Überforderung blieb aus, weil »Staat und Gemeinden […] über ein lockeres Gefüge von Verwaltungen geboten hätten, das im Ganzen und im Detail flexibel auf neue Anforderungen reagieren konnte«.43 Improvisieren als Art des Handelns und der Durchführung verweist auf diese Flexibilität in Krisenzeiten als Gegensatz zur akribischen Planung, Verfahrenskontrolle und Routine. »Alles läßt sich machen, was vorbereitet ist,« urteilte Wilhelm Groener (1867– 1939), der vor dem Krieg Chef der Eisenbahn-Abteilung im Großen Generalstab war. »[N]ur Improvisationen sind mit Gefahren verbunden und lassen sich nur bedingt, ja nach dem Grade der Ausbildung der ausführenden Organe, bewerkstelligen.«44 Aus Groeners militärischer Sicht verliefen die Mobilmachung und der Aufmarsch »so programmäßig, daß nichts über sie zu sagen ist; die wenigen kleinen Störungen und Sonderfälle trugen alle anekdotischen Charakter«.45 Abseits der nach Fahrplan verkehrenden Züge in die Stahlgewitter traten gleichwohl Kontroversen zutage. Denn die »administrativen und wirtschaftlichen Probleme, die sich aus einem Krieg ergeben konnten, [waren] nur mangelhaft geklärt«, wie Hans Fenske urteilt.46 In Bezug auf den Umgang mit Angehörigen gegnerischer Staaten fehlte es an einem Kursbuch über Aufgaben, Entscheidungsrahmen, Verfahrensweisen, Ziele und Zuständigkeiten. Deshalb suchten die Akteure des Staates, »als der Krieg sie vor neue Aufgaben stellte, die Lösungen in Improvisationen und Experimenten«.47 Sie hegten Zweifel an den Handlungsanweisungen und Normen der Friedenszeit. Zusätzlich schuf der Krieg unerwartete Situationen, für die es keine niedergelegten Entscheidungsregeln gab. Er störte alltägliche Abläufe, hinterfragte die Erfahrungen und das Wissen der Akteure. Diese reagierten innerhalb ihrer Netzwerke mit einem »Tun, 43 Ellwein, Der Staat als Zufall und Notwendigkeit, S. 473 f. 44 Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend · Generalstab · Weltkrieg, hg. von Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 142. 45 Ebd., S. 144. 46 Hans Fenske, Die Verwaltung im Ersten Weltkrieg, in: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl u. Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 866–908, hier S. 867. 47 Ebd.
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das Unvorhersehbarem begegnet und dessen Verlauf selbst unvorhersehbar ist«.48 Im Umgang mit feindlichen Ausländern und Ausländerinnen setzten sie einen Prozess in Gang, der keinem vorangestellten Plan folgte und doch spezifische Normen des Krieges erzeugte. Improvisieren ist im Zuge dessen als sozial abhängiges Handeln zu verstehen, wie es von Ulrich Bielefeld in den Blick genommen wird.49 Es benötigt den »Blick und die Aufmerksamkeit des Anderen«. Es ist mitnichten nur auf sich selbst oder auf verfügbare materielle Ressourcen gerichtet. Improvisierendes Tätigsein ist verflochten in Akteurskonstellationen, die einen sozialen Ermöglichungsrahmen umspannen. Nach Bielefeld sind dies erstens die wohlwollende und ermutigende Anerkennung, zweitens die konflikthafte und provozierende Auseinandersetzung, drittens ein ungewisses Desinteresse und Gleichgültigkeit. Die Akteure dieser Geschichte begegneten in unterschiedlicher Intensität diesen drei Situationen, die für sie bei weitem nicht so eindeutig zuzuordnen waren. Oftmals mussten sie um Aufmerksamkeit kämpfen und nach Chancen suchen. Für sie war es ungewiss, »ob die Gelegenheit genutzt werden kann oder ungenutzt verstreicht«.50 Improvisationen im Umgang mit feindlichen Ausländerinnen und Ausländern bedeuteten für sie prekäre Aushandlungen mit anderen Akteuren. Improvisieren ist erst im Akt des Historisierens zugänglich. Ohne sicheren Ausgangspunkt, ausgelöst durch einen krisenhaften Impuls, bleibt der Prozess selbst einem Nicht-wissen-können verhaftet, in dem die Zukunft aufhört, aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu schöpfen. »Erst im Nachtrag – dann nämlich, wenn nicht mehr improvisiert wird, wenn die Improvisation beendet ist und nur noch als Erinnerung oder in Form einer medialen Aufzeichnung existiert – kann sich der Handelnde das, was er hervorgebracht hat, an-eignen, es zu seinem Eigenen machen«, reflektieren Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter und Annemarie Matzke über die Paradoxien des Unvorhersehbaren.51 Damit einher gehen historiografische Herausforderungen. Improvisieren stellt einen Prozess dar, der in Niederschriften nur unvollständig auffindbar ist. »Das Untersuchungsmaterial erhält nicht selten eine Festigkeit, die die Aufführung selbst nicht hatte, es wirkt verbindlicher, abgeschlossener, fertiger als die eigentliche Improvisation, kurz, es wird als Produkt behandelt, während die Aufführung ein Prozess war«, gibt Gunter Lösel mit Blick auf das Improvisations-
48 Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandstetter u. Annemarie Matzke, Improvisieren: eine Eröffnung, in: Dies. (Hg.), Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld 2000, S. 7–20, hier S. 8. 49 Ulrich Bielefeld, Improvisation – Vertrauen – Notwendigkeit, in: Ders., Heinz Bude u. Bernd Greiner (Hg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 285–303. 50 Ebd., S. 286. 51 Bormann, Brandstetter u. Matzke, Improvisieren, S. 13.
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theater zu bedenken.52 In Anlehnung daran kann festgestellt werden, dass die »medialen Aufzeichnungen« in den Archiven oft Selbstbeschreibungen der Akteure konservieren, die rückblickend und Sinn suchend ihren Pfad durch stürmische Kriegszeiten beleuchteten. Sie erzählten trotz der Kriegsniederlage fast ausschließlich unmittelbare oder durch spätere Korrekturen vollbrachte Erfolgsgeschichten. Die sich angebotenen Alternativen, unentschiedene Momente, Wagnisse oder durch Kompromisse gekennzeichnete Entscheidungen verblieben darin meist im Dunkeln. Die Abgeschlossenheit zeitgenössischer Erzählungen erklärt sich aus der nachträglichen Aneignung und Zuschreibung des Improvisierens und innerhalb von Verwaltungsprozessen ebenso aus einer zweckorientierten Sprache. In der Schilderung vielerlei Improvisationen übernahmen staatliche Akteure Verantwortung, delegierten sie oder wiesen sie zurück. In der Niederschrift der Ereignisse rechtfertigten und legitimierten sie sich zugleich. Die Krise als Ursprung unvermeidlicher Handlung, der Improvisierende als geistesgegenwärtig Reagierender und der Entscheidungsweg als notwendiger bildeten eine Erzählkette, die es daran anschließend zu hinterfragen gilt. Aus diesem Grund lotet diese Darstellung insbesondere Konflikte, Abzweigungen und Sackgassen des Tätigseins der Akteure aus. Die recherchierten Normen und situationsgebundenen wie losgelösten Handlungspole werden als historische Möglichkeiten und Alternativen in den staatlichen Netzwerken im Territorium des Deutschen Reiches verstanden.
Hervorbringen Am Anfang dieser Geschichte steht der Versuch, ihren Verlauf und ihr Ende offenzulassen. Also keine (theoretische) »Ordnung zu schaffen, das Spektrum akzeptierbarer Entitäten zu beschränken, den Akteuren beizubringen, wer sie sind, oder in ihre blinde Praxis ein wenig Reflexivität hineinzubringen«.53 Mit der Perspektive Bruno Latours gilt es, den zum Handeln Gebrachten zu folgen und ihnen einen »Spielraum« zu lassen, sich selbst wie die Anderen zu definieren.54 Indem ihren zahlreichen Spuren gefolgt wird, soll ihnen die Möglichkeit gewährt werden, ihre Vielfalt und ihre Kontroversen zu entfalten. Der hier vorgelegte Bericht will die Arbeit aufzeigen, die erforderlich war, um feindliche Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland hervorzubringen und sie 52 Gunter Lösel, Das Spiel mit dem Chaos. Zur Performativität des Improvisationstheaters, Bielefeld 2013, S. 14. 53 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2010, S. 28. 54 Latour, Eine neue Soziologie, S. 74.
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als »das provisorische Produkt eines ständigen Lärms […] widersprüchlicher Stimmen, die zum Ausdruck bringen, was eine Gruppe ist und wer zu ihr gehört«, in Geltung zu setzen.55 Mit der Erforschung dieses »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes«56 soll dargelegt werden, wie die Anderen verhandelt und wie das Eigene gleich dem Blick in einen Spiegel vermessen und beurteilt wurde. Die nachfolgende Geschichte widmet sich demzufolge den vielgestaltigen gesellschaftlichen Brüchen und Gegensätzen innerhalb des Deutschen Kaiserreiches. Ihr liegt darüber hinaus die Prämisse zugrunde, dass es »eine Eigengeschichte [gibt], eine Geschichte von Dynamiken und Eigenlogiken des einmal ausgebrochenen Krieges, die jenseits von Vorher und Nachher liegen und die sich vermeintlichen Kausalgeraden und Kontinuitätslinien entziehen. Man muss«, so Jörn Leonhard weiter, »diese Eigengeschichte freilegen, und man muss sich auf sie einlassen.«57 Die Struktur dieses Forschungsberichtes entwickelte sich aus der provisorischen Unterscheidung verschiedenartiger Praktiken im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen. Hierbei handelt es sich um: Planen, Verdächtigen, Identifizieren, Überwachen, Ausweisen, Abschieben, Sorgen, Unterstützen, Grenzen ziehen, Grenzen verschieben, Einschränken, Entrechten, Internieren und Freilassen. Die Übergänge und Abgrenzungen zwischen diesen Praktiken waren fließend. Sie konnten sich gegenseitig bedingen oder sich überschneiden. Sie existierten nebeneinander. Nicht selten führten die betrachteten Akteure mehrere dieser Praktiken gleichzeitig und bisweilen gegensätzlich aus. Die folgenden historischen Darlegungen verfolgen das Ziel einer dichten Beschreibung dieser Praktiken als dynamische und verflochtene Sinn- und Bedeutungssysteme sowie Handlungsabläufe im Ersten Weltkrieg. Um die »chaotische Unübersichtlichkeit des geschichtlichen Tumults« in einer nachvollziehbaren Form zu entfalten, wird die erlesbare Gleichzeitigkeit der beobachtbaren Ereignisse, die miteinander und ineinander verstrickt waren, verringert.58 An diesen Grenzen des historiografischen Erzählens beginnt der Krieg in jedem Kapitel von Neuem, und die prozesshaften Entwicklungen wie ihre Schilderungen werden unter anderen Blickwinkeln und mit einer veränderten Quellenauswahl abermals betrachtet. Im Zuge dessen trifft die vergangene Hetero-Genese feindlicher Ausländer und Ausländerinnen auf die gegenwärtige, die im Moment des Lesens dieses Textes ihren Abschluss findet. Begonnen im Lichte surrender Leselampen, in der Bewegung 55 Ebd., S. 58. 56 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. aus d. Engl. von Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann, Frankfurt a. M. 1983, S. 7–43, hier S. 9. 57 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 28. 58 Über die Arbeit an den Bauformen historischen Erzählens siehe: Karl Schlögel, Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte, in: Merkur, Jg. 65 (2011), Heft 7, S. 583–595.
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des Autors durch das historische Papier und fortgesetzt in seiner Schreibpraxis werden die vergangenen Akteure und ihr Tun erneut versammelt, in Beziehung zueinander gesetzt und Netzwerke sichtbar gemacht, die zur Historisierung der vergangenen Ereignisse beitragen sollen.
Perspektivieren »A considerable practice of over a century and a half has established the customary rule that nationals of the enemy State found in belligerent territory at the outbreak of war are permitted to remain during good behavior, unless their expulsion is required by military considerations. Permission to remain carries with it, of course, the right to protection of life and property and an obligation of temporary allegiance. If ordered to leave, alien enemies should be given a reasonable time for the withdrawal or disposal of their property. Nor may they any longer be detained or held as prisoners.«59 Mit diesen Worten fasste Amos S. Hershey (1867–1933), Professor für Politikwissenschaft und internationales Recht an der Indiana University, 1912 den staatsrechtlichen Konsens über den Umgang mit Angehörigen feindlicher Staaten zusammen. Zwei Jahre später sollte ein Weltkrieg beginnen, in dem dieser nicht mehr galt. Deportationen und Zwangsarbeit, Freiheitsbeschränkungen und Rechteentzug, Internierungen und Enteignungen ausländischer Zivilisten gehörten stattdessen zu den alltäglichen Praktiken in kriegführenden Staaten in den Jahren 1914 bis 1918 und der Nachkriegszeit. In Europa fanden sich über 400.000 Zivilisten ohne Anklage und ohne Verurteilung hinter Lagerzäunen wieder.60 Hershey selbst formulierte im Januar 1918 den emotionalen wie bürokratischen Ausgangspunkt einer Vielzahl an Interventionen in das Leben ausländischer Staatsangehöriger.61 Er empfahl der US-Administration in einem ersten Schritt, Verdächtige und des Vertrauens Unwürdige unter ihnen zu registrieren und zu überwachen. Im Anschluss daran seien ferner drastischere Maßnahmen zu erwägen. Ihre Abschiebung aus größeren Städten, Küstengebieten und Produktionsorten der Rüstungsindustrie müsse präventiv geprüft werden. Schließlich dachte er über die prekären Grenzen zwischen Eigenem und Feindlichem in einem Einwanderungsland nach.
59 Amos S. Hershey, The Essentials of International Public Law, New York 1912, S. 362. 60 Richard Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War. A Study in the Diplomacy of Captivity, New York 1990, S. 141. 61 Amos S. Hershey, Treatment of Enemy Aliens, in: The American Journal of International Law, Vol. 12 (1918), No. 1, S. 156–162.
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»And we should not forget that among our naturalized citizens there are many who are American in name only; who remain alien and even enemy at heart or in real purpose. It would be well perhaps for Congress also to consider whether the writ of habeas corpus might not be suspended so as to enable the Federal authorities to deal with these cases. It is surely not in the interest of the public welfare that efforts to prevent and check the anti-patriotic and pro-German activities, even of American citizens, should be hampered by the ordinary processes of law which prevail in times of peace.«62 Angesichts dessen blieb der von James W. Garner (1871–1938) in der Kriegszeit angedeutete rechtswissenschaftliche Kompromiss weithin eine unerfüllte Hoffnung. »Writers on international law are now in substantial agreement that a belligerent ought not to detain enemy subjects, confiscate their property, or subject them to any disabilities, further than such as the protection of the national security and defense may require.«63 Der Schutz und die Verteidigung der nationalen Sicherheit legitimierten und entgrenzten zugleich viele Entscheidungen und Praktiken, wie Hershey im akademischen Raum am Beispiel der Loyalitätsfrage demonstriert hatte. Feine Risse durchziehen rückblickend Hersheys optimistische Vorkriegssicht auf das 19. Jahrhundert. Denn das von ihm vorgefundene Zeitalter der Humanisierung des Krieges, »zu dessen großen Leistungen die Trennung des kämpfenden Militärs und der Zivilbevölkerung im Nationalkrieg gehört«, warf einen dunklen Schatten voraus auf die »Wiederkehr eines Krieges, der diese Trennung aufhebt«.64 Einzelne der aufgezählten staatlichen Instrumente kamen bereits in militärischen Konflikten der Jahrhundertwende zum Einsatz. In den Burenkriegen (1880–1881/1899–1902), im Philippinisch-Amerikanischen Krieg (1899–1902), im Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905), auf den südosteuropäischen Kriegsschauplätzen (1912–1913) oder im Osmanisch-Italienischen Krieg (1911) wurden Zivilisten nicht nur zu kollateralen Opfern militärischer Strategien, sondern ebenso zu Zielen der Kriegsführung erklärt. Berichte über Kriegsverbrechen und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung in den Balkankriegen hatten darüber hinaus ein europäisches Medienecho gefunden und zur Entsendung einer internationalen Untersuchungskommission geführt. Deren detaillierte Ergebnisse fanden gleichwohl kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges kaum Beachtung und zeigten keine juristischen oder diplomatischen Folgen. Daniel Marc Segesser führt diesen Umstand vorrangig darauf zurück, »dass die ›zivilisierten‹ Staaten von sich selber glaubten, 62 Ebd., S. 162. 63 James W. Garner, Treatment of Enemy Aliens, in: The American Journal of International Law, Vol. 12 (1918), No. 1, S. 27–55, hier S. 27. 64 Dieter Langewiesche, Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte?, in: Jörg Baberowski, Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 12–36, hier S. 29 (Herv. im Org.).
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dass sie sich in einem Krieg anders verhalten würden als un- und halbzivilisierte Völker«.65 »[T]he First World War was the first [conflict] in which all these features coalesced to affect the lives of hundreds of thousands of people on an unprecedented scale«, urteilt Daniela Caglioti zusammenfassend über die Bedeutung der Jahre 1914 bis 1918 hinsichtlich feindlicher Zivilisten.66 Tammy Proctor hebt hierbei die Militarisierung des Zivilen besonders bei den Zivilinternierungen hervor. Er betont die gezielt herbeigeführten Entscheidungen staatlicher Instanzen. »The major difference in World War I was that civilian internment was a deliberate state policy regardless of whether the nation in question was fighting on its own territory.«67 Für das radikale Zusammenspiel antiliberaler Grundsätze und staatlicher Gewaltpraktiken gegenüber Zivilisten bietet Matthew Stibbe vier Erklärungsmomente an, die den Rissen des juristischen Fortschrittsparadigmas nachspüren.68 Trotz der Haager Konventionen aus den Jahren 1899 und 1907, die unter anderem die Behandlung der Kriegsgefangenen kursorisch festlegten, hatte erstens das Zerstörungspotential der Waffensysteme im Laufe des 19. Jahrhunderts erheblich zugenommen. Die immense Reichweite der Artilleriegeschütze oder der Bombenabwurf aus Flugzeugen erschwerten zunehmend eine technische Unterscheidung zwischen Kriegsteilnehmern und Zivilisten im Operationsgebiet. Zugleich wurden aber Militärdienst und Staatsbürgerschaft miteinander verknüpft. Dies setzte eine nationale Unterscheidung in Geltung, bei der ausländische Staatsangehörige und Mitglieder ethnischer wie nationaler Minderheiten als Wehrpflichtige der ihnen zugeschriebenen Heimatstaaten angesehen wurden. Ihre nationale Loyalität stand deshalb wiederkehrend in Frage. Zweitens wirkte die Globalisierung des Handels und des Verkehrs zurück auf die europäischen Nationalismen. Deren Apologeten entwarfen mit ihrer Forderung nach nationaler Homogenität ein Gegenprogramm zum Liberalismus und wirkten auf staatliches Handeln ein. Während Xenophobie und Ressentiments gegenüber Fremden die (europäischen) Gesellschaften durchdrangen, bauten die Administrationen die Kontrolle und Reglementierung von Fremden aus und regulierten Migrationsströme. Im Anschluss daran wirkte besonders der staatliche Zerfall der Vielvölkerreiche Ost- und Mitteleuropas, so Stibbe drittens, auf den Umgang mit ethnischen Minoritäten zurück und bedingte im Krieg ihre uneingeschränkte Ausgrenzung. Viertens betont der 65 Daniel Marc Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte 1872–1945, Paderborn 2010, S. 143–150, hier S. 150. 66 Daniela L. Caglioti, Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem in the First World War, in: War in History, Vol. 21 (2014), No. 2, S. 142–169, hier S. 143. 67 Tammy Proctor, Civilians in a World at War, 1914–1918, New York 2010, S. 204. 68 Matthew Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees in Europe, 1914–20, in: Ders. (Hg.), Captivity, Forced Labor and Forced Migration in Europe during the First World War, New York 2009, S. 49–81, hier S. 51–54.
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Historiker die Perspektive der Postcolonial Studies. Nach diesen stand vor allem der Zivilinternierung in Europa eine erprobte und eingeübte, aus Sicht militärischer Akteure pragmatische und effiziente koloniale Praxis gegenüber. Diese Überlegungen knüpfen historiografisch an einen Erklärungsversuch an, den Franz Scholz (1873–1958) 1929 im Rahmen des Wörterbuches des Völkerrechts und der Diplomatie zu geben versuchte.69 Als Mitlebender trennte er die Voraussetzungen für die neuen Dimensionen bei der Behandlung ausländischer Staatsangehöriger nicht von kriegsspezifischen Rahmenbedingungen. Er erblickte erstens in der Mobilisierung ganzer Gesellschaften ein entscheidendes Element im Umgang mit Zivilisten. »Im beiderseitigen Lager stand gewissermaßen das ganze Volk in Waffen«, schrieb er. »Wehrpflichtige und Nichtwehrpflichtige arbeiteten im Kriegsdienst, selbst Frauen in Munitionsfabriken; so wurde jeder Arbeitsfähige theoretisch ein Glied der Kriegsführung[.]« Zweitens seien durch den »modernen demokratischen Gedanken« die Regierten mit den Regierenden gleichgesetzt und für die Handlungen von Staaten zur Verantwortung gezogen worden. Militärischerseits ließ drittens besonders der Luftkrieg keine absolute Trennung zwischen Militär- und Zivilpersonen zu. In der Vorkriegszeit hatte sich darüber hinaus der »Weltverkehr« stark intensiviert. Dessen Beschränkungen im Krieg wirkten somit in ungekanntem Ausmaß auf Zivilisten zurück. Ihr Privatleben war viertens in einem Zeitalter der Globalisierung stärker »als je zuvor« betroffen. Überdies »trug der seit Jahren angesammelte Streitstoff, der in Frankreich seit 1870 künstlich geschürte Haß und auf Seiten der durch eine Übermacht bedrückten Mittelmächte das verzweifelte Gefühl des Existenzkampfs und des Hungers in der Heimat wesentlich zur Barbarisierung der Kriegsführung bei«. Mit ihren historischen Zusammenfassungen verweisen beide Autoren neben langfristigen Entwicklungsprozessen auf mögliche national und regional unterschiedliche Beweggründe und Instrumentarien im Umgang mit feindlichen Ausländer/innen. Matthew Stibbe ermahnt im Anschluss daran, den situativen Entscheidungen und kulturellen Besonderheiten Aufmerksamkeit zu schenken. Christoph Jahr gibt schließlich zu bedenken, dass diese wiederum in ein System der »wechselseitige[n] Radikalisierung zwischen den kriegführenden Staaten«, die oft mit Vergeltungsabsichten ihr Handeln begründeten und legitimierten, eingebettet gewesen waren.70 Der Erste Weltkrieg bedeutete eine gesellschaftliche wie staatliche »Renationalisierung«, die im gewalttätigen und entrechtenden Umgang mit ausländischen 69 Franz Scholz, Weltkrieg und Völkerrecht: Behandlung von Privatpersonen, in: Karl Strupp (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 3: Vasallenstaaten – Zwangsverschickung, Berlin 1929, S. 452–456, hier S. 452 f. 70 Christoph Jahr, Keine Feriengäste. »Feindstaatenausländer« im südlichen Bayern während des Ersten Weltkrieges, in: Hermann Kuprian (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung, Innsbruck 2006, S. 231–246, hier S. 233.
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Staatsangehörigen kulminierte.71 »The experience of internment varied widely according to nation, age, and status of internee, and period of the war, but in all cases, internees were removed from society and placed in a strange state of limbo for the duration of the war or until their repatriation«, resümiert Tammy Proctor.72 Diese historischen Prozesse bewahren aber nicht davor, »die Brüchigkeit der modernen Begriffe von Rasse, Nationalität und Staatsbürgerschaft« offenzulegen.73 Im Krieg zeigte sich neben beharrlichen Ausgrenzungen des Anderen eine unmögliche Vollendung des Eigenen. Die folgenden Ausführungen sollen ein Panorama an unterschiedlichen und gleichartigen Entwicklungen in einigen kriegführenden Staaten umreißen und historiografische Perspektiven vorstellen.74 Die zu erörternden Ereignisse im Deutschen Reich stellten keine Ausnahme dar.
Russisches Reich Während des Ersten Weltkrieges hielten sich circa 600.000 registrierte »poddannyi, strany voiuiushchei s Rossiei« – Untertanen, deren Land sich im Krieg mit Russland befindet – im Russischen Reich auf.75 Obwohl ihnen in den Tagen der Mobilmachung die Regierung in Sankt Petersburg zugesichert hatte, dass sie keine Maßnahmen gegen ihre Person oder ihr Eigentum befürchten müssten, sahen sie sich noch im ersten Kriegsjahr mit Verdächtigungen und Verleumdungen, Vereinsund Sprachverboten, Boykottaufrufen und Enteignungen sowie Deportationen konfrontiert. Im Unterschied zu ähnlichen Ereignissen in anderen europäischen Staaten stellt Eric Lohr in seiner Studie Nationalizing the Russian Empire zwei Besonderheiten der Situation in Russland heraus.76 Zum einen besetzten feindliche Staatsbürger und Minoritäten Schlüsselpositionen innerhalb der Wirtschaft und 71 Matthew Stibbe, Ein globales Phänomen. Zivilinternierung im Ersten Weltkrieg in transnationaler und internationaler Dimension, in: Christoph Jahr u. Jens Thiel (Hg.), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 158–177, hier S. 161. 72 Proctor, Civilians in a World at War, S. 219. 73 Stibbe, Ein globales Phänomen, S. 161. 74 Einen kursorischen Überblick gibt ferner: Daniela L. Caglioti, Dealing with Enemy Aliens in WWI: Security versus Civil Liberties and Property Rights, in: Italian Journal of Public Law, Vol. 3 (2011), Issue 2, S. 180–194. 75 Zur Gruppe der über 2,3 Millionen militärischen Kriegsgefangenen im Russischen Reich siehe: Alon Rachamimov, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, Oxford 2002; Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005 u. Reinhard Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld, Frankfurt a. M. 2005. 76 Eric Lohr, Nationalizing the Russian Empire. The Campaign against Enemy Aliens during World War I, Cambridge 2003. Der folgende Abschnitt basiert auf Lohrs Darstellung. Vgl. zur Situation deutscher Staatsangehöriger und Deutschstämmiger in Russland ebenso: Sergej G. Nelipovič, Die Politik der militärischen Führung Rußlands gegenüber den Deutschen während des Ersten Weltkrieges 1914–1918, in: Alfred Eisfeld, Victor Herdt u. Boris Meissner (Hg.), Deutsche in Rußland und in der Sowjetunion 1914–1941, Berlin 2007, S. 106–126
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des Verwaltungsapparates. Demzufolge zeitigten gegen sie gerichtete Maßnahmen größere Auswirkungen als in anderen Ländern. Zum anderen griffen die Sanktionen nach kurzer Zeit auf naturalisierte Einwanderer und russländische Bürger, deren Loyalität in Frage stand, über. Angesichts dessen beschreibt der Historiker die Kampagne gegen feindliche Ausländer als Ausdruck einer russischen Nationalbewegung, die eine ethnische, russische Hegemonie innerhalb der staatlichen Elite vehement anstrebte. Daraus folgte ein parteiübergreifend geführter Kampf gegen die ›deutsche‹ Dominanz im Staat. Diese Russifizierungspolitik stand im Gegensatz zur Vorkriegszeit, in der der Versuch vorgeherrscht hatte, Minderheiten zu assimilieren und nicht durch Zwangsmigrationen auszugrenzen. Als zentrales Instrument der Segregation ethnischer Minderheiten fungierten Deportationen, Enteignungen und Vertreibungen.77 Die Abschiebung und Internierung von circa 50.000 wehrfähigen, feindlichen Ausländern hatte zu Kriegsbeginn das militärische Ziel, ihre Eingliederung in feindliche Streitkräfte zu verhindern. Jedoch kam es in den unter Kriegsrecht stehenden Gebieten bald zur Ausdehnung des Personenkreises. Frauen und Kinder, russländische Staatsangehörige ›feindlicher‹ Herkunft, jüdische und muslimische Staatsbürger fanden sich in Eisenbahnzügen auf dem Weg nach Zentralrussland wieder. Zunächst auf die Operationsgebiete und einen etwa 106 Kilometer breiten Grenzstreifen begrenzt, praktizierten staatliche Polizeibehörden seit den Wintermonaten 1914/15 die Deportationen aus einem Netz an Sicherheitszonen. Allein die Eisenbahnstatistiken verzeichneten über 255.000 Deportierte. Lohr geht von etwa 300.000 in Internierungslager Verbrachte oder nach bestimmten Orten im Inneren des Reiches Verwiesenen aus. Unter ihnen befanden sich über 115.000 Siedler aus Wolhynien, die im 19. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert waren. Parallel dazu etablierte sich die Enteignung von Grund- und Unternehmensbesitz. Seit Februar 1915 registrierten die Behörden das Geschäftseigentum feindlicher Ausländer, die dieses mit einer Frist von bis zu zwei Jahren verkaufen mussten. Kurzzeitig unterbrochen durch die Februarrevolution 1917 wurde der betroffene Personenkreis anschließend wiederum ausgedehnt und umfasste zuletzt alle Einwanderer des Reiches, die nach 1880 naturalisiert worden waren. »These territorial expansions decisively changed the expropriatory legislation from a securitybased measure applied to front areas to a nationwide program to nationalize the demographics of land ownership by permanently purging enemy aliens from the rural economy«, fasst Lohr diese Entwicklung zusammen.78 Sie war Bestandteil u. Dittmar Dahlmann, The Russian Germans: A Heterogeneous Minority during the First World War, in: Panikos Panayi (Hg.), Germans as Minorities during the First World War. A Global Comparative Perspective, Farnham 2014, S. 171–188. 77 Im Anschluss an Eric Lohr zur Lage der jüdischen Bevölkerung im Baltikum, in Ostgalizien und in der Bukowina siehe: Frank Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919), Köln 2004, S. 161–233. 78 Lohr, Nationalizing the Russian Empire, S. 105.
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einer sozioökonomischen und demographischen Transformation, die keine innenpolitischen Kontroversen auslöste. Der Weltkrieg entwickelte dennoch eine fatale Eigendynamik für die russische Regierung und die Heeresführung. Indem sie versucht hatten, die vielfältigen patriotischen Kundgebungen, die die Loyalität gegenüber dem Russischen Reich beschworen hatten, für den Krieg zu nutzen, waren sie zugleich zu Getriebenen dieses Patriotismus geworden. Er konnte sich schnell gegen sie wenden. Im ganzen Land griffen Randalierende und Plündernde seit den ersten Kriegstagen deutsche Staatsbürger/innen an. Sie brandschatzten in Sankt Petersburg die deutsche Botschaft, wüteten gegen Geschäfte deutscher Inhaber und stürmten das Verlagshaus der deutschsprachigen St. Petersburger Zeitung. Besonders in den baltischen Provinzen demonstrierten Einwohner gegen ›Deutsche‹, wobei sie nicht zwischen nicht-russländischen Staatsangehörigen und der deutschbaltischen, ansässigen Oberschicht unterschieden. Die Militärverantwortlichen warnten zur selben Zeit vor Spionageakten, deren Urheber sie unter Ausländern, deutschstämmigen Staatsbürgern Russlands und Juden vermuteten. Sie sahen deren Täterschaft als erwiesen an und in den Niederlagen der russländischen Armee fanden sie schließlich eine Bestätigung für ihre Ansicht. Ausgehend vom Armeehauptquartier gelangten Warnungen vor Spionen und Schilderungen über Spionageaktionen in die Tageszeitungen. Der Verdacht des Verrats lastete wiederum überwiegend auf Juden und ›Deutschen‹. Sein prominentestes, deutschbaltisches Opfer fand er wohl in General Paul von Rennenkampff (1854–1918). Er musste nach verlorenen Schlachten bei Tannenberg und an den Masurischen Seen sein Kommando über die 1. Armee abgeben und sich Vorwürfen erwehren, er hätte Landesverrat begangen. Seine Nicht-Verurteilung interpretierten Nationalisten als Beweis für das Wirken einer deutschen Clique in den Institutionen des Vielvölkerreichs. Die Administration war innerhalb kürzester Zeit von einer Anklägerin zur Angeklagten geworden. Die Kampagne gegen feindliche Ausländer verlor nicht an Kraft. Fortwährend kam es zu Übergriffen auf ›Deutsche‹ oder dem Namen nach ›Deutsche‹. Petitionen wurden geschrieben und Arbeiter streikten, um die Absetzung ausländischer Unternehmensinhaber und die Entlassung von Vorarbeitern, Ingenieuren und Metallarbeitern zu erzwingen. Beamte wie Geschäftsleute nutzten die Stimmung, um Rivalen und Konkurrenten auszuschalten. Vor allem in der Öffentlichkeit stehende deutsche Staatsangehörige verloren auf diesem Wege ihre Posten. Bald warnten die Lokalbehörden im westlichen Reich vor Ausschreitungen. Beobachter konstatierten eine pogromartige Stimmung. Die empörten Presseberichte, die eindringlichen Spionagewarnungen des Armeeoberkommandos, die Agitation der Moskauer Unternehmervereinigung gegen ausländische Investoren und die zögerlichen Reaktionen der russischen Regierung auf Gewalt gegen feindliche Ausländer/innen und ihr Eigentum kulminierten schließlich im Mai 1915 in den Moskauer Unruhen. Die drei Tage
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andauernden Ausschreitungen, die sich explizit gegen nicht-russländische Staatsangehörige richteten und eine Schneise der Verwüstung in der Stadt hinterließen, demonstrierten die prekäre Macht staatlicher Verantwortungsträger und ihr zentrales Dilemma. Einerseits wollten sie die patriotische Einheit der Bevölkerung nicht unterminieren. Andererseits drohte ihnen die Kontrolle über die Situation zu entgleiten. National adressierte Gewalt gegen ausländische Unternehmer konnte leicht in soziale Unruhen umschlagen. Den radikalisierten Forderungen gegen feindliche Ausländer/innen und Minderheiten zu entsprechen, konnte weitergehende Ansprüche wie gleiche politische Rechte für russländische Staatsbürger provozieren. Der Versuch, patriotische Unterstützung zu generieren – »to make the imperial state more ›national‹ in order to mobilize better for war« –, zeitigte eine bedrohliche Kehrseite.79 Denn viele, die sich zunehmend gegen das Regime wandten, taten es im Namen des Patriotismus und erklärten die Regierung für unfähig, russische, nationale Interessen durchzusetzen. Aus patriotischer Unterstützung entwickelte sich patriotische Opposition gegen die »deutsche Clique«. Das Regierungshandeln lässt sich in diesem Zusammenhang als eine defensive Reaktion interpretieren. »In part, the government and army used the blunt and extreme tools of mass deportation and expropriation because state power was so brittle and limited.«80 Der Weltkrieg zeitigte damit umfassende Folgen für Ausländer, Minderheiten und die Legitimität des politischen Systems. Nach Eric Lohr fußte die sich radikalisierende Nationalisierung des Russischen Reiches auf den Kriegsereignissen und dem Handeln der zivilen wie militärischen Führung. Staatliche Institutionen initiierten und beschleunigten die Spaltung der russländischen Bevölkerung entlang nationaler und ethnischer Grenzen und Gewissheiten. Über die Folgen für das Staatswesen schreibt der Historiker: »The campaign against enemy minorities contributed to strengthening the national state through the expansion of documentary controls over the population, greater police and state oversight of foreigners and immigrants, the creation of a network of inspectors, administrators, and liquidators to oversee and control corporations and economic transactions, and the transfer of many businesses and properties to state institutions.«81
79 Ebd., S. 54. 80 Ebd., S. 171. 81 Ebd., S. 170.
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Österreich-Ungarn Gewalt gegen Zivilisten stellte ein prägendes Element des Krieges in Ost- und Südosteuropa dar.82 Sie begann auf österreichisch-ungarischer Seite mit einer unerbittlichen Militärjustiz gegen Männer, Frauen und Kinder. »Ein unbesonnenes Wort, eine missverständliche Geste, der Hinweis eines Denunzianten reichten aus, um die beschuldigten an den Galgen zu bringen«, beschreibt Anton Holzer den heute weitgehend vergessenen Krieg gegen eigene und fremde Staatsbürger/innen an den Rändern des Habsburger Reiches.83 Todesurteile fällen und vollstrecken, hinrichten und Massengräber ausheben, gehörte zu den Tätigkeiten der kaiserlichen und königlichen Offiziere und Soldaten. Sie erkannten in Spionen und Verrätern den eigentlichen Grund für ihre Niederlagen gegen die russische Armee. Gendarmerie und Verwaltungsbeamte vor Ort unterstützten sie, glaubten vielfältigsten Denunziationen und trugen diese weiter. Sie richteten ohne Skrupel über politisch Unzuverlässige, potenziell Staatsfeindliche, Kollaborierende, national Verdächtige und Illoyale. Zeitgenössische Schätzungen gingen von 30.000 Opfern allein in Ostgalizien aus. Forschungen bestätigen diese Angaben und nehmen ebenso viele Hingerichtete für den serbischen Kriegsschauplatz an. Wer dem sofortigen Tode entging, wurde aus den Grenzgebieten des Reiches in Internierungslager überführt. Zumeist handelte es sich bei den Betroffenen um österreichische Staatsangehörige: bosnische Serben, ostgalizische Ruthenen, denen eine pro-russische Haltung unterstellt wurde, und italienischsprachige Bürger, die als Unabhängigkeitsverfechter oder -sympathisanten galten. Oft befanden sich Opfer antisemitischer und anderer nationaler Ressentiments unter ihnen. Hinzu kamen Geiseln, die ein Wohlverhalten der örtlichen Bevölkerung im Kriegsgebiet sicherstellen sollten. Die Betroffenen waren Beamte, Bürgermeister, Lehrer, Professoren, Landtags- und Reichstagsabgeordnete. Ihre Unterbringung in den Lagern gestaltete sich zum Teil katastrophal und der Alltag war von Schikanen und Zwangsarbeit geprägt. In den Wintermonaten 1914/15 starben beispielsweise im überbelegten Lager Thalerhof, in das auch Frauen und Kinder eingewiesen wurden, 1500 Internierte an den Folgen von Erschöpfung, Krankheiten 82 Der folgende Abschnitt beruft sich auf die Studien von: Hermann Kuprian, »Entheimatung«. Flucht und Vertreibung in der Habsburgermonarchie während des Ersten Weltkrieges und ihre Konsequenzen, in: Ders. (Hg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung, Innsbruck 2006, S. 289–306; Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, Darmstadt 2008; Matthew Stibbe, Enemy aliens, deportees, refugees: internment practices in the Habsburg Empire, 1914–1918, in: Journal of Modern European History, Vol. 12 (2014), No. 4, S. 479–499 u. Ders, Krieg und Brutalisierung. Die Internierung von Zivilisten bzw. »politisch Unzuverlässigen« in Österreich-Ungarn während des Ersten Weltkriegs, in: Alfred Eisfeld, Guido Hausmann u. Dietmar Neutatz (Hg.), Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, Essen 2013, S. 87–106. 83 Holzer, Das Lächeln der Henker, S. 73–77.
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und Misshandlungen. Die Lagermannschaften drangsalierten offenbar besonders Angehörige der Oberschicht und Frauen. Letztere mussten nach zeitgenössischen Berichten die Latrinen der Männer benutzen und unter den Augen von Offizieren und Unteroffizieren baden. Erst ab dem Frühsommer 1915, als sanitäre und hygienische Mängel behoben wurden, der Lagerausbau voranschritt und eine Untersuchungskommission Nachforschungen über die Gründe der Internierung anstellte, verbesserten sich die Lebensbedingungen für die Gefangenen.84 Wie bei Gewaltexzessen deutscher Truppen gegen Zivilisten und vermeintliche Freischärler in Belgien und Frankreich,85 waren die Grenzen zwischen Zivilisten und Soldaten, Zivilisation und Barbarei bereits zu Kriegsbeginn uneindeutig und leicht zu überschreiten. Begünstigt wurde diese Situation durch die auf weite Teile des Vielvölkerreiches ausgedehnte Kriegsgerichtsbarkeit, der Soldaten und Zivilisten gleichermaßen unterstanden. »Raschheit, Entschiedenheit und Strenge« forderte das Kriegsüberwachungsamt, um »staatsgefährliche Verbrechen« zu unterbinden. Zugleich machte das Armeeoberkommando auf die Möglichkeit des Kriegsnotwehrrechtes aufmerksam, Hinrichtungen ohne vorherige Konsultation der Feldgerichte anzuordnen.86 Erst 1916 untersagten die Armeeverantwortlichen militärische »Justifizierungen«, und ein Jahr später wurden außergerichtliche Hinrichtungen verboten. Kaiser Karl I. (1887–1922) gewährte den überlebenden Inländer/innen der Lager im März 1917 Amnestie. Nicht immer konnten sie in ihre Heimatorte zurückkehren. Der Umgang mit westeuropäischen feindlichen Ausländer/innen zeitigte dagegen weit weniger Extreme. Während russländische und später ebenso italienische Staatsbürger häufig festgenommen und bis zu 50.000 serbische Bürger aus den Operationsgebieten deportiert und als Zwangsarbeiter in Österreich eingesetzt wurden, durften britische und französische Staatsangehörige in den ersten Kriegswochen in Freiheit verbleiben. Presseberichte über die Situation in Großbritannien und Ausländerverordnungen im Deutschen Reich Anfang November 1914, zu denen die Internierung wehrfähiger Briten zählte, führten allerdings gleichfalls in der Donaumonarchie zu strengeren Maßnahmen wie Meldepflichten und Ausgangssperren. Eine allgemeine Internierung hielten die Militärverantwortlichen aber für unnötig. Maßgeblich waren vor allem wirtschaftliche Interessen und die tiefe Integration vieler westeuropäischer Ausländer, die trotz eines fremden Passes für die Monarchie eintraten. Daher befanden sich beispielsweise im Mai 1915 von 1798 Briten nur 78 in Haft. Öfters erfolgte die sogenannte Konfination. Dabei 84 Zum Lager Thalerhof: Georg Hoffmann, Nicole-Melanie Goll u. Philipp Lesiak, Thalerhof 1914–1936. Die Geschichte eines vergessenen Lagers und seiner Opfer, Herne 2010. 85 Zusammenfassend: Alan Kramer, »Greultaten«. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: Gerhard Hirschfeld u. Gerd Krumeich (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch … Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 85–114. 86 Holzer, Das Lächeln der Henker, S. 78 f.
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wurden finanziell unabhängige, feindliche Staatsangehörige aus Großstädten und Sicherheitszonen nach bestimmten Städten und Dörfern meist in Niederösterreich ausgewiesen. Nur jene, die für ihren Unterhalt selbst nicht aufkommen konnten, internierten die Behörden anschließend. Matthew Stibbe unterstreicht bei seiner Betrachtung Österreich-Ungarns die vielfältigen Internierungsmotive und -formen. Nicht eine klar abgegrenzte soziale oder nationale Gruppe fand sich hinter den Stacheldrahtzäunen wieder, sondern Verdächtige und Spione, Deportierte und Geiseln. Schließlich wurden auch Geflüchtete, deren Zahl bis Ende 1915 auf über 130.000 Personen gestiegen war, in Barackenlagern untergebracht. Ihr Lebensalltag unterschied sich zwar administrativ aber nicht praktisch von dem der übrigen Internierten. Mit Blick auf »systematische« Vertreibungen und Zwangsdeportationen, Plünderungen und Brandschatzungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen, Internierungen und Zwangsarbeitseinsätze erkennt Anton Holzer Elemente eines »Vernichtungskrieges« als Teil einer kompromisslosen österreichisch-ungarischen Kriegsführung.87 Die Reaktionen der Bevölkerung, das Wissen und die Erfahrungen der Daheimgebliebenen in Bezug auf die Verbrechen der kaiserlichen und königlichen Militärdiktatur sind nur bruchstückhaft erforscht. Im Unterschied zum Russischen Reich spielten veröffentlichte Meinungen über feindliche Ausländer/innen aber keine entscheidende Rolle für die Verantwortungsträger. Die Ereignisse an der Ost- und Südostfront wurden erst 1917 im wiedereinberufenen Reichsrat öffentlich thematisiert. Die Zensur solcher Berichte dauerte bis zum Kriegsende an.88 Während in der Wiener Presse die Illoyalität vieler Ruthenen angeprangert und so der innere Feind im eigenen Staatsbürger erkannt wurde, entwickelte sich daraus keine mobilisierend wirkende, nationalistische Bewegung, die in der Lage gewesen wäre, eine unteilbare österreichisch-ungarische Kriegsgemeinschaft zu imaginieren. Vielmehr bewertet Matthew Stibbe die Internierung politisch Verdächtiger als »eine teure und kontraproduktive Maßnahme, die zur Unterminierung sozialer Kohäsion, traditioneller Geschlechterrollen und letztlich der Legitimität des dynastischen Vielvölkerstaates selbst führte«. Dessen slawische und italienische Nationalitäten hatten sich weiter von der Monarchie entfremdet und ihre Eigenständigkeitsbestrebungen verfestigt und verstärkt.89
87 Ebd., S. 164 f. 88 Ebd., S. 17 ff. 89 Stibbe, Krieg und Brutalisierung, S. 105 f. u. Ders., Enemy Aliens, Deportees, Refugees, S. 499.
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Großbritannien Die britische Gesellschaft und ihre Institutionen durchlebten während des Weltkrieges einen beschleunigten Wandel,90 der die Phase eines toleranten Liberalismus und einer offenen Einwanderungspolitik beendete.91 Ihn kennzeichnete maßgeblich die Wahrnehmung einer existenziellen Sicherheitsbedrohung des Königreiches wie seiner Bürger/innen. Panikos Panayi unterscheidet drei Entwicklungstendenzen. Innerhalb des politischen Spektrums emanzipierten sich die nationalistischen und fremdenfeindlichen Positionen des rechten Flügels der Konservativen Partei zu einflussreichen Leitideen politischen Handelns. Politische Minderheiten, die den Krieg und die ihm folgenden Maßnahmen ablehnten oder mit Skepsis begegneten, sahen sich zur selben Zeit zunehmend öffentlich diskriminiert und angefeindet. Einwanderern wurde Misstrauen entgegengebracht und zuerst ihre Loyalität gegenüber, später ihre Zugehörigkeit zum Königreich infrage gestellt. Schließlich nahmen die staatlichen Eingriffe in das Leben des Einzelnen zu: von Preiskontrollen und Nahrungsmittelverteilungen über die Nachrichtenkontrolle durch das War Propaganda Bureau bis hin zur statistischen Erfassung der Bevölkerung in einem umfassenden Melderegister und der Ausgabe eines Registration Certificate. Von diesen Entwicklungen waren feindliche Ausländer/innen in besonderem Maße betroffen. Ihr Alltag sollte sich seit der Kriegsproklamation einschneidend verändern. Um die Jahrhundertwende gewannen nationale Ressentiments und deutschfeindliche Überzeugungen in Großbritannien an Akzeptanz. Sie fanden ihren Nährboden zum einen in einer Verunsicherung über die Leistungsfähigkeit der britischen Armee, die im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) empfindliche Niederlagen erlitten hatte. Zum anderen gründeten sie in den öffentlichkeitswirksam vermarkteten Weltmachtambitionen des Deutschen Kaisers und seiner Flotte. Beides schlug sich in einer latenten Bedrohungswahrnehmung nieder und ließ Invasionsbefürchtungen keimen. Diese fanden ihren eindrücklichsten Nieder-
90 Der folgende Abschnitt fußt auf den Darstellungen von: John C. Bird, Control of Enemy Alien Civilians in Great Britain, 1914–1918, New York 1986; Panikos Panayi, An Intolerant Act by an Intolerant Society: The Internment of Germans in Britain During the First World War, in: David Cesarani, Tony Kushner (Hg.), The Internment of Aliens in Twentieth Century Britain, London 1993, S. 53–78, Ders., Prisoners of Britain. German civilians and combatant internees during the First World War, Manchester 2012; Stefan Manz, Migranten und Internierte. Deutsche in Glasgow, 1864–1918, Wiesbaden 2003, S. 231–295; Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 199–224 u. Dies., Im Namen der nationalen Sicherheit. Sicherheitsbedenken und Migrationspolitik in Grossbritannien während des frühen 20. Jahrhunderts, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire, 2009/1, S. 57–74. 91 Zur Fremdenfeindlichkeit in Großbritannien siehe: David Cesarani, An Alien Concept? The Continuity of Anti-Alienism in British Society before 1940, in: Ders. u. Tony Kushner (Hg.), The Internment of Aliens in Twentieth Century Britain, London 1993, S. 25–52.
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schlag in Spionageromanen, deren rote Fäden der Wirklichkeit beängstigend nahe zu kommen schienen. Als im August 1914 eine Welle von Spionageverdächtigungen die etwa 60.000 gebürtigen deutschen Einwander/innen überrollte, hatte sich die Vorstellung, dass ›Deutsche‹ als Agenten staatliche Institutionen infiltriert hatten und ein Landungsunternehmen vorbereiteten, schon lange festgesetzt.92 Sie wurden mit physischer Gewalt auf der Straße und mit verbalen Attacken in der Presse bedroht. Gegen sie wurde gestreikt und sie verloren ihre Anstellungen. Ihre Unterstützer setzten sich Demütigungen aus. Dabei unterschieden Demonstranten, Gewalttäter und Zeitungskommentatoren selten zwischen deutschen Staatsangehörigen und naturalisierten Briten. Neben einer »nationalistisch gestimmten Öffentlichkeit, die sich vehement gegen die Angehörigen der gegnerischen Staaten im eigenen Land wandte und deren Internierung oder Abschiebung forderte«, sahen sie sich nicht zuletzt mit einer »misstrauische[n] Haltung der Ministerialbürokratie« konfrontiert, wie Christiane Reinecke beschreibt.93 Nachdem der Umgang mit feindlichen Ausländer/innen vor dem Krieg im Committee of Imperial Defense diskutiert worden war, verabschiedete das britische Parlament am 5. August 1914 den Aliens Restriction Act. Staatsangehörige feindlicher Staaten mussten sich infolgedessen bei den Polizeibehörden registrieren lassen. Sie unterlagen fortan einer Meldepflicht, um ihre Kontrolle und Überwachung zu erleichtern. Für Männer galt zudem eine nächtliche Ausgangssperre. Weiterhin wurden feindliche Ausländer/innen aus militärischen Sicherheitszonen und aus einem zehn Kilometer breiten Küstenstreifen ausgewiesen und durften nicht mehr als fünf Meilen reisen. Im April 1915 trat die Passpflicht in Kraft. Zur Einreise bedurften sie einer Sondererlaubnis, und ihre Ausweisung war grundsätzlich ohne Gerichtsverfahren möglich. Zusätzlich mussten sie ihre sozialen wie kulturellen Vereine schließen. Ihnen war unter anderem der Besitz von Fotoapparaten, Telefonen, Autos und Motorrädern untersagt. Das Wirtschaftsleben feindlicher Staatsangehöriger unterlag ebenso weitreichenden Sanktionen. Während Privateigentum nicht konfisziert wurde, ermöglichte der Trading with the Enemy Act vom 18. September 1914 die staatliche Aufsicht über ausländische Unternehmen. Die Londoner Börse schloss Händler gegnerischer Staaten aus, und naturalisierte Briten mussten die Börsenaufsicht von ihrer Loyalität überzeugen. Sie konnten nach vielfachen Forderungen britischer Geschäftsleute seit 1916 enteignet werden. Unter Kontrolle des Board of Trade wurden nur jene Unternehmungen fortgeführt, für deren Erhalt ein öffentliches Interesse bestand. 92 Zum Feindbild des ›Deutschen‹ in Großbritannien siehe: Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 124–134. 93 Reinecke, Im Namen der Sicherheit, S. 62.
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Obwohl vor dem Krieg eine Internierung ausländischer Wehrfähiger nicht zur Diskussion gestanden hatte, sprach sich am 5. August 1914 der britische Generalstab für eine Gefangennahme aller deutschen und österreichisch-ungarischen Staatsbürger im Alter von 17 bis 42 Jahren aus. In einem Telegramm teilte er den Bezirkskommandeuren mit: »It should be clearly understood that all male Germans and Austrians between 17 and 42 years of age are reservists. Therefore all apparently of this description should be made prisoners of war unless exemption from service can clearly be proved. You will make arrangements for arresting all such reservists, calling on police to assist you. You will also arrange to accommodate, feed and guard these prisoners of war.«94 Gleichwohl kam diese Maßnahme nicht zur Ausführung. In einer eilig einberufenen Beratung im War Office wurde entschieden, die Order zurückzunehmen. Dafür seien laut John Bird zwei Motive ausschlaggebend gewesen. Zum einen hatte sich das Königreich mit Österreich-Ungarn noch gar nicht im Kriegszustand befunden. Zum anderen befürchteten Regierungsvertreter Vergeltungsmaßnahmen. Die Möglichkeit, gefährliche oder verdächtige Ausländer festzunehmen, blieb allerdings bestehen. Ende August waren davon etwa 4300 Personen betroffen. In den Augen des britischen Innenministers handelte es sich um zu wenige. Für ihn stellten die in Freiheit Verbliebenen eine fortwährende Gefahr dar. Nationalistische Stimmen im Parlament und in den Zeitungen stützten seinen Standpunkt, indem sie weiterhin eine restriktivere Politik gegenüber feindlichen Ausländer/innen forderten. Vor diesem Hintergrund erging Anfang September die Verordnung, deutsche Reservisten unter 45 Jahren zu internieren. Ausnahmen davon sollten im Einzelfall möglich sein, wo wirtschaftliche Interessen überwogen oder die Zivilbeamten von der Ungefährlichkeit des Betroffenen überzeugt waren. In den eilig errichteten Internierungsstätten fanden sich Ende September 10.500 deutsche Staatsangehörige wieder. Zu diesem Zeitpunkt verhinderten vor allem fehlende Quartiere für die Arretierten weitere Internierungen. Populistische Meinungsmacher sahen indes ihre Forderungen nicht eingelöst. Innerhalb der Presse konnten sie ihre Deutungshoheit in deutschfeindlichen Hetzkommentaren behaupten. Zugleich kam es im Oktober 1914 im Londoner Stadtteil Deptford zu Krawallen gegen ›Deutsche‹. Das Regierungskabinett beschloss nun die allgemeine Internierung deutscher und österreichisch-ungarischer Wehrpflichtiger im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, obwohl das War Office weiterhin einen Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten beklagte. Trotz der frühen Augustinitiative der Militärverantwortlichen sieht John Bird dement94 General Staff to Area Military Commanders, 7.8.1914, (Telegram) zit. nach: Bird, Control of Enemy Alien Civilians, S. 53.
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sprechend die Schrittmacher der Internierungen in der zivilen Administration. »It seems likely that the main spur for the general internment of enemy alien men of military age came from the Home Office, where […] strong-minded officials […] undoubtedly exerted a considerable influence over the direction of policy.«95 Dennoch verzögerte sich die Umsetzung der Pläne erheblich und zwischen November 1914 und Februar 1915 wurden etwa 3000 Entlassungsgesuche genehmigt. Am frühen Nachmittag des 7. Mai 1915 feuerte ein U-Boot der deutschen Marine einen Torpedo auf die RMS Lusitania vor der Südküste Irlands ab. Das Passagierschiff sank. 1198 Menschen starben, unter ihnen 94 Kinder. So still das tödliche Geschoss durch das Wasser geglitten war, so laut zerbarsten die Fensterscheiben ›deutscher‹ Geschäfte. Aufgebrachte demonstrierten in den Straßen Glasgows, Liverpools, Londons, Hulls oder Manchesters gegen Ausländer/innen und Fremde. Diesen Anfeindungen waren auch russländische Juden und Chinesen ausgesetzt. Die aggressiven Demonstranten plünderten und brandschatzten deren Läden und attackierten Inhaber und Händler. Erst der Einsatz des Heeres konnte die Ausschreitungen beenden. Allein in London registrierten die Behörden 1950 Schadensersatzansprüche.96 Mit Blick auf die gewaltsamen Ausschreitungen als eine Form deutschfeindlicher Kundgebungen betont Jörn Leonhard den Wechsel der Beteiligten und den Wandel der Motive im Laufe des Jahres 1915. Die Lusitania-Krawalle richteten sich oftmals gegen ›deutsche‹ Lebensmittelläden und brachten soziale wie materielle Not zum Ausdruck. Zudem fanden sie hauptsächlich in Arbeitervierteln statt, deren Einwohner/innen unter dem Krieg durch Einberufungen oder Arbeitsunterbrechungen besonders litten. Dagegen beteiligte sich an der im Sommer 1915 gegründeten Anti-German Union verstärkt die Mittelschicht. Ihre Massendemonstrationen zeitigten keine spontane physische Gewalt, sondern waren begleitet von medialen Agitationen wie Plakat- und Unterschriftenkampagnen für eine verschärfte Internierungspraxis.97 Beide Bewegungen hatten einschneidende Folgen für feindliche Ausländer/innen. Am 13. Mai 1915 verkündete der Premierminister eine verschärfte Ausländer/ innenpolitik. 19.000 Personen seien bereits interniert und noch 40.000 (24.000 Männer und 16.000 Frauen) lebten in Freiheit, erläuterte er. »We propose that in existing circumstances, prima facie, all adult males […] should, for their own safety, and that of the community, be segregated and interned, or if over military age, repatriated. […] The woman and children in 95 Bird, Control of Enemy Alien Civilians, S. 75. 96 Zu den Unruhen vom Mai 1915 und ihrer Wirkung auf die Angegriffenen siehe ebenso: Nicoletta Gullace, Friends, Aliens, and Enemies: Fictive Communities and the Lusitania Riots of 1915, in: Journal of Social History, Vol. 39 (2005), No. 2, S. 345–367. 97 Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 353 ff.
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suitable cases will be repatriated, but there will, no doubt, be many instances in which justice and humanity will require that they should be allowed to remain.«98 Davon ausgenommen waren naturalisierte britische Bürger/innen, solange sie als ungefährlich galten. Bis zum November des Jahres befanden sich etwa 32.400 Männer im wehrfähigen Alter in den Internierungslagern. Über 10.000 wurden repatriiert. Ausnahmen gestatteten die Behörden bei Frauen, die durch Heirat eine feindliche Staatsangehörigkeit erworben hatten, bei Personen mit sehr langem Aufenthalt im Königreich, bei Kranken und bei Ausländer/innen mit einer als Großbritannien zugeneigt empfundenen Nationalität wie Polen, Tschechen oder Elsässer. In der Bewertung der Ereignisse kommt John Bird zu einem wenig optimistischen Schluss. »If the security threat posed by the enemy alien population was more apparent than real, and the scale of internment and increasing restrictiveness of wartime controls bore little relation to the danger they were supposed to be containing, it is arguable, given the volatility and strength of popular anti-alien feeling, that a more equitable policy would not have been politically viable.«99 Stefan Manz schließt sich dieser Einordnung der hohen Bedeutung einer öffentlichen Meinung an, die sich in Zeitungen wie auf der Straße niederschlug. Das Regierungshandeln sieht er als direkte Reaktion darauf. »Angesichts des öffentlichen Drucks wäre Tatenlosigkeit auch schlichtweg nicht möglich gewesen – schon um des politischen Überlebens willen«, schreibt er.100 Panikos Panayi sieht in den Vorgängen einen intoleranten Akt einer intoleranten Gesellschaft und hebt den beispiellosen Schritt der Ziviladministration, Wehrfähige zu internieren, hervor.101 »Xenophobia may have characterized modern British history, but the totality of the exclusion, in both official and unofficial terms, remained unique[.]«102 »Der Erste Weltkrieg fungierte in Großbritannien als ein Katalysator, der eine Ausweitung der staatlichen Kapazitäten vorantrieb«, fasst Christiane Reinecke ihre Forschungsergebnisse zusammen.103 »Während die Exekutive vor 1914 noch eng an die in Gesetzen fixierten Vorgaben gebunden war, erlaubten ihnen die bei Kriegsausbruch erworbenen Ausnahmekompetenzen, unabhängiger von parlamentarischen Kon-
98 Herbert Asquith, 13.5.1915, zit. nach: Panayi, An Intolerant Act by an Intolerant Society, S. 58 (Herv. im Org.). 99 Bird, Control of Enemy Alien Civilians, S. 343. 100 Manz, Migranten und Internierte, S. 286. 101 Panayi, An Intolerant Act by an Intolerant Society. 102 Panikos Panayi, Prisoners of Britain. German civilians and combatant internees during the First World War, Manchester 2012, S. 303. 103 Reinecke, Im Namen der Sicherheit, S. 68.
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trollen zu agieren.« Die Möglichkeiten staatlicher Interventionen in die Sphären des öffentlichen und privaten Raumes hatten sich vervielfacht.
Italien Im Zuge des Kriegseintrittes Italiens gegen Österreich-Ungarn im Mai 1915 und gegen Deutschland im August 1916 stellte sich der italienischen Gesellschaft die Frage, wie der Umgang mit feindlichen Ausländer/innen zukünftig ausgestaltet werden sollte. Daniela Caglioti unterstreicht, dass dabei einerseits die italienische Regierung und die Armeeführung die Praxis in anderen kriegführenden Staaten imitierten, so bei den Pass- und Meldepflichten, und andererseits innerhalb eines nationalistischen Diskurses ein Ausländerproblem erst generiert wurde.104 Aufgrund des verzögerten italienischen Kriegseintrittes hatten viele Ausländer/innen bereits das Land verlassen. Zweidrittel der Zurückgebliebenen lebten in den Städten Mailand, Rom und Neapel. Unter ihnen befanden sich im August 1916 4180 deutsche Staatsangehörige. Die radikalisierte Sprache der Nationalisten spornte wohl auch aus diesem Grund die Bevölkerung nur selten zu öffentlichen Kundgebungen an. Trotz einer kurzen Phase der Spionageverdächtigungen und vereinzelter Demonstrationen gegen Konsulate und Geschäfte blieben gewalttätige Ausschreitungen wie in London oder Moskau aus. Konfrontiert mit öffentlichen, fremdenfeindlichen Äußerungen, agierten die staatlichen Verantwortungsträger bedachtsam und weitgehend unabhängig von nationalistischen Forderungen. Sie zensierten deren schärfste Angriffe gegen Ausländer/innen und behielten die Kontrolle über das Meinungsbild in der Bevölkerung.105 Mit dem Deutschen Reich erzielten die italienischen Unterhändler gar am 21. Mai 1915 eine Vereinbarung über den Rechtsschutz der beiderseitigen Staatsangehörigen und deren Eigentum. Ihre freie Abreise sollte möglich bleiben. Sonderbestimmungen für die Verweilenden lehnten die Unterhändler ebenso ab wie die Enteignung ihres Privateigentums. Obwohl bis zum Krieg mit Deutschland die Übereinkunft in weiten Teilen hinfällig geworden war, vermied die italienische Regierung ein in Europa vielfach angewandtes Instrument der Ausländerbehandlung. »The preference for residential concentration of enemy aliens over their internment in concentration camps constitutes the main difference between Italian policies and those of other belligerent countries«, erläutert Caglioti.106 Auf Veranlassung der Armeeführung wurden feindliche Ausländer/innen aus den Operationsgebieten nach Orten im Inneren Italiens deportiert, und die italienische Regierung entschied im Juni 1915 als 104 Daniela L. Caglioti, Germanophobia and Economic Nationalism: Government Policies against Enemy Aliens in Italy during the First World War, in: Panayi (Hg.), Germans as Minorities, S. 147–170 u. Dies., Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem, S. 142–169. 105 Caglioti, Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem, S. 145. 106 Dies., Germanophobia and Economic Nationalism, S. 148.
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Vergeltungsmaßnahme, österreichisch-ungarische Wehrpflichtige nach Sardinien abzuschieben. In der Folgezeit schloss diese Maßnahme ebenso verdächtige Ausländer/innen ein. Die überlieferten Zahlen schwanken zwischen 2200 und 5000 Betroffenen. In einem anderen Politikfeld agierte die Regierung dafür umso deutlicher. Sie forcierte ganz im Sinne der Nationalisten eine kulturelle und ökonomische ›Italienisierung‹. Ihre Aufmerksamkeit galt dem maßgeblichen Feindbild des hegemonialen ›Deutschen‹. »The fight against the influence of the Germans and Germany on the Italian economy thus soon became a distinctive feature of the Italian discourse against enemy aliens: for many interventionists, fighting against Germany meant fighting against an economic giant exploiting and suffocating the country.«107 Folglich zielten die ökonomischen Maßnahmen auf eine Zurückdrängung ausländischer Unternehmer und Investoren in der Industrie und im Bankensektor. Der Krieg hatte einen nationalen Handlungsspielraum eröffnet, der nicht ungenutzt blieb. Seit Sommer 1916 erfolgten staatliche Unternehmensaufsichten und Sequestrationen. Allein in Neapel waren hiervon 107 deutsche und 26 österreichisch-ungarische Unternehmungen betroffen. Vor dem Hintergrund der zwölften Isonzoschlacht und der militärischen Niederlage von Caporetto im Herbst 1917 folgten umfassende Enteignungen und Firmenliquidationen. »At the end of the war the cotton industry was no longer in the hands of Swiss and Germans. The German schools in the area of the cotton firms closed; the German Hospital became the Evangelical Hospital.«108 Wie Daniela Caglioti ausführt, stellte die militärische Niederlage Ende 1917 im Denken und Handeln der Regierenden eine entscheidende Zäsur dar. Dies betraf nicht nur die Enteignung von Unternehmern. Liquidiert wurden gleichfalls Kulturinstitutionen, wie die Deutsche Akademie in Rom oder das Kunsthistorische Institut in Florenz, Botschaftsbesitz, wie das Palazzo Caffarelli und das Palazzo Venezia in Rom, Hotels, Privathäuser, Landbesitz, der Inhalt von Banktresoren, Kunstobjekte, Musikinstrumente, Schmucksachen und Kleidung.109 Feindliche Staatsangehörige durften sich fortan nur in polizeilich zugewiesenen Gebieten aufhalten, und italienische Staatsangehörige, die in den vorangegangenen zehn Jahren ihre Einbürgerung erreicht hatten, konnten diese wieder verlieren. Dennoch betont Caglioti die zögerliche Umsetzung der erlassenen Dekrete und die weniger schwerwiegenden Konsequenzen als in anderen Staaten. In ihrem Resümee unterstreicht sie schließlich zwei Aspekte: »The nationalization/Italianization of the Italian economy had been achieved, and Italy emerged from the conflict as a country even more homogeneous than it had been before.«110 »The war thus 107 108 109 110
Dies., Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem, S. 154. Dies., Germanophobia and Economic Nationalism, S. 168. Ebd., S. 159 u. dies., Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem, S. 166. Dies., Germanophobia and Economic Nationalism, S. 170.
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destroyed the political alliance and the long-lasting relationships of friendship, cooperation, admiration, and cultural transfers between the two countries.«111
Frankreich Als der Krieg begann, lebten die meisten Angehörigen feindlicher Staaten in der Hauptstadt Paris und deren Umland.112 Sie blieben angesichts nationaler, patriotischer Kundgebungen und eines von Spionageängsten und -verdächtigungen durchzogenen öffentlichen Klimas nicht verschont von anti-deutschen Protesten, gewalttätigen Ausschreitungen und Plünderungen ›deutscher‹ Geschäfte.113 Obwohl ihnen bis zum Ende des ersten Mobilmachungstages eine ungehinderte Ausreise zugesichert worden war, rangen sie mit vielerlei Schwierigkeiten. Unter anderem verspäteten sich Eisenbahnzüge in Richtung der französischen Grenzstationen oder die Verbindungen fielen aufgrund von Militärtransporten komplett aus. Dort angekommen, verweigerten ihnen mitunter belgische Grenzbeamte die Durchreise. Schließlich war ihr Hoffen auf eine Verlängerung der kurz bemessenen Frist vergebens. Denn die entsprechenden Verhandlungen zwischen deutschen und österreichisch-ungarischen Diplomaten einerseits und französischen Regierungsvertretern andererseits scheiterten. Die in der Mehrzahl im Land Verbliebenen mussten sich bei den Polizeiämtern registrieren lassen. Sie erhielten eine provisorische Aufenthaltsgenehmigung und unterstanden fortan, sofern sie nicht interniert wurden, der regelmäßigen polizeilichen Kontrolle. Die deutsch-französischen Grenzgebiete im Nord- und Südosten der Republik und die Festungsbereiche von Paris und Lyon gehörten zu Sperrbezirken für feindliche Staatsangehörige. Aus diesen Gebieten wurden sie ausgewiesen beziehungsweise abgeschoben. Unter dem Eindruck des deutschen Vormarsches auf Paris mussten bis Ende August 1914 25.000 deutsche und öster-
111 Dies., Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem, S. 157. 112 Der folgende Abschnitt beruht auf den Forschungsarbeiten von: Jean-Claude Farcy, Les camps de concentration français de la Première Guerre mondiale (1914–1920), Paris 1995; Laurent Morival, Les dépôts d’internement civil en Vendée 1914–1919, in: Annales de Bretagne et des pays de l’Ouest, Tome 105 (1998), N° 1, S. 91–101; Ronan Richard, »Étrangers« et »indésirables« en temps de guerre. Représentations, politiques et pratiques à l’égard des populations nouvelles dans l’Ouest de la France en 1914–1918, in: Annales de Bretagne et des pays de l’Ouest, Tome 109 (2002), N° 4, S. 147–161; Jean-Noël Grandhomme, Internment Camps for German Civilians in Finistère, France (1914–1919), in: The Historian, Vol. 68 (2006), Issue 4, S. 792–810 u. Gundula Bavendamm, Spionage und Verrat. Konspirative Kriegserzählungen und französische Innenpolitik, 1914–1917, Essen 2004. Zur Behandlung deutscher Staatsangehöriger in Marokko siehe: Gunther Mai, Die Marokko-Deutschen 1873–1918, Göttingen 2014, S. 637–738. 113 Zur Dynamik der Spionageverdächtigungen siehe: Bruno Cabanes, August 1914. France, the Great War and a month that changed the world forever, übers. aus d. Franz. von Stephanie O’Hara, New Haven 2016, S. 128–151.
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reichische Staatsangehörige Paris verlassen. Sie wurden in West- und Südfrankreich in Lagern konzentriert. Zur selben Zeit sollten bereits jene verhaftet sein, von denen staatliche Akteure vor Ort annahmen, dass sie die öffentliche Ruhe und Sicherheit sowie die Mobilmachung gefährdeten. Zu diesen zählten besonders in einem separaten Namensregister aus der Vorkriegszeit, dem Carnet B, verzeichnete Ausländer. Während sich Gerüchte schnell verbreiteten, sahen sich viele deutsche Staatsangehörige von Nachbarn wie Unbekannten denunziert und mit Verschwörungstheorien konfrontiert. Die Gendarmerie verhaftete sie zumeist. Deren Beamte konnten darüber hinaus mit einer Prämie rechnen, wenn sie Ausländer und Ausländerinnen ohne die notwendigen Ausweispapiere aufgriffen. Ausgehend von einem Erlass des französischen Innenministeriums internierten die Zivilbehörden seit September 1914 alle wehrpflichtigen deutschen und österreichischen Staatsbürger. Nachdem Frauen, Kindern und Älteren die Ausreise über die Schweiz gestattet worden war, konnten sie seit Oktober gleichfalls bis zur Abreise in Internierungslager verbracht werden. Schließlich existierten in Frankreich 58 Lager für Zivilisten unter anderem in der Bretagne, an der Atlantikküste und in der Provence sowie auf Korsika. Der französische Historiker JeanClaude Farcy betont bei diesen Maßnahmen das Überwachungsmotiv und die grundsätzlich militärische Prämisse, den Eintritt Wehrpflichtiger in ihr Heimatheer zu verhindern.114 Das französische Internierungssystem war nach einer Phase der Improvisation vor allem durch eine systematische Unterscheidung der Internierten gekennzeichnet. Nachdem die Zivilgefangenen in behelfsmäßigen Unterkünften wie Festungen, Klöstern oder leerstehenden Schulgebäuden übernachtet hatten und oftmals unzureichend verpflegt worden waren, begann im Dezember 1914 der Ausbau der Lager und im Zuge dessen die räumliche Trennung der Internierten nach Nationalität, Alter, Geschlecht und sozialem Status. Infolgedessen errichteten die französischen Behörden Lager für Familien, für Angehörige der bürgerlichen Oberschicht und für andere privilegierte Persönlichkeiten, für disziplinarisch belangte Ausländer, für Verdächtige, für Geiseln, für Kriminelle, für Geistliche, für Prostituierte und für Elsaß-Lothringer.115 Jenseits dieser Ausdifferenzierung versuchten die französischen Verantwortlichen, die Gesinnung und Haltung der Betroffenen gegenüber Frankreich zu erfassen und zu berücksichtigen. Frankophile konnten während der Internierung mit Erleichterungen bei den Lagerarbeiten oder bei den Ausgangsregelungen rechnen. In diesem Zusammenhang erhielten Frauen, die nur durch Heirat eine ›feindliche‹ Staatsangehörigkeit erlangt hatten, Kinder und Elsaß-Lothringer französischer Abstammung beispielsweise die Erlaubnis, in den Städten und Gemeinden 114 Farcy, Les camps de concentration, S. 359 f. 115 Grandhomme, Internment Camps for German Civilians in Finistère, S. 795 ff.
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außerhalb der Lager zu wohnen. Zusammen mit den bis Frühjahr 1915 organisierten Austauschtransporten kam es im Zuge dessen zu einer vermehrten Entlassung nicht-wehrpflichtiger Personen. Für die Bretagne zeigt Ronan Richard, dass die Situation in den Orten der Internierung durchaus widersprüchlich war.116 Die Zivilverantwortlichen vor Ort sahen sich mit mehreren Konfliktfeldern konfrontiert. Zum einen mussten sie aus Nordfrankreich Geflüchtete und Vertriebene integrieren. Zum anderen sollten sie die feindlichen Zivilisten isolieren. Allerdings erkannte die einheimische Bevölkerung in beiden Gruppen gleichermaßen Fremde. Die Beamten hatten unterdessen die Bewohner/innen ihrer Bezirke für den Krieg gegen den Feind zu mobilisieren und zugleich die öffentliche Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund erblickt Richard im Jahre 1915 einen Wendepunkt. Internationale Organisationen wie das Komitee vom Roten Kreuz, die finanziellen Belastungen für die Gemeinden und die Sorge vor Vergeltungsmaßnahmen führten zu einer angemesseneren Behandlung der Internierten. Zudem nahm der öffentliche Druck seitens einiger Wirtschaftsorganisationen und Unternehmer zu, Kriegsgefangene und Internierte als Arbeitskräfte in die Kriegswirtschaft zu integrieren. Von eben diesem Prozess war der weitere Kriegsverlauf geprägt. Der Krieg forderte auch in Frankreich ein Bekenntnis des Einzelnen zur Nation. Vor dem Hintergrund nationalistischer Agitationen und Verdächtigungen kam es in der ersten Kriegshälfte zu einer Stigmatisierung des ›Deutschen‹ in all seinen Erscheinungsformen. Eine deutschfeindliche Haltung schien sich in weiten Teilen der Bevölkerung durchzusetzen. Unter anderem wurden deutschsprachige Bezeichnungen an öffentlichen Orten verboten, Ehrungen deutscher Staatsangehöriger zurückgezogen und Handelsbeziehungen mit deutschen und österreichischen Unternehmern diskreditiert. Im Zuge von Beschlagnahmungen und Enteignungen veröffentlichten mehrere Tageszeitungen Listen mit den Betroffenen. Das Misstrauen zeitigte nicht zuletzt Folgen für die Debatten über die französische Staatsangehörigkeit. Obwohl parlamentarische Initiativen seit den ersten Kriegstagen Beschränkungen beim Erwerb der Staatsbürgerschaft verlangt hatten, erhielten Ausländer und Elsass-Lothringer französischer Abstammung zunächst einen erleichterten Zugang zum Einbürgerungsverfahren. Dadurch sollte vor allem ihr Eintritt in das französische Heer gefördert werden.117 Erst im April 1915 schloss die französische Regierung feindliche Ausländer/innen von den Einbürgerungen aus und weitete die Möglichkeiten zur Denaturalisation aus. Diese wurde überwiegend gegen Unternehmer deutscher Abstammung, Inhaber einer doppelten Staatsangehörigkeit und Franzosen, die in feindlichen Heeren dienten, forciert. Die Verlagerung des Verfahrens innerhalb der staatlichen Institu116 Richard, »Étrangers« et »indésirables«. 117 Vgl. Gustav Schwartz, Das Recht der Staatsangehörigkeit in Deutschland und im Ausland seit 1914, Berlin 1925, S. 1–52.
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tionen verweist dabei auf die Intentionen der Verantwortlichen und Befürworter. Für Denaturalisationen war nicht mehr die Verwaltung zuständig, sondern die Zivilgerichte. 1915 betraf dies 825 Personen. Sie unterstanden anschließend den Bestimmungen für feindliche Staatsangehörige. Die Einwohner/innen Elsass-Lothringens wurden in vier Kategorien aufgeteilt und erhielten verschiedenfarbige Identifikationskarten, die sie anhand ihrer Abstammung und nach ihrer Staatsbürgerschaft kennzeichneten. Damit einher ging eine Hierarchisierung von Rechten des Grenzübertritts oder des nächtlichen Ausgangs und eine fortwährende Ungleichbehandlung feindlicher Ausländer/innen. Dieser Prozess mündete laut Carolyn Grohmann mit dem Friedensvertrag von Versailles in einer umfassenden Vertreibung der Bevölkerung deutscher Nationalität. »Epuration was in part a response to French public opinion and to the wishes of those in Alsace and Lorraine who sought vengeance for German heavy handedness during the war. It was also a policy pursued by the French military and civil authorities, who felt that the only way to secure the regions and to implement a policy of francisation was to racially cleanse the Moselle and Alsace.«118 Zusammenfassend erinnert Bruno Cabanes für Frankreich an die Bedeutung des ersten Kriegsmonats. »It took only a month for France to fully experience the reality of modern war«, resümiert er.119 Sieg und Niederlage, die Mobilisierung einer Massenarmee, ein Krieg gegen die Zivilisten in Belgien und Nordfrankreich, die psychische Bedeutung der Heimatfront und die fragile Grenze zwischen äußerem und innerem Feind wurden sicht- und erfahrbar.
Anknüpfen Die beschriebenen europäischen Entwicklungen können um weltweite Beispiele ergänzt werden.120 Für Australien versteht Gerhard Fischer den Ersten Weltkrieg als tiefgreifende Zäsur für eine pluralistische und liberale Gesellschaft der Ein-
118 Carolyn Grohmann, From Lothringen to Lorraine: Expulsion and Voluntary Repatriation, in: Conan Fischer u. Alan Sharp (Hg.), After the Versailles Treaty. Enforcement, Compliance, Contested Identities, New York 2008, S. 153–169, hier S. 166. 119 Cabanes, August 1914, S. 193. 120 Über die hier genannten Beispiele hinaus sei verwiesen auf: Tammy M. Proctor, ›Patriotic Enemies‹: Germans in the Americas, 1914–1920, in: Panayi (Hg.), Germans as Minorities, S. 213–233 u. Andrew Fancis, From ›Proven Worthy Settlers‹ to ›Lawless Hunnish Brutes‹: Germans in New Zealand during the Great War, in: Ebd., S. 289–309 u. Gerhard P. Bassler, The Enemy Alien Experience in Newfoundland 1914–1918, in: Canadian Ethnic Studies, Vol. 20 (1988), S. 42–62.
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gewanderten.121 »Anglo-Saxon Australians decided to close ranks and to move towards the exclusion of immigrants of German origin who had shared in the colonisation of the country ever since Arthur Philipp’s landing in Sydney harbour«, erläutert er. »German-Australians were deprived of their civil and constitutional rights, of their property and professions, they were persecuted and attacked by enraged street mobs, sacked from their jobs, interned without trial and deported without a chance to protest or to state their case and prove their loyalty.«122 Jörg Nagler erforschte gleichartige Vorgänge in den Vereinigten Staaten von Amerika.123 Er sieht die lange Neutralitätsphase des Landes als entscheidende Wegmarke an, anti-deutsche Stimmungen und Propaganda zu verbreiten und Vorstellungen über einen inneren Feind stetig auszubauen. Staatliche Maßnahmen wie die Internierung feindlicher Ausländer oder Denaturalisierungen kamen weitaus seltener vor als in Australien. Allerdings gründeten sich zivilgesellschaftliche Initiativen, die insbesondere im Rahmen freiwilliger Überwachungstätigkeiten mit der staatlichen Verwaltung eng verflochten waren und ein deutschfeindliches, repressives Klima verfestigten. Zwischen Spionageängsten, Kollaborationsbefürchtungen und Kriegspartizipation fanden öffentliche Bücherverbrennungen, Verunglimpfungen und gewalttätige Übergriffe statt. Die »[d]eutsche Herkunft wurde zur Quelle sozialer Deprivation«, schreibt Nagler.124 »Feindliche Ausländer dienten als Anlaß zur Formulierung von Verschwörungstheorien und zur Projektion nationaler Ängste. Sie fungierten dabei als Sündenböcke der Heimatfront und durch Abgrenzung gleichzeitig als Vehikel für nationale Identifikation.«125 Die Ereignisse in anderen kriegführenden Staaten verdeutlichen die Gleichartigkeit von nationalistischen Interessen, militärischen Praktiken und ausgrenzenden Kriegserzählungen. Die Unordnungen des plötzlichen Krieges hinterfragten gesellschaftliche Normen und Traditionen ebenso wie vermeintliche Gewissheiten des Kriegs- und Völkerrechtes. Sie legten gesellschaftliche Brüche in multiethnischen Staaten offen und verschärften nationale Konflikte. Nationalistische und antiliberale Bewegungen gewannen inner- und außerhalb Europas an Zuspruch und politischem Einfluss. Spionage- und Sabotageverdächtigungen in den Augusttagen 1914 sollten deshalb als Ausdruck weitreichender gesellschaftlicher Unsicher121 Gerhard Fischer, Fighting the War at Home. The Campaign against Enemy Aliens in Australia during the First World War, in: Panikos Panayi (Hg.), Minorities in Wartime. The Experience of National and Racial Groupings in Europe, North America and Australia during the World Wars, Oxford 1993, S. 263–286. 122 Ebd., S. 286. 123 Jörg Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg. »Feindliche Ausländer« und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkrieges, Hamburg 2000 u. Katja Wüstenbecker, Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen, Stuttgart 2007. 124 Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg, S. 697. 125 Ebd., S. 703.
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heiten verstanden werden. Von diesen ausgehend wurde die Loyalität des Einzelnen gegenüber Staat und Nation hinterfragt. Innerhalb kürzester Zeit wandelte sich die Anwesenheit feindlicher Ausländer/innen von einer militärischen Angelegenheit zu innen- und machtpolitischen Auseinandersetzungen, in denen national zentrierte Staatsentwürfe sich in unterschiedlichem Maße durchsetzen konnten. Ausländische Staatsangehörige und nationale Minderheiten gerieten in den Fokus staatlicher und nicht-staatlicher Akteure, die Ausweisungen, Überwachungen, Internierungen und Enteignungen forderten und durchsetzen konnten. Aber die Entwicklungen in einzelnen Staaten waren ebenso durch erhebliche Unterschiede gekennzeichnet. Neben Migrationsgeschichten und -erfahrungen variierten geographische Lagen und soziale wie wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie politische Interessen- und Machtverhältnisse. Aus den ungleichartigen Voraussetzungen folgten vielfältige kriegsimmanente Entscheidungen und Maßnahmen, deren situationsbedingter Charakter nicht unterschätzt werden darf. Die daraus folgende Uneinheitlichkeit im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen ließ den Rechtswissenschaftler Jean Spiropulos (1896–1972) bereits im Jahre 1922 zu dem Urteil gelangen, dass es »ebensowenig je eine einheitliche Behandlung der feindlichen Staatsangehörigen geben [wird], wie es je in zwei Konflikten die gleichen Situationen geben kann«.126 Die skizzierten internationalen Forschungsergebnisse verweisen darüber hinaus auf die Bedeutung der methodischen Zugänge und der erkenntnisleitenden Perspektiven der Forschenden. Ihre Interpretationsspielräume sind erheblich. Beispielsweise beschreiben sie überwiegend ein Spannungsfeld zwischen führenden Militärvertretern, zivilen Regierungsverantwortlichen und einer schwer erfassbaren öffentlichen Meinung, die vor allem durch Zeitungen und den darin publizierenden nationalistischen Wortführern ausgelotet wird. Hierbei unterliegt es der historiografischen Deutung, den Einfluss darzulegen, den einzelne Akteure oder Gruppen auf konkrete Entscheidungen gewannen. Jörg Naglers Resümee über die Vereinigten Staaten von Amerika kann ebenso für die weiteren genannten Länderstudien gelten. »Public opinion and popular pressure on the administration had a definitive impact upon the treatment of enemy aliens.«127 In gleichem Maße sollte seine Vorsicht bei der Bewertung der Ereignisse Beachtung finden. »In the dialectical interplay between public opinion and governmental policies, it is often difficult to assess which was the primary driving force«, gibt er zu bedenken. Eine wissenschaftliche Betrachtung des Umgangs mit feindlichen Ausländer/ innen, die mehrere Konfliktfelder überspannt, zusammenfasst und deutet, liegt für das Deutsche Reich nicht vor. Vorangegangene Forschungsarbeiten widmeten 126 Jean Spiropulos, Ausweisung und Internierung feindlicher Staatsangehöriger, Leipzig 1922, S. 102 f. 127 Jörg Nagler, Victims of the Home Front: Enemy Aliens in the United States during the First World War, in: Panayi (Hg.), Minorities in Wartime, S. 191–215, hier S. 193.
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sich überwiegend zivilen Internierungslagern. In neuerer Zeit verortet Richard Speed die Behandlung ausländischer Staatsbürger/innen im Kontext der Kriegsgefangenschaft und untersuchte im Rahmen einer Diplomatiegeschichte die außenpolitischen Verwerfungen und die bilateralen Austausch- und Repatriierungsabkommen zwischen den Kriegsgegnern.128 Dem entgegen wählt Franz Haselbeck bei der Darstellung des Kriegs- und Zivilgefangenenlagers im oberbayerischen Traunstein einen regionalgeschichtlichen Zugang. Er schildert aus Sicht der bayerischen Militärverantwortlichen die Einrichtung und Unterhaltung des Lagers und verdeutlicht dessen Verflechtung mit der Stadt.129 Weiter voran trieb Matthew Stibbe die historiografische Auseinandersetzung mit den Kriegserfahrungen der internierten Zivilisten. Inzwischen umfasst sein Forschungswerk eine Vielzahl an schlaglichtartigen Perspektiven zur Zivilinternierung, die geschlechtsspezifische Erfahrungen thematisieren und sich transnationalen Vergleichen verpflichten. Dabei betrachtet er gleichermaßen die Arbeit von Hilfsorganisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Ausgangspunkt für ihn war das Internierungslager in Ruhleben nahe Berlin, das vor allem wehrpflichtige britische Staatsangehörige aufnahm.130 Er beschreibt dieses aus dem Blickwinkel der Alltagsgeschichte als eine »imagined community« mit eigenen sozialen und kulturellen Institutionen, Repräsentationen und Brüchen sowie weit über den Krieg hinausreichenden Erinnerungsformen.131 Die Untersuchung der Zivilinternierung wurde in den vergangenen Jahrzehnten von einer Erforschung der Kriegsgefangenschaft begleitet, nachdem Historiker/ innen auf deren »vergessene Geschichte« hingewiesen hatten.132 Gegenüber den bis Oktober 1918 2.374.769 kriegsgefangenen Mannschaftssoldaten und 40.274 128 Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War, S. 139–166. 129 Franz Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für den Chiemgau zu Traunstein, Jg. 7 (1995), S. 241–290. 130 Matthew Stibbe, British Civilian Internees in Germany. The Ruhleben Camp, 1914–18, Manchester 2008 u. Ders., A Community at War: British Civilian Internees at the Ruhleben Camp in Germany, 1914–1918, in: Jenny Macleod u. Pierre Purseigle (Hg.), Uncovered Fields. Perspectives in First World War Studies, Leiden 2004, S. 79–94. 131 Stibbe, British Civilian Internees, S. 2. 132 Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921, Essen 2006, S. 9 u. Heather Jones, A Missing Paradim? Military Captivity and the Prisoner of War, 1914–1918, in: Immigrants & Minorities, Vol. 26 (2008), Issue 1–2, S. 19–48, hier S. 19 f. Daneben für das Deutsche Reich beispielsweise: Rainer Pöppinghege, Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen 2006; Andrew Evans, Anthropology at War. World War I and the Science of Race in Germany, Chicago 2010; Jaan Ross (Hg.), Encapsulated Voices. Estonian Sound Recordings from the German Prisoner-of-War Camps in 1916–1918, Köln 2012; Franziska Roy, Heike Liebau u. Ravi Ahuja (Hg.), ›When the War Began We Heard of Several Kings‹. South Asian Prisoners in World War I Germany, New Delhi 2011 u. Kenneth Steuer, German Propaganda and Prisoners-of-War during World War I, in: Troy Paddock (Hg.), World War I and Propaganda, Leiden 2014, S. 155–180.
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Offizieren im Deutschen Reich konstatiert Uta Hinz einerseits ein Beharren militärischer Akteure auf traditionellen Vorstellungen der Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907. Die Kriegsgefangenen unterstanden derselben Militärgerichtsbarkeit wie deutsche Heeresangehörige, und nur in Einzelfällen seien gewaltsame und erbitterte Strafpraktiken zu beobachten gewesen. Ebenso entsprachen die Kriegsgefangenenlager einem vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz bestätigten Standard in den kriegführenden Staaten. Andererseits gibt Hinz zu bedenken, dass sich der Strukturwandel des Krieges und dessen »ökonomische Totalisierung« auf das Gefangenenwesen und insbesondere auf die Ernährung und den Arbeitseinsatz der Gefangenen auswirkte. Mangelernährung und Zwangsarbeit kennzeichneten ab der zweiten Kriegshälfte ihren Lebensalltag abhängig von den Einsatzorten. Als Erklärungsmoment dafür weist Hinz eine »Übertragung von Haß und Feindschaft auf die kriegsgefangenen gegnerischen Soldaten« im alltäglichen Umgang zurück. Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer sich verschlechternden Lebenssituationen sei ihre wirtschaftliche Nutzbarmachung und eine entgrenzte Vorstellung von den Notwendigkeiten des Krieges gewesen.133 Für die Österreichisch-Ungarische Armee kommt Verena Moritz zu einem ähnlichen Befund. »Herabwürdigungen der Kriegsgefangenen […] implizierten kein nach ›Rassen‹ abgestimmtes systematisches ›Diskriminierungsregime‹«, schreibt sie.134 Uta Hinz’ Forschungsergebnis erfuhr durch Heather Jones Ergänzung und Widerspruch zugleich. Sie arbeitete heraus, dass der vielfältigen und zum Teil ex tremen physischen und psychischen Gewalt gegen Kriegsgefangene eine höhere Aufmerksamkeit beigemessen werden muss. »[I]t was a real and widespread phenomenon«, konstatiert sie und charakterisiert den Ersten Weltkrieg als eine Phase der »›culturally bounded‹ radicalisation of violence against prisoners«.135 Um die Radikalisierung der Gewaltpraktiken zu erklären, griff sie die in der Weltkriegsforschung kontrovers diskutierten Konzepte136 einer besonderen Kriegs- sowie Militärkultur auf.137 Erstere sei bestimmt gewesen, so Nicolas Offenstadt, »durch Hass auf den Feind« und »eine bis dahin unerreichte Bereitschaft zur Gewalt, die bewusst und gezielt ausgeübt wurde, also durch eine sehr weitgehende und weit 133 Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 362 f. 134 Verena Moritz, »…Treulos in den Rücken gefallen.« Zur Frage der Behandlung italienischer Kriegsgefangener in Österreich-Ungarn 1915–1918, in: Robert Kriechbaumer, Wolfgang Müller u. Erwin A. Schmidl (Hg.), Politik und Militär im 19. und 20. Jahrhundert. Österreichische und europäische Aspekte. Festschrift für Manfried Rauchensteiner, Wien 2017, S. 185–208, bes. S. 196–199, hier S. 198. 135 Heather Jones, Violence against Prisoners of War in the First World War. Britain, France and Germany, 1914–1920, Cambridge 2011, S. 371. 136 Weiterführend zu den Forschungskontroversen über eine besondere deutsche Gewaltgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe: Peter Lieb, Der deutsche Krieg im Osten von 1914 bis 1919. Ein Vorläufer des Vernichtungskriegs?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 65 (2017), Heft 4, S. 465–506. 137 Jones, Violence against Prisoners of War, S. 4 f.
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verbreitete Akzeptanz und »Zustimmung« zum Krieg«.138 Letztere zeichnete sich, so Isabel Hull, durch hemmungslose und teilweise irrationale Gewaltausübung aus, die völkerrechtliche Bestimmungen ignorierte und bereit war, den angenommenen Kriegsnotwendigkeiten alle Entscheidungen und Verfahrensweisen unterzuordnen. Weitergegeben wurde solch eine Militärkultur über tradierte Erfahrungen und Normen sowie einen informellen Wertekodex. Ihr Ziel sei nicht der Sieg, sondern die völlige Vernichtung des Gegners gewesen.139 Vor diesem Verständnishintergrund betrachtet Jones militärische und zivile Akteure. Obwohl erstere für die Behandlung der Kriegsgefangenen verantwortlich zeichneten, hätten sie nie außerhalb einer öffentlichen Meinung agiert. Zudem weist sie für Deutschland, Frankreich und Großbritannien Fälle von gewalttätigen Übergriffen der Bevölkerung auf Gefangene in den ersten Kriegsmonaten nach. Diese hätten zu einer stillen Zustimmung brutaler Methoden beigetragen. »Radicalisation of violence against enemy prisoners remained a negotiated process which was conveyed, approved or restricted through public reactions.«140 Im Deutschen Reich fehlte zur gleichen Zeit eine zivilgesellschaftliche und politische Kontrolle des Militärapparates. Dadurch seien Grenzüberschreitungen im deutschen Heer auf weniger Widerstand als in anderen Ländern gestoßen. Neben den ökonomischen Faktoren im Kriegsverlauf sieht die Historikerin im Anschluss daran »military cultural attitudes« als eine entscheidende Grundsäule der Behandlung gefangener Feinde an, die in Gewaltexzessen in Zwangsarbeiterbataillonen gipfelten. Unterstützt wird diese These von Oksana Nagornaya, die von einem Einfluss kolonialer Stereotype auf den Umgang mit ›slawischen‹ Kriegsgefangenen ausgeht.141 Aus dieser Perspektive scheinen Fremd- und Feinbilder eine fatale Wirkung im alltäglichen Umgang mit Gefangenen und den Zivilbevölkerungen in besetzten Gebieten gezeitigt zu haben. Die beiden entgegengesetzten Forschungsstandpunkte entsprechen unterschiedlich gewichteten Quellengrundlagen. Während Uta Hinz vorwiegend militärische Überlieferungen konsultierte, entschied sich Heather Jones für einen erfahrungsgeschichtlichen Zugang, in dem sie verschriftlichte Erinnerungen der von Gewalt 138 Zur Kritik des Konzeptes der »Kriegskultur« siehe: Nicolas Offenstadt, Der Erste Weltkrieg im Spiegel der Gegenwart. Fragestellungen, Debatten, Forschungsansätze, in: Arnd Bauer kämper und Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, S. 54–77, hier S. 58. 139 Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005, S. 91 ff. 140 Jones, Violence against Prisoners of War, S. 372 f. 141 Oxana Nagornaja, United by Barbed Wire. Russian POWs in Germany, National Stereotypes, and International Relations, 1914–22, übers. von Jeffrey Mankoff, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History, Vol. 10 (2009), No. 3, S. 475–498, hier bes. S. 480–484 u. 497; ebenso in: Michael David-Fox, Peter Holquist u. Alexander M. Marti (Hg.), Fascination and Enmity. Russia and Germany as Entangled Histories, 1914–1945, Pittsburgh 2012, S. 39–58.
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Betroffenen stärker in den Mittelpunkt rückte.142 Die Historikerin deckt damit die Zerbrechlichkeit und Blickwinkelabhängigkeit historischer Bewertungen und Einordnungen auf. Allerdings spitzt sie ihre Thesen einer radikalisierten Militärund Kriegskultur gegenüber Kriegsgefangenen soweit zu, dass ihre Forschungsergebnisse davon abweichende Befunde nicht zu integrieren vermögen. Unbeabsichtigt werden die Mehrdeutigkeit wie die Mannigfaltigkeit von Beweggründen und Handlungsdynamiken unterschiedlicher staatlicher und nicht-staatlicher Akteure vereinfacht. In den zurückliegenden Jahren widmeten sich Historiker/innen verstärkt den multikausalen Facetten und verflochtenen Täterschaften gewaltgeprägten Handelns. Christian Gerlach erforschte die komplexen Ursachen orts- und zeitgebundener extremer Gewalt unter anderem am Beispiel des Massenmords an den Armeniern 1915 bis 1923.143 Er hebt hervor, dass Massengewalt gegen ganze Bevölkerungsgruppen vor dem Hintergrund weitreichender gesellschaftlicher Transformationsprozesse stattfand. In der Folge übten nicht nur staatliche Organe physische Gewalt aus, sondern es beteiligten sich ebenso »unterschiedliche soziale Gruppen aus einer Vielzahl an Gründen«.144 Die vielgestaltigen Formen und Ursachen von Gewaltausübungen deutscher Soldaten in den Kolonialkriegen nahm Susanne Kuß in den Blick.145 Sie stellt das Aufeinandertreffen von geographischen Bedingungen, den dort sozialisierten einheimischen Akteuren und den Kolonialsoldaten, die von Vorstellungen und Erfahrungen, militärischen Vorbereitungen und politischen Zielen beeinflusst wurden, heraus. Abhängig von diesen Faktoren, die auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen in ihrer Bedeutung variierten, unterlägen Gewaltentgrenzungen einer nicht vorhersehbaren situativen Dynamik. Mit Blick auf das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg lassen sich drei Beispiele benennen, welche die Komplexität historischer Ereignisse im Zeitalter der Extreme verdeutlichen. Sie halten dazu an, Entscheidungen in ihrer Prozesshaftigkeit zu erforschen und Akteure in ihren Netzwerken darzustellen. Erstens zeigen die Debatten darüber, nationale und ethnische Minderheiten in Ost- und Westeuropa umzusiedeln, die Machtkämpfe zwischen Heeresführung und Reichsleitung sowie nicht-staatlichen Akteuren auf. Wolfgang Mommsen 142 Diesen Ansatz verfolgt Jones ebenso bei allgemeineren Überlegungen in Bezug auf das Kriegsgefangenenwesen, siehe: Heather Jones, Eine technologische Revolution? Der Erste Weltkrieg und die Radikalisierung des Kriegsgefangenenlagers, in: Bettina Greiner u. Alan Kramer (Hg.), Die Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburg 2013, S. 110–133, hier S. 112. 143 Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, übers. aus d. Engl. von Kurt Baudisch, München 2011, zum Ansatz bes. S. 7–22. 144 Ebd., S. 7 (Herv. im Org.). 145 Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 20112, darin zum Konzept des Kriegsschauplatzes bes. S. 32–37.
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arbeitete am Beispiel der Diskussionen über einen »polnischen Grenzstreifen« die Unvereinbarkeit von Kriegszielen heraus, die die hegemoniale Stellung Deutschlands in Mitteleuropa sichern sollten.146 Auf der einen Seite forderte Heinrich Claß (1868–1953), der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, eine unnachgiebige Germanisierung annektierter Gebiete beziehungsweise die Ausweisung der dort lebenden Bevölkerung. Damit sollten Nationalitätenkonflikte vermieden werden, wie sie in Elsaß-Lothringen und in den preußischen Ostprovinzen in der Vorkriegszeit alltäglich gewesen waren. In intellektuellen und unternehmerischen Zirkeln stieß er durchaus auf Zustimmung. Aber auf der anderen Seite standen die Reichsleitung und weite Teile der Ziviladministration Gebietserweiterungen skeptisch gegenüber. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) befürwortete eine Machtausdehnung durch den Aufbau eines mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes unter deutscher Führung. Deshalb strebte die Reichsleitung an, einem polnischen Staat Autonomie zu gewähren und dadurch die Loyalität seiner Führungselite zu gewinnen, um an der Seite des Deutschen Reiches gegen Russland zu stehen. Jegliche Umsiedlungen hätten dieses Ziel vereitelt. Mommsen betont in diesem Zusammenhang, dass die Überlegungen und Forderungen Einzelner nicht als politische Leitlinien oder administrative Vorgehensweise missverstanden werden dürfen.147 Obwohl die Dritte Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg (1847– 1934) und Erich Ludendorff (1865–1937) die Agitation unter militärischen und völkischen Gesichtspunkten wiederaufnahm, stießen osteuropäische Umsiedlungspläne weiterhin auf Widerspruch und blieben politisch nicht durchsetzbar.148 Einen maßgeblichen Grund hierfür sieht Mommsen in einer »traditionelle[n] bürokratische[n] Herrschaftselite«, die einer »Ausführung immer wieder administrative und rechtliche Hürden« in den Weg stellte.149 Völkische Positionen zu verallgemeinern und anhand dieser auf die Haltung und das mögliche Handeln staatlicher Akteure zu schließen, kann somit zu einem unausgewogenen Urteil führen. Zweitens zeichneten in gleichem Maße Betrachtungen nationaler wie ethnischer Vorurteile und kriegsbedingter Feindbilder in den Jahren 1914 bis 1918 146 Wolfgang J. Mommsen, Der »polnische Grenzstreifen«. Anfänge der »völkischen Flurbereinigung« und der Umsiedlungspolitik, in: Ders. (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2004, S. 118–138. Mommsen nicht widersprechend, aber in Aussagen und Literaturbewertungen teilweise von ihm abweichend: Alan Kramer, Ethnische Säuberungen vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus, in: Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010, S. 323–347, hier bes. S. 326–330. 147 Mommsen, Der »polnische Grenzstreifen«, S. 128 ff. 148 Vgl. ebenso die biographische Perspektive auf den Leiter des Generalgouvernements Warschau: Robert Spät, Für eine gemeinsame Zukunft? Hans Hartwig von Beseler als Generalgouverneur in Polen 1915–1918, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, Jg. 58 (2009), Heft 4, S. 469–500. 149 Mommsen, Der »polnische Grenzstreifen«, S. 118.
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ein nuanciertes Bild. Denn diese waren selten eindeutig oder ausschließlich von diffamierendem Jähzorn oder Hass geprägt. In ihnen zeigten sich unterschiedliche Annahmen über den Feind, und sie konnten von zugeneigten Gegenbildern durchzogen sein.150 »Was Nation sein sollte, war alles andere als eindeutig«, fasst Michael Geyer die europäische Vorkriegszeit zusammen.151 »Nation war noch 1913 mehr eine Idee von Lehrern, Intellektuellen, Lokalpolitikern und internationalen Agitatoren als der Normalbürger, die sich in einer Welt multipler Ethnien und Sprachen mit den gelegentlichen, auch gewaltsamen Reibereien, die ein solches Neben- und Miteinander nach sich zog, durchaus zurechtfanden.« Im Deutschen Reich fehlte daran anschließend ein vereinender Feindbegriff gegenüber den vielen Kriegsgegnern.152 Zugleich standen den Repräsentationen des Feindes wechselvolle Kontaktaufnahmen und Begegnungen gegenüber. Kriegsberichterstatter und Kriegsausstellungen inszenierten oftmals eine übersichtliche Ordnung der Feinde, die »verschiedene militärische Ressentiments, rassistische Stereotype und nationale Zuschreibungen zu einem Bild verschmolzen«.153 Allerdings dienten diese zu einem großen Teil der Selbstvergewisserung und wurden in unterschiedlichem Maße durch Begegnungen mit dem Feind in besetztem Gebiet oder in der Heimat im Umgang mit Kriegsgefangenen infrage gestellt.154 Drittens kommt Thomas Weber bei der Erforschung des Aufeinandertreffens von Besatzern und Zivilbevölkerung in Nordfrankreich am Beispiel des 16. Bayerischen Reserve-Infanterie-Regimentes zu dem Ergebnis, dass beide Seiten eine
150 Thomas Raithel, Das »Wunder« der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996, S. 327–345. 151 Michael Geyer, Von der Lust am Leben zur Arbeit am Tod: Zum Ort des Ersten Weltkrieges in der europäischen Geschichte, in: Michael Geyer, Helmuth Lethen u. Lutz Musner (Hg.), Zeitalter der Gewalt. Zur Geopolitik und Psychopolitik des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 2015, S. 11–38, hier S. 34. 152 Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992, S. 334–338. 153 Christine Beil, Kriegsausstellungen. Präsentationsformen des Weltkriegs für die »Heimatfront«, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15, Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006, S. 317–333, hier S. 332. 154 Zu den sozialen Grenzüberschreitungen in Bezug auf Kriegsgefangene siehe: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 185–201; Peter Hoeres, Die Slawen. Perzeptionen des Kriegsgegners bei den Mittelmächten. Selbst- und Feindbild, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15, Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006, S. 179–200, hier S. 198; Andreas Peter, Das »Russenlager« in Guben, Potsdam 1998, S. 70–73; Katja Mitze, Das Kriegsgefangenenlager Ingolstadt während des Ersten Weltkriegs, Berlin 2000, S. 366; Kai Rawe, »…wir werden sie schon zur Arbeit bringen!« Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Essen 2005, S. 153 f. u. Jochen Oltmer, Zwangsmigration und Zwangsarbeit – Ausländische Arbeitskräfte und bäuerliche Ökonomie im Ersten Weltkrieg, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 27 (1998), S. 135–168.
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wechselvolle Beziehung verband.155 Diese kann nicht auf eine terroristische Herrschaft der einen und eine leidensvolle Opfergeschichte der anderen reduziert werden. Sie agierten in miteinander verflochtenen Spannungsverhältnissen, in denen Widerstand ebenso wie Kollaboration, Gewalt wie Verbrüderungen Möglichkeitspole darstellten. »Das Verhalten der Deutschen war vielfach grob und manchmal brutal«, resümiert Weber. »Doch der Zweck der Politik gegenüber der Zivilbevölkerung bestand nicht darin, Frankreich auf alle Ewigkeit der Fähigkeit zur Kriegsführung zu berauben.« In die historiografischen Deutungen sollte gleichermaßen die »strukturelle Bedingtheit« der Entscheidungen und des Tätigseins der betrachteten Akteure einbezogen werden, wie Rüdiger Bergien anschaulich anhand zweier Beispiele für den osteuropäischen Kriegsschauplatz darlegt.156 Offizielle Stellungnahmen der deutschen Reichsregierung und der militärischen Führung prangerten nach Gräuelberichten aus dem besetzten Ostpreußen 1914/15 die »russisch-mongolische Kriegsführung« an. »Doch ist dies angesichts der gleichzeitigen alliierten Kampagne gegen die ›blutrünstigen Hunnen‹ ein Beleg für deutschen Slawenhass bereits im Ersten Weltkrieg oder ein Beispiel für das Aufgreifen von Stereotypen im Zeichen eines ›Kampfes mit allen Mitteln‹?«, fragt der Historiker. In den darauffolgenden Jahren verwendeten militärische und zivile Beamte im osteuropäischen Besatzungsgebiet des Oberbefehlshabers Ost für ihr Handeln die Zuschreibungen »deutsche Arbeit« und »Ordnung«. Handelte es sich dabei um »Ansätze eines Radikalnationalismus«, wie er im Zweiten Weltkrieg zur Praxis wurde, oder versuchten die Besatzer, »der durch die Kriegsführung determinierten eigenen Arbeit Sinn zu geben«? »Many of the several hundred thousend alien enemies throughout Europe were not interned, and many who were spent relatively little time in captivity«, gibt Richard Speed in Anbetracht seiner Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Zivilgefangenschaft zu bedenken.157 Dieser Einwand wird in der vorliegenden Darstellung aufgegriffen, indem, wie bereits erläutert, weitere Handlungsfelder staatlicher Akteure berücksichtigt werden. Hierfür leistete Christoph Jahr für das Deutsche Reich wichtige Vorarbeiten. Das wenig beachtete Forschungsfeld sondie155 Thomas Weber, Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wirklichkeit, übers. aus d. Engl. von Stephan Gebauer, Berlin 2011, S. 165–180, hier zitiert S. 177 f. u. zu Gräueltaten in Belgien im August und September 1914 S. 53–61. Die Situation mit der im Zweiten Weltkrieg vergleichend: Ludger Tewes, Nordfrankreich unter deutscher Besatzung 1914 bis 1918 und 1940 bis 1944: Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnisgewinn über den Besatzungsalltag durch Befragung von Augenzeugen, in: Bruno Thoß u. Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 555–575. 156 Rüdiger Bergien, Vorspiel des »Vernichtungskrieges«? Die Ostfront des Ersten Weltkriegs und das Kontinuitätsproblem, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15, Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006, S. 393–408, hier S. 408. 157 Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War, S. 151.
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rend, widmete er sich neben dem Internierungslager in Ruhleben auch der Lebenssituation ausländischer Staatsangehöriger in Südbayern.158 Als Ergebnis seiner Forschungen betont er eine »bürokratische Totalität« innerhalb der getroffenen Entscheidungen und angewandten Verfahren. »›Erfassung‹, ›Aussonderung‹ und ›Internierung‹ einer nach formalen Kriterien ohne Rücksicht auf das Individuum definierten Menschengruppe etablierten sich als mögliche, sinnvolle oder gar notwendig erachtete staatliche Handlungsweisen in Krisenzeiten. Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass diese Politik in den Jahren 1914–1918 noch nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt wurde und Ausnahmen zuließ[.] […] Entscheidend ist vielmehr das Element der Willkür und der Ohnmacht der Betroffenen gegenüber der Allmacht staatlicher Organe.«159 In Bezug auf die Beschäftigung ausländischer Arbeiter/innen in der Kriegswirtschaft kommt Ulrich Herbert zu einem ähnlichen Ergebnis. Er hebt die Eigendynamik der durch die staatliche Verwaltung etablierten Unterdrückungsmechanismen hervor, die in einem Radikalisierungs- wie Lernprozess der Zwangsarbeit mündeten.160 Inhaltlich knüpft Christiane Reinecke in ihrer Studie über britische und deutsche Migrationsregime zwischen 1880 und 1930 daran an.161 Sie sieht die Kriegspraktiken in einem »Freund-oder-Feind-Schema« verhaftet, das »die Kriegsführung ebenso wie die Wahrnehmung der extrem nationalistisch eingestellten kriegführenden Gesellschaften strukturierte« und dem »in besonderer Weise Ausländer zum Opfer« fielen. Sie hätten sich mit einer Bürokratie konfrontiert gesehen, »die bestrebt war, eindeutig zwischen Freund und Feind zu trennen«.162 Entgegen diesem Befund sieht Rolf-Harald Wippich den Umgang mit japanischen Staatsangehörigen im Deutschen Reich einer »freundlichen Korrektheit« verpflichtet.163 »Jenseits der deutschen wie alliierten Kriegspropaganda verlief die relativ kurze Gefangenschaft der japanischen Zivilangehörigen im Deutschen Reich eher unspektakulär«, urteilt er. Feind- und Fremdbilder hätten in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle gespielt. Ihrer Anwesenheit in öffentli158 Christoph Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene. Die Internierung von »Feindstaaten-Ausländern« in Deutschland während des Ersten Weltkrieges am Beispiel des »Engländerlagers« Ruhleben, in: Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 297–321 u. Ders., Keine Feriengäste. 159 Jahr, Keine Feriengäste, S. 243. 160 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 116 f. 161 Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S. 225–255. 162 Ebd., S. 250. 163 Rolf-Harald Wippich, Internierung und Abschiebung von Japanern im Deutschen Reich im Jahre 1914, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 55 (2007), Heft 1, S. 18–40, hier S. 40.
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Archivieren und Historisieren
chen Diskussionen fügt er einen kaum beachteten Erklärungsansatz hinzu, indem er vorgebrachte Stereotype als Instrumente politischen Handelns begreift. »Vorurteile und Antipathien«, schreibt Wippich«, […] traten hier in den Hintergrund zugunsten einer fairen Behandlung der ›exotischen‹ Inhaftierten, wenngleich bisweilen das Gespenst von der ›Gelben Gefahr‹ aus politischem Kalkül reaktiviert wurde.«164 In der folgenden Darstellung wird der disparate Forschungsstand aufgegriffen. Die Vielschichtigkeit historischer Prozesse und die Standortgebundenheit historiografischer Forschung sollen eine besondere Beachtung finden. Dies beginnt bei den recherchierten Überlieferungen. Ihre Deutungsspielräume werden gekennzeichnet und kritisch hinterfragt. Es gilt, mehrere Interpretationsschichten aufzuspüren, deren Bedingtheit zu veranschaulichen und Grenzen wie Widersprüche auszuloten. Während »die Ubiquität der Nation als kognitive Dimension und als Raum sozialer Praxis«165 beachtet wird, sollen gleichwohl nationale Stereotype im überlieferten Textkorpus nicht als erkenntnisleitend übernommen werden. Ihr Befund darf nicht dazu verleiten, sie zum wichtigsten Antrieb der betrachteten Akteure zu erklären. Dies hieße, ihnen die Verantwortung für ihre Entscheidungen und ihr Tätigsein abzusprechen. Nachfolgend soll aufgezeigt werden, dass staatliche Archive gleichsam Produkte gesellschaftlicher Resonanzen waren und infolgedessen vielfältige Ressourcen für alltagsgeschichtliche Perspektiven bereitstellen. Administrative Akteure, die durch Staatsarchive in den Mittelpunkt gerückt werden, argumentierten und handelten keineswegs nur funktional institutionenbezogen. Sie gehörten untrennbar der Gesellschaft des Kaiserreiches und deren politischer wie ästhetischer Kultur an. Und sie beobachteten, durchdachten, beschrieben und bewerteten ihre alltägliche Umwelt, sodass diese manchmal fragmentarisch, gelegentlich überbordend, meist nicht wegzudenkend in die Akten Eingang fand. Vor diesem Hintergrund wird der Versuch gewagt, eine Geschichte über den gesellschaftlichen Umgang mit Staatsangehörigen gegnerischer Staaten zu schreiben und zu begründen. Dieser war, wie sich beständig zeigen wird, vielgestaltiger als die oftmals vorgestellte Schwarz-Weiß-Trennung zwischen Eigenem und Feindlichem.
164 Ebd. 165 Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 335.
2. Planen und Verdächtigen
Militärische Ungewissheiten eines kommenden Krieges Schemenhaft deuteten sich feindliche Ausländerinnen und Ausländer vor den Sommermonaten des Jahres 1914 dort an, wo Generäle und Staatsdiener ihre Erwartungen über zukünftige militärische Konflikte diskutierten. Ihr Blick auf die Fremden wurde nicht zuletzt von den Kriegen auf der Balkanhalbinsel in den Jahren 1912 und 1913 bestimmt. »Der Balkankrieg hat erneut bewiesen, wie verhängnisvoll eine mangelnde Fremdenkontrolle für die Landesverteidigung werden kann. Da eine ausreichende Überwachung der Ausländer in Konstantinopel nicht bestand, waren die Maßnahmen der türkischen Heeresleitung meist vor ihrer Durchführung den Bulgaren bekannt«, führte Franz von Wandel (1858–1921) im Namen der militärischen Verantwortungsträger gegenüber Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg aus.1 Nachdrücklich betonte der Direktor des Allgemeinen Kriegsdepartements im Preußischen Kriegsministerium die daraus erwachsenden Herausforderungen. »Besonders halte ich den Paßzwang für Ausländer in allen Gebieten für geboten, über die der Kriegszustand verhängt wird. Gerade diese Maßregel ist geeignet, den fremdländischen Nachrichtendienst lahmzulegen[.]« Unter dem Eindruck der militärischen ›Einkreisung‹ des Deutschen Reiches und vor dem Hintergrund der Modernisierung wie der personellen Aufstockung des Heeres2 trieb von Wandel energisch Bemühungen voran, ebenso die zivilen Institutionen auf eine Mobilmachung vorzubereiten.3 Ein erster Verordnungsentwurf über die Einführung von Pässen in Kriegszeiten lag im Januar 1914 vor und stand kurz darauf im Mittelpunkt einer interministeriellen Beratung in Ber1 2
3
Preuß. KM (gez. Wandel), betr. d. Einführung d. Passpflicht bei drohender Kriegsgefahr, an d. Reichskanzler (RAdI), 2.5.1913, in: BArch Berlin, R 1501/112160, Bl. 22 (Herv. im Org.). Zuletzt zur Wahrnehmung der strategischen Lage durch das deutsche Offizierskorps und der daraus hervorgehenden Heeresverstärkungen seit 1909: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, übers. aus d. Engl. von Norbert Juraschitz, München 2013, S. 425–434 u. Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 76–97. Zu den militärischen Kriegsvorbereitungen siehe: Dieter Storz, Die Schlacht der Zukunft. Die Vorbereitungen der Armeen Deutschlands und Frankreichs auf den Landkrieg des 20. Jahrhunderts, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 252–279.
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Planen und Verdächtigen
lin.4 Zwischen den zusammengekommenen Vertretern des Reichsamtes des Innern, des Auswärtigen Amtes, des Preußischen Kriegsministeriums und des Großen Generalstabes entspann sich ein Meinungsaustausch, in dem die Grundzüge des Umgangs mit Ausländer/innen umrissen und ihre möglichen Reaktionen auf Passpflicht wie Grenzschließungen vermessen wurden. Auf die zu bewältigende Ausgangssituation verwies der Ministerialdirektor des Reichsamts des Innern, Theodor Lewald (1860–1947). Eine »große Anzahl«, »nach der letzten Volkszählung über 1 Million« Ausländer/innen, hielten sich ununterbrochen im Deutschen Reich auf. Das Statistische Jahrbuch wies sogar über 1,2 Millionen Anwesende für Dezember 1910 aus. Im Angesicht dieser Zahlenkolonnen übersahen Lewald und viele weitere Akteure einen wichtigen Gesichtspunkt: mehr als 200.000 Ausländer/innen waren in Deutschland geboren und aufgewachsen.5 Viele von ihnen hatten das Land noch nie verlassen. Im zukünftigen Krieg sollte dies zu vielfältigen Konflikten führen. Die Statistik verschwieg zudem russländische und italienische Saisonarbeiter/innen. Sie reisten zur Arbeitsaufnahme in den Sommermonaten ein. Allein für erstere ging die Reichsleitung im September 1914 von etwa 300.000 Personen aus. Tabelle 1: Ortsanwesende ausländische Staatsangehörige im Deutschen Reich, 1910, 1905, 1900 1.12.1910
1.12.1905
insg.
weibl.
Russland
137.697
58.487
Italien*
104.204
31.317
Frankreich**
19.140
Großbritannien
18.319
…
…
Insgesamt
1.259.873
1.12.1900
weibl.
insg.
weibl.
106.639
48.652
46.967
18.942
98.165
22.228
69.738
12.734
10.223
20.584
10.713
20.478
10.781
9.909
17.253
9.265
16.130
8.885
… 542.879
insg.
… 1.028.560
… 429.240
…
… 778.737
314.463
* (mit San Marino) nebst Kolonien ** (mit Monaco) nebst Algerien, Tunesien und den übrigen Kolonien und Schutzstaaten Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1914 (Jg. 35), S. 10 f.
4 5
Aufzeichnung d. Beratung im RAdI, betr. Verordnung über d. vorübergehende Einführung d. Passpflicht bei drohender Kriegsgefahr, 26.1.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112160, Bl. 94– 100. Im Folgenden wird, wenn nicht anders angegeben, aus diesen Aufzeichnungen zitiert. Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994, S. 168.
Militärische Ungewissheiten eines kommenden Krieges
65
Aus militärischer Sicht sei es von größter Bedeutung, den »auswärtige[n] Nachrichtendienst […] mit allen Mitteln lahmzulegen«, erklärte Major Karl Freiherr von Gall (1847–1926), der das Preußische Kriegsministerium vertrat. Übergangsbestimmungen hielt er für »notwendig«. Dabei gelte aber, »[w]er heimkehren wolle, sei nicht verdächtig, aber wohl, wer aus dem Land heraus wolle«. Dem schloss sich Hauptmann Kurt Neuhof im Namen des Großen Generalstabs an. »Die Ausreisenden seien einer sehr scharfen Kontrolle zu unterwerfen; aber auch für die hierbleibenden Ausländer gelte das«, fasste der Protokollant seine Worte zusammen. Major Gustav von Bartenwerffer (1872–1947) erweiterte schließlich dieses Panorama der Verdächtigten. Er konstatierte, dass in »Zeiten politischer Spannung […] hauptsächlich Leute hereinzukommen [suchten], die der Spionage verdächtig seien«. Andere Überlegungen durchzogen die Äußerungen der zivilen Ministerialvertreter. Sie erwarteten ökonomische wie administrative Schwierigkeiten bei der Einführung der Passkontrollen. Der Geheime Regierungsrat Walther Jung (1869– 1939) aus dem Reichsamt des Innern warnte vor deren Nachteilen. Besonders Handelsreisende und landwirtschaftliche wie industrielle Saisonarbeiter/innen – »Galizier und Russen, […] Holländer, Luxemburger und Schweizer« – seien von einem restriktiven Passzwang betroffen. Ihre Arbeitskraft würde »im Inland im Kriegsfall nötig gebraucht«. Hinsichtlich der übrigen Ausländer/innen empfahl er aber, ihnen die Abreise »wegen der sonst erforderlichen Überwachung und der Schwierigkeit in der Ernährung« zu erleichtern. Dass sie in das Deutsche Reich einreisen beziehungsweise nicht ausreisen wollen, davon war Adolf von Massenbach (1868–1947) überzeugt. »[D]enn sie mieden es gern, im Ausland zum Heeresdienst herangezogen zu werden«. Dementsprechend ginge eine »Unsicherheit« von ihnen nicht aus, sodass ihnen »der Aufenthalt im Inland nicht zu erschweren« sei. Von Massenbach, der Abgesandte des Preußischen Landwirtschaftsministeriums und spätere Direktor des Kriegsernährungsamtes, erblickte in der Mobilmachungsphase generell eine Zeit des Kontrollverlustes. »Bei Ausbruch des Krieges könne von einer polizeilichen Überwachung kaum noch die Rede sein; nur müsse man eine Handhabe besitzen, auf Grund deren verdächtige Personen festgehalten oder sonstwie unschädlich gemacht werden könnten; dazu seien Paß- und Meldepflicht notwendig.« Beide Instrumente wurden gleichwohl als problematisch wahrgenommen. »Es genüge nicht, die Führung eines Passes den Ausländern vorzuschreiben,« führte Jung aus. »[E]s sei auch nötig, die Richtigkeit des Paßinhalts zu prüfen und sämtliche paßpflichtigen Ausländer ausreichend zu überwachen.« Dem schloss sich Regierungsassessor von Achaz von Saldern (1881–1962), der für das Preußische Innenministerium sprach, an. »Die Beschaffung oder der Besitz eines Passes an sich schließe die Verdächtigkeit eines Ausländers noch nicht aus«, gab er zu bedenken. »[D]er Besitz eines Passes [sei] unter Umständen geeignet, die Wachsamkeit der Kontrollbehörden einzuschlummern. Eines verdächtigen Ausländers könnte man sich schließlich einfach durch Ausweisung oder durch
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Planen und Verdächtigen
Festsetzung entledigen.« Indes wollte er letzteres Instrument im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen nicht auf Verdächtige begrenzt wissen. »Andererseits könnte auch ein Interesse daran bestehen, bestimmte Ausländer im Inland zurückzuhalten, was am sichersten durch Festnahme geschehe.« Die Ressortvertreter skizzierten mit ihren Äußerungen mehrere prägende Momente im zukünftigen Umgang mit Ausländer/innen. Zunächst setzten sie deren praktische Unterscheidung voraus, bei der vor allem russländische Saisonarbeiter/innen eine getrennte Aneignung als unverzichtbare Arbeitskräfte oder als störende Lebensmittelverbraucher erfuhren. Anschließend stimmten die Anwesenden darin überein, alle einer »scharfen Kontrolle« zu unterstellen. Denn die dringlichste Aufgabe sahen sie in der Verhinderung der Spionage. Der polizeilichen Überwachung ausländischer Staatsbürger/innen wurde eine kriegsentscheidende Bedeutung beigemessen. Die Zivilpolizeibehörden sollten hierbei besonders in der Verantwortung stehen. Ihnen erwuchsen neue administrative Aufgaben. Deshalb forderte Landrat Gottfried von Dryander (1876–1951) eine »Verstärkung der Gendarmerie« in den Grenzbezirken. Er empfahl darüber hinaus zur Unterstützung der Polizeikräfte »die Zuhilfenahme von vertrauenswürdigen Überwachungspersonen«. Zu ihnen rechnete er beispielsweise Mitglieder der Kriegervereine. Folglich erweiterte er unwidersprochen den Kreis der Akteure, die sich an Kontrollmaßnahmen beteiligen sollten. Ob diese erfolgreich sein würden, daran keimten mit den Verweisen auf den Mangel an ausgebildetem Personal und dem Misstrauen in die Sicherheit der Pässe erste Zweifel auf. Die Vertreter der Ministerien und des Großen Generalstabes hielten dennoch an der Bedeutung der Pass- und Meldepflicht fest. Dagegen stellten für sie weiterführende Instrumente im Umgang mit Ausländer/innen wie Ausweisungen oder Festnahmen keine zentralen Handlungsoptionen dar. Die in den folgenden Monaten beschlossene Passverordnung für den Kriegsfall sah eine Ausweispflicht für alle ausländischen Staatsangehörigen vor, die sich in Gebieten aufhielten, in denen der Kriegszustand erklärt werden sollte.6 König Ludwig III. von Bayern (1845–1921) verkündete diesen am 31. Juli 1914 für das Königreich Bayern, Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) am selben Tag für das gesamte Reichsgebiet.7 Zur gleichen Zeit nahmen staatliche Akteure Ausländer/innen verstärkt als potenzielle Spione in den Blick. Sie würden ihre Tätigkeit keineswegs ausschließlich auf die militärischen Operationsgebiete begrenzen, wie beispielsweise noch 1916 das Kriegstaschenbuch seinen Leser/innen erläuterte.8 Denn die vor6 7 8
Verordnung, betr. d. vorübergehende Einführung d. Paßpflicht, 31.7.1914, in: RGBl. 1914, S. 264 f. Verordnung, betr. d. Erklärung d. Kriegszustandes, 31.7.1914, in: RGBl. 1914, S. 263. Für das Königreich Bayern: Verordnung, betr. d. Verhängung d. Kriegszustandes, 31.7.1914, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1914, S. 327 f. Art. Spion, in: Kriegstaschenbuch. Ein Handlexikon über den Weltkrieg, hg. von Ulrich Steindorff, Leipzig 1916, S. 291.
Militärische Ungewissheiten eines kommenden Krieges
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mals militärischen Geheimnisse in Form von Transportrouten und Kriegsgeräten sowie die im Verborgenen geschmiedeten Pläne wurden »vor den Augen vieler in breitester Öffentlichkeit« zum Vorschein gebracht und eingesetzt. »Ein tatsächliches Geheimnis gab es im Kriege nicht«, resümierte Walter Nicolai (1873–1947), der Chef der Nachrichtenabteilung im Großen Generalstab.9 Die Infrastruktur eines reichsweiten technisierten Aufmarsches wie Eisenbahnbrücken und Telegraphenleitungen galt als in hohem Maße anfällig für Spionage- und Sabotageakte. Die Heeresverantwortlichen reagierten auf die veränderte Wahrnehmung ausländischer Spionage. Sie übertrugen die Vorschriften der Kriegsetappenordnungen von den Kriegsschauplätzen auf die sogenannte Heimatfront. Diese bestimmten, dass »[v]erdächtige Zivilpersonen und lästige Ausländer […] unter Maßregeln, die Mitteilungen an den Feind unmöglich machen, den Polizeibehörden des Heimatgebietes zuzuführen« seien.10 Gleichlautend forderten zum Beispiel seit 1904 die Mobilmachungsanweisungen für die braunschweigischen Gemeindevorsteher, »[f]eindliche Spione« und »des Hoch- oder Landesverrats Verdächtige« festzunehmen. »Unzuverlässige Elemente« sollten zunächst beobachtet werden.11 Im bayerischen Äquivalent aus dem Jahre 1914 traten Ausländer/innen zwar nicht als eigenständige Gruppe hervor, allerdings waren die Polizeibehörden befugt, Spione und des Landesverrats Verdächtige bei drohender Kriegsgefahr zu inhaftieren.12 Zugleich agierten die Spione in den Vorschriften nicht nur als Informationssammler, sondern ebenso als Saboteure des Aufmarsches. Um den erweiterten polizeilichen Kontrollen gerecht zu werden, sahen die bayerischen Regieanweisungen für den Kriegszustand die Ernennung von »Zivilschutzwächtern« vor. Ausgestattet mit weiß-blauer Armbinde und Schusswaffe, sollten sie auf ein umfangreiches Bedrohungsszenario reagieren. »Der Feind wird versuchen, durch Spione oder Luftfahrzeuge unsere Bahnen und unsere Telegraphen- und Telephonanlagen zerstören zu lassen, um dadurch unsere Mobilmachung und unseren Aufmarsch zu stören. Jeder, der sich in der Nähe der Bahn, der Telegraphen- oder Telephonanlagen zu schaffen macht, wird angerufen und wenn er auf dreimaliges ›Halt!‹ nicht steht, niedergeschossen. Leute, die Euch verdächtig erscheinen, die bewaffnet sind
9 Walter Nicolai, Nachrichtendienst, Presse und Volksstimmung im Weltkrieg, Berlin 1920, S. 30. 10 Kriegsetappenordnung Z. 100, zit. nach: Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 723. Ob die Zuschreibung »Ausländer« in den besetzten Gebieten eine Modifikation erfuhr, bleibt unklar. 11 Mobilmachungs-Anweisung für die Gemeindevorsteher des Herzogtums Braunschweig, Braunschweig 1904, S. 5. 12 Mobilmachungsanweisungen für die Bürgermeister, gültig ab 1. April 1914, München 1914, S. 6.
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Planen und Verdächtigen
oder Sprengmaterial bei sich haben, werden sofort verhaftet. Auf Flugzeuge, die sich dem Bahnkörper nähern, wird geschossen.«13 In einer im Königreich Bayern zu veröffentlichenden Bekanntmachung wurde die Bevölkerung aufgefordert, nach Ersuchen die Schutzleute bei der Festsetzung Verdächtiger zu unterstützen und »ihnen unaufgefordert Wahrnehmungen über die Gefährdung von Eisenbahnzügen und die Zerstörung von Bahnanlagen umgehend« zu berichten.14 In der »Bekämpfung der feindlichen Spionage« gingen die Minister und Referenten des Sächsischen Innen- und des Finanzministeriums noch einen Schritt weiter. Sie forderten neben dem Schutz wichtiger Infrastruktur zur »Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung […] eine strenge Überwachung der Bevölkerung«. Zunächst wiesen sie die Landgendarmerie an, »[u]nruhige Elemente und Personen, die die Bevölkerung aufzuregen versuchen und solche, die hinreichend verdächtig sind, dem Landesfeinde Vorschub zu leisten«, festzunehmen. Gleichwohl endeten damit nicht deren Dienstpflichten. Zur erfolgreichen Spionageabwehr mussten die Gendarmen weitere Aufgaben übernehmen. »Daher ist sorgfältige Überwachung aller zugereisten Unbekannten, genaue Feststellung des Zwecks ihres Aufenthaltes, ihres Reisezieles usw. erforderlich. Auch die dauernd hier wohnenden Ausländer und Ausländerinnen müssen beobachtet werden. Alle Personen, die nachweislich Verbindungen über die Grenze unterhalten, ohne diese ausreichend begründen zu können, ferner solche verdächtigen Personen, die sich nicht legitimieren können und auf denen überhaupt ein Verdacht der Spionage für eine auswärtige Macht haftet, sind festzunehmen und an die nächste Truppe, Ortspolizeibehörde oder den Amtshauptmann abzuliefern.«15 Bezeichnend für diese Tätigkeitsbeschreibung war die Abwesenheit von Kriterien für einen Spionageverdacht. Die Verfasser gingen offenbar davon aus, dass die Gendarmerie eine Vorstellung von schützenswertem militärischen Wissen besaß. Um dennoch Zweifel zu zerstreuen und zögerliches Agieren zu vermeiden, wählten sie ein unmissverständliches Schlusswort. »Bei Erfüllung aller dieser Aufgaben ist schnelles und energisches Zufassen geboten; eine Übereilung wird in der Regel ein geringerer Fehler sein, als zu langes Abwarten, bis die Begründung für einen Verdacht obliegt.«16 13 Ebd., S. 26. 14 Ebd., S. 83 (Beilage 7). 15 Beschluss d. Sächs. MdI (Abt. II), 18.1.1913, darin: Anweisung d. Sächs. Min. d. Innern u. d. Finanzen über d. Verwendung d. Landgendarmen für d. Dauer d. Mobilmachung, in: HStA Dresden, 10736/3347a, Bl. 18–22. 16 Ebd.
Militärische Ungewissheiten eines kommenden Krieges
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Dass militärische Geheimnisse in hohem Maße zeit- und ortsabhängig waren und Verdachtsfaktoren sich größtenteils einer Generalisierung entzogen, stellte ein zeitgenössisch viel diskutiertes Problem dar. Beispielhaft dafür stehen die Reichstagsdebatten über das Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse.17 Eingebracht von der Heeresverwaltung und der Reichsleitung, stieß es auf eine breite Ablehnung unter den Abgeordneten. Ihre Bedenken galten überwiegend dem vorgesehenen Entscheidungsträger. Er sollte eigenverantwortlich festlegen, was ein militärisches Geheimnis sei. Nach den Vorstellungen der Initiatoren kam dafür nur »die oberste militärische Behörde« in Frage. »[O]hne weiteren Nachweis« sollte sie »die Gegenstände und Nachrichten, deren Geheimhaltung […] im Interesse der Landesverteidigung« wichtig erschienen, definieren. Im Zuge dessen befürchteten viele Abgeordnete Intransparenz und Willkür, weil sich die Festlegungen einer Eingrenzung in Gesetzestexten und einer juristischen Überprüfung entzögen.18 Obwohl der entsprechende Paragraf in den darauffolgenden Kommissionsberatungen abgelehnt wurde,19 wirkten die hinter dem ersten Entwurf stehenden Vorstellungen fort. Militärische Geheimnisse verweigerten sich einer klaren Definition. Das Wissen über die Spionage selbst stellte sich als mehrdeutig und widersprüchlich dar. Darauf reagierten die Mobilmachungsanweisungen und späteren Bekanntmachungen der stellvertretenden Generalkommandos. Sie forderten, dass bei Spionageermittlungen den situativen Verdachtsmomenten eine herausgehobene Stellung zugesprochen werden müsse. Das im Friedenszustand bestehende Spannungsfeld zwischen militärischen Entscheidungsbefugnissen und ziviler Rechtsprechung, zwischen parlamentarischer und militärischer Kontrolle wurde im Krieg zugunsten des Militärs verschoben. Die situativen und akteursabhängigen Signaturen des Verdachtes setzten sich zeitweilig gegenüber der akribischen Spuren- und Beweissicherung als Kernpunkt rechtsstaatlicher Urteilsfindung durch. Gleichzeitig fand in den Tagen der Mobilmachung eine weitere Verlagerung des Diskurses über Spione und ihre Enttarnung statt. 17 Gesetz gegen d. Verrat militärischer Geheimnisse, in: RGBl. 1914, S. 195 u. in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3: Deutsche Verfassungsdokumente 1900–1918, hg. von Ernst Rudolf Huber, Stuttgart 19903, Dok.-Nr. 52, S. 93 ff. 18 Bericht d. 19. Kommission über d. Entwurf eines Gesetzes gegen d. Verrat militärischer Geheimnisse, in: Sten.Ber.RT, Bd. 305 (Anlagen), Nr. 1640, S. 3612–3674, hier: Anlage 1, S. 3654. 19 Ebd., S. 3655. In der endgültigen Fassung des Gesetzes hieß es unter anderem: »§ 1. Wer vorsätzlich Schriften, Zeichnungen oder andere Gegenstände, deren Geheimhaltung im Interesse der Landesverteidigung erforderlich ist, in den Besitz oder zur Kenntnis eines anderen gelangen läßt und dadurch die Sicherheit des Reiches gefährdet, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren, bei milderen Umständen mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bestraft.« Siehe: Gesetzes gegen d. Verrat militärischer Geheimnisse, 3.6.1914, in: RGBl. 1914, S. 195.
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Planen und Verdächtigen
Die Beratungen über das Spionagegesetz hatten sich auf deutsche Staatsbürger/ innen konzentriert, »die sich dem Auslande aus Gewinnsucht zu diesem schmählichen Gewerbe verkauft haben«. Sie seien, wie der Staatssekretär des Reichsjustizamtes berichtete, für die »ganz außerordentlich« gestiegene Zahl an Spionagefällen verantwortlich gewesen.20 Diese Beobachtung entsprach den Erkenntnissen Walter Nicolais. Nach ihm standen in den Jahren 1907 bis 1914 107 verurteilten deutschen Staatsangehörigen (darunter 32 aus Elsaß-Lothringen) unter anderem nur elf russländische, fünf französische und vier britische gegenüber.21 Aber beginnend mit den Mobilmachungsanweisungen über die Debatten der Passverordnung bis hin zu den Instruktionen von Generalkommandeuren für ihre Armeekorpsbezirke bezogen sich die kriegsvorbereitenden Maßnahmen gegen Spionage weitgehend auf Ausländer/innen. Es hatte sich demzufolge die angenommene Bedrohungslage im Inneren des Deutschen Reiches wirkmächtig gewandelt. Noch 1912 hatte der preußische General Franz Tülff von Tschepe (1854–1934) »Inländer und Ausländer« im Blick, als er den Oberpräsidenten der Rheinprovinz anwies, bei der Erklärung des Kriegszustandes jene festzunehmen, »die schon im Frieden, wenn auch ohne tatsächliche Beweise, in irgend einer Beziehung als spionageverdächtig aufgefallen sind« und »die ihrem ganzen im Frieden erkannten Benehmen oder ihrer Stellung nach beargwöhnt werden könnten, […] dem Landesfeind durch Spionagedienste oder durch Zerstörung von Eisenbahnen, Brücken, Telegraphen- und Fernsprechanlagen und anderer Kunstbauten Vorschub zu leisten«. Die Polizeibehörden führten infolgedessen Verzeichnisse über »politisch Unsichere«, die ebenso »Anarchisten, Führer der Socialdemokratie pp.« umfassten, »denen eine Störung unserer Mobilmachung durch Aufreizen der Bevölkerung zu Ungehorsam und Widersetzlichkeit […] zuzutrauen ist«. Gleichwohl sollte ihre Festnahme erst erfolgen, wenn sie »agitatorisch tätig werden«.22 Die kontinuierliche Annäherung der Sozialdemokratischen Partei an das politische System des Kaiserreiches hatte in militärischen Kreisen ihren Niederschlag gefunden und wurde zunehmend berücksichtigt. Der Juli 1914 stand unter dem Zeichen der Zurückstellung innenpolitischer Konflikte nicht zuletzt gegenüber nicht-deutschen Nationalitäten. Aus den Erfahrungen der Vorkriegszeit ließ sich diese Haltung keineswegs eindeutig erwarten. Militärführer und Politiker hatten deutschen Staatsbürger/innen französischer, polnischer und dänischer Nationalität bezüglich ihrer staatlichen Loyalität misstraut. Dies äußerte sich beispielsweise in Elsaß-Lothringen in Listen der Zivilbehörden, die führende Mitglieder der Französischgesinnten verzeichneten, und in Anordnungen, 20 Hermann Lisco (Staatssekretär d. Reichsjustizamtes), 175. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 26.11.1913, in: Sten.Ber.RT, Bd. 291, S. 5974. 21 Walter Nicolai, Geheime Mächte. Internationale Spionage und ihre Bekämpfung im Weltkrieg und heute, Leipzig 1923, S. 30. 22 Gkdo. VIII. AK (gez. v. Tülff) an d. Oberpräsidenten d. Rheinprovinz, 8.4.1912, in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 76, S. 185–187, hier S. 185.
Militärische Ungewissheiten eines kommenden Krieges
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die Militärverbänden einen Zugriff »ohne Rücksicht mit Waffengewalt« auf die Zivilbevölkerung einräumten, sollte es zu Störungen der Mobilmachung kommen.23 Nachdem Reichskanzler Bethmann Hollweg am 18. Juli 1914 damit gescheitert war, den Übergang der vollziehenden Gewalt auf die Militärbefehlshaber im ganzen Reichsgebiet zu verhindern, verständigten sich die Reichsleitung und die Heeresführung auf einen bedachtsamen Umgang mit sozialdemokratischen und national nicht-deutschen Führungspersönlichkeiten. Am Abend des 24. Juli 1914 fand im Preußischen Kriegsministerium eine Besprechung zwischen dem preußischen Kriegsminister Erich von Falkenhayn (1861–1922), dem Oberbefehlshaber in den Marken Gustav von Kessel (1846–1918) und dem Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Clemens von Delbrück statt.24 Letzterer zerstreute die Ansicht, »daß die Polen, Dänen, die französischen Einwohner von Elsaß-Lothringen und vor allen Dingen die gesamte Sozialdemokratie den Ausbruch eines Krieges zum Anlaß einer Auflehnung gegen die Regierung nehmen oder doch dieser und den Militärbehörden alle nur erdenklichen Schwierigkeiten bereiten würden«, wie er sich rückblickend erinnerte.25 Die Anwesenden beschlossen trotz der sozialdemokratischen Aufrufe zu Antikriegsdemonstrationen, dass präventive Verhaftungen unterbleiben sollten. Die beiden Generäle folgten den Überlegungen Delbrücks, der die Zweckmäßigkeit politisch motivierter Festnahmen bezweifelte und die »Einheit und Geschlossenheit der Bevölkerung« durch ein solches Vorgehen gefährdet sah.26 Die Richtlinien für die preußischen Generalkommandos vom 25. Juli informierten die Militärbefehlshaber schließlich darüber, dass es »nicht erwünscht« sei, »politische Parteien durch Unterdrückung ihrer Presse und Verhaftung ihrer Führer von vornherein in einen scharfen Gegensatz zur Regierung« zu treiben. »Deshalb ist zunächst ein abwartendes Verhalten, bei strenger Überwachung gegenüber der sozialdemokratischen, polnischen, dänischen und elsaß-lothringischen Presse und Partei angezeigt.«27 Dementsprechend beschlossen beispielsweise der Oberpräsident und die Generalkommandeure der Provinz Westpreußen, »sozialdemokratische und anarchistische und polnische Führer« zwar »scharf« zu überwachen, aber nicht zu inhaftieren. Dennoch Verhaftete, die sich der Eigeninitiative lokaler Beamter 23 Anscar Jansen, Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das deutsche Militär in der Julikrise 1914, Marburg 2005, S. 189 f. 24 Johanna Schellenberg, Die Herausbildung der Militärdiktatur in den ersten Jahren des Krieges, in: Fritz Klein (Hg.), Politik im Krieg 1914–1918. Studien zur Politik der deutschen herrschenden Klassen im ersten Weltkrieg, Berlin 1964, S. 22–49, hier S. 31–35. 25 Clemens von Delbrück, Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914, aus d. Nachlass hg. von Joachim von Delbrück, München 1924, S. 100. 26 Ebd., S. 100 f. 27 Preuß. KM (gez. v. Falkenhayn), betr. Richtlinien für d. bei Erklärung d. verschärften Kriegszustandes zu ergreifenden Maßnahmen, an d. Preuß. Gkdos., 25.7.1914, in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 77, S. 188–192, hier S. 189.
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Planen und Verdächtigen
ausgesetzt sahen, wurden ohne Widersprüche freigelassen. Schwieriger gestaltete sich die Durchsetzung der Burgfriedenspolitik in Schleswig-Holstein. Dort agierten Militär- und Zivilbehörden, der stellvertretende kommandierende General von Altona, Maximilian von Roehl (1853–1922), und der Oberpräsident der preußischen Provinz, Detlev von Bülow (1854–1926), Hand in Hand. Beide rechtfertigten die Präventivverhaftungen von Bürgern dänischer Nationalität und das Verbot dänischsprachiger Zeitungen hartnäckig und blieben darin unnachgiebig.28 Erst nach der Entsendung zweier Emissäre, der Intervention des Preußischen Kriegsministeriums und des Reichsamtes des Innern lenkten sie ein und unterzogen die Verhafteten einer Einzelfallprüfung.29 Der beharrliche Eingriff der Berliner Verantwortungsträger erklärt sich zum einen aus ihrem Interesse, innenpolitische Konfrontationen zu vermeiden. Zum anderen verdeutlicht es ihre Annahme, dass von den Verhafteten keine Gefahr für die Kriegsführung und die innere Sicherheit ausginge. Auf feindliche Ausländer/innen traf dies nicht zu. Militärische wie zivilstaatliche Akteure maßen ihnen eine erhöhte Aufmerksamkeit bei, weil sie als Staatsangehörige der Kriegsgegner aus nationalen Beweggründen Spionage- und Sabotageakte durchführen könnten.30 Ihr Status als Zivilisten wie ihre Klassenzughörigkeit spielte eine untergeordnete Rolle. Die nationalstaatliche Verunsicherung wog bei Kriegsbeginn stärker als rechtliche Gewissheiten und sozio-kulturelle Überzeugungen. Während der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, August Bebel (1840–1913), bereits 1904 im Reichstag bekannte, »die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu verteidigen«,31 wurde nun das umtriebige Wirken ausländischer Geheimagent/innen und Informant/ innen im Kriege erwartet. Denn ein militärischer Konflikt ohne Spionage war undenkbar geworden. Die nationale Metamorphose des Spions ließ die Unsicherheit über seine Vorgehensweise und die Schwierigkeiten seiner Enttarnung allerdings fortbestehen. Gleichzeitig erschien die Möglichkeit verlockend, eine vielgestaltige Gesellschaft nach rechtlichen Kriterien zu kategorisieren und damit einhergehend eine asymmetrische Bedrohung als beherrschbar und kontrollierbar zu erklären. In diesem Sinne forderte Hans Gaede (1852–1916), der im August 1914 als stellvertretender kommandierender General aus dem Ruhestand reaktiviert wurde, dass es im »Interesse der Sicherheit des Landes« geboten sei, eine Informationsbeschaffung und -übermittlung durch die »Angehörigen der gegen uns im Kriege stehenden 28 Preuß. Minister d. Innern (gez. i. A. v. Jarotzky) an d. Admiralstab d. Marine, 16.8.1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 5/4515, Bl. 161 u. Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Loebell) an d. Reichskanzler, 20.8.1914, (Telegramm) in: BArch Berlin, R 43/2466.c, Bl. 9–11. 29 Jansen, Der Weg in den Ersten Weltkrieg, S. 500–509. 30 Ebenso Ebd., S. 152–157. 31 August Bebel (SPD), 51. Sitzung d. RT (XI. Leg.-Per.), 7.3.1904, in: Sten.Ber.RT, Bd. 189, S. 1588.
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Mächte« zu unterbinden. Ihm schwebten unter anderem militärische Maßnahmen vor, um die befürchteten nachrichtendienstlichen Gefahren auszuschalten. Indem er eine Grenze zwischen dem Zivilen und dem Militärischen aufhob, beschrieb er eine schwerwiegende Konsequenz. »Da es aber möglich ist,« legte er dar, »dass auch irgendwelche mit der Kriegführung an sich nicht in Verbindung stehende Personen, wenn sie auf freiem Fuss verbleiben, eine Gefahr für die Kriegspartei darstellen und dass die kürzere oder längere Festhaltung dieser Personen von der militärischen Notwendigkeit verlangt wird, so sind alle Personen als der Kriegsgefangenschaft unterliegend zu betrachten, falls und solange jene Voraussetzungen vorhanden sind.«32 Der aus Gaedes Worten quellende Wille, das Heer nicht nur an der Kriegsfront, sondern ebenso im Inneren des Deutschen Reiches zielstrebig zu schützen, sollte für feindliche Ausländer/innen weitreichende Folgen zeitigen. Seine Grundannahmen hinterfragte er nicht. Er zeigte sich überzeugt davon, dass die Staatsbürgerschaft auf das Engste mit der Bereitschaft zur Militärspionage zusammenhing und von feindlichen Staatsangehörigen eine beträchtliche Bedrohung für die deutsche Armee ausging.
Wirtschaftliche Erfordernisse und Abhängigkeiten Die zivil-militärischen Beratungen über eine Passpflicht im Kriegsfalle zeigen, dass sich die Überlegungen staatlicher Akteure neben militärischen an wirtschaftlichen Faktoren orientierten. Zu letzteren gehörte der Umgang mit ausländischen Saisonarbeiter/innen. In den präventiven Kriegswirtschaftsplanungen, die durch eine Kommission unter dem Vorsitz Clemens von Delbrücks vorangetrieben wurden, offenbarte sich ihre Bedeutung in einem zukünftigen Krieg. Für die in diesem zu bewältigenden wirtschaftlichen Aufgaben gäbe es weder »Beispiele« noch »Vorgänge«. Das Deutschland des 20. Jahrhunderts sei »durch seine Industrie und Landwirtschaft mit dem Wirtschaftsleben der anderen Völker in einem Maße verflochten […], wie dies in dem letzten Kriege auch nicht im entferntesten der Fall war«, hieß es in einer daran anschließenden Denkschrift aus dem Reichsamt des Innern. In Bezug auf die Landwirtschaft bedeute dies, dass ihre Lage »nicht ohne Bedenken sein wird, falls die Mobilmachung und der Wegfall der ausländischen Landarbeiter zu einer Zeit eintritt, wo die Landarbeiter schwer entbehrt werden können. Die Entziehung von ausländischen Arbeitskräften wird dann umso mehr ins Gewicht fallen, als die inländischen Landarbeiter und große Teile der land32 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Gaede) an d. Bad. BzA Baden, 8.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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Planen und Verdächtigen
wirtschaftlichen Bevölkerung zu den Fahnen einberufen sind.«33 Indessen kollidierte diese Feststellung mit der preußisch-deutschen Nationalitätenpolitik und ihrem Versuch, ausländische Pol/innen politisch und ethnisch auszugrenzen. Als Arbeiter/innen wurden sie lediglich geduldet, ihre Ansiedlung war unerwünscht und ausgeschlossen. Diese ›Abwehrpolitik‹ äußerte sich vor allem in ihrer Registrierung durch die Deutsche Arbeiterzentrale und in einer jährlichen Karenzzeit. Über die Wintermonate mussten sie in ihre Heimat jenseits der Reichsgrenze zurückkehren.34 Tabelle 2: Durch die Arbeiterzentrale legitimierte russländische Saisonarbeiter/innen im Deutschen Reich, 31. Juli 1914 Arbeiter/innen polnischer Nationalität Übrige Arbeiter/innen Insgesamt
Landwirtschaft
Industrie
265.441
21.423
5.893
4.758
271.334
26.181
297.515
Quelle: Protokoll d. kommissarischen Besprechung, betr. Behandlung d. beschäftigungs losen ausländischen Arbeiter, Berlin, 5.9.1914, in: BArch Berlin, R 901/82912.
Gleichwohl zeitigten erstmals die Wintermonate 1912/13 einen wichtigen planerischen Präzedenzfall für die Regierung Preußens.35 Diesen hatten Gerüchte ausgelöst, nach denen die Regierung des Russischen Reiches im kommenden Frühjahr eine Grenzsperre gegen die Saisonarbeiter/innen anstrebe, um ihre Arbeitskraft der deutschen Landwirtschaft zu entziehen. In Sorge um die Bestellung der Felder und die Ernten erwog die preußische Regierung, den Rückkehrzwang aufzuheben. Allerdings verzichtete die russische Seite auf die angedeuteten Maßnahmen kurz vor einem entsprechenden Beschluss, und die preußischen Verantwortlichen mussten nicht reagieren. Ihre Bereitschaft, die Rückführungen auszusetzen, verdeutlicht, dass im Zweifel wirtschaftliche Interessen vor national-politische treten konnten. Hinsichtlich eines Kriegsfalls dominierte ein weiteres Argument die Planungsüberlegungen, wie eine Denkschrift des Reichsamts des Innern im Januar 1914 zusammenfasste. »[N]icht nur [wurde] das Bedenken laut, daß es untunlich sei, die feste Regel der Rückbeförderung der ausländischen Landarbeiter zu durchbrechen, son33 Denkschrift d. RAdI, betr. Fragen d. wirtschaftlichen Mobilmachung, an u. a. d. Staatssekretäre d. Reichsämter, Januar 1914, in: Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Bd. 1, Anlagen: Die militärische, wirtschaftliche und finanzielle Rüstung Deutschlands von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges, hg. vom Reichsarchiv, Berlin 1930, Dok.-Nr. 82, S. 253–270 u. Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Bd. 1, S. 407–410. 34 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 21–26. 35 Ebd., S. 91.
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dern es wurden auch Bedenken dagegen geäußert, eine so große Menge meist slawischer Arbeiter in Kriegszeiten im eigenen Land zu haben. Demgegenüber wurde von anderer Seite darauf hingewiesen, daß es unsere Interessen schwer gefährden müßte, wenn wir durch Ausweisung einer so erheblichen Zahl russischer, wehrpflichtiger Untertanen in ihre Heimat unseren Gegnern die Mobilisierung […] in so erheblichem Maße erleichtern würden[.]«36 Die Streitfrage war noch nicht entschieden, als der Krieg begann. Die Kommissionsmitglieder hatten zuvor im März 1914 die Empfehlung ausgesprochen, die russländischen Arbeiter/innen an ihrer Rückreise zu hindern, nachdem ein Ausreiseverbot für wehrpflichtige österreichisch-ungarische Staatsangehörige nicht in Frage gekommen war.37 Die lückenhaften Vorkriegsplanungen kehrten folglich in Bezug auf Spionageverdächtige und ausländische Arbeiter/innen ein zentrales Prinzip im Umgang mit Ausländer/innen um. In der Vorkriegszeit stand ihnen kein Recht auf Aufenthalt im Inland zu. Es sei ein »unbestrittener Ausfluß der Staatshoheit, A[usländer] im Interesse der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung des Landes zu verweisen«, erklärte unmissverständlich das Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung.38 Dagegen sollten sie in der Kriegszeit keinen Anspruch auf eine Ausreise besitzen. In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass diese Gruppe feindlicher Ausländer/ innen zu einem wichtigen Teil der Kriegsgesellschaft wurde, die innenpolitisch nicht unbeachtet bleiben konnte.
Gegensätzliche Standpunkte am Übergang in den Krieg Der Umgang mit Saisonarbeiter/innen aus dem Russischen Reich im Falle eines Krieges blieb ungeklärt.39 Die Diskussionsergebnisse bildeten aber im Angesicht der akuten Kriegsgefahr die Grundlage für weichenstellende Entscheidungen. Am 27. Juli 1914, vor der beginnenden Mobilmachung, ging dem preußischen Kriegsminister seitens des Reichsamtes des Innern eine Empfehlung über die Behandlung der »russischen Saisonarbeiter« zu.40 Ausgehend von einem Mangel an landwirtschaftlichen und industriellen Arbeitskräften, drang der Reichskanzler darauf, von ihrer Ausweisung oder Festnahme abzusehen. Diese Maßnahmen seien von 36 Denkschrift d. RAdI, betr. Fragen d. wirtschaftlichen Mobilmachung, an u. a. d. Staatssekretäre d. Reichsämter, Januar 1914, in: Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Bd. 1, Anlagen, Dok.-Nr. 82, Teil I, Ziff. IV, S. 253–270. 37 Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Bd. 1, S. 409 f. 38 Art. Ausländer, in: Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, Bd. 1 (A–K), S. 152–155. 39 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 91 f. 40 Reichskanzler (RAdI) an d. preuß. Kriegsminister, 27.7.1914, (Ent.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 2 f.
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den Militärbefehlshabern auf Einzelfälle zu beschränken, »in denen das Verhalten der Arbeiter oder besondere Interessen der Kriegsführung« dies erfordere. In den entsprechenden Richtlinien des Preußischen Kriegsministeriums wurde dieser Standpunkt geteilt. »Ausländische Saisonarbeiter sind in der Hauptsache an ihren bisherigen Arbeitsstätten zu belassen«, hieß es darin. »Nur aus den Grenzgebieten sind sie so weit nach dem Innern des Landes abzuschieben, als es militärisch notwendig ist.«41 Die Entscheidung fand ihre Begründung in einer pragmatischen Perspektive. Im Sinne der Kriegsräson erklärte der Reichskanzler, dass die etwa 200.000 russländischen Heerespflichtigen »größtenteils freiwillig im Deutschen Reich bleiben […], um sich der Wehrpflicht zu entziehen«. Eine Bedrohung gehe von ihnen nicht aus. Denn sie seien »in verhältnismäßig kleinen Gruppen auf eine große Anzahl einzelner Betriebe verteilt«.42 An diesem handlungsleitenden Vorstellungskonstrukt hielten die Reichsleitung und die Heeresführung in den kommenden Jahren fest, obwohl gegenteilige Meinungen ihren Weg bis zu Kaiser Wilhelm II. fanden. Der Wirklich Geheime Rat Otto von Moltke (1847–1928) verlangte Anfang August die Internierung der Saisonarbeiter/innen oder die allgemeine Androhung ihrer Ausweisung. Seine Forderung basierte auf beunruhigenden Beobachtungen und Annahmen, die in der Vorkriegszeit keine Rolle gespielt hatten. »Im Kreise Kolberg-Körlin und in den Nachbarkreisen befindet sich eine große Anzahl russischer Leute: Arbeiter, sogenannte ›Schnitter‹. Unter diesen macht sich seit einigen Tagen eine sehr erregte, deutschfeindliche Stimmung geltend; mehrfach sind schon Arbeitsniederlegung, Streiks, ja Zeichen offener Renitenz sichtbar geworden. Man droht, sobald nur Landwehr und Landsturm einberufen und disloziert sei, dank von langer Hand vorbereiteter geheimer Organisation, die Gutshöfe, Scheunen, Wirtschafts- und Erntevorräte in Brand zu stecken. Unter der Masse der stupiden Russen befinden sich überall zerstreut Agenten und Emissäre, welche die Führung übernehmen sollen.«43 Obwohl es zu vereinzelten lokalen Arbeitsniederlegungen nach der Mobilmachungsanordnung gekommen war,44 zeitigte die Intervention Otto von Moltkes keine Auswirkungen auf den Standpunkt der Reichsleitung. Seine alarmieren41 Preuß. KM (gez. Wild v. Hohenborn), betr. ausländische Saisonarbeiter, Überläufer, Flüchtlinge, an u. a. sämtl. Gkdos. 4.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 15. 42 Reichskanzler (RAdI) an d. preuß. Kriegsminister, 27.7.1914, (Ent.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 2 f. 43 Otto von Moltke an Kaiser Wilhelm II., 3.8.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 7 ff. 44 Garnison-Kommando Leipzig an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 4.8.1914, in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 13.
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den Worte verdeutlichen unterdessen exemplarisch tiefgreifende Ressentiments gegenüber Pol/innen.45 Die Vorstellung, dass sie eine wohlwollende und gewaltlose Haltung gegenüber dem Deutschen Reich einnehmen würden, stellte keinen Konsens dar. Misstrauen und Vorurteile standen vielmehr am Anfang regional unterschiedlicher Arbeits- und Lebensbedingungen für die Saisonarbeiter/innen. Die militärischen und zivilen Richtlinien gewährleisteten keinen pragmatischen und gleichmäßigen Umgang mit ihnen. Während polnische Arbeiter/innen in vielen Teilen Deutschlands an ihren Arbeitsorten verbleiben durften, erfolgten beispielsweise in der preußischen Rheinprovinz Verhaftungen.46 Davon betroffene Arbeitgeber beklagten bereits nach wenigen Tagen ihr Fehlen und drängten auf ihre Haftentlassung. Ende August 1914 befürwortete der Vorsitzende der zuständigen Landwirtschaftskammer schließlich eine Zurückhaltung an ihren Arbeitsplätzen. Die vergangenen Wochen hätten gezeigt, dass die russländischen Arbeiter/innen für eine reibungslose Ernte notwendig seien.47 Umfassende Kontrollen der Arbeiter/innen erfolgten im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin und waren dazu geeignet, eine sachorientierte und bedachte Haltung gegenüber ihnen zu fördern. Nachdem die Rostocker Zeitung das Gerücht über Revolten in Lübzin verbreitet und der Rittergutsbesitzer Carl Pogge auf Möderitz, nördlich von Parchim, deshalb die Militärgerichtsbarkeit für sie gefordert hatte, begannen die lokalen Polizeibeamten mit ihrer Entwaffnung. Sie beschlagnahmten bei circa 27.000 Kontrollierten 149 Schusswaffen und zehn Hieb- und Stoßwaffen.48 Für eine nüchterne Lagebeurteilung in Mecklenburg spricht ebenfalls eine Anfrage der Verantwortlichen des dortigen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten bei der Reichskanzlei. Die Ministerialvertreter erbaten »aus gegebener Veranlassung« Ende September 1914 Auskunft darüber, »ob zur Zeit für in Mecklenburg arbeitende russische Saisonarbeiter die Möglichkeit besteht, die russische Grenze zu überschreiten, um aus Galev (Kr. Kolo) ein Kind abzuholen und demnächst hierher zurückzukehren«.49 Perspektivenwechsel blieben nicht auf die Saisonarbeiter/innen beschränkt. Hatten sich die Passerörterungen weitgehend auf militärische Sicherheitsaspekte konzentriert, sahen sich die Heeresführung wie die Reichsleitung nach Kriegsbeginn 45 U. a. zusammenfassend: Gerhard Brunn, Ausländische Arbeiter und die Debatte um die »Überfremdungsgefahr« im Deutschen Kaiserreich, in: Detlef Briesen (Hg.), Migration und Integration als europäische Erfahrung am Beispiel deutscher Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert. Die Polen im Ruhrgebiet und Berlin, Wrocław 1996, S. 13–31. 46 Landwirtschaftskammer für d. Rheinprovinz an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 12.9.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 15004, Bl. 50. 47 Landwirtschaftskammer für d. Rheinprovinz Düsseldorf an d. Landräte d. Rheinprovinz, 28.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 15004, Bl. 65 f. 48 Antje Strahl, Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin im Ersten Weltkrieg. Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft, Köln 2015, S. 140 ff. 49 Mecklenburgisches Min. d. auswärtigen Angelegenheiten an d. Reichskanzler, 28.9.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 129.
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mit unerwarteten Problemen und Herausforderungen konfrontiert, für die keine Planungen in ihren Schreibtischschubladen ruhten. Theodor Lewald lud deshalb Mitte August 1914 erneut zu einer Beratung ein, an der unter anderem Vertreter der Reichsressorts und des Generalstabes teilnahmen, um einen verbindlichen Umgang mit feindlichen Staatsangehörigen über die Gruppe der Saisonarbeiter/ innen hinaus zu vereinbaren.50 Die Vertreter des Auswärtigen Amtes berichteten, dass ihnen viele Anträge auf Ausreise zugegangen waren, die sie aus militärischen Gründen ablehnen mussten. Nun rieten sie, diese Position zu überdenken. Zum einen handele es sich bei vielen Ausländer/innen um »Vergnügungsreisende und Badegäste«. Zum anderen könne ein negativer Eindruck im Ausland entstehen. Dort seien bereits »falsche Nachrichten« im Umlauf, und das Deutsche Reich müsse mit Reaktionen der Kriegsgegner rechnen. Über die Situation deutscher Staatsbürger/innen im Ausland lägen allerdings kaum Informationen vor. Die Außenpolitiker vertraten zusammen mit den Vertretern des Reichsamtes des Innern deshalb die Meinung, den Ausländer/innen aus gegnerischen Staaten in Bälde die Gelegenheit zur Heimreise zu gewähren. Die Abgesandten des Berliner Kriegsministeriums und des Großen Generalstabes widersprachen energisch diesem Ansinnen. Sie betonten die weiterhin bestehenden Gefahren für militärische Operationen. Feindliche Ausländer/ innen hätten vielfach Möglichkeiten besessen, Militärtransporte und Truppenbewegungen zu beobachten. Abhängig von neuralgischen Punkten der Mobilmachung und den Verkehrswegen erachteten die Militärvertreter es daher für notwendig, »daß man diese Ausländer einer genauen Kontrolle hinsichtlich ihres Verkehrs und namentlich hinsichtlich ihrer Korrespondenz unterstelle«. Ihre Ausreise könne erst nach entscheidenden Gefechten gestattet werden. Die Klärung der damit einhergehenden finanziellen Fragen wurde vertagt. Es musste offenbleiben, wer für den Lebensunterhalt der Zurückgehaltenen aufkommen sollte, nachdem Banken ihnen die Auszahlung ihrer Kreditbriefe verweigert hatten. Einen Kompromiss zwischen den außenpolitischen und den militärischen Erwägungen formulierte am 18. August 1914 der Reichskanzler gegenüber den Bundesregierungen. Gleichsam kann ihm unterstellt werden, dass er mit seinen Ausführungen neben einer einheitlichen Politik im Umgang mit feindlichen Staatsangehörigen ihre gleichförmige Wahrnehmung herbeiführen wollte. »Abgesehen von den russischen Saisonarbeitern […] befinden sich zur Zeit im Deutschen 50 Protokollent. d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30–33, Bay. Bevollmächtigter zum Bundesrat (Otto von Strößenreuther [1865–1958]) an d. Bay. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, 18.8.1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53976 u. das ausführlichste Protokoll der Besprechung: Hzgl. Braunschweigische Gesandtschaft (Wirkl. Geh. Rat Friedrich Boden [1870–1947]) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 18.8.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 459. Im Folgenden wird auf alle drei Protokolle zurückgegriffen.
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Reiche in größerer Anzahl Russen, Franzosen, Engländer und Belgier«, leitete er seine Erklärung ein und fuhr fort: »Bei diesen Personen – in der Mehrzahl Russen – handelt es sich zumeist um Leute, die wie alljährig zum Kurgebrauch oder zur Konsultierung deutscher Ärzte hier her gelangt sind. Obwohl diese Leute meist immer über genügende Geldmittel in Papier oder in Akkreditiven verfügen, sind sie zur Zeit kaum in der Lage ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, da diese Zahlungsmittel ihren Wert im wesentlichen eingebüßt haben. […] Die hiernach dringend erwünschte Heimbeförderung […] läßt sich jedoch zur Zeit aus militärischen Gründen nicht ermöglichen. Im militärischen Interesse erscheint es vielmehr dringend erforderlich, einstweilen diese Personen tunlichst an ihren gegenwärtigen Aufenthaltsorten festzuhalten und in geeigneter Weise zu überwachen. […] Dabei wird es als selbstverständlich zu gelten haben, daß – auch im Hinblick auf die im feindlichen Ausland befindlichen Deutschen – den fraglichen Personen eine angemessene Behandlung zuteil wird und dass jede unnötige Erschwerung ihrer Lage vermieden wird.«51 Seine Betonung der finanziellen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Sorgen der Zurückgehaltenen kontrastierte die Überzeugungen der Militärführer geradezu und zeichnete ein Panorama hilfsbedürftiger Menschen, die unverschuldet in unterschiedliche Zwangslagen geraten waren. Er stellte den militärischen Interessen und Konsequenzen eine zivilstaatliche Verantwortung und Vernunft gegenüber. Der preußische Innenminister, Friedrich Wilhelm von Loebell (1855–1931), unterrichtete die Oberpräsidenten in gleicher Weise und empfahl »eine in der Regel milde zu handhabende Überwachung der Ausländer[.] […] Jede unnötige Erschwerung ihrer Lage ist […] zu vermeiden.«52 Anhand der zwei Meinungspole in der Diskussion im Reichsamt des Innern und der Richtlinien für Saisonarbeiter/innen wird deutlich, dass feindliche Ausländer/ innen im Krieg innerhalb mehrerer Kontroversen stehen würden. Diese reichten von Auseinandersetzungen um diplomatische oder militärische Prioritäten über Konsequenzen militärischer Sicherheitsinteressen und Folgen wirtschaftlicher Zwänge bis hin zur Verteilung der entstandenen Kosten. Ausländer/innen unterlagen verschiedenen Deutungen und Zuschreibungen. Sie fanden sich in Schnittpunkten von Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereichen vieler Akteure wieder. An Komplexität gewannen die Interessen- und Institutionenverflechtungen 51 Rundschreiben d. Reichskanzlers (RAdI, gez. Delbrück), 18.8.1914, (Aktenexemplar) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 39 f. u. in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 52 Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Loebell) an d. Oberpräsidenten, 20.8.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835.
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durch das fortwährende In-Bezug-Setzen zu Handlungen und Haltungen in gegnerischen Staaten. Das wirkmächtige und folgenschwere Paradigma der Gegenseitigkeit hatten Mitte August 1914 die Vertreter des Auswärtigen Amtes in die Beratungen eingebracht, später wurde es vor allem durch den stellvertretenden Generalstab forciert. Es stellte ein maßgebliches Element im Umgang mit Ausländer/innen dar, wies der Staatsangehörigkeit ein bedeutendes Gewicht zu und verengte letztlich den Entscheidungsrahmen ziviler wie militärischer Akteure. Infolgedessen waren die Arbeits- und Lebensumstände sowie die Möglichkeitsspielräume ausländischer Staatsangehöriger nicht ausschließlich von inländischen Prämissen abhängig. Ebenso spielte das deutungsabhängige wie instrumentalisierbare fragile Wissen über die Situation deutscher Bürger/innen im Ausland eine wichtige Rolle. Das Zusammenspiel dieser vielschichtigen Faktoren trennte feindliche Ausländerinnen und Ausländer grundlegend von der ›deutschen‹ Bevölkerung. Neben den wenigen Vorkriegsplanungen, die die Verschiedenartigkeit ausländischer Staatsangehöriger nicht in Rechnung gestellt hatten, offenbarten die Diskussionen in der Wilhelmstraße 74 eine weitere wichtige Facette der Ausgangslage im Sommer 1914. Der Heeresführung wie der Reichsleitung fehlten entscheidungsrelevante Informationen über Ausländer/innen in Deutschland. Ihnen lagen nur unzureichende Statistiken über ihre Anzahl oder ihre Aufenthaltsorte vor. Der Reichskanzler musste deshalb am 18. August 1914 bei den Bundesstaaten um entsprechende Auskünfte bitten, die zur »Vorbereitung der Abschiebung« dienen sollten.53 Zugleich mangelte es ihm und seinem Kabinett an Übersichten zu den Bestimmungen außerhalb Preußens. Er ersuchte daher für eine angemessene Lagebeurteilung Mitteilungen darüber, »was bisher mit diesen Ausländern im dortseitigen Staatsgebiete geschehen ist«. Die Reichsleitung musste sich folglich das kriegsbedingt veränderte Handlungsfeld der Ausländer/innenpolitik erst erschließen. Während sie voneinander abweichende Entscheidungen vor Ort kaum beeinflussen konnte, trat sie im gleichen Moment in Konkurrenz zu den unabhängigen Militärverwaltungen und den souveränen Rechten der einzelnen Bundesländer. Vor allem diese föderalen Aspekte sollten zusätzlich zu den mitunter widersprüchlichen Wahrnehmungen der Ausländer/innen einen einheitlichen Umgang mit ihnen erschweren.
53 Rundschreiben d. Reichskanzlers (RAdI, gez. Delbrück), 18.8.1914, (Aktenexemplar) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 39 f. u. in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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Verdacht und Gewissheit während der Mobilmachung Nach fast zweijähriger Pause schlug Erich Mühsam (1878–1934) in der Nacht vom 3. auf den 4. August 1914 sein Tagebuch auf.54 »[D]er Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie« notierte neben dieser Selbstbeschreibung eine für ihn ungewohnte Verwirrung. »[I]ch ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche ›Feinde‹, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, daß ›wir‹ uns vor ihnen retten! Nur: wer sind sie – wer ist ›wir‹?« In die Selbstbefragung nach dem Eigenen und dem Fremden im Krieg brachen Zeitungsnachrichten über Gräueltaten russischer Truppen in Ostpreußen ein. Mühsam empfand den Gedanken »grauenhaft«, dass »Russen ins Land kommen könnten«, »Menschen andrer Art, ohne Achtung vor unsrer Welt, ohne Rücksicht auf unsere Gefühle mordend und sengend«. Erst in späterer Zeit musste er den Anlass seines Unbehagens mit den Worten »Tatarenmeldung. Dementiert« korrigieren. Indes, die Erfahrbarkeit des Krieges reduzierte sich für ihn nicht auf die Zeitungslektüre. Gerüchten zufolge wurden Serben und Russen, welche »die Hauptpost, den Bahnhof, den Pulverturm […] in die Luft sprengen woll[t]en«, standrechtlich erschossen. Er selbst beobachtete, wie Offiziere verkündeten, »das Leitungswasser sei vergiftet«. »Überall werden Spione gewittert. Dann rennen die Menschen in Haufen zusammen, mißhandeln die Unglücklichen und übergeben sie der Polizei«, dokumentierte er. »Heut früh sah ich ein etwas ausländisch aussehendes Paar von erregtem Volk gehetzt durch die Straßen eilen. Was draus wurde, weiß ich nicht.« Sein französischer Freund Henry Bing (1888–1965),55 ein für die Satirezeitschrift Simplicissimus arbeitender Maler und Karikaturist, wäre »zweimal fast gelyncht worden«.56 Mühsams Aufzeichnungen gewähren einen selektiven Blick auf die ersten Mobilmachungstage im »Niemandsland zwischen Frieden und Krieg«57. Sie verweisen auf fragmentarische Beobachtungen und bruchstückhafte Informationen, die der Einzelne aufschnappte. Sie deuten die widersprüchlichen Gefühle eines Schwabinger Bonvivant am Rande der Gesellschaft an, der sich selbst argwöhnisch belauerte, wie der Krieg ihn bewegte. Sie bilden einen kleinen Mosaikstein in einem Panorama aus Erfahrungen, das gesellschaftliche Differenzen widerspiegelte. Denn das Erleben der Mobilmachung variierte entlang politischer und religiöser, sozialer und kultureller, regionaler und nationaler, generationeller und geschlechtlicher Gren54 Erich Mühsam, Tagebücher, Bd. 3, 1912–1914, hg. von Chris Hirte u. Conrad Pies, Berlin 2012, Heft 11, S. 140–143 (München, 3./4.8.1914). 55 Index card, Henry Bing (geb. 1888), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 56 Mühsam, Tagebücher, Bd. 3, S. 147 (München, 6.8.1914). 57 Michael Salewski, Der Erste Weltkrieg, Paderborn 20042, S. 102.
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zen. Zwischen freudiger Begeisterung und Angst, Schreien und Schweigen, Panik und Fatalismus, Ernst und Nervosität, Karneval und Depression schwankten die Reaktionen auf den Kriegsbeginn.58 Kurz: Sie »waren so verschieden wie die individuellen Lebensumstände«.59 In der Nacht zum 5. August, nach dem Kriegseintritt Großbritanniens, erlebte Mühsam einen Stimmungsumschwung. »Aber was jetzt werden soll? Krieg! Tod! Nacht über die Welt! Es ist schaurig, es ist unausdenkbar. Ich bin maßlos traurig. Ich zwinge mich zu Friedenshoffnungen. Aber die Zweifel sind stärker. Ich kann nicht glauben, daß mit den Mächten von England, Frankreich und Rußland jetzt noch von Frieden zu sprechen ist.«60 Und trotz all dieser Ambivalenzen wurde der Krieg von einer breiten Akzeptanz, von einer patriotischen Kriegsbereitschaft bis tief in die Arbeiterschaft hinein begleitet.61 »Die Klassengegensätze scheinen fast verschwunden«, musste der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow (1865–1941) Ende August argwöhnisch feststellen.62 »Selbst im Norden und Osten Berlins, die sonst patriotischer Regung schwer zugängig waren, hängen in Menge schwarz-weiß-rote Fahnen aus.«63 Die Kriegsbereitschaft wurde begleitet von vielfältigen Spionagemeldungen und Gerüchten, Sabotageverdächtigungen und Angriffen auf vermeintliche Spion/ innen. »Die ganze Bevölkerung von Berlin bis hier [Birkholz bei Tangerhütte, d. Verf.] macht den Eindruck, als ob sie vollkommen den Kopf verloren hätte, 58 Die Begeisterung der Bevölkerung für einen Krieg wie das Erleben und Erinnern an den ersten Kriegsmonat waren Gegenstand kontroverser vergangener Debatten. Für Südbaden zeichnet die Erlebnisschichten nach: Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998, S. 128–183. Kritisch zu den Differenzierungsbemühungen im Anschluss an Jeffrey Verhey, Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, übers. aus d. Engl. von Jürgen Bauer u. Edith Nerke, Hamburg 2000 und Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993, S. 158–164 u. Ders., Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: Ders. (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frankfurt a. M. 20002, S. 159– 176, äußerte sich: Hermann Hiery, Angst und Krieg. Die Angst als bestimmender Faktor im Ersten Weltkrieg, in: Franz Bosbach (Hg.), Angst und Politik in der europäischen Geschichte, Dettelbach 2000, S. 167–224, hier S. 177–180, bes. Anm. 42 u. 44. 59 Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 131. 60 Mühsam, Tagebücher, Bd. 3, S. 144–146 (München, 4./5.8.1914). 61 Vgl. Thomas Rohkrämer, August 1914 – Kriegsmentalität und ihre Voraussetzungen, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 759–777. In Bezug auf die Arbeiterschaft zieht zuletzt Oliver Janz das Resümee: »nicht als Kriegsbegeisterung, doch als patriotische Kriegsbereitschaft«, siehe: Oliver Janz, 14 – Der große Krieg, Frankfurt a. M. 2013, S. 189. 62 1. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 22.8.1914, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914–1918, bearb. von Ingo Materna u. Hans-Joachim Schreckenbach, Weimar 1987, Dok.Nr. 1, S. 3. 63 2. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 26.8.1914, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 2, S. 4.
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die wilde Mär von den ›russischen‹ Autos, die mit achtzig Millionen französischen Goldes nach Russland unterwegs sind und Bomben zur Zerstörung von Telegraphenleitungen und Bahnübergängen mitführen, hat ihre Phantasie und ihre Angst auf das Äusserste gereizt«, notierte Harry Graf Kessler (1868–1937) in seinem Tagebuch.64 Die »wilde Mär« war Gegenstand vieler Zeitungsmeldungen gewesen, deren Glaubwürdigkeit nicht in Frage gestellt wurde. Verkleidete Spione hätten sich unter die Bevölkerung gemischt, versuchten Sprengladungen an Brücken und Tunnel anzubringen, transportierten Gold und Geld in Automobilen, Luftschiffen und auf Fahrrädern, vergifteten das Trinkwasser oder planten, das Eisenbahnnetz zu zerstören.65 Die Spionage-Nachrichten resultierten zum einen aus weitergegebenen Informationen der Militär- und Zivilbehörden wie des Großen Generalstabs oder der Reichsleitung. Beispielsweise informierte der Staatssekretär des Auswärtigen am 2. und 3. August die Botschafter in Rom und London über die standrechtliche Hinrichtung eines französischen Arztes.66 Dieser hätte mit zwei Komplizen versucht, »Brunnen in Metz mit Cholerabazillen zu infizieren«. Zum anderen übernahmen Schriftleiter etliche Male redaktionelle Inhalte anderer Zeitungen. Ihren zusammengestellten Meldungen gemeinsam war ein Dualismus aus informierenden Tatsachenberichten und appellierenden Handlungsaufforderungen, um allgemein die Sicherheit des Reiches oder speziell die der Mobilmachung zu gewährleisten. Polizeieinsätze und Festnahmen bestätigten die ungewissen Annahmen und Befürchtungen und setzten eine Spirale aus weiteren öffentlichen Verdächtigungen und Inhaftierungen in Gang. »Im Laufe des Tages wurden vom Schneidemühler Militärgericht drei Spione zum Tod durch Erschießen verurteilt, zwei russische und ein französischer. Der eine Russe wollte die Albatros-Flugwerke in die Luft sprengen. Der andere versuchte das Wasser im städtischen Wasserturm mit Cholerabazillen zu verseuchen«, hielt das damals zwölf Jahre alte Mädchen Jo Mihaly (1902–1989) fest.67 »Was der dritte gewollt hat, weiß ich nicht genau; man sagt, er habe es auf die Küddowbrücken abgesehen gehabt.« Die Glaubwürdigkeit solcher Meldungen basierte auf den Erwartungen über einen modernen Krieg, dem medizinischen wie technischen 64 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, Bd. 5: 1914–1916, hg. von Günter Riederer u. Ulrich Ott, Stuttgart 2008, S. 81 f. (5.8.1914). 65 Einen Querschnitt an Zeitungsmeldungen bietet: Kriegsdokumente. Der Weltkrieg 1914 in der Darstellung der zeitgenössischen Presse, Bd. 1, hg. von Eberhard Buchner, München 1914, Dok.-Nr. 148a–148q, S. 83–86. 66 Staatssekretär d. Auswärtigen (gez. Jagow) an d. Botschafter in Rom u. London, 2. u. 3.8.1914, in: Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch, Sammlung von Karl Kautsky, Bd. 3: Vom Bekanntwerden der russischen allgemeinen Mobilmachung bis zur Kriegserklärung an Frankreich, hg. von Max Montgelas u. Walther Schücking, Charlottenburg 1919, Dok.-Nr. 690 u. 710, S. 154 f. u. 169. 67 Jo Mihaly, … da gibt’s ein Wiedersehen! Kriegstagebuch eines Mädchens 1914–1918, Freiburg 1982, S. 19 (3.8.1914).
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Wissen breiter Bevölkerungskreise und den Vorstellungen über skrupellose Kriegsgegner. Militärische und wissenschaftliche Experten bekräftigten die Möglichkeit der geschilderten Szenarien. So äußerte sich das Kaiserliche Gesundheitsamt gegenüber dem Reichskanzler über das Risiko einer Trinkwasservergiftung. Die Reichsbehörde beurteilte unter anderem die »Infizierung eines Brunnens oder einer sonstigen Wasserversorgungsanlage mittels Reinkulturen von Krankheitserregern« als besonders gefährlich.68 Neben einem angemessenen Anlagenschutz brachten die Gesundheitsvertreter das Abkochen des Wassers zur Sprache. Sie zögerten allerdings vor einer allgemeinen Bekanntmachung, denn »[d]en Genuß von Trinkwasser nur in gekochtem Zustand […] anzuempfehlen, dürfte in der gegenwärtigen unruhigen Zeit die Erregung der Bevölkerung in unerwünschter Weise steigern«. Zur gleichen Zeit hatte der preußische Innenminister den Berliner Regierungspräsidenten bereits auf eine »erhöhte Seuchengefahr« hingewiesen. Er empfahl nachdrücklich, die Kreisärzte anzuweisen, zentrale Wasserleitungen in ihren Bezirken außerplanmäßig zu überprüfen.69 Regionale Warnungen unterblieben infolgedessen nicht. Die Schneidemühler Stadtverwaltung teilte wie die Breslauer Wasserwerke mit, dass »eine Verseuchung des Oderwassers, die es als Trinkwasser ungeeignet macht, nicht ausgeschlossen ist«. Bis zur Umstellung auf Grundwasser sollte das verwendete »Trinkwasser, wenn irgend möglich, vor dem Genusse« abgekocht werden.70 Jo Mihalys Großmutter beachtete die Warnung. Eine Reaktion auf Sabotage- wie Spionageängste schlug sich als alltägliche Praktik in ihrem Leben nieder. Die Inszenierung der gegnerischen Agent/innen, die sich hinter jedem Fremden verbergen konnten, vermittelte eine umfassende Bedrohung, die nicht nur das deutsche Heer, sondern ebenso das Leben jedes einzelnen Zivilisten betraf. Einer der ersten, oft übernommenen Zeitungsartikel71 über »russische Offiziere und Agenten in großer Zahl« erschien am 2. August in der Kölnischen Zeitung.72 Er setzte die Leser/innen über die Verdächtigten in Kenntnis und hielt die Bevölkerung dazu an, »aus patriotischem Pflichtgefühl heraus neben den amtlichen Organen […] solche gefährlichen Personen unschädlich zu machen«.73 Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung forderte das Publikum, gedrängt durch die 68 Reichskanzler (RAdI) an sämtl. Bundesregierungen u. d. Statthalter von Elsaß-Lothringen, 8.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112494, Bl. 8 u. ebenso in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1146, Qu. 142. 69 Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Loebell) an d. Regierungspräsidenten u. d. Polizeipräsidenten Berlins, 6.8.1914, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1146, Qu. 142. 70 Bkm. betr. Einschränkung d. Wasserverbrauchs, Mitteilung d. Verwaltung d. Wasserwerke Breslau, 3.8.1914, in: Breslauer Morgenzeitung, 4.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, S. 113 f. 71 Verhey, Der »Geist von 1914«, S. 133. 72 Seid wachsam!, in: Kölnische Zeitung, 2.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 148, S. 83. 73 Ebd. u. z. B. Meldung, in: Badische Presse, 3.8.1914 (Nr. 353, Mittagsausgabe).
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Reichsleitung,74 drei Tage später zur Wachsamkeit und Intervention auf. »Jedermann aus dem Volke hat die heilige Pflicht, was in seinen Kräften steht, dazu beizutragen, daß derartige verbrecherische Anschläge auch weiterhin unwirksam gemacht werden.«75 Dadurch seien schon »verbrecherische Anschläge« verhindert und Spione enttarnt worden. Ausdrücklich in den Blick nahm der kommandierende General des XIX. Armeekorps mit Sitz in Leipzig die Ausländer/innen, »besonders die im Lande studierenden und die seßhaften unruhigen Elemente«. Er ermahnte die Einwohner/innen seines Militärbezirks, sich an ihrer Überwachung »zu beteiligen und bei dringendem Verdachte für Festnahme und Ablieferung an die Zivilbehörden zu sorgen«.76 Die Spionagewarnungen und die Aufforderungen zur Vereitelung von Sabotagen trafen nach wenigen Tagen auf Zeitungsberichte, die eine radikalere Mobilisierung der Zivilbevölkerung im Ausland schilderten. Die Frankfurter Zeitung berichtete am 8. August auf Seite eins von »wüsten Ausschreitungen gegen deutsches Eigentum in Antwerpen«.77 Am selben Tag schilderte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung ihren Leser/innen, wie die in Paris wohnenden Deutschen Opfer von Beschimpfungen, gewalttätigen Übergriffen, Misshandlungen und Plünderungen wurden.78 »Gegen die beschimpfenden Äußerungen des Straßenpublikums wurde von der Polizei kein Schutz gewährt. In den Geschäften wurden den Deutschen alle Lebensmittel verweigert; die Abreise war nicht mehr möglich, da der Zugverkehr eingestellt war.« Die Kölnische Zeitung klärte ihre Leser/innen am 9. August über »Schandtaten der belgischen Bevölkerung« an deutschen Soldaten auf, und einen Tag später fragte der Badische Beobachter, ob ein »Franktireurkrieg« in den besetzten Gebieten zu erwarten sei.79 Francs-tireurs waren jene irregulär kämpfenden Gruppen belgischer und französischer Zivilisten gewesen, die sich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 formiert hatten und von denen befürchtet wurde, dass sie aus dem Hinterhalt einen Kleinkrieg gegen das deutsche Heer führen würden.80 Wiederum die Kölnische Zeitung brachte am 11. August einen Bericht 74 Verhey, Der »Geist von 1914«, S. 149. 75 Achtet auf Spione!, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 5.8.1914 (Nr. 181). 76 Bkm. d. kommandierenden Generals d. XIX. AK, 4.8.1914, in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 9. 77 Die aus Belgien Ausgewiesenen, in: Frankfurter Zeitung, 8.8.1914 (Nr. 218, Zweites Morgenblatt) u. ebenso: Der Deutschenhass in Belgien, in: Berliner Tageblatt, Wochenausgabe für Ausland und Übersee, 13.8.1914 (Nr. 33). 78 Ausschreitungen gegen die Deutschen in Paris, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 8.8.1914 (Nr. 184, Zweite Ausgabe) u. ebenso: Flucht aus Paris, in: Berliner Tageblatt, 12.8.1914 (Nr. 406, Abendausgabe) u. Die Plünderung von deutschen und schweizer Geschäften in Paris, in: Ebd., 13.8.1914 (Nr. 407, Morgenausgabe). 79 Franktireurkrieg in Aussicht?, in: Badischer Beobachter, 10.8.1914 (Nr. 218). 80 Vgl. zur Berichterstattung deutscher Zeitungen über den »Franktireurkrieg«: John Horne u. Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, übers. aus d. Engl. von Udo Rennert, Hamburg 2004, S. 203–209.
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über Frauen, die überstürzt ohne Gepäck und Ehemänner aus England abreisen mussten.81 Sie erzählten, dass »auch der Londoner Mob […] in der letzten Woche die Deutschen bedroht und mehrfach tätlich angegriffen« habe. Zeitgleich zu den sich überschlagenden Presseberichten entfachten Bürger/ innen in den ersten Augustwochen wilde Verfolgungsjagden und gewaltsame Ausschreitungen gegen verdächtigte In- wie Ausländer/innen. Bisweilen schreckten sie nicht vor Übergriffen auf Polizeibeamte zurück. Viele Menschen hatten wie Erich Mühsam Gewalt gegen Leib und Leben beobachtet. Die Bremer Bürger-Zeitung berichtete am 4. August, wie »Menschenmassen« an einen Verdächtigten auf dem Bahnhof herandrängten und sich in Selbstjustiz übten. »[M]an packt ihn, schlägt ihn, tritt ihn zu Boden; Hunderte von Faustschlägen hageln nieder auf seinen Leib, Hunderte von Stiefeln treten ihm nach dem Leben. Die Polizei, die ihn fassen, ihn abführen will, ist machtlos. Und als der tierische, tobende Pöbel endlich von seinem Opfer läßt, als dieses sich blutend und kaum noch lebend erhebt, tut der Mann, was er sogleich hätte tun können, wenn man ihm Zeit gelassen hätte: er legitimiert sich; legitimiert sich mit einer Einberufungsorder als ein deutscher Reservist[.]«82 Am darauffolgenden Tag hob die ebenfalls sozialdemokratische Leipziger Volkszeitung die emotionalen und gewaltsamen Proteste in der Messestadt hervor. Die Zeitungskäufer/innen erfuhren von den »wildesten Ausbrüche[n] roher Leidenschaft« vor dem im Zentrum gelegenen, gehobenen Café Felsche, welches kurz zuvor noch Café français geheißen hatte. »Anscheinend auf eine Denunziation hin wurde dort ein Herr«, so der Bericht, »von deutschen Offizieren und Schutzleuten verhaftet und auf die Straße geführt. Dort wurden sie von dem ohrenbetäubenden Lärm der Menge empfangen, die mit Schirmen, Stöcken und sonstigen Gegenständen auf den Betreffenden eindrangen und [ihn] bearbeiteten, trotzdem er sich bereits in sicherem Gewahrsam der bewaffneten Macht befand. Die Offiziere und Schutzleute zogen blank, einer spannte sogar den Revolver, aber da sie fast nicht zuschlugen, konnten sie nicht verhindern, daß weitere tätliche Angriffe auf den Verhafteten erfolgten. Das Blut rann ihm vom Gesicht herab, die Kleidung war völlig zerfetzt, und nur mit Mühe konnten sich die Offiziere einen Weg mit ihm durch die aufgeregte Menge bahnen.«83 81 Kölnische Zeitung, 11.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 359, S. 235. 82 Spion und Pöbel, in: Bremer Bürger-Zeitung, 4.8.1914 (Nr. 179), zit. nach: Verhey, Der »Geist von 1914«, S. 146 f. 83 Der »russische Spion« im Café Felsche, in: Leipziger Volkszeitung, 5.8.1914 (Nr. 178), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 118.
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Der hier angedeutete, aus soziokulturellen Unterschieden hervorgehende Konflikt zwischen einem wohlsituierten Gast des Upperclass-Cafés und der aufgebrachten Menge fand durchaus seine Entsprechung im Denken militärischer Akteure. Walter Nicolai, der Chef des Nachrichtendienstes der Obersten Heeresleitung, resümierte in der Nachkriegszeit über den Zusammenhang von sozialer Klasse und geheimdienstlichem Risiko: »Internationale Beziehungen aller Art bildeten auch sonst im Kriege eine stete Gefahr. Sie waren vorhanden in allen Gesellschaftsschichten, aber sie waren umso gefährlicher, je höher und einflußreicher diese Schichten waren.«84 Aufgebrachte und demonstrierende Menschen zogen durch die Straßen vieler europäischer Städte, sangen patriotische Lieder und griffen nicht selten die diplomatischen Vertretungen der Kriegsgegner an.85 Ein »Steinbombardement« hagelte auf die britische Botschaft in der Berliner Wilhelmstraße nieder.86 Die Fensterscheiben des britischen Konsulats zersplitterten in Dresden. Die herbeigeeilte Polizeischutzmannschaft konnte gerade noch verhindern, dass die Randalierer im Anschluss daran die Berlitz School überfielen.87 Auf den Dörfern errichteten Bewohner Straßensperren. Sie kontrollierten Fahrzeuginsassen, schossen diese zuweilen nieder und eröffneten das Feuer auf Flugzeuge.88 Harry Graf Kessler erlebte eine abenteuerliche Fahrt nach dem brandenburgischen Beeskow. In seine Uniform gekleidet, wurde er »in jedem Dorf zweimal, bei Einfahrt und Ausfahrt, mit vorgehaltener Schusswaffe aufgehalten«, woraufhin er sich ausweisen musste. »Die Bauern haben Sperren mit Heuwagen und Draht angelegt, stehen mit alten Jagdflinten dabei und halten jedes Auto auf.«89 »Ein paar Tage sah es so aus,« konstatierte der Historiker und Staatswissenschaftler Ignaz Jastrow (1856–1937), »als ob Personen, die eine fremde Sprache redeten oder einen fremden Gesichtstypus aufwiesen, schon daraufhin in Gefahr gerieten, für Franzosen, Engländer, Russen gehalten zu werden.«90 »[N]iemand, der dunkles Haar und dunkle Gesichtsfarbe besitzt,« schrieb die Leipziger Volkszeitung, »ist jetzt vor den Wutausbrüchen der fanatisierten Menge sicher.«91 »Es ist auch bedauerlicher Weise vorgekommen, daß fremde Staatsangehörige, die gänzlich unverdächtig sind, schon wegen ihrer Ausländereigenschaft Gewalttätigkeiten durch die Bevölkerung ausgesetzt sind«, räumte der bayerische Innenminister 84 85 86 87 88 89 90 91
Nicolai, Geheime Mächte, S. 150. Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 131–143. Aussage d. Polizei-Leutnants Höpfner, 4.8.1914, (Abs.) in: PA AA, R 20327, Bl. 23 f. Lagebericht d. Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI, 5.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 45. Weiterführend zur »Spionenjagd«: Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft, S. 305–309 u. Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 66–70. Kessler, Das Tagebuch, Bd. 5: 1914–1916, S. 81 (5.8.1914). Ignaz Jastrow, Im Kriegszustand. Die Umformung des öffentlichen Lebens in der ersten Kriegswoche, Berlin 1914, S. 48. Der »russische Spion« im Café Felsche, in: Leipziger Volkszeitung, 5.8.1914 (Nr. 178), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 118.
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Maximilian von Soden-Fraunhofen (1844–1922) ein. Er appellierte eindringlich an die Bezirksregierungen des Königreiches: »Solchen Ausschreitungen ist entgegenzutreten, einmal durch besonnene Aufklärung, dann aber auch dadurch, daß die Fremden durch die Polizeibehörden und Gendarmen entsprechend geschützt werden.«92 Nach den nicht selten gewaltsamen Festnahmen betraten Verdächtigte die Polizeistationen nicht nur als mutmaßliche Spione, sondern ebenso als Schutzbedürftige. Die spontanen Straßendemonstrationen am Bremer Hauptbahnhof und in der Leipziger Innenstadt gefährdeten, gleich den arglistigen Agent/innen, zuerst die öffentliche Ruhe und Ordnung. »Menschenansammlungen müssen vermieden werden«, klärte die Vossische Zeitung ihre Leser/innen in Reaktion auf die ersten Mobilmachungstage auf.93 Ferner entwickelten die Verdächtigungen und die wilden Verhaftungen – den Sensationsberichten wie den staatlichen Mitteilungen zufolge – eine interpretative Eigendynamik. Diese entzog sich zunehmend der behördlichen Kontrolle und dem polizeilichen Zugriff und stellte die militärische Deutungshoheit darüber in Frage, wer und was als verdächtig und bedrohlich zu gelten habe. Mit ihren wilden Festnahmen bestimmten Bürger/innen die öffentliche Gefahr und Sicherheit im Krieg. Dass die Alarmierung der Bevölkerung ein zweischneidiges Schwert gewesen war, erkannte ebenfalls der Geheimdienstchef Nicolai. Die »Jagd nach Spionen und Goldautos« stellte in seinen Augen »geradezu eine Gefahr für die Durchführung der Mobilmachung« dar.94 Er mahnte deshalb in einer Dienstanweisung an den militärischen Abwehrdienst vom 13. August 1914 eine stetige Aufmerksamkeit der Bürger/innen und ihr überlegtes Handeln an. Eine »planlose Spionenfurcht« sollte durch genaue Vorschriften vermieden werden. Unbegründete Verdächtigungen, die staatliche Kontrollverluste provoziert hatten, müssten verstummen. Alle Presseberichte über Spionagevorfälle bedurften fortan einer Genehmigung des Generalstabes.95 »Die Wachsamkeit gegenüber etwaigen Anschlägen wird bei ruhiger Besonnenheit nur gewinnen«, führten Mitte August die Redakteure der Vossischen Zeitung aus.96 Und das Wolffsche Telegraphische Bureau gab der Hoffnung
92 Bay. SMdI (v. Soden) an d. Regierungen (KdI) u. d. Distriktpolizeibehörden; hier wtgl. an d. übrigen Ministerien, 9.8.1914, (Abs.) in: HStA München, MJu 10779. 93 Kontrolle – aber keine Tätlichkeiten!, in: Vossische Zeitung, 5.8.1914 (Nr. 393, Abendausgabe). 94 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 30. 95 Dienstanweisung für d. militärischen Abwehrdienst, 13.8.1914, zit. nach: Nicolai, Nachrichtendienst, S. 32. 96 Gegen die Auswüchse der Spionensuche, in: Vossische Zeitung, 16.8.1914 (Nr. 413, Morgenausgabe).
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Ausdruck, dass »unser Volk […] endlich einmal der warnenden Stimme unserer Heeresleitung Gehör schenken« möge.97 Zeitzeugen versuchten noch während der Mobilmachung die Ereignisse zu interpretieren. Für die Berichterstatter der Leipziger Volkszeitung war es nicht die Arbeiterschaft, sondern der »nationalistische Pöbel«, bei dem »die Erziehung durch die nationalistischen Blätter« sichtbar werde.98 Die sozialdemokratischen Redakteure der Dresdner Volkszeitung forderten von »aufgeklärten oder organisierten Arbeitern, daß sie solchem Treiben nicht nur fernbleiben, sondern auch durch Aufklärung und sonstige geeignete Maßnahmen Abbruch tun«.99 Sie brandmarkten die Spionageverdächtigungen als »Phantasieprodukte« und als »Treiben unzurechnungsfähiger Menschen«. Einen Kriegsantisemitismus erkannten die aufmerksamen Journalisten der Jüdischen Rundschau in den Unterstellungen und Verleumdungen gegenüber jüdischen Bürger/innen. »In Würzburg sollte ein jüdischer Warenhausbesitzer russische Spione beherbergen, in Insterburg verbreitete sich das Gerücht, ein bekannter, alteingesessener Jude bewahre in seinem Keller Bomben, in Goldap [in Ermland-Masuren, d. Verf.] schleppte man um 2 Uhr nachts den über 70 Jahre alten Vorsteher der jüdischen Gemeinde als russischen Spion auf die Polizei. Nur dem energischen Eingreifen der Behörden, die überall die Bevölkerung von der Grundlosigkeit der Beschuldigungen nachdrücklich überzeugten, ist es zu verdanken, daß Judenverfolgungen verhindert worden sind.«100 Eine wirkmächtige Diagnose und Interpretation der Ereignisse stellte die »Hysterie« dar. Meyers Großes Konversations-Lexikon beschrieb sie als »Nervenschwäche«, die sich überwiegend bei Frauen »durch die lebhafte Empfindung« äußere.101 Selbst »kleine Anlässe« könnten »sich zu exzentrischen Äußerungen der Freude oder des Schmerzes« steigern und Anlass zu einem »raschen Wechsel der Stimmungen, der Gelüste, der Einbildungen« geben. Zeitgenössische Wissenschaftler nahmen die »Hysterie« darüber hinaus als Zustand der »Massensuggestion« in den Blick.102 Popularisiert durch die psychoanalytische Forschung floss die 97 Opfer der unseligen Jagd auf Kraftwagen (Meldung d. WTB), in: Vossische Zeitung, 15.8.1914 (Nr. 411, Morgenausgabe) u. gleichfalls appellierend: Achtung vor der Uniform (Meldung d. WTB), in: Vossische Zeitung, 16.8.1914 (Nr. 413, Morgenausgabe). 98 Der »russische Spion« im Café Felsche, in: Leipziger Volkszeitung, 5.8.1914 (Nr. 178), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 118. 99 Phantasieprodukte, in: Dresdner Volkszeitung, 6.8.1914 (Nr. 170), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 154. 100 Kriegsantisemitismus, in: Jüdische Rundschau, 11.9.1914 (Nr. 37). 101 Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 9, Leipzig 1907, S. 719–721, hier S. 720. 102 Bernd Ulrich, Nerven und Krieg. Skizzierung einer Beziehung, in: Bedrich Loewenstein (Hg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, S. 163–192, hier S. 165 f.
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Bezeichnung gemeinsam mit den als weiblich assoziierten Verhaltensweisen in den alltäglichen Sprachgebrauch ein. Als Möglichkeit, ein Phänomen zu skizzieren, das sich scheinbar rationalen Erklärungsversuchen entzog, fand die Hysterie begleitet von der »Psychose« Eingang in Tagebücher, Erfahrungsberichte und Erinnerungen. Wilhelm Groener, der Chef der Eisenbahn-Abteilung im Großen Generalstab, bemerkte exemplarisch im Rückblick auf den Kriegsbeginn, dass die »Angst vor französischen Attentaten […] riesengroß [war] und die Spionenriecherei ein Ergebnis der Kriegspsychose« gewesen sei.103 Historische Studien rücken neben psychologischen Erklärungsversuchen Spione und Ausländer/innen als greifbare Feinde während der Mobilmachung in den Blick. Ihre Enttarnung und Festnahme hätte einen Beitrag nicht-wehrpflichtiger oder -wehrfähiger Zivilisten am Krieg ermöglicht. Christian Geinitz gelangte bei seiner Untersuchung der badischen Augustereignisse ebenso wie Florian Alten höner bei der Betrachtung der Spionagegerüchte104 zu dem Schluss, dass sich darin der »Drang der Bevölkerung, in der Heimat aktiv an der Vaterlandsverteidigung teilzunehmen«, abbilde.105 »Die Gerüchte«, so Jörn Leonhard, »spiegelten ein Bedrohungsszenario und den kollektiven Wunsch wider, den Feind zu personalisieren und zu konkretisieren.«106 Darauf aufbauend urteilt Eva Horn, dass »die »Spionitis«, die kollektive Paranoia vor verkleideten Feinden, ein Symptom der frenetischen Identifikation der Zivilisten mit dem Kriegsgeschehen, gleichsam eine Verlegung der Front in die Verästelungen der Gesellschaft« war.107 Sven Oliver Müller betont hierbei den Einfluss nationalistischer Vorstellungen, die »aggressive Emotionen« hervorgerufen und vervielfacht hätten. »Wer sich nationalistischer Deutungen bediente, tendierte zu einer verstärkten Wahrnehmung von Bedrohung und Konflikt.«108 »Die Erinnerung an eine kurze Zeit zurückliegende Vergangenheit des Zusammenlebens und der gemeinsamen Interessen und der Vorbehalt des respice finem [der Berücksichtigung des Endes, d. Verf.] wurde bedeutungslos«, resümiert schließlich Bernd Hüppauf.109 Der Blick auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen legt abseits der reißerischen Zeitungsberichte ein weiterführendes Verständnis der Ereignisse nahe. Denn Übergriffe durch Angehörige der Arbeiterschaft auf vermeintliche Straftäter und auf Polizisten, welche die Verdächtigten schützten, standen mitunter in 103 Groener, Lebenserinnerungen, S. 143. 104 Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München 2008, S. 192–196. 105 Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft, S. 169 f. 106 Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 145. 107 Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007, S. 229. 108 Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 66–70, hier S. 70. 109 Bernd Hüppauf, Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs, Bielefeld 2013, S. 393.
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Kontinuität zu Vorkriegspraktiken. Gewalttätige Konfrontationen zwischen Arbeitern und der Gendarmerie gehörten zum bekannten »Alltags-Spektakel im Lokalteil der Hauptstadtpresse«.110 Daran anknüpfend können Selbsthilfe und Selbstjustiz auf den Straßen Berlins als Ausdruck unterschiedlicher Ordnungskonzepte zwischen staatlichen und proletarischen Akteuren gelesen werden.111 Bei wilden Strafaktionen gegenüber Verdächtigten trafen in diesem Sinne die Vorstellungen einer unmittelbaren körperlichen Vergeltung und eines bürokratisch-rechtlichen Strafprozesses aufeinander.112 Spionenjagden und Lynchjustiz zu Kriegsbeginn waren womöglich unter anderem eine Fortsetzung dieser Auseinandersetzungen. Als ein Akt öffentlicher Kommunikation interpretiert, bei dem nun die Ordnung der Gesellschaft und die militärische Sicherheit des Staates ausgehandelt wurden, verteidigten die Handgreiflichen ihre Aneignung und Deutung des sozialen Raumes der Straße. Ungeachtet der damit einhergehenden eigensinnigen Zustimmung zum Krieg, erkannten staatliche Akteure das bestehende Konfliktpotenzial. Ihre Mahnungen zu körperlicher Zurückhaltung und Gewaltlosigkeiten betonten den Anspruch des Staates auf sein Gewaltmonopol und verwiesen auf die bestehenden sozialen wie kulturellen Brüche und Grenzen innerhalb der Stadtgesellschaften. Viele unterschiedliche Akteure, die in den Augusttagen in die Öffentlichkeit traten, teilten einen Vorstellungskosmos über die innere Bedrohungslage des Deutschen Reiches im Krieg. Sie knüpften hierbei, wie bereits gezeigt wurde, an Einschätzungen der Militärverantwortlichen seit den Balkankriegen an. In gleichem Maße konkretisierten die Mobilmachungsanweisungen vor dem Krieg und amtliche Meldungen in diesem eine prekäre Sicherheitslage. Die Reaktionen auf verdächtige Erscheinungen unterschieden sich von Ort zu Ort. Gemeinsam war ihnen, dass die ihnen vorausgehende minutiöse Aufmerksamkeit und skeptische Vorsicht zu einem von der Bevölkerung erwarteten Verhalten gehört hatten. Und damit endete die Mobilisierung der daheimgebliebenen Bevölkerung nicht. Neben die Appelle zu Wachsamkeit und vorausschauendem Handeln traten freiwillig eingerichtete Bürgerwehren.113 Erich von Falkenhayn, der preußische Kriegsminister, erachtete sie als unerlässlich für eine »Entlastung der Truppe vom Wachund Sicherheitsdienst, sowie im Interesse der Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, zumal bei Anwesenheit zahlreicher Ausländer im Reichsgebiet«. Die
110 Thomas Lindenberger, Vom Säbelhieb zum »sanften« Weg? Lektüren physischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte, Bd. 35 (2003), S. 7–22, hier S. 9. 111 Weiterführend: Wolfgang Maderthaner u. Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M. 1999. 112 Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995, S. 133–136. 113 Ein exemplarischer Aufruf siehe: Freiwillige Bürgerwehr für Schöneberg und Wilmersdorf, in: Vossische Zeitung, 23.8.1914 (Nr. 426, Morgenausgabe).
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Organisation überließen die Militärverantwortlichen den Zivilbehörden.114 Der Reichskanzler plante im Zuge dessen, die Bürgerwehren zur Kontrolle der russländischen Saisonarbeiter/innen einzusetzen.115 Die mit Seitengewehren Bewaffneten sollten im Königreich Sachsen ab Mitte August 1914 ausdrücklich »Polizeibehörden im allgemeinen Sicherheitsdienste, insbesondere [bei] der Überwachung von Ausländern« unterstützen.116 Zuvor hatten bereits am Dresdner Hauptbahnhof »Jungen der Jugendwehr« die dortigen Militärposten, Bahnbeamten und Polizisten unterstützt. Sie halfen, schaulustige Passanten zurückzuhalten und Reisende beim Betreten und Verlassen des Bahngebäudes zu kontrollieren.117 In Konstanz wurden Mitglieder der Bürgerwehr eingesetzt, um »Ausländer, insbesondere Russen und Franzosen«, die nach der Schweiz ausreisen wollten, am Grenzübertritt zu hindern und in »Notarresten« zu bewachen.118 Sie empfingen und begleiteten zugleich, ergänzt durch »Arbeiter als Wache«, in der Stadt ankommende italienische Arbeiter/innen, – Männer, Frauen und Kinder – vor ihrer Weiterreise.119 In Düsseldorf, wo 438 Personen der Bürgerwehr angehörten, war ihr Aufgabenfeld breiter definiert. Sie sollten »die Sicherung des Eigentums, des Lebens und der Gesundheit der Bürger, die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung auf den Straßen, die Regelung des öffentlichen Verkehrs, die Beobachtung der Polizeistunde für die Schließung der Wirtschaften, Schutz der öffentlichen Anlagen« gewährleisten.120 Die Dresdner Polizeidirektion rekrutierte Zivilisten auch abseits der Bürgerwehren für eine Überwachung verdächtiger Ausländer/innen. Da die eingehenden »Spionageverdachtsanzeigen« die Beamten überlasteten, entschieden sie, »[s]oweit sich der ausgesprochene Verdacht bei näherem Zusehen nicht ohne weiteres als unbegründet herausstellte«, zur »unauffälligen Beobachtung […] vielfach auch vertrauenswürdige Hausbewohner u.s.w.« heranzuziehen.121 Ob letztlich die Tätigkeiten der Bürgerwehren diesen Anforderungen entsprachen, stand auf einem anderen Blatt geschrieben. Karl Hampe (1869–1936), Professor für Mittlere und Neuere Geschichte in Heidelberg, nahm jedenfalls Abstand von einem freiwilligen Engagement, nachdem ihm Eberhard Gothein (1853–1923), Prorektor der Universität, davon abgeraten hatte. »Man hätte nachts 114 Preuß. KM (gez. v. Falkenhayn) an u. a. sämtl. stv. Gkdos., abschr. hier wtgl. an d. Sächs. KM, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 149 f. 115 Reichskanzler (RAdI, gez. Lewald) an sämtl. Bundesregierungen, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 110. 116 Protokoll Besprechung im Sächs. MdI, 12.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 143 ff. 117 Am Hauptbahnhof, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 5.8.1914 (Nr. 210). 118 Bad. BzA Konstanz an d. Bad. MdI, 4.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23183. 119 Stadtrat Konstanz an d. Bad. BzA Kostanz, 3.11.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/84049. 120 Adalbert Oehler, Düsseldorf im Weltkrieg. Schicksal und Arbeit einer deutschen Großstadt, Düsseldorf 1927, S. 95. 121 Bericht d. Polizeidirektion Dresden, betr. Erfahrung auf d. Gebiete d. Spionageabwehr u. d. Briefüberwachung, 18.6.1915, in: HStA Dresden: 10736/3354, Bl. 102 ff.
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zwei Stunden an irgendwelchen Brunnen etc. zu stehen, es sei mehr, um die Heidelberger Bürgerschaft zu beruhigen«, vermerkte er über eine Unterredung mit Gothein.122 Die Bürgerwehren lösten indes ein wichtiges Dilemma der Kriegsvorbereitungen und der Mobilmachung nicht. Sie gaben keine Antwort auf die Frage, wer militärische Geheimnisse und die innere Sicherheit in einem besonderen Maße im Krieg bedrohte. Die Festgenommenen und Verdächtigten mussten keine fremden Staatsangehörigen sein. Es waren Ungereimtheiten der städtischen Massengesellschaft, ein seltener Dialekt, ein scheuer Blick oder andere Abweichungen von einer erwarteten Norm der Verdächtigenden, mit denen die Abgeführten abhängig von Ort und Zeit Aufmerksamkeit erregt hatten. Wie konnten Spion/innen wirkungsvoll und zuverlässig enttarnt werden? Antworten auf diese Frage hatte Thilo von Linsingen (1862–1943), der Chef des Stabes des Danziger Armeekorpsbereiches. Er griff zum Stift und brachte seine Erfahrungen im April 1915 zu Papier.123 »Wo halten sich Spione auf und was suchen sie festzustellen?«, lautete seine erste Frage, auf die er schließlich eine militärisch zentrierte Antwort fand. Vor allem Festungen, ihr Umland, Eisenbahnknotenpunkte und Dienstsitze von Militärbehörden seien gefährdet. Spione interessierten alle Details zu Truppen- und Waffenbewegungen und zu jeglichem militärischen Personal. Wie sie demzufolge vorgehen würden? »Sie beobachten. Sie fangen mit einem Nebenstehenden unauffällig ein Gespräch an, bewirten ihn gegebenenfalls und lassen geschickt Fragen einfließen, deren Beantwortung für sie wichtig« ist. Aber: »Wie sehen Spione aus?« »Sie können Mann oder Weib sein. Sie kleiden sich nach der Umgebung, jedoch in keiner Weise auffallend. Sie wählen häufig Radfahrerkleidung, tragen auch, besonders an der Front, deutsche Uniform. Frauenspersonen tragen zuweilen Krankenpflegerinnentracht. Sie führen zeitweise Fahrräder mit sich, um von den Verkehrsmitteln unab hängig zu sein. Man soll sich nicht durch gute Kleidung, Namen, eisernes Kreuz, gewandtes und sicheres Auftreten einschüchtern lassen.«124 Von Linsingens Anhaltspunkte blieben vage. Mit seiner Prüfliste konnten zahlreiche alltägliche Situationen in der Öffentlichkeit und viele Personen einen Verdacht 122 Karl Hampe, Kriegstagebuch 1914–1919, hg. von Folker Reichert u. Eike Wolgast, München 20072, S. 101 (5.8.1914). 123 Stv. Gkdo. XVII. AK (Chef d. Stabes, gez. v. Linsingen), betr. Anhaltspunkte für d. Ermittlung u. Unschädlichmachung spionageverdächtiger Personen, an u. a. d. Reg.-Präs. in Danzig, 19.4.1915, (Druckschrift) in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15796. 124 Ebd.
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erwecken. Die idealtypischen Spione existierten nicht. Verdächtigungen resultierten aus mehreren möglichen Variablen und blieben letztlich an situationsabhängige Unabwägbarkeiten gebunden. Von Linsingen stellte weniger ein Fahndungsraster bereit als vielmehr die Erkenntnis, dass Agent/innen zu einem Teil der Kriegsgesellschaft gehörten. »Dass die Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass Beziehungen zu feindlichen Agenten bestehen, kann von keinem unbekannten Inländer, geschweige denn von Angehörigen des feindlichen Auslandes ohne Weiteres angenommen werden. Jedenfalls kann die Polizei kein Gewähr dafür übernehmen, dass eine solche Möglichkeit nicht besteht«, merkten Beamte der Düsseldorfer Polizeiverwaltung nüchtern an.125 Für sie spielte die Staatsangehörigkeit demnach keine hervorzuhebende Rolle bei der alltäglichen Spionageprävention vor Ort. Polizisten im ganzen Deutschen Reich mussten bei Verdachtsmomenten weiterhin fallweise über ihr Vorgehen entscheiden. Im Zuge dessen eröffnete sich ihnen ein weiter Ermessensspielraum. Im ostsächsischen Neugersdorf bezichtigte der Gendarm Albert Schönherr zwei russländische Staatsangehörige, einen Buchhalter und einen Studenten, die dort die deutsche Sprache erlernten, der Spionage. Bei einer Wohnungsdurchsuchung verdichtete sich sein Verdacht. Er konfiszierte drei Landkarten (eine von Russland, eine Eisenbahnübersichtskarte von Deutschland und eine von Petersburg), eine Druckschrift in Form eines Zeitungsbogens über deutsche Einrichtungen, sieben Briefe, ein Album mit Ansichten aus der Sächsischen Schweiz, zwei Notizbücher, einen Briefumschlag mit Postkarten und Schriftstücken, vier Bücher und die Ausweispapiere der beiden.126 Dinge, die im Frieden zur Grundausstattung eines Touristen gehört hatten, boten nun Anlass die Verhaftung der beiden Ausländer anzuordnen. Ebenfalls verdächtigt und verhaftet wurde der 66jährige belgische Staatsangehörige Eduard Detolleneare (1849–?),127 der zu Kriegsbeginn im rheinischen Elberfeld wohnte. Er arbeitete als Vertreter der belgischen Eisenbahn, warb nach eigener Aussage um Transportaufträge und hatte Zutritt zu Eisenbahndirektionen in Deutschland. Es bestehe die Möglichkeit, dass »er sich Sachen, die auf [die] Mobilmachung Bezug hatten, angeeignet haben könnte«, kombinierte der zuständige Kriminalkommissar Goldbeck.128 Deshalb wurde Detolleneare am 7. August 1914 festgenommen. In dessen Wohnung beschlagnahmte der Kommissar Eisenbahn125 Polizeiverwaltung Düsseldorf, betr. evt. Abschiebung d. Engländerinnen, an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 17.10.1915, in: LAV NRW, BR 0007, 15003, Bl. 52. 126 Anzeige d. Gendarmen Albert Schönherr an d. Sächs. AmhM Löbau, 1.8.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 39. 127 Index card, Edouard Detolen[e]are (geb. 1849), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 128 Bericht d. Kriminalkommissars Goldbeck, 7.8.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 316. Der Vorgang zu Detolleneare umfasst ebenda die Blätter 316–324.
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karten und Fotografien deutscher Festungen. Er erblickte wider Erwarten darin kein belastendes Material. Seine weitere Suche nach Verdachtsmomenten blieb erfolglos.129 Aber Detolleneare war von der Linienkommandantur festgenommen worden. Aus diesem Grund entschied über seinen Fall das zuständige stellvertretende Generalkommando in Münster. Dessen oberster Verantwortlicher, General Moritz von Bissing (1844–1917), schaltete sich in die Elberfelder Ermittlungen ein und verfügte, dass der Verdächtigte bis zum 30. Mobilmachungstag in Haft bleiben sollte.130 Mit dieser Entscheidung schien der Spionageverdacht gegen den Eisenbahnvertreter ausgeräumt und der Fall abgeschlossen zu sein. Allerdings intervenierte der Oberbürgermeister von Elberfeld, Wilhelm Funck (1858–1923), etwa zwei Wochen nach der Verhaftung zu dessen Ungunsten. Er berichtete über freundschaftliche Kontakte Detolleneares und seiner Tochter zu der belgischen Familie Vermetten. Diese sei »nachweislich deutschfeindlich gesinnt«, hatte bei Mobilmachungsbeginn die Stadt verlassen und der Sohn war anschließend in die belgische Armee eingetreten. »Bei der Familie Vermetten […] verkehrten hauptsächlich Belgier und Franzosen[.] […] Die Unterhaltungen wurden dann immer in französischer Sprache geführt[.]«131 Der Vertreter der belgischen Eisenbahnverwaltung erweckte nicht durch die Gegenstände in seiner Wohnung einen ausreichenden polizeilichen Verdacht. Den Militärverantwortlichen erschien ebenso sein spezifisches Wissen nach Abschluss der Mobilmachung als unproblematisch. Erst seine sozialen Beziehungen zu einer Familie, die vor dem Krieg Kontakte ins Ausland gepflegt hatte, verdichteten im Anschluss an die Äußerungen des Oberbürgermeisters Zweifel an seiner Person. Ohne Beweise für das Vorliegen einer Straftat zog Wilhelm Funck daraufhin die einzelnen biografischen und beruflichen Indizien zusammen und erklärte die Befähigung zum Geheimnisverrat zu einem entscheidenden Kriterium, um den Elberfelder Einwohner einzuschätzen. »Wenn es sich auch nicht nachweisen lässt, dass er […] zum Schaden des Deutschen Reiches seinem Lande bezw. einer diesem befreundeten Macht wertvolle Mitteilungen über die ihm […] bekannten deutschen Eisenbahnverhältnisse, Transportwege, Kunstbauten oder sonstigen Anlagen gemacht hat, so besteht doch bei Würdigung der vorgetragenen Verhältnisse ein desfallsiger dringender Verdacht«, urteilte der Oberbürgermeister. Er empfahl, Detolleneare »bis zum Friedensschluss unbedingt in Verwahrung zu behalten«, denn eine umfängliche Überwachung auf freiem Fuß könne nicht gewährleistet werden. Die Intervention Funcks wog schwer. Detolleneare wurde 129 Bericht d. Kriminalkommissars Goldbeck, 8.8.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 316. 130 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Bissing) an d. Bezirkskommando, 19.8.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 319. 131 Bericht d. Oberbürgermeisters Funck, hier Reg.-Präs. Düsseldorf an d. stv. Gkdo. VII. AK, 27.8.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 319 f.
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nicht aus der Haft entlassen. Nachdem der Bürgermeister seine Überführung in eine Festung beantragt hatte, veranlasste Moritz von Bissing Ende Oktober 1914 seine Internierung im Offiziersgefangenenlager in Gütersloh.132 Der Verdacht hatte den Beschuldigten nicht in einen Gerichtssaal, sondern in ein Gefangenenlager geführt.133 Neben einem zugeschriebenen orts- und zeitabhängigen Wissen, ambivalenten Dingen des Alltags und zweifelhaft erscheinenden sozialen Beziehungen spielten für die Konstruktion von Verdachtsmomenten vor allem Kontakte ins und Interessen im Ausland eine wichtige Rolle. Für Oberstleutnant Walter Nicolai stellten »[i]nternationale Beziehungen aller Art […] eine stete Gefahr« dar. Obwohl er nach dem Krieg Gerüchte über den Geheimnisverrat durch Angehörige des Adels zurückwies, konstatierte er mehrfach dessen »mangelndem Nationalgefühl entspringende Leichtfertigkeit und Gesinnung«. Er beobachtete »[ä]hnliche Erscheinungen […] in der Hochfinanz […], während der Großhandel und die Industrie ihre internationalen Beziehungen vorsichtiger gegen die nationalen Pflichten abgrenzten«.134 Dieses Misstrauen spiegelte sich in Postüberwachungen und Observationen wie bei den weltgewandten, als britische Untertanen geborenen Fürstinnen Evelyn Blücher von Wahlstatt (1876–1960) und Daisy von Pless (1873– 1943) wider.135 Erstere wurde von der Nachrichtenabteilung des stellvertretenden Generalstabes der Armee als deutschfeindlich eingestuft.136 Bei Letzterer fand der Berliner Polizeipräsident, Traugott von Jagow, keine Anhaltspunkte für einen Spionageverdacht. »Festgestellt ist, daß sie in den dem Kriege vorausgehenden Jahren ihre Beziehungen zu ihrem Heimatland England dazu benutzt hat, um politisch für eine Annäherung Deutschlands mit England zu wirken«, berichtete Jagow dem Berliner Gardekorps über von Pless.137 »Festgestellt ist weiter, daß 132 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Bissing) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 28.10.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 323 u. Index card, Edouard Detolen[e]are (geb. 1849), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 133 Auch gegenüber deutschen Staatsangehörigen besaßen Militär- und Zivilbehörden die Möglichkeit eines präventiven Freiheitsentzuges, der erst 1916 juristisch eingeschränkt wurde. Die sogenannte Schutzhaft war demnach dann zulässig, »wenn sie zur Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reiches erforderlich ist«. Siehe: Gesetz betr. Verhaftung u. Aufenthaltsbeschränkung auf Grund d. Kriegszustandes u. d. Belagerungszustandes, 4.12.1916, in: RGBl. 1916, S. 1329–1331. Zur daran anschließenden rechtlichen Unterscheidung zwischen »öffentlicher Sicherheit« und »Sicherheit des Reiches« siehe: Ernst Sontag, Schutzhaftgesetz vom 4. Dezember 1916, Berlin 1917, S. 36–40. 134 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 28 u. Ders., Geheime Mächte, S. 150 f. 135 Bericht d. Kriminal-Wachtmeisters Bettin, 30.11.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 863a, Nr. 18, Bl. 117 f. Anlage. 136 Stv. Generalstab d. Armee (Abt. III b, gez. Brose) an d. AA, 1.6.1918, in: PA AA, R 20333, Bl. 239. 137 Polizeipräsident Berlin (gez. v. Jagow) an d. stv. kommand. General d. Gardekorps, General d. Infanterie (v. Loewenfeld), Berlin, 30.11.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 863a, Nr. 18, Bl. 117 f.
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sie gegenwärtig rege mit dem Ausland korrespondiert.« Da ihre internationalen Schriftwechsel durch Vertreter der US-amerikanischen Botschaft vermittelt wurden und den Polizeibeamten nicht zugänglich waren, lautete sein einziger Vorwurf gegenüber der Fürstin, »einen solchen Briefverkehr in der gegenwärtigen Zeit« zu unterhalten. Daran anschließend suchte er nach Wegen, ihre unerwünschten ausländischen Kontakte zu verhindern. Mit einem Schreiben wandte er sich an den General der Infanterie Alfred von Loewenfeld (1848–1927). Vermutlich hoffte er, dass dieser die Fürstin beeinflussen könnte. »Um diesen Verkehr vollständig zu unterbinden, wäre freilich die Verhaftung der Briefschreiberin der sicherste Weg. Ich möchte aber glauben, daß vor Anwendung einer derartigen scharfen Maßnahme gegen eine so hochstehende Dame, namentlich auch mit Rücksicht auf die Persönlichkeit ihres Gatten, zunächst andere Mittel und Wege gesucht und gefunden werden könnten, um die Fürstin zu vermögen, von einer weiteren Fortsetzung dieses Briefverkehrs Abstand zu nehmen.«138 Thilo von Linsingens allgemeine Ausführungen ebenso wie viele weitere Spionageermittlungen im Reichsgebiet kreisten um die praktische Beantwortung einer moralischen Frage. Wem konnte im Krieg vertraut werden? Wer würde sich loyal verhalten? Militär- und Zivilverantwortliche sowie anonyme Spionenverfolger beanspruchten bei ihrer Suche nach eindeutigen Antworten ein Wissen und eine Deutungs hoheit über vertrauensunwürdige Personen, die nicht immer eine ›feindliche‹ Staatsangehörigkeit besitzen mussten. Ihre Verdachtsmomente speisten sich keineswegs selten aus einem Misstrauen gegenüber jenen vielfältigen Akteuren, die Grenzüberschreitungen und Migrationen gelebt hatten und die der transnationale Motor der Vorkriegsjahre gewesen waren.139 Gleichzeitig stellten staatliche Verantwortungsträger die Loyalität nationaler Minderheiten infrage. Der Geheimdienstchef Nicolai sah beispielsweise einen generellen Verdacht auf den Einwohner/ innen Elsaß-Lothringens lasten, die sich ihre französische Nationalität bewahrt hatten. Aus seiner Sicht war bereits vor eindeutigen Beweisen folgerichtig, dass »eine so überraschend große Zahl von Spionen« unter ihnen weilte.140 Die daran anschließenden unzähligen Verdächtigungen und Verhaftungen mögen die Erwartungen an die Kriegszeit und bestehende Vorurteile bestätigt haben. Aber ebenso weckten sie nachhaltige Zweifel, weil die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes
138 Ebd. 139 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1290 ff. 140 Nicolai, Geheime Mächte, S. 100.
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von spionierenden Einzelpersonen ausgegangen waren, nicht von ganzen Agentenverbänden.141 Ausländische Staatsangehörige versuchten seit den ersten Kriegstagen, öffentlich ihr Wohlwollen gegenüber dem Deutschen Reich zu bekunden. Ein britischer Staatsbürger überreichte der Hamburger Kriegshilfe Anfang August 1914 eine Spende und gab eine Erklärung ab, über die das Berliner Tageblatt berichtete. »Wir sind keine Verräter an unserem Heimatlande, wenn wir in diesem Verteidigungskriege, der Deutschland aufgezwungen ist, uns auf Deutschlands Seite fühlen«, rechtfertigte er sich.142 Er glaubte zu wissen, dass er »für viele Engländer spreche, die wie ich im gastfreien Hamburg eine gesicherte Existenz sich haben gründen können«. Trotz der zurückliegenden Ereignisse sprach er »Bewunderung und Dank« aus für die »Rechtssicherheit und öffentliche Ordnung, die jetzt selbst in den Zeiten der bittersten Kriegsnot den Angehörigen der kriegführenden Mächte gegenüber weder bei der Bevölkerung noch bei den Behörden versagt« sei. Der Pfarrer der anglikanischen Kirche in Berlin, Henry Morrison Williams, verbreitete im Namen seiner Gemeinde eine Erklärung, die in den britischen und deutschen Zeitungen veröffentlicht werden sollte.143 Er lobte darin auf der einen Seite die »Gerechtigkeit und Höflichkeit« der deutschen Polizeibeamten als Vertreter eines modernen Staates. Auf der anderen Seite fand er ebenso anerkennende Worte für »die allgemeine Haltung der Bevölkerung, besonders der mittleren und gebildeten Klassen«. Sie hätten sich freundlich und höflich gegenüber den britischen Staatsbürger/innen gezeigt. Ihr Verhalten habe sich »nur wenig« von dem in Friedenszeiten unterschieden. Die Bezugspunkte der beiden Erklärungen für die Bewertung des Umgangs mit Ausländer/innen in Deutschland waren Rechtsschutz, wirtschaftliche Sicherheit und gesellschaftliche Contenance. Im Angesicht der gewaltsamen Ausschreitungen und medialen intellektuellen Dämonisierungen »der Engländer«144 beabsichtigten diese Zusammenschauen mehr als eine lobende Beschreibung zurückliegender Erfahrungen. Der anonyme Spender ebenso wie der anglikanische Pfarrer umrissen ihre zukünftigen Erwartungen an den deutschen Staat und die Bevölkerung in Kriegszeiten. Sie hofften demnach auf die Anerkennung und Verteidigung der von ihnen formulierten kulturellen und politischen Normen. Nachdem der Berliner Oberbürgermeister Adolf Wermuth (1855–1927) eine reichsweit beachtete Kundgebung für US-amerikanische Staatsangehörige orga-
141 Ders., Nachrichtendienst, S. 27. 142 Erklärung zitiert nach: Kurt Küchler, Hamburg zur Kriegszeit, in: Berliner Tageblatt, 13.8.1914 (Nr. 408, Abendausgabe). 143 Britische Anerkennung deutscher Zivilisation, in: Vossische Zeitung, 26.8.1914 (Nr. 431, Morgenausgabe). 144 Weiterführend: Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 115 ff.
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nisiert hatte,145 solidarisierten sich kurze Zeit später US-Amerikaner mit den Behörden und Bewohner/innen Bremens. Weil sie nicht abreisen konnten, hatten sie eine Interessenvertretung ins Leben gerufen. Diese verfasste einen Aufruf, der am 23. August 1914 veröffentlicht wurde.146 Darin hieß es unter anderem, dass die in Bremen Gestrandeten »die erwiesene Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft bestens anzuerkennen« wissen. Sie wollten vor ihrer Abreise eine Sammlung für das Rote Kreuz veranstalten und nach ihrer Ankunft in Amerika »den Lügenberichten, die vielleicht dort durch ungerechte Beeinflussung verbreitet worden sind«, entgegentreten. Den »deutschen Waffen« wünschten sie zugleich den Sieg. Wie die Erklärung Henry Williams verhehlte der Aufruf keineswegs seine prekäre Position innerhalb der gegenseitigen öffentlichen Anschuldigungen und Kriegspropaganda in den kriegführenden Staaten. Die Zeitungsaufrufe ausländischer Staatsbürger/innen können, diese Beobachtung fortführend, als eine doppelte Strategie gelesen werden. Sie verfolgten das Ziel, unabhängig von staatlichen Instanzen auf die Meinungsbildung über Ausländer/ innen einzuwirken, Vorverurteilungen entgegenzutreten und gewalttätige Übergriffe zu verhindern.147 Darüber hinaus versuchten die nicht-deutschen Staats angehörigen, sich nach den Ausweisungen der Diplomaten als wichtige Vermittler zwischen den gegnerischen Kontrahenten zu positionieren. Sie maßen hierbei ihren eigenen (veröffentlichten) Erfahrungen eine hohe Glaubwürdigkeit bei und gingen von deren Akzeptanz wie Wertschätzung aus. Womöglich wollten sie ihre Authentizität gegenüber staatlichen Akteuren als ein besonders schützenswertes Gut darstellen. Indes blieben sie umfänglich abhängig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen ihres Aufenthaltsortes und von den Zeitungen, die ihre Wortmeldungen drucken und somit verbreiten mussten. Auf die Lebensumstände ausländischer Staatsangehöriger konnte ein Spionagevorwurf weitreichende Auswirkungen zeitigen. Denn er spielte beim Austausch von Zivilisten und Zivilgefangenen zwischen neutralen und kriegführenden Staaten eine wesentliche Rolle. Frauen und Kinder sowie nicht-wehrpflichtige Männer durften beginnend ab September 1914 nach Vereinbarungen mit Großbritannien, Frankreich und Russland ausreisen. Davon ausgenommen blieben »alle diejenigen, 145 Die Kundgebung für die Amerikaner, in: Berliner Tageblatt, 12.8.1914 (Nr. 405. Morgenausgabe). 146 Aufruf an d. Behörden u. Bewohner Bremens, in: Jahrbuch der Norddeutschen Lloyd 1914/15. Der Krieg und die Seeschiffahrt unter besonderer Berücksichtigung der Norddeutschen Lloyd, Bremen 1915, S. 69 f. 147 Weitere Kundgebungen ausländischer Staatsangehöriger folgten vor allem im Oktober und November 1914. Bsp.: Die Behandlung Deutscher in England, in: Frankfurter Zeitung, 30.10.1914 (Nr. 301, Abendblatt); Englische Stimmen gegen die niederträchtige Behandlung der Deutschen in England, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 30.10.1914 (Nr. 301), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3316, Bl. 158; Meldung, in: Kölnische Zeitung, 30.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 300a, S. 189 u. Engländer in Deutschland, in: Frankfurter Zeitung, 3.11.1914 (Nr. 305, Abendblatt).
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welche wegen strafbarer Handlungen oder wegen bestimmten Spionageverdachts festgehalten werden«.148 Gleichermaßen nahmen die verantwortlichen Offiziere die »wegen Spionage oder sonstiger Vergehen gegen die Sicherheit des Reiches in Untersuchungshaft« oder in Sicherheitshaft befindlichen oder verurteilten Ausländer/innen nicht in die Übersichten für das Rote Kreuz auf. Dadurch, so die militärische Argumentation, sollte verhindert werden, dass die »feindlichen Regierungen […], den Aufenthaltsort ihrer im Inland festgenommenen Spione« erfahren.149 In der Nachkriegszeit berichtete der Journalist und Kriegsberichterstatter Heinrich Binder (1878–?) von etwa 300 zwischen dem 1. und 10. August 1914 festgenommenen ausländischen Spionageverdächtigen.150 Nach internationalen Beschwerden über die unrechtmäßige Inhaftierung Verdächtigter wies die Heeresverwaltung die lokalen Militärbefehlshaber im Januar 1915 an, die Ermittlungen in den Einzelfällen zügig voranzutreiben. »Es ist den betreffenden Persönlichkeiten auch zu ermöglichen, alsbald mit der diplomatischen oder konsularischen Vertretung ihres Landes in Verbindung zu treten, soweit nicht im Einzelfalle schwerwiegende Bedenken entgegenstehen.«151 Ihnen war aber weiterhin die Möglichkeit verwehrt, mit neutralen Delegierten unter vier Augen zu sprechen, weil ein solcher Kontakt nicht gänzlich überwacht werden konnte. »Dabei liegt es natürlich im Ermessen der stellvertretenden Generalkommandos, in besonderen Fällen, wenn Bedenken vorhanden [sind], auch diesen Verkehr zu beschränken oder ganz zu untersagen.«152 Rückblickend unterblieben Anschläge und umfassende Spionageakte durch Agent/innen. Während des Krieges resümierten zuerst die Zivilbehörden im Königreich Sachsen, dass Spionagevorfälle nicht vorgekommen seien.153 Die vielen Verdächtigungen in der Öffentlichkeit hätten, laut einem Bericht der Dresdner Polizeidirektion, vielmehr dazu geführt, bei einzelnen Behörden »Nervosität« hervorzurufen und »wesentlich zu einer Überlastung« der Polizeizentralstelle beizutragen.154 Nach dem Krieg suchte Walter Nicolai die Gründe für »manche über das Ziel hinausschießende Erscheinungen und Mißgriffe«. Er fand sie in den fehlenden organisatorischen Strukturen, mit denen die Bestimmungen hätten umgesetzt werden können. »An Stelle eines einheitlichen Vorgehens traten […] Maßnahmen einzelner Stellen, denen jedoch die Sachkenntnis fehlte.«155 148 Preuß. Minister d. Innern (v. Loebell) an d. Oberpräsidenten, 9.9.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835. 149 Preuß. KM an d. stv. Gkdo. VIII. AK, 11.1.1916, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 139. 150 Heinrich Binder, Was wir im Weltkrieg nicht sagen durften! München 1919, S. 7. 151 Preuß. KM an sämtl. stv. Gkdos., 2.1.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 216. 152 Preuß. KM an sämtl. stv. Gkdos., 31.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 215. 153 Berichte d. Sächs. AmhM u. Stadträte, Juni 1915, in: HStA Dresden: 10736/3354, Bl. 93–106. 154 Bericht d. Polizeidirektion Dresden, 18.6.1915, in: HStA Dresden, 10736/3354, Bl. 102 ff. 155 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 31 und ähnlich lautend: Nicolai, Geheime Mächte, S. 54.
Verdacht und Gewissheit während der Mobilmachung
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Nach der Ansicht Heinrich Binders hatte die Presseabteilung des Großen Generalstabes die »Spionenfurcht« gezielt geschürt. Deren Folgen bewertete er rückblickend gleichwohl positiv. »Jedenfalls war der Zweck erreicht: Auf alle feindlichen Ausländer wurde ein erhöhtes Augenmerk gerichtet und das mit Recht. Es läßt sich heute darüber streiten, ob man das gleiche Ziel nicht mit vornehmeren und einfacheren Mitteln erreicht hätte.«156 Zu einer gänzlich anderen Einschätzung gelangte der ehemalige Chef des Nachrichtendienstes. »Diese Vorkommnisse waren mit der Grund, daß während des Krieges das Wort von der feindlichen Spionage nur noch sehr vorsichtig, meist nur in Verbindung mit der Mahnung zur Verschwiegenheit, gebraucht wurde«, bemerkte er in seinen Kriegserinnerungen.157 Im Gedenkbuch des Bayerischen Kriegsarchivs traten an die Stelle historischer Erklärungen das Wundern und Staunen über die zurückliegenden Reaktionen zu Kriegszeiten. »Die allgemeine Begeisterung und Aufregung, die das Land durchflutete, zeitigte allerdings auch manch rätselhafte Erscheinung und manche Ausgeburt überhitzten Eifers. So wurden allenthalben, meist ohne Grund, Spione oder Anschläge auf Eisenbahnkunstbauten, Wasserversorgungsanlagen usw. gewittert.«158 Trotz der unterschiedlichen nachträglichen Einschätzungen hatten die vielfältigen Reaktionen zu Kriegsbeginn einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Umgang mit Ausländer/innen in der Kriegsgesellschaft ausgeübt.159 Die wilden Verdächtigungen und Verfolgungsjagden endeten. Die Nachrichten und Warnungen vor Spionen verebbten hingegen nicht. Beispielsweise wies ein Militärattaché im neutralen Ausland im Februar 1915 darauf hin, dass »Spione und vor allem Spioninnen an öffentlichen Orten, insbesondere in den Tee- und Restaurationsräumen der großen Berliner Hotels, begünstigt durch laute oder unvorsichtige Unterhaltung von Offizieren, Informationen sammeln«.160 Diese Einschätzung bestätigte den Standpunkt der Heeresführung, die weiterhin vor Sabotageakten warnte. Die erfolgreichen Militäroperationen in Masuren und Westgalizien bestärkten den Chef des Generalstabs der Armee, Erich von Falkenhayn, zusätzlich an den militärischen Abwehrbemühungen festzuhalten. »Der Beweis, daß unsere zur Spionageabwehr getroffenen Maßnahmen bei gewissenhafter Durchführung als wirksam anzusehen sind, kann als erbracht gelten«, folgerte er aus den Siegen in Osteuropa. Deshalb müsse die Überwachung des Grenzverkehrs unermüdlich fortgesetzt werden. Ebenso dürfe »der Kampf gegen leicht-
156 Binder, Was wir im Weltkrieg nicht sagen durften!, S. 7. 157 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 30. 158 Die Bayern im Großen Kriege 1914–1918. Auf Grund der amtlichen Kriegsakten dargestellt, hg. vom Bayerischen Kriegsarchiv, München 19232, S. 7. 159 Siehe ebenso die Ausführungen im Kapitel Grenzen ziehen und verschieben. 160 Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel) hier a. d. Reichskanzler (Reichskanzlei), 9.2.1915, in: BArch Berlin, R 43/2403.d, Bl. 30.
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fertiges Verbreiten militärischer Nachrichten nicht nachlassen«.161 Zur gleichen Zeit erweiterte sich das Bedrohungsszenario feindlicher Spionage. Von feindlichen Ausländer/innen gehe die Gefahr aus, »dass diese Personen oder von ihnen angestiftete Dritte versuchen würden, das reife und dürre Getreide auf den Ackerfeldern in Brand zu setzen«.162 Der erwartete Aktionsradius ausländischer Spionage und Sabotage sollte sich nicht auf militärische Ziele in der Mobilmachungsphase beschränken. Die Heeres- und Reichsleitung sahen sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der britischen Seeblockade Feinden gegenüber, die den Krieg auch jenseits der Frontlinien zu gewinnen versuchten. Im Zuge des fortgeführten Krieges befürchteten nicht nur die Mitglieder der Hamburger Vertrauenskommission ungehinderte »Handelsspionage« von Ausländern »im Hafen, […] in den Kontoren, an der Börse, in Clubs und Privatgesprächen aller Art«.163 Ebenfalls Walter Nicolai dehnte das ehemals begrenzte militärische Verständnis schützenswerter Geheimnisse auf wirtschaftliche und politische Gegenstände aus, als er ein Anwachsen der »Wirtschaftsspionage« registrierte.164 Juristische Urteile begleiteten diesen Vorstellungswandel. Die Richter des II. und III. Strafsenats des Reichsgerichts bestätigten 1915 und 1916, dass ausländische Zivilisten, die keinem Heere angehörten, wegen Spionage militärischer Geheimnisse in Deutschland verurteilt werden durften. »Auch bei nur vorübergehendem Aufenthalt auf Reisen untersteht der Ausländer dem allgemeinen, nicht nur den eigenen Staatsangehörigen zuteil werdenden Schutze des Deutschen Reiches und unterliegt deshalb wegen eines während dieser Zeit von ihm in Deutschland begangenen Landesverrats den deutschen Strafgesetzen«, entschieden die obersten Juristen des Reiches.165 Die lokalen und reichsweiten Zivilbehörden hatten aus den August-Ereignissen ihre Lehren gezogen. Als sich der Kriegseintritt Italiens gegen Österreich-Ungarn 1915 abzeichnete, wies die Reichsleitung daraufhin, unauffällig den Schutz italienischer Staatsangehöriger und deren Eigentums einzuleiten.166 Das Oberkommando in den Marken erinnerte die Bevölkerung daran, dass »Kriege […] auf Schlachtfeldern geführt [werden], nicht in Kaffeehäusern und Wirtschaften oder gar […] 161 Chef d. Generalstabes d. Feldheeres (gez. v. Falkenhayn) an sämtl. stv. Gkdos., 1.6.1915, (Abs.) in: HStA Weimar, Thüringisches Oberlandesgericht Jena, Nr. 903, Bl. 27. 162 Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 22.6.1915, in: HStA Dresden, 10736/3355, Bl. 22 u. Preuß. KM, betr. Schutz d. Getreide- u. Mehlvorräte, 22.5.1915, in: Ebd. 163 Auszug aus d. Protokoll d. Vertrauenskommission, 17. Sitzung, 29.10.1914, in: StA Hamburg, 111–2, B III z 4 b, Bl. 12. 164 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 28–30. 165 Urteile d. II. u. III. Strafsenats d. Reichsgerichts, 9.3.1916 u. 13.1.1915, Az. C 24/15 u. C 27/15, betr. Landesverrat, Bestrafung von Ausländern, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 49, S. 421–429, hier S. 425. 166 Ergebnisprotokoll Besprechung im RAdI, 17.5.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365, Bl. 271 ff.
Resümee: Die Suche nach Loyalität
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auf der Straße«.167 Daraufhin berichtete der Berliner Polizeipräsident über ein ruhiges Verhalten gegenüber ansässigen Italienern.168 Ebenso registrierten Zivilbehörden in Süddeutschland, wo viele italienische Arbeitsmigranten lebten, keine anti-italienisch motivierten Ausschreitungen.169 Gleichwohl reisten viele von ihnen ab, weil sie Verhaftungen befürchteten.170
Resümee: Die Suche nach Loyalität Offiziere und Politiker versuchten den Umgang mit feindlichen Ausländerinnen und Ausländern in einem erwarteten, aber ungewissen Krieg vorauszudenken. Die gestiegene Mobilität in Europa seit der Jahrhundertwende, die viele Grenzen überschritt, stellte für sie ein zentrales Moment ihrer Planungen dar. Die Zirkulation von Menschen und ihrem Wissen sollte mit der Wiedereinführung von umfangreichen Passkontrollen in Kriegszeiten steuerbar werden. Die Passpapiere galten als ein maßgebliches Instrument, militärische Sicherheit herzustellen. Gleichzeitig markierten sie einen allgemeineren Perspektivwechsel auf Spione. Während Inländer/innen in den Hintergrund traten, rückten Ausländer/innen in den Fokus verantwortlicher Akteure. Die Identifikationsdokumente bürgten unterdessen nicht für die Loyalität ihres Inhabers gegenüber dem Deutschen Reich. Eine unauflösbare Unsicherheit und Uneindeutigkeit im Angesicht nicht-deutscher Staatsbürger/innen kündigte sich am Horizont für die Kriegsplaner an. Für viele von ihnen bedeuteten feindliche Staatsangehörige daher weiterhin ein Sicherheitsrisiko. Gleichzeitig mussten sie mit Blick auf hunderttausende osteuropäische Saisonarbeiter/innen akzeptieren, dass ein Abwägen zwischen militärischen und wirtschaftlichen Interessen von Nöten sein würde. Und der Aufenthalt tausender deutscher Staatsbürger/innen in den europäischen Nachbarländern kündigte das Gebot außenpolitischer Kompromisse an, um deren Arbeits- und Lebensgrundlage nicht zu gefährden. Jedwede Entscheidung der Heeres- und der Reichsleitung in Bezug auf die Herausforderungen eines Krieges unter den Bedingungen vernetzter Gesellschaften und 167 Bkm., in: Berliner Morgenpost, 25.5.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 8, Dok.-Nr. 435, S. 344. 168 40. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 29.5.1915, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 65, S. 62. 169 Bad. MdI an alle Bad. BzÄ außer Karlsruhe, 8.5.1915, (Telegramment.) in: GLA Karlsruhe, 236/23199 u. Bad. BzA Lörrach an d. Bad. MdI, 14.6.1915, (Abs.) in: Ebd., u. Bad. BzA Baden an d. Bad. MdI, 14.6.1915, in: Ebd. Ausschreitung wurden ebenso von der preußischen Gesandtschaft in Karlsruhe verneint, siehe: Preuß. Gesandtschaft Karlsruhe an d. Minister d. Auswärtigen Angelegenheiten (Bethmann Hollweg), 2.6.1915, in: PA AA, R 20340, Bl. 210. 170 Bad. BzA Lörrach an d. Bad. MdI, 14.6.1915 (Abs.) u. Bad. BzA Baden an d. Bad. MdI, 14.6.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23199.
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Wirtschaftskreisläufe musste prekär bleiben. Jedwede Antwort auf die Vertrauensfrage bedeutete ein militärisches wie politisches Risiko. Öffentliche Bekanntmachungen schraffierten ein undeutliches Bild von den (ausländischen) Spion/innen. Gewiss war, dass von ihnen eine Gefahr für den militärischen Sieg ausging. In den Sabotage- und Spionageverdächtigungen während der Mobilmachungsphase wurden im Anschluss daran die urbanen Zwiespälte und die gesellschaftliche Anonymität eines modernen Lebens nach der Jahrhundertwende gegenwärtig. Viele Menschen erwarteten von dem beginnenden Krieg, dass er nicht nur an der Front in Frankreich oder Ostpreußen geschlagen werden würde, sondern ebenso in ihrem Alltag. Aufrufe zur Wachsamkeit und Bürgerwehren sollten die polizeilichen und militärischen Schutzleute unterstützen. Staatliche wie nichtstaatliche Akteure waren dazu angehalten, schnell und selbstsicher auf Verdachtsmomente zu reagieren. Situatives und improvisiertes Handeln war dementsprechend kein irreguläres Verhalten, sondern gehörte zu den in Grenzen kalkulierten Konsequenzen.
3. Identifizieren und Überwachen
Im September 1914 legten Münchner Polizeibeamte Meldezettel für die in der bayerischen Landeshauptstadt anwesenden feindlichen Ausländer/innen an.1 Sie notierten unter anderem Familien- und Vorname, Wohnanschrift, Staatsangehörigkeit, Beruf oder Erwerbstätigkeit, Geburtsdatum und -ort, vorhandene Ausweispapiere, Ankunftszeit in München und Militärverhältnisse der Betroffenen. Sofern die archivierte Ordnung der Meldezettel dem ursprünglichen Zustand entspricht, wählten die Beamten eine Sortierung nach Staatsangehörigkeit: »Russen«, »Engländer«, »Belgier«, »Franzosen« und »Serben«. Die einzelnen Papierstapel verbanden fortan ausländische Touristen und Geschäftsreisende, Wanderarbeiter und auswärtige Unternehmer, Künstler und Studenten. Die auf dem Papier erfassten Menschen hatten zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland gelebt und gearbeitet und ihre Kinder im Sinne der lokalen Kultur erzogen. Die spitze Feder der Beamten sollte für die kommenden vier Kriegsjahre zuallererst eine bürokratische Grenze zwischen ihnen und der übrigen Bevölkerung ziehen.2 Feindliche Staatsangehörige unterstanden seit der Bekanntgabe des Kriegszustandes neben einer allgemeinen Passpflicht strengen Meldevorschriften. Diese beiden polizeilichen Instrumente galten neben der Internierung Verdächtigter und Wehrpflichtiger als ein effektives Mittel zu ihrer Identifikation, Kontrolle und Überwachung, um Spionagetätigkeiten zu behindern und einer Gefährdung der Mobilmachung und militärischer Operationen entgegenzutreten.3 Im Folgenden stehen die damit verbundenen Praktiken im Mittelpunkt, die mit Pflichten und Verboten den Arbeitsalltag und das Leben der Betroffenen maßgeblich beeinflussten. Die Prämisse hinterfragend, dass diesen hauptsächlich eine wahrgenommene Bedrohung und ein Sicherheitsbedürfnis vorausging, soll argumentiert werden, dass ihr Ursprung und ihre Wirkung in einem befürchteten wie wahrgenommenen Kontrollverlust lagen. Die Münchner Zettelbündel vermittelten
1 2 3
Verzeichnisse d. in d. einzelnen Amtsbezirken sich aufhaltenden Ausländer, Sept. 1914, Stadt München, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2150. Ein Melde- und ein Fremdenzettel der Stadt Lindau finden sich abgedruckt in: Kriegsanordnungen des stellvertretenden Generalkommandos I. Bayerisches Armeekorps, bearb. von Christian Roth, München 19182, S. 234 u. 236. Aufzeichnung d. kommissarischen Beratung im RAdI, betr. Verordnung über d. vorübergehende Einführung d. Paßpflicht bei drohender Kriegsgefahr, 26.1.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112160, Bl. 94–100.
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Identifizieren und Überwachen
lediglich auf den ersten Blick eine Gewissheit über die anwesenden Ausländer/ innen und eine daran anschließende bürokratische Sicherheit.
Sicherheit zwischen Mobilität und Technik Ausländer/innen genossen vor dem Krieg ein Gastrecht, welches ihnen allerdings »im Interesse der öffentlichen Sicherheit« abgesprochen werden konnte.4 Das mit dieser Einschränkung einhergehende Recht zur Ausweisung stellte ein zentrales Element staatlicher Migrationskontrolle dar. Zum einen konnte es nach strafrechtlichen Urteilen auf Reichsebene angewandt werden. 1910 betraf dies 514 und 1913 433 wegen Landstreicherei, Diebstahl, Betrug oder Prostitution Verurteilte. Zum anderen hatten die Bundesstaaten und ihre Gemeinden die Möglichkeit, im Zuge administrativer Entscheidungen Fremde auszuweisen. Dies galt vor allem für jene, die »nicht hinreichende Kräfte« besaßen, um sich selbst und ihren »nicht arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen« oder aus eigenem Vermögen zu bestreiten.5 Individuelles Verhalten oder ökonomische Erwägungen spielten dagegen bei den preußischen Massenausweisungen polnischer und jüdischer Migrant/innen aus Russland und Österreich-Ungarn in den Jahren 1885/86 (circa 32.000 Personen) und 1905/06 keine Rolle. Die Ausgewiesen waren vorrangig national-politisch und ethnisch unerwünscht gewesen.6 Für Migrant/innen gehörten Fremdenkontrollen in den Grenzbezirken des Deutschen Reiches zum Alltag.7 Die Polizeibehörden des Großherzogtums Baden beispielsweise forderten von »zuziehenden Reichsausländern einen genügenden Ausweis über ihre Person und Staatsangehörigkeit«. Beamte vor Ort sollten davon nur absehen, wenn über die Ausländer/innen selbst »keinerlei Zweifel bestehen« und sie »in jeder Hinsicht unverdächtig sind«. Nach der Visierung der Pässe hatten die Polizisten Erkundigungen über Vorstrafen einzuholen, Heimatbehörden zu kontaktieren und in größeren Städten wie Konstanz die Fahndungsregistratur zu konsultieren. In Gemeinden, »in denen Ausländer in erheblicher Zahl« sich niederließen, sandten Bürgermeisterämter in regelmäßigen Abständen Ausländerverzeichnisse zur Kontrolle an die vorgesetzten Bezirksämter oder die Gendarmeriebezirkskommandos. In- und ausländische Reisende waren »verpflichtet, Vor- und Zuname, Stand und Wohnort sowie Tag der Ankunft in das von dem Gastwirt zu führende Fremdenbuch einzutragen«. Diese sollten ebenfalls mit den Fahndungsregistern verglichen 4 5 6 7
Gustav Roscher, Großstadtpolizei. Ein praktisches Handbuch der deutschen Polizei, Hamburg 1912, S. 92. Ausweisung, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1905, S. 183. Detailliert zur Ausweisungspolitik: Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S. 139–177. Roscher, Großstadtpolizei, S. 92.
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werden. In Konstanz, an der Grenze zur Schweiz, wurden darüber hinaus die »mit den Zügen oder Schiffen ankommenden Fremden durch den Schutzmann, der den Bahn- und Hafendienst versieht, beobachtet«. Verstärkung erhielt er nur beim Vorliegen besonderer »Fahndungsausschreibungen«.8 Die Kontrollen an Verkehrsknotenpunkten zeigten gleichzeitig Grenzen staatlicher Überwachungsmaßnahmen auf, wie die Regierungsvertreter Badens, die ihre Maßnahmen gegenüber dem Reichsamt des Innern rechtfertigen mussten, betonten. Sie hielten allgemeine Kontrollen jenseits bestimmter Verdachtsgründe bei dem »regen« Fremdenverkehr in Konstanz für undurchführbar. Zudem seien solche »mit einer nicht vertretbaren, empfindlichen Belästigung des reisenden Publikums verbunden«.9 Diese Ansicht teilten sie mit dem Hamburger Polizeipräsidenten, Gustav Roscher (1852–1915). Er mahnte in seinem Polizeihandbuch an, dass Ausländerkontrollen »durch die Bundesstaaten schon zwecks Anwendung von Repressalien nicht zu einer Belästigung der Personen ausarten« dürften. Deshalb seien Ausländer/innen, die sich in Privatquartieren wie Hotels oder Gasthäusern aufhielten, »nicht durch besondere Kontrollvorschriften« zu behelligen, sondern wie andere Gäste zu behandeln. Erst gesundheitliche oder kriminalpolizeiliche Interessen sollten ihre allgemeinere Kontrolle rechtfertigen.10 Die Registrierung der reichsausländischen Übernachtenden und das Vergleichen angelegter Verzeichnisse stellte folglich die vordringlichste Aufgabe der Fremdenpolizei dar. Im Detail unterschied sich deren Vorgehen zwischen den einzelnen Bundesstaaten, weil sich die Landesregierungen nicht auf eine reichsweite Vereinheitlichung einigen konnten.11 Die badischen Regierungsvertreter wandten sich noch aus einem weiteren Grund entschieden gegen lückenlose Überwachungsmaßnahmen. Einer Ausdehnung der Kontrollen stünde vor allem der offene Grenzverkehr entgegen, der einen »vollen Erfolg« nicht ermögliche. Zwischen dem schweizerischen Kreuzlingen und Konstanz existierte auf dem Landwege eine Straßenverbindung, wodurch »eine Kontrolle wegen des unmittelbaren Zusammenhangs der beiden Orte und des stetigen regen Verkehrs unausführbar« würde.12 Eine umfassende Observation nicht verzeichneter Personen fand demzufolge in der unmittelbaren Vorkriegszeit nicht statt, stieß auf politische und polizeiliche Widerstände und war darüber hinaus gekennzeichnet durch Wandlungsprozesse in der Identifikation reisender In- wie Ausländer/innen. 8 Ebd. 9 Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen an d. RAdI, 25.6.1913, in: BArch Berlin, R 1501/112030, Bl. 57 f. 10 Roscher, Großstadtpolizei, S. 92. 11 Ebd., S. 84–92 u. Fremdenpolizei, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 7, Leipzig 1907, S. 83. 12 Bad. Min. d. Großherzoglichen Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen an d. RAdI, 25.6.1913, in: BArch Berlin, R 1501/112030, Bl. 57 f.
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Identifizieren und Überwachen
Während innerhalb der kommunalen Armenfürsorge eine Unterscheidung zwischen Staatszugehörigen und Fremden an Bedeutung gewann, etablierten die deutschen Bundesfürsten mit der Dresdner Konvention von 1850 einen Generalpass, der an die Stelle von Erlaubnisscheinen für jede Reise trat. Unter dem Eindruck eines ökonomischen Liberalismus wurde daran anschließend zuerst in Preußen die Personenkontrolle an Bahnhöfen eingestellt und seit 1867 (damals noch bezogen auf den Norddeutschen Bund) der Passzwang zwischen den deutschen Bundesstaaten aufgehoben. Ausländer/innen waren nunmehr erst nach einer amtlichen Aufforderung verpflichtet, sich auszuweisen.13 Meyers Großes KonversationsLexikon erklärte ganz selbstverständlich den Auskunftssuchenden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sich die Passpflicht »mit dem steigenden Fremdenverkehr und mit der Verbesserung und Vermehrung der Verkehrsmittel, namentlich der Eisenbahnen, als ungenügend zur Kontrolle des Fremdenverkehrs und dabei als lästig für die Reisenden«, erwiesen hatte.14 Dementsprechend informierte 1907 der Baedeker für Southern Germany die ausländischen Touristen: »Passports are now unnecessary in Germany, as in most of the other countries of Europe, but they are frequently serviceable in proving the identity of the traveller, procuring admission to collections, and obtaining delivery of registered letters.«15 Grenzen fand die mobile Freizügigkeit in Bezug auf bestimmte Ereignisse, Staaten und Personengruppen. So kam es beispielsweise 1879 zur Passpflicht an der Grenze zum Russischen Reich, als dort eine Pest-Epidemie wütete.16 Zwischen 1888 und 1891 durften Ausländer/innen nur mit Pass und Visum nach Elsaß-Lothringen reisen, und französische Staatsangehörige unterlagen der Meldepflicht wie einer zeitlichen Aufenthaltsbeschränkung. Ohne eine gesonderte Erlaubnis durften sie sich nur acht Wochen im Reichsland aufhalten. 1891 trat eine Lockerung dieser Bestimmungen in Kraft, die fortan auf Militärpersonen eingeschränkt wurden.17 Ebenso sollten russländische Saisonarbeiter/innen nur mit Legitimationspapieren der deutschen Arbeiterzentrale die Reichsgrenze nach Preußen überschreiten. Die Dokumente protokollierten nicht nur ihre Personalien, sondern ebenso ihren Arbeitgeber. Vertragsabbrüche, zu denen »mangelnder Arbeitseifer« zählte, ohne die vorgesehene Umschreibung auf einen neuen Arbeitgeber konnten infolgedessen zur Ausweisung führen. Alle Legitimationskarten wurden zentral erfasst und sollten einer Umgehung des Systems vorbeugen. Erfassung, 13 Werner Bertelsmann, Das Passwesen. Eine völkerrechtliche Studie, Straßburg 1914, S. 22– 27 u. Roscher, Großstadtpolizei, S. 99–102. Zur konfliktreichen Genese der Passkontrollen vgl.: Andreas Fahrmeir, Paßwesen und Staatsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, Bd. 271 (2000), S. 57–91 u. John Torpey, The Invention of the Passport, Cambridge 2000, S. 75–92. 14 Paß, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 15, Leipzig 1908, S. 479. 15 Southern Germany. Handbook for Travellers, hg. von Karl Baedeker, Leipzig 1907, S. XII. 16 Torpey, The Invention of the Passport, S. 108 f. 17 Bertelsmann, Passwesen, S. 28–37.
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Kontrolle und Regulierung standen im Vordergrund, wenngleich viele Arbeiter/innen – zeitgenössisch wurde bis zu 20 Prozent angenommen – illegal nach Deutschland einreisten. Grundsätzlich unterlagen sie einer polizeilichen Meldepflicht. Diese Kontrollmaßnahmen dienten einerseits der ökonomischen Regulierung und Disziplinierung der Arbeitskräfte, andererseits sollte damit die Einwanderung unerwünschter, als nationale Gefahr wahrgenommener Menschen polnischer Nationalität verhindert werden.18 Gleiches galt für die osteuropäischen, meist jüdischen Auswander/innen nach Nordamerika, die für ihre Reise nach den Häfen in Hamburg und Bremerhaven bereits an der östlichen Reichsgrenze eine Schiffskarte besitzen mussten. Zwischen den beiden Polen Freizügigkeit und unbedingter Kontrolle wandelten sich die Praktiken und die Möglichkeiten polizeilicher Erfassung. Vor allem Kriminalpolizeibeamte sammelten um die Jahrhundertwende in zunehmendem Maße personenbezogene Informationen. Sie dokumentierten diese nicht mehr in Deliktregistern, sondern in Personenakten, die fortan Vorstrafen, Verdachtsmomente und verdächtige soziale Beziehungen speicherten. Die Beamten wurden zu Sammlern biographischer Wegmarken und verantworteten immer häufiger die Ausstellung von Führungszeugnissen. Im Zuge der Datenvermehrung suchten sie nach neuen Verwaltungstechniken, die sie unter anderem in Zettelkatalogen fanden. Diese eröffneten durch Kategorisierungen und Verzeichnisse vielschichtige Recherchewege. Zugleich ließen sie sich zusätzlich mit Melde- und Strafregistern vernetzen.19 Wissenschaftliche und technologische Entwicklungen vermehrten darüber hinaus die Identifikationsinstrumente. Die Hamburger Polizeibehörde stellte eine Vorreiterin in der Körpervermessung und fotografischen Erfassung Vorbestrafter dar.20 Von 1889 bis 1895 wurden unter der Leitung Gustav Roschers 42.740 Personen abgelichtet. Der Messkartenbestand der Berliner Zentralstelle für das Deutsche Reich umfasste 1902 48.786 Datensätze. Allerdings löste noch vor dem Krieg der Fingerabdruck als weniger fehleranfällige Technik die Körpervermessung ab. Die Personenerfassung erfuhr damit einhergehend etwa in Dresden und Hamburg eine entscheidende Erweiterung. Denn in diesen Städten färbten die Beamten nicht nur die Fingerkuppen von Verurteilten schwarz, sondern ebenfalls von Verhafteten.21
18 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 32–37 u. Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S. 139–177. 19 Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, S. 64–74. 20 Gustav Roscher, Die Anthropometrie in Hamburg, in: Zeitschrift für Criminal-Anthropologie, Bd. 1 (1897), Heft VI, S. 497–510. 21 Andreas Roth, Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850–1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Berlin 1997, S. 98–106.
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Verordnungen als Grundlagen der Überwachungen Im Angesicht des Krieges wähnte sich der bayerische Innenminister Maximilian von Soden einer »großen Gefahr« gegenüber, »der unser Vaterland durch die Anwesenheit deutschfeindlicher Fremder im Reichsgebiet nicht nur während der Mobilmachung[,] sondern auch während der ganzen Kriegsführung ausgesetzt ist«.22 Er forderte deshalb »alle Polizeibehörden, die Bürgermeister, die gemeindlichen Polizeibediensteten und die Gendarmerie« auf, die »Überwachung aller Fremden […] auf ihre Lebensweise, ihre Beschäftigung, ihren Verkehr mit Anderen, auf plötzliche Aufenthaltsänderungen usw.« und ihre etwaigen Bediensteten auszudehnen. Ungeachtet seiner ausgreifenden Überwachungsphantasien mahnte er an, den Zweck der Forderungen, »den Gefahren zuvorzukommen, die aus der Anwesenheit fremder Staatsangehöriger für die öffentliche Ruhe und Ordnung drohen«, nicht aus den Augen zu verlieren. Dies bedeute, dass »in vielen Fällen von weiteren Maßnahmen außer der Überwachung abgesehen werden könne«. Zwischen weitreichenden polizeilichen Zielen, die bis in das persönliche Leben der Ausländer/innen hineinreichten, und deren zweckgebundenen Begrenzung entwarfen der Innenminister und seine Mitarbeiter Richtlinien zum Umgang mit Ausländer/innen.23 Indes waren sie nicht die einzigen im Königreich Bayern, die dies taten. Anfang 1915 erinnerte sich der Münchner Polizeipräsident Ludwig von Grundherr an die »grosse Unklarheit« der ersten Kriegswochen, »wie gegenüber den feindlichen Ausländern vorgegangen werden sollte«.24 In einer Besprechung bei der Regierung Oberbayerns hatte er diese Position erläutert. »Die Volksstimmung in München war und ist ausgezeichnet. Es wurde nur Missstimmung darüber laut, dass wir nicht von Anfang an strenger gegen die feindlichen Ausländer vorgegangen sind. Dass dies geschah, rührt davon her, dass bei Kriegsbeginn niemand wusste, was man mit ihnen anfangen sollte. Zudem hatten die Distriktpolizeibehörden hier vier übergeordnete Stellen (Kriegsministerium, Generalkommando, Staatsministerium des Innern, Kreisregierung), von denen jede selbständig eingriff, so dass die Entschliessungen sich oft widersprachen. Das Staatsministerium des Innern war vielfach strenger als das Generalkommando.«25
22 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Regierungen (KdI) u. d. Distriktspolizeibehörden, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976 u. in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.). 23 Vgl. Tab. 3. 24 Polizeidirektion München (gez. v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 25 Niederschrift über Verhandlungen, betr. Verwaltungsaufgaben im Krieg, bei d. Regierung von Oberbayern, 5.11.1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53976.
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Aus diesem Grund hatte der Polizeipräsident nachdrücklich empfohlen, die »Zuständigkeitsverhältnisse bezüglich der Ausländer […] besser« zu regeln. In gleichem Sinne äußerte sich der Regierungsrat in Bad Tölz, August Fischer (1864– 1916). »Wegen der Ausländer schließe ich mich den Worten des Herrn Polizeipräsidenten an. Hier herrschte eine große Verwirrung. Zu der Aufregung der Bevölkerung kamen die schwankenden Direktiven von oben. Man vermißte eine stramme, straffe Direktive.«26 Der Münchner Polizeipräsident sah sich unter anderem mit den nachfolgenden Unstimmigkeiten konfrontiert. Erstens besaß er zu Kriegsbeginn keine Weisungen, wie der Umgang mit Ausländer/innen aussehen sollte. Zweitens »konnte längere Zeit keine Klarheit darüber erhalten werden, welche Behörde zur Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen […] zuständig sei«. Vom Staatsministerium des Königlichen Hauses und Äußern über die Regierung von Oberbayern und das stellvertretende Generalkommando in München bis zur Stadtkommandantur reichten die Akteure, die Zuständigkeit in dieser Frage beanspruchten. Drittens existierten widersprüchliche Aussagen zur Durchführung der Bestimmungen. Zunächst kamen bei »der Frage, wie mit den schweizerischen Maschinenarbeitern, die nach Russland reisen, zu verfahren ist, […] mindestens vier sich widersprechende Weisungen« in der Münchner Polizeibehörde zusammen. Sodann verlangte bei der Festnahme britischer Wehrpflichtiger im November 1914 »das Stellvertretende Generalkommando I. Armeekorps möglichst strenges Vorgehen, das K. Staatsministerium des Innern weitgehende Milde.« Viertens behielt die Münchner Militärbehörde den durch die Polizeidirektion erstellten Meldekatalog längere Zeit ein. Dadurch konnten die Beamten vor Ort selbst nicht auf diesen zurückgreifen und anderen Behörden Bericht erstatten. Fünftens arbeitete die Polizeidirektion dem Münchner Generalkommando bereitwillig zu. Allerdings missachtete dieses in einigen Spionagefällen den polizeilichen Verantwortungsbereich und die zivilen Ermittlungen. Sechstens deutete sich ein grundsätzlicher Konflikt zwischen der Zivil- und der Militärbehörde an, deren Verständigung sich als schwierig herausstellte. »Das Eingreifen des Stellvertretenden Generalkommandos […] im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie dessen Anordnungen auf wirtschaftlichem Gebiet sind seither stets ohne Fühlungnahme mit der K. Polizeidirektion erfolgt«, beklagte sich der Polizeipräsident. Aber aufgrund »ihrer langjährigen Erfahrungen« glaubte er, dass sie »mit den einschlägigen Verhältnissen wohl am besten vertraut ist«.27 Ludwig von Grundherr skizzierte mit seiner Beschwerde ein Panorama an möglichen Problemen innerhalb der zivil-militärischen Verwaltungen. Ähnliche Klagen sollten während des Krieges nicht verstummen, obwohl es seitens 26 Ebd. 27 Polizeidirektion München (gez. v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976.
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der Militärbefehlshaber Versuche gab, die Zuständigkeitsbereiche der Zivilverwaltungsbehörden abzugrenzen und Verordnungen zu vereinheitlichen.28 Zugleich eröffnen seine Äußerungen eine kritischere Lesart. Denn er und der Bad Tölzer Regierungsrat konnten ihre Verantwortung hinter den Verweisen auf externe Widersprüche unauffällig verschwinden lassen. Ihr Zögern lässt in der Frage der Ausländer/innenbehandlung und in der Gewichtung eingehender Verfügungen weitreichende Unsicherheiten erkennen. Der Polizeipräsident und viele andere Verantwortliche hatten aus dieser historischen Perspektive kaum Vorstellungen davon, wie der institutionell zu erzielende und der öffentlich akzeptierte Umgang mit Ausländer/innen im Krieg aussehen sollte. Um solche drängenden Fragen zu klären, kamen Mitte August 1914 erstmals Vertreter der Heeresführung und der Reichsministerien im Reichsamt des Innern zu Gesprächen zusammen.29 Im Anschluss daran forderte der Reichskanzler die Bundesregierungen dazu auf, die ungefähre Anzahl und den Aufenthaltsort der Ausländer/innen zu ermitteln und zu dokumentieren, »was bisher mit diesen Ausländern im dortseitigen Staatsgebiete geschehen ist«.30 Noch 1917 ersuchte er um »einen Überblick über die Bewegung und den derzeitigen Stand des Besuchs der deutschen Hochschulen […] durch Ausländer«.31 Diese offengelegte Unkenntnis der Reichsadministration gründete vor allem in bundesstaatlichen Hoheitsrechten. Mangelnde Informationen bildeten den Ausgangspunkt intensiver Bemühungen, die Zielsetzungen wie die Praktiken der Überwachung zu synchronisieren und zu standardisieren. Dies sollte vorrangig mit Hilfe und unter dem Druck der Militärbehörden erreicht werden. Die vor Ort stattgefundenen Kontrollen und Überwachungen stellten weniger einen beständigen Zustand als vielmehr einen mühevollen und teilweise widersprüchlichen Prozess dar. Befugnisse und Zuständigkeitsbereiche, das Nebeneinander von Zivil- und Militärrecht, die Leitideen und Handlungsspielräume im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen mussten zwischen staatlichen Akteuren ausgehandelt und kontinuierlich bestätigt werden. In diesem Zusammenhang traf die Einschätzung Clemens von Delbrücks, dass »alle auf die Mobilmachung bezüglichen Gesetzentwürfe fertig dalagen und daß auch alle sonstigen mit ihr zusammenhängenden Maßnahmen bis auf die geringste Kleinigkeit vorbereitet 28 Bsp.: Verfügung d. stv. Gkdos. VII. AK, betr. Regelung d. Zuständigkeiten d. Zivilverwaltungsbehörden, 23.6.1915, in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 13, S. 26–28; Stv. Gkdo. XIV. AK, betr. Vereinheitlichung d. Verordnungen, an u. a. d. bad. Militärbehörden, 25.7.1916, in: Ebd., Dok.-Nr. 20, S. 41 f. 29 Protokollent. d. Besprechung im RAdI, betr. d. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30–33. 30 Rundschreiben d. Reichskanzlers (RAdI) 18.8.1914, (Aktenexemplar) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 39 f. u. in: GLA 236/23175. 31 Reichskanzler (RAdI) an u. a. d. Bundesregierungen, 29.10.1917, in: StA Hamburg, 111–2, L z 40.
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waren«, gerade nicht auf die Behandlung der Ausländer/innen zu.32 Die Münchner Widersprüche zeigten sich in vielen Teilen des Deutschen Reiches in unterschiedlich starker Ausprägung. Die Beamten vor Ort agierten gleichwohl innerhalb eines akzeptierten Methodenkanons, der sich über die Reichsgrenzen hinweg in den europäischen Staaten gleichen sollte. Die polizeilichen Techniken der Pass- und Anwesenheitskontrollen waren vermittelte und eingeübte Verfahren, um die körperliche Präsenz ausländischer Staatsangehöriger zu überwachen.33 Bereits am 31. Juli 1914 erließ die Reichsleitung die Verordnung betreffend der Einführung der Passpflicht. Ausländische Staatsangehörige waren infolgedessen verpflichtet, »sich durch Paß oder Paßkarte […] auszuweisen«.34 Ausgenommen davon blieben russländische Saisonarbeiter/innen, die sich mit ihren Legitimationskarten der Arbeiterzentrale identifizieren sollten.35 Ermessensspielräume ergaben sich für die Zivilbehörden aus der Möglichkeit, andere amtliche Papiere als Passersatz anzuerkennen. Wie sich zeigte, war dies oftmals unvermeidbar. Denn viel Ausländer/innen hatten keine oder in den Augen der Beamten nur ungenügende Papiere.36 Dies betraf in großer Zahl seit längerer Zeit im Deutschen Reich Ansässige »wie Kaufleute, Beamte, Dienstboten«. Sie konnten sich oftmals nur durch Heimatscheine ausweisen, die sie aufgrund ihrer Aufenthaltsdauer erhalten hatten und die ihren Wohnort wie die zuständige Fürsorgestelle bestätigten. »Die Beschaffung der Pässe wird diesen Leuten teilweise gar nicht möglich, zum Teil mit großen Schwierigkeiten verbunden sein«, urteilte der stellvertretende kommandierende General des VII. Armeekorps.37 Folglich war die Norm der Pässe als Ankerpunkt von Identifizierung und Kontrolle selbst in hohem Maße konfliktbehaftet. Mehrere Momente der Passausstellung verdeutlichen dies. Britische Staatsangehörige hatten die Möglichkeit, sich ihre Pässe in US-amerikanischen Konsulaten ausstellen zu lassen. Ihre zu bestätigende staatsbürgerliche Zugehörigkeit konnte hierbei auf die Widerspenstigkeit der Dinge treffen. Denn die Pässe sabotierten mitunter eine zweifelsfreie polizeiliche Erkennung. Die womöglich in Kauf genommene Verwirrung ging von den Konsulatsbeamten aus, die ihre gängigen Passvorlagen für US-Amerikaner verwendeten. Sie unter32 Delbrück, Die wirtschaftliche Mobilmachung, S. 106. 33 Torpey, The Invention of the Passport, S. 111–116 u. Ders., The Great War and the Birth of the Modern Passport System, in: Jane Caplan u. John Torpey (Hg.), Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton 2001, S. 256–270. 34 Verordnung betr. d. Einführung d. Passpflicht, 31.7.1914, in: RGBl. 1914, S. 264 f. 35 Reichskanzler (RAdI) an d. preuß. Kriegsminister, 27.7.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 2 f. u. Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 1.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 26. 36 Unter anderem: Polizeidirektion München (Polizeipräsident v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 37 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an d. Preuß. KM, 27.1.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/ 112160, Bl. 235.
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schieden die abweichende Staatsbürgerschaft der Antragsteller/innen erst mit einem Stempel. Dessen (Un-)Sichtbarkeit konnte bei den Grenzkontrollen darüber entscheiden, ob Kontrolleure in den Grenzstationen wehrpflichtigen, britischen Passinhabern eine Ausreise gegen die Bestimmungen gestatteten. Denn der »im Text der Pässe meist durch einen Gummistempel angebrachte und mitunter wenig deutliche Vermerk ›british subject‹ wurde dabei übersehen«, klagten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes gegenüber der US-amerikanischen Botschaft.38 Indem der Stempel nicht »ohne weiteres augenfällig« war und die farbige Signatur der Staatsangehörigkeit ihre Konturen verlor, erfuhr die territoriale Grenze des Reiches eine für Einzelne zeitlich begrenzte Durchlässigkeit. Die verwirrende Sichtbarkeit staatlicher Zugehörigkeiten betraf nicht nur Dokumente diplomatischer Vertretungen. Laut dem Münchner Polizeipräsidenten übergaben bayerische Polizeibehörden ausländischen Staatsangehörigen »deutsche Reisepässe«, »aus denen öfters nicht einmal zu entnehmen war, dass es sich um Nichtdeutsche handelte«.39 Der Pass hatte offenbar für die zuständigen Beamten vordergründig die Funktion eines Ausweispapiers oder einer Abreisegenehmigung innegehabt. In beiden Fällen verbanden sie die Erkennung des rechtmäßigen Inhabers nicht mit dem Merkmal der Staatsangehörigkeit. Bisweilen spielte diese in den ersten Kriegsmonaten für Polizeibeamte nur eine nachrangige Rolle und deren Abfrage musste (noch) nicht zu den Automatismen ihrer täglichen Arbeit gehören. Zur gleichen Zeit konnten ebenfalls russländische Staatsangehörige mit Missverständnissen rechnen. Boris Ionovič Birukov entging zu Kriegsbeginn der Kasernierung, weil der visierende Polizeibeamte seinen Pass in russischer Sprache nicht lesen konnte. Einen Hinweis hinter seinem Familiennamen, dass die Ausstellungsgebühr entrichtet worden war, interpretierte der Kontrolleur als Altersangabe, wie es in anderen ausländischen Pässen üblich war.40 So konnte Birukov als älterer Nicht-Wehrpflichtiger zur Seite treten. Neben die mitunter uneindeutigen aber bundesstaatlich standardisierten Passdokumente traten im Laufe des Krieges weitere Ausweispapiere. Allein die Mitarbeiter der Berliner Polizeiämter händigten bis zum Sommer 1917 30.000 Ersatzpässe aus.41 Ihre Kollegen in der Dresdner Polizeidirektion wie in den übrigen 38 Verbalnote d. AA (Abt. III b) an d. Botschaft d. Vereinigten Staaten von Amerika, 29.9.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 164 u. Note verbale, Embassy of the United States of America, 29.9.1914, (Abs.) in: Ebd. u. Preuß. Finanzministerium (i. A. gez. Köhler) hier an d. Staatssekretär d. Reichsmarineamtes, 29.9.1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 4. Zuerst hatte Gustav Roscher, der Hamburger Polizeipräsident, auf die zweideutigen Papiere aufmerksam gemacht. Siehe: Hamburger Polizeipräsident (gez. Roscher) an d. Admiralstab d. Marine, 12.9.1914, (Abs.) in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5367, Bl. 128. 39 Polizeidirektion München (Polizeipräsident v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 40 Boris Ionovič Birukov, V germanskom plěnu. Otgoloski perežitogo, Saratow 1916, S. 57. 41 Stv. Generalstab d. Armee (Abt. III b, Sektion Abwehr) an d. Zentralpolizeistelle Württemberg, 23.7.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 817.
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Ämtern des sächsischen Königreiches hatten zuvor gültige Pässe konfisziert und gegen gesonderte Inlandsausweise umgetauscht.42 Reichsweit sollten zudem seit Januar 1918 Zivilbehörden auf Anordnung des Preußischen Kriegsministeriums keine Pässe akzeptieren, die Vertreter neutraler Konsulate ausgestellt hatten. Wiederum mussten Ersatzpapiere ausgegeben werden.43 Ihre formale wie inhaltliche Gestaltung war der Ursprung einer Vielfalt anerkannter Identifikationsdokumente. Sie reichten von der Verwendung amtlicher Vordrucke bis zum handschriftlich verfassten Papierbogen, von einfachen DIN-A5-Karten mit wenigen Angaben bis zu umfangreichen Personenbeschreibungen im Folioformat.44 Zu diesem Papiergemenge traten Kompetenz- und Zuständigkeitsdispute zwischen Zivilbeamten und Militärbefehlshabern hinzu. Sie stritten um Genehmigungsverfahren, Ausnahmeregelungen, Ausgabe- und Visierungsrechte. Die Verordnung betreffend der Einführung der Passpflicht erfuhr nicht zuletzt wegen der vielfältigen Unstimmigkeiten im Dezember 1914 Erweiterungen.45 Andere Ausweisdokumente als den Pass, der zum maßgeblichen Identifikationsmedium werden sollte, durften fortan nur die Militärbefehlshaber legitimieren. Gleichzeitig spezifizierte die Verordnung die formalen Kriterien der Pässe. Sie mussten eine Personenbeschreibung enthalten, »mit einer Photographie des Paßinhabers aus neuester Zeit mit dessen eigenhändiger Unterschrift« und »mit einer amtlichen Bescheinigung darüber versehen sein, daß der Paßinhaber tatsächlich die durch die Photographie dargestellte Person ist«.46 Eine erneute Überarbeitung, formale Vereinheitlichung und Verdichtung der Passverordnung folgte im Sommer 1916.47 Zukünftig sollte der Reichskanzler über 42 Verbalnote, Spanische Gesandtschaft in Berlin an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 28.4.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3367, Bl. 38 u. Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI, 14.5.1917, in: Ebd., Bl. 33. 43 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Müller), 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 1 f. 44 Andreas Reisen, Der Passexpedient. Geschichte der Reisepässe und Ausweisdokumente – vom Mittelalter bis zum Personalausweis im Scheckkartenformat, Baden-Baden 2012, S. 93– 105. 45 Verordnung betr. anderweite Regelung d. Paßpflicht, 16.12.1914, in: RGBl. 1914, S. 521 f. 46 Die Pflicht einer abgestempelten Fotografie im Pass wurde bei Ausreisen aus dem Reichsgebiet bereits am 23. Oktober 1914 vom Chef des Stellvertretenden Generalstabes der Armee angeordnet. Siehe: Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an u. a. d. Sächs. KM, 23.10.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 80. 47 Verordnung betr. anderweite Regelung d. Paßpflicht, 21.6.1916, in: RGBl. 1916, S. 599–601 u. Bkm. betr. Ausführungsvorschriften zu der Paßverordnung, in: Ebd., S. 601–608 u. Vorlage Personalausweis als Passersatz, in: Ebd., S. 609. Die Verordnung wurde begleitet von Erleichterungen bei Grenzübertritten für Mitglieder der regierenden Häuser, für Mitglieder beglaubigter diplomatischer Missionen, für deutsche Regierungskuriere und Kuriere fremder Gesandtschaften und Regierungen. Siehe: Grenzerleichterungen bei Reisen von u. nach d. Auslande, hier: Württ. KM zur Kenntnisnahme d. Württ. Staatsministeriums, 17.6.1916, in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1152, Qu. 269/270.
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die Ersatzdokumente entscheiden und die Militärbefehlshaber nur an den Reichsgrenzen Ausnahmegenehmigungen erlassen. Für die Aus- wie Einreise benötigten die Passinhaber/innen einen behördlichen Sichtvermerk, der den Reisezweck sanktionierte. Familienpässe, in die zuvor mehrere Personen eingetragen werden konnten, wurden abgeschafft. Zur Ausstellung eines Personalausweises als Passersatz erhielten die Behörden einen Mustervordruck. Neben den Personenmerkmalen sollte auf diesem eine etwaige frühere Staatszugehörigkeit eingetragen werden. Auf Grundlage des Vermerkes konnten Visierende jederzeit erneut die Frage nach der Loyalität des Einzelnen gegenüber der ›deutschen‹ Kriegsgesellschaft stellen. Die Passvorlage wie die ausführlichen Sichtvermerksbestimmungen bedeuteten keineswegs das Ende der Dokumentenvielfalt. Unterschiedliche Personenausweise fanden weiterhin Verwendung, zum Beispiel im sächsischen Görlitz. Die dortige Polizeiverwaltung verwendete noch ein Jahr später kleinere Vordrucke. Während auf diesen die Angabe einer etwaigen vormaligen Staatsangehörigkeit fehlte, prangte oberhalb in fetten Lettern der Vermerk »nicht spionageverdächtig«.48 Die Passpflicht stellte lediglich ein Element der Überwachung ausländischer Staatsbürger/innen dar. Sie wurde begleitet von umfangreichen lokalen Kontrollmaßnahmen, die die Innenministerien der Länder und die Militärbehörden erlassen hatten. Die Vorgaben in den territorialen Einzelstaaten und militärischen Befehlsbereichen beruhten auf regionalen Erwägungen wie der Nähe zur Reichsgrenze, den Absprachen zwischen einzelnen Bundesstaaten49 und den Richtlinien des Preußischen Kriegsministeriums wie des stellvertretenden Generalstabes. Die kriegsbedingte Kombination aus Allgemeinverordnungen und Sonderregelungen ergänzte fortan die unterschiedlichen Kontrollpraktiken der Vorkriegszeit und die situationsabhängige Vorgehensweise der Polizei. Infolgedessen brachten die föderalen Entscheidungsträger ein unübersichtliches Richtlinien- und Durchsetzungsmosaik hervor. Um der Uneinheitlichkeit entgegenzuwirken, veröffentlichten die Verantwortlichen der preußischen Heeresverwaltung regelmäßig Zusammenstellungen der ergangenen Regelungen. Sie appellierten wiederholt an deren Beachtung sowie gleichförmige Umsetzung im ganzen Reichsgebiet.50 48 Reisen, Der Passexpedient, S. 103 (Abb. 71 u. 72) u. 105. 49 Z. B.: Bericht d. Sächs. Gesandten in München, Nr. 207 (gez. v. Stieglitz), 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10717/2280, Bl. 4 f. 50 Preuß. KM, Zusammenstellung d. über Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten erlassenen Bestimmungen, 10.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 41 ff. Eine erste Aktualisierung erging am 9. November 1914: Verordnung d. Preuß. KM, betr. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten, d. sich bei Ausbruch d. Krieges im Deutschen Reich aufhielten, 9.11.1914, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 817, Bl. 22 ff. u. in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 106 ff. u. abgedruckt in: Held, Zivilgefangenschaft, S. 682–684. Eine weitere erging am 17. Mai 1915: Bkm. durch d. Okdo. in d. Marken, 17.5.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3355, Bl. 7 u. Bkm. durch d. stv. Gkdo. XIII. AK, 17.6.1915, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 820, Bl. 3a u. Bkm. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 22.6.1915, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 82.
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Die meisten geltenden Meldebestimmungen forderten ein, dass »[a]llen über 15 Jahren alten Angehörigen feindlicher Staaten […], soweit es nicht schon geschehen, und soweit sie nicht verhaftet sind, die Verpflichtung bis zu täglich zweimaliger Meldung bei der Polizei aufzuerlegen« sei.51 Seit 1915 konnte die polizeiliche »Aufsichtspflicht« auf Arbeitgeber übergehen, um unterbrechungsfreie Arbeitszeiten zu gewährleisten. Des Weiteren unterrichtete das Berliner Kriegsministerium die zuständigen Behörden, dass die »Bevölkerung […] von Zeit zu Zeit durch Veröffentlichungen in Amtsblättern und allgemein gelesenen Zeitungen sowie durch Festsetzung von Ordnungsstrafen anzuhalten [sei], daß alle Ausländer feindlicher Staaten sofort anzumelden sind«. Die Einbeziehung von Zivilisten fand ebenso bezüglich der russländisch-polnischen Saisonarbeiter/innen statt. »Da es dringend nötig ist, die russischen landwirtschaftlichen Arbeiter an ihren Arbeitsstellen in Deutschland festzuhalten,« informierten Anfang 1915 mehrere stellvertretende Generalkommandos, »wird die Bevölkerung gebeten, zum Wohle des Vaterlandes hierbei mitzuwirken und die Bahn- und Polizeibeamten auf reisende russische Arbeiter und Arbeiterinnen jeder Art aufmerksam zu machen«.52 Wie bei der eingeforderten Wachsamkeit vor möglichen Spionage- und Sabotageakten sollte die Durchführung der Überwachungsmaßnahmen nicht auf staatliche Akteure beschränkt bleiben. Tägliche Erledigungen oder Reisen feindlicher Staatsangehöriger, die Bezirksgrenzen überschritten, mussten von den zuständigen Polizeiämtern des Ab- wie des Ankunftsortes protokolliert werden. Der Wechsel des Aufenthaltsortes sollte unterdessen eine Ausnahme darstellen, die durch die stellvertretenden Generalkommandos genehmigungspflichtig war und Berlin als neuen Aufenthaltsort ausschloss. Schließlich wurde ihnen ein mündlicher und schriftlicher Verkehr ins feindliche Ausland zunächst untersagt und später nur eingeschränkt gestattet. So transportierte die Post im Großherzogtum Baden lediglich Briefe, deren ausländische Absender/innen die lokale Polizeibehörde durch einen Stempel als vertrauenswürdig markiert hatte.53 Korrespondenzen nach neutralen Staaten unterlagen generell einer Prüfung in den militärischen Überwachungsstellen. Zusätzlich beteiligten sich die Mitarbeiter der Postdirektionen an der Ausländer/innenkontrolle. Sie erhielten von den stellvertretenden Generalkommandos Verzeichnisse der auf freiem Fuß lebenden »verdächtigen Persönlichkeiten (auch Inländer)«. 51 Vorschrift für d. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten (Neudruck), Herbst 1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1985. Im Militärbezirk des Kasseler Generalkommandos war abweichend eine täglich einmalige Meldung vorgesehen. Siehe: Bkm. durch d. stv. Gkdo. XI. AK, 5.6.1915, in: HStA Weimar, Thüringisches Oberlandesgericht Jena, Nr. 903, Bl. 17. 52 Bkm. (zum Aushang am Bahnhof) d stv. Gkdos. IV., XII. u. XIX. AK, 15.2.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 70 f. 53 Bad. MdI an. d. Bad. BzÄ, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, Briefverkehr, 2.12.1916, (Telegramm-Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23199.
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Alle an diese eingehenden »und auch sonst ihnen verdächtig erscheinenden Postsendungen« hatten sie an die Militärbehörden weiterzuleiten.54 Unter einer besonderen Beobachtung standen wehrpflichtige feindliche Ausländer. Sie waren am Aufenthaltsort festzuhalten, sobald sie für einen eingeschränkten Militärdienst in Frage kamen. Bei Flucht- oder Spionageverdacht galten sie als Kriegsgefangene. Lediglich japanische und serbische Staatsangehörige durften nach wenigen Wochen ausreisen, da ihre Regierungen die volle Gegenseitigkeit verbürgt hatten.55 Eine äquivalente restriktive Behandlung vereinbarten Heeresführung und Reichsleitung für russländisch-polnische Arbeiter/innen. »Sie haben sämtlich den Winter über am Orte ihrer bisherigen Arbeitsstelle zu verbleiben und dürfen die Grenzen des Ortspolizeibezirkes nicht ohne schriftliche Genehmigung der Ortspolizeibehörde überschreiten«, gaben im Oktober 1914 die stellvertretenden Generalkommandos bekannt. Dies betraf nicht nur die wehrfähigen, sondern alle Saisonarbeiter/innen, »[s]olange die unmittelbare Heimkehr in die Heimat aus militärischen oder Verkehrsrücksichten nicht ausführbar ist«.56 Im ersten Kriegswinter sollte diese Maßnahme massenhaften Entlassungen vorbeugen und die sich daran anschließende »Unterbringung in besonderen Lagern« unter allen Umständen vermeiden.57 Denn eine Internierung der Arbeiter würde »sehr erhebliche staatliche Aufwendungen erfordern«, wie ebenso der westpreußische Regierungsrat Max Dolle anmerkte.58 Im Laufe des Krieges gewannen die »Verhältnisse des Arbeitsmarkts« eine höhere Bedeutung, um »die inländische Volkswirtschaft auf der Höhe ihrer durch die Abgeschlossenheit des Reichs vom Weltverkehr bedingten Produktion« zu halten. Deshalb galt es als »ideales Ziel, […] die ausnahmslose und dauernde Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bei dem bisherigen Arbeitgeber« zu ermöglichen.59 Faktisch bedeutete dies einen Arbeitszwang.60
54 Preuß. KM, betr. Behandlung Angehöriger feindlicher Staaten, d. sich bei Ausbruch d. Krieges im Deutschen Reich aufhielten, 9.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 106–110. 55 Ebd. 56 Exemplarisch: Bkm. stv. Gkdo. XII. AK, 5.10.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 7. Für die industriellen Arbeiter/innen erging in Sachsen eine Verordnung des Innenministeriums: Sächs. MdI an u. a. d. KrhM u. AmhM, 11.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 17. 57 Preuß. KM an sämtl. stv. Gkdos., 30.9.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 6 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 22. 58 Ober-Präsident d. Provinz Westpreußen (Berichterstatter: Regierungsrat Dr. Dolle) an d. Minister d. Innern u. Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten, 5.12.1914, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1135, 1. Adh. S Beiheft 2. 59 Bkm. d. preuß. Minister d. Innern, d. Ministers für Handel u. Gewerbe, d. Ministers für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten, d. stv. Kriegsministers, betr. Behandlung d. russischen Arbeiter, an sämtl. Oberpräsidenten, 24.9.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 119. 60 Weiterführend: Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 91–98.
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Rechtlich legitimiert wurde die Zurückhaltung der osteuropäischen Arbeiter/innen im Deutschen Reich über die Gültigkeit ihrer Arbeitsverträge. Die Militärbefehlshaber verkündeten im Herbst 1915 ausdrücklich, dass es »[a]llen russischen Arbeitern männlichen und weiblichen Geschlechts […] bis auf weiteres auch künftig hin verboten [ist], rechtswidrig das Inland zu verlassen«. Mit Blick auf deutsche Staatsangehörige im Russischen Reich und völkerrechtliche Bedenken sollten davon Frauen und Nicht-Wehrpflichtige ohne Arbeitsverträge ausgenommen sein.61 Sie benötigten allerdings zur Ausreise einen visierten Pass und eine Fahrkarte in ein neutrales Land. Dass es sich bei ihnen um vereinzelte Ausnahmen ohne »praktische Bedeutung« handeln würde, stand für die Militärvertreter außer Zweifel. Denn die Arbeiter/innen »werden beim Ablauf ihrer derzeitigen Arbeitsverträge neue für die Wintermonate und das Wirtschaftsjahr 1916 geltende Arbeitsverträge abzuschließen haben«.62 Dies bedeutete in letzter Konsequenz für Arbeitgeber und -nehmer eine verordnete Vertragsverlängerung, die neben Drohungen ebenfalls mit vereinzelten Festnahmen durchgesetzt wurde.63 »Falls es bis zum 31. Januar 1916 nicht gelingt, mit den in der Landwirtschaft oder ihren Nebenbetrieben beschäftigten russischen Arbeitern oder Arbeiterinnen neue Verträge abzuschließen,« bestimmten die stellvertretenden Generalkommandos, »sind die alten Verträge mit einem Lohnzuschlag von 20 Pf. auf die Person und den Tag gerechnet auch für die Wintermonate und das Wirtschaftsjahr 1916 als bindend anzusehen«.64 Die sich aus der verordneten Gültigkeitsverlängerung ergebenden Konflikte fielen in den Verantwortungsbereich der Polizeibeamten. Zwar hatten diese »in erster Linie anzustreben, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf friedliche Weise im Wege der Einigung zu regeln«, gleichwohl rechneten die Militärverantwortlichen durchaus mit dem Gegenteil. »Wo dies aber nicht möglich sein sollte, muß den Ausländern mit Nachdruck zum Bewußtsein gebracht werden, dass erforderlichenfalls gegen sie mit Gewalt – Unterbringung in Gefangenen-
61 Im Bereich des stellvertretenden Generalkommandos des XI. Armeekorps sollte für diese Personengruppe »im Falle eines dringenden Notstandes« eine Beurlaubung »für bestimmte Zeit in die Heimat« möglich sein. Siehe: Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen zu d. Befehl betr. d. russischen Arbeiter, stv. Gkdo. XI. AK (gez. v. Tettau), 1.11.1915, in: HStA Weimar, Thüringisches Oberlandesgericht Jena, Nr. 903, Bl. 49 f. 62 Bkm. d. Okdo. in d. Marken, 30.10.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 137 f. u. Bkm. d. stv. Gkdos. VII. AK, 1.11.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 146 ff. u. Bkm. d. stv. Gkdos. XII. AK, 30.10.1915, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 7 f. 63 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 92 f. 64 Exemplarisch: Bkm. d. Sächs. MdI im Anschluss an d. Bkm. d. sächs. stv. Gkdos., 18.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 191 u. für das Jahr 1917: Bkm, d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 19.1.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 13 ff. u. für das Jahr 1918: Bkm. d. stv. Gkdos. XII. AK, 13.12.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 63.
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lagern – vorgegangen werden wird.«65 Gustav von Kessel, der Oberbefehlshaber in den Marken, bemerkte hierzu: »Das wichtigste Erfordernis […] ist die unbedingte Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin unter den Leuten. Jeder Versuch der Überschreitung der bestehenden Bestimmungen, des Kontraktbruches, des Widerstandes usw. muß mit größter Strenge im Keime erstickt werden. Dazu ist es notwendig, dass nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die Behörden dauernd ihr Augenmerk auf das Verhalten der Leute richten. Bei leichteren Vergehen wird oft eine Ermahnung durch die Zivilbehörden genügen.«66 Die Festnahme und anschließende Internierung ausländischer Arbeiter/innen sollte aufgrund kriegswirtschaftlicher Interessen zumeist das letzte polizeiliche Sanktionsinstrument sein. Diese Prämisse verteidigte beispielsweise der sächsische Generalkommandeur Hermann von Broizem (1850–1918) gegenüber dem Landeskulturrat des Königreiches. »Das Bestreben des stellvertr. Generalkommandos geht dahin,« schrieb er, die »Landarbeiter der Landwirtschaft als Arbeiter zu erhalten. Es sucht daher alles zu vermeiden, was eine Festnahme zur Folge haben müßte und damit eine Lahmlegung der Arbeitskräfte«. Er wies damit die Forderung des beratenden Gremiums nach einer »allgemeinen Drohung« zurück. Diese müsste häufigere Festnahmen nach sich ziehen, »wenn sie nicht eine leere Geste sein soll«, und würde »die ruhigeren Elemente« in Sorge versetzen.67 Die sächsischen Zivilbehörden ermahnte er Anfang 1915 nach entsprechenden Vorkommnissen, dass die »Festnahme russischer Arbeiter […] nur zulässig [ist], wenn sie aus besonderen Gründen, z. B. wegen Aufsässigkeit, Widersetzlichkeit, verbotenen Verlassens des Ortspolizeibezirks, Spionageverdachts u. a. geboten ist«.68 Solche wahrgenommenen kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten überwogen in der Regel gegenüber dem Willen zu weitreichenden Sanktionen. Eine Ausnahme bildete der Münchner Militärbefehlshaber, Luitpold von der Tann-Rathsamhausen (1847–1919). Er ordnete den Polizeiämtern 1916 an, ohne Ausnahmen Arbeiter/ innen zu internieren, »die bis 5. Februar 1916 keine Verträge abgeschlossen haben
65 Sächs. KM, betr. ausländische landwirtschaftliche Arbeiter, an d. stv. Gkdo. XII. AK, 4.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 23 f. 66 Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen zu d. Bkm. vom 30.10.1915, betr. d. russischen Arbeiter, d. Okdo. in d. Marken (Schlussbemerkungen), in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 139–143. 67 Landeskulturrat für d. Königreich Sachsen an d. stv. Gkdo. XII. AK, 6.2.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 72 u. Antwortnote d. stv. Gkdo. XII. AK, 24.2.1915, in: Ebd., Bl. 73 f. 68 Beschluß d. Sächs. MdI, aufgrund d. Erlasses d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, an d. Sächs. KrhM u. AmhM, Stadträte d. Städte mit rev. Städteordnung, d. Polizeidirektion u. d. Polizeiämter, 25.2.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 58.
Sicherheit zwischen Mobilität und Technik
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und sich weigern, unter angemessenen Bedingungen Verträge überhaupt abzuschließen«.69 Obwohl einige sächsische Polizeibeamte zu Festnahmen neigten, konnte im Innenministerium des Königreiches ein entgegengesetztes, liberales Handeln lokaler Polizeivertreter registriert werden. Die Grenzstation Grabow im Kreis Schildberg vermeldete im Herbst 1914, dass »eine erhebliche Menge von Westen kommender russischer landwirtschaftlicher Arbeiter und Arbeiterinnen zusammenströmt, die ihre bisherige Arbeitsstelle nach Beendigung der Erntearbeiten ungehindert verlassen haben und mit der Bahn bis an die Grenze gelangt sind«.70 Ein gewisser Eigensinn lokaler Verantwortungsträger machte sich ebenso im Winter 1916 bemerkbar. Die Proklamation des Königreiches Polen nahmen sächsische Amtshauptmannschaften zum Anlass, um eigenmächtig eine »Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkung« zu veranlassen.71 Während 1916 die Polizeibehörden im Befehlsbereich von der Tanns angehalten waren, »mit allem Nachdruck dahin zu wirken, daß die Bestimmungen über das Ortswechselverbot der russisch-polnischen Arbeiter […] unnachsichtlich durchgeführt werden«,72 korrigierten die Berliner Militärverantwortlichen eben dieses restriktive Verbot. Nach der Gewährung von Ermessensspielräumen für »zweckdienliche Erleichterungen« im Alltag,73 verfügten sie schließlich im November 1917 »ohne Einschränkung«, dass der Ortswechsel wie Kirchenbesuche und »für alle zur täglichen Lebenshaltung notwendigen Gänge« – »zum nächsten Arzt, Apotheker und zur nächsten Hebamme«74 – statthaft sei und hierzu eine generelle einjährige Genehmigung genüge.75 Ablehnung durch staatliche Akteure erfuhren die Überwachungsmaßnahmen, die tief in den Arbeits- und Lebensalltag ausländischer Staatsangehöriger eindrangen, vielfach aus wirtschaftlichen Gründen. Ihr prominentester Kritiker war Theodor Lewald, der Ministerialdirektor des Reichsamts des Innern. Am 7. November 1914 hatte er aus der Zeitung erfahren, dass das Oberkommando in den Marken gegen die »Angehörigen der sich mit uns im Kriege befindenden Staaten (Männer, Frauen und Kinder über 15 Jahren)« strenge Vorschriften erlassen hatte. Zur gleichen Zeit, als die Internierung britischer Wehrpflichtiger auf der Trabrennbahn 69 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 19.2.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.). 70 Sächs. MdI an u. a. d. Sächs. KrhM u. AmhM, 21.11.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 22. 71 Preuß. KM an d. Sächs. KM, 14.11.1916, (Telegramm) in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 242. 72 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 19.2.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.). 73 Preuß. KM, betr. russische Saisonarbeiter, 2.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 27. 74 Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen zu d. Befehl, betr. d. russischen Arbeiter, 1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16101. 75 Preuß. KM, betr. polnische Arbeiter, 21.11.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 59 f.
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in Ruhleben erfolgte, irritierte ihn, wie Ausländer/innen in Berlin am Verlassen des Polizeibezirkes ihres Wohnsitzes gehindert wurden. Seitens des Reichsamtes seien bereits in einer Beratung Einwände gegen eine Verschärfung der Vorschriften, besonders in Berlin, erhoben worden. Denn »[b]eispielsweise würden die Benutzer von Straßenbahnen, die gelegentlich den Bezirk des Polizeipräsidiums SchönebergWilmersdorf verließen und Straßen durchführen, die zu Berlin und Charlottenburg gehörten, sich einer sofortigen Verhaftung und Abführung in Polizei-Gewahrsam aussetzen«. Der damit zu befürchtenden Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten stehe aber (besonders bei russländischen Staatsangehörigen) das Verbot einer Ausreise entgegen.76 Bei reichsweiten, ähnlichen Beschwerden reflektierten Zivilbeamte wie Fabrikbesitzer, Gewerbetreibende und Landwirte zumeist die wirtschaftliche Bedeutung und Position einzelner Ausländer/innen für ihre Unternehmen.77 Durch die auferlegten Meldevorschriften würden sie ihrer »täglichen Beschäftigung teilweise so gut wie ganz entzogen werden«, resümierte der Regierungspräsident von Marienwerder.78 Ebenso kritisierte die Mecklenburgische Handelskammer, vordergründig aus kaufmännischer Sicht, die restriktiven Ortswechselverbote, denn diese entzogen auf dem Land vielen Händlern ihre Kundschaft, die zu einem großen Teil aus ausländischen Saisonarbeiter/innen bestanden hatte.79 Trotz dieser Bedenken und Einwände erfuhren die reichsweiten Richtlinien keine dementsprechenden Änderungen. Erst in die jeweiligen Ausführungsbestimmungen flossen im Laufe des Krieges liberalisierende Korrekturen ein, die nach wie vor an Meldepflichten und Aufenthaltsbeschränkungen festhielten. Für weitergehende Einzelfallentscheidungen zeichneten nach wie vor lokale Militärbefehlshaber verantwortlich. Die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen entwarfen eine bürokratische Wirklichkeit des Krieges, in der ausländische Staatsangehörige zähl- und greifbar gemacht werden sollten. Die Durchsetzung der Paragrafen und Absätze vor Ort setzte Menschen aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft als feindliche Ausländer/innen in Geltung, die Passvorschriften, Meldeverordnungen, Regeln über den Aufenthaltswechsel und die Ausreisemodalitäten sowie den Postverkehr zu beachten hatten. Damit diktierten die staatlichen Bestimmungen Ausländer/innen einen alltäglichen Rhythmus des Andersseins.
76 RAdI (gez. Lewald) an d. Staatssekretär d. AA, Gottlieb von Jagow, 8.11.1914, in: BArch Berlin, R 901/82913. 77 Siehe das Kapitel Einschränken und Entrechten. 78 Reg.-Präs. Marienwerder an d. preuß. Minister d. Innern, 23.11.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 75 ff. 79 Simon Constantine, Social Relations in the Estate Villages of Mecklenburg c.1880–1924, Cornwall 2007, S. 124.
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Unsicherheiten zwischen täglicher Routine und Überlastung Im Sinne der vielfältigen Bekanntmachungen und Erwartungen gehörte es zu den regelmäßigen Tätigkeiten der Polizeibeamten, feindliche Ausländer/innen am Verlassen des Amtsbezirks zu hindern, ihre Pässe zu visieren, ihre Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen, die sich Meldenden zu überprüfen und nach den Zuwiderhandelnden zu fahnden. Sie mussten Genehmigungen für Ortswechselgesuche bei den stellvertretenden Generalkommandos einholen und diese bei positiver Rückmeldung amtlich bestätigen und Passierscheine ausstellen. Schließlich agierten sie als Vermittler zwischen Arbeitgebern und -nehmern.80 Um ihre Aufgaben auszuführen, benötigten sie Informationen darüber, wer von welchen Bestimmungen betroffen war. Dass dieses Wissen keineswegs als gesichert und vorausgesetzt gelten konnte, zeigen die vielfach überlieferten Erläuterungen zu feindlichen Staatsangehörigen und ein kurzer Blick in die Frankfurter Zeitung. Nach neuen Kriegserklärungen an das Deutsche Reich, nach diplomatischen Brüchen oder nach erzielten Vereinbarungen mussten die zuständigen staatlichen Akteure darüber informiert werden.81 Aus diesem Grund stellte der Polizeipräsident Frankfurts am Main am 10. August 1914 öffentlich klar, »daß unter Ausländern Russen, Franzosen, Engländer und Belgier zu verstehen« seien.82 Serbische Staatsangehörige, deren Heimatstaat am 6. August Deutschland den Krieg erklärt hatte, zählten für ihn noch nicht dazu. Abhängig von den lokalen Ausführungsbestimmungen konnten die darauffolgenden Arbeitsschritte mehr oder weniger umfangreich ausfallen. Die Karlsruher Polizeifahnder mussten beispielsweise feindliche Ausländer/innen wöchentlich zweimal in ihrer Wohnung aufzusuchen.83 Die Beamten im Münsteraner Armeekorpsbereich hatten des Weiteren folgenden Bestimmungskatalog zu beachten: »Die Ortspolizeibehörde hat über die sich an- und abmeldenden Ausländer Listen zu führen, die Namen, Alter, Staatsangehörigkeit, Paßnummer und Art des Passes sowie Tag der Ankunft, Wohnung und Tag der Abreise, das Reiseziel und den genauen Reisezweck angeben. Zugänge, Abgänge und Veränderungen
80 Für den VII. Armeekorpsbezirk: Bkm. d. stv. Gkdo. VII. AK (Frhr. v. Gayl), 23.12.1914, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Erste Ausgabe, Münster 1914/15, S. 22. 81 Z. B.: Preuß. KM, betr. Staaten, d. sich mit Dtl. im Kriegszustand befinden u. Staaten, d. d. Beziehungen zu Dtl. abgebrochen haben, 30.1.1918, in: BArch Berlin, R 901/82918. 82 Ausländer, in: Frankfurter Zeitung, 10.8.1914 (Nr. 220, Abendblatt; Herv. im Org.). 83 Bad. BzA Karlsruhe (Polizeidirektion) an d. Bad. MdI, 10.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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dieser Liste sind täglich in den Landkreisen dem Landrat, in den Stadtkreisen dem Polizeiverwalter (Polizeipräsident, Erster Bürgermeister), mitzuteilen.«84 Einerseits konnten solche regelmäßigen Meldungen bei der Ortspolizeibehörde eine intensivere Kontrolle ermöglichen. »Auf diese Weise lernen die Beamten der Gendarmerie sämtliche in ihrem Bezirke aufhältlichen Ausländer persönlich kennen, kommen täglich mit ihnen in Berührung und können sie dadurch auch sonst leichter im Auge behalten«, hoben Beamte der Dresdner Polizeidirektion hervor.85 Andererseits bargen alltägliche Meldungen die Möglichkeit in sich, dass nach einiger Zeit eine gewisse Routine in die Polizeiarbeit einkehrte. Die Beamten glaubten, die jeden Tag Vorbeikommenden zu kennen. Ethel Cooper (1871–1961), die zweimal täglich auf einer Leipziger Polizeistube vorzusprechen hatte, schilderte süffisant den Trott, dem sie sich hingab. »It is a nuisance, and a waste of time, but nothing worse«, beschwerte sie sich gegenüber ihrer in Adelaide wohnenden Schwester Emmie Bevan Carr. »You walk into the guard room and say ›Good-day – Cooper, with a C‹ – otherwise they look up the name under letter K – ›good‹, says the official – ›good day‹ you say, and that is all – […] it is a waste of time[.]«86 Etwas gemischter waren die Gefühle Annie Dröeges (1874–1940), nachdem sie in Hildesheim die Meldefrist um mehrere Stunden versäumt hatte. »I had wild visions of being escorted by a couple of policemen which is not an unlikely thing. You can bet that I was not five minutes in getting there. I made great apologies and they graciously forgave me. They told me that I must not do it again or I become a penalty.«87 Erst im Nachhinein vertraute sie ihrem Tagebuch an: »A funny thing happened yesterday.« Ein redaktioneller Kommentar in der Badischen Landes-Zeitung verwies ob solcher wohlwollenden Routine auf die Wirkungslosigkeit der Meldepflicht. Feindliche Ausländer/innen bräuchten »sich nur zweimal auf der Polizeistation ihres Reviers zu zeigen, dort macht der Wachtmeister einen Strich hinter ihren Namen und sie sind für den Tag frei und ledig«.88 Den italienischen Mechaniker Oskar Frigo-Mosca führte allerdings ein viertägiges Meldeversäumnis im August 1915 in den Verhandlungssaal des Landgerichts Eisenach. Der militärisch neutrale Ausländer verteidigte sich, indem er auf einen Irrtum auf dem hiesigen Polizeiamt verwies. Denn der Schutzmann habe zu ihm gesagt: »Sie sind entlassen.« Der Polizeibeamte widersprach indes dem Mecha84 Bkm. d. stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl), 2.12.1915, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Zweiter Nachtrag, S. 101–105. 85 Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI (Abt. II), 11.8.1916, in: HStA Dresden, 10736/3363, Bl. 161 f. 86 Caroline Ethel Cooper, Behind the Lines. One Woman’s War 1914–18, hg. von Decie Denholm, Sydney 1982, Letter 15 (8.11.1914), S. 39. 87 Annie Dröege, Diary of Annie’s War. The diary of an Englishwoman in Germany during WW1, bearb. von Mark Drummond Rigg, Guildford 2012, S. 99 (10.4.1915). 88 Russenfrechheit in Karlsruhe, in: Badische Landes-Zeitung, 20.4.1915 (Nr. 181).
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niker. »Es ist gut, Sie können gehen«, seien vielmehr seine Worte gewesen. »Das habe von einem vernünftigen Menschen nicht missverstanden und nur so aufgefasst werden können, dass der Gemeldete fertig sei und nun abtreten könne.«89 Die Richter befanden Frigo-Mosca aufgrund »blosser Lässigkeit« für schuldig und verurteilten ihn zu einer Gefängnisstrafe von einer Woche. Aber das Großherzogliche Staatsministerium in Weimar gab seinem Gnadengesuch statt und die Strafe wurde in eine Geldstrafe umgewandelt.90 Anklage und Nachsicht konnten im Falle von Meldeverstößen nah beieinander liegen. Cooper, Dröege und Frigo-Mosca sensibilisieren für mehrere eigensinnige Momente der Polizeiarbeit. An erster Stelle verdeutlichen sie, dass auch die Kontrollmaßnahmen vom persönlichen, situativen Urteil der Beamten und ihrem Verhalten beeinflusst waren. Die hierbei entstehenden Beurteilungsspielräume erlangten eine Sichtbarkeit bei Unstimmigkeiten, bei Gegebenheiten, für die keine Regelungen existierten und ebenso bei situationsabhängigen Fehlinterpretationen. Der Meldeakt stellte eine prekäre polizeiliche Alltagsarbeit dar. Auf widersprüchliche Einschätzungen machte ein fassungsloser Bericht der Zentralpolizeistelle Württemberg 1918 aufmerksam. Darin hieß es, dass aus dem besetzten Gebiet Frankreichs abgeschobene Jugendliche mitnichten so unverdächtig, deutschfreundlich und einbürgerungswillig gewesen seien, wie ein Vertreter des Saarbrückener stellvertretenden Generalkommandos vermuten ließ. Eigentlich hätte es sich »um begeisterte Franzosen […], die aus ihrem Hass gegen Deutschland keinen Hehl machen«, gehandelt.91 Der Fall Annie Dröeges zeigt hingegen mögliche Ermessensspielräume auf, die aus individuellen Wahrnehmungen und kaum beeinflussbaren Lebenssituationen erwuchsen. Im Februar 1916 erhielt Dröege das Einverständnis, sich nur einmal pro Woche auf der Polizeiwache melden zu müssen. »One of the officers met me on the staircase one day last week and said that he got a shock to see me. I looked so very ill«, berichtete sie über die Gründe.92 Ihr Urteil über die Beamten lautete schließlich: »They are very kind to me and are only doing their duty. But one does as a rule think the police awfully officious.« Eine weitere Uneindeutigkeit der behördlichen Abläufe benannte Ethel Cooper, als sie nicht nur auf die fehleranfällige Rechtschreibung eines sächsischen Staatsbediensteten hinwies. Sie deutete zugleich die zu führenden Listen, die mit Feder und Tinte oder mit Type und Farbband angelegt wurden, als mögliche Fehler89 Urteil in d. Strafsache gegen Oskar Frigo-Mosca, 15.10.1915, in: HStA Weimar, Staatsanwaltschaft beim Sachsen-Weimar-Eisenachischen Landgericht Eisenach, Nr. 33, Bl. 15–16. 90 Großherz. Sachsen-Weimar-Eisenachisches Staatsministerium, Departement d. Justiz (gez. Rothe) an d. Staatsanwaltschaft Eisenach, 4.12.1915, in: HStA Weimar, Staatsanwaltschaft beim Sachsen-Weimar-Eisenachischen Landgericht Eisenach, Nr. 33, Bl. 22. 91 Zentralpolizeistelle Württemberg an d. stv. Gkdo. XIII. AK (Abt. II e), 24.10.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 1078. 92 Dröege, Diary of Annie’s War, S. 175 (15.2.1916).
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quellen an. Die Orthografie ausländischer Namen sorgte bei einigen Beamten für Verwirrungen und war darüber hinaus unter anderem ortsabhängig. Beim Vergleich unterschiedlicher Register konnte dies zu doppelten Einträgen und Missverständnissen führen. Ausländer/innen wie Cooper waren sich dieses Umstandes durchaus bewusst. Allein, die Australierin nutzte ihn nicht aus. Nach kurzer Zeit warteten die angelegten Verzeichnisse mit einem weiteren Problem auf. Sie mussten aktualisiert werden. So hatte der Berliner Polizeipräsident seine Mitarbeiter angewiesen, jene männlichen britischen Staatsangehörigen aufzulisten, die nicht in das Zivilgefangenenlager in Ruhleben verbracht worden waren. Dabei kam es fortwährend zu Verzögerungen, sodass er sich schließlich genötigt sah, die Arbeitsleistung seiner Unterstellten gegenüber dem preußischen Innenminister zu rechtfertigen. »Die Liste war zweimal kaum fertig gestellt,« gab er zu bedenken, »als sie schon wieder unrichtig geworden war und zwar erst durch die Internierung der nicht englischen Australbriten und dann durch die der Australier. Ausserdem hat sich das Bild ständig durch Entlassungen und Beurlaubungen aus Ruhleben, sowie in den letzten Tagen durch Zuzug von indischen Kolonialengländern verschoben, die in die Liste noch aufzunehmen waren.«93 Die Aktualität der Verzeichnisse war mit den verfügbaren Aufschreibetechniken nicht zu gewährleisten gewesen. Listen und Register bildeten eine Momentaufnahme in den lokalen Behörden ab, die bei Informationsweitergaben eine überaus kurze Haltbarkeit aufwiesen. Daran anschließend sah der Polizeipräsident zeitaufwendige Überarbeitungen voraus, sobald die Übersicht »bei Verhandlungen mit auswärtigen Regierungen Verwendung« findet. Denn die letzte Spalte enthielt Bemerkungen dazu, weshalb eine Internierung nicht erfolgte. In mehreren Fällen lägen Gründe vor, »welche dem Auslande gegenüber geheim bleiben müssen«.94 Dem entgegen entschieden die Münchner Polizeibeamten aufgrund der großen Anzahl an Ausländer/innen in der Landeshauptstadt, ihre Erfassung innerhalb eines Zettelkataloges durchzuführen.95 Aber auch dieser zeitigte Nachteile. Zum einen bot er nur den direkten Zugriff auf einzelne Personen über eine zuerst nationale und anschließend alphabetische Ordnung. Dieses System hatte sich aus der direkten Aufforderung des Reichskanzlers, Ausländer/innen nach ihrer Staatsangehörigkeit zu melden, ergeben.96 Zum anderen erwies sich der Zettelkasten als unhandlich und aufgrund einer Vielzahl an Informationen auf den einzelnen Zetteln als nur aufwendig kopierbar. Deshalb forderte das Münchner General93 Polizeipräsident Berlin (v. Jagow) an d. preuß. Minister d. Innern, 3.3.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1146, Nr. 58 Beiheft 3. 94 Ebd. 95 Polizeidirektion München (gez. v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 96 Z. B.: Bad. MdI an Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 26.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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kommando im September 1914 den Katalog an und gab ihn erst auf mehrmaliges Mahnen der Polizeibehörde Monate später zurück.97 Meinungsverschiedenheiten und wahrgenommene Unzuträglichkeiten ergaben sich durch ebensolche Zuständigkeitsverflechtungen weiterhin im Königreich Württemberg. Das dortige stellvertretende Generalkommando ließ die Meldepflicht durch die Zivilbehörden und nicht durch einen Befehl des Generalkommandeurs bekanntgeben. Im Verlauf des Krieges führte dies dazu, dass die Verpflichtung zur regelmäßigen Meldung, »namentlich bei öfterer Verlegung des Wohnorts, vielfach verwischte« und schließlich ihre Gültigkeit verlor. Denn bei jedem Umzug hätte die Bekanntgabe der lokalen Meldevorschriften erneut erfolgen müssen. Die württembergischen Ausländerbeauftragten stellten jedoch fest, dass dies »nicht durchweg klar und bestimmt« geschah. Als Folge dessen konnten auch absichtliche Vergehen gegen die Meldepflicht nicht im Sinne der Polizeibeamten geahndet werden, wie ein Zivilgericht entschied.98 Die Rechtslage im Falle Lucie Sommers gestaltete sich ähnlich. Die französische Staatsangehörige hatte in Elsaß-Lothringen gelebt. Ende Januar 1915 musste sie sich ihrer Ausweisung nach München fügen. Sie füllte im Gasthof Marienbad die »üblichen Meldezettel« aus, aber sprach nicht persönlich bei der zuständigen Polizeibehörde vor. Deswegen wurde sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Ihre Revision dagegen war allerdings erfolgreich. Die Richter des Oberlandesgerichts München kamen zu dem Schluss, dass die am 17. August 1914 ergangene Meldeanordnung der hiesigen Militärbehörde sich nur auf diejenigen Ausländer/innen bezog, die zu dieser Zeit im Korpsbezirk anwesend gewesen waren.99 Die von der Polizeidirektion verlangte Anmeldung der Zuziehenden innerhalb dreier Tage »findet in dem Erlass des stellvertretenden Generalkommandos keine Stütze«, urteilten sie. Unbeabsichtigte wie vorsätzliche Nichtanmeldungen in der bayerischen Landeshauptstadt zwischen dem 5. September 1914 und dem Richterspruch am 24. Juni 1915 mussten demzufolge straffrei bleiben. Unsicherheiten bestanden ebenso in Sachsen über die lokalen Entscheidungsspielräume der Polizeibeamten. Der sächsische Kriegsminister, Adolph von Carlowitz (1858–1928), erklärte Mitte August 1914 über den Umgang mit Ausländer/ innen nur vage, dass ihre »Überwachung bezw. Unterbringung und Festsetzung
97 Polizeidirektion München (gez. v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 98 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 6 f. Ebenso existierten in Württemberg Widersprüche zwischen den Militärbestimmungen und dem Landrecht bezüglich der Festsetzung von Ordnungsstrafen. Siehe: Württ. MdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, an d. stv. Gkdo. XIII. AK, 8.12.1914, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 817, Bl. 32. 99 Urteil in d. Strafsache Lucie Sommer d. Obersten Landesgerichts München, Strafsenat, 24.6.1915, in: HStA München, MInn 53976.
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[…] Sache der Zivilbehörden« sei.100 Als die Polizeibehörden daraufhin selbstverantwortlich handelten, äußerte der Generalkommandeur des Dresdner Armeekorpsbezirks seinen Unmut darüber. Sie hätten im Zuge dessen Maßnahmen ergriffen, »die in den darüber gegebenen Bestimmungen keine Berechtigung finden«.101 Ohne die Zustimmung der ihm unterstellten Militärbehörde einzuholen, seien von Polizeiämtern »allgemeine Briefkontrolle, Auferlegung der Verpflichtung, zu bestimmten Zeiten in der Wohnung zu sein, u. a.« verfügt worden. Mit seinem Einverständnis für solche Maßnahmen sei nur zu rechnen, wenn »besondere Gründe der Sicherung der öffentlichen Ordnung oder Spionageverdacht« vorlägen. In der mangelnden Koordination der bayerischen Behörden erkannte wiederum der Münchener Polizeipräsident Ludwig von Grundherr den Ursprung einer unzureichenden Kontrolle der Ausländer/innen. »Nach den zumeist telephonisch eingeholten Weisungen der vorgesetzten Stellen«, teilte er dem Innenministerium mit, »wurde ein Teil der Ausländer zwangsweise nach der Grenze verbracht, ein Teil wurde veranlasst, freiwillig abzureisen, wieder anderen wurden auf ihre Kosten Fahrkarten gelöst und ihre Abreise von München polizeilich überwacht, nur eine geringe Anzahl wurde festgenommen und in Polizeigewahrsam behalten.«102 Bayerische Polizeibeamte sahen ebenso wie ihre Kollegen in Sachsen und in Württemberg ihre Arbeit durch Vorgesetzte, Militärbefehlshaber oder Richter gescholten. Sie mussten erfahren, dass ihr Handeln im Angesicht des Krieges nachträglich in Frage gestellt wurde. Infolgedessen offenbarten sich ihnen einerseits die Irrtümer ihrer Erwartungen. Andererseits erfuhren sie einmal mehr die Rechtsunsicherheiten ihrer Entscheidungen im Belagerungszustand. Womöglich prägte dieser Erfahrungshorizont ihren weiteren Umgang mit Ausländer/innen. Weitere Schwierigkeiten bei den Überwachungsmaßnahmen traten ferner zwischen bundesstaatlichen Polizeidistrikten und zwischen Armeekorpsbezirken auf.103 Hugo Dörle (1859–1926), Amtsvorstand im badischen Lörrach, beschwerte sich Ende September 1914 bitter über unkoordinierte Entscheidungen, als mehrere belgische und französische Staatsangehörige aus entfernten Regionen des Reiches in der süddeutschen Grenzstadt eintrafen.104 Er musste ohne vorherige Ankündigung ihre Aufnahme organisieren und fürchtete, dass weitere Ausländer/ innen auf dem Weg in seinen Bezirk waren. »Unrichtige behördliche Auskünfte werden gewöhnlich als Grund der Reise hierher angegeben; in nicht wenigen Fäl100 Sächs. KM (gez. v. Carlowitz), betr. Behandlung feindlicher Ausländer, an u. a. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK u. d. Sächs. MdI, 18.8.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 8. 101 Stv. Gkdo. XII. AK an d. Sächs. KrhM Dresden, Bautzen u. Chemnitz, 29.12.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3347b, Bl. 149. 102 Polizeidirektion München (Polizeipräsident v. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 103 Preuß. KM an d. preuß. stv. Gkdos., 14.9.1916, (Abs.) in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15931. 104 Bad. BzA Lörrach (gez. Dörle) an d. Bad. MdI, 30.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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len ist uns diese Angabe durch vorgelegte behördliche Ausweise bestätigt worden«, teilte er seinen Vorgesetzten in Karlsruhe mit. Innerhalb des Systems der Militärverwaltungen kam es seit Kriegsbeginn ebenfalls zu Abstimmungsproblemen. Ausländer/innen wurden in einigen Fällen von einem Korpsbezirk in einen anderen abgeschoben und wieder zurückgeschickt, weil Generalkommandeure ihre Ausweisung aus ihrem Zuständigkeitsbereich verfügten, die Betroffenen gleichwohl weiterhin nicht das Reichsgebiet verlassen durften.105 Die auf diesen Erfahrungen aufbauenden Mahnungen aus dem Berliner Kriegsministerium und dem stellvertretenden Generalstab, die polizeilichen Vorschriften reichsweit zu vereinheitlichen, zeitigten allerdings nur bedingt Wirkung.106 Zwar etablierte sich ein flächendeckend verbreitetes Richtlinienheft des Preußischen Kriegsministeriums als ein wichtiger Orientierungspunkt, dennoch verfehlte es das Ziel, gleichförmige Normen und Praktiken über die Armeekorpsgrenzen hinweg durchzusetzen. Von weiterhin bestehenden Unterschieden kündeten im September 1916 abermalige Weisungen des Berliner Kriegsministeriums an die stellvertretenden Generalkommandos. Darin versuchten die obersten Militärverantwortlichen, wenigstens die Folgen abweichender Meldebestimmungen für Eisenbahnüberwachungsreisende zu regeln. Insbesondere mussten sie klären, »ob ein Ausländer, der im Bereiche eines Korpsbezirks nach den in diesem geltenden Vorschriften seiner Meldepflicht nicht rechtzeitig nachgekommen ist, wegen dieser Verfehlung in einem anderen Korpsbezirk festzunehmen ist, wenn hier die Verfehlung festgestellt wird, eine solche aber nach den Bestimmungen des stellvertretenden Generalkommandos des Orts der Feststellung nicht vorliegen würde«. Indem die Berliner Militärvertreter dafür plädierten, dass Verstöße über die Bezirksgrenzen hinweg geahndet werden können, billigten sie indirekt die existierenden, unterschiedlichen Regelungen und Verfahren.107 Gleichzeitig erhöhten sie mit der Ausdehnung der Sanktionsbereiche die Komplexität der Kontroll- wie Strafmaßnahmen und machten aufwendige behördliche Absprachen unerlässlich. Zur selben Zeit sorgte die verwaltungstechnische Aktualisierung der Vorschriften selbst für ein verwirrendes mehrlagiges Über- und Nebeneinander von ursprünglichen Bestimmungen und ihren Abänderungen. Nachdem die Behörden das Richtlinienheft des Preußischen Kriegsministeriums letztmalig im Herbst 1915 erhalten hatten, bekamen sie nur noch Deckzettel mit den überarbeiteten Paragrafen zugesandt. Dies führte zu einem regen Ausschneiden und Aufkleben, Durchstreichen und Anmerken, bei dem für den heutigen Betrachter nicht nach105 Hzgl. Braunschweigische Gesandtschaft (gez. Wirkl. Geh. Rat Friedrich Boden) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 18.8.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 459. 106 Vorschrift für d. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten (Neudruck), Herbst 1915 (Preuß. KM), Berlin 1915, u. a. in: HStA München, Abt. IV., Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1985. 107 Preuß. KM an d. preuß. stv. Gkdos., 14.9.1916, (Abs.) in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15931.
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vollziehbar ist, wann welcher genaue Wortlaut galt und ob die vorliegende Collage lückenlos war.108 Ähnlich wird es den Zeitgenossen ergangen sein, die nicht nachprüfen konnten, ob ihre Sammlung aktuell war. Erschwerend kam für sie hinzu, dass die Verkündung der Vorschriften in den einzelnen Korpsbezirken mitunter stark zeitversetzt erfolgte.109 Während die einen wie der Stuttgarter Generalkommandeur bereits am 1. September 1914 die getroffenen Maßnahmen für ausreichend hielten,110 forderten andere deren stetige Ergänzung und Erweiterung ein. Letztere, zu denen die Vertreter des stellvertretenden Generalstabes und des Preußischen Kriegsministeriums zu rechnen waren, setzten sich schließlich durch. Die Richtlinien nahmen im Laufe des Krieges an Umfang stark zu. Ein Entwurf über die Neuordnung der reichsweiten Vorschriften im Sommer 1918 setzte sich schließlich aus 52 Paragrafen zur »Überwachung der Fremden« zusammen.111 Vor diesem Hintergrund fanden Versuche statt, die bestehenden Regelungen zu systematisieren. Die Beamten der Münchner Polizeidirektion hatten bereits im August 1914 aus den vielschichtigen Erlassen des Innen- und des Kriegsministeriums eine Übersicht (Tab. 3) erarbeitet. Diese sollte ihnen vor allem schnelle Entscheidungen ermöglichen. Dem heutigen Betrachter gewährt sie Einblicke in die möglichen und die vorgesehenen Handlungsoptionen gegenüber Ausländer/innen.112 Wie sie zudem zeigt, war der polizeiliche Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen von der militärischen, politischen und sozialen Handlungsprämisse der Ausdifferenzierung geprägt. Nicht zuletzt deshalb fanden immer neue Bestimmungen aus Berlin ihren Weg in die Amtsstuben.
108 Exemplarisch dafür: Verordnung d. Preuß. KM, betr. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten, d. sich bei Ausbruch d. Krieges im Deutschen Reich aufhielten, ursp. 9.11.1914 (letzte Bearbeitung nicht feststellbar), in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 106–110. 109 Bsp.: Bkm. durch d. Okdo. in d. Marken, 17.5.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3355, Bl. 7 u. Bkm. durch d. stv. Gkdo. XIII. AK, 17.6.1915, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 820, Bl. 3a u. Bkm. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 22.6.1915, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 82. Die Grundsätze über die Behandlung der polnischen Arbeiter/innen vom 21. November 1917 wurden in Sachsen erst am 16. März 1918 bekanntgemacht: Verfügung d. Behandlung polnischer Arbeiter betreffend, durch d. stv. Gkdo. XII. AK, 16.3.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 21. 110 Stv. Gkdo. XIII. AK an d. Württ. KM, 1.9.1914, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 17. 111 Entwurf d. Vorschriften zur Überwachung d. Fremden, 3.6.1918, in: HStA München, MInn 53978. 112 Behandlung von Ausländern nach d. Min.-Entschl. vom 9.8.1914 u. d. Kriegsmin.-Erlasses vom 6.8.1914, in: StA München, Pol. Dir. München 4543.
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Tabelle 3: Polizeidirektion München, Umgang mit feindlichen Ausländer/innen nach dem Kriegsmin.-Erlass vom 6. August 1914 und dem Min.-Entschl. vom 9. August 1914 Ohne Ausweis Ohne gehörigen Ausweis über den Zweck des Aufenthalts Unter Verdacht deutschfeind licher Gesinnung Verdacht strafbarer Handlung während der Überwachung
Festnahme oder Reichsverweis Verschubung, wenn diese möglich, sonst, wenn diese nicht möglich, Meldung alle 2 Tage
Vorführg. vor den Richter jedenfalls nicht Ausweisen
Wehrfähigen Alters
Kriegsgefangennahme oder zunächst polizeiliche Überwachung, dies nur solange als sie nicht lästig fallen oder Aufenthalt wechseln
Offiziere u.s.w.
Kriegsgefangennahme
Russische und serbische Studenten und Studentinnen
sehr scharfes Vorgehen
Japaner
in Schutzhaft nehmen
Sonstige Ausländer, die sich nicht lästig machen
Überwachung
Ausländer, durch deren An wesenheit die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört zu wer den droht
Schutzhaft u. Reichsverweis
Deutschrussen u. russ. Arbeiter
Duldung
Österreichische Deserteure
Verschubung an die österr. Behörde
Quelle: Polizeidirektion München, Behandlung von Ausländern unter Zugrundelegung d. Min.-Entschl. vom 9.8.1914 u. d. Kriegsmin.-Erlasses vom 6.8.1914, in: StA München, Pol. Dir. München 4543. Die Übersicht stellt eine schematisch vereinfachte, sprachlich unveränderte Abschrift dar.
Kontrollmaßnahmen wie die An- und Abmeldung beim Ortswechsel erfuhren im Kriegsverlauf eine Ausdehnung auf ›neutrale‹ und ›verbündete‹ Ausländer/innen113 sowie auf Personen, deren Heimatstaaten lediglich die diplomatischen Beziehungen mit dem Deutschen Reich abgebrochen hatten.114 Zu dem vorhandenen Über113 Preuß. KM an d. Reichskanzler (RAdI), 27.6.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 110 u. AA an d. stv. Kriegsminister, 30.6.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 111 u. Preuß. KM an sämtl. stv. Gkdos. u. d. Bay., Sächs. u. Württ. KM, 12.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2846, Bl. 7. 114 Zu ihnen zählten Anfang 1918: Bolivien, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Haiti, Griechenland, Costa Rica, Peru, Uruguay, Ecuador. Siehe: Preuß. KM, betr. Staaten, d. sich mit Dtl. im Kriegszustand befinden u. Staaten, d. d. Beziehungen zu Dtl. abgebrochen haben, 30.1.1918, in: BArch Berlin, R 901/82918.
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wachungsspektrum kamen darüber hinaus weitere Aufgaben hinzu. Der preußische Kriegsminister verlangte beispielsweise von den Zivilbeamten im November 1917, Eisenbahnkontrollen zu übernehmen. Er reagierte hierbei auf erfolgreiche Fluchten polnischer Saisonarbeiter/innen. »Bahnhofs-Patrouillen, Chaussee- Patrouillen« und »zugbegleitende Patrouillen in den nach dem Osten fahrenden Eisenbahnzügen« hatten die unerlaubten Ausreisen nicht verhindern können. Einen Grund dafür sah der Kriegsminister in »dem Mangel der für solche Zwecke zur Verfügung stehenden militärischen Kräfte«. Die lokale Polizei sollte die entstandenen Lücken schließen.115 Wiederum erhöhte sich ihr Arbeitsaufwand. Zur gleichen Zeit traten viele Polizeibeamte in das Heer ein. Sie konnten durch Verpflichtungen pensionierter Beamter und Anstellungen weiblicher Hilfskräfte nur ungenügend ersetzt werden. Mit Sorge kritisierte der preußische Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell die Einberufungen in das Heer. Er warnte Ende Oktober 1915 vor einem »Stillstand des Betriebes in den meisten staatlichen und kommunalen Verwaltungsbehörden«.116 Der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow hielt bereits Anfang September 1914 einen geordneten Dienstbetrieb der Kriminalpolizei für gefährdet. Sein Nachfolger Heinrich von Oppen (1869– 1925) führte diese Klagen vor dem Hintergrund der Mobilmachung jüngerer Geburtenjahrgänge fort. Konfrontiert mit Streiks und Hungerrevolten schien ihm die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in der Hauptstadt ohne militärische Unterstützung kaum möglich.117 Adalbert Oehler (1860–1943), Bürgermeister von Düsseldorf, zeichnete nach dem Kriegsende ein desaströses Bild seiner städtischen Polizei. Er beklagte ebenfalls den »Mangel an geschulten und erfahrenen Beamten«.118 Die Zurückgebliebenen seien mit den vielfältigsten Aufgaben rund um die Uhr beschäftigt gewesen. Dazu gehörten: »Nachforschungen auf Anfragen der Bezirkskommandos, der Truppenteile über einzelne Persönlichkeiten, die Ausstellung von Führungszeugnissen, die Überwachung der Schankwirtschaften […], das Vorgehen gegen unerlaubte Spielklubs, die Mitarbeit bei den wiederholten Vorratserhebungen, die Überwachung des Handels, der Innehaltung der Höchstpreise, das Vorgehen gegen Preiswucher und Kettenhandel […], dazu die Überwachung der […] erheblich 115 Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Jarotzky) an d. Reg.-Präs., 12.11.1917, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15698. Im Bereich des VI. Armeekorps wurden beispielsweise nur 5 Prozent der Züge durch Eisenbahnüberwachungsreisende kontrolliert. Siehe: Zentral-Polizeistelle Osten an d. stv. Gkdo. VI. AK, 18.8.1917, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 130 f. 116 Preuß. MdI an d. preuß. stv. Kriegsminister, 27.10.1915, zit. nach: Dominik Glorius, Im Kampf mit dem Verbrechertum. Die Entwicklung der Berliner Kriminalpolizei von 1811– 1925. Eine rechtshistorische Betrachtung, Berlin 2016, S. 368. Zum Personalmangel der Berliner Polizei siehe detailliert: Ebd., S. 355–370 u. 456–468. 117 Ebd., S. 366, 459 ff., 466 ff. 118 Oehler, Düsseldorf im Weltkrieg, S. 94.
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angewachsenen zugelassenen und heimlichen Prostitution. Auch die Beaufsichtigung der Tageszeitungen […] stellte große Anforderungen an die […] verantwortlichen Beamten. Dazu kam die Aufgabe der Spionageabwehr und der Überwachung der Ausländer; die Briefe, Telegramme, der Fernsprechverkehr, überhaupt der Fremdenverkehr waren zu überwachen.«119 Bürgermeister Oehler erklärte diesen Tätigkeitszuwachs nachträglich als ursächlich für ein gestiegenes »Verbrechertum«. Eine »genügende polizeiliche Überwachung« sei unter den geschilderten Umständen ausgeschlossen gewesen.120 Innerhalb des Düsseldorfer Regierungsbezirkes kam der Beigeordnete der Lenneper Polizeiverwaltung zu einer ähnlichen Einschätzung. Der Personalmangel und die hohe Arbeitsbelastung habe eine Überwachung des »Tuns und Treibens der Ausländer« »nicht immer in der gewünschten Weise« ermöglicht.121 Schließlich schrieb der Bürgermeister der niederbergischen Stadt Erkrath im März 1917 an den Düsseldorfer Landrat, dass es »ganz ausgeschlossen« sei, »mit den 2 Polizeibeamten, welche mit Arbeiten überhäuft sind« die anwesenden ausländischen Arbeiter/innen zu überwachen.122 »Fast täglich und mehrmals am Tage werden telephonisch Polizeibeamte requiriert. Dann weigert sich ein Ausländer zu arbeiten, dann beklagen sich die Ausländer über Behandlung, Kost oder Unterkunft«, empörte er sich. Der Bürgermeister des westpreußischen Ostseekurortes Zoppot (poln. Sobot), Max Woldmann (1868–1919), musste sich 1917 des Vorwurfs des dortigen Militärbefehlshabers erwehren, seine Polizeiverwaltung registriere und überwache die ankommenden Fremden nur ungenügend. Vor dem Regierungspräsidenten in Danzig wies er dies energisch zurück. Er war überzeugt, dass die städtische Polizei »den grossen Anforderungen […] trotz unseres zur Zeit schwachen und minderwertigen Beamtenmaterials in jeder Weise gerecht geworden« sei. Ein Dezernent, der Polizeikommissar und zwei Hilfsschutzleute verantworteten zeitweise allein die Kontrolle des »regen Fremdenverkehrs«. Dennoch sei es gelungen, »unter Aufwendung aller Kraft diese schwierige Aufgabe den Verhältnissen entsprechend zu erfüllen und auch noch, soweit es unsere Leistungsfähigkeit überhaupt noch gestattete, für ordnungsmässige Durchführung der erlassenen, vielen Kriegsgesetze 119 Ebd., S. 95 u. 94–98. Zur Tätigkeit der Polizei im Rheinland siehe auch: Herbert Reinke, »… hat sich ein politischer und wirtschaftlicher Polizeistaat entwickelt«. Polizei und Großstadt im Rheinland vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Beginn der zwanziger Jahre, in: Alf Lüdtke (Hg.), »Sicherheit« und »Wohlfahrt«. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 219–242. 120 Oehler, Düsseldorf im Weltkrieg, S. 97. 121 Polizeiverwaltung Lennep (gez. Schröder) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 14.8.1917, (Abs.) in: LAV NRW, BR 0007, 15005, Bl. 424. 122 Bürgermeister d. Stadt Erkrath an d. Landrat in Düsseldorf, 5.3.1917, in: LAV NRW R, BR 0017, 192-Bd.1, Bl. 126 f.
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und auch der Verordnungen der Militärbehörden Sorge zu tragen«. Zu den Tätigkeiten der »Exekutivbeamten unserer Verwaltung« zählte er unter anderem: »1.) Den öffentlichen Sicherheitsdienst zur Tages- und Nachtzeit, 2.) den Ermittlungsdienst, 3.) die Fremden-, Pass- und Ausweiskontrolle, 4.) die Überwachung des Fischerbootsverkehrs, 5.) die Überwachung des Schleichhandels, 6.) die Überwachung der Feld- und Getreidediebstähle, 7.) die Überwachung des Nahrungsmittelverkehrs in Bezug auf Einhaltung der Höchstpreise und der übermäßigen Preissteigerungen, 8.) die Überwachung der Gast- und Schankwirte, Bäckereien und Konditoreien auf Einhaltung der erlassenen Bundesratsverordnung, 9.) die Prüfung von Reklamations- und Urlaubsgesuchen, 10.) die Prüfung der Gesuche über Familienunterstützung der Angehörigen der zum Heeresdienst eingezogenen Mannschaften, 11.) die Überwachung des Verkehrs mit verbotenen Druckschriften, 12.) die Kontrolle der Wohnräume bei ansteckenden Krankheiten, (die jetzt bei der herrschenden Ruhr besonders umfangreich ist)«.123 Die vorangegangenen Beispiele offenbaren eine zunehmende Kritik an der Fremdenpolizei. Im April 1915 tadelte der sächsische Innenminister Christoph Vitzthum von Eckstädt (1863–1944) die ihm unterstellten Verwaltungsbehörden, da sie »nicht allenthalben gewissenhaft« bei der Ausländer/innenkontrolle arbeiteten.124 Die bestehenden Vorschriften seien die Voraussetzung einer »scharfen Überwachung aller Ausländer zum Zwecke tatkräftiger und wirksamer Spionageabwehr«. Deshalb müssten diese »streng« gehandhabt und mit »größter Peinlichkeit« befolgt werden. Dazu sei nicht nur der »Verkehr in den Gasthöfen, Fremdenherbergen und bei den Zimmervermietern« zu kontrollieren, sondern ebenso der Aufenthaltswechsel aller Ausländer/innen. Dieser solle zukünftig eingeschränkt und die etablierten Genehmigungsverfahren für Reisen einer Revision unterzogen werden. Denn aus der »großen Anzahl« an Ab- und Anmeldungen folgerte er, dass »manche Polizeibehörden den feindlichen Ausländern Reiseerlaubnis nicht bloß – wie vorgeschrieben – ausnahmsweise, sondern wohl in der Regel und ohne gewissenhafte Prüfung der für die Notwendigkeit der Reisen angeführten Gründe zu erteilen pflegen«. Als Reaktion auf diesen Missstand setzte er auf eine weitere bürokratische Verdichtung der Polizeitätigkeit. Er verpflichtete die »Überwachungsbehörden«, bei Aufenthaltswechseln der Ausländer/innen die Behörden des künftigen Aufenthaltsortes zu benachrichtigen. Nicht ankommende Reisende 123 Polizeiverwaltung Zoppot (gez. Woldmann) an d. Reg.-Präs. in Danzig, 19.9.1917, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15698. 124 Sächs. MdI (gez. Vitzthum) an d. KrhM u. AmhM, d. Polizeidirektion Dresden u. d. Stadträte (Polizeiämter) d. Städte mit rev. Städteordnung, 16.4.1916, in: HStA Dresden, 11348/2846, Bl. 39 f. u. (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/82918 (Herv. im Org.).
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sollten sodann im Verdachtsfalle im Polizeiblatt ausgeschrieben werden. Zugleich sei eine eingehende Prüfung der Gesuche ebenso erforderlich wie die genaue Visierung der Reisedokumente. Eine Genehmigung, für deren Bearbeitung »tunlichst hohe Gebühren« anzusetzen seien, durfte nur erteilt werden, »wenn diese bei eingehender und gewissenhafter Prüfung der angeführten Gründe und aller einschlagender Verhältnisse als unvermeidlich erscheint«.125 Die Zahl der An- und Abmeldungen in und aus der sächsischen Landeshauptstadt lässt am Erfolg seiner Maßnahmen Zweifel aufkommen. Obwohl Dresden zu den Städten gehörte, die feindliche Ausländer/innen im November 1914 verlassen mussten,126 lebten in der Stadt im Februar 1917 23.750 ausländische Staatsangehörige, von denen über 20.000 aus Österreich-Ungarn stammten.127 Allein bis Januar 1916 zählten die Dresdner Polizeibeamten 70–80.000 An- und Abmeldevorgänge. Zwar würde die Benachrichtigung inländischer Zielorte durch Postkarten funktionieren, bemerkten sie, allerdings sei bei An- und Abreisen nach dem Ausland eine »wirksame Überwachung kaum möglich«.128 Wohl aufgrund des Arbeitsaufwandes verlangten die Polizeibehörden im Bereich des Leipziger Generalkommandos eine Gebühr von einer Mark für An- und Abmeldungen. Da diese aber für »Unbemittelte« zu teuer sei, empfahl die Militärbehörde nach Protesten mehrerer Ausländer/innen wiederum deren Verringerung.129 Kritisch betrachtete das 1917 erschienene Erinnerungsblatt über die Berliner Polizeiarbeit das Verhalten der Ausländer/innen. Die Praxis der An- und Abmeldung bei Wohnungs- oder Aufenthaltswechsel »hat sich nur sehr schwer eingelebt«, hielt der Verfasser fest.130 Verstöße seien »bis in die letzte Zeit hinein« vielfach vorgekommen. Im Kapitel über das Polizeigefängnis hieß es dementsprechend: »Ein Hauptkontingent der Leute, die im Polizeigefängnis ein, zwei oder mehrere Tage untergebracht wurden, waren Russen oder Polen, die gegen das Gebot der polizeilichen Anmeldung verstoßen hatten oder ohne LegitimationsPapiere aus Russisch-Polen nach Berlin gekommen waren.«131 »Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über die Meldepflicht der Ausländer« beschäftigten ebenfalls die Verantwortlichen im Berliner Kriegs125 Ebd. 126 Erlass d. Chefs d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel), hier an d. Säch. KM, 10.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 1 f. u. in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 80 f. u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 70 f. 127 Zusammenstellung über d. im Bereich d. XII. AK aufhältlichen Ausländer (Abs. aus d. Akten d. Polizeistelle Dresden), Febr. 1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 140–142. Die Angabe setzte sich zusammen aus circa 2750 feindlichen Ausländer/innen, 820 ›neutralen‹ und 20.180 ›verbündeten‹. 128 Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. KrhM Dresden, 20.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2846, Bl. 31 f. 129 Stv. Gkdo. XIX. AK an d. Sächs. MdI, 12.3.1918, in: HStA Dresden, 10736/3370, Bl. 141. 130 O. A., Die innere Front. Das Königliche Polizei-Präsidium in Berlin, Berlin 1917, S. 87. 131 Ebd., S. 61.
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ministerium wiederholt. »Sowohl bei den Meldepflichtigen als auch bei manchen Polizeiverwaltungen scheint die Meinung Platz gegriffen zu haben, dass insbesondere bei raschem Wechsel der Aufenthaltsorte von den vorgeschriebenen Meldungen Abstand genommen werden dürfe«, monierten sie gegenüber den stellvertretenden Generalkommandeuren im September 1916.132 Wie unterdessen die Bürgermeister Düsseldorfs, Erkraths und Zoppots festgestellt hatten, gehörten die Überwachungsmaßnahmen nicht zu den vordringlichsten Aufgaben der zurückgebliebenen, überbeanspruchten Polizeibediensteten. Dennoch setzte sich die Einsicht in eine Überlastung der Zivilbehörden bei verantwortlichen Offizieren kaum durch. Sie dehnten stattdessen ihre Kritik auf weitere Akteure der Strafverfolgung aus. Exemplarisch beschwerte sich der Leiter der Zentral-Polizeistelle Westen, Hauptmann Fuhrmann, bitter über die Staatsanwaltschaften in Erfurt, Gotha und Eisenach.133 Sie arbeiteten »nicht alle oder nicht durchweg in Spionage- und Sabotagesachen mit dem nötigen Nachdruck«. Er führte dies in Erfurt hinsichtlich der Polizeiverwaltung auf den »bestehenden Mangel an Beamten« und »auf die Unvernunft oder das mangelnde Verständnis der vorhandenen Beamten« zurück. Zwischen amtlichen Zurückweisungen, nicht eingehaltenen Verwaltungsgängen, zögernden Amtsträgern, milde urteilenden Richtern, Zuständigkeitskonflikten, stark voneinander abweichenden Bedrohungseinschätzungen und einer Staatsanwaltschaft, die mögliche ›feindliche‹ Delikte nicht weiterverfolgte, blickte der eifrige Hauptmann auf ein einziges behördliches Versagen. »Da die Verhältnisse in anderen Korpsbezirken nicht günstiger sind«, sollten die Staatsanwaltschaften deshalb auf Weisung der stellvertretenden Generalkommandos seit Dezember 1917 auf »schärfere Strafen« hinwirken.134 Im Angesicht dieser von militärischen und staatlichen Akteuren als krisenhaft wahrgenommenen Verhältnisse verwundert es nicht, dass fortwährend Beschwerden über die Reisetätigkeiten ausländischer Staatsangehöriger vorgetragen wurden. August Isbert (1856–1950), der Militärbefehlshaber des Karlsruher Generalkommandos, verbot ihnen »Reisen aus privaten Gründen (z. B. Gesundheit, Familienverhältnisse, Geschäftsreisen)« gänzlich.135 Egon Freiherr von Gayl (1845–1929), der stellvertretende kommandierende General des Münsteraner Armeekorps, registrierte dagegen noch 1918 »eine grosse Anzahl feindlicher Ausländer[,] die Eisenbahnen nach benachbarten Orten und grösseren Städten benutzen«. Sie seien »fast durchweg in Besitze polizeilicher Reiseerlaubnisscheine, 132 Preuß. KM an d. preuß. stv. Gkdos., 14.9.1916, (Abs.) in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15931. 133 Zentral-Polizeistelle Westen (gez. Fuhrmann) an d. stv. Gkdo. XI. AK, 5.7.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 134 Preuß. KM (gez. v. Fransecky) an d. Preuß. Justizministerium, 6.12.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 135 Bkm. d. stv. Gkdos. XIV. AK, 15.1.1917, in: GLA Karlsruhe, 236/23199 (Herv. im Org.).
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ohne dass ein erkennbarer Grund für die Reise vorliegt«. »Verwandtenbesuche und dergleichen« tat er als »Vergnügungsreisen« ab, die nicht geduldet werden dürften. Diese riefen nicht zuletzt in der Bevölkerung Missstimmung hervor.136 Demzufolge konnte sich ebenso in der Frage der Bewegungsfreiheit eine Verschiebung der Argumente abzeichnen. Während die Spionageabwehr in den Hintergrund trat, gewann die zur Kenntnis genommene Haltung der Bevölkerung an Gewicht. Augenscheinlich wurde ein zunehmender Kontrollverlust lokaler Polizeibeamter in Bezug auf die polnischen Arbeiter/innen. Die im Laufe des Krieges einsetzende Fluchtbewegung nach ihrer von deutschen Truppen besetzten Heimat wussten die staatlichen Kontrollorgane nicht zu unterbinden.137 Ein Grund dafür lag im Fehlen eines allgemeinen Ausweiszwanges für deutsche Staatsangehörige. Die mit der Bahn Abreisenden hätten im Blickkontakt und durch kurze Befragung als Ausländer/innen identifiziert werden müssen. Dazu stellte die Generaldirektion der sächsischen Staatseisenbahn allerdings resignierend fest: »Leider ist es aber durchaus nicht immer möglich, die russisch-polnischen Arbeiter als solche zu erkennen, da sie vielfach der deutschen Sprache mächtig sind und sich auch sonst in ihrer Eigenschaft nicht besonders hervorheben.«138 Neben verstärkten Kontrollen und Zugeständnissen an die Arbeiter/innen wie der Einrichtung von Fürsorgestellen und der Gewährung von Urlaub,139 setzten die Militärbefehlshaber deshalb auf Befehle an die Zivilbevölkerung. Im Hannoveraner Armeekorpsbezirk sollte mit Haft oder Geldstrafe bis 1500 Mark bestraft werden, »wer es unterläßt, von der Abreise oder von dem ihm bekannten Aufenthaltsort polnischer Arbeiter oder Arbeiterinnen, von denen er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, dass sie ohne Erlaubnis der zuständigen Ortspolizeibehörde die Grenzen des Ortsbezirkes ihrer Arbeitsstelle verlassen haben, oder wer, obwohl er von der Absicht polnischer Arbeiter oder Arbeiterinnen, die Grenzen des Ortsbezirks ihrer Arbeitsstelle ohne Erlaubnis der zuständigen Ortspolizeibehörde zu verlassen, zu einer Zeit, in welcher es noch möglich ist, das Verlassen der Arbeitsstelle zu verhindern, glaubhafte Kennt136 Stv. Gkdo. VII. AK an u. a. d. Landräte, d. Polizeipräsidenten u. d. Bürgermeister, 19.4.1918, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 290. 137 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Maßnahmen zur Verhinderung d. Entweichens polnischer Arbeiter, an d. Sächs. KM, 9.2.1917, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 63 u. Sächs. MdI an u. a. d. KrhM u. AmhM, 2.10.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 73. In den Blick der Militärverantwortlichen gerieten ebenfalls bei Vertragsbrüchen die Arbeitgeber, die keine »Anträge auf Zurückführung« stellten: Preuß. KM (Kriegsamt, KriegsErsatz- u. Arbeitsdept.), betr. Weigerungen d. Arbeitgeber, an u. a. d. Sächs. KM, 5.4.1918, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 246. 138 Kgl. Generaldirektion d. Sächs. Staatseisenbahnen (Abt. II) an Käte Gadegast, Rittergut Niedergrauschwitz, Juli 1917, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 126. 139 Preuß. KM, betr. polnische Arbeiter, 21.11.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 59 f.
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nis erhält, es unterläßt, dem nächsten Gemeindevorsteher oder der nächsten Polizeibehörde zur rechten Zeit Anzeige zu machen.«140 Einen Höhepunkt erreichte die Kritik an der polizeilichen Überwachungsarbeit im Sommer 1918. Der Direktor des Allgemeinen Kriegs-Departements, Ernst von Wrisberg (1862–1927), sprach im Namen des Preußischen Kriegsministeriums von einem »Versagen der Fremdenpolizei«.141 Es hätten sich Abweichungen unter anderem beim Alter, mit dem die Meldepflicht begann, dem Personenkreis, den Fristen, den konkreten Vorschriften über An- und Abmeldung, den Arten der Ausstellung von Meldezetteln, der Führung von Fremdenbüchern und den Zuständigkeiten bei Ausnahmeregelungen gezeigt. Daraus folgerten die Berliner Militärvertreter: »Aus der Buntscheckigkeit der äußeren und inneren Verschiedenheiten entsteht eine Unsicherheit, die die Handhabung der Fremdenpolizei nachteilig beeinflußt. Kann sich einerseits bei den Verpflichteten und den Vollzugsorganen das Bewußtsein, was eigentlich Rechtens ist, nicht klar entwickeln, so wird andererseits auch der zur Durchführung der nötigen Ordnung in der Fremdenüberwachung erforderliche Nachdruck gelähmt.«142 In den Augen Wrisbergs war die umfassende und lückenlose Überwachung der Ausländer/innen gescheitert. Ein panoptisches System, das mit Hilfe von Registern und Datenvergleichen, polizeilichen Beobachtungen und persönlichen Meldepflichten die Bewegungen jedes einzelnen Ausländers erfasste und in seiner Durchführung die Menschen selbst zu Überwachenden und Überwachten erzog, war aufgrund fehlenden Personals, (papier-)technischer Unzulänglichkeiten und menschlicher Fehlbarkeit eine Illusion geblieben. Ob von Wrisberg die Irrfahrt des 19jährigen Johann Kopetoski durch Deutschland zu Ohren gekommen war, ist nicht bekannt. Jedenfalls stellte sein Fall keine besonders hervorzuhebende Ausnahme dar. Vielmehr kann er als exemplarisch gelten. Kopetoski betrat am 15. Juli 1915 das »Verwaltungsbüro« der Gemeinde Radevormwald im Regierungsbezirk Düsseldorf. Den Beamten stellte sich »ein junger Mann, der seiner äusseren Erscheinung nach ein Russe ist«, gegenüber.143 Sein genaues Geburtsdatum war unbekannt. Er hatte vor dem Krieg in Wieluń 140 Verordnung, betr. polnische Arbeiter, d. stv. Gkdo. X. AK, 3.3.1917, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 63 f. Strafandrohung an polnische Arbeiter/innen bei Verlassen der Arbeitsstelle: Aufruf d. Okdo. in d. Marken (in polnischer u. deutscher Sprache), 8.3.1917, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 70. 141 Preuß. KM (gez. i. A. v. Wrisberg) an d. Bay. KM, 16.5.1918, (Abs.) in: HStA München, MInn 53978 u. in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1026. 142 Ebd. 143 Vernehmungsprotokoll Johann Kopetoski, 15.7.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 15004, Bl. 380.
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gewohnt, das zu Russland gehörte. Die Stadt war »in den Kämpfen während der letzten Wochen vollständig zerstört und das Gebiet von den Deutschen besetzt worden«. Kopetoski schilderte im Anschluss an diese Ereignisse eine Geschichte der vermeintlichen Unmöglichkeiten. Was der Protokollschreiber notierte, hätte durch ein engmaschiges Netz aus Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen, durch allgemeines Misstrauen und Zurückhaltung gegenüber Fremden verhindert werden sollen. »Seit der Einnahme meiner Heimatstadt war ich arbeits- und obdachlos. Wielon [Wieluń] liegt etwa 4 Stunden Fusswegs von der Deutschen Grenze entfernt. Am 27. Juni ds. Js. habe ich mit einer grossen Anzahl Landsleuten die deutsche Grenze überschritten. Die deutschen Wachtposten hinderten uns, nach Polen zurückzukehren. Wir sind dann weiter nach Deutschland hineingewandert. Nach 4 Tagen erreichten wir die Stadt Posen. In meinem Besitz fanden sich 200.– M[ark, d. Verf.] die ich durch Arbeiten auf deutschen Rentengütern erworben habe. Ich habe in Posen eine Fahrkarte nach Cöln gelöst und bin auch nach Cöln gefahren. Schwierigkeiten bei Lösung der Fahrkarte oder auf der Reise oder bei Ankunft in Cöln sind mir nicht entstanden. In Cöln habe ich in der Nähe des Bahnhofs ein Fahrrad gekauft und habe sofort die Stadt verlassen. Ich bin ziellos darauflos gefahren mit der Absicht, irgendwo auf dem Lande Arbeit als landwirtschaftlicher Arbeiter anzunehmen. In Radevormwald angekommen, habe ich einen des Weges kommenden Mann um Auskunft über Arbeitsgelegenheit gefragt. Dieser verwies mich an den Mühlenbesitzer Dürholt, der mich auch einstellte. Papiere besitze ich nicht.«144 Eine Reise durch das Deutsche Reich ohne Reisepass, Heimatschein oder Ersatzpass, Arbeitsaufnahmen ohne Arbeiter-Legitimationspapiere, Grenzübertritte ohne behördliche Genehmigungen, Fahrscheinkäufe und Zugfahrten, Fahrradkauf und -fahren gegen bestehende Verbote – dies war möglich im Sommer 1915. Und die zutage geförderte ›Buntscheckigkeit‹ des Jahres 1918 legt nahe, dass sich dieser Zustand trotz erhöhter Regelungsdichte und fortwährender Appelle nicht veränderte. Der für den Protokollanten »seiner äußeren Erscheinung nach« leicht zu identifizierende, russländische Staatsangehörige polnischer Nationalität setzte sich über ein Dutzend Bestimmungen hinweg. Er wird diese seinen Aussagen nach kaum gekannt haben. Johann Kopetoski war nicht allein. Bereits im November 1914 hatten die drei russländischen Studenten Moisei Saslawski, Heinrich und Franz Braun eine Reise von Ilmenau in Thüringen nach Norddeutschland angetreten, wo sie die Grenze nach Dänemark überschreiten wollten. Nachdem sie aus der Zeitung von Ausschreitungen gegen Juden und Russlanddeutsche im Russischen Reich gelesen hat144 Ebd.
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ten und in große Sorge um ihre Eltern geraten waren, wollten sie über Nordeuropa zu ihren Familien zurückreisen. Von Ilmenau marschierten sie bis zum Bahnhof Dörrberg und stiegen in einen Zug nach Hamburg. »In Hamburg haben wir in einem Hotel, dessen Namen wir nicht mehr erinnern übernachtet«, gaben die drei bei ihrer Vernehmung zu Protokoll. Anschließend fuhren sie nach Flensburg. Von dort gelangten sie wiederum mit der Bahn und zu Fuß mit einer Zwischenübernachtung in Haberslund nach Haderslund (dän. Haderslev). Erst dort wurde ein Hausierer, den sie nach dem Weg fragten, auf sie aufmerksam und verständigte die Polizei.145 Die Polizeiverwaltung in Kleve hatte ebenfalls zwei russländische Staatsangehörige aufgegriffen. »Nach den eigenen Angaben haben die Genannten ihren Wohnsitz in Rußland beim Herannahen der deutschen Truppen verlassen und sind seitdem ohne Ziel und ohne einen festen Wohnsitz zu haben im deutschen Reichsgebiet umhergeirrt.«146 In Erfurt nahm die Kriminalpolizei Karl Woitschick und Johann Kuverran fest, die keine Ausweise bei sich trugen. »Beide gaben an, ohne Erlaubnis aus ihrer Heimat Janow bei Lublin im besetzten Gebiet nach Deutschland eingewandert zu sein« und hatten bereits »auf einem Gute in der Nähe von Leipzig gearbeitet«.147 In dieses Bild passt nicht zuletzt die von Wilhelm Doegen (1877–1967) nach Kriegsende ermittelte Zahl von 107.391 entwichenen und nicht wieder ergriffenen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten bis zum 10. Oktober 1918. Da etwa 98.300 von ihnen die russländische Staatsangehörigkeit besaßen, kann davon ausgegangen werden, dass viele von ihnen nach dem Waffenstillstand an der Ostfront in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Dennoch gelang es mindestens 7500 anderen ausländischen Staatsbürgern, zu flüchten und unterzutauchen im Deutschen Reich.148
Prekäre Einordnungen und fortwährende Unterscheidungen Authentifizierbare Ausweisdokumente, Meldevorschriften, Ortswechselverbote, Reisebestimmungen und Briefkontrollen sollten zur umfassenden Überwachung feindlicher Ausländer/innen beitragen, um Spionage und Sabotage zu verhindern. Solche Maßnahmen stellten überprüfbare Bezugspunkte innerhalb einer als gefährdet wahrgenommenen Ordnung der ›Heimatfront‹ dar. Sie brachten in ihrem 145 Erklärung Moisei Saslawski, Heinrich u. Franz Braun vor d. Amtsgericht Flensburg, 2.12.1914, in: HStA Weimar, Staatsanwaltschaft beim Sachsen-Weimar-Eisenachischen Landgericht Eisenach, Nr. 7, Bl. 17 f. 146 Bürgermeister d. Stadt Kleve an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 4.12.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14998, Bl. 84. 147 Zentral-Polizeistelle Westen (gez. Fuhrmann) an d. stv. Gkdo. XI. AK, 5.7.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 148 Wilhelm Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal in Deutschland, Berlin 1921, S. 28 f. Nach den dortigen Angaben besaßen 98.293 von ihnen die russländische Staatsbürgerschaft.
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Zusammenspiel und in ihrer Generalisierung ausländischer Staatsangehöriger eine bürokratische und alltagspraktische Unterscheidung zwischen In- und Ausländer/ innen hervor, die jenseits kultureller oder sozialer Kriterien aufbrach. Eine solche Bresche blieb nicht allein beschränkt auf die Papierarbeiten in den Amtsstuben. Die staatliche Kontrolle konnte sich ebenso in öffentlichen, symbolischen Akten manifestieren, wie Ereignisse auf dem Gießener Bahnhofsvorplatz und einem Göttinger Schulhof verdeutlichen. Für Boris Ionovič Birukov, Professor an der Kaiserlichen Nikolajewski-Universität in Saratow, endete in den ersten Mobilmachungstagen die Zugfahrt von Bad Homburg nach Berlin vorzeitig. Frankfurt hatte er ohne Probleme passiert. Da erschallte während des Aufenthaltes in Gießen die drohende Stimme eines Soldaten: »alle Russen heraus!«149 Nach Durchsuchungen und einer Nacht in den Wartesälen des Bahnhofs fand er sich mit hunderten Schicksalsgenossen, von Soldaten umstellt, auf dem Bahnhofsvorplatz wieder. »Unser Erscheinen wurde fast großmütig von einer tausendfachen Menge mit triumphierenden Schreien erwidert, darunter Ausrufe: ›Das sind die ersten Kriegsgefangenen!‹ […] Man vernahm das Schluchzen von Kindern, neben mir schrie eine Dame hysterisch auf, auf allen Gesichtern lagen Schrecken und Angst, dass etwas Schlimmes passiert, doch in meinem Gedächtnis flammte etwas auf, […] die Feuerroten Ziffern ›116‹ (Regimentsnummer), die auf den Helmen der Soldaten leuchteten.«150 Seine Mitreisenden und er wurden allein zur Passkontrolle und zum Ausstellen einer Unbedenklichkeitsbescheinigung durch den Gießener Kommandanten in die Herberge Windhof geführt, wo bereits früher angekommene russländische und französische Staatsangehörige übernachtet hatten.151 Der Weg dorthin glich für die Abgeführten einem anstrengenden und entwürdigenden Spießrutenlauf. »Ich konnte in keinem der Gesichter Bedauern oder Mitgefühl mit unserem Los erkennen«, erinnerte sich Birukov.152 »Und wir sind die Hauptstraße entlang durch die ganze Stadt gelaufen, begleitet von Soldaten und einem Menschenauflauf[.]« Viele vormals umworbene Kurgäste schleppten unter der gleißen149 Birukov, V germanskom plěnu, S. 7. Die folgenden Ereignisse werden ebenfalls in einer Binnenerzählung wiedergegeben in: Nikolaj Platonovič Karabčevskij, Mirnye plěnniki. V kurortnom plěnu u němcev. Vpečatlěnija i nabljudenija, Petrograd 1915, S. 36. Franz. Übersetzung: N. P. Karabtchewsky, Les prisonniers civils en Allemagne. Impressions de captivité a Bad Hombourg, Paris 1917. 150 Birukov, V germanskom plěnu, S. 13. 151 In einer Meldung der Frankfurter Zeitung wird von 600 kontrollierten Ausländer/innen berichtet; siehe: Die »Ausländerkolonie« in Gießen, in: Frankfurter Zeitung, 11.8.1914 (Nr. 221, Abendblatt). 152 Birukov, V germanskom plěnu, S. 14.
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den Sommersonne ihr Gepäck einem für sie ungewissen Ziel entgegen. »Einige begannen vor Erschöpfung zu stürzen und es glitten Sachen aus ihren Armen. Geschah dies, näherte sich der nächste Soldat mit grobem Schrei mit dem bajonettbestückten Gewehr.« Ähnliches schilderte ein Bekannter des Rechtsanwaltes Nikolaj Platonovič Karabčevskij (1851–1925), der ebenfalls versuchte hatte auszureisen, über das »Straßenfest« in Gießen. »Wer zurückblieb wurde mit Schimpfworten herangetrieben, mit Fäusten und Gewehrkolben traktiert.«153 Der bürokratische Akt der Visierung ging gleitend in eine öffentliche Zurschaustellung ausländischer Staatsangehöriger über – da liefen sie, die »Russen«. »Folglich machten die Deutschen keinen Unterschied zwischen Kranken und Gesunden, zwischen Einfachen und Vornehmen«, vergegenwärtigte sich Birukov die Situation. »Die ganze Sache bestand darin, dass jeder von uns, der aus Russland gekommen war, einen russischen Pass bei sich führte und deshalb auf alle Fälle sich als Spion verdächtig machte.«154 Nachdem sie verhört, ihre Ausweispapiere bestätigt und gegengezeichnet worden waren, durften sie wieder abreisen. Sie erhielten einen Passierschein, auf dem nicht die Worte ›visiert‹ oder ›überprüft‹ standen, sondern der Vermerk ›entlassen‹. Birukov und der Bekannte Karabčevskijs traten die Reise zurück nach Bad Homburg an.155 Die russländischen Geschäftsinhaber Nathan Blum (1873–1929) und Paul Silbergleit (1881–?) erlebten in ihrem langjährigen Wohnort Göttingen eine ähnliche öffentliche Ächtung.156 Obwohl die städtische Polizeiverwaltung ihnen und ihren Familien vor der Bekanntmachung der Kriegserklärung einen weitgehenden Schutz zugesagt hatte, blieben sie wie andere ausländische Staatsangehörige nicht vor Verhaftungen, der Überwachung ihrer Geschäftskorrespondenz und regelmäßigen Kontrollen verschont. Ihr Anwalt Hermann Föge (1878–1963) schilderte die in »regelmässigen Zwischenräumen« ergehenden Kontrollen an »bestimmten Plätzen« folgendermaßen. »Unter andern ist dafür einmal der Schulhof der Volksschule und zwar nachmittags um 4 Uhr, als die Schüler gerade aus der Schule kamen, gewählt. Sie haben mit den ebenfalls geladenen russischen Studenten in Reih und Glied antreten müssen und haben auf dem Platze Verhaltungsmassregeln erhalten. Dem Vorfall hat eine Anzahl Publikum, insbesondere eine Reihe Schüler beigewohnt und der Erfolg war, dass bei diesen auf dem Platz aufgestellt gewesenen »Russen« niemand mehr kauft[.]«157 153 154 155 156
Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 36 f. Birukov, V germanskom plěnu, S. 23. Ebd., S. 15–21. Zum Fall der beiden Geschäftsinhaber siehe auch: Detlef Busse, Engagement oder Rückzug? Göttinger Naturwissenschaften im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2008, S. 48 f. 157 Rechtsanwalt Föge an d. Polizeiverwaltung Göttingen, 15.9.1914, in: StA Göttingen, Pol.Dir. Fach 165/Nr. 1, Bl. 102 ff. Zitiert ebenfalls bei: Busse, Engagement oder Rückzug?, S. 49.
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Die Meldepflicht war nicht auf Diskretion ausgelegt. Allein der regelmäßige Gang zur nächstgelegenen Revierstube überführte die polizeiliche Kontrolltätigkeit in eine begrenzte Öffentlichkeit. Die an diesem Akt beteiligten Akteure einschließlich der Passanten inszenierten staatliches Handeln und verknüpften unterschiedlichste Personen lediglich aufgrund ihrer gemeinsamen Staatsangehörigkeit miteinander. Die Szene auf dem Göttinger Schulhof visualisierte eine von mehreren ordnenden Informationen polizeilicher Meldedaten im städtischen Raum. Die Beamten machten die angetretenen Ausländer/innen als Andere zähl-, erfassund greifbar – da standen sie, die »Russen«. Die nationale, soziale und lebensweltliche Verschiedenartigkeit, der individuelle Status ausländischer Staatsbürger/innen und kriegswirtschaftliche wie -politische Interessen spielten eine wichtigere Rolle in der Überwachungspraxis seit den Herbstmonaten 1914. Zwar wurden die polizeilichen Kontrollen als maßgeblich bei der Sicherung der ›Heimatfront‹ angesehen, jedoch waren sie zunehmend von vielerlei Ausnahmen gekennzeichnet. Diese konnten in Bezug auf bestimmte Gruppen gelten oder sich in Einzelfallentscheidungen niederschlagen und Erleichterungen wie Verschärfungen bedeuten. Nach dem Kriegseintritt Italiens gegen Österreich-Ungarn fielen die Absichten der Heeresführung zum Nachteil italienischer Staatsangehöriger aus. Die Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums plädierten dafür, »die in Deutschland befindlichen Italiener nicht mehr als neutrale Ausländer« zu betrachten. Obwohl eine amtliche Kriegserklärung gegen das Deutsche Reich im Mai 1915 weiterhin ausstand und sie folglich keine Angehörigen eines Kriegsgegners waren, sollten sie »im Interesse der Sicherheit des Landes, entsprechend den für diese hinsichtlich Meldepflicht und Ortswechsel gegebenen Bestimmungen zu behandeln sein, weil die Gefahr der Spionage besonders groß« sei.158 Erst ein Jahr später, mit der Kriegserklärung Italiens, hatten sie auch offiziell den Status als feindliche Ausländer/innen inne.159 Umgekehrt erging es den russländischen, nicht-polnischen Staatsangehörigen. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk am 3. März 1918 lehnten die Heeres- und die Reichsleitung »eine völlige Bewegungsfreiheit« für sie ab, weil sich unter ihnen »vielfach […] verdächtige Elemente« befänden.160 Daran anschließend konnten die stellvertretenden Generalkommandeure souverän entscheiden, ob sie »Aufenthaltswechselverbote und Meldepflicht« weiterhin anordneten. Erst am 3. November 1918 verkündete das Berliner Kriegsministerium, 158 Preuß. KM, betr. Behandlung d. Italiener in Dtl., 29.9.1915, in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 21 f. u. für Württemberg: Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 28. 159 Preuß. KM an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 29.8.1916, (Telegramm) in: HStA Dresden, 11348/2833, Bl. 55. 160 Aktenvermerk zu d. Ergebnissen d. Besprechung im RAdI am 27.4.1918, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112382, Bl. 13–15.
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dass »den Staatsangehörigen der russischen Republik und der ehemals russischen Gebiete, soweit sie dort als einwandfrei bekannt sind, möglichst weitgehende Erleichterungen in der Meldepflicht zu gewähren« seien.161 Eine einmalige wöchentliche Meldung sollte für diejenigen genügen, die »bereits seit Jahren in Deutschland leben und als unverdächtig anzusehen sind«. Während Ernst von Wrisberg fortwährend darauf beharrte, dass »in unseren Ostgebieten von der Entente und von ententefreundlicher Seite eine den deutschen Interessen abträgliche Tätigkeit entfaltet wird« und dies »geeignete Schutzmaßnahmen« erfordere, hatten offenbar zuvor die »meisten Militärbefehlshaber in zahlreichen Fällen Erleichterungen gewährt«.162 Im Gegensatz dazu gestaltete sich die Situation US-amerikanischer Bürger/ innen nach dem Kriegseintritt ihres Landes. Weil sich »zahlreiche« deutsche Staatsangehörige in den USA aufhielten, empfahlen die Vertreter des Berliner Kriegsministeriums »eine nicht zu strenge Handhabung der angezogenen Bestimmungen«. »[I]nsbesondere wird anheimgestellt, in Einzelfällen einwandfreien und als deutschfreundlich bekannten Personen, von denen staatsfeindliche Handlungen nicht zu erwarten sind, Erleichterung in der Meldepflicht zu gewähren.«163 Die Juristen des Auswärtigen Amtes hielten es gar für »wünschenswert«, »wenn die Amerikaner hinsichtlich der polizeilichen Meldepflicht und des Ortswechselverbots nicht wie feindliche Ausländer behandelt werden«.164 Kurz vor Kriegsende, als die Präsenz US-amerikanischer Truppen auf dem westeuropäischen Kriegsschauplatz spürbar zugenommen hatte, gerieten allerdings auch sie in den Fokus der Abteilung III b des stellvertretenden Generalstabes. Besonders »Deutsch-Amerikaner«, »die vorzüglich deutsch sprechen«, wurden verdächtigt, an einem »ausgezeichnete[n] Netz von Agenten« mitzuwirken. Sie, zu denen ferner während des Krieges eingebürgerte US-Amerikaner zählten, standen fortan unter »scharfe[r] Aufsicht«.165 Gänzlich andere Interessen leiteten die Reichsleitung und die Heeresführung in Bezug auf die Angehörigen des Regentschaftskönigreiches Polen, das am 5. November 1916 durch die Mittelmächte proklamiert worden war. Ihre Anerkennung als Pol/innen stand fortwährend zur Disposition, um eine rechtsförmige Zurück161 Preuß. KM (gez. v. Wrisberg) an u. a. d. preuß. stv. Gkdos. u. hier d. Württ. KM, 3.11.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 880, Bl. 9. 162 Preuß. KM (gez. v. Wrisberg) an d. Reichskanzler (RAdI), 6.11.1918, in: BArch Berlin, R 1501/112382, Bl. 101. 163 Preuß. KM an sämtl. militärische Stellen, hier wtgl. an d. Sächs. KM, 18.4.1917, in: HStA Dresden, 10736/3367, Bl. 14 u. Preuß. KM (gez. v. Stein) an d. preuß. stv. Gkdos., 25.6.1917, in: StA Marburg, 165/517, Bd. 3, Bl. 248. 164 AA (gez. i. A. d. Reichskanzlers, Ernst Schmidt-Dargitz) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 9.6.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3367, Bl. 42. 165 Stv. Generalstab d. Armee (Abt. III b, Sektion Abwehr), 10.9.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/1601, Bl. 94.
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haltung der ehemaligen russländischen Staatsbürger/innen zu gewährleisten. Obschon es Stimmen gab, wie die Hans Georg von Oppersdorffs (1866–1948), der eine »differenzierte Behandlung der Polen und Russen« empfahl, um zur »Belebung der Sympathien« für Deutschland beizutragen,166 setzten sich die von der Obersten Heeresleitung propagierten und von der Reichsadministration unterstützten kriegspolitischen Grundsätze durch. Sie verfolgten einerseits das Ziel, die polnischen Arbeitskräfte für die agrarische und industrielle Kriegswirtschaft im Deutschen Reich zu erhalten. Andererseits strebten sie an, Wehrfähige für eine polnische Armee im Generalgouvernement Warschau zu rekrutieren. Die vor diesem Hintergrund erfolgte Proklamation eines polnischen Staates änderte in der Praxis nichts an der russländischen Staatszugehörigkeit der Pol/innen innerhalb der Reichsgrenzen. Sie durften weiterhin nicht in ihre Heimatorte zurückkehren, die Meldepflichten galten fort, Vertragsbrüche und unerlaubte Ortswechselverbote wurden teilweise rigide bestraft und die Zwangsverwaltungen über ihre Unternehmen blieb bestehen.167 Die Verweigerung der polnischen Staatsbürgerschaft wurde politisch und juristisch mit einer nicht abgeschlossenen Staatsbildung begründet, während selbst die Entwürfe eines »Grundgesetzes für das Königreich Polen« aus deutscher Hand die Staatszugehörigkeit eindeutig geregelt hatten. Dementsprechend besäßen »[s]ämtliche Angehörige des Russischen Reiches, die am 1. Juli 1914 im Staatsgebiet ihren ständigen Aufenthalt gehabt haben und nicht auf Grund des Friedensvertrags von einem anderen Staate übernommen werden, […] die polnische Staatsangehörigkeit«.168 Die Heeres- und die Reichsführung hielten beständig an ihrem ablehnenden Standpunkt fest, obwohl ein polnischer Staatsrat eingesetzt und die Regierungsbildung eingeleitet worden war, obschon (zögerlich) wichtige Verwaltungszweige wie das Bildungs- und Justizwesen übergeben wurden und vor allem die Aufstellung einer Armee erfolgte.169 »Ein Königreich Polen besteht noch nicht. Die aus den besetzten Gebietsteilen Russisch-Polens stammenden, in Deutschland sich aufhaltenden Personen besitzen daher eine besondere Staatsangehörigkeit zunächst nicht und werden rechtlich nach der Proklamation vom 166 Graf v. Oppersdorff (MdR) an d. Preuß. MdI (Zentralbüro, Oberregierungsrat Dr. Conze), 31.8.1914, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 863a, Nr. 18, Bl. 4 (Herv. im Org.). 167 Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, hier wtgl. an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 4.6.1917, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2093. Exemplarisch für den Umgang mit polnischen Saisonarbeiter/innen in Württemberg: Bkm. d. stv. Gkdo. XIII. AK (gez. v. Schaefer), betr. im Korpsbezirk befindliche Polen, 23.1.1917, (Abs.) in: Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Anl. 10. 168 Entwurf d. Staatsgrundgesetzes für d. Königreich Polen, hier Teil 1, Artikel 5 (erstellt durch d. Verwaltungschef beim Generalgouvernement Warschau; Eingang d. Stellungnahme d. Stellvertreter d. Reichskanzlers im Preuß. Justizministerium am 27.11.1916), o.D., in: GStA PK, I. HA Rep. 84a, (Preuß. Justizministerium), Nr. 11758. 169 AA (gez. Kriege) an d. Staatssekretär d. Innern, 30.9.1917, in: BArch Berlin, R 901/83530.
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5. November 1916 nicht anders behandelt, als seit Beginn der Besetzung«, erläuterte Karl Helfferich (1872–1924), der Staatssekretär des Reichsamts des Innern gegenüber dem Auswärtigen Amt.170 Die Reichsleitung verteidigte diese Leitlinie ebenso auf diplomatischem Parkett. Sie setzte Ende Juni 1917 den österreichischungarischen Botschafter in Berlin darüber in Kenntnis, dass »nach Ansicht der kaiserlich deutschen Regierung eine polnische Staatsangehörigkeit derzeit noch nicht bestehe und dass die aus den besetzten polnischen Gebieten stammenden Angehörigen des russischen Reiches die russische Staatsangehörigkeit nicht verloren haben«.171 Sein Widerspruch, dass im Laufe des zurückliegenden Jahres eine juristische Anerkennung der »Staatsangehörigkeit im Königreiche Polen« vollzogen worden sei, blieb erfolglos. Die Proklamation eines zukünftig unabhängigen Polens hatte gleichwohl praktische Fragen aufgeworfen, welche die Berliner Verantwortlichen nicht ignorieren konnten. So galt im Generalgouvernement Warschau seit dem 5. Mai 1916 eine Wahlordnung für die Warschauer Stadtverordnetenversammlung, die das aktive Wahlrecht an den Besitz der polnischen Staatsangehörigkeit knüpfte,172 und die Beamten der Gouvernementsverwaltung stellten Pässe aus, in denen die Zuschreibung ›Pole‹ eingeführt worden war.173 Dem folgten sprachliche Korrekturen in Deutschland. Vertreter des Kriegsamtes befürworteten, »in amtlichen Schriftstücken die ›russischen Polen‹ künftig nicht mehr als Russen, sondern nur als ›Polen‹ zu bezeichnen«.174 Infolgedessen hatten sich die Oberste Heeresleitung, das General-Gouvernement Warschau und die Führung des Okkupationsgebietes Ober-Ost verständigt, dass als Pole »anzusehen« ist: »a) Jeder, der aus den besetzten polnischen Gebieten stammt und nicht orthodoxen Glaubens ist (z. B. auch deutschstämmige und Juden) und b) Jeder, der die polnische Sprache als Muttersprache spricht und nicht orthodoxen Glaubens ist (z. B. auch in Großrußland ansässige)«.175
170 Staatssekretär d. Innern an d. Staatssekretär d. AA, 28.4.1917, in: BArch Berlin, R 901/83530. 171 Antwortnote d. Österreichisch-Ungarischen Botschaft an d. AA, 17.9.1917, in: BArch Berlin, R 901/83530. 172 Ebd. 173 Preuß. KM (Kriegsamt, gez. i. A. Marquard) an d. Reichskanzler (RAdI), 13.12.1916, in: BArch Berlin, R 1501/113715, Bl. 54. 174 Ebd. u. Preuß. KM (Kriegsamt, gez. Marquard) an d. Saisonarbeiter-Fürsorge Berlin, 13.12.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/113715, Bl. 50. 175 Preuß. KM, betr. Stellung d. kriegsgefangenen Polen, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., hier wtgl. an d. Bay. KM u. d. stv. Gkdos. bay. AK, 20.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo I. bay. AK, 2093.
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Allerdings sollten »kriegsgefangene Polen« keinen Anspruch darauf haben, »von den ihnen zugewiesenen Stellen in irgend einer Form fortzukommen«. Ihr militärischer und rechtlicher Status als Kriegsgefangene erfuhr keine Änderung. Die Russischen Revolutionen und der Waffenstillstand an der Ostfront setzten die Frage des Umgangs mit der polnischen Staatsangehörigkeit Ende 1917 erneut auf die Tagesordnung der Reichsleitung.176 Die beteiligten militärischen und zivilen Ressortvertreter waren sich weiterhin einig, dass eine polnische Staatsangehörigkeit nicht anerkannt werden könne. Sie befürchteten »schädliche Rückwirkungen auf die deutsche Kriegswirtschaft und auf die kriegsgefangenen Polen«.177 Der preußische Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums, Paul von Eisenhart-Rothe (1857–1923), erinnerte ebenfalls an die Bedeutung des ablehnenden Standpunktes. Er empfahl bei den Friedensverhandlungen mit den Delegierten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, »diese Frage offen zu lassen«. »Da wir die Arbeiter unter allen Umständen bis zur allgemeinen Demobilisierung hier behalten müssen, halte ich es jedenfalls für notwendig, daß wir bei Abschluß eines Sonderfriedens mit Rußland keinerlei Verpflichtung übernehmen, diesen Arbeitern die sofortige Rückkehr nach Rußland und Polen zu gestatten.«178 Obwohl sprachlich und argumentativ in den Verhandlungen über Polen und seine Bürger/innen und im Generalgouvernement Warschau de facto eine polnische Staatsangehörigkeit existierte, durfte es sie rechtlich und im Interesse der Kriegswirtschaft innerhalb der Reichsgrenzen nicht geben. Drei Monate nach der Unterzeichnung der Friedensverträge von Brest-Litowsk wurde den Militärbehörden mitgeteilt, dass diese »sich nur auf die Sowjetrepublik Russland und auf die Ukraine beziehen[.] […] An den Verhältnissen der aus den Randstaaten stammenden Arbeiter wird sich daher durch den Eintritt des Friedenszustandes im Osten nichts ändern.«179 176 Preuß. Staatssekretär d. Innern (gez. Lewald) an d. Staatssekretär d. AA, 2.12.1917, in: BArch Berlin, R 901/83530 u. Aufzeichnung d. komm. Beratung im RAdI, betr. Anerkennung d. Einwohner d. Generalgouvernements Warschau als polnische Staatsangehörige, 11.12.1917, in: Ebd. 177 Redebeitrag Hauptmann Crantz, Abgesandter d. Obersten Heeresleitung, in: Ebd. 178 Preuß. Min. für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten an d. Reichskanzler (AA), 17.12.1917, in: BArch Berlin, R 901/83530. 179 Preuß. KM (Kriegsamt), betr. Fortdauer d. Bestimmungen für poln. Arbeiter, an u. a. d. Sächs. KM, 24.6.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 75. Der Richtlinie voraus gingen wiederum Beratungen im Reichsamt des Innern. Siehe: Aktenvermerk zu d. Ergebnissen d. Besprechung im RAdI am 27.4.1918, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112382, Bl. 13–15. Nochmals unterstrichen wurde die unnachgiebige Position im September 1918: Preuß. KM (Kriegsamt), betr. Erleichterte Beurlaubung polnischer Arbeiter, an u. a. d. Sächs. KM, 4.9.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 90.
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Die Zukunftsperspektiven der polnischen Arbeiter/innen wandelten sich erst Mitte Oktober 1918. In den Planungen für ein weiteres Kriegsjahr sollten sie über die Wintermonate in ihre Heimat zurückkehren können, sofern sie Arbeitsverträge für das darauffolgende Wirtschaftsjahr abgeschlossen hatten und »soweit es die Verkehrsverhältnisse auf der Eisenbahn und die Arbeitslage des Betriebes irgend gestatten«.180 Ihr prekärer Status änderte sich aber ebenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht. Am 25. November 1918 beschwerte sich die Gesandtschaft der Polnischen Republik darüber, dass polnische Staatsangehörige in Berlin »hierorts noch immer als Angehörige eines feindlichen Staates behandelt [werden] und […] sämtlichen Verordnungen und Polizeibeschränkungen unterworfen [sind], die feindliche Ausländer betreffen«.181 Die Überwachungsmaßnahmen konstituierten sich nicht nur als Schutz vor Spionage und Sabotage. Sie hatten als (außen-)politisches (Sanktions-)Instrumentarium und wirtschaftliches Zwangssystem neben den (militärischen) Sicherheitsinteressen des Staates eine entscheidende Bedeutung gewonnen. Diese sich durchsetzenden Leitgedanken aus den staatlichen Führungszirkeln mussten innerhalb eines Netzwerkes verschiedenartiger Akteure in Praktiken vor Ort übersetzt werden. Die Vorgaben und Erörterungen auf Reichsebene hinsichtlich der nationalen Kategorisierung und Unterscheidung feindlicher Ausländer/innen vermitteln hierbei mitunter den Eindruck, dass in den Gendarmerie- und Militärbezirken durchaus gleichartige Vorstellungen über die ausländischen Anwesenden existierten und darüber hinausgehende Faktoren und Interessenkonstellationen kaum eine Bedeutung für lokal-staatliche Akteure besaßen. Dem war nicht so. Beweggründe, die Ausnahmen von den Überwachungsvorsätzen begünstigen konnten, offenbaren zunächst interne Berichte des Stuttgarter stellvertretenden Generalkommandos, das für das Königreich Württemberg verantwortlich zeichnete.182 Die Offiziere der Ausländerabteilung konstatierten über die Gewährung von Ausnahmen, dass die »täglich zweimal erfolgende Meldung […] in sehr häufigen Fällen durch Gestattung von Ausnahmen durchbrochen« wurde. Im Zuge dessen delegierten sie die Entscheidungshoheit an die zivilen Oberämter, die »in eigener Machtvollkommenheit die Meldepflicht auf eine täglich einmalige Meldung einschränken« konnten und von diesem Recht nicht nur im Falle der USAmerikaner Gebrauch gemacht hatten. Die Militärverantwortlichen genehmigten zugleich darüber hinaus gehende Befreiungen »vielfach«. Als zentrale Kriterien fungierten für sie zum einen der Gesundheitszustand des Einzelnen und zum 180 Preuß. KM (Kriegsamt) an u. a. d. Sächs. KM, 12.10.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 132. 181 Verbal-Note d. Gesandtschaft d. Polnischen Republik an d. AA, Berlin, 25.11.1918, in: BArch Berlin, R 901/83530. 182 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 6 u. Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 19 f.
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anderen »die Dauer der täglichen Arbeitszeit und der nähere oder weitere Weg des Meldepflichtigen von der Wohnstelle zur Arbeitsstelle, und von beiden zur Polizeiwache«. Die Verfügbarkeit für die Kriegswirtschaft konnte folglich in Württemberg die polizeiliche Überwachung einschränken. Für bestimmte Berufsgruppen wie ausländische Ärzte, Krankenpflegerinnen oder auch Schüler/innen wurde die Meldepflicht zum Teil sogar vollständig erlassen. In der polizeilichen Praxis existierten ferner soziale Unterscheidungen. Im August 1914 hatte der Stuttgarter stellvertretende Generalkommandeur von einer Ausweisung feindlicher Staatsangehöriger abgesehen, die »im Lande sesshaft« waren und für deren »Unverdächtigkeit sich zwei angesehene Personen« verbürgten. Dieser eingeforderte gute Leumund bevorzugte Ausländer/innen aus dem Bürgertum, die über ausreichende soziale Beziehungen in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld verfügten. Ihre daran anschließende Behandlung unterstrich abermals ihre gehobene gesellschaftliche Stellung. Denn von ihrer weiteren Kontrolle wurde umfänglich abgesehen. Rückblickend urteilte der Kriegsgerichtsrat Karl Heigelin (1854–?), der in der Stuttgarter Militärbehörde tätig war, dass diese »vorgesehene Verbürgung« in Württemberg »wenig Wert« hatte.183 Sie hätte nach seiner Ansicht nur eine Bedeutung erlangen können, wenn die Bürgen verpflichtet worden wären, die Verantwortung für etwaige Schäden zu übernehmen, die »durch deutschfeindliche Betätigung« des Betreffenden entstünden. So sei es lediglich eine moralische Erklärung gewesen. Der Kriegsgerichtsrat war womöglich durch eine entsprechende Weisung des Frankfurter Generalkommandos zu dieser Einsicht gelangt. Im dortigen Befehlsbereich mussten die Bürgen versichern, »für allen Schaden aufzukommen, der dem Deutschen Reiche […] dadurch erwächst, dass der feindliche Ausländer sich deutschfeindlich betätigt«.184 Die allgemeinen Meldebestimmungen und regelmäßigen Aufenthaltskontrollen galten im Königreich Württemberg erst im Zuge der Internierung britischer Wehrpflichtiger Anfang November 1914 und der Überarbeitung der Ausländer/innenrichtlinien durch das Preußische Kriegsministerium. Aber Karl Heigelin behielt seine skeptische Distanz gegenüber Loyalitätsfragen bei. Er schätzte Gesuche grundsätzlich als fragwürdig ein, mit denen ausländische Staatsangehörige eine Befreiung von der Meldepflicht anstrebten. Mehrheitlich handele es sich um »Personen deutscher Abstammung, die durch Naturalisation oder durch Geburt auf ausländischem Boden zu feindlichen Ausländern geworden waren, Frauen, die durch Verheiratung […] die feindliche Staatsangehörigkeit erlangt hatten, Kinder solcher Personen, die ursprünglich Deutsche gewesen waren«. Obwohl der Kriegsgerichtsrat anerkannte, dass von ihnen keine Gefahr ausging und ihre restriktive 183 Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 15 ff. 184 Stv. Gkdo. XVIII AK. (gez. de Graaff, Chef d. Stabes) an u. a. d. Hessische Großherzgl. MdI, 17.11.1914, in: StA Marburg, 165/517, Bl. 129.
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Kontrolle keinen Druck auf feindliche Regierungen ausübte, beharrte er auf dem Unterscheidungskriterium der Staatsbürgerschaft. Denn es bedürfe »eines festen Merkmals«, um dem Verdacht der Begünstigung zu entgehen. »Ein solches Merkmal konnte aber nur die Staatsangehörigkeit abgeben.«185 Mit diesem Standpunkt innerhalb staatlicher Netzwerke formulierte Heigelin ein verwaltungstechnisches Argument, das Bürokratie auf ein vermeintlich ›objektives‹ Handwerk reduzierte. Das Wissen um Unterschiede spielte demnach für ihn keine Rolle. Karl Heigelins weitere Äußerungen verdeutlichen gleichwohl, dass die Anwendung des eindeutigen Merkmals seiner persönlichen Haltung gegenüber den Betroffenen entsprach. Er verdächtigte sie zugleich, sich durch den Wechsel der Staatsangehörigkeit der Wehrpflicht entzogen zu haben. Sein diesbezügliches Urteil sah keine Kompromisse vor. »Es war in Ordnung,« notierte er, wenn sie »für dieses ungerechtfertigte Überbordwerfen der Staatsangehörigkeit […] Strafe erlitten oder wenn sie für ein derartiges Verhalten ihrer Eltern büssen mussten.«186 Seine Zweifel über ihre unerschütterliche Loyalität gegenüber dem deutschen Staat und der Nation fand er zudem oftmals bestätigt. »Es war auch keineswegs so, dass in allen Fällen […] deutsche Gesinnung und deutsche Betätigung hätte festgestellt werden können«, fügte er hinzu. »Im Gegenteil ist wahrgenommen worden, dass einzelne von ihnen durch den längeren Aufenthalt im feindlichen Ausland ihrem Wesen nach völlig zu Ausländern geworden waren.« In seinen Augen betraf dies unter anderem für längere Zeit in Frankreich lebende Frauen und Personen, die nach England oder Amerika ausgewandert waren und schließlich »die dortige nationale Gesinnung angenommen oder wenigstens die deutsche verloren hatten«.187 Ob dieser Gesinnungswandel oder die Änderung der Staatsangehörigkeit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bedeutete, spielte für Heigelin keine Rolle mehr. Mit seinen Argumenten für die Wirksamkeit der bürokratischen Signatur entfernte er sich in seinem Bericht mit Leichtigkeit vom ursprünglichen Bezugspunkt, den Meldepflichten. Nicht Spionage- oder Sabotageverdacht rechtfertigte nun eine pauschale Behandlung der Ausländer/innen, sondern vielmehr ihr vollzogener nationaler Statuswechsel, ihre daraus zu schließende fehlende Gesinnung und ihre ungenügende Haltung gegenüber der nationalen Gemeinschaft. Von der Abwägung ihrer Gesinnung waren ebenfalls etwa 30.000 russländischdeutsche Rückwanderer betroffen,188 die im 19. Jahrhundert unter anderem nach Wolhynien ausgewandert waren und sich nach den Worten der Reichsleitung »ihr Deutschtum in Sprache und Sitte« erhalten hatten. Sie fielen zumeist 185 Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 15 ff. 186 Ebd. 187 Ebd., Bl. 17 ff. 188 Vgl. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 333–337.
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unter die Bestimmungen für »russische Arbeiter« und wurden aufgrund ihrer rechtlichen Staatszugehörigkeit lange Zeit als »Russen« behandelt, obwohl viele von ihnen bereits vor dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt waren.189 Im Sommer 1916 gewährten ihnen die Verantwortlichen des Berliner Kriegsministeriums schließlich auf Anregung des 1909 gegründeten Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer »Vergünstigungen und Erleichterungen« vornehmlich für die Kündigungsbedingungen ihrer Arbeitsverträge.190 Während sie sich im Russischen Reich wirtschaftlichen Sanktionen ausgesetzt sahen und teilweise ins Landesinnere deportiert wurden, stand ihre Loyalität im Deutschen Reich ebenfalls zur Disposition. Innerhalb des stellvertretenden Generalstabes der Armee kursierte der Verdacht, dass »die Russen deutsche, aus Rußland zurückgekehrte Rückwanderer zur Spionage benutzen«.191 Eine erneute Ausreise ihrerseits wurde deshalb an eine gesonderte Genehmigung geknüpft.192 Ähnlich erging es Elsaß-Lothringern. Sie flüchteten aus dem Kriegsgebiet oder waren seit den ersten Kriegstagen umfänglich aus ihren Heimtorten ins Reichsinnere abgeschoben worden. »In der Mehrzahl der Fälle wird es sich um Personen handeln, bei denen bestimmte nachweisbare Tatsachen für ihre Staatsgefährlichkeit nicht vorliegen, deren Entfernung aus dem Grenz- und Operationsgebiet aber aus politischen und militärischen Rücksichten wünschenswert ist«, urteilten die Berliner Militärverantwortlichen über die Abgeschobenen.193 Sie sahen sich als Inhaber/innen eines deutschen Passes »deutschfeindlicher Gesinnung« beschuldigt und unterlagen den gleichen Meldepflichten, Bewegungseinschränkungen und Briefkontrollen wie feindliche Ausländer/innen, wobei diese Maßnahmen von der Heeresführung wie der Reichsleitung bereits als »Erleichterungen« angesehen wurden. In ihre Heimat durften sie während des Krieges nicht zurückkehren.194 »Insbesondere dürfen sie ohne Genehmigung der Polizeibehörde ihres jetzigen Wohnsitzes ihren Wohnort nicht mehr verlassen«, stellte die Polizeiverwaltung im
189 Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen zu d. Befehl, betr. d. russischen Arbeiter, 1915, (Ent.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16101. 190 Preuß. KM, betr. Erleichterung für deutsch-russische Rückwanderer, an sämtl. stv. Gkdos., 21.6.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 817, Bl. 77. 191 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an d. RAdI, 8.6.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112030, Bl. 187. 192 Reichskanzler (RAdI) an u. a. d. Bay. u. Sächs. SMin. d. auswärtigen Angelegenheiten, 9.7.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112030, Bl. 206. 193 Preuß. KM, betr. Elsaß-Lothringer, hier an d. Württ. KM, 4.9.1915, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1024, Bl. 3 f. 194 Preuß. KM an u. a. d. stv. Gkdos. XI., XV., u. XXI. AK, 30.9.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 72. Dies betraf ebenso die elsaß-lothringischen Flüchtlinge: Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 40–43.
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ostrheinischen Elberfeld fest.195 Im bayerischen Traunstein unterlagen sie einer täglich zweimaligen Meldepflicht.196 Dies provozierte bittere Beschwerden. »In der Verfügung, worin die Grenzen festgestellt werden, innerhalb deren ich mich frei bewegen darf, sind die ausgewiesenen Elsass-Lothringer auf dieselbe Stufe gestellt als die Civilgefangenen«, klagte einer der Abgeschobenen.197 Bereits ihre Ausweisung stellte in seinen Augen einen verfassungswidrigen Akt dar. Der Berichterstatter der Ausländerabteilung des Stuttgarter Generalkommandos Hauptmann d. L. a. D. Müller sah sich schließlich am Ende des Krieges zu der Feststellung genötigt: »Die Elsass-Lothringer sind Deutsche.«198 Ihre Integration in die lokalen Gemeinschaften während des Krieges misslang. In Freiburg, das seit Kriegsbeginn zum Ziel Geflüchteter aus den umkämpften Gebieten Elsaß-Lothringens gehört hatte, hielten sich fortwährend 600 bis 800 von ihnen auf, darunter vor allem Frauen und Kinder. Sie waren meist von der städtischen Armenunterstützung abhängig. Seitens der Verwaltungsbehörden galten die Geflüchteten als Problempersonen: Sie fanden keine Arbeit, einige Frauen verdienten Geld als Prostituierte, und andere wurden kriminell.199 Auch der Kriegsgerichtsrat erinnerte sich für die Zeit ihres Aufenthalts in Württemberg an Konflikte. Sie hätten sich abgesondert und »durch den Gebrauch der französischen Sprache auf öffentlichen Strassen und in öffentlichen Wirtschaften, durch deutschfeindliche und anmassende Äusserungen auf politischem Gebiet Ärgernis« provoziert. Die ansässige Bevölkerung reagierte auf sie mit »Beschimpfungen und Tätlichkeiten in Wirtschaften«.200 Inhaber/innen einer doppelten Staatsangehörigkeit waren ebenfalls betroffen von der Infragestellung ihrer nationalen Vertrauenswürdigkeit. Bei Mitarbeitern des Preußischen Kriegsministeriums tauchten Ende des Jahres 1915 Zweifel darüber auf, »wie solche Personen zu behandeln seien, die zwar eine fremde Staatsangehörigkeit vor dem 1. Januar 1914 erworben haben, aber nach dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 gleichzeitig deutsch geblieben sind, weil sie
195 Polizei-Verwaltung Elberfeld an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 22.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15020, Bl. 1. 196 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) hier an d. Stadtmagistrat Traunstein, 20.5.1915, (Abs.) in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5. 197 Otto Jaeger an d. Stadtmagistrat Traunstein, 28.3.1915 u. Otto Jaeger an d. Stadtmagistrat Traunstein, 29.5.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5. 198 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Müller), 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 20. 199 Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914– 1918, übers. aus d. Engl. von Rudolf Renz u. Karl Nicolai, Paderborn 2009, S. 111 f. 200 Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 37 u. 40 f.
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nachweisbar nicht volle 10 Jahre ununterbrochen im Auslande gewesen sind«.201 Ihre allgemeine Behandlung als feindliche Staatsangehörige schien nicht angängig, obwohl in Einzelfällen die Sonderbestimmungen anwendbar blieben. Im Gegenzug hatten diese »Deutschen« jedoch ihre »militärischen Pflichten« zu erfüllen. Die Richter des Reichsgerichts beschäftigte im Jahre 1916 dennoch die Frage, ob die »für ›Angehörige feindlicher Staaten‹ angeordnete Aufenthaltsbeschränkung und Meldepflicht auch für solche Personen gelte, welche die Reichsangehörigkeit erworben haben, ohne die Angehörigkeit zu einem feindlichen Staate zu verlieren«.202 Geklagt hatte ein »russischer Staatsangehöriger«, der vor dem Kriege aufgrund seiner Anstellung bei der Polizeiverwaltung die preußische Staatsangehörigkeit erworben hatte. Er ignorierte deshalb die Meldepflichtanordnungen. Nachdem er vom Landgericht Essen dafür verurteilt worden war, widerriefen die Richter des V. Strafsenats in Leipzig den Schuldspruch. Sie begründeten ihre Entscheidung damit, dass der Angeklagte nach dem Erwerb der Staatsangehörigkeit nicht mehr als feindlicher Ausländer anzusehen sei. »Eine andere Auslegung wird auch durch den auf möglichste Verhinderung feindlicher Akte (Spionage usw.) seitens hier sich aufhaltender Ausländer gerichteten Zweck der Bekanntmachung des Militärbefehlshabers keineswegs geboten. Denn die Annahme erscheint berechtigt, daß von Personen, die durch Erwerb der Reichsangehörigkeit ihren Willen, Deutsche zu sein, bestätigt haben und aus irgendwelchem Grunde […] noch eine früher erworbene Staatsangehörigkeit besitzen, feindselige Handlungen gegen das Deutsche Reich regelmäßig nicht zu erwarten sind. Der Gesichtspunkt allein, daß durch Erstreckung des Verbotes auf Reichsangehörige, die ihre ausländische Staatsangehörigkeit nicht verloren haben, eine noch wirksamere Kontrolle der zum feindlichen Ausland bestehenden Beziehungen erreicht werden könnte, kann diesen Erwägungen gegenüber nicht entscheidend sein.«203 Das Urteil umfasste demnach nicht nur eine juristische Bewertung der doppelten Staatsangehörigkeit, sondern wog ebenso nationale Loyalitätsfragen gegen staatliche Sicherheitsinteressen ab. Mit der Höhergewichtung der deutschen Staatsbürgerschaft gegenüber der präventiven Kontrolle setzten die Richter militärischen Prämissen einen zivilen Standpunkt entgegen. Wie umstritten dieser war, zeigte der Weg des Angeklagten durch die Instanzen. 201 Preuß. KM hier an d. Sächs. KM, 2.11.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 43 u. mit ähnlichem Wortlaut: Reichskanzler (RAdI, gez. Lewald) an d. Bad. Min. d. Großen Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 1.4.1916, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23209. 202 Urteil d. V. Strafsenats d. Reichsgerichts, 25.1.1916, betr. Meldepflicht bei mehrfacher Staatsangehörigkeit, Az. V 422/15, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 49, S. 373–375. 203 Ebd., S. 374.
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Während der Stuttgarter Kriegsgerichtsrat Karl Heigelin bei den vorangegangenen Gesuchsteller/innen nach ihrem ›Deutschsein‹ gefragt hatte, erkannte er bei anderen nicht weniger konfliktbehaftete Unterschiede zwischen nomineller Staatsangehörigkeit und nationaler Zuschreibung. Er nahm hierbei Ausländer/ innen in den Blick, »die dort nicht zur herrschenden Nationalität gehörten, sondern zu ihr im Gegensatz standen«. Zu ihnen zählte er polnische und russische Juden,204 Balten, Finnen und Iren. Auch sie galten für ihn als ungefährlich. »Trotzdem mussten, der gebotenen Gleichmäßigkeit halber, auch bei ihnen die Staatsangehörigkeit für die Behandlung grundsätzlich entscheidend sein.«205 Mit dieser Einschätzung fasste er gleichwohl nicht die komplexen Richtlinien aus Berlin zusammen. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg hatte bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn von den Zivilbehörden gefordert, eine Denkschrift der DeutschArmenischen Gesellschaft »tunlichst« zu beachten.206 Darin legte der Vorstand unter dem Gründungsvorsitzenden, dem Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius (1858–1926) dar, dass die »in Deutschland lebenden Armenier russischer Staatsangehörigkeit […] mit ihren Sympathien keineswegs auf Seiten Rußlands stehen«. Sie seien deshalb »nicht nach demselben Maßstab wie die Russen« zu behandeln. »Da mit der Erhebung des Kaukasus gegen die russische Herrschaft gerechnet werden muß«, sollten sie ungehindert ausreisen dürfen, wenigen Einschränkungen bei der Berufsausübung unterliegen und weiterhin Zugang zu deutschen Hochschulen haben.207 In gleichem Sinne wiesen Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums im Februar 1916 die stellvertretenden Generalkommandos an, für »deutsch-russische Zivilpersonen (meist Balten) […] die polizeilichen Meldevorschriften sowie die Internierung in Gefangenenlagern aufzuheben, sofern die sorgfältige Prüfung im Einzelfalle dieses angebracht erscheinen läßt und wenn zuverlässige deutsche Persönlichkeiten sich für die in Frage kommenden DeutschRussen verbürgen«.208 Nachdem die Berliner Kommandantur 1914 eigenmächtig 204 Russländische Juden, die nach Amerika ausgewandert waren, eine ›Declaration of Intention‹ abgegeben hatten und vor dem Krieg wieder nach Russland zurückgekehrt waren, besaßen keine doppelte Staatsbürgerschaft aber zumindest einen russischen und einen US-amerikanischen Pass. Sie wurden aufgrund dessen besonders der Spionage verdächtigt. Siehe: Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzÄ, 26.6.1916, in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 205 Tätigkeit u. Erfahrungen d. Abt. III c d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Heigelin), Juli 1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 37, Bl. 18 f. 206 AA (gez. Kriege) an d. Preuß. Min. d. Auswärtigen Angelegenheiten, 7.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 19. 207 Vorstand d. Deutsch-Armenischen Gesellschaft (gez. Lepsius) an d. AA z. H. d. Unterstaatssekr. Wirkl. Geheimen Legationsrat Zimmermann, 2.9.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175 u. in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 20. Die Denkschrift zirkulierte selbst in kleineren Verwaltungseinheiten wie dem Bürgermeisteramt im sächsischen Mittweida: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 208 Preuß. KM an u. a. sämtl. stv. Gkdos. 16.2.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 122.
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»Finnländern« die Ausreise gewährt hatte,209 sollten die für »Deutsch-Russen« angestrebten Erleichterungen seit 1917 ebenso für sie Gültigkeit besitzen und somit ihrer Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich Rechnung tragen. Sie hatten zum Teil auf deutscher Seite in einem eigenen Bataillon an der Ostfront gedient.210 Die Wahrnehmungen komplexer Staatszugehörigkeitsfragen und die erst im Laufe des Krieges darauf reagierenden Bestimmungen hatten bei staatlichen Akteuren vor Ort zumindest Irritationen, wenn nicht sogar eigenmächtiges Handeln zur Folge. Im Falle der Finnen, die sich in Berlin aufhielten, erkannte die Kommandantur ihren Wunsch nach einer differenzierten Behandlung an und ermöglichte ihnen deshalb ohne entsprechende Verfügung im September 1914 die Abreise.211 Gleichfalls konstatierte die Regierung von Mittelfranken über Ausländer/innen, die zur gleichen Zeit von einer Ausweisung bedroht schienen: »Nach den gepflogenen Erhebungen befinden sich unter den […] Ausländern eine große Zahl von solchen, welche bereits seit einer Reihe von Jahren im Regierungsbezirke ansässig sind, zum Teil auch solche, welche bereits um Einbürgerung nachgesucht haben. Von den Frauen der Ausländer sind nicht wenige deutscher Herkunft; sie haben zum Teil Rußland nie gesehen und würden durch die Ausweisung der größten Not preisgegeben. Unter den Russen befindet sich endlich eine große Zahl von Polen, in Nürnberg allein 91 Polen und Polinnen, ferner auch Deutsch-Russen.«212 Gemeinsam mit dem stellvertretenden Generalkommando in Nürnberg nahmen die Regierungsvertreter deshalb den Standpunkt ein, dass Ausweisungsentscheide nur »bei solchen Personen in Frage kommen, die sich im Inlande vorübergehend zu Geschäfts-Studien, Urlaubszwecken und dergl. aufhalten, nicht aber bei Personen, die jahrelang als Gewerbetreibende ansässig sind, schon um Einbürgerung
209 Reg.-Präs. Berlin an d. preuß. Minister d. Innern, 13.9.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762. Im Herbst 1914 hatte es noch seitens des Preußischen Innenministeriums und des Bayerischen Kriegsministeriums geheißen, dass Finnen wie die übrigen russländischen Staatsangehörigen zu behandeln seien. Siehe: Preuß. Minister d. Innern an d. Regierung Danzig, Sep. 1914, (Telegramm) in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762 u. Bay. KM an d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK, 17.11.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 148. 210 Preuß. KM, betr. Finnen, an u. a. d. Sächs. KM, 18.6.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 310 u. auf Ebene d. Königreiches Sachsen bereits: Stv. Gkdo. XII. AK (gez. v. Broizem) an d. Polizeidirektion Dresden, 8.1.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 13. 211 Reg.-Präs. Berlin an d. preuß. Minister d. Innern, 13.9.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762. 212 Regierung von Mittelfranken (KdI) an d. Bay. SMdI, 4.9.1914, in: HStA München, MInn 53976.
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nachgesucht haben oder es tun zu wollen glaubhaft versichern oder sich sogar als Kriegsfreiwillige melden wollen«.213 Ähnliche Vorstellungen hatte der Regierungspräsident von Marienwerder, Karl Schilling (1858–1931). Nachdem im November 1914 die Ausweisung feindlicher Staatsangehöriger aus den Festungen und deren Umland in seinem Bezirk erfolgen sollte, legte er beim preußischen Innenminister Widerspruch ein. Die Ausländer/ innen bildeten für ihn keine unterschiedslose Gruppe. Er sorgte sich um jene, die lediglich »nach dem Buchstaben des Gesetzes« russländische Staatsangehörige waren. »[I]n Wirklichkeit« könnten sie als solche aber nicht mehr betrachtet werden. In den 1880er Jahren hatte die preußische Regierung sie von den gegen Pol/ innen verfügten Ausweisungen verschont. Sie lebten seit mehreren Generationen im Land und hatten zum Teil im preußischen Heer gedient. »Diese Familien zählen […] ganz zur einheimischen Bevölkerung[.]« Er plädierte zugleich für weitere Ausnahmen bei »eine[r] größere[n] Anzahl Russen deutscher Nationalität«. Zu ihnen gehörten »Knechte, Dienstmädchen und Lehrlinge«, aber ebenso »von der Ansiedlungskommission angesetzte Ansiedler und Ansiedlerarbeiter (deutsche Rückwanderer)«.214 Paul Dexheimer, Vorstand des Bezirksamtes Sankt Ingbert, stimmte im September 1914 mit der Meinung des Bürgermeisteramts von Ensheim überein, dessen Mitarbeiter sich gegen die Internierung beziehungsweise Ausweisung der »russischen Familie Randartschyk« aussprachen. Er begründete gegenüber der pfälzischen Regierung den Entschluss mit der Fremdheit Russlands für die Betroffenen. »Das Familienhaupt ist Hüttenarbeiter. Es sind eine Ehefrau und vier kleine Kinder vorhanden. Randartschyk (geb. in Barschoren) ist mit 15 Jahren als unehelicher Sohn von Russland weggekommen und seither nicht mehr dort gewesen. Seine Mutter oder sonstige Anverwandte kennt er nicht. Auch kann er weder lesen noch schreiben. Die russische Sprache versteht er ebenfalls nicht. In Ensheim wohnt er mit kurzer Unterbrechung, wo er in dem benachbarten Brebach sich aufhielt, seit elf Jahren. Verdächtig hat er sich während dieser Zeit nicht gemacht. Seine Ehefrau ist von Ensheim, wo auch seine Kinder geboren sind. Die Frau hat seit ihrer Geburt in Ensheim gewohnt, wo auch deren Eltern noch wohnen. Deren Vater ist ein Kriegsveteran von 1870/71. Der Frau sind Russland und russische Verhältnisse vollständig fremd.«215 213 Ebd. (Herv. im Org.). 214 Reg.-Präs. Marienwerder an d. preuß. Minister d. Innern, 23.11.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 75 ff. 215 Bay. BzA St. Ingbert (gez. Dexheimer) an d. Regierung d. Pfalz (KdI), 12.9.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 2176 (Herv. im Org.). Sächsische Ämter argumentierten ähnlich hinsichtlich Frauen, die durch Heirat die russländische Staatsangehörigkeit angenommen hatten. Siehe: Sächs. KrhM Leipzig (Kreishptm. v. Burgsdorff) an d. Sächs. MdI, 21.12.1914, in: HStA Dresden, 10736/3347b, Bl. 151 ff.
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Lediglich Herr Randartschyk musste sich täglich auf dem Bürgermeisteramt in Ensheim melden. Im Falle Karl Lheurs, einem 18jährigen Schmelzarbeiter französischer Staatsangehörigkeit, der in Sankt Ingbert geboren worden war und seither dort lebte, entschied er in gleichem Sinne. »Nach den dargelegten Verhältnissen haben die Beziehungen der genannten Personen zum feindlichen Ausland ihre Grundlage eigentlich nur noch in der mehr auf Zufall beruhenden Tatsache der Abstammung«, resümierte Dexheimer.216 Argumentationsstrategien und Entscheidungskriterien werden gleichfalls im Falle des Fabrikbesitzers Leon Grosjean, der die belgische Staatsangehörigkeit besaß, und der Intervention des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, Adalbert Oehler, sichtbar.217 Grosjean musste sich mehrfacher anonymer Verdächtigungen erwehren.218 Oehler verteidigte ihn hierbei rückhaltlos gegenüber seinem Vorgesetzten, dem Regierungspräsidenten Francis Kruse (1854–1930). Der Bürgermeister betonte in seiner Stellungnahme, womöglich durch eine »dreizehnjährige persönliche nähere Bekanntschaft« zu Grosjean beeinflusst, dass »[i]rgendwelche Verdachtsmomente […] sich trotz der aufmerksamsten Beobachtung bisher nicht ergeben« haben. Oehler fuhr fort: »Im Gegenteil, ich kann […] versichern, daß er sich in jeder Beziehung loyal verhalten hat. Er hat bisher auch stets eine deutschfreundliche Gesinnung an den Tag gelegt und öfters an deutsch-patriotischen Veranstaltungen teilgenommen. Wiederholt hat er für deutsch-nationale Zwecke, z. B. für den Flottenbund, für den Vaterländischen Frauenverein und dergl. freiwillig ansehnliche Beiträge geleistet.«219 Darüber hinaus zeige er seine Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich, indem er offenbar nach Kriegsbeginn »kürzlich hier einen Einbürgerungsantrag gestellt« hatte. Oehler suchte demzufolge die nationale Haltung und Verortung des Unternehmers in Momenten, die das »deutschfreundliche« Bekenntnis scheinbar objektiv und belegbar nachwiesen. Dafür zog der Bürgermeister gleichfalls dessen Privatleben heran. »Seine Frau ist eine Elsässerin, also eine geborene Deutsche«, erklärte er. Diese persönlichen nationalen Spuren erweiterte der Oberbürgermeister um unternehmerische. So arbeiteten in Grosjeans Gerberei belgische Werkmeister, die sich »absolut ruhig verhalten« und »froh« seien, »weiter arbeiten« zu können. Die Lederbestände der Fabrik würden vor Wucher bewahrt und zu einem günstigen Preis der deutschen Heeresverwaltung überlassen werden. Das Vertrauen in Grosjean unterstrichen schließlich soziale Überlegungen. In der Fabrik arbeiteten 178 Beschäftigte, »von 216 Bay. BzA St. Ingbert (gez. Dexheimer) an d. Regierung d. Pfalz (KdI), 3.9.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 2176. 217 Oberbürgermeister Düsseldorfs (Adalbert Oehler) an d. Reg.-Präs. (Francis Kruse; aufgrund verlangter Stellungnahme), 28.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 100 f. 218 Anonymus (Düsseldorf-Heerdt) an d. Regierung Düsseldorf, 16.8.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 99. 219 Oberbürgermeisters Düsseldorfs (Adalbert Oehler) an d. Reg.-Präs. (Francis Kruse), 28.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 100 f.
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denen die meisten verheiratet sind und sofort brotlos werden würden, wenn der Fabrikbetrieb eingestellt würde«. Darüber hinaus wirkte der Unternehmer durch sein karitatives Engagement in Zeiten des Krieges. »Die loyale deutschfreundliche Gesinnung des Grosjean wird auch dadurch bewiesen, daß er seit Ausbruch des Krieges den Familien der zur deutschen Fahne einberufenen Arbeiter seiner Fabrik regelmäßige Unterstützungen zahlt«, wusste Bürgermeister Oehler zu berichten.220 In seinen Ausführungen zu dem Fabrikbesitzer, der in der städtischen Oberschicht zu Hause war, versammelt sich ein Panorama an vorgestellten und vorausgesetzten Merkmalen nationaler Loyalität. Die ursprüngliche Herkunft und die Staatsbürgerschaft Leon Grosjeans verblassten zugunsten seines politischen Einsatzes und privaten Lebens, seiner wirtschaftlichen Bedeutung und sozialfürsorglichen Unterstützungsbereitschaft. Der lokale Einzelfall maß sich keineswegs an nationalen Ressentiments. Die Elberfelder Polizeibeamten verdichteten 1916 ihre Kenntnisse über russländische Staatsangehörige ebenfalls gegenüber dem Regierungspräsidenten in Düsseldorf. Sie schlugen jene für Meldebefreiungen vor, die »in Deutschland geboren, […] Russland niemals betreten« haben und »nicht die Absicht, jemals das eigentliche Vaterland aufzusuchen«, hegten. Des Weiteren jene, »deren Söhne im deutschen Heere dienen, ferner die Frauen, die von Geburt Deutsche sind und nur durch Verheiratung die russische Staatsangehörigkeit erlangt haben«. Die von ihnen Vorgeschlagenen seien unverdächtig. Es bestünde keine Gefahr, »dass sie die erbetene Vergünstigung zum Nachteile des Deutschen Reiches benutzen«, versicherten sie.221 Dem Regierungspräsidenten dürften die vorgebrachten Argumente bekannt vorgekommen sein. Sie glichen denen des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, die dieser zwei Jahre zuvor formuliert hatte, um die Ausweisung belgischer Staatsangehöriger abzuwenden.222 Schließlich verweist eine Übersicht des Polizeipräsidenten der Stadt Kassel auf moralische Werte der Einzelfallentscheidungen, die bei der Beurteilung der Überwachungsmaßnahmen ebenfalls eine Rolle spielten. Wer »arbeitslos mit Dirnen umher[zog]«, »mit Deutschen [sic] Soldaten Streit gesucht hat« oder in seinem »gesamten Verhalten« eine ablehnende Haltung bei den Beamten hervorrief, konnte nicht damit rechnen, von der zweimal täglichen Meldung befreit zu werden. Wer dagegen als »ordentlicher« oder »harmloser Mensch« galt und »bei seinen Arbeitskollegen […] in Achtung« stand, besaß eine höhere Chance auf 220 Ebd. 221 Polizeiverwaltung Elberfeld an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 25.4.1916, in: LAV NRW, BR 0007, 15005, Bl. 264. 222 Polizeiverwaltung (Ober-Bürgermeister) Düsseldorf an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 24.11.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 39 f. Zur selben Zeit stimmte der Amtsvorstand des Bezirksamtes Baden in den Grundsätzen mit Oehler überein. Siehe: Bad. BzA Baden (gez. Heinreich v. Reck) an d. Bad. MdI, 21.11.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
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Lockerungen der Meldepflichten.223 In solchen Einschätzungen lösten sich die Kontrollkriterien vor Ort von dem Bezugspunkt der militärischen Sicherheit des Deutschen Reiches und setzten Vorstellungen über eine erwünschte Gesellschaft in Geltung. Moralisch einwandfreie und allgemein vertrauenerweckende Ausländer/innen waren in solchen Momenten weniger ›feindlich‹ als unordentlich und unzuverlässig erscheinende Personen. Mit ihren vielfachen Interventionen stellten die Zivilbehörden die Behandlung der Ausländer/innen anhand rechtlicher Kriterien in Frage. Sie teilten den Standpunkt des Stuttgarter Kriegsgerichtsrates nicht und eröffneten eine Diskussion über die Unterscheidung zwischen In- und Ausländer/innen, zwischen nomineller Zugehörigkeit und bekundeter wie gelebter Gesinnung. Letztlich plädierten sie damit für eine bürokratische Uneindeutigkeit, innerhalb derer Beschlüsse nicht im Angesicht von Listen, sondern in einem abwägenden Entscheidungsprozess einzelner Beamter getroffen würden. Zunächst aber konnten Ausnahmen im mittelfränkischen Ansbach, in Sankt Ingbert beziehungsweise Speyer, in Marienwerder oder in Elberfeld trotz der Wahrnehmungen und Forderungen nicht herbeigeführt werden. Dafür waren alleinig die stellvertretenden Generalkommandeure und ihre Mitarbeiter verantwortlich. Sie wogen die Einzelfälle ab, konnten Voraussetzungen festlegen, bestimmten über die Auslegung der Kriterien wie über die Ausnahmen und entschieden, ob weitere Akteure zur Entscheidungsfindung heranzuziehen waren. Die Generalkommandeure konnten im Laufe des Krieges diese Entscheidungsbefugnisse an die Zivilbehörden delegieren. Davon Gebrauch machte beispielsweise der stellvertretende kommandierende General des XIV. Armeekorps, August Isbert. Er gestattete den badischen Bezirksämtern, »harmlosen und deutschfreundlichen Ausländern selbständig Erleichterungen« zu gewähren. Als Kriterien nannte er »deutsche Abstammung und Erziehung« oder eine nachweisbare »deutschfreundliche Gesinnung«. Hierfür sprächen »Handlungen, wie Eintritt der Söhne in das deutsche Heer«, ein »langjähriger Aufenthalt im Inlande« oder Umstände, von denen anzunehmen sei, dass sie zu einem Beziehungsabbruch mit dem »Heimatlande« führten. Er ließ als Erleichterungen »gänzliche oder teilweise Befreiung von der Meldepflicht, Erlaubnis zum Betreten von Nachbargemarkungen, Genehmigung kurzer Reisen innerhalb meines Befehlsbereichs für einen gewissen Zeitraum oder im Einzelfall« zu.224 Indem diese Ermessensspielräume akzeptiert und gewährt wurden, spielte der rechtliche Status des Einzelnen eine nachrangige Rolle. Nicht jeder Angehörige eines feindlichen Staates war folglich ein feindlicher Ausländer. Nicht nur diffizile Bestimmungen entschieden über die Rahmenbedingungen ihres Lebensalltags, sondern ebenso einzelne Offiziere 223 Oberpräsident d. Provinz Hessen-Nassau an d. Polizeipräsidenten von Kassel, Anlage: Liste feindlicher Ausländer, 3.7.1915, in: StA Marburg, 165/517, Bl. 298–305. 224 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Isbert) an d. Bad. MdI, 2.8.1917, in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
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und Beamte. Die damit einhergehende Ausweitung argumentativer Möglichkeiten dokumentieren folgende Fälle. Oberst Pauschinger, der Chef des Stabes des Nürnberger stellvertretenden Generalkommandos, begründete seine ablehnenden Entscheidungen im Falle des pol nischen Versicherungsagenten Israel Faust mit dem Charakter des Gesuchstellers. Seit Kriegsbeginn hatte Faust regelmäßig gebeten, »ihn und seine Familienangehörigen von den Massregeln […] zu befreien«. 1918 musste sich Pauschinger schließlich vor dem Bayerischen Kriegsministerium für seine Ablehnungen rechtfertigen. Er tat dies mit den folgenden Zeilen, die zum einen die subjektiven Bewertungskriterien der Einzelfallentscheidungen aufdecken und zum anderen die Gefahr der Willkür verdeutlichen, vor der Kriegsgerichtsrat Karl Heigelin gewarnt hatte. »Eine Stattgabe war nach der bisherigen Rechtslage, dann aber auch wegen der unausbleiblichen Folgen und der Persönlichkeit des Faust, der sich zwar politisch nicht verdächtig gemacht hat, aber als ein für Belehrungen unzugänglicher, unbotmässiger und rabiater Mensch bezeichnet werden muss, nicht möglich.«225 Zugleich drangen Wahrnehmungen des Kriegsgeschehens in die Entscheidungsfindungen ein, die von der Person und dem Verhalten des Einzelnen unabhängig waren. Dies musste Ida Luzky (1884–?) im Sommer 1918 erfahren, als sie eine »erniedrigende Behandlungsweise« beklagte. Vormals bayerische Staatsangehörige, hatte sie am 15. März 1916 den russländischen Staatsbürger Lasar Luzky geheiratet und fiel fortan unter die örtlichen Meldebestimmungen. Ihr Gesuch für einen Kuraufenthalt wurde zwischen dem Stadtmagistrat Nürnberg und dem stellvertretenden Generalkommando mit Verweisen auf die Lage deutscher Staatsangehöriger in Russland erörtert. Sie hätten dort Beschränkungen und Strafen, Leid und Entbehrung erfahren, die Ausländer/innen in Deutschland nicht kannten. Bezugnehmend auf ihren Gesundheitszustand zeigte sich der Nürnberger Magistrat abgeklärt und unterwarf diesen kontextualisierenden Erwägungen. »Gerade in letzter Zeit mehren sich die Fälle, in denen Angehörige feindlicher Staaten um Bade-, Kur- und Landaufenthalte nachsuchen, in ganz auffallender Weise. Als Grund ist meistens Abmagerung, Nervosität oder ein sonstiges leichtes Leiden angeführt«, erläuterte er der Militärbehörde. »Nach unserer Ansicht sind dies keine Gründe für die Genehmigung derartiger Aufenthalte, weil an Abmagerung und Nervosität derzeit wohl ein großer Teil der Bevölkerung leidet.«226 Dieser Ansicht pflichtete Oberst Pauschinger bei. »Fast jeder Ausländer hält einen längeren Land- oder 225 Stv. Gkdo. III. bay. AK (gez. Pauschinger) an d. Bay. KM, 10.6.1918, in: HStA München, Abt. IV, MKr 12798. 226 Bericht d. Stadtmagistrats Nürnberg an d. stv. Gkdo. III. bay. AK, 9.8.1918, in: HStA München, Abt. IV, MKr 12798.
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Kuraufenthalt für unbedingt notwendig. Die ärztlichen Zeugnisse, die zum Nachweis ihrer angeblichen Erholungsbedürftigkeit beigebracht werden, sprechen fast durchwegs von Beschwerden und Störungen ganz geringfügiger Natur.«227 Unter dem Eindruck des vierten Kriegsjahres und der mangelnden Ernährungslage interpretierte er solche Gesuche als Versuche, in den Kurbädern »vor allem bessere Verpflegung, Gelegenheit zum Hamstern oder Auffindung von Bezugsquellen« zu finden. »[A]uf den Preis der bezahlt werden muss, kommt es ja in der Regel solchen Leuten nicht an.« Pauschinger erörterte somit den Gesundheitszustand wie zuvor in anderen Fällen die deutsche Gesinnung als eine verhandelbare Größe, die keineswegs ausschließlich von ärztlichen Attesten abhing. Der Chef des Stabes des Nürnberger Generalkommandos bezog schließlich die Haltung der Bevölkerung in seine Überlegungen ein. Denn in den Sommerfrischen herrsche eine »gereizte Stimmung, mit der die einheimische Bevölkerung Sommerfrischler und Kurgästen zurzeit gegenübersteht und die in ernsten Auftritten – so in Wunsiedel und Alexandersbad – sich auch schon Luft gemacht hat«.228 Meldepflichten und Reisegenehmigungen hatten sich von Überlegungen bezüglich einer angemessenen Überwachung gelöst. Anschaulich wird dies bereits in einer Bitte der Dresdner Kommandantur an das vorgesetzte Generalkommando aus dem Spätherbst des Jahres 1914, als die Gesellschaft begonnen hatte, sich in einem längeren Krieg einzurichten.229 Der Militärkommandeur Dresdens forderte, dass »für die noch im Garnisonsbereich anwesenden englischen Familien eine Polizeistunde (8 Uhr abds.) festgesetzt wird, nach der sie sich in ihren Wohnungen aufzuhalten haben«. Dieses Ansinnen stand allerdings nicht im Zusammenhang mit aktuellen Spionagewarnungen. Stattdessen argumentierte er, dass sich »in den Kreisen der hiesigen Bürgerschaft Unwillen und Ärger erregt« hätte, weil »hiesige englische Staatsangehörige oft in herausfordernder Weise Theater, Schaustellungen und Lustbarkeiten besuchen, nach denselben in den Speisehäusern und besseren Restaurants der Stadt sich zusammen finden und die Tagesfragen in für anwesende Deutsche verletzender Weise besprechen«. Zugleich müsse die tägliche Meldung streng und zu festgesetzten, nicht zu bequemen Uhrzeiten durchgeführt werden. Die damit verbundene bewusste Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben der Stadt verdeutlicht die destruktiven Möglichkeiten lokaler Entscheidungsträger. Die Argumente für und wider die Kontrollpraktiken waren situativ und ohne Mühe verschiebbar. Die Gesuche feindlicher Ausländer/innen avancierten angesichts dessen zu einem wichtigen Instrument, um ihre persönliche Lebenssituation zu verbessern oder 227 Stv. Gkdo. III. bay. AK (gez. Pauschinger) an d. Bay. KM, 14.8.1918, in: HStA München, Abt. IV, MKr 12798. 228 Ebd. 229 Kommandantur Dresden an d. stv. Gkdo. XII. AK, 16.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 91.
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zu stabilisieren. Unter den Bittstellern befand sich auch der Göttinger Kaufmann Bernhard Blum. Er versuchte, sich mit einer schriftlichen Eingabe an die Göttinger Polizei im Dezember 1914 von der Meldepflicht zu entbinden. Das von seinem Rechtsanwalt Föge formulierte Schreiben kann als exemplarisch gelten. Unter anderem hieß es darin: »Es dürfte allgemein in Göttingen bekannt sein, dass der Bittsteller, welcher schon seit 30 Jahren in Göttingen ansässig ist, durchaus deutsch denkt und hinsichtlich seiner deutschen Gesinnung auch hinter anerkannten deutschen Staatsbürgern nicht zurücksteht. Es würde deshalb eine unverdiente Kränkung und Belästigung für ihn darstellen, wenn er ebenso behandelt würde, wie deutschfeindliche Ausländer. Der Bittsteller lebt […] in sehr geordneten und geregelten Verhältnissen. Er würde sich selbst am meisten schädigen, wenn er sich irgendwie an deutschfeindlichen Bestrebungen beteiligen würde. Er glaubt auch nach seinem Ruf, seinem Charakter und seiner Persönlichkeit die absolute Gewähr dafür zu bieten, dass er wie bisher auch fernerhin alle deutsch-vaterländischen Bestrebungen nach seinem besten Vermögen unterstützen wird.«230 Schließlich wäre er ebenso in der Lage, »eine grössere Anzahl angesehener Göttinger Bürger als Bürgen für sein unbedingtes Wohlverhalten zu stellen«, schloss der Anwalt das Gesuch. Ohne öffentlich verlautbarte Kriterien, die Argumentationsmuster vorgegeben hätten, spiegeln sich in Blums Brief mögliche und staatlicherseits anerkannte Kristallisationspunkte wider: die Dauer des Aufenthaltes in Deutschland, die soziale und ökonomische Stellung als Kaufmann innerhalb der Stadt und namhafte Bürgschaften. Hinzu kam ein Einbürgerungsantrag, den Blum bereits 1898 gestellt hatte. Mit solchen Loyalitätsbeweisen stellte er seinen rechtlichen Status als Ausländer in Frage und formulierte Pfade des Übergangs vom ausländischen zum inländischen Bürger. Diese knüpften dabei inhaltlich an Gnadengesuche der Vorkriegszeit an, mit denen Ausländer/innen eine Ausweisung zu verhindern gesucht hatten.231 Innerhalb tausender Bittschreiben,232 welche die Polizeibehörden und die Generalkommandos erhielten, stellten ausländische Staatsangehörige wie Blum ihre Bezüge zur nationalen Gemeinschaft heraus. Sie versuchten, ihre Ungefährlichkeit nachzuweisen und ihren ökonomischen, sozialen oder kulturellen Wert 230 Bernhard Blum an d. Polizeiverwaltung Göttingen, 10.12.1914, in: StA Göttingen, Pol.Dir. Fach 165/Nr. 1, Bl. 139. 231 Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S. 172–177. 232 Viele Gesuche von Ausländer/innen finden sich unsortiert und verstreut besonders in überlieferten Akten der stellvertretenden Generalkommandos. Weitere Gesuche von Ausländer/ innen beisp. in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 74–86.
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für lokale Gemeinschaften herauszustellen. Sie bemühten sich, Loyalität sichtbar zu machen, indem sie die eigene Biografie national interpretierten, anpassten oder Lebenspfade bekräftigten. Die Überwachungsmaßnahmen bestanden in unterschiedlichem Umfang den Krieg über fort. Einen Monat nach den revolutionären Novembertagen 1918 wurde schließlich den Militärbehörden seitens des Preußischen Kriegsministeriums mitgeteilt, dass eine »militärische Kontrolle der Ausländer […] nach Aufhebung des Belagerungszustandsgesetzes nicht mehr stattfinden« kann. »Ob und inwieweit eine Kontrolle und Meldeverpflichtung durch die Zivilbehörden aufzuerlegen möglich und zulässig ist, muß diesen Behörden überlassen bleiben zu bestimmen.«233 Die Vorschriften für polnische und belgische Arbeiter/innen wurden weitgehend aufgehoben. »Die ausländischen Arbeiter unterstehen von jetzt ab hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse ausschließlich den für deutsche Arbeiter geltenden Bestimmungen«, informierte beispielsweise das Bayerische Ministerium für militärische Angelegenheiten die Militärbehörden.234 Weil der Waffenstillstand in Westeuropa nicht durchgängig das Ende der Überwachungsmaßnahmen bedeutet hatte, endete erst damit formell eine Übergangsphase, in der wiederum lokal verschiedene Bestimmungen galten. Der Polizeidelegierte des Dresdner Arbeiter- und Soldatenrates forderte im November 1918, die »polizeiliche An- und Abmeldung von Ausländern bei Reisen im Inlande […] in Sachsen künftig« zu unterlassen. Die Meldepflichten und die Reisegenehmigungen sollten fortfallen und die Beschäftigungsbeschränkungen aufgehoben werden. »Alle Ausländer, die ausreisen wollen, soll man reisen lassen, aber in der Regel nicht wieder einreisen lassen.«235 Das Dresdner stellvertretende Generalkommando erklärte sich in solchen Fragen für nicht mehr zuständig.236 Auch in Bayern und Württemberg endeten die Meldepflichten und Aufenthaltsbeschränkungen Ende 1918.237 Allerdings bestanden in Stuttgart Unklarheiten bezüglich der »Ab- und Anmeldungen bei Verlassen des Wohnorts für geschäftliche Reisen«. Die Stadtdirektion und der Amtmann Karl Mailänder (1883–1960) hielten
233 Preuß. KM, betr. Kontrolle d. Ausländer, hier abschrift. an d. Württ. KM, 16.12.1918, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1026, Bl. 224. 234 Bay. Min. für militärische Angelegenheiten an u. a. d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK, 23.11.1918, in: HStA München, MInn 53978. 235 Aktennotiz, 28.11.1918, in: HStA Dresden, 10736/3372, Bl. 129 (Herv. im Org.). 236 Sächs. AmhM Meißen an d. KrhM Dresden, 24.11.1918, in: HStA Dresden, 10736/3372, Bl. 142. 237 Für Bayern: Bay. Min. für militärische Angelegenheiten an u. a. d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK, 23.11.1918, in: HStA München, MInn 53978. Für Stuttgart siehe u. a. die Korrespondenz zwischen dem Württembergischen Ministerium des Innern und dem Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates Gross-Stuttgart im November und Dezember 1918: HStA Stuttgart, E 135a, Bü 220.
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weiterhin daran fest und handhabten diese in »strengster Weise«.238 In Karlsruhe baten noch am 10. Dezember 1918 russländische Staatsangehörige um die Aufhebung der Ausnahmebestimmungen.239 Der französische Komponist Henri Marteau (1874– 1934), der sich mit seiner Frau im bayerischen Lichtenberg aufhielt, musste sich noch bis 31. Dezember 1918 täglich auf der Ortspolizeibehörde melden.240 Obwohl Ende November 1918 das Berliner Tageblatt verkündet hatte, dass sämtliche Aufenthaltsbeschränkungen, Ortswechselverbote und außerordentlichen Meldevorschriften in der Hauptstadt aufgehoben seien,241 erließen die Beamten des Preußischen Innenministeriums im Februar 1919 erneut eine allgemeine Meldepflicht für ausländische Staatsbürger/innen. Aus ihrer Sicht sei das »unbotmäßige und gemeinschädliche Treiben zahlreicher im Lande ohne jeden Ausweis und unangemeldet sich aufhaltenden Ausländern […] nach und nach zu einer sehr bedenklichen Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit geworden«.242 Im Zuge dieser Maßnahme mussten in den Polizeiamtsstuben erneut »Personenzettel« ausgefüllt werden, die Auskunft über den Namen und den Geburtsort, die Staatsangehörigkeit und die Wohnung, den Beruf und die Aufenthaltsdauer in Deutschland gaben.243 Die Passpflicht für Ausländer/innen blieb unverändert bestehen. Der Friedensvertrag von Versailles verfestigte die Geltung regionaler Bestimmungen, indem er die im Krieg geltenden reichsweiten Beschränkungen aufhob. In Artikel 276 hatten sich die deutschen Unterzeichner verpflichtet, »den Staatsangehörigen irgendeiner der alliierten und assoziierten Mächten keinerlei Beschränkung aufzuerlegen, die nicht am 1. Juli 1914 auf die Staatsangehörigen dieser Mächte anwendbar war, sofern nicht [ihren] eigenen Angehörigen dieselbe Beschränkung gleichfalls auferlegt wird«.244 Der preußische Innenminister hielt eine reichsweite Koordinierung des Meldewesens für Ausländer/innen 238 Arbeiter-Sekretariat Stuttgart an d. Württ. MdI, 13.12.1918, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1026, Bl. 224. Karl Mailänder wurde in dem Schreiben ausdrücklich erwähnt. Nach 1933 leitete er die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt in Württemberg. Harald Stingele beschrieb ihn mit dem Dreisatz: Fürsorgebeamter, Schreibtischtäter und Bundesverdienstkreuzträger. Siehe: Harald Stingele, Karl Mailänder. Fürsorgebeamter, Schreibtischtäter und Bundesverdienstkreuzträger, in: Hermann Abmayr (Hg.), Stuttgarter NS-Täter, Stuttgart 2009, S. 90–99. 239 I. Weissblüth an u. a. d. Bad. MdI (z.H. Dr. Haas), 10.12.1918, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 240 Blanche Marteau, Henri Marteau. Siegeszug einer Geige, Tutzingen 1971, S. 150; Faksimile der ersten Seite der Anwesenheitsliste S. 152. 241 Meldung, in: Berliner Tageblatt, 30.11.1918 (Nr. 613, Abendausgabe). 242 Preuß. MdI (gez. i. A. Veister) an d. Regierungspräsidenten, 10.2.1919, in: StA Marburg, 150/1901, Bl. 35. 243 Bkm. über d. Meldepflicht d. Ausländer im Landespolizeibezirk Berlin u. d. Kreisen Teltow u. Niederbarnim (gez. Eugen Ernst), 31.1.1919, in: StA Marburg, 150/1901, Bl. 35 f. 244 Gesetz über d. Friedensschluß zwischen Deutschland u. d. alliierten u. assoziierten Mächten, 16.7.1919, Art. 276d, in: RGBl. 1919, S. 687–1349, hier S. 1085–1087.
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im Herbst 1919 weiterhin für »ratsam« und »erwünscht«. Allerdings ging er mit Blick auf den Vertragsartikel davon aus, dass eine solche »darnach vorerst nicht zu erwarten« sei.245 Die Wirren der Nachkriegszeit verhinderten eine durchgehende Fremden- und Grenzkontrolle, während Soldaten, entlassene Kriegsgefangene und Geflüchtete in das Deutsche Reich einreisten sowie ehemalige russländische Kriegsgefangene in diesem eine neue Heimat suchten. Im Angesicht des damit einhergehenden Kontrollverlustes entwarf der Reichskommissar für Zivilgefangene und Flüchtlinge, der Sozialdemokrat Daniel Stücklen (1869–1945), im Oktober 1920 eine Denkschrift, in der er sich einerseits von den Verfahrensweisen des Krieges absetzte und andererseits auf die in ihm geschaffenen Möglichkeiten zurückgreifen wollte.246 Er drang hierbei auf eine Zentralisierung der bestehenden Kontrollinstrumente, um eine umfassende Ausländer/innenkontrolle zu gewährleisten. Im Anschluss daran schlug er unter anderem vor, dass die Meldepflichten verschärft und ausgeweitet, die Kontrollen auf jene, »die bereits seit längerer Zeit und zum Teil dauernd im Reiche wohnhaft sind«, ausgeweitet werden. Er hielt es für notwendig, alle ausländischen Staatsangehörigen in einer General-Kartothek zu erfassen und ihnen eine laufende Nummer zuzuweisen. Eine Reichs-Ausweis-Karte solle zugleich Name, Unterschrift, Personalbeschreibung, gestempelte Photographie, amtliche Beurkundung und eventuell den Fingerabdruck des Inhabers enthalten. Schließlich schwebte ihm ein weitreichendes Sanktionssystem vor, das die Praktiken des Krieges in den Frieden getragen hätte: »Alle Ausländer, die den Vorschriften über Meldepflicht nicht nachkommen oder von einem gegebenen Zeitpunkt ab ohne Ausweiskarte betroffen sind, sollen in einem einzurichtenden Internierungslager zwangsweise untergebracht werden, wenn nicht die allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren gegen lästige Ausländer zur Anwendung gelangen oder aus politischen Gründen diese Bestimmungen nicht durchgeführt werden können.«247
245 Preuß. MdI (gez. i. A. Schloßer) an d. Regierungspräsidenten, 14.11.1919, in: StA Marburg, 150/1901, Bl. 44. 246 Reichskommissar für Zivilgefangene u. Flüchtlinge (gez. i.V. Straube), Denkschrift betr. Abänderung d. Bestimmungen über d. Meldepflicht u. d. Behandlung d. Ausländer, 30.10.1920, in: BArch Berlin, R 43-I/594. 247 Ebd.
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Identifizieren und Überwachen
Resümee: Die Unabschließbarkeit der Überwachung Unterschiedliche polizeiliche Werkzeuge wie Pass- und Meldekontrollen, Reisebeschränkungen und Postzensur etablierten sich während des Ersten Weltkrieges, um ausländische Staatsangehörige zu überwachen. Vorrangig ihre Mobilität sollte im Zuge dessen eingeschränkt und nachverfolgbar werden. Bei der Durchführung einzelner Maßnahmen lagen die Entscheidungs- und Handlungspole staatlichen Handelns weit auseinander, weil die Frage nach der Loyalität des Einzelnen gegenüber dem Deutschen Reich und der Kriegsgesellschaft vielfältige, meist unsichere Antworten herausforderte. Militärische und zivile Verantwortungsträger konnten sich bei ihren allgemeinen Sicherheitsbewertungen und personenbezogenen Einschätzungen auf einen vermeintlich neutralen Standpunkt zurückziehen und lediglich die Staatsangehörigkeit als zentrales Entscheidungskriterium heranziehen. Das Merkmal der Staatsbürgerschaft sollte eine umfassende Rolle bei der Internierung wehrfähiger Männer seit dem November 1914 spielen. Aber indem die Heeresführung und die Reichsleitung zugleich begannen, zahlreiche nationale Entitäten unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit zu unterscheiden und wirtschaftliche Prioritäten zu setzen, stellten sie diese Verwaltungsmethode zunehmend in Frage. Sie forderten Ermessensspielräume ein, in denen Zivil- und Militärbeamte Ausländer/innen als Einzelfälle betrachten mussten. Das Leben des Einzelnen und seine gesellschaftliche Integration wie Bekanntheit, seine nationale Einstellung und seine Aufenthaltsdauer, sein Gesundheitszustand und ihm gewährte Bürgschaften oder selbst sein vermeintlicher Charakter konnten daran anschließend situativen ebenso wie kontextgebundenen Interpretationen unterliegen. Im Zuge dessen verloren die Herkunft des Einzelnen und seine staatliche Zugehörigkeit an Bedeutung, während seine soziale Stellung in den Vordergrund rückte. Die verflochtenen Entscheidungskriterien führten zu vielfältigen lokalen Unvereinbarkeiten und Konflikten. Sie waren Ausdruck risikobehafteter und uneindeutiger Abwägungsprozesse, innerhalb derer der beständige Versuch sichtbar wurde, zwischen Richtlinien, akteursabhängigen Wahrnehmungen und eingeforderten Unterschieden zu vermitteln und diese einander anzunähern. Die prekären Beschreibungen aus- wie inländischer Staatsangehöriger spiegelten hierbei sich wandelnde Sichtweisen auf die soziale Umwelt wider. Die zuweilen vorgestellte Restlosigkeit der Überwachung und die eine Ordnung der Kontrolle feindlicher Staatsangehöriger gab es nicht, weil idealtypische Ausländer/innen nicht existierten und von Lokalverantwortlichen selten erwartet oder unterstellt wurden. Nach einer annähernden Klassifizierung aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit war eine gleichförmige Behandlung nur in Ansätzen gegeben. Sie verlor zugunsten innenpolitisch wie wirtschaftlich motivierter Weisungen, lokal bedingter Interventionen verschiedener militärischer und ziviler Akteure und der selten hinterfragten Praxis der Einzelfallentscheidungen an Bedeutung. Zudem for-
Resümee: Die Unabschließbarkeit der Überwachung
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cierten die Reichsverantwortlichen die Unterscheidung bestimmter Gruppen und setzten diese in Geltung, um sie für ihre kriegspolitischen Ziele zu instrumentalisieren. Staatliche Akteure erzwangen dadurch oftmals eine Standortbestimmung des Einzelnen und konfrontierten ihn im Anschluss daran mit einer Hierarchisierung innerhalb der Überwachungsorgane. Die eingeforderte Positionierung beeinflusste die Kriegserfahrungen ausländischer Staatsbürger/innen nachhaltig. Die Münchner Meldezettel stellten eine Ordnung der feindlichen Ausländer/ innen dar. Als dokumentierende Momentaufnahme besaßen sie keine sicherheitstechnische, präventive Funktion. Ein Vergleich mit anderen Meldeverzeichnissen aus weiteren Polizeibezirken war nicht vorgesehen. Die lokalen Kontrollsysteme etablierten zuerst eine Drohkulisse, die selbst in ihren Lücken und Ausnahmen einen potenziellen Zugriff auf die Betroffenen andeutete und diesen in der erfolgreichen Umsetzung fortwährend demonstrierte. Die Erfassungs- und Meldeordnungen veränderten das alltägliche Leben ausländischer Staatsangehöriger einschneidend. Die Polizeibehörden bedeuteten fortan für sie einen entscheidenden institutionellen Bezugspunkt. Gleichwohl existierten Möglichkeiten, der Identifizierung und Überwachung zu entgehen, nicht zuletzt, weil den Vorschriften innere und äußere Widersprüche innewohnten. Die Ordnungen feindlicher Ausländer/innen blieben prekär und die Anzeichen eines überregionalen Kontrollverlustes mehrten sich gegen Ende des Krieges.
4. Ausweisen und Einquartieren
Ausländische Zivilisten brachen in den ersten Kriegstagen oftmals nach jenen deutschen Grenzorten auf, aus denen sie sich eine Ausreise erhofften. Gleichzeitig wurden nicht wenige von ihnen, die die Staatsangehörigkeit eines feindlichen Landes besaßen, gezwungen, ihre Aufenthaltsorte zu wechseln. Aufgrund vielfältiger Annahmen, Erwartungen und Wahrnehmungen entschieden Bürgermeister, Bezirksvorstände, Regierungspräsidenten, Innenminister oder Militärkommandeure, sie auszuweisen oder nach anderen Orten abzuschieben. Beide Maßnahmen gehörten im Spätsommer 1914 zu einem weitverbreiteten Repertoire an Möglichkeiten, das den Umgang mit Ausländer/innen kennzeichnete. Indes erzeugten sie neue Konfliktfelder und beeinflussten wiederum die Sicht auf die Betroffenen nachhaltig. Im Folgenden sollen die unvorhergesehenen wie erzwungenen Reisen aus zwei Perspektiven verfolgt werden. Zunächst rücken verschiedenartige Argumente, Leitideen und Motive für und gegen Ausweisungen beziehungsweise Abschiebungen in den Mittelpunkt. Daran anschließend werden die Betroffenen als Ankommende in den Blick genommen, die oftmals staatlicherseits untergebracht, verpflegt und versorgt werden mussten. Die Abschiebungen und Ausweisungen ausländischer Staatsangehöriger können in zwei chronologische Phasen unterteilt werden. Die Monate August bis November 1914 stellten eine Zeit lokaler, unkoordinierter Initiativen militärischer und ziviler Akteure dar. Es fehlten reichsweite Absprachen und übereinstimmende Zielsetzungen, verbindliche Normen und anerkannte Verfahrensweisen. In den darauffolgenden Wintermonaten 1914/15 setzte sich das Preußische Kriegsministerium als hauptsächlicher Entscheidungsträger durch, und die Ministerialvertreter bestimmten weitgehend die Richtlinien der Ausweisungspolitik. Eigenverantwortlichem Handeln von Offizieren und Beamten vor Ort wurden nun enge Grenzen gesetzt. Die teilweise chaotischen Zustände zu Kriegsbeginn sollten sich nicht noch einmal wiederholen. Obwohl sich staatliche Akteure bei Abschiebungen und Ausweisungen nicht auf niedergelegte Mobilmachungspläne berufen konnten und sie sich nur selten miteinander abstimmten, stand ihr Handeln keineswegs allein im Zeichen der Willkür. In ihren Entscheidungen konnten sich Militär- und Zivilverantwortliche in der Übergangsphase zwischen Frieden und Krieg auf militärische Traditionen und Erfahrungen beziehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Ausweisungen unzuverlässiger oder mittelloser Einwohner aus Festungsstädten, die der Gefahr einer Belagerung
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Ausweisen und Einquartieren
ausgesetzt waren, zu den unbestrittenen Handlungsspielräumen der Militärkommandanten gehört. Jedoch stellten der Transport, die kaum zur Verfügung stehenden Aufnahmeorte und die Versorgung der Betroffenen im Zuge des urbanen Bevölkerungswachstums die Zivilverwaltung vor administrativ kaum lösbare Probleme. 1870 erwarteten die preußischen Behörden beispielsweise allein im Festungsbezirk Köln 100.000 Auszuweisende.1 Zur gleichen Zeit kommentierten Beobachter des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 kritisch die im Vorfeld der Sedan-Schlacht ergangene Aufforderung an alle ›Deutschen‹, innerhalb von drei Tagen Paris und das Département Seine zu verlassen.2 Sie erblickten in dem Ausweisungsdekret einen anachronistischen Akt und einen Rückschritt in dem Bestreben, kriegerische Handlungen auf die militärischen Operationsgebiete zu konzentrieren.3 Der Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) kommentierte die erzwungene und überhastete Ausreise Tausender als eine »Verwerflichkeit«, die in »schroffstem Widerspruch mit dem modernen Princip« stehe, den Krieg als einen »Kampf der Staaten und ihrer Heere« einzuhegen.4 Die Vertriebenen seien »in ihrer Freiheit, ihrem Erwerb und ihrem Vermögen schwer gekränkt und geschädigt«. Deshalb hoffte Bluntschli, dass Frankreich eine hohe Entschädigung für die Ausweisungen zahlen muss, und »die völkerrechtliche Schonung der friedlich lebenden Privatpersonen in der Folge besser gesichert« werden würde. Der preußische Innenminister forderte angesichts dessen beständig eine Änderung der militärischen Befugnisse ein. Mit dem politischen Druck, den er und seine Nachfolger aufbauen konnten, setzten sie zumindest ein Umdenken in Gang. Zwar sahen sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges die Befehlshaber in ihrer Entscheidungssouveränität nicht eingeschränkt, aber informell wurden sie gedrängt, von Evakuierungen abzusehen.5 Ausweisungen gehörten infolgedessen in Preußen nicht zum Instrumentarium der Mobilmachung. Erst nachträglich ordnete der preußische Innenminister 1914 die Entfernung feindlicher Ausländer/innen aus 1 2 3
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Bernhard Sicken, Militärische Notwendigkeit und soziale Diskriminierung: Zur Ausweisung von Einwohnern aus preußischen Festungsstädten bei drohender Invasion (1830/31– 1870/71), in: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 74 (2015), Nr. 1–2, S. 97–126. Zur Ausweisung Angehöriger des Norddeutschen Bundes und dessen Verbündeter siehe: Daniela L. Caglioti, Waging War on Civilians: The Expulsion of Aliens in the Franco-Prussian War, in: Past and Present, Vol. 221 (2013), No. 1, S. 161–195. Frank Becker, Strammstehen vor der Obrigkeit? Bürgerliche Wahrnehmung der Einigungskriege und Militarismus im Deutschen Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift, Bd. 277 (2003), S. 87–113, hier S. 102–104 u. Wilfried Pabst, Subproletariat auf Zeit: deutsche ›Gastarbeiter‹ im Paris des 19. Jahrhunderts, in: Klaus Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 263–268, hier S. 268. Johann Caspar Bluntschli, Das moderne Völkerrecht in dem französisch-deutschen Kriege von 1870. Eine Rectoratsrede am 22. November 1870, Heidelberg 1871, S. 22 f. Sicken, Militärische Notwendigkeit und soziale Diskriminierung, S. 122 f.
Sicherheit zwischen Kalkül und Eigendynamik
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den Aufmarschgebieten in Schlesien östlich der Oder und in den Rheinprovinzen westlich des Rheins an.6 Die Praxis des Jahres 1914, die Auszuweisenden nicht nur nach ihrem sozialen Status und ihrer politischen Zuverlässigkeit zu unterteilen, hatte sich bereits 1870 angedeutet. Eine verwaltungsinterne Aufstellung des Mindener Oberbürgermeisters aus dem Jahre 1870 enthielt bereits eine Spalte für »[o]rtsfremde Auszuweisende«.7 Eine reichsweite Verordnung des Chefs des Stellvertretenden Generalstabes der Armee vom 10. November 1914 markierte den Übergang in eine zweite Ausweisungsphase.8 Im Spätherbst der ersten Kriegsmonate unternahmen die obersten Militärverantwortlichen damit den Versuch, den lokal vielfältigen Bestimmungen und Praktiken verbindliche Normen und Verfahren an die Seite zu stellen. Sie benannten hierfür die verantwortlich zeichnenden Verwaltungsbehörden und legten polizeiliche Melderegeln fest. Daneben bestimmten sie verbotene Orte und Bezirke, die feindliche Ausländer/innen verlassen mussten. Mit nicht näher benannten »militärischen Gründen« argumentierend, legten die Vertreter des Generalstabes und des Preußischen Kriegsministeriums ihren Anweisungen eine abstrakte Risikobewertung zugrunde, die sich von den situativen Einschätzungen und Annahmen lokaler und regionaler Akteure während der Mobilmachung grundlegend unterschied.
Sicherheit zwischen Kalkül und Eigendynamik Am 5. August 1914 wandte sich der Regierungspräsident von Unterfranken, Friedrich von Brettreich (1858–1938), an das Generalkommando des II. bayerischen Armeekorps. Er konstatierte, dass in dem an der fränkischen Saale nördlich von Würzburg gelegenen Bad Kissingen »auch jetzt noch fortgesetzt Russen als angebliche Kurgäste« hauptsächlich aus Berlin und anderen Kurorten einträfen.9 Sie könnten ebenso wie die anwesenden Kurgäste weder ihre Kreditbriefe einlösen, noch hätten die meisten Ankommenden deutsche Banknoten.10 Die dadurch entstandene Situation in dem bayerischen Kurort schätzte er als fortwährend 6 Preuß. Minister d. Innern an d. Oberpräsidenten, 20.8.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/82912 u. in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835. 7 Sicken, Militärische Notwendigkeit und soziale Diskriminierung, S. 124. 8 Erlass d. Chefs d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel), hier an d. Sächs. KM, 10.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 1 f. u. in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 80 f. 9 Regierung von Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Gkdo. II. bay. AK, 5.8.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 10 Diese Situation der russländischen Staatsangehörigen fand Eingang in eine Meldung des Coburger Anzeigers: Aus Nah und Fern, Bad Kissingen, in: Coburger Zeitung, 9.8.1914 (Nr. 185).
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problematisch ein. Die »Ansammlung von Russen« beurteilte er als »eine große Gefahr, auch deshalb, weil Unruhen seitens der Bevölkerung zu befürchten sind, die aufs äußerste erboßt ist, daß diese lästigen Ausländer die Lebensmittel aufzehren, ohne zu bezahlen.« »Es wird notwendig sein, gegen diese Leute mit der äußersten Strenge vorzugehen,« folgerte von Brettreich daraus und forderte, dass weitere Ausländer/innen »nicht mehr hereingelassen […] werden«. Für die bereits im Ort Anwesenden erbat er eine »möglichst beschleunigte Abschubung«.11 Bis über diese entschieden war, schränkte er im Benehmen mit dem Würzburger Generalkommando die Benutzung der Kur für ausländische Staatsangehörige ein. Sie durften darüber hinaus ihre Wohnungen nicht verlassen.12 Seine Informationen und Eindrücke bezog der Regierungspräsident vor allem von dem umtriebigen Kissinger Bürgermeister Theobald von Fuchs (1852–1943). Dieser unterrichtete ihn mehrmals telefonisch über die aktuelle Lage und die Stimmung unter den Einwohner/innen im Kurort. Am Nachmittag des 7. August suchte ihn von Fuchs gar persönlich in seinem Würzburger Amtszimmer auf. Er forderte hierbei nachdrücklich, »die Russen« müssten »weggeschafft« werden, um »grobe Ungehörigkeiten« seitens der »im höchsten Maße« erregten Kissinger Bevölkerung zu verhindern.13 Zur gleichen Zeit schätzte der Bad Kissinger Standortälteste Major Büttner gegenüber dem stellvertretenden Generalkommando des II. bayerischen Armeekorps die Situation vor Ort ein. Er ging von »annähernd 3000 russischen Untertanen« sowie »einige[n] Franzosen und Engländer[n]« aus, unter denen sich wehrfähige und -pflichtige Soldaten und Offiziere befänden. »Bei der verhältnismäßig geringen Zahl von 5000 Einwohnern«, resümierte er, »bilden die vielen Ausländer jetzt nach Einberufung der wehrfähigen Männer, des größten Teils der Gendarmerie und Schutzmannschaft sowie des ganzen Wachkommandos eine beträchtliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit, für die Gewährleistung der Verpflegung und für die geordnete Weiterführung der Mobilmachung«.14 Der Major gab zu bedenken, dass die umfassende Bewachung der Telegraphen- und Telefonleitungen nicht möglich sei, und er erinnerte an den Mangel an »notwendige[r] Bekleidung, Ausrüstung, Waffen und Munition«, der die vorzeitige Einberufung des Landsturmes ausschließe. Nicht zuletzt sei die Einrichtung eines Lazarettes in Kissingen vorgesehen. 11 Regierung von Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Gkdo. II. bay. AK, 5.8.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 12 Präsidium d. Reg. Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Bay. SMdI, 6.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. Das Schreiben gleicht inhaltlich den Ausführungen vom 5.8.1914 an das Generalkommando II. bay. AK. 13 Präsidium d. Reg. Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Bay. SMdI, 7.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 14 Standort-Ältester Bad Kissingen an d. stv. Gkdo. II. bay. AK, 7.8.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161.
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Die Anwesenheit der Ausländer/innen versetzte den Major in Alarmbereitschaft. Er hielt es aber neben seinen vielfältigen Bedenken gleich dem Bürgermeister, obschon weniger akut, für möglich, dass auch ihre Sicherheit gefährdet sein könnte. »Schließlich muß ich noch darauf hinweisen, daß bei der möglichen Erregung des Volksunwillens der Schutz der Ausländer ohne militärische Hilfe nicht gesichert ist«, beendete er seine Stellungnahme. Als Alternative zur »Ausweisung oder dem Wegtransport« der vormaligen Gäste empfahl er deren strenge »Kontrolle und Bewachung«. Dafür sei »die Aufstellung eines besonderen militärischen Detachements erforderlich […], da die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften des Bezirks-Kommandos durch die Mobilmachung ganz in Anspruch genommen sind«.15 Der in Würzburg residierende stellvertretende Generalkommandeur kam diesem Ansinnen nach, indem er einen Offizier und 22 Mannschaftssoldaten zur Kontrolle und zum Schutze der Kurgäste entsandte.16 Zu Beginn des Krieges veränderten sich folglich die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben zwischen den Einwohnern und ihren Gästen in der Stadt. Die Einberufung der Einen und der unerwartete Zuzug der Anderen veranlassten den Bürgermeister und den Ältesten des Bezirkskommandos zur Intervention bei ihren übergeordneten Instanzen. Sie fungierten beide auf diese Weise für den unterfränkischen Regierungspräsidenten und den Würzburger stellvertretenden Generalkommandeur als Berichterstatter. Mit ihren Eingaben und Vorträgen handelten sie aus Eigeninitiative ohne vorhergehende Aufforderung. Sie gaben erstens Informationen und zweitens deren Interpretationen weiter. Drittens unterbreiteten sie Lösungsvorschläge, die in ihren Augen angemessen und umsetzbar waren. Der Regierungspräsident und der Generalkommandeur agierten ihrerseits in einer Mittlerposition und verschriftlichten wiederum die Geschehnisse für ihre Vorgesetzten.17 Dass die ihnen vorgetragenen Informationen keineswegs gesichert waren, wurde ihnen anhand der Zahl der in Kissingen anwesenden ausländischen Zivilisten vorgeführt. Mehrmals korrigierte der Bürgermeister das Ergebnis der Fremdenzählung, die zwischen 2400 russländischen Staatsangehörigen am 6. August, 3200 am Tag darauf und 1926 Ausländer/innen am 9. August schwankte.18 Ein abermals revidierter Zensus, den der bayerische Innenminister als Planungsgrundlage für die Unterbringung der Ausländer/innen auf der Festung Plassenburg 15 Ebd. 16 Stv. Gkdo. II. bay. AK an d. Bay. KM, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 17 Der Generalkommandeur wandte sich an das Bayerische Kriegsministerium: Stv. Gkdo. II. bay. AK (gez. v. Pflaum) an d. Bay. KM, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161; der Regierungspräsident in einem abschließenden Bericht an das Bayerische Innenministerium: Präsidium d. Reg. von Unterfranken u. Aschaffenburg an d. Bay. SMdI, 29.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 18 Stv. Gkdo. II. bay. AK (gez. v. Pflaum) an d. Bay. KM, 8.8.1914 u. 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161.
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bei Kulmbach benannte, ergab die Anwesenheit von 1550 russländischen, 29 britischen, neun französischen und fünf belgischen Staatsbürger/innen.19 Diesem hierarchisch von unten nach oben folgenden Vermittlungsprozess innerhalb der zivilen und militärischen Verwaltung stand eine in entgegengesetzter Richtung konkretisierte Problemwahrnehmung und -kommunikation gegenüber. So erließ der bayerische Kriegsminister Otto Kreß von Kressenstein (1850–1929) am 6. August eine weitgehende Verfügung in Bezug auf Ausländer/innen und ihre Behandlung im Königreich. »Alle wehrfähigen […] Angehörigen der mit dem Deutschen Reich im Kriegszustand befindlichen Staaten«, hieß es darin, »können, gleichgültig, ob sie bereits dem Heere angehören oder nicht […], zu Kriegsgefangenen gemacht werden.«20 Waren die Offiziere ohne Unterschied ihres Standes sofort gefangen zu setzen, bestimmte er für die übrigen Wehrfähigen eine »scharfe polizeiliche Überwachung«. »Ihre Festnahme […] wird […] veranlaßt sein, wenn sie sich irgendwie lästig machen, oder ihren bisherigen Aufenthaltsort- oder Beschäftigungsort verlassen.« Die militärischen Weisungen an die stellvertretenden Generalkommandos wurden flankiert von umfangreichen zivilen Bestimmungen. Unter dem verantwortlich zeichnenden Minister Maximilian von Soden formulierten die Beamten des Bayerischen Innenministeriums Richtlinien und grenzten die Handlungsspielräume der unterstellten Institutionen ab. Sie mahnten eindringlich die Zusammenarbeit der zivilen Bezirksregierungen und Polizeibehörden vor dem Hintergrund einer von »deutschfeindliche[n] Fremde[n]« ausgehenden »große[n] Gefahr« an.21 Diese gelte es, durch eine umfassende Überwachung der Ausländer/innen zu bannen. Die lokal agierenden Beamten müssten die militärischen Ausweisungsanordnungen »mit Nachdruck« vollziehen. Sie hätten den für Festnahmen und Ausweisungen verantwortlichen Distriktspolizeibehörden über jene Fremden, »die sich über den Zweck ihres Aufenthalts nicht gehörig ausweisen können oder sich lästig machen«, Bericht zu erstatten. Wohl sollten die Bürgermeister die Hilfe der Bevölkerung bei den Überwachungsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Zugleich hätten sie aber »beruhigend« auf diese einzuwirken, »damit nicht eine allgemeine übertriebene Spionenfurcht um sich greift«.22
19 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. SMin d. Justiz, 11.8.1914, (Abs.) in: HStA München, MJu 10779. 20 Bay. KM (gez. v. Kreß) an d. Gkdos. u. stv. Gkdos. d. I., II. u. III. bay. AK, 6.8.1914, in: HStA München, MInn 53976 (Herv. im Org.) u. ebenso in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 21 Bay. SMdI an d. Regierungen u. Distriktspolizeibehörden, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976 u. ebenso in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 22 Streichung u. Ersetzung im Org.
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Die Mahnung vor wirkmächtigen Ängsten der Bevölkerung stellte im Zusammenhang mit Ausschreitungen am 8. August 1914 in Nürnberg23 und weiteren gewalttätigen Übergriffen auf Ausländer/innen in Deutschland24 keineswegs eine Randnotiz dar. Am selben Tag hatte der bayerische Gesandte in Berlin seine Eindrücke aus einem Gespräch mit Vertretern des Auswärtigen Amts übermittelt. Dort seien solche Vorfälle »entschieden missbilligt« worden, da die Zeit nach dem Krieg nicht vergessen werden dürfe. »[D]aher [ist] alles zu vermeiden […], was unnötig Gefühle der Verbitterung auslöst«,25 empfahl er den bayerischen Militärund Zivilinstitutionen. In diesem Sinne klärte der Innenminister die ihm unterstellten Instanzen auf. »Es ist auch bedauerlicherweise vorgekommen, daß fremde Staatsangehörige, die gänzlich unverdächtig sind, schon wegen ihrer Ausländereigenschaft Gewalttätigkeiten durch die Bevölkerung ausgesetzt sind.«26 Solche Vorkommnisse sollten durch »besonnene Aufklärung« und den Einsatz der Polizeibehörden wie der Gendarmerie verhindert werden. Die Erfahrungen des bayerischen Kriegsministers und des Innenministers fanden ihren Ausdruck in den Widersprüchen ihrer Weisungen. Dem Festhalten der Wehrfähigen trat die Ausweisung der Lästigen wie der Personalien- und somit Ortlosen gegenüber. Verdächtigungen hinsichtlich fremder Personen stießen auf die zu verhindernde Erregung der Bevölkerung. Weite Ermessensspielräume Einzelner überschnitten sich mit der Verpflichtung und Weitergabe der Verantwortung an viele Akteure. Die führenden Staatsdiener des Königreiches favorisierten angesichts dieser Situation aber keine allgemeine und unterschiedslose Ausweisung oder eine Internierung ausländischer Zivilisten an einem geeigneten Ort, um die krisenhaften Situationen zu entspannen. Stattdessen gaben sie einem kontinuierlichen Prozess aus misstrauischem Beobachten der Einen und beruhigendem Informieren der Anderen den Vorzug. Den lokalen Beamten kam hierbei die Funktion vorausblickender Jongleure zu, die durch ausgewogene Entscheidungen »die öffentliche Ruhe und Ordnung«27 zu gewährleisten hatten. Diese wurde in der Wahrnehmung des Bürgermeisters, des Regierungspräsidenten, des Standortältesten und des Innenministers aus zwei Richtungen bedroht. Ebenso wie potenziell ›deutsch23 Meldungen in der überregionalen Presse konnten zu einem Nürnberger Vorfall nicht ermittelt werden. Aber unter anderem das Auswärtige Amt nahm zu diesem Stellung. Siehe: Aktenvermerk Telefonat mit d. Gesandtschaft Berlin, 8.8.1914; Mitteilungen aus d. AA, an d. stv. Gkdos I., II. u. III. bay. AK, d. Bay. SMdI u. d. Bay. KM, in: HStA München, Abt. IV, MKr 12789. 24 Verweise unter anderem bei: Verhey, Der Geist von 1914, S. 146 ff. u. 154. 25 Aktenvermerk Telefonat mit d. Gesandtschaft Berlin, 8.8.1914; Mitteilung d. AA an d. stv. Gkdos I., II. u. III. bay. AK, d. Bay. SMdI u. d. Bay. KM, in: HStA München, Abt. IV, MKr 12789. 26 Bay. SMdI an d. Regierungen u. Distriktspolizeibehörden, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976. 27 Ebd.
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feindliche‹ Ausländer/innen galten ›deutsche‹ Einwohner/innen als unkalkulierbarer Risikofaktor. Die Geschichte der Ausweisung der Bad Kissinger Kurgäste, die auf Erlebtem wie Vermitteltem gründete, die aus lokal kontextualisierten Argumenten wie überregionalen Rahmenbedingungen hervorging, war daher nicht zuletzt eine Erzählung der Unsicherheiten über die körperliche Unversehrtheit feindlicher Zivilisten. Um weitere physische Gewalttätigkeiten gegen Ausländer/innen wie in Nürnberg und anderen Orten zu verhindern, appellierten mehrere stellvertretende Generalkommandeure an die »Ritterlichkeit des deutschen Volkes«. Luitpold von der Tann-Rathsamhausen, der Kommandeur des Münchner Armeekorpsbereiches, ermahnte in einer öffentlichen Bekanntmachung patriarchalisch-wohlwollend die Bevölkerung, für die er Verantwortung übernommen hatte. »Lasset uns nicht vergessen, daß wir mit Gewalt nur dem Feinde gegenübertreten, daß es aber eine der schönsten Seiten des deutschen Gemütes ist und bleiben muß, die Wehrlosen und jene, die keine feindliche Handlung gegen uns begehen, zu schonen. Die Bewohner des Korpsbezirks werden daher dringend ersucht, angesichts der Gerüchte über Spionageversuche u. dergl. nicht die Fassung und Haltung zu verlieren und sich nicht zu unüberlegten Handlungen gegen harmlose Personen hinreißen zu lassen.«28 Der bayerische Innenminister und seine unterstellten Beamten setzten gleichwohl auf eine weitere Interventionsmöglichkeit. Während der ersten Kriegswoche waren bereits russländische Staatsangehörige aus München, »teils um sie zu überwachen, teils um sie zu schützen, in das Gut Zängermoos bei Ismaning verbracht worden«.29 Daher handelte es sich bei der nun in Betracht gezogenen Internierung ausländischer Kurgäste nicht um eine unerprobte Ausnahme. Und als Ausländer/ innen nicht mehr nach der Schweiz ausgewiesen werden konnten, weil der neutrale Staat die Grenzübergänge gesperrt hatte,30 rückte der Münchner Lösungsweg ebenso für die Kissinger Ausländer/innen näher. Dagegen äußerten Vertreter des Auswärtigen Amtes gegenüber der bayerischen Gesandtschaft noch vor der maßgeblichen Entscheidung ihre Bedenken. »Das Auswärtige Amt wünscht, daß das ausländische Badepublikum möglichst unbehelligt gelassen wird. Eingegriffen soll nur werden, wenn besondere Umstände (z. B. begründeter Spionageverdacht) vorliegen«, berichtete telefonisch der bayerische Gesandte in Berlin seinen Münch28 Ritterlichkeit gegenüber Ausländern, in: Coburger Zeitung, 9.8.1914 (Nr. 185) u. ebenso: Bkm. d. stv. Gkdos. XI. AK, in: Coburger Zeitung, 13.8.1914 (Nr. 188). 29 Bay. SMdI an d. Präsidium d. Reg. von Unterfranken u. Aschaffenburg, 10.8.1914, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, MKr 12789. 30 Bay. SMdI an d. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, 10.8.1914, in: HStA München, MInn 53976; Bay. SMdI an d. Präsidium d. Regierung von Unterfranken u. Aschaffenburg, 10.8.1914, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, MKr 12789.
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ner Vorgesetzten.31 Das entscheidende Argument der Vertreter des Amtes ruhte nicht auf den Bedingungen vor Ort, sondern versuchte die Prämissen der lokalen Akteure jenseits des Krieges zu verankern. »Es sollte doch bedacht werden, daß unnötige Schärfe die deutschen Bäder, die vom internationalen Publikum abhängig sind, in Zukunft wirtschaftlich schwer schädigen würde.« Trotz dieser Einwände begab sich Maximilian von Soden, fortwährend durch den Kissinger Bürgermeister gedrängt,32 auf die Suche nach einem geeigneten Internierungsort und trieb die organisatorischen Vorbereitungen zügig voran.33 Diese gewannen an Dringlichkeit, als eine Anfrage des Preußischen Kriegsministeriums einging. Dessen Mitarbeiter wollten verdächtige Einwohner/innen aus Elsaß-Lothringen zügig nach Bayern abschieben. Zwei Tage nach seinem restriktiven Erlass einer umfassenden Überwachung der Ausländer/innen ersuchte der bayerische Innenminister das Staatsministerium der Justiz um Amtshilfe. »Für die Unterbringung der Ausländer […] würde sich die Feste Plassenburg bei Kulmbach besonders eignen«, teilte er diesem mit, »da die dortigen Räume noch in gutem Zustande sein sollen und die Insassen der Feste leicht überwacht werden können.«34 Weil die Plassenburg seit 1909 kein Strafgefängnis mehr gewesen war, bat er »dringend anzuordnen, daß von den nahegelegenen Strafanstalten, die infolge der Mobilmachung und des Gnadenerlasses nicht mehr so stark besetzt sein werden, entbehrliche Einrichtungsgegenstände abgegeben werden«. Um die Internierung zu rechtfertigen, verwies von Soden erneut formelhaft darauf, dass die Ausländer/innen in Bad Kissingen »ihres Lebens nicht mehr sicher« seien. Als Alternative zu diesen Plassenburger Plänen kursierte im bayerischen Innenministerium gleichzeitig die Überlegung, die wehrfähigen Kurgäste »dann als Kriegsgefangene« auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg unterzubringen.35 Doch dazu sollte es nicht kommen.
31 Telefonische Mitteilung d. Gesandtschaft Berlin, 10.8.1914 u. Mitteilung an d. Bay. KM, SMin. d. Finanzen u. d. stv. Gkdos. I., II. u. III. bay. AK, 12.8.1914, (Abs.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148. 32 Bay. SMdI an d. Regierungspräsidium Unterfranken u. Aschaffenburg, 14.8.1914, (Telegramm, Abs.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 33 Ob er die abwertende Meinung des Standortältesten Büttner über die Fehler des Kissinger Bürgermeisters und der Stadtverwaltung teilte und dies Einfluss auf sein Handeln ausübte, muss offenbleiben. Aus Sicht des Majors hatten es die Verwaltungsbeamten »an entscheidenden Maßnahmen fehlen lassen«, provozierten somit die Krisensituation in der Stadt und machten ein Eingreifen der Militärbehörde vor Ort erst nötig. Siehe: StandortÄltester Bad Kissingen an d. stv. Gkdo. II. bay. AK, 7.8.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 34 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Bay. SMin. d. Justiz, 11.8.1914, in: HStA München, MJu 10779. 35 Bay. SMdI an d. Regierungspräsidium Würzburg, 14.8.1914, (Telegramm, Abs.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161.
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Ausweisen und Einquartieren
Am 21. August 1914 ordnete der stellvertretende Generalkommandeur des II. bayerischen Armeekorps die Abschiebung und die Internierung der Kissinger Kurgäste auf der Plassenburg an.36 Seiner Entscheidung voraus ging die Verordnung des Bayerischen Kriegsministeriums, dass die »ihrer Körperbeschaffenheit nach wehrfähig[…] erscheinenden Angehörigen der erwähnten Staaten, die zwischen 17 und 45 Jahre alt sind, im besonderen Studenten, Kaufleute, Künstler usw. kriegsgefangen zu setzen« sind.37 »Daß Frauen und Kinder von der Maßnahme betroffen wurden«, begründete Friedrich von Brettreich, »war ein Gebot der Notwendigkeit, weil Familienangehörige nicht getrennt werden wollten.«38 Ohne den Einsatz des bayerischen Innenministeriums und Maximilian von Sodens wäre diese »Maßnahme« nicht möglich gewesen. Die zivilen Beamten hatten die Infrastruktur für die Umsetzung der militärischen Verordnung arrangiert. Der Bürgermeister des Kurortes hatte es verstanden, seinem Anliegen bei den vorgesetzten Instanzen Gehör zu verschaffen. Die Wahrnehmung einer möglichen und sehr wahrscheinlichen Sicherheitsgefährdung der Ausländer/innen konnte sich durchsetzen. Sie entwickelte sich im Rahmen der staatlichen Entscheidungsprozesse zu einem wiederkehrenden, wirkmächtigen Argument. Dieses war glaubwürdig und anschlussfähig an ähnliche Berichte ziviler Tätlichkeiten im In- und Ausland, die die Tageszeitungen säumten.39 Die Bedenken bezüglich der finanziellen Schwierigkeiten vieler Kurgäste und ihre daraus folgende Unterstützung aus dem Budget der Aufenthaltsorte traten dahingegen in den Hintergrund. Für die lokalen Akteure blieben sie aber unabhängig davon präsent und handlungsleitend. Dass der Kissinger Bürgermeister von Fuchs seine Argumente mit einem intensiven Blick auf die Stadtkasse ausgebreitet hatte, wurde nach der Ausweisung deutlich. Erneut wandte er sich an den Regierungspräsidenten von Unterfranken und äußerte diesem gegenüber, dass die 108 im Ort Verbliebenen weiter Unterkunft finden könnten, solange ihr finanzieller Unterhalt gesichert sei. »[A]lle anderen müßten abgeschubt werden, weil sie der Armenkasse große Kosten verursachen.«40 Die jüdischen Ausgewiesenen vermuteten das gleiche Motiv bei dem Rabbiner der Kissinger Gemeinde. Er habe »immer und immer wieder« bei der Stadtverwaltung vorgesprochen und immerzu beteuert, »dass sie […] mittellos seien«. »[Denn] [i]m Grunde genommen habe 36 Präsidium d. Reg. v. Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Bay. SMdI, 29.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 37 Bay. KM an d. stv. Gkdos. d. I., II. u. III. bay. AK u. d. stv. Intendanturen I., II. u. III. AK, 19.8.1914, in: HStA München, MInn 53976. 38 Präsidium d. Reg. v. Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Bay. SMdI, 29.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 39 Exemplarisch: Die aus Belgien Ausgewiesenen, in: Frankfurter Zeitung, 8.8.1914 (Nr. 218, Zweites Morgenblatt). 40 Präsidium d. Reg. Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Bay. SMdI, 29.8.1914, in: HStA München, MInn 53983 (Herv. im Org.).
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er […] gefürchtet, dass sie seiner Kissinger Gemeinde zur Last fallen könnten«, erklärten sie im Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt Kulmbach, Wilhelm Flessa.41 Der bayerische Innenminister rechtfertigte sich ebenfalls gegenüber dem Kulmbacher Bürgermeister, der für die auf der Plassenburg Ankommenden verantwortlich war. Er betonte ganz im Sinne Theobald von Fuchs’: »Nach der Begründung […] waren die Russen mittellos und daher hilfsbedürftig im Sinne des Armengesetzes; ihre Fortschaffung aus Bad Kissingen war zu ihrem eigenen Schutze unumgänglich.«42 Die semantische und narrative Verschiebung ist evident. Von Soden hatte einen Deutungsraum geöffnet, in dem der Schutz vor der Armut den Schutz vor der aufgebrachten Kissinger Bevölkerung verdrängte. Die Schilderungen des Standortältesten hatten daneben ihren Einfluss in Militärkreisen entfaltet. Nicht ohne Grund und womöglich die Entscheidung des bayerischen Innenministers bestärkend, kam die Lage in Bad Kissingen in einer Unterredung am 17. August 1914 im Reichsamt des Innern zur Sprache. Major Freiherr von Oldershausen, der Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums, äußerte hierbei gegenüber abgesandten Ministerialbeamten die Befürchtung, dass es denkbar wäre, »daß ein Badegast aus Kissingen öfter nach Schweinfurt gefahren sei und dort hätte er dann Gelegenheit gehabt, die wichtigsten Beobachtungen über die auf der Mainlinie ausgeführten Militärtransporte zu machen«.43 Aus seiner Sicht, also vom »militärischen Standpunkt«, galten »Bäder wie Nauheim, Baden-Baden, Kissingen, Neuenahr, die schlesischen Bäder, durchweg als gefährlich«. Wohingegen »die Bäder im Königreich Sachsen, in Thüringen, ferner Harzburg im allgemeinen als ungefährlich« angesehen werden könnten.44 Neben der Bewertung lokal und regional agierender Akteure existierte folglich eine militärische Einschätzung innerhalb des Preußischen Kriegsministeriums über die Kurorte und die sich dort Aufhaltenden. Diese stand einer Evakuierung des Kurortes von ausländischen Gästen nicht entgegen. Sie spielte gleichwohl für die zivilen Beamten vor Ort kaum eine Rolle.
41 Denkschrift betr. Verwahrung von 337 russischen Staatsangehörigen als Kriegsgefangene auf d. Plassenburg (24.8.1914–8.9.1914), S. 21, in: HStA München, MInn 53981. 42 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Stadtmagistrat Kulmbach, 3.9.1914, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 43 Bay. Bevollmächtigte zum Bundesrat, Staatsrat Strößenreuther an d. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, 18.8,1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53976. Im Protokoll des RAdI über diese Zusammenkunft findet sich dieses Beispiel nicht. Siehe: Protokollent. d. Besprechung im RAdI, betr. d. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30 ff. Für ein weiteres Protokollschreiben der Sitzung siehe nächste Fußnote. 44 Hzgl. Braunschweigische Gesandtschaft (gez. Wirkl. Geh. Rat Friedrich Boden) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 18.8.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 459.
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Ausweisen und Einquartieren
Abbildung 1: Auszug der Russen aus Bad Kissingen, 24. August 1914
Quelle: Stadtarchiv Bad Kissingen, Postkartensammlung Josef Bötsch.
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Abbildung 2: Auszug der Russen aus Bad Kissingen, 24. August 1914
Quelle: Stadtarchiv Bad Kissingen, Postkartensammlung Josef Bötsch.
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Nach welchen Kriterien die 337 Zivilisten ausgewählt worden waren, die eine beschwerliche Reise nach Kulmbach antraten, lässt sich anhand der gesichteten Überlieferungen nicht klären. Die Aufforderung zur »zwangsweisen« Internierung erging an circa 500 Personen. Etwa 100 von ihnen erhielten die Erlaubnis des Bezirkskommandos zur individuellen Abreise.45 Besonders dieser Entscheidungsspielraum und die – noch zu betrachtende – kurze Dauer der Internierung in der Kulmbacher Festung verweisen auf die Alternativen zur keineswegs zwangsläufigen Entscheidung des stellvertretenden Generalkommandeurs. Sein Entschluss stand am Ende eines diskursiven Prozesses, in dem es dem Bürgermeister und letztlich ebenfalls dem Standortältesten gelang, ihr lokal verortetes Wissen und ihre Interpretationen dessen während weniger Tage durchzusetzen. Die Sonne schien am 24. August 1914 in Bad Kissingen. An einer Straße, die vom Kurgarten zum städtischen Bahnhof führte, hatten sich auf den Bürgersteigen und auf einer angrenzenden Grundstücksmauer Männer, Frauen und Kinder versammelt. Mit einer dicken Schnur als Absperrung sicherten Polizeibeamte und Mitglieder der Feuerwehr die Straßenmitte. Durch dieses geordnete Spalier zogen, dicht gedrängt, begleitet von bewaffneten Soldaten gut gekleidete Männer und Frauen, die Koffer und Taschen in ihren Händen hielten.46 Am darauffolgenden Tag, dem 25. August, konnten die Bürger/innen Kissingens in der Lokalzeitung dieses öffentliche Schauspiel nochmals nachlesen: »Unter militärischer Bedeckung wurden die Russen, die sich von 12 Uhr ab in der Wandelhalle eingefunden hatten, nach dem Bahnhof gebracht, wobei sich viele der Wagen bedienen durften. Manche Frauen zeigten verweinte Gesichter, andere wieder grüßten die Menge, die sich recht still verhielt, durch Kopfnicken, die Männer durch Hutschwenken; man sah auch, wie gutherzige Soldaten die Handtaschen der Frauen trugen. Zur Absperrung der Straßen war die Feuerwehr durch Einschalten der Sirene aufgeboten worden[.]«47 In gleicher Weise präsentieren zwei Schwarzweißfotografien (Abb. 1 und Abb. 2) eine geordnete Ruhe in Zeiten des Krieges: Die Schutzmänner beaufsichtigen. Die Ausländer/innen gehen in kleinen Gruppen in der Straßenmitte. Das Publikum steht seitlich hinter der Absperrung. Die in den überlieferten Dokumenten dargestellten emotionalen Skizzen – die Erschöpfung und das Leid der Einen ebenso wie die Wut und die Empörung der Anderen – fanden keinen Eingang in die Bildsprache der Momentaufnahmen unter der fränkischen Mittagssonne. 45 Stadtmagistrat Bad Kissingen (gez. v. Fuchs) an d. Präsidium d. Reg. v. Unterfranken u. Aschaffenburg, 26.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 46 Fotografien, »Auszug der Russen aus Kissingen«, 24.8.1914, in: StdA Bad Kissingen, Postkartensammlung Josef Bötsch. 47 Der Auszug von ca. 500 Russen, in: Kissinger Saale-Zeitung, 25.8.1914 (Jg. 69, Nr. 196).
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Sie verschweigen die zivilen und militärischen Verwaltungsprozesse, die bewusst herbeigeführten Entscheidungen und die dahinterstehenden Kontroversen. Der Zeitungsartikel deutet sie an, indem der Verfasser beiläufig notiert: »Ob es nicht angezeigt gewesen wäre, nur die wehrpflichtigen Russen abzuschieben und alte Leute und Frauen hier zu belassen, wollen wir nicht untersuchen.«48 Die Fotografien symbolisieren gleichwohl zwei Gruppen und deren räumliche Abgrenzung voneinander, die limitierte Kommunikation in Gestik und Mimik, die strukturellen Veränderungen eines Kurortes mit internationalen Gästen zu einem Lazarett und Kriegserholungsheim für deutsche Staatsangehörige. Die Fotos bannen ein vorläufiges, nicht endgültiges Ergebnis, eine in den ersten Kriegstagen geschaffene Ordnung auf Papier. Ein halbes Jahr später, im März 1915, hielten sich nur noch 17 russländische Gäste in Bad Kissingen auf.49 Theobald von Fuchs hatte inzwischen seine Meinung über die ausländischen Kurbesucher/innen revidiert. Er wandte sich mit der Bitte an den stellvertretenden Generalkommandeur in Würzburg, Angehörigen feindlicher Staaten den Aufenthalt und den Gebrauch der Kur zu gestatten.50 Die Bedenken des Bürgermeisters über eine Erregung der Bevölkerung oder eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit waren seinem wirtschaftlichen Kalkül gewichen.
Uneinheitliche Entscheidungen und variierende Motive Die Bad Kissinger Vorgänge bildeten keinen Einzelfall. In vielen Städten und Gemeinden im Deutschen Reich wurden zu Kriegsbeginn ähnliche Diskussionen geführt und Beschlüsse zur Ausweisung beziehungsweise Festnahme feindlicher Ausländer/innen gefasst. Die lokalen Rahmenbedingungen und vorgetragenen Argumente sowie die beteiligten Akteure unterschieden sich allerdings. Mit den folgenden ausgewählten Beispielen wird der fränkische Kurort verlassen, und es soll versucht werden, Variationen der geführten Diskussionen und Entscheidungen auszuloten. Am 2. August 1914, als die Mobilmachungsschlagzeilen Zeitungen und Extraausgaben füllten und noch keine Spionagemeldungen kursierten, plädierte der Berliner Polizeipräsident, Traugott von Jagow, dafür, die in der Hauptstadt anwesenden serbischen Staatsangehörigen zu überwachen.51 Denn »irgend einen Erfolg« versprach er sich nicht von ihrer Ausweisung. Von »239 Serben und zwei Montenegriner[n]« befänden sich »175 männliche Personen in militärpflichtigem Alter«. 48 Ebd. 49 Stadtmagistrat Bad Kissingen an d. stv. Gkdo. II. bay. AK, 16.3.1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 50 Sitzungsprotokoll Magistratsrat Bad Kissingen, 5.3.1915, (Abs., Auszug) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 51 Polizei-Präsident Berlin (gez. v. Jagow) an d. Oberkommandierenden in d. Marken, 2.8.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 43/2398, Bl. 15.
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Ausweisen und Einquartieren
»[I]hren Berufen nach gehören sie überwiegend dem kleinen Handwerkerstande an. Eine Anzahl sind Studierende und zwei bis drei befinden sich in höherer gesellschaftlicher Stellung.« Mehr als einer Gefährdung der Sicherheit galten seine Bedenken den womöglich zurückbleibenden Ehefrauen, die der Armenkasse zur Last fallen könnten. Seine Lagebeurteilung deckte sich mit der des Oberkommandierenden in den Marken, der für sämtliche feindliche Ausländer/innen ein Ausreiseverbot erließ.52 Nach seinen Weisungen vom 10. August sollten nur »verdächtige und lästige Ausländer« in Schutzhaft genommen werden. Währenddessen ordnete der Königsberger Gouverneur an, dass die anwesenden Ausländer, zumeist russländisch-polnische Saisonarbeiter, »festgenommen, gesammelt und interniert« werden, um sie »nach Westen« zu transportieren.53 Der Regierungspräsident hielt dem entgegen vom »polizeilichen Standpunkte« eine Internierung nicht für erforderlich. In seinen Augen hatten die Festgenommenen weder »die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung gestört«, noch sei »eine Störung« von ihnen zu befürchten gewesen. »Ihre Internierung erfolgte lediglich im militärischen Interesse und auf Befehl des Gouverneurs, aus der Befürchtung heraus, dass durch sie die Landesverteidigung möglicherweise gefährdet werden könnte«, führte er gegenüber dem preußischen Innenminister aus. »Dieses beweist schon die Tatsache, dass die ausländischen Arbeiter in Gegenden abseits der militärischen Operationsbasis verbleiben durften.« Im württembergischen Armeekorpsbereich wurde im Zuge der Mobilmachung die generelle Abschiebung sämtlicher »Angehöriger feindlicher Staaten« nach der Schweiz befohlen. Das Stuttgarter stellvertretende Generalkommando behielt sich unterdessen Ausnahmeentscheidungen »in jedem Einzelfall« vor. Davon profitierten jene, für die eine Abschiebung eine »besondere Härte« bedeutet hätte »und für deren unanfechtbares Verhalten sich mehrere angesehene einheimische Persönlichkeiten verbürgten«.54 Ausgenommen wurden ferner ausländische Landarbeiter/ innen, »einmal weil die Schweiz Schwierigkeiten bezüglich ihrer Uebernahme machte und dann weil sie in der Landwirtschaft nützliche Verwendung fanden und meist nicht deutschfeindliche Polen waren«. In Württemberg zeigte sich demgemäß eine soziale und ökonomische Unterscheidung der Ausländer/innen, die in vielen Regionen Deutschlands in ähnlicher Weise ohne Weisungen der obersten Militär- und Zivilbehörden vorgenommen wurde. In ihr kristallisierten sich die sozialen Brüche der zeitgenössischen Gesellschaft und die angenommenen wirtschaftlichen Erfordernisse heraus, entlang derer die verantwortlichen Akteure ihre Entscheidungen trafen. 52 Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel), betr. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten, 10.8.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835. 53 Reg.-Präs. in Königsberg (gez. Keyserlingk) an d. preuß. Minister d. Innern, 21.12.1914, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 1 f. (Herv. im Org.). 54 Württ. Landespolizeizentralstelle Stuttgart an d. Württ. KM, 3.9.1914, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 22 f.
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Dies vergegenwärtigt ebenso das Handeln des Amtsvorstandes Heinrich Belzer (1861–1927) in den ersten Augusttagen 1914, als eine Vielzahl ausländischer Staatsangehöriger in der Grenzstadt Konstanz eintrafen. Sie hofften, nach der Schweiz ausreisen zu können. Als sich ihnen aber die Schlagbäume des neutralen Landes nicht öffneten, waren sie gezwungen, in der Stadt am Bodensee Aufenthalt zu nehmen. »Soweit sie den mit uns im Krieg befindlichen Staaten angehörten, schien im Hinblick auf die Nähe der Grenze, wie auch wegen der Spionagegefahr eine strenge Überwachung geboten«, erklärte der Amtsvorstand seinen Vorgesetzten.55 Nachdem der Kommandeur des städtischen Regiments ihre »Festhaltung« ersucht hatte, nahm Belzer 52 »Serben, Russen, Franzosen und Engländer in Schutzhaft«. Unter dem Eindruck eines akuten Personalmangels, der ihre Überwachung in Privaträumen als ausgeschlossen erscheinen ließ, entschied er, »die Festgenommenen im hiesigen Amtsgefängnis und einem Notgefängnis« unterzubringen. Dort wurden »sie nach den Vorschriften der Dienst- und Hausordnung für Amtsgefängnisse behandelt«. Amtsvorstand Belzer erkannte darin rückblickend den Vorteil, dass sie hierdurch vor »Belästigungen durch die erregte Bevölkerung« gesichert gewesen seien. Daher verwundert es nicht, dass Heinrich Belzer und der Polizei- und Gerichtsoffizier sowie der Gefängnisaufseher über diese behördlichen Maßnahmen nichts Nachteiliges zu berichten wussten. Letzterer hielt sich gar zugute, »dass sich die Leute bei ihrem Weggang persönlich bei ihm bedankt hätten«. Deshalb habe der Konstanzer Amtsvorstand die »feste Überzeugung, dass alles getan worden ist, was nach Sachlage in dieser Zeit der Arbeit getan werden konnte«. Vielfach seien Erleichterungen gewährt worden. Der Oberaufseher stellte »einigen Damen« seine Privaträume zur Verfügung und »drei Russinnen« brachte er in einem Aufseherzimmer unter. »Jedermann konnte sich nach freiem Belieben Essen holen lassen«, fuhr er in einer Stellungnahme gegenüber dem Badischen Innenministerium fort. »Sämtlichen Wünschen wurde, soweit es irgendwie anging, Rechnung getragen[.]« Deshalb folgerte er, dass »es nur die Freiheitsbeschränkung war, welche unangenehm empfunden werden konnte«. Der Amtsvorstand hatte es allerdings nicht bei den Inhaftierungen belassen. Ohne eine Vermittlung des Auswärtigen Amtes abzuwarten, war er in »mündliche Verhandlungen« mit den Schweizer Grenzbehörden getreten. So erzielte er »nach wenigen Tagen« eine Durchreiseerlaubnis für die in Konstanz Gestrandeten. Sie konnten bereits am 7. August das Deutsche Reich verlassen. Die Aufstellung eines Militärpostens »zur Bewachung derartiger Fremder vor dem ›Hotel Halm‹« ermöglichte kurz darauf die weitere soziale Unterscheidung der Inhaftierten. Während »seither zahlungsfähige Personen« ebenda unterkamen, mussten die »Zahlungsunfähigen […] mangels anderer Gelegenheit« weiterhin im 55 Bad. BzA Konstanz (gez. Belzer u. Vesenbeckh) an d. Bad. MdI, 28.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. Ebenso wird aus dem Schreiben im Folgenden zitiert; Herv. im Org.
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Amtsgefängnis ausharren.56 Zu dieser Verfahrensweise hatten auch die Hamburger Behörden gegriffen, als am Hauptbahnhof fortwährend Ausländer/innen aus Kurorten und Sommerfrischen eintrafen.57 Den »besseren Gesellschaftskreisen angehörende russische Staatsangehörige« fanden, nachdem ihnen die Weiterreise nach Dänemark durch das Altonaer Generalkommando untersagt worden war, Unterkunft in den Gasthöfen »Reichshof« und »Kronprinz«.58 Viele mittellose und wohl ferner im Stadtgebiet Hamburgs lebende Ausländer/innen sowie Seeleute übernachteten dagegen auf Logierschiffen im Hafen.59 Nach eingegangenen Beschwerden der dort Übernachtenden mussten die verantwortlichen Offiziere und Zivilbeamten sich ebenfalls für die Zustände auf den Schiffen und den Umgang mit den Internierten rechtfertigen.60 Ihre Aussagen und Überzeugungen entsprachen denen des Konstanzer Amtsvorstandes. »Die Internierten hatten gar keinen Grund, sich über die Unterbringung und Verpflegung zu beklagen«, fasste die Politische Abteilung der Hamburger Polizei ihre Wahrnehmungen zusammen. Der Regierungsdirektor für die auswärtigen Angelegenheiten setzte sich dennoch nach einer Bitte des Spanischen Generalkonsuls dafür ein, dass die in den Gasthöfen Wohnenden im Falle einer finanziellen Hilfsbedürftigkeit nicht auf die Schiffe verbracht würden. Ebenso empfahl er, sie »nicht lediglich der hiesigen Armenpflege zu überlassen […], die meines Wissens bei ihrer Unterstützung keine Rücksicht auf den Unterschied der Stände zu nehmen pflegt«. Deshalb mahnte er an, eigens Geld für sie zur Verfügung zu stellen. Im benachbarten Bremen zeigte sich der Unwillen lokaler Behörden, für ausländische Staatsangehörige aufzukommen, die sich eine Privatunterkunft nicht leisten konnten. Infolge der Einstellung der Schifffahrtsverbindungen nach Amerika und England waren circa 120 »meist mittellose Auswanderer« in der Obhut des Norddeutschen Lloyd gestrandet. Der Generaldirektor der Reederei, Philipp Heineken (1860–1947), konnte von den Beförderungsverträgen nicht zurücktreten, die den Rücktransport der Passagiere nach ihrem früheren Wohnort und die Übernahme der damit einhergehenden Kosten vorsahen. Da die Militärbehörden in den preußisch-russischen Grenzbezirken Einspruch gegen eine Abschiebung erhoben hatten, versuchte er daraufhin, im Reichsamt des Innern wie bei den 56 Ebd. 57 Senatskommission für d. Reichs- u. auswärtigen Angelegenheiten (gez. Predöhl) an d. Reichskanzler, Bethmann Hollweg (RAdI), 2.9.1914, in: StA Hamburg, 132–1 I, 3807. 58 Regierungsdirektor d. Senatskommission für d. Reichs- u. auswärtigen Angelegenheiten, Hermann Schmitz an d. Hamburger Bürgermeister Predöhl, 26.8.1914, in: StA Hamburg, 111–2, L z 45, Bl. 1. 59 Zur Lage chinesischer Seeleute in Hamburg und Bremerhaven während des Ersten Weltkrieges siehe: Lars Amenda, Fremde – Hafen – Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897–1972, München 2006, S. 76–93. 60 Stellungnahme d. Polizeibehörde Hamburg (Abt. VIII, Hafenpolizei), 30.4.1915 u. Stellungnahme d. Polizeibehörde Hamburg (Abt. IV, Politische Polizei), 24.4.1915, in: StA Hamburg, 111–2, L y.
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lokalen Zivil- und Militärbehörden eine Kostenübernahme zu erwirken.61 »Da es sich um Leute handelt, die im staatlichen Interesse in Deutschland zurückgehalten werden, kann eine Verpflichtung der Schiffahrtsgesellschaften, für deren Unterhalt Sorge zu tragen, nicht in Frage kommen«, beschwerte er sich. Für den Bremer Senat besaß dieser Vorstoß Konfliktpotenzial. Denn der Generaldirektor versuchte im Krieg, den Status quo bezüglich der unternehmerischen Verantwortung für osteuropäische Transitreisende, die ihre Unterbringung und Verpflegung ebenso wie ihre Beförderung und Gesundheitsfürsorge einschloss, neu zu verhandeln. Die Senatoren lehnten wohl deshalb einen Ausgleich längere Zeit ab. Sie fällten bis zum 18. September 1914 keine Entscheidung. Die Auswanderer kamen inzwischen in der Herberge »Stadt Warschau« unter.62 Während die Verhandlungen zwischen der Stadt und der Reederei über den Umgang mit ihnen andauerten, musste der Generaldirektor erfahren, »dass ein Teil der Leute auf behördliche Anordnung aus dem Quartier genommen und zur Arbeitsleistung nach Emden überführt worden« war.63 In einer darauffolgenden Besprechung vereinbarte er mit dem Senat der Hansestadt, dass soweit möglich ihre Weiterbeförderung über Rotterdam erfolgen solle. Die Kosten für die Unterbringung und Verpflegung der Auswanderer musste er nur bis 31. August übernehmen.64 Trotzdem dauerte es bis Ende Oktober, bis die Betroffenen nach Rotterdam eingeschifft werden konnten.65 Und erst im Dezember 1914 wurden die Zurückgebliebenen der Verantwortung des Bremer Senats unterstellt. In der nördlich von Bremen gelegenen Gemeinde Nordenham hatte sich die Frage nach der Unterbringung der anwesenden Ausländer/innen nicht gestellt. Die im Ort wohnenden britischen Familien waren bei der Aktiengesellschaft Norddeutsche Seekabelwerke beschäftigt, der leitende Direktor des Werkes verbürgte sich persönlich für sie und das Hannoveraner stellvertretende Generalkommando lehnte am 5. August 1914 eine Einmischung in die Angelegenheiten der Zivilbehörden ab. Amtshauptmann Bernhard Zeidler entschied im Anschluss daran nach eigener Aussage aus zwei Gründen, dass die Ausländer/innen ihre 61 Norddeutscher Lloyd (Heineken) an d. Reichskanzler Bethmann Hollweg, 19.8.1914, (Abs., Anlage 1) in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 48 f. u. Norddeutscher Lloyd (Heineken u. Seyda) an d. Senat d. freien Hansestadt Bremen, 7.9.1914, (Abs., Anlage 7) in: Ebd., Bl. 57. 62 Das Auswandererhaus »Stadt Warschau« gehörte zu den zwei größten privaten Herbergen in Bremen. Sein Besitzer war Friedrich Mißler (1858–1922), der ebenfalls an den Bremer Auswandererhallen finanziell beteiligt war. Siehe: Michael Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung 1881–1914. Transitprobleme in Deutschland und Aufnahme in den Vereinigten Staaten, Stuttgart 1988, S. 67 f. 63 Norddeutscher Lloyd (Heineken u. Seyda) an d. Senat d. freien Hansestadt Bremen, 18.9.1914, (Abs., Anlage 8) in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 58. 64 Norddeutscher Lloyd (Heineken u. Seyda) an d. Senat d. freien Hansestadt Bremen (z. H. Senator Buff), 24.9.1914, (Abs., Anlage 9) in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 59. 65 Jahrbuch der Norddeutschen Lloyd 1914/15, Der Krieg und die Seeschiffahrt unter besonderer Berücksichtigung des Norddeutschen Lloyd, Bremen 1915, S. 78.
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Wohnung nicht verlassen durften. »Die getroffene Anordnung war einmal eine Schutzmaßnahme im Interesse der englischen Familien und zum anderen sollte dadurch die Beaufsichtigung der Ausländer erleichtert werden.«66 Die Reaktion der Bevölkerung auf seinen Entschluss nahm er als zustimmend wahr. Sie hätte die Maßnahme gegenüber den seit vielen Jahren Ansässigen »nicht für zu weit gehend« empfunden. »[E]s wird sogar die Ansicht vertreten, daß es nicht richtig sei, daß einem feindlichen Staate angehörende Ausländer auf einem Werke wie dem Kabelwerke ihrer Beschäftigung nachgehen.« In der Hafenstadt Kiel kamen dagegen wie in Konstanz und Hamburg Anfang August 1914 »eine Menge« feindlicher Ausländer/innen an, die nach Dänemark auszureisen hofften. Nachdem allerdings die Postdampfverbindung dorthin aus »militärischen Gründen« gesperrt und der Bahnverkehr aus der Stadt eingestellt worden war, beschlossen die Militärverantwortlichen des Gouvernements die Internierung der ausländischen Staatsangehörigen.67 »Sie trieben sich arbeitslos, teilweise auch obdachlos im Befehlsbereich herum, wurden von Posten und Patrouillen festgenommen, aber mangels von Beweisen meistens nach kurzem Verhör wieder freigelassen. Sie stellten aber auf jeden Fall ein Element dar, das die Sicherheit der Festung durch Anschläge und Spionage stark gefährdete«, rechtfertigten sich die Gouvernementsvertreter gegenüber dem Reichsmarineamt. Neben feindlichen Ausländern »ohne festes Arbeitsverhältnis (auch Studenten Reisende pp.)« waren davon die »Besatzungen der feindlichen Prisen und Embargoschiffe« und all jene betroffen, »die zu einem Verdacht Anlass gaben, auch ohne dass ein gerichtliches Verfahren gegen sie anhängig gemacht werden konnte«. Schließlich fanden sich Personen in der Internierung wieder, die Gouvernementsanordnungen übertreten hatten. Sie galten deshalb als »unzuverlässig« und sollten »nach Verbüßung der verhängten Strafen« weiterhin überwacht werden. Sie wurden zunächst in der »Männerarbeitsstätte, später im Asyl für Obdachlose und zuletzt wieder in einer neu angelegten Arbeitsstätte (Preetzer Chaussee) untergebracht, dort beschäftigt und militärisch bewacht«. Anfang September überstellte die Militärbehörde einen »grossen Teil der Internierten (100–120 Mann)« an die Firma Holtzmann »zum Bau der Marinekohlenmole bei Holtenau«. Zufrieden resümierten die Gouvernementsvertreter: »Diese Leute haben dann dem Staate nichts mehr gekostet. Auch sonst wurden einzelne Leute, die sich allmählich als zuverlässig herausgestellt hatten, an Landwirte und Unternehmer abgegeben.« Ebenso wie die Offiziere vor Ort wollte der Staatssekretär des Reichsmarineamts das Internierungslager in Kiel aufrechterhalten. Er plädierte grundsätzlich dafür, dass »für eine Festung ein dauerndes Bedürfnis für eine Internierungsmöglichkeit aus Gründen der Sicher66 Amt Butjadingen (gez. Zeidler) an d. Großherzgl. MdI in Oldenburg, 9.8.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/82967. 67 Staatssekretär d. Reichsmarineamts an d. Staatssekretär d. Innern, 4.6.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 76 f.
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heit der Festung in der jetzigen Form als militärische Maßnahme weiter bestehen bleiben muß«.68 In Rostock ordnete der Garnisonsälteste die Zurückhaltung von circa 500 russländischen Staatsangehörigen an, die sich auf dem Weg nach Kopenhagen befunden hatten. Eine darüber beim Reichskanzler eingegangene Beschwerde des Reichstagsabgeordneten Hans Georg von Oppersdorff, der Mitglied des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken war, verweist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Zivilinternierungen.69 Denn ihm wurde zugetragen, dass die Internierten »sich in der allerkläglichsten Lage [befinden], in einem engen Raum zusammengepfercht hausen Erwachsene und Kinder zusammen mit vielen Kranken«. Von Oppersdorff betonte vor allem, dass viele Pol/innen, auch »die angesehensten Persönlichkeiten« von der Maßnahme und den unerträglichen Zuständen betroffen seien. Er sorgte sich daran anschließend um die Haltung der polnischen Bevölkerung und befürwortete ihre Freilassung sowie ihren weiteren Aufenthalt in Berlin, »soweit es ihre Mittel erlauben«. Nachdem der Rostocker Militärbefehlshaber Rapport erstattet hatte, antwortete der Chef des stellvertretenden Generalstabes der Armee, Kurt von Manteuffel (1853–1922), persönlich dem Abgeordneten.70 Ohne Zweifel an den Schilderungen des Militärverantwortlichen vor Ort stellte er sich den Vorwürfen von Oppersdorffs entgegen und skizzierte eine »gute und angemessene« Unterbringung der Inhaftierten. »[M]itten im Walde« in einem »Vergnügungslokal« mit großem Garten seien Männer, Frauen und Kinder getrennt nach Geschlechtern »in 2 großen Sälen und verschiedenen kleinen Zimmern untergebracht«. Die Schlafstätten bestünden aus hergerichteten Gestellen beziehungsweise Betten. Die Verpflegung sei »gut« und »täglich durch einen Arzt geprüft«. »Zum Baden ist das Volksbadehaus zur Verfügung gestellt worden.« Klagen seien nicht erhoben worden. Ganz im Gegenteil konstatierte von Manteuffel: »Die Festgehaltenen sind sehr zufrieden«. Zudem sei »mehreren hochgestellten Personen, […] die Erlaubnis erteilt in der Stadt zu wohnen. Ferner haben zahlreiche andere nach Berlin und Orten des Reichs abreisen dürfen.« Rechtfertigen für die Unterbringung und die Versorgung mehrerer Zivilgefangener im Ostenholzer Moor bei Hademstorf musste sich gleichfalls Hauptmann und Adjutant Meyerhoff vom stellvertretenden Generalkommando des X. Hannoveraner Armeekorpsbezirks.71 Nachdem sich Beschwerden Angehöriger und Klagen Zivilgefangener gehäuft hatten, inspizierte er zusammen mit dem 68 Herv. im Org. 69 Graf v. Oppersdorff (MdR) an d. Reichskanzler, RAdI, 31.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 115 f. 70 Preuß. KM (gez. v. Manteuffel) an Graf v. Oppersdorff, 7.9.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 195. 71 Preuß. KM (gez. Friedrich) an d. preuß. Minister d. Innern, 8.1.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 14.
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Regierungsassessor Nikolai am 23. Dezember 1914 die Lebensverhältnisse in dem Dorf nordwestlich von Celle. Er stellte fest, dass diese bis Anfang November äußerst mangelhaft waren und die Gefangenen »sehr gelitten« hätten.72 Sie mussten in einer ungeheizten Scheune auf Zementdielen, die nur mit »wenig Streu für das Nachtlager« bedeckt waren, nächtigen. Ihre Bekleidung und ihr Schuhwerk schützten sie nicht vor der einbrechenden Kälte Ende Oktober. Wärmende Decken fehlten. Allerdings konnte Hauptmann Meyerhoff zufrieden über die seither stattgefunden Veränderungen berichten. Nun stand eine Holzbaracke, die beheizt wurde, zur Verfügung. Die Schlafstätten und das Bettzeug seien für die Witterung angemessen, die Kleidung ausreichend und die Verpflegung gut. Kranke würden nach dem Garnisonslazarett in Celle überführt. Wie viele andere Verantwortliche und Inspekteure vernahm er von den Internierten keine Klagen. Diese stammten aus dem gesamten Reichsgebiet und gehörten unterschiedlichen Nationalitäten an. Neben zwei »Reichsdeutschen«, die in der Nähe von Straßburg verhaftet worden waren, weil sie im Verdacht gestanden hatten zu spionieren, fanden sich russländische Studenten aus Dresden, ein jüdischer Kaufmann, ein Fotograf, ein Maler, wohl in Kalisch freigelassene Strafgefangene und russländische Arbeiter unter ihnen. Der stellvertretende kommandierende General, Wilhelm von Linde-Suden (1848–1922), versicherte angesichts dessen, dass eine anderweitige Unterbringung der »nicht dem Arbeiterstande angehörenden Personen« überprüft werde.73 Offenbar hatte es dafür aber erst der Intervention seitens des Preußischen Kriegsministeriums bedurft. Dessen Beamte stellten das vormals improvisierte Lager gleichwohl nicht in Frage. Einhergehend mit den angeführten Verbesserungen der Unterbringung und Versorgung verstetigte sich der Internierungsort zu einer dauerhaften Institution. »Aus Rücksicht auf die öffentliche Wohlfahrt wird Russen, Serben und Franzosen der Eintritt in das Königreich versagt«, teilte das Staatsministerium des Innern den südwestlichen Verwaltungsbehörden Bayerns mit.74 Währenddessen versuchten vor allem russländische Staatsangehörige über Lindau in das Nachbarland Schweiz überzusetzen. Die Schweizer Grenzämter verhinderten allerdings ihre Einreise, woraufhin der Stadtmagistrat von Lindau für ihre Unterkunft und Verpflegung Sorge tragen musste.75 Sein Einsatz für die Ausländer/innen stand alsbald in der Kritik. Stimmen aus der städtischen Bürgerschaft unterstellten ihm, die ausländischen Staatsbürger zu gut behandelt zu haben, weswegen er sich in 72 Bericht d. Hauptmanns und Adjutanten Meyerhoff, Hannover, 24.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 15 ff. 73 Stv. Gkdo. X. Armeekorps an d. Preuß. KM (Unterk.-Abt.), 28.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 15. 74 Bay. SMdI an d. Regierung von Schwaben u. d. BzA Lindau, 4.8.1914, in: HStA München, MInn 53976. 75 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, 10.8.1914, in: HStA München, MInn 53976.
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einer Magistratssitzung gesondert verteidigen musste. Vermittelt über die Spanische Botschaft, beklagten russländische Gesandte in der Schweiz im Gegensatz dazu, einen unwürdigen Umgang mit ihnen und drohten mit Repressalien.76 Mit »der hochgradigen politischen Erregung der Bevölkerung und der in den ersten Tagen nach dem Kriegsausbruch herrschenden Spionenfurcht«, begründete der badische Innenminister Heinrich von und zu Bodman (1851–1929) die Abschiebung russländischer Studenten aus Karlsruhe und Heidelberg nach den Militärbaracken in Donaueschingen. Er habe »Ausschreitungen« befürchtet. Die Studierenden sprach er von Spionageverdächtigungen oder strafbaren Handlungen frei. Ihre Internierung hätte »lediglich den Charakter einer Schutz[- und Zweckmäßigkeits, handschr. Einschub]maßnahme« gehabt.77 Viele staatliche Akteure waren wie Heinrich von und zu Bodman fortwährend darauf bedacht, in ihrem Zuständigkeitsbereich die Bevölkerung zur Besonnenheit und Ruhe zu ermahnen. Im sächsischen Meißen ließ Amtshauptmann Freiherr Max von Oer am 5. August 1914 einen Maueranschlag verbreiten.78 Darin klagte er über die »unbeglaubigte[n] Meldungen sensationslüsterner Blätter«, die einen »Geist der Spionenfurcht und Aufregung« geschürt hätten, »der nur beschämend ist und böse Folgen haben kann«. Er mahnte vor »blinde[m] Fanatismus« und forderte, dass »Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und Drohungen gegen anzuhaltende Personen« zu unterbleiben hätten. »[G]egen alle als schuldig erkannte[n] Personen wird seitens der berufenen Organe mit der durch die Kriegsverhältnisse bedingten Strenge eingeschritten werden.« Mit Blick auf die anwesenden russländisch-polnischen Landarbeiter/innen bekräftigte er zudem die Aufmerksamkeit der städtischen Behörden. Aber er gab zu bedenken: »Die Abschiebung dieser Arbeitermassen beiderlei Geschlechts ist ebenso unmöglich, wie ihre Ansammlung in Lagern gefährlich und für das deutsche Volk kostspielig sein würde.« Sie sollten bei ihren Arbeitgebern in Anstellung bleiben, um ihr »Herumtreiben« und damit einhergehend eine »Gefahr für die Öffentlichkeit« zu vermeiden. Der Amtshauptmann versuchte folglich, zwischen der Bevölkerung und den ausländischen Arbeiter/innen ausgleichend zu wirken. Beide Parteien konnten für ihn zu akuten Störern der öffentlichen Ruhe und Ordnung werden. Deshalb riet er ebenso den Ausländern die »Vermeidung jedweder Auflehnung, zwecklosen Umhertreibens oder verdächtiger Konspiration«. Ansonsten müsse »mit aller Schärfe eingeschritten werden«. Zielstrebiger agierten die Ordnungshüter die Elbe aufwärts. Der Dresdner Polizeipräsident Paul Koettig (1856–1933) schritt »gleich nach der Erklärung des 76 Vorgang d. Bay. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußeren, 19.8.1914, (Abs.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2113. 77 Bad. MdI (gez. v. Bodman) an d. Min. d. Kultus u. Unterrichts, 18.10.1914, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175 u. (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112363. 78 Maueranschlag »An die Bevölkerung des Bezirks Meißen« d. Amtshauptmannes von Meißen (Frhr. v. Oer), 5.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 108.
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Kriegszustandes« zum Mittel des Polizeigewahrsams. Er ließ jene Ausländer verhaften, »die hier schon seit längerer Zeit unter Beobachtung standen und daher sofort gesichert werden mußten«. Darüber hinaus ordnete er Festnahmen »bei solchen die sich sonst irgendwie verdächtig gemacht hatten oder die von dritter Seite verdächtigt worden waren« an. Die Gründe für eine Inhaftierung waren gleichwohl vielgestaltiger gewesen. »Eine Anzahl von ihnen«, räumte er ein, »war auch nur wegen Wohnungs- und Mittellosigkeit zur Haft gekommen.«79 Festnahmen erfolgten ferner Anfang August 1914 im westlich von Dresden gelegenen Freiberg. Der dort residierende Amtshauptmann Richard Bollmer hatte indes abweichende Motive für die polizeiliche Maßnahme. Er stellte gegenüber seinen Vorgesetzten den situativen Charakter seiner Entscheidung heraus. »Da […] von allen Seiten die Meldung kam, daß das ganze Land von russischen Spionen und Agenten überschwemmt war und dadurch eine allgemeine Furcht in der Bevölkerung ausbrach, ließ die Amtshauptmannschaft sämtliche im Bezirk aufhältlichen Russen in Verwahrungshaft bringen.«80 Bei den Inhaftierten sollte es sich überwiegend um wehrpflichtige Studierende der Bergakademie zu Freiberg handeln. Ihnen war eine Ausreise an der deutsch-russischen Grenze verwehrt worden, und sie verfügten allgemein über geringe finanzielle Rücklagen. Zunächst erfolgte ihre Unterbringung im Amtsgerichtsgefängnis und den städtischen Arrestlokalen. Eine eventuelle Freilassung schätzte Bollmer auf längere Sicht als pro blematisch ein, weil die russländischen Staatsangehörigen »als Militärpflichtige nicht unverdächtig sind und außerdem der Wut der Bevölkerung entzogen werden müssen, die sich schon an einem oder dem andern der Verhafteten bei der Abführung vergriffen hat«. Für den Freiberger Amtshauptmann war bei den Verhaftungen seine Wahrnehmung der örtlichen Stimmungslage unter den Einwohnern ausschlaggebend gewesen. Neben den alarmierenden Zeitungsmeldungen brachten »Furcht« und »Wut« eine polizeiliche Entscheidung hervor, die in einen politischen Abwägungsprozess mündete. Denn die Ereignisse versagten eine Rückkehr zum Status quo. Den Ausländer/innen sollte eine Wiederaufnahme in die städtische Gesellschaft verwehrt werden. Diese Verweigerung schuf die Grundlage für ihre (vorübergehende) Ausweisung. Als direkte Folge der Übergriffe wähnte Bollmer eine Reaktion der Inhaftierten, die womöglich »nach ihrer Freilassung einen Racheakt begehen« würden. Während die belegten Arresträume den Polizeibehörden nicht zur Verfügung standen, fürchtete er, dass »die Verpflegung zu kostspielig werden wird«. Die Lösung erblickte der Amtshauptmann entweder in der Unterbringung »an einem anderen Platz« oder in der zwangsweisen Abschiebung »über 79 Bericht d. Dresdner Polizeipräsidenten (Paul Koettig) an d. Sächs. KrhM Dresden, 21.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 203 f. 80 Sächs. AmhM Freiberg (gez. Richard Bollmer) an d. Sächs. MdI, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 83 f.
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die Grenze«. Ersterem Vorschlag stimmten das sächsische Innen- und das Kriegsministerium innerhalb eines Tages zu, und die russländischen Staatsangehörigen – Männer, Frauen und Kinder – wurden vorübergehend in der sächsischen Festung Königstein interniert.81 Zur dauerhaften Unterbringung internierter Ausländer wurde gleichzeitig für bis zu 60 Personen ein Gebäude der Korrektionsanstalt Sachsenburg hergerichtet.82 Die Beamten des Sächsischen Innenministeriums suchten die Gründe für die »außergewöhnlich viele[n] Festnahmen« während der ersten Kriegstage schließlich in einem Nebeneinander von »politischen«, »militärischen« und »sicherheitspolitischen« Erwägungen.83 Nicht unterschiedlicher hätte der Amtsvorstand des Bezirksamtes Baden, Karl Josef Häußner (1882–1955),84 die Lage in der Stadt Baden einschätzen können. Dort hielten sich am 10. August 1914 »[a]usser den dauernd oder doch schon längere Zeit vor Ausbruch der Feindseligkeiten hier wohnhaften Ausländern« 1015 ausländische Staatsbürger auf,85 von denen ein Großteil aus anderen badischen Städten verwiesen worden war.86 Der Amtsvorstand stellte angesichts dessen lakonisch fest, »[d]ass infolgedessen viel französisch hier gesprochen wird, dürfte nicht wundernehmen.«87 Zu »Zwischenfälle[n]« sei es in der Stadt nicht gekommen. Von einer feindseligen Stimmung unter den Einwohner/innen wusste er nicht zu berichten, sondern lobte die »besonnene Haltung des Publikums«. Er erkannte gleichwohl in den anwesenden Ausländer/innen zwei entscheidende Konfliktpotenziale. Denn sie seien nicht nur »häufig ohne wesentliche Mittel« gewesen. Ebenso oft hätten sie in seinen Augen »ein Steigen der Lebensmittelpreise« verursacht. Letztere Schuldzuweisung bezog sich vermutlich auf die in sozial gehobener Stellung lebenden Ausländer/innen, die sich über eine mangelnde Kontrolle nicht beklagen konn81 Sächs. KM (gez. v. Carlowitz) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 8.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 86 u. Interner Bericht d. Sächs. MdI (o.Verf.), 15.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 62. 82 Interner Bericht d. Sächs. MdI (o.Verf.), 15.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 62. Zum Transport der russländischen Internierten nach Sachsenburg: Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI, 21.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 42. 83 Interner Bericht d. Sächs. MdI (o.Verf.), 15.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 62. 84 Häußner war anschließend zwischen 1915 und 1918 in der Zivilverwaltung des Generalgouvernements Belgien beschäftigt. Siehe: Art. Häußner, Karl Josef, in: Arbeitsgemeinschaft der Kreisarchive beim Landkreistag Baden-Württemberg (Hg.), Die Amtsvorsteher der Oberämter, Bezirksämter und Landratsämter in Baden-Württemberg 1810–1972, Stuttgart 1996, S. 299 f. 85 Nach der Volkszählung von 1910 hatte Baden 22.066 Einwohner/innen, von denen 846 keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Siehe: Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Baden, Neue Folge, Heft 20, hg. vom Statistischen Landesamt, Karlsruhe 1910, S. 44 f. 86 Bad. BzA Baden (gez. K. J. Häußner) an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 10.8.1914 (Nr. 36400), in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 87 Bad. BzA Baden (gez. K. J. Häußner) an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 10.8.1914 (Nr. 36186), (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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ten. Sie wurden »sowohl durch die hiesige Lokalpolizei, Fahndungspolizei und Kriminalpolizei als auch durch die Bewohner der Stadt Baden selbst« überwacht.88 Die unübersichtliche Situation in der Grenzstadt forderte von der badischen Regierung eine Strategie zum Umgang mit den Ausreisewilligen. Ende August 1914 erfolgte deshalb ihre Einteilung in drei Kategorien. »Die Abreise ist zu gestatten: 1. weiblichen Personen, die unverdächtig sind, 2. männlichen, die noch nicht 17 oder über 45 Jahre alt sind, 3. m ännlichen im Alter von 17 bis 45 Jahren, sofern sie offensichtlich körperlich dienstunfähig sind.«89 Der Innenminister Heinrich von und zu Bodman legte die Entscheidungshoheit hierbei in die Hände des Bezirksamtes Baden. Dem zuständigen stellvertretenden Generalkommando des XIV. Armeekorps teilte er schnörkellos mit, dass es »nicht angängig« erschien, eine »Entschliessung auf die zurückgestellten Gesuche länger aufzuschieben, […] zumal täglich neue zahlreiche Gesuche einlaufen«.90 Eine allgemeine Entscheidung über die Ausreiseersuchen wehrfähiger feindlicher Ausländer war damit noch nicht getroffen. In Konstanz konnten sie weiterhin mit einem Erlaubnisschein des Badischen Ministeriums des Innern oder des Generalkommandos im August 1914 die Grenze zur Schweiz überschreiten.91 In Karlsruhe stießen die Polizeibeamten des Bezirksamtes an ihre organisatorischen Grenzen, nachdem das Badische Innenministerium angeordnet hatte, alle aktiven Militärpersonen und Heerespflichtigen russländischer, französischer, serbischer, britischer und belgischer Staatsangehörigkeit festzunehmen, um sie alsdann den örtlichen Militäranstalten zu übergeben. Sie mussten selbstkritisch einräumen, dass »[e]in Vollzug dieser Anordnung […] aber bisher nicht möglich« gewesen war.92 Denn die Militärbehörden, die für eine Unterbringung der Ausländer sorgen sollten, konnten keine geeigneten Unterkünfte zur Verfügung stellen. »Am 7. ds.Mts. teilte uns der stellvertretende Kriegsgerichtsrat Fitzer vom Generalkommando mit, die als Kriegsgefangene anzusehenden Ausländer dem Militärarresthaus zuzuführen. Das Arresthaus verweigerte aber, als wir einige Festgenommene abliefern wollten, deren Aufnahme.« Bis zum 21. August war keine Rückmeldung an das Polizeiamt über das weitere Vorgehen erfolgt. Der badische 88 Bad. BzA Baden an d. Bad. MdI, 8.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 89 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzA Baden, 30.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/ F8/269. 90 Ebd. 91 Bad. MdI (gez. Bodman, Pfisterer u. Schäfer) an d. Landeskommissär in Konstanz [Roderich Straub (1847–1925)], 21.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 92 Bad. BzA Karlsruhe (Polizeidirektion) an d. Bad. MdI, 21.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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Innenminister sprach zu dieser Zeit nur mehr von einem »Vorschlag«, wehrfähige Angehörige feindlicher Staaten »kriegsgefangen« zu setzen.93 Diesem stünden vor allem Zweckmäßigkeitsüberlegungen entgegen. Offenbar wurden die Betroffenen nicht inhaftiert. Die Möglichkeit, Ausländer nach dem Zivilgefangenenlager Rastatt abzuschieben, sollte erst ab dem Frühjahr 1915 bestehen. Umgehende Festnahmen während der Mobilmachung und die Unterbringung der Inhaftierten sowie die oftmals durch stellvertretende Generalkommandeure angeordneten Abschiebungen und Ausweisungen feindlicher Ausländer/innen führten nicht selten zu Diskussionen und Konflikten zwischen lokalen und überregionalen staatlichen Akteuren. Die Maßnahmen lösten im Großherzogtum Baden ebenso wie im Königreich Bayern behördeninterne Kompetenzstreitigkeiten aus. Während der badische Innenminister die ihm unterstehenden Amtshauptmänner daran erinnerte, dass Ausweisungsanträge weiterhin dem Ministerium vorgelegt werden müssten,94 stellten die Verantwortlichen im bayerischen Innenministerium entsetzt fest, dass einzelne Distriktsverwaltungsbehörden eigenmächtig über Ausweisungen verfügt und diese durchgeführt hatten.95 Zwar stand dies im Einklang mit den militärischen Bestimmungen. Indes überschritten sie damit ihre Befugnisse im Königreich. Zudem diskutierten nach kurzer Zeit Vertreter der Kommunen, der Länder und des Reiches über die Verteilung der finanziellen Belastungen in Folge der Ausweisungen und Verhaftungen. Bevor ein adäquater Entwurf über die Kostenerstattung ausgearbeitet worden war, vergingen mehrere Monate. Denn neben den zivilen Ressorts sollte dem Beschluss der stellvertretende Generalstab zustimmen. Obwohl Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die bundesstaatlichen Interessen anerkannte und um die Zwänge militärischer Verfügungen wusste, lehnte er eine Haftung des Reichsfiskus infolge der polizeilichen Maßnahmen ab. Dem preußischen Innenminister legte er Mitte Dezember 1914 seine Beweggründe für diesen Standpunkt dar. »Es mag zutreffen, daß die Ausweisung bezw. Abschiebung von Ausländern bei Ausbruch des Krieges im militärischen Interesse geschehen ist, wenngleich auch ein bundesstaatliches Interesse aus der Mittellosigkeit dieser Ausländer und der durch ihr Verbleiben im Bundesstaate entstehenden Unsicherheit sich meines Erachtens ohne weiteres ergibt. Wie dem aber auch sei, in jedem Falle ist die Maßregel doch nur als landespolizeilicher Akt anzusehen, und die ent-
93 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzÄ, 19.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 94 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzÄ, 7.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 95 Bay. SMdI an d. Regierungen (KdI), d. Distriktsverwaltungsbehörden u. d. Bezirksamtsassessor in Bad Reichenhall, 6.9.1914, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148.
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standenen oder die noch entstehenden Transport- und Abschiebungskosten fallen an sich dem Einzelstaate zur Last.«96 Letztendlich setzte er sich mit seiner Auffassung durch. Die Länder übernahmen die entstandenen Ausgaben für »nicht wehrpflichtige und nicht wehrfähige Angehörige sowie Frauen und Kinder feindlicher Staaten, die sich bei Ausbruch des Krieges im Deutschen Reich aufhielten«, und »für alle sonstigen russischen Saisonarbeiter, Frauen und Kinder, insoweit sie nicht über eigene Mittel verfügen«.97 Jenseits der fiskalischen Vorsätze verdeutlicht die politische Positionierung Bethmann Hollwegs, dass er die Behandlung der Ausländer/innen im Krieg nicht als umfassendes Handlungsfeld des Reiches bewertete und einforderte. Vielmehr verortete er die Verantwortung dafür bei den Bundesstaaten im Zusammenspiel mit den Militärbehörden. Die Mitsprache- und Zugriffsrechte des Reiches endeten an den Maueranschlägen landespolizeilicher Bestimmungen und der unbestrittenen militärischen und zugleich zunehmenden politischen Souveränität der stellvertretenden Generalkommandos. Finanzielle Befürchtungen trieben aber nicht nur die Staatsbediensteten um. Wie bereits erwähnt, hatte möglicherweise der Bad Kissinger Synagogenvorstand mündlich beim Bürgermeister der Stadt interveniert, um finanzielle Belastungen für seine Gemeinde abzuwenden. Ein weitergedachtes Problem sorgte den Landgerichtsrat Leo Goldfeld (1859–1942) aus Breslau. In seiner Funktion als Vorstand der Synagogengemeinde wandte er sich schriftlich an den dortigen Oberpräsidenten.98 Er erblickte in dem Ausreiseverbot für russländische Staatsangehörige eine schwere Schädigung »unser[es] Vaterland[es]«. Mehrmals seien ihm »Hilferufe« aus den Badeorten zugegangen, da die finanziellen Reserven selbst jener »in ihrer Heimat vermögend[er]« Kurgäste zur Neige gingen und sie dadurch »in eine schwere Notlage geraten […] oder zu geraten [in] Gefahr sind«. Würde dieser Zustand von den Behörden geduldet werden, wären die Landarmenverbände in der Pflicht, »für die Leute zu sorgen, und diese Verpflichtung wird sie umso schwerer drücken, als unsere Armenverwaltung für die Familien unserer Krieger ohnehin in weitem Umfange in Anspruch genommen werden dürfte«. Der dadurch entstehenden Gefährdung sei durch die Abbeförderung der Betroffenen »über die Grenze« zuvorzukommen. Die unterschiedlichen Beispiele verdeutlichen, dass es sich im Falle von Ausweisungen und Inhaftierungen feindlicher Ausländer/innen in den ersten Kriegs96 Reichskanzler (Reichsschatzamt) an d. preuß. Minister d. Innern, 15.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 151 IC, Nr. 2481. 97 Preuß. KM, betr. Übersicht über d. Kostenverteilung für festgenommene feindliche Ausländer, an sämtl. stv. Gkdos. 9.8.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 89. 98 Vorstand d. Synagogengemeinde Breslau (gez. Goldfeld, Landgerichtsrat) an d. Oberpräsidenten d. Provinz Schlesien, 19.8.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1.
Provisorische Einquartierungen als vielfältige Herausforderungen
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tagen um situationsabhängige ebenso wie mehrgründige Entscheidungen handelte. Während militärische Akteure oftmals darauf bedacht waren, den Ablauf der Mobilmachung zu sichern, Spionageakte zu verhindern und größere Gruppen ausländischer Staatsangehöriger zu überwachen, sorgten sich zivilstaatliche Akteure um die finanzielle Belastung der Gemeinden sowie um die öffentlichen Meinungen und Taten besorgter Bürger. Innerhalb staatlicher Institutionen mussten die betrachteten Akteure für ihre Standpunkte und Entscheidungsprämissen bezüglich des Umgangs mit Ausländer/innen werben, da keine übereinstimmenden Normen und Handlungsvorsätze existierten. Sie versuchten demzufolge, weitere relevante Akteure von ihren Wahrnehmungen und Interpretationen zu überzeugen und so ihre präferierten Maßnahmen durchsetzen. Mit ihren Ausweisungsbeschlüssen und ebenso mit den Internierungsmaßnahmen setzten die Verantwortlichen Ausländer/innen in Bewegung. Diese überquerten Korps-, Landes- und Polizeibezirksgrenzen. Sie reisten nicht selten hunderte Kilometer durch das Deutsche Reich. Als Ankommende konfrontierten sie Gemeinden und Städte, Bürgermeister und Landräte, kommandierende Generäle und Ortskommandeure mit neuen Herausforderungen. Binnen weniger Tage waren Lokalverantwortliche für die Unterbringung und Versorgung hunderter Menschen zuständig – wie im badischen Donaueschingen.
Provisorische Einquartierungen als vielfältige Herausforderungen Die Bekanntmachung der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich lag einen Tag zurück, als im Großherzogtum Baden umfassende Ausweisungen und Abschiebungen ausländischer Zivilisten beschlossen wurden. In deren Folge mussten sich britische, französische, russländische und serbische Staatsangehörige in den Städten Badenweiler und Freiburg bei den Polizeiämtern melden. Sie hatten innerhalb weniger Stunden ihr nötigstes Gepäck zu verstauen und sodann Sonderzüge in Richtung Donaueschingen zu besteigen.99 In der Kleinstadt (1910 ca. 4000 Einwohner)100 am Rande des südlichen Schwarzwaldes angelangt, wurden die Ausgewiesenen in die Militärbaracken des III. Infanterie-Regiments 170 geleitet, wo sie die nächsten Wochen und zum Teil Monate verbringen sollten. 99 Bkm.: Russen, Franzosen und Serben haben Freiburg zu verlassen, in: Freiburger Zeitung, 5.8.1914 (Nr. 211, Morgenausgabe). Die Bekanntmachung zur Ausweisung der Engländer erging am darauffolgenden Tag zurückdatiert: Bkm.: Engländer haben sofort Freiburg zu verlassen, in: Freiburger Zeitung, 6.8.1914 (Nr. 212, Morgenausgabe). 100 Nach der Volkszählung von 1910 hatte Donaueschingen 4077 Einwohner, wovon 83 keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Siehe: Beiträge zur Statistik des Großherzogtums Baden, Neue Folge, Heft 20, hg. vom Statistischen Landesamt, Karlsruhe 1910, S. 4 f.
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Oberst Hugo Alefeld (1866–1945), Chef des Stabes beim Karlsruher Stellvertretenden Generalkommando, erklärte im Jahre 1917, dass die Abschiebung nach Donaueschingen aus »strategischen Gründen zur Sicherung des Aufmarsches gegen das Oberelsaß« veranlasst wurde und »vor dem Kriege nicht vorgesehen« war. Dementsprechend hätte es zu Kriegsbeginn kein »Konzentrationslager« in der Stadt gegeben.101 Aus der Perspektive der französischen Regierung handelte es sich bei diesem Vorgang um die erste auf politische Entscheidungen zurückgehende Zivilinternierung. Dementsprechend rechtfertigte sie vergleichbare Maßnahmen gegen deutsche Staatsbürger/innen in Frankreich.102 Hinter diese Interpretation der Ereignisse zurückgehend, wird im Folgenden dargelegt, welche Anweisungen und Prämissen die lokalen Akteure versuchten umzusetzen, wie sie die fremden Staatsbürger/innen kategorisierten und anhand welcher Erwartungen und Wahrnehmungen sie handelten.
Abschieben und Empfangen In der Morgenausgabe der Freiburger Zeitung am 5. August 1914 wurden die in Freiburg weilenden »Russen, Franzosen und Serben« sowie einen Tag später ebenso die »Engländer« aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Die abgedruckte Bekanntmachung des Bezirksamtes zitierte ohne Änderung die entsprechende Anordnung des Badischen Innenministeriums. »Da [die] Heimreise zur Zeit unmöglich ist,« hieß es darin, »wird den Vermögenden die Stadt Baden, den Wenig- und Unbemittelten die Militärbaracken in Donaueschingen als Aufenthalt angewiesen.«103 Demnach wurde das Eigentum des Einzelnen, das schwerer wiegen sollte als seine Staatszugehörigkeit, zum entscheidenden Faktor für den Umgang mit feindlichen Ausländer/innen erklärt. Der verantwortlich zeichnende Innenminister Heinrich von und zu Bodman, der die Ausweisungen auf Antrag des Generalkommandeurs des XIV. Armeekorps verfügte, unterwarf sie einer dichotomen Ordnung des ökonomischen Kapitals. Die Verantwortlichen des Ministeriums des Innern informierten daran anschließend das Bezirksamt in Baden, das die Verantwortung für die vermögenden Ausländer/innen übernahm, telegrafisch über die Pflichten der Hoteliers und Gastwirte.104 Diese mussten ihre bereits am Bahnhof kontrollierten Gäste 101 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Alefeld) an d. Preuß. KM, 8.12.1917, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/82918. 102 AA (Friedens-Abt., gez. Kauer) an d. Heeresabwicklungsamt Preußen (Unterk.-Dept.), 22.3.1920, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 103 Bad. MdI an d. Bad. BzA Müllheim u. Freiburg, 4.8.1914 (Abgangsvermerk: 5.8.1914), (Telegramm-Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. Die Telegramme des Bad. Ministeriums des Innern nennen als Abfahrtsdatum den 6. August, dem entgegen gibt die Bekanntmachung des Bezirksamtes den 5. August an. 104 Bad. MdI (gez. v. Bodman u. Schäfer) an d. Bad. BzA Baden, 4.8.1914, (Telegramm, Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23178.
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»beobachten und von Wahrnehmungen, welche auf den Verdacht der Spionage oder einer sonstigen aktiven Betätigung deutsch-feindlicher Gesinnung schliessen lassen«, berichten. Die ausländischen Staatsangehörige sollten ihre Reise, »[s]obald wieder ein geordneter Eisenbahnverkehr stattfindet, oder die Schweiz Fremde über ihre Grenze lässt«, fortsetzen dürfen. Die Stadt selbst stellte für die hier lebenden und die hierher ausgewiesen Ausländer/innen einen wichtigen Bezugspunkt dar. Als ein urbanes Zentrum hatten hier Konsulate ihren Sitz, und Komitees boten ausländischen Staatsbürger/innen Unterstützung an.105 Die drei britischen Staatsangehörigen Dorothy Acton, F. Bullock Webster und William Macintosh erklärten in einem Leserbrief an The Times in London, dass sie in Baden ihre Übernachtung frei nach ihren Präferenzen und Mitteln hätten wählen können.106 »Not only have the hotel and pension keepers done everything in their power to accommodate their visitors at the most reduced prices, giving credit in many instances, but several cases have come to our notice in which Germans have housed and fed English women and children who were perfect strangers to them, out of pure humanity and good feeling.« Sie hatten in deutschen Zeitungen über »the harsh treatment« deutscher Zivilisten in England gelesen. Mit ihrer Erklärung wollten sie ihre Erfahrungen aus Baden der vermeintlich unwürdigen Situation in ihrem Heimatland entgegensetzen. Allerdings verfügten sie über einen privilegierten Status, wie der Blick nach Donaueschingen zeigt. Die Beamten des Bezirksamtes in Donaueschingen erhielten gänzlich andere Weisungen als ihre Kollegen in der Stadt Baden. Sie sollten sich darauf vorbereiten, die Ankommenden in den dortigen Kasernenbaracken unterzubringen und »einer scharfen Kontrolle zu unterziehen«. Für ihre Verpflegung sollte die Armenverwaltung sorgen. Hilfsbedürftige, denen Unterstützung gewährt wurde, konnten unterdessen zu Erntearbeiten eingeteilt werden. Es war ihnen verboten, Donaueschingen ohne Erlaubnis zu verlassen. Ihre Weiterreise fiel nicht in den Entscheidungsbereich des Bezirksamtes, sondern wurde durch das Innenministerium geregelt.107 Ungeachtet dieser Vorgaben sollten die folgenden Ereignisse und die Erfahrungen der Akteure nicht auf eine gegensätzliche Zweiteilung in Besitzende und Besitzlose reduziert werden. Denn die in Baden und Donaueschingen aus 105 So z. B. Bericht d. BzA Bonndorf an d. Bad. MdI, 21.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 106 English in Germany (to the editor of the Times), in: The Times (London, England), 2.9.1914 (Nr. 40.623). Der Leserbrief an die Londoner Zeitung wurde ebenfalls in der Vossischen Zeitung aufgegriffen. Siehe: Die Behandlung der Engländer, in: Vossische Zeitung, 9.9.1914 (Nr. 458, Abendausgabe). 107 Bad. MdI (gez. v. Bodman u. Schäfer) an d. Bad. BzA Donaueschingen, 4.8.1914, (Telegramm, Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23178.
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den Eisenbahnwagen steigenden Ausländer/innen waren nicht nur in ihren ökonomischen Lebensverhältnissen vielschichtiger. Am Donaueschinger Bahnhof traf zunächst ein militärisch bewachter Zug aus Offenburg mit französischen Staatsbürger/innen ein. Der Mitreisende Charles Delcer, Firmenvertreter in Frankfurt am Main, berichtete, dass sie den französischen Generalkonsul auf seiner Abreise nach Frankreich über Belgien begleiten wollten. »Wir sind in Frankfurt keineswegs ausgewiesen worden«, gab er zu Protokoll. »Infolge der Krawalle hatten wir uns alle auf dem Konsulat versammelt, wo uns der Konsul sagte, daß er einen Extrazug erwirken werde, um uns nach Frankreich zu bringen.«108 Da die Fahrt in Richtung belgischer Grenze aufgrund der militärischen Operationen nicht mehr möglich war, gelangten die Heimreisenden nach »verschiedenen Irrfahrten« in die badische Provinz. Der Generalkonsul konnte am nächsten Tag seine Reise nach Konstanz fortsetzen, die meisten ihm Gefolgten – »hauptsächlich seit langem in Frankfurt ansässige Kaufleute und junge Leute und Mädchen aus Pensionen«109 – nicht.110 In den darauffolgenden Tagen fuhren weitere Züge mit Ausländer/innen aus Badenweiler und Freiburg sowie dem Südwesten des Großherzogtums Baden in Donaueschingen ein. Im Sinne der vorgesehenen sozialen Trennung der Ausgewiesenen gewährte der ansässige Amtsvorstand einigen Familien, »die den Besitz recht erheblicher Geldmittel« nachgewiesen hatten, die Weiterreise nach der Stadt Baden. »Wenige, bei denen dies unbedenklich erschien«,111 konnten in Hotels und Privatquartieren in der Stadt nächtigen. Der Großteil der in den beiden ersten Kriegswochen Angekommenen fand sich allerdings in den Militärbaracken wieder. Am 15. August hielten sich insgesamt 232 ausländische Personen in Donaueschingen auf. Nur 32 von ihnen übernachteten außerhalb des Lagers. Weitere Unterstützungsbedürftige, die die Stadt erreichten, wurden daraufhin nach der Stadt Villingen geleitet.112 Über die Art und Weise des Transportes der Ausländer/innen nach Donaueschingen schrieb der Bürgermeister Friedrich Schön (1876–1942), dass sie »in der Mehrzahl in hilfsbedürftigem Zustande gewaltsam zugebracht worden« waren.113 Indes erreichten in dieser Zeit ebenso freiwillig aus Süddeutschland nach der Schweiz Ausreisende die Stadt. Sie konnten das deutsche 108 Aussage Charles Delcer vor d. Oberamtmann A. Schaible, 15.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 109 Über die hier untergebrachten Ausländer, in: Donaueschinger Tageblatt, 21.8.1914 (Nr. 191), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 110 Bad. MdI an d. AA, Juli 1920, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23177 u. Bericht (gez. Schaible), betr. d. Internierungslager in Donaueschingen, an d. Bad. MdI, 8.5.1920, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 111 Bericht d. Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 15.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 112 Ebd. 113 Gemeinderat Donaueschingen (gez. Friedrich Schön) an d. Bad. BzA Donaueschingen, 8.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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Staatsgebiet aufgrund einer Schweizer Grenzsperre nicht verlassen und fanden in Donaueschingen vorübergehend Herberge.114 Die Zahl der Ausländer/innen in der Stadt stieg bis zum 26. August 1914 auf 277.115
Unterscheiden und Verwalten Mitte August verfasste der Amtsvorstand des Bezirksamtes, Alexander Schaible (1870–1933),116 einen Bericht über die zurückliegenden Geschehnisse.117 Er rechtfertigte auf fünf maschinenschriftlichen Seiten sein Handeln und versuchte es nachträglich zu legitimieren, indem er eine Erzählung über unvorhersehbare Ereignisse und situative Entscheidungen entwarf. In diesem Zusammenhang verzichtete Schaible auf den vereinheitlichenden Topos zu kontrollierender und überwachender Verdächtiger, von denen eine Sicherheitsbedrohung ausginge. Die Ausgewiesenen traten ihm in vielfältiger Weise gegenüber. Einleitend trennte er sie nach Geschlecht und Alter, darauffolgend unterschied auch er sie nach ihrem ökonomischen Besitz, woraufhin er die Ausländer/innen zahlenmäßig nach ihrer Staatsbürgerschaft auflistete. Schließlich unterteilte er sie nach ihrem letzten Aufenthaltsort. Diese Ordnungssysteme entfalteten in verschiedenen Phasen handlungsleitende Wirkung und zeitigten somit einen unterschiedlichen Einfluss auf die Entscheidungen gegenüber den ausländischen Staatsangehörigen in Donaueschingen. Der Bericht beginnt mit einer Verwirrung. Denn die Personen, die in der Nacht vom 5. auf den 6. August am Bahnhof empfangen worden waren, entsprachen nicht den Erwartungen. »Wir hatten unterstellt, daß es nur Männer sein würden. Es befanden sich aber auch sehr viele Frauen und kleine Kinder darunter.« Im Telegramm des Badischen Innenministeriums wie in der öffentlichen Bekanntmachung in Freiburg wurden die »Ausländer« nicht ausdrücklich nach Geschlecht
114 Bkm. d. Amtsvorstandes Alexander Schaible, in: Donaueschinger Tageblatt, 19.8.1914 (Nr. 188), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175. Aufgrund dieser Bekanntmachung kann davon ausgegangen werden, dass die Gruppe der freiwillig Ausreisenden nicht im Barackenlager untergebracht wurde. Gleichwohl ist es ungewiss, inwieweit sie in der obigen Statistik enthalten sind. Zu der Schweizer Grenzsperre siehe auch die dementsprechenden Schriftwechsel in: BArch Berlin, R 901/83512. 115 Bad. MdI an d. Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 26.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 116 Ab Dezember 1914 war Schaible als Verwaltungschef für Flandern im Stab des Generalgouverneurs im besetzten Belgien tätig. Im Februar 1919 kehrte er nach Donaueschingen zurück. Siehe: Art. Schaible, Alexander, in: Arbeitsgemeinschaft der Kreisarchive beim Landkreistag (Hg.), Die Amtsvorsteher der Oberämter, Bezirksämter und Landratsämter, S. 488. 117 Bericht d. Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 15.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. Im Folgenden wird, wenn nicht anders angegeben, aus dem Bericht zitiert.
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oder Alter unterschieden.118 Die darauf aufbauende Entscheidung unter dem Freiburger Amtsvorstand Albert Muth (1848–1922), eine generelle und »wahllose« Ausweisung zu veranlassen, kritisierte Schaible entschieden. »So kamen zwei kleine Knaben, etwa zehnjährig, die in Freiburg in einer Pension gewesen waren, hier an«, begründete er seinen Standpunkt und fuhr fort: »Auch eine russische Familie kam von Freiburg hierher, in der der Vater seit 1906 in Freiburg ansässig ist, die Frau aus Todtnau [im Schwarzwald, d. Verf.] stammt und fünf kleine Kinder da sind.« Der Amtsvorstand plädierte aufgrund dieser Sachverhalte für eine baldige Rückkehr jener Personen nach Freiburg. Die ökonomische Einteilung der Ausländer/innen hatte sich für ihn als ungenügend erwiesen. Sodann sah sich der Amtmann mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert. »Die […] angewiesene Unterbringung in den Militärbaracken war nicht möglich, da die Baracken noch vom Militär besetzt waren.« Er beschloss für die Übergangszeit, die Ausgewiesenen getrennt nach Geschlecht und Lebensjahren unterzubringen. Die Frauen mit ihren Kindern konnten in der ersten Nacht in Hotels oder Privatunterkünften übernachten und wurden anschließend unterstützt durch die Fürstin Leontina zu Fürstenberg (1843–1914) im Karolinenstift beherbergt. Die Männer wurden anfangs in der Stadtmühle einquartiert. Für die darauffolgenden Tage fanden sie im leerstehenden Museum, der Naturalverpflegungsstation sowie dem leerstehenden Bezirkskommando eine Bleibe. »Es wurden Lagerstätten aus Stroh und Heu hergerichtet und die Verpflegung einem Koch unter Benützung der Küche im Museum übertragen.« Während der Amtsvorstand eilig Unterkünfte organisieren musste, protestierten der Gemeinderat und der Bürgermeister Friedrich Schön gegen die Aufnahme der Ausländer/innen. Sie kritisierten, wie das Bezirksamt in Freiburg die ministeriellen Anordnungen vollzogen hatte, »in dem es alle minderbemittelten [sic] Ausländer, offenbar ohne Prüfung der Notwendigkeit der Entfernung durch öffentliche Anschläge zur Reise nach Donaueschingen veranlaßte«.119 Die Gemeindevertreter erblickten in der Zuweisung der ökonomisch schwachen Ausländer/innen eine »Degradation«. Diese bezog sich weniger auf das öffentliche Ansehen der Stadt mit der Donauquelle, sondern viel mehr auf die finanziellen Mehrausgaben. Sie plädierten deshalb eindringlich für die Unterbringung eines Landsturmbataillons in den Baracken. Der Amtsvorstand überwand die ablehnende Haltung des Bürgermeisters erst durch die telefonische Intervention des zuständigen Referenten im Badischen Ministerium des Innern und die Androhung eines Disziplinar118 Im Telegramm d. Bad. MdI hieß es: »Russen und Franzosen, sofern sie transportfähig sind, sowie die sonstigen Ausländer, deren Entfernung geboten erscheint, müssen Freiburg verlassen.« Siehe: Bad. MdI an d. Bad. BzA Müllheim u. Freiburg, 4.8.1914 (Abgangsvermerk: 5.8.1914), (Telegramm-Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 119 Gemeinderat Donaueschingen (gez. Schön) an d. Bad. BzA Donaueschingen, 8.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175 (Herv. im Org.).
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verfahrens.120 Dadurch und »wohl auch unter dem Eindruck des beelendenden [sic] Bildes, das die Ankömmlinge boten«, änderte das Stadtoberhaupt seinen Standpunkt und kümmerte sich »mit großer Sorgfalt« um die in Donaueschingen Gestrandeten. Trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse konnte Alexander Schaible somit eine persönliche Erfolgsgeschichte schreiben. Als dann die Militärbaracken frei geworden waren, verlegten »wir sämtliche in Massenquartieren untergebrachten Ausländer dorthin«.121 Die Militärbaracken im Norden der Stadt waren das provisorische Quartier des in Donaueschingen erst seit 1913 stationierten Infanterie-Regiments gewesen.122 Für die dortige Unterkunft und die Verpflegung der Ausländer/innen handelte der Bürgermeister, der nur wenige Tage zuvor dies abgelehnt hatte, Verträge mit der Garnisonsverwaltung und dem Ersatzbataillon 170 aus. Darin setzten sie die Rahmenbedingungen der Unterbringung fest.123 Die Militärverwaltung verpflichtete sich für eine »Entschädigung« in Höhe von 40 Pfennigen pro Kopf und Tag, »eine volle kasernenmäßige Unterkunft und Kleingerät« zu stellen. Der Wechsel der Hand- und Betttücher wurde ebenso geregelt wie die Reinigung der Sanitäranlagen. Bei dem variablen Posten der »Verbrauchsmittel« vereinbarten die Vertragsparteien die Ausgabe nach Bedarf, »nachdem sich Mieter und Vermieter über die unbedingte Notwendigkeit, sowie die zu verausgabende Menge geeinigt haben«. Zuletzt garantierte die Stadt die medizinische Versorgung der Internierten im Lager. Die Unterzeichner formulierten gleichzeitig gegenüber den »kasernierten Personen beiderlei Geschlechts« die Forderung, dass diese »sich bedingungslos der sogenannten Kasernen-Stubenordnung zu unterwerfen« haben.124 Der Bürgermeister schloss weiterhin einen Vertrag mit dem Ersatzbataillon 170 über die Verpflegung der Ausländer/innen ab.125 Diese orientierte sich an den finanziellen Tagessätzen des dort stationierten Wachkommandos und enthielt Morgen-, Mittags-, und Abendkost sowie ein Brot pro Kopf und Tag. Die Milch für die Kinder lieferte die Gemeinde direkt ins Lager.
120 Bericht d. Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 15.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 121 Ebd. 122 Volkhard Huth, Donaueschingen. Stadt am Ursprung der Donau. Ein Ort in seiner geschichtlichen Entwicklung, Sigmaringen 1989, S. 179 f. Abb. 83 darin zeigt eine Aufnahme der Baracken aus dem Jahre 1913. 123 Vertrag zwischen d. Garnisonsverwaltung Donaueschingen (gez. Meer) u. d. Stadt Donaueschingen (gez. F. Schön), 10.8.1914 (unterz. am 23.8.1914), (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23178. 124 Eine Kasernen- und Stubenordnung findet sich in: Der Feldgraue. Leitfaden für den Dienstunterricht des Feldartilleristen, Oldenburg 1917, S. 107–110. 125 Vertrag zwischen d. Ersatz-Bataillon d. Infanterie-Regiments Nr. 170 in Offenburg u. d. Stadtgemeinde Donaueschingen, 10.8.1914 (unterz. am 12.8.1914), (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23178.
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Die abgeschlossenen Verträge verstetigten die Unterbringung der Ausländer/ innen in den Baracken und legten unter der Maßgabe des geringsten finanziellen Einsatzes einen Teil des dort anzutreffenden Lebensstandards fest. Die Zivilisten sollten nach den gleichen Ordnungsprinzipien wohnen wie die Soldaten. Dies schloss die Frauen ausdrücklich mit ein. Hatte der Amtsvorstand in seinem Rückblick noch seine Verwunderung über die Abschiebung der Frauen und Kinder ausgedrückt, so arrangierten sich die Stadt- und die Militärvertreter mit deren Anwesenheit. Sie organisierten das Lager entsprechend und stellten die als notwendig erachtete Verpflegung bereit. Der Ausnahmezustand in den ersten Donaueschinger Nächten blieb keine Ausnahme. Ob Vertreter des Bezirksamtes an den Vertragsverhandlungen beteiligt waren, geht aus den vorliegenden Dokumenten nicht hervor. Sie schweigen ebenso zu der Frage, wie lange eine Unterbringung der Ausländer/innen vorgesehen war. Der Amtsvorstand Alexander Schaible wollte den eingetretenen Zustand indes bald beendet wissen. Deshalb schilderte er in seinem Bericht nicht nur die zurückliegenden Geschehnisse und rechtfertigte seine Entscheidungen, sondern er plädierte ferner für eine baldige Auflösung der Barackengemeinschaft. Hierfür griff er auf ein weiteres Ordnungsmodell zurück und unterschied die Ausländer/innen nach ihren Herkunftsorten. Der Amtsvorstand benannte drei Personengruppen, die er in separaten Verzeichnissen erfasste: erstens die »Frankfurter Ausländer«, zweitens die »Karlsruher und Mannheimer […] und Heidelberger Studenten« sowie drittens jene »aus Freiburg uns Zugewiesenen«. Die bis dahin im Bericht angeführten Kategorien Alter, Geschlecht, Staatszugehörigkeit und Eigentum hatten die vorsätzliche Anwesenheit der Ausländer/innen im Großherzogtum Baden verdeckt und diese als potenziell Ortlose skizziert. Die Einteilung nach ihrem früheren Aufenthaltsort versetzte sie narrativ zurück an einen konkreten Ort in Baden, den sie aus einem bestimmten Grund aufgesucht hatten. Und sie verwies auf ein Geflecht aus sozialen und ökonomischen Beziehungen, aus dem sie herausgerissen wurden. Da aus Schaibles Perspektive keine sicherheitsrelevanten Gründe dafür sprachen, die »Mehrzahl der hier konsignierten Ausländer weiter hier festzuhalten und sie dem Staat zur Last fallen zu lassen«, delegierte er ebenso die Entscheidung über ihre Rückkehr an die zuständigen Bezirksämter. Er entzog sie durch diese Argumentation dem Krieg und der mit ihm einhergehenden nationalen Rhetorik. Auch wenn Alexander Schaible in dieser Einordnung lediglich eine erfolgversprechende Strategie gesehen haben mag, die Ausländer/innen aus Donaueschingen abschieben zu können, so unterstrich er unabhängig davon, wie wenig die unterstellten Notwendigkeiten des Krieges oder die Staatszugehörigkeit der Betroffenen für ihn eine handlungsleitende Rolle spielten. Zwar legte er annähernd in der Mitte des Berichts in einer Auflistung nach dem Unterbringungsort (Militärbaracken/Stadt) die Verteilung der Staatsangehörigkeit (Engländer/Franzosen/Russen) nieder, doch diese zentrale Position der Aufstellung entsprach nicht ihrem argumentativen Gewicht. Sie
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stellte lediglich einen isolierten Nachweis für die übergeordnete Landesbehörde dar, von der der Amtsvorstand wohl ausging, dass sie dort von Bedeutung sein könnte. Während die Beamten im Freiburger Bezirksamt eine unterschiedslose Ausweisung beschlossen hatten und der Donaueschinger Bürgermeister verantwortlich für die Unterkunfts- und Versorgungsverträge zeichnete, nahm der Amtsvorstand bei der Umsetzung der im Badischen Innenministerium getroffenen Entscheidungen nur eine Nebenrolle ein. Erst intervenierte er situativ, als die Militärbaracken noch belegt waren. Dann erklärte und setzte er mit Hilfe des zuständigen Landesreferenten die Ministerialanweisungen durch. Seine eigentliche Aufgabe bestand allerdings im Aufzeichnen und Beschreiben der Ereignisse vor Ort. Er vermittelte Informationen zwischen den lokal Agierenden und den landesweiten Entscheidungsträgern in Karlsruhe. In seinem verschriftlichten Lagebericht vermaß er die Angehörigen feindlicher Staaten. Er übersetzte die Ausgewiesenen in eine heterogene Gruppe ausländischer Staatsbürger/innen, die sich durch ihr Alter und ihr Geschlecht, ihren ökonomischen Besitz und ihre soziale Stellung sowie durch ihren Herkunftsort unterschieden. Folglich formierte Alexander Schaible über die feindlichen Ausländer/innen ein differenzierendes und gleichsam vorübergehendes Wissen, das ihm und seinen Vorgesetzten als Entscheidungsgrundlage dienen konnte. Es verwies hierbei auf gesellschaftliche Normen, die ihre Gleichbehandlung keineswegs als folgerichtig erscheinen ließen. Die Vorstellung des auf (wehrpflichtige) Männer beschränkten Krieges, das zu keinem Zeitpunkt hinterfragte Selbstverständnis einer über Nationalstaatsgrenzen hinweg gültigen, sozioökonomischen Teilung der Gesellschaft, die Idee eines durch längeren Aufenthalt und Ortsansässigkeit verdienten Vertrauens trafen auf die für ihn irritierende Praxis einer umfassenden Abschiebung der Ausländer/innen.
Denunzieren und Protestieren Die bereits erörterten Widerstände des Gemeinderates und des Bürgermeisters fanden ihre Fortsetzung. In einem Leserbrief an das Donaueschinger Tageblatt stellte der Rechtsanwalt Erwin Schülin die rhetorische Frage, ob es »ein Unrecht gegen die Donaueschinger Einwohnerschaft [sei], wenn jetzt noch einem Teil der hierher verwiesenen Engländer, Franzosen, Russen, Serben etc. gestattet wird, frei und ledig in der Stadt und ihrer nächsten Umgebung herumzulaufen, an den Wirtstischen herumzusitzen, unsere Gespräche mit anzuhören und unsere Tageszeitungen zu lesen?«126 Diese Eingabe, abgedruckt am 18. August zwischen anderen Nachrichten, könnte lediglich als eine einzelne Meinungsäußerung gelesen werden, in der sich emotio126 Leserbrief, Rechtsanwalt Schülin, in: Donaueschinger Tageblatt, 18.8.1914 (Nr. 188), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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nale Anspannung und nationale Begeisterung verbanden. Aber die Art und Weise, wie Erwin Schülin das Vorhandensein von abgegrenzten Gruppen und ihren Differenzen behauptete, und wie er damit die Beziehungen zwischen Ausländer/innen und den Einwohnern der Stadt konturierte, sollte hinterfragt werden. Der Rechtsanwalt inszenierte sich vordergründig als Beobachter, der Ausländer/ innen an Orten des öffentlichen Lebens nachspürte. Offenbar war er ihnen noch nicht begegnet. Denn woran er sie auf der Straße oder in Wirtshäusern erkannt hatte, erklärte er nicht. Sie blieben in seinem Brief äußerlich unsichtbar. Stattdessen zeichneten sich die Unbekannten für ihn durch ihre Staatsangehörigkeit als »Angehörige feindlicher Staaten« aus. Die darauf beruhende Beziehung zu ihnen beschrieb er in einer Selbstbeobachtung als tiefe Demütigung. Ihre Anwesenheit in der Stadt, »als ob nichts in der Welt vorginge«, bedeutete für ihn, »uns [zu] kränken, unser deutsches Blut zum Rasen [zu] bringen, oder aber unsern deutschen Sinn ab[zu]stumpfen«. Gleichwohl emanzipierte er sich vom involvierten, empörten Beobachter, der in der Anonymität einer vorgestellten nationalen Gemeinschaft aufgeht. Indem er seinen Namen unter die Stellungnahme setzte, artikulierte er sich als adressierbaren Teilnehmer an einer öffentlichen Diskussion, die fortan auch im Donaueschinger Tageblatt geführt werden konnte. Er kennzeichnete sich hierbei keineswegs als einen Diskutanten unter mehreren, sondern deutlich als Wortführer der Donaueschinger Bevölkerung, der mit der Autorität eines Rechtsanwaltes sprach. Vorrangig allerdings wurde die eingangs von ihm gestellte Frage, »in den letzten Tagen hier 1000 Mal aufgeworfen und 999 Mal mit einem Tone tiefster Entrüstung bejaht«. Diese Worte sollten für die Leser/innen seiner Eingabe erstens die Glaubwürdigkeit seiner Schilderung unterstreichen. Zweitens betonte Erwin Schülin die Relevanz des dargestellten Konfliktes, den er grundsätzlich auf die Anwesenheit der Ausländer/innen in der Stadt zurückführte. Indem sie in Wirtshäusern saßen, über die Straße liefen, Zeitung lasen und folglich an öffentlichen Orten der Stadt in Erscheinung traten, entstünde für die »kerndeutschen« Donaueschinger der Eindruck, dass sie sich »von unsern Feinden verlachen lassen«. Er deutete folglich Ausländer/innen und Deutsche als gegensätzliche Entitäten des Krieges, deren Vielfalt hinter einer Rhetorik des Emotionalen verschwand. Die in die Stadt Abgeschobenen wie seine Mitbürger waren indes keineswegs die alleinigen Adressaten seiner Worte. Der Rechtsanwalt hatte eine weitere Konfliktlinie zwischen den Donaueschingern und der »maßgebenden Seite« erkannt. Die anordnenden und ausführenden Verwaltungsbehörden waren für ihn der eigentliche Auslöser des Disputes, weil sie »dem Empfinden der Stadt […] nicht mehr Rechnung« trügen. Ihnen schlug er deshalb nachdrücklich eine Lösung des Konflikts in seinem Sinne vor. »Die Donaueschinger Einwohnerschaft wünscht und verlangt, daß sämtlichen hier weilenden Angehörigen feindlicher Staaten in unseren geräumigen
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Militärbaracken oder sonstwo angemessene Unterkunft gewährt wird, ohne daß dadurch irgendwelche Interessen auch nur eines Deutschen verletzt oder gestört werden.«127 Der Leserkreis des Briefes beschränkte sich nicht auf die Verkaufsorte des städtischen Tageblatts. In der Freiburger Zeitung wurde er ausgiebig zitiert,128 ebenso war dem Staufener Wochenblatt der Protest des Rechtsanwalts eine paraphrasierte Meldung wert,129 und ferner findet sich ein Zeitungsausschnitt in den Überlieferungen des Badischen Innenministeriums wieder. Erwin Schülin verlagerte damit die Diskussion um den »angemessenen« Umgang mit Ausländer/innen von der nichtöffentlichen Verwaltung in den Meinungsraum der Presse. »Rechtsanwalt Schülin«, so führte das Staufener Wochenblatt getreu seinem Kalkül aus, »gibt […] die Stimmung der hiesigen Einwohnerschaft wieder«.130 Die Schilderung erlangte eine öffentliche Deutungshoheit über die Ereignisse und die Ausländer/innen in Donaueschingen. Wie vielen Bürger/innen das Protestschreiben aus dem Herzen sprach, offenbaren die vorliegenden Überlieferungen nicht. Gleichwohl zeitigte die darin angesprochene Beunruhigung der Einwohnerschaft für jene ausländischen Staatsangehörigen, die in der Stadt wohnen durften oder die eine Ausgeherlaubnis erhielten, direkte Folgen. Ihnen wurde nicht nur der Aufenthalt in den vom »Publikum allgemein besuchten Räume[n] in den hiesigen Wirtschaften« verboten. Darüber hinaus händigten die Beamten des Bezirksamtes ihnen einen Verhaltenskodex aus, an den sie sich bedingungslos zu halten hatten, um »die gestattete Freiheit« nicht zu gefährden. »Zuwiderhandlungen« und »Unzuträglichkeiten« einzelner Ausländer/innen hätten zur »unvermeidliche[n] Folge«, dass »die Unschuldigen mit den Schuldigen leiden müßten«. In den Anweisungen für ihren störungsfreien Aufenthalt in der Stadt gab Alexander Schaible ihnen unmissverständlich bekannt: »Es wird den Ausländern empfohlen, möglichste Zurückhaltung im Verkehr mit dem Publikum zu üben und möglichst wenig Aufsehen bei ihrem Verkehr in den Straßen der hiesigen Stadt zu erregen. Es wird dies am Besten dadurch erreicht werden, daß die Ausländer sich höchstens zu 2 Personen, nicht in größeren Trupps in der Stadt und im Parke bewegen, daß ferner diejenigen, die des Deutschen mächtig sind, auf der Straße oder in den Läden Deutsch sprechen oder, wenn sie des Deutschen nicht mächtig sind, laute Unterhaltungen in einer fremden Sprache in der Öffentlichkeit vermeiden.«131 127 Herv. im Org. 128 Meldung, in: Freiburger Zeitung, 22.8.1914 (Nr. 228, Morgenausgabe). 129 Meldung, in: Staufener Wochenblatt, 23.8.1914 (Jg. 39, Nr. 130). 130 Ebd. 131 Bkm. d. Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible), 30.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/ F38/115.
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Die ausländischen Staatsbürger/innen sollten sich selbst zum Verschwinden bringen. Der Rechtsanwalt und seine Anhänger hatten sich durchgesetzt.
Rechtfertigen und Erklären Der Protestbrief Erwin Schülins unterstützte die beim Karlsruher Innenministerium vorgebrachte Bitte des Amtsvorstandes Alexander Schaible um eine schnelle Auflösung des Lagers. Er antwortete trotzdem auf die konkurrierende, öffentliche Deutung der Ereignisse und der Ausländer/innen sowie auf die im Anschluss daran formulierte Aufforderung. Im städtischen Tageblatt veröffentliche der Amtsvorstand eine direkte wie kurze Stellungnahme, in der er auf ähnliche Umstände in anderen badischen Städten verwies und die eigenen eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten beteuerte. Er erläuterte den Leser/innen, dass »[i]n dieser ernsten Zeit […] täglich Maßnahmen erforderlich werden [können], deren Gründe weder dem einzelnen noch der ausführenden Behörde erkenntlich sind«.132 Diese Worte enthalten, verknüpft mit seinen im Lagebericht geschilderten Erfahrungen, eine Rechtfertigung und einen Einblick in das Selbstverständnis des Amtsvorstandes. Die Zeit des Krieges bedeutete für ihn einen Ausnahmezustand, in dem das Verstehen und die Sinnhaftigkeit von Entscheidungen nicht eingefordert werden konnten. Eine solche Aneignung des Krieges musste konsequenterweise ebenso die unergründlichen Ziele der »Maßnahmen« akzeptieren. Alexander Schaible war sich folglich eines spezifischen Nichtwissens um die Verhältnismäßigkeit des eigenen Handelns bewusst. Einerseits spann der Amtsvorstand somit über die Grenzen seines badischen Bezirkes hinaus den allgemeinen narrativen Faden fort, dass er auf unvorhergesehene Umstände lediglich reagierte. Andererseits verwies er mit seinen Ausführungen auf die situative Bedingtheit und Improvisation seines Handelns, für das er rechtfertigungsfreie Spielräume forderte. Dahingehend sei es eine »vermehrte Pflicht des Bürgers«, von »beunruhigenden Eingesandts oder Vorwürfen gegen die Behörden abzusehen« und sich informell an »maßgebender Stelle« zu unterrichten.133 Das gleich aus welchen Prämissen Nicht-Begründbare sollte aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Wiewohl sich der Amtsvorstand nicht für befugt hielt, »in eine öffentliche Presseerörterung darüber einzutreten«, sei er gewillt, den Bürgern der Stadt Auskünfte zu erteilen. Diese Einladung wurde vom Donaueschinger Tageblatt angenommen und nur zwei Tage später, am 21. August, erschien unter der Überschrift Über die hier untergebrachten Ausländer ein mehrspaltiger Artikel, dessen nicht genannter Verfasser sich auf Informationen aus dem Bezirksamt berief.134 Während der 132 Bkm. d. Amtsvorstand Alexander Schaible, in: Donaueschinger Tageblatt, 19.8.1914 (Nr. 188), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 133 Ebd. 134 Über die hier untergebrachten Ausländer, in: Donaueschinger Tageblatt, 21.8.1914 (Nr. 191), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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erörterte Lagebericht Schaibles das Wissen der staatlichen Entscheidungsträger über die Ausländer/innen ausdifferenzierte, vermittelte und erklärte der Presseartikel den Zeitungsleser/innen die Abschiebung und die Verschiedenheit der Ankommenden. Obwohl sich weite Teile des Berichtes und des Artikels deckten, wurden in letzterem Vorgänge und Zusammenhänge dargestellt, die weder auf die erfolgten öffentlichen Äußerungen Bezug nahmen noch aus dem Bericht des Amtsvorstandes, den Verwaltungsschriftwechseln oder den bereits angeführten Verträgen hervorgingen. Der Zeitungsbericht, der sich ebenfalls in den Akten des Badischen Innenministeriums wiederfindet, erweiterte und verdichtete die argumentative und narrative Inszenierung der Ausländer/innen wie deren Folgen. Die Darstellung der sozioökonomischen Teilung der Ausländer/innen und die sich daraus ergebenden Folgen wurden in dem Zeitungsartikel fortgeschrieben. Den »mit erheblichen Geldmitteln« ausgestatteten circa 20 Ausländer/innen, die sich selbst versorgen konnten, war »der unbehinderte Aufenthalt in der Stadt, das Wohnen in Hotels etc. ausdrücklich gestattet worden«. Die »vier Engländer, die im Schützen gewohnt und dem Vernehmen nach hauptsächlich Beunruhigung erregt haben«, galt es als Gäste zu dulden. Die Vorteile dieser Praxis blieben nicht unerwähnt, denn auch »der wirtschaftliche Gedanke war dabei mitbestimmend«, und die »Vorteile« dieser ausländischen Staatsangehörigen lagen auf der Hand.135 Wie situationsbedingt die lokale Umsetzung dieser Einteilung der Ausländer/ innen sein konnte und wie wenig sie sich an der sozialen und kulturellen Stellung der Betroffenen orientieren musste, verdeutlicht eine Erklärung des britischen Staatsangehörigen Imanuel Franks, der sich im September 1914 in den Militärbaracken wiederfand.136 Der in Johannesburg (Südafrika) wohnhafte Franks war im Frühjahr 1914 mit seiner Frau und seiner an Kinderlähmung erkrankten Tochter Rosa nach Wien gereist. Sie wurde dort am 27. Juli von dem zeitgenössisch namhaften Orthopäden Adolf Lorenz (1854–1946) operiert, und die Familie begann am 3. August ihre über Deutschland und Holland geplante Rückreise. »In Aschaffenburg wurden wir von der Polizei angehalten. Nachdem wir kurz in Polizei-Gewahrsam gewesen waren, wurde uns der Aufenthalt in einem Hotel gestattet.« Die Ausreise in die Schweiz verwehrte ihnen der für sie zuständige Garnisonskommandant und eröffnete ihnen, dass »wenn wir Geld hätten, nach Baden-Baden, wenn wir keines hätten nach Donaueschingen gehen müssten«. Da Franks allerdings auf einer Basler Bank auf seinen Kreditbrief kein Geld erhalten hatte, brach die Familie schließlich nach Donaueschingen auf. Sie wurden dort in den Militärbaracken untergebracht und stellten am 14. September den Antrag auf Ausreise, den der Bezirksarzt befürwortete, weil er Rosa Franks Gesundheit bei einem längeren
135 Ebd. 136 Erklärung Imanuel Franks, 14.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23181.
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Verbleib in den Baracken gefährdet sah.137 Zum Verhängnis wurden der Familie die ungenügenden Bargeldreserven und nicht ihr fehlendes Kapital. Dies betraf viele in der Stadt wohnende Ausländer/innen. Sobald sie ihre Miete und ihre Verpflegung nicht mehr bar zahlen konnten, wurden sie in das Barackenlager oder in ein anderes Zivilinternierungslager verbracht.138 Der Zeitungsbericht verschwieg diese behördliche Praxis. Hingegen können in diesem bei der Erörterung über die ökonomisch Benachteiligten semantische Verschiebungen festgestellt werden. Erstmalig verwendete der Verfasser des Artikels den Begriff der Internierung, um die Situation der Ausländer/innen zu charakterisieren. Sie würden nicht in den Militärbaracken untergebracht, »weil sie verdächtig oder Kriegsgefangene waren«, sondern »weil die zahlreichen unbemittelten Leute gemeinsam verpflegt werden mußten«.139 Sie unterstanden indes einer militärischen Bewachung, die in keinem der Verträge Gegenstand der Vereinbarungen gewesen war. Diese hätte sich aus dem Mangel an Polizeibeamten und der prinzipiellen Anwesenheit von Militärwachen ergeben. Sie sollten vor allem verhindern, dass die Ausländer/innen die Stadt verließen. Zugleich erfülle die gemeinsame Unterbringung einen weiteren Zweck. Denn Vertreter des Badischen Innenministeriums hatten angeordnet, »die Leute, wo immer ein Arbeitermangel bestehe, in der Stadt oder auf dem Lande, insbesondere zu Erntearbeiten, zu verwenden«. Das Barackenlager war demnach nicht nur ein Unterkunfts- und Verpflegungsort, sondern ein durch die Stadtvertreter im Benehmen mit den Militärbeamten eingerichtetes und für die Mehrzahl der Ausländer/innen nach außen abgeschlossenes Internierungslager. Erst an einem der Ränder des Textes wurde angedeutet, dass die Versorgung eines Teils der Bewohner/innen nur unzureichend war. Neun Frauen und ein Mann hatten unter anderem »für Einkäufe für ihre Kinder« Passierscheine in die Stadt erhalten, und einige Personen durften auf ärztliche Anordnung in nahegelegenen Hotels zu Mittag essen. Die hier nur angedeutete Selbstversorgung wird in weiteren Berichten über das Lager einen zentralen Aspekt darstellen. Im vorliegenden Zeitungsbericht ging damit eine Umdeutung einiger im Stadtzentrum anwesender Ausländer/innen einher. Nicht Vergnügen oder Freude am Flanieren, sondern die Sorge um das tägliche Leben führten sie nach Donaueschingen. Den Argwohn, mit dem die Bewohner/innen der Stadt den Fremden begegneten, führte der Verfasser des Artikels nicht auf ihre öffentliche Anwesenheit zurück. Die »Beunruhigung der Bevölkerung« entstehe, weil »ein Teil in den Baracken unter militärischer Bewachung interniert war und dadurch die Vorstellung geweckt wurde, es handle sich um gefährliche Gefangene«.140 Die zuvor als zweckmäßig 137 Ärztliches Zeugnis d. Bezirksarztes, 14.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23181. Ebenso: Ärztliche Bescheinigung d. Dr. Hall, 14.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23181. 138 Stv. Gkdo. XIV. AK an d. Bad. MdI, 20.2.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 139 Über die hier untergebrachten Ausländer, in: Donaueschinger Tageblatt, 21.8.1914 (Nr. 191), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 140 Ebd.
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und naheliegend beschriebenen Militärwachen hatten somit die Wahrnehmung der Internierten entscheidend mitgeprägt und eine fatale Wirkung gezeitigt. Minutiös versuchte der Artikelverfasser diese zu korrigieren. Den »Frankfurter Franzosen« sei zu trauen, die Pässe der »Engländer« befänden sich in Ordnung, und die »russischen Studenten« seien in der »Mehrzahl Deutsch[-]Russen«, für die Heidelberger und Karlsruher Professoren bürgten. Eine Ausnahme bestätigte diese Versicherungen. »Es ist ganz selbstverständlich, daß die Behörde solchen Elementen, bei denen nicht absolute Bürgschaft bezüglich ihrer Unverdächtigkeit und ihres Wohlverhaltens besteht, wie bei den in den letzten Tagen vom Oberelsaß hierher gebrachten russisch[-]polnischen Arbeitern, den freien Aufenthalt in der Stadt nicht gestattet.«141 Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Worte geschrieben wurden, benötigte keine Erläuterungen für zeitgenössische Leser/innen. Der Autor hatte die russländisch-polnischen Arbeiter/innen aus seiner Argumentationsstrategie ausgeschlossen, sie als Gruppe verdächtigt und kriminalisiert. Ihre Internierung bedeutete keinen Akt der Fürsorge, weil sie »unbemittelt« waren. Ihre militärische Bewachung war nicht nur eine zusätzliche, sich ergebende Besonderheit, sondern sie entsprang einem unzweifelhaften Misstrauen. Ihre Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich war in der Kriegs- wie in der Friedenszeit ungewiss. Die Vermessung der Ankommenden im Bezirksamt Donaueschingen fragmentierte die Ausländer/innen. Alexander Schaible fand sie nicht als eine in sich geschlossene Gruppe vor. An immer neuen Grenzlinien brach ihre vermeintliche Einheitlichkeit auf und stellte dualistische Zuordnungen in Frage. Nicht alle »Unbemittelten« waren verdächtig, nicht alle in der Stadt Anzutreffenden waren vermögend; nicht alle russländischen Staatsangehörigen waren Studenten und manche keineswegs ›gewöhnliche‹ »Russen«. Die von Erwin Schülin gewünschte Ordnung, nach der alle feindlichen Ausländer/innen im Lager untergebracht werden sollten, scheiterte am Bezirksamt. Denn die Kategorisierungen der Beamten verharrten nicht in der nationalen Polarisierung des Krieges. Dennoch gestalteten sie mit dem Militärbarackenlager erfahrbare Wirklichkeiten. Auf dem Papier erfüllte es verschiedene Funktionen. Den einen gewährte es Unterkunft und sicherte ihre Verpflegung. Die anderen sollten in ihm überwacht und ihre Flucht verhindert werden. Alle Unbemittelten wurden in ihm konzentriert und damit ihre schnelle Verfügbarkeit sichergestellt. Die vielfältigen Wahrnehmungen und Argumente des Amtsvorstandes lassen sich in den Schreiben seines Vorgesetzten Heinrich von und zu Bodman und des Oberstleutnants Melchior vom stellvertretenden Generalkommando des 141 Ebd.
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XIV. Armeekorps nicht wiederfinden. Letzterer war von »erhebliche[n] Unzuträglichkeiten« durch die »Russen« überzeugt. Er legte dar, dass »die Vermutung nicht von der Hand zu weisen ist, daß durch diese Ausländer die Spionage besorgt oder wenigstens unterstützt und gefördert wird«.142 Zugleich erkannte er einen »Unwille[n] im Volke […] wegen der allzu nachsichtigen Behandlung« der Ausländer/innen, insbesondere der »Engländer«. In gleichem Tone sprach der badische Innenminister nur »bestimmte einzelne Internierte« vom Spionage- oder Fluchtverdacht frei.143 Da die Grenze zur Schweiz nur wenige Kilometer südlich von Donaueschingen verlaufe, führte er für Erörterungen beim Reichskanzler aus, wäre ein Übertreten derselben lediglich durch Meldevorschriften nicht zu verhindern. Dahingehend äußerte er den »dringenden Wunsche«, die Wehrpflichtigen »als Kriegsgefangene anzusehen und demgemäß zu behandeln«.144 Dieses Anliegen des Ministers, das der Offizier nachdrücklich unterstützte, widersprach Plänen innerhalb des Preußischen Kriegsministeriums und des Reichsamts des Innern. Denn am 10. Oktober 1914 informierte der Leiter des Unterkunfts-Departements, Emil Friedrich (1860–1918), den Reichskanzler darüber, dass »die wehrpflichtigen Angehörigen feindlicher Staaten, sofern kein Fluchtverdacht oder Verdacht der Spionage vorliegt, nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, also nicht festzunehmen, sondern auf freiem Fuß zu belassen« seien. Regelmäßige Meldeverpflichtungen sollten genügen, »um einem Verlassen des Aufenthaltsorts vorzubeugen«.145 Die fortgesetzte, restriktive Zivilinternierung in Donaueschingen erfolgte demnach auf der formalen Feststellung, dass die Internierten verdächtig seien. Die badischen Akteure reizten den Handlungsspielraum des Verdachts aus.146
Disziplinieren und Strafen Der badische Innenminister charakterisierte wenig später die Unterbringung aller Wehrpflichtigen als eine der »Kriegsgefangenschaft gleichende Form der Internierung«.147 Einen Einblick in diese »Form« gewährt die »Stubenordnung für die Ausländer«, die vom Wachkommando-Führer Schweizer am 14. Oktober 1914 142 Stv. Gkdo. XIV. AK an d. stv. Großen Generalstab, 14.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 143 Bad. MdI (gez. v. Bodman) an d. Bad. Min. d. Großen Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 23.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 144 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Oberstleutnant Melchior) an d. stv. Großen Generalstab, 14.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 145 Preuß. KM (gez. Friedrich) an d. Reichskanzler (RAdI), 10.10.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 202. 146 So die kurze Antwort seitens des Chefs d. stv. Generalstabes der Armee am 3. November 1914: »Nach den über Behandlung der Ausländer erlassenen Verfügungen sind verdächtige Ausländer festzusetzen.« Siehe: Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 3.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 147 Bad. MdI (gez. v. Bodman) an d. Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 23.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269.
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erlassen worden war. Die darin zugrunde gelegte innere Organisation und der Tagesablauf in den (Männer-)Baracken orientierten sich an militärischen Maßstäben. Jeder Baracke war ein Unteroffizier vom Dienst zugeordnet. Jeder Stube stand ein »Stubenältester« vor. Deren Anordnungen hatten die Internierten Folge zu leisten. Die »Nichtbefolgung eines Befehls, sowie Verstöße gegen die Vorschrift werden streng bestraft«, hielt die Stubenordnung fest. Um 7 Uhr weckte der Unteroffizier »sämtliche Ausländer«, die anschließend ihre Stuben zu reinigen hatten. »8 Uhr Antreten zum Kaffee – Empfang.« »8.30 Uhr Nachsehen der Stuben durch den Wachthabenden der Kasernenwache.« Abends um 9 Uhr hatte »jeder Mann vor seinem Schrank zu stehen, damit die Zahl der auf der Stube untergebrachten Mannschaften festgestellt werden« konnte. Tagsüber sollten die Internierten sich ruhig und unauffällig verhalten. »Ruhestörender Lärm bei Tag und bei Nacht auf den Stuben sowie im Freien werden nach Umständen gerichtlich verfolgt.« Nicht zur Pflicht, aber zum nachdrücklichen Wunsch erhob die Stubenordnung, dass die Zivilisten »beim Betreten der Stuben von höheren Vorgesetzten, welchen die Bewachung der Ausländer unterstellt ist, aufzustehen und die Kopfbedeckung abzunehmen« hätten.148 Spaziergänge blieben meist auf den tristen Barackenhof beschränkt. Für einen kurzen Ausgang in die Innenstadt mussten die Internierten beim Bezirksamt einen begründeten Antrag stellen. Dauer, Orte und Gründe der Genehmigung wurden anschließend auf der Bescheinigung festgehalten. In einem Fall lautete diese zum Beispiel: »Der Inhaberin des Scheines, Frau Godfroy wird die Erlaubnis erteilt, mit dem Franzosen Tombarell von ½5 bis ½6 Uhr auszugehen.«149 Handschriftlich setzte Alexander Schaible die Bemerkung »Wirtshausbesuch ist verboten« hinzu. In einem anderen Falle wurde bestimmt: »Der Frau C. Catalla ist gestattet, heute von 10 bis 2 Uhr mit ihrem Ehemanne Ludwig C., französischer Staatsangehöriger, auszugehen und im Gasthaus zur Sonne Mittagessen einzunehmen.«150 Ebenso skizzierten die Sondervorschriften für die Kasernenwache die Rahmenbedingungen des Lagerlebens.151 Niemand durfte demnach ohne Ausweis, der vom Garnisonskommando gestempelt werden musste, die Kaserne verlassen. Innerhalb der Mauern war es verboten, die Grenzen der »zugewiesenen Plätze« zu überschreiten. Wachhabende und die ihnen unterstehenden Posten, die mit einem Gewehr und 20 scharfen Patronen bewaffnet und von einem Wachhund begleitet wurden, waren dazu angehalten, jeglichen sozialen Kontakt mit den Aus148 Stubenordnung für d. Ausländer (gez. Schweizer), 14.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/ F38/115. 149 Bescheinigung d. Bad. BzA Donaueschingen, 28.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F38/115 (Herv. im Org.). 150 Bescheinigung d. Bad. BzA Donaueschingen, 15.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F38/115 (Herv. im Org.). 151 Sonder-Vorschrift für d. Kasernenwache. (ohne Datum, nach Einheftung November 1914), in: GLA Karlsruhe, 456/F43/223.
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länder/innen zu vermeiden. Sie sollten keine Unterhaltungen mit ihnen führen oder Geschenke von ihnen annehmen. »Auffälligen Lärm, Gesänge, Gespräche und sonstigen Unfug in den Baracken und im Freien« hatten sie sofort zu melden. Ebenso oblag ihnen die Überprüfung der Nachtruhe. Um zehn Uhr Abends waren die Lichter in den Baracken zu löschen. Der Unteroffizier vom Dienst kontrollierte die »Reinlichkeit« in den Barackenunterkünften, in welchen nicht geraucht werden durfte. Zum Essen in der Kantine und zum Baden in der städtischen Anstalt wurden die Internierten gemeinsam geführt. Einzeln in der Kantine Getränke oder Lebensmittel zu kaufen, war den Internierten verboten. Dies erledigte eine Ordonanz zu festgelegten Zeiten. »Auf das Signal ›Essenempfang‹ hat jede Person rechtzeitig zu erscheinen; bei Verstössen werden die nötigen Massnahmen getroffen. Auch wird nochmal erinnert, dass keine Person andere Stuben als die ihnen zugewiesenen betreten darf«, legte der Wachtkommando-Führer Schweizer fest.152 Wie restriktiv die militärischen Vorschriften ausgelegt wurden, zeigen dokumentierte Strafen. Der Wachtkommando-Führer Schweizer ließ den russländischen Staatsangehörigen Orchechowsky in Arrest bringen, weil er »den Anordnungen des Unteroffiziers vom Dienst beim Kaffeeholen nicht Folge leistete, ihm auf Befragen grobe Antwort gab und sich höchst ungebührlich benommen« hatte.153 Ebenso verhaftete er die ausländischen Staatsangehörigen Jandot, Rommevaux, Dushesne, Saldaz, Garin, Paul Martin und Millet. Sie hatten »trotz eines schriftlichen Verbots, fremde Stuben zu betreten, sich auf einer solchen gestritten und dabei die Stubengeräte stark beschädigt«.154 Den französischen Staatsbürger Paul Martin nahm er in Gewahrsam, weil dieser »beim Essen-Empfang den im Dienst befindlichen Koch (Landwehrmann Grüninger) in ganz grober Weise beschimpft und ihm Vorwürfe über die an ihn verabfolgte Fleischportion gemacht« hatte. Die daran anschließende Auseinandersetzung verdeutlicht eine mögliche Folge des restriktiven Lageralltags, in dem von Zivilisten eine militärische Ordnung eingefordert und die Internierten weitgehend kriminalisiert wurden. In der Befragung Martins war dieser nicht von seinen »beleidigende[n] Ausdrücke[n]« abgewichen, »worauf ihn Grüninger fasste und ihm ins Gesicht schlug«.155 Der spontane Gewaltausbruch des Landwehrmannes sollte nicht nur als Reaktion eines Beleidigten gelesen werden. Die Sanktionierung abweichenden Verhaltens durch Stuben- und Kasernenordnungen deutet an, dass sie den Ausgangspunkt eines Radikalisierungsprozesses darstellen konnte. Dessen Eigendynamik lag nicht im Kalkül der verantwortlichen Offi152 Bkm. d. Garnison-Kommando (Wachtkommando E/170 Donaueschingen, gez. Schweizer), o.D., in: GLA Karlsruhe, 456/F43/223. 153 Meldung d. Wachtkommando E/170 Donaueschingen (gez. Schweizer), 20.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F43/223. 154 Meldung d. Wachtkommando E/170 Donaueschingen (gez. Schweizer), 21.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F43/223 (Herv. im Org.). 155 Ebd.
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ziere. Aber der Erfahrungsraum Lager, in dem (mittellose) ausländische Zivilisten als Gefangene ohne Urteilsspruch untergebracht waren, schuf dafür die Voraussetzungen. Vor dem Hintergrund einer latent aggressiven Stimmung zwischen dem Kasernenpersonal und den Internierten, wie sie die Meldungen Schweizers nahelegen, erscheinen ebensolche Grenzüberschreitungen wahrscheinlicher. Die vielschichtigen Wahrnehmungen innerhalb des Bezirksamtes bezüglich der anwesenden Ausländer/innen fanden demzufolge nur bedingt eine entsprechende Umsetzung im normierten und kontrollierten Lageralltag. Dieser scheint ganz den Intentionen des Innenministers entsprochen zu haben. Während die Stadt für die Internierten ein kurzzeitiges Privileg darstellte, bedeutete das Lager für die außerhalb Wohnenden eine fortwährende unausgesprochene Androhung. So fürchtete zum Beispiel der russländische Staatsangehörige Salomon Fischer in einer Eingabe um die Gesundheit seiner schwangeren Frau und seiner 5 Monate alten Tochter sowie um den Schulbesuch seiner beiden Söhne, sollten sie interniert werden.156 Letztere Sorge verwies auf die weiterführende Bedeutung eines Übertritts in das Lager. Dieser hätte seinen sozialen und kulturellen Status und den seiner Familie innerhalb der Gesellschaft in Frage gestellt. Zugleich intervenierte er mit einer Bewertungskategorie, die im Bezirksamt zunehmend an Relevanz gewinnen sollte: die gefährdete Gesundheit des Einzelnen.
Versorgen und Vermitteln Weil die Militärbaracken in Donaueschingen im Herbst 1914 vollständig mit Ausländer/innen belegt waren, stellte das Garnisonskommando die dortigen militärischen Kasernements für weitere Abgeschobene zur Verfügung.157 Gleichzeitig drängte aber die heraufziehende »kalte Jahreszeit« die Verantwortlichen des Lagers dazu, ihren Umgang mit den Internierten zu überdenken und ihren Ressourceneinsatz zu erhöhen. In der folgenden Zeit unterschieden sie die Zivilisten weitaus stärker nach ihren individuellen Bedürfnissen und korrigierten schließlich die Rahmenbedingungen der Internierung. Alexander Schaible erörterte die Schwierigkeiten der Wintermonate erstmals Ende September gegenüber dem Innenministerium. »Die überwiegende Mehrzahl aller Ausländer in den Baracken ist in keiner Weise für den rauhen [sic] Winter unserer Gegend gerüstet; die meisten haben nur dünne Sommerkleider«, führte er aus und warnte vor den Folgen: »Besonders für die Frauen und Kinder dürfte der Aufenthalt in den Militärbara[c]ken während des Winters zweifellos gesundheit156 Salomon Fischer an d. Bad. BzA Donaueschingen, 3.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23183. Zudem rechnete er mit einer Abschiebung im Falle eines Austauschs von Zivilisten zwischen den Kriegsgegnern. 157 Das in Villingen eingerichtete Barackenlager wurde ab Anfang Oktober für französische kriegsgefangene Offiziere benötigt und musste daher geräumt werden. Siehe: Aktennotiz Bad. MdI, 30.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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liche Schädigung bringen.«158 Die Zusammensetzung dieser Gruppe gesundheitlich Gefährdeter änderte sich mit der Abreise der Frauen und Kinder französischer und russländischer Staatsangehörigkeit, deren Heimreise durch zwischenstaatliche Verträge ermöglicht wurde. Daraufhin rückten die meist älteren, von »chronischen Leiden« heimgesuchten Internierten in das Blickfeld des Amtsvorstandes und des badischen Innenministers von und zu Bodman, der das Lager Anfang November besucht hatte. Die Badische Presse brachte über die Visite lediglich eine knappe Notiz. »Der Minister erkundigte sich bei den zahlreichen Insassen nach Stand, Herkunft und Nationalität. Die Angesprochenen erklärten sich mit Behandlung und Unterbringung sehr zufrieden.«159 Ärztliche Gutachten ergaben, dass das Leben dieser Internierten »oder in erheblichem Maße die Gesundheit durch Fortsetzung des Aufenthalts in den Baracken, insbesondere während des strengen Winters, gefährdet wäre«.160 Hinzu kam ein Mangel an Ärzten in Donaueschingen, die durch die Einrichtung eines Lazarettes und ihre Privatpraxen gebunden waren.161 Im Innenministerium sorgten beide Aspekte für ein Umdenken, denn die älteren, kranken Internierten waren nicht mehr militärdienstpflichtig und ärztlich bestätigt dienstunfähig. Ihre baldige Entlassung wurde deshalb angestrebt. Eine unzureichende Ernährung begleitete und verschlimmerte die prekäre medizinische Situation. Hatte bereits der investigative Zeitungsartikel mit Informationen aus dem Bezirksamt eine mangelhafte Versorgungslage der Ausländer/ innen angedeutet, so stand diese zwei Monate später im Mittelpunkt der Diskussionen zwischen dem Bezirksamt und dem Innenministerium. Der Amtsvorstand sah nach seinen Worten im heraufziehenden Winter einerseits eine gesundheitliche Bedrohung für einen Teil der Internierten. Diese stellte ihm andererseits wie die mangelnde Versorgung mit Nahrungsmitteln und Bekleidung Argumente zur Verfügung, um eine baldige Entlassung der Ausländer/innen nachdrücklich einzufordern. Die Internierten erhielten gleich den Soldaten am Morgen einen Kaffee, des Mittags »eine Portion Gemüse mit Fleisch und dazu ein Brot, das für den betreffenden Tag einschliesslich des Kaffees am nächsten Morgen ausreichen muss, und abends 158 Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 24.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23184. 159 Meldung, in: Badische Presse, 10.11.1914 (Nr. 523, Mittagsausgabe). Der Besuch des Innenministers stand im Zusammenhang mit der Donaueschinger Nachwahl, bei der die Zentrumspartei die Burgfriedenspolitik in Frage stellte, indem sie einen Gegenkandidaten aufstellte, nachdem der nationalliberale Landtagsabgeordnete Max Wagner im Krieg gefallen war. Siehe: Klaus-Peter Müller, Politik und Gesellschaft im Krieg. Der Legitimitätsverlust des badischen Staates 1914–1918, Stuttgart 1988, S. 18–27. 160 Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 10.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 161 Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 24.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23184.
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wiederum Tee oder Kaffee ohne Zugabe[.]«162 Der Amtsvorstand stellte fest, dass diese Verpflegung in den Wintermonaten nicht ausreiche. »Der Soldat ist nun aber durch seine Löhnung imstande, seine Verköstigung zu verbessern. Die völlig mittellosen Ausländer – circa 60 – sind das nicht.« In Absprache mit dem Bürgermeisteramt ließ er den Mittellosen aus diesem Grunde abends zusätzlich ein Brot reichen. Gleichzeitig betrachtete er dies als eine Übergangslösung. Damit sich die Internierten individueller pflegen könnten und für »geringste kleine Anschaffung[en]«, schlug er seinen Vorgesetzten in Karlsruhe vor, ihnen 30 Pfennig pro Tag auszuzahlen. Seine Bitte skizzierte die Abhängigkeit der Internierten von den lokalen, staatlichen Institutionen. Er zeichnete das Bild Hilfsbedürftiger, die durch ihre Internierung von den staatlichen Zuwendungen abhängig gemacht wurden. Es dauerte allerdings bis in den März des folgenden Jahres, bis der badische Innenminister diesen Umstand gegenüber dem stellvertretenden Generalkommando zur Sprache brachte und die fortwährende Internierung der »im arbeitsfähigen Alter stehenden Leute, die seit Monaten nichts arbeiten, die badische Staatskasse aber mit einem in die Tausende gehenden Aufwand belasten«, beklagte.163 Die finanziellen Aufwendungen für Ausländer/innen im Lager Donaueschingen erlangten den Status eines Referenzpunktes für andere badische Städte. Die Beamten des Bezirksamtes Baden wurden bereits Ende August informiert, dass der Aufwand für die Unterstützung der ausländischen Mittellosen nicht höher sein dürfe als in Donaueschingen und Villingen. Läge dieser für den »gleichen Zweck […] (70 Pf täglich) [höher], so müßte eine Abschiebung der mittellosen Elemente von Baden nach Donaueschingen erwogen werden«.164 Die Ordnung des Bargeldes entschied nicht nur über den Wohnort während des Krieges und den Vollzug der Internierung in Donaueschingen, sondern ebenfalls über die Ernährungs- und Lebensbedingungen im Lager selbst. Die im Zeitungsartikel Über die hier untergebrachten Ausländer erwähnten zehn Ausländer/innen, denen der Besuch in der Stadt genehmigt wurde, unterschieden sich von Anderen nicht zuletzt durch ihren Bargeldbesitz. Die beiden Internierten Ch. Schulgin und S. Tabozisky baten erst beim Bezirksamt um einen Ausgang, als ihnen Barvermögen zur Verfügung stand.165 Etwa einem Drittel der Internierten blieb das Geld versagt und damit eine angemessenere Ernährung und nötigste Verbrauchsgüter.166 Während des ersten Kriegshalbjahres veränderten sich die Unterscheidungskriterien für Internierte. Zugleich wurden Verwaltungsgänge und Weisungsbefug162 Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 30.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 163 Bad. MdI an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 6.3.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 164 Bad. MdI an d. Bad. BzA Baden, 26.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 165 Ch. Schulgin u. S. Tabozisky an d. Oberamtmann Schaible, 11.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F38/115. 166 Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible) an d. Bad. MdI, 30.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
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nisse innerhalb des Großherzogtums Baden angepasst. Ab März 1915 schied das Badische Innenministerium als zentrale Vermittlungs- und Kontrollinstanz zwischen dem stellvertretenden Generalkommando des XIV. Armeekorps und den Bezirksämtern aus. Fortan korrespondierten und entschieden die Amtsvorstände direkt mit dem Karlsruher Generalkommandeur.167 Die Zusammensetzung der Internierten und die Lebensbedingungen im Lager befanden sich darüber hinaus in einem stetigen Wandel. Frauen und Kinder russländischer und französischer Staatsangehörigkeit durften im Herbst 1914 in ihre Heimat zurückreisen.168 Die ausländischen Studenten wurden nach ihren Universitätsorten entlassen.169 Die reichsweite militärische Internierung französischer Staatsbürger in Holzminden hatte zur Folge, dass Ende Dezember 1914 fast ausschließlich russländische Staatsangehörige zu den Internierten in Donaueschingen zählten. Die Abreise Älterer und chronisch Kranker vereinheitlichte die Insassen hinsichtlich ihres (wehrdienstpflichtigen) Alters. Zugleich wurden Ausländer/ innen aus dem ehemaligen Lager im benachbarten Villingen nach Donaueschingen überführt. Daneben zeitigte die geringe Bereitschaft der Verwaltungsbehörden zu ihrer nachhaltigen, finanziellen Unterstützung im Winter eine Verschlechterung ihrer Versorgungssituation.
Erfahren und Beschreiben Verwaltungsberichte, Presseartikel und Erlebnisberichte aus dem Lager unterscheiden sich zum einen nach ihrer Autorschaft. Zum anderen ist in einem besonderen Maße der Zeitpunkt ihrer Entstehung zu beachten. Die folgenden zwei Einblicke in das Lager schildern die Erfahrungen Betroffener während der Wintermonate. Der Bericht eines Schweizer Reisenden und die in Frankreich publizierte Aussage einer ehemaligen Internierten skizzieren aber keineswegs nur ein Bild der Nöte und der materiellen Hilfsbedürftigkeit der Internierten. Sie zeigen zugleich, welche Übereinstimmungen und Unterschiede in den Wahrnehmungen und (Selbst-)Zuschreibungen zwischen ihnen und dem Amtsvorstand Schaible existierten. Am 10. Januar 1915 veröffentlichte die Pariser Tageszeitung Le Journal einen Beitrag des Schweizer Juristen Paul Balmer (1881–1977) in seiner Kolumne A Tra-
167 Müller, Politik und Gesellschaft im Krieg, S. 72. 168 Die Badische Presse berichtete, dass am 28. Oktober 1914 »[s]echzig Franzosen, ausschließlich Frauen, Kinder und ältere Männer« das Internierungslager verlassen haben, um in ihre Heimat zurückzukehren. Siehe: Sechzig Franzosen, in: Badische Presse, 29.10.1914 (Nr. 503, Mittagsausgabe). 169 U. a. findet dies Erwähnung in: Bad. BzA Karlsruhe an d. Bad. MdI, 10.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269.
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vers l’Allemagne.170 Er hatte die Rückführung deutscher und französischer Zivilisten durch die Schweiz begleitet und reiste im Anschluss daran von November bis Dezember 1914 durch Deutschland und Österreich. Vor den Stationen Straßburg, Frankfurt, Berlin, Prag und Wien führte sein Weg nach Donaueschingen, wo er unterstützt durch das Bezirksamt die Gelegenheit erhielt, das Internierungslager zu besichtigen. Unter dem Titel Le Camp de Concentration de Donaueschingen berichtete er den französischen Lesern von seinen Eindrücken, die bereits im gleichen Jahr als Teil des Reiseberichts Les Allemands chez eux pendant la guerre (de Cologne à Vienne) in Buchform erschienen.171 Die Genehmigung zum Besuch des Lagers erhielt er wohl von Alexander Schaible selbst, der seinen Gast begleitete und führte. Sie besichtigten zunächst die Baracken, die in Schlaf-, Ess- und Pausenbereiche unterteilt waren. Sodann bekam Balmer die Gelegenheit, mit den französischen und russländischen Insassen zu sprechen. Sie hätten ihm berichtet, dass sie zwar keine Kriegsgefangenen seien, aber es ihnen nicht besser als diesen erginge. Über die Unterkunft, die sauber und warm sei, wollten sie sich nicht beklagen. Allerdings sei die Lebensmittelverpflegung unzureichend und auf ein Minimum reduziert, sodass sie gelegentlich Hunger litten. Jeglicher Verdienstmöglichkeiten beraubt, hofften sie vor allem auf die finanzielle Unterstützung aus ihren Heimatländern. »Cela nous aiderait à vivre. L’hiver sera dur«,172 erklärte ihm einer der Internierten. Diese Forderung hätte der Amtsvorstand unterstrichen und gegenüber Balmer den Bedarf an Bargeld mit 20 Mark pro Kopf und Monat angegeben.173 Für die Erzählung über die Ausländer/innen war dies ein wichtiger narrativer wie handlungsleitender Wendepunkt. Denn die Adressaten der Not waren nicht länger ausschließlich die lokalen Akteure im Großherzogtum Baden. Ebenso wurden französische und russländische Akteure für die finanzielle Unterstützung verpflichtet und damit indirekt in die Verantwortung eingebunden. Die entscheidende Funktion des Bargeldes für die Lebensqualität des Einzelnen ermöglichte diese Verschiebung.174 Das ökonomische Kapital war auch im Krieg eine universelle Währung, die das Delegieren von Verantwortung erlaubte und erleichterte. 170 Paul Balmer, Le Camp de Concentration de Donaueschingen, 10.1.1915, in: Le Journal, Nr. 8141. Balmers Kolumne wurde wiederum in der deutschsprachigen Presse beachtet und kommentiert: Englische und französische Stimmungsbilder aus Deutschland und Österreich-Ungarn (28.1.1915), in: Das Echo. Organ der Deutschen im Auslande, Bd. 66 (Januar–Juni 1915), S. 152 f. 171 Paul Balmer, Les Allemands chez eux pendant la guerre (de Cologne à Vienne), Paris 1915. 172 Übers.: »Dies würde uns helfen zu leben. Der Winter wird hart werden.« 173 Balmer, Les Allemands, S. 30–34. 174 Die Funktion des Bargeldes wird auch in den Berichten von Arthur Eugster für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz betont. Über das Zivilgefangenenlager Rastatt schrieb er: »In der Kantine werden Kaffee, Milch, Würste etc. verkauft, auch können diejenigen, die Mittel besitzen, für 1 Mark ein gutes Mittagessen bekommen.« Siehe: IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster, Nationalrat (II. Reise), u. Dr. C. de Marval, Oberstleutnant (III. und IV. Reise), Mai 1915, S. 47.
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Dementsprechend trat in der Darstellung Balmers Alexander Schaible in die Position eines Vermittlers zurück. Er war mehr ein kurzer Wegbegleiter als ein zuständiger Beamter, der den Alltag und den Versorgungsstandard im Lager maßgeblich beeinflussen konnte. Während des Rundganges hatte Balmer keine Anhaltspunkte gefunden, dass der Amtsvorstand die Lage der Internierten beschönigen wollte. Er stand folglich in keinem grundlegenden Gegensatz zu der Barackengemeinschaft. Vielmehr fungierte er in dem Bericht als fürsorglicher und wohlwollender Patriarch. Die gezielte Abschiebung und die ebenso intendierte Trennung der Ausländer/ innen nach ökonomischen Gesichtspunkten verschwanden hinter der Schilderung einer isolierten Gemeinschaft von finanziell und sozial benachteiligten Ausländer/ innen. Während die Reichen, die Touristen und die Müßiggänger – »les riches, les touristes et les oisifs« – Wege gefunden hätten, vor Ausbruch der Feindseligkeit in ihre Heimat zu reisen, fand Balmer hinter den Donaueschinger Stacheldrahtzäunen von internationalen Vereinbarungen Ignorierte, die machtlos um ihre Würde rangen. Schließlich berichtete die frühere Internierte Elisabeth Delhay, geborene Kronenbitter, im Rahmen einer Vernehmung vor einer französischen Untersuchungskommission über ihre Eindrücke aus dem Lager.175 Nach eigener Aussage wurde sie am 28. Dezember 1914 mit ihren drei kleinen Kindern von Straßburg nach Donaueschingen deportiert. Dort fühlte sie sich isoliert und hilflos. Im Lager begegnete sie nur zwei französischen Staatsbürgern. Überdies erkrankten sie und ihre Kinder. Der zuständige Arzt vermittelte ihr den Eindruck, dass er ihre Sorgen um den Husten der Kinder nicht ernst nahm. Zwar sei sie gefragt worden, welche Bekleidung sie benötigten, gleichwohl erhielten sie keine. In dieser Situation empfand sie es als Glück, dass sie Bargeld bei sich trug, um ihre Kinder ausreichend zu ernähren. Ferner vermutete sie, dass die französische Regierung zur Unterstützung der Internierten Geld überwiesen hatte. Ende Januar oder Anfang Februar wurden sie wieder nach Straßburg entlassen und reisten kurz darauf nach Frankreich aus. Auch Elisabeth Delhays kurze Aussage erweiterte die in ihre Lebenswelt im Lager einbezogenen Akteure. Das eigene Bargeld und aus Frankreich kommende Hilfe treten dabei kontrastreich den angetroffenen Akteuren des Lagers gegenüber. Scharfsinnig erkannte der badische Innenminister, dass viele Internierte das Wagnis einer Flucht auf sich nahmen,176 »um sich dem sehr unbeliebten, in den Wintermonaten auch gesundheitlich nicht ganz unbedenklichen Aufenthalt in
175 Documents relatifs à la guerre, 1914–1915: Rapports et procès-verbaux d’enquête de la commission instituée en vue de constater les actes commis par l’ennemi en violation du droit des gens (décret du 23 septembre 1914), Bd. 2, Paris 1915, Dok.-Nr. 29, S. 32. 176 Ferner angesprochen bei: Balmer, Les Allemands, S. 33.
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den Militärbaracken zu entziehen«.177 Grundlegende Änderungen an den lokalen Rahmenbedingungen leitete er daraus jedoch nicht ab. Dass das Lager im Frühjahr 1915 aufgelöst wurde,178 hatte vor allem militärische Gründe. In den Baracken sollten vermehrt Soldaten eine Unterkunft finden. Amtsvorstand Georg Herrmann nannte am 8. Februar 1915 die Zahl von 70 Verbliebenen.179 Diese überwiegend russländischen Staatsangehörigen wurden anschließend nach dem militärisch verwalteten Zivilgefangenenlager Rastatt verbracht.180
Verantworten und Handeln In den Mitteilungen der Beamten, in Zeitungsnachrichten, Lesermeinungen und Erlebnisberichten finden sich aus Wahrnehmungen und Erfahrungen sowie situativem Handeln der Akteure geronnene, vielfältige Perspektiven auf die in Donaueschingen anwesenden Ausländer/innen. Die daraus folgenden Unterscheidungen waren Teil eines Wissens, anhand dessen militärische und zivilstaatliche Akteure, die Abschiebungen und Internierungen zu verantworten hatten, Entscheidungen trafen und die Lebensumstände der Betroffenen maßgeblich beeinflussten. Wie die unterschiedlichen Argumente des Innenministers, des Oberstleutnants, des Amtsvorstandes und des Rechtsanwaltes zeigen, unterlagen die Wissensbestände keinem Konsens. Der Protestbrief Erwin Schülins, die Verwaltungsschreiben Alexander Schaibles und die Besichtigung des Lagers durch den Innenminister verweisen auf Auseinandersetzungen über ein von den Akteuren geteiltes und akzeptiertes Wissen und daraus abgeleitete gleichartige Interpretationen. So unterschiedlich die Ausländer/innen beschrieben wurden, so vielfältig waren die Ziele der staatlichen Maßnahmen. Die Interessen der örtlichen Bevölkerung sollten nicht »verletzt oder gestört« werden. Spionage und Flucht galt es zu verhindern. Die notwendige Verpflegung der Mittellosen sollte sichergestellt werden. Bürgermeister Friedrich Schön stand bei einer umstrittenen Landtagsnachwahl in Donaueschingen im Dezember 1914 zur Wahl und musste dementsprechend darauf bedacht sein, das Lager nicht als konfliktträchtigen Gegenstand der Stadtpolitik in das Bewusstsein der Einwohner zu rücken.181 In gleichem Maße galt es seit August 1914, vor dem Hintergrund massenhafter Entlassungen und Lohnkürzungen sowie steigender Lebensmittelpreise, den Eindruck einer Bevorzugung der Ausländer/innen zu vermeiden.182 Weil das Lager damit im Interesse vieler staatlicher Akteure lag und von einigen Einwohnern ebenfalls vehement gefordert 177 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 23.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 178 Stv. Gkdo. XIV. AK an d. Garnisonskommando Donaueschingen, 27.3.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 179 Bericht d. Bad. BzA Donaueschingen an d. Bad. MdI, 8.2.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 180 Bad. MdI an d. Bad. BzA Donaueschingen, 31.3.1915, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 181 Müller, Politik und Gesellschaft im Krieg, S. 18–27. 182 Ebd., S. 16 f.
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wurde, hinterfragten es die betrachteten Protagonisten kaum. Für sie war es zu einer unveränderlichen Tatsache geworden. Aber das Donaueschinger Lager stellte wie viele andere Internierungsorte keine Gesetzmäßigkeit des Krieges dar, die über längere Zeiträume geplant, anschließend erprobt und nach Kriegsbeginn systematisch verwirklicht wurde. Weder die Infrastruktur der badischen Kleinstadt entsprach den Anforderungen an ein Internierungslager, noch waren die lokalen Verantwortungsträger auf die Unterbringung und Verwaltung der Ausländer/innen vorbereitet. Um die Internierung umzusetzen, mussten viele Akteure tätig werden und zusammenarbeiten, Entscheidungen treffen und diese umsetzen. Beamte und Ärzte, Landwehrmänner und Soldaten nahmen diesseits und jenseits seiner Grenzen Aufgaben und Funktionen wahr. Unter anderem handelten sie Verträge aus, stellten Regeln auf, gaben Passierscheine aus, untersuchten die Ankommenden, nahmen ihre Posten ein und wachten über die Lagergrenzen. Aus diesem Netz an Akteuren und Dingen, Handlungen und Praktiken entstand erst der Erfahrungsraum des Zivilinternierungslagers. Dies bedeutete wiederum nicht, dass die Handlungsweisen auf einem Konsens oder einer einheitlichen Wahrnehmung beruhten. Denn Widerstand innerhalb der badischen Verwaltung durch den Bürgermeister und den Stadtrat kamen ebenso vor wie der öffentliche Protest des Rechtsanwalts. Im Reisebericht Paul Balmers firmierten der Krieg und die Lage der Ausländer/ innen vor Ort als ein bemitleidenswertes Schicksal. Vor dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit der Internierung von Zivilisten in den kriegführenden Staaten war auch aus der Sicht dieses Außenstehenden das Barackenlager eine feststehende Tatsache, deren Bedingtheit sich den individuellen Reiseeindrücken und Gesprächen entzog. Dementsprechend standen für Balmer nicht die Abschaffung oder die Hinterfragung des Lagers im Vordergrund. Für ihn war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Insassen von zentraler Bedeutung. Die unterschiedlichen und sich entgegenstehenden Ansichten über das Lager verweisen auf fortwährend gebrochene Repräsentationen der Ausländer/innen. Diese zeigten sich nicht zuletzt Ende Januar 1915 in der überregionalen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und der katholischen Kölnischen Volkszeitung. Beide druckten einen Aufruf ab, der von Mitte September bis Mitte November 1914 von 2020 Ausländer/innen, die über das Deutsche Reich verteilt wohnten, unterzeichnet wurde.183 Sie wollten als »unparteiische Zeugen« gehört werden, lebten längere Zeit im Deutschen Reich, gingen ihren »friedlichen Berufen« nach und waren davon überzeugt, »daß Rechtlosigkeiten gegen Ausländer in Deutschland nicht vorgekommen sind«. Lediglich zu Kriegsbeginn sei es »wohl« zu Inhaftierungen »infolge der Erregtheit der Bevölkerung Spionen gegenüber« 183 Erklärung von Ausländern in Deutschland, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 29.1.1915 (Nr. 29, Erste Ausgabe) u. Kölnische Volkszeitung, 30.1.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 6, Dok.-Nr. 317, S. 216 f.
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gekommen. »[A]ber unseres Wissens ist, abgesehen von wenigen Fällen, in denen begründeter Spionageverdacht vorlag, jeder, der den friedlichen Zweck seines Hierseins nachwies, sofort wieder freigelassen worden[.]« Sie delegierten folglich die Verantwortung für Internierungen an die betroffenen Ausländer/innen. Diese Interpretation drängt sich nicht zuletzt in ihren Schlussworten auf. »Wenn die deutschen Behörden und die Bevölkerung sich in diesen Tagen den in Deutschland wohnenden Ausländern gegenüber anders verhalten haben als sonst in den Zeiten des Friedens, so ist es nur im Sinne erhöhter Fürsorge gewesen.«
Widersprechen und Beistehen Die Ereignisse in Donaueschingen ähnelten den Vorkommnissen im oberfränkischen Kulmbach. 337 russländische Staatsbürger/innen waren am 24. August 1914 auf Weisung des bayerischen Innenministers Maximilian von Soden-Fraunhofen aus dem Kurort Bad Kissingen nach der Festung Plassenburg bei Kulmbach abgeschoben worden. Gegenüber dem Bürgermeister der Stadt, Wilhelm Flessa (1858–1924), hatte der Innenminister seine Entscheidung mit dem Verweis auf das fortgesetzte Drängen des Regierungspräsidenten von Unterfranken und des Bürgermeisters von Bad Kissingen begründet. Für ihn habe es sich um einen Akt der Fürsorge gehandelt, da »die Russen mittellos und daher hilfsbedürftig im Sinne des Armengesetzes« waren und folglich »ihre Fortschaffung […] zu ihrem eigenen Schutze« sich als unumgänglich darstellte.184 Über den 16-tägigen Aufenthalt der »russischen Staatsangehörigen als Kriegsgefangene« legte der Kulmbacher Bürgermeister Rechenschaft ab.185 Die Denkschrift kann als nachträgliche Gegendarstellung zu der Perspektive des bayerischen Innenministers, des Kissinger Bürgermeisters und der Berliner Hauptstadtpresse gelesen werden. Sie hatten ihre Sichtweisen auf die Internierten bereits verwaltungsintern wie öffentlich dargelegt, als der Kulmbacher Bürgermeister zu Stift und Papier griff. Ein Telegramm des Bayerischen Ministeriums des Äußeren an das Reichsamt des Innern behauptete, dass »durchweg minderes publikum« abgeschoben worden
184 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Stadtmagistrat Kulmbach, 3.9.1914, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 185 Denkschrift betr. d. Verwahrung von 337 russischen Staatsangehörigen als Kriegsgefangene auf d. Plassenburg (24.8.1914–8.9.1914), in: HStA München, MInn 53981. Hubert Kolling verfasste anhand einer identischen Fassung der Denkschrift aus dem Staatsarchiv Bamberg einen Beitrag für den Sammelband Die Plassenburg. Zur Geschichte eines Wahrzeichens. Die Untergliederung der Denkschrift übernehmend, gibt er eine Zusammenfassung dieser und versammelt vier Fotografien, die die Internierten und das Wachkommando zeigen. Siehe: Hubert Kolling, Von Bad Kissingen nach Kulmbach. »Angehörige des feindlichen Auslandes« 1914 auf der Plassenburg, in: Günter Dippold u. Peter Zeitler (Hg.), Die Plassenburg. Zur Geschichte eines Wahrzeichens, Lichtenfels 2008, S. 151–164.
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sei, »weil [die] kissinger bevo[e]lkerung feindselig gesinnt« gewesen sei.186 Eine ähnliche Perspektive nahm der Berliner Lokal-Anzeiger ein. Die Zeitung titelte wenige Tage nach der Ankunft der ehemaligen Kurgäste: Bei den Russen in der Plassenburg.187 In der kurzen Meldung stand die Mittellosigkeit der russländischen Staatsangehörigen im Zentrum der Schilderung, und die Festung wurde als eine soziale Wohltätigkeitseinrichtung angepriesen. »Die bayerische Regierung hat sie auf der Plassenburg untergebracht – die längst nicht mehr Strafanstalt ist – und sorgt für ausgezeichnete Behandlung. Sie sind völlig frei, und jeder, für den Mittel eintreffen, kann sich von dort fortbegeben«, meldete der Lokal-Anzeiger. Ganz anders liest sich der Bericht Wilhelm Flessas. Nach ihm war eine schlechte gesundheitliche Verfassung für fast alle aus Bad Kissingen Ankommenden kennzeichnend. Vielfach seien transportunfähige Kurgäste, die ein ärztliches Attest besaßen, nach Kulmbach verwiesen worden.188 Mit dem Fokus auf dem Gesundheitszustand der Abgeschobenen eröffnete Flessa eine indirekte Auseinandersetzung um die Internierungsgründe. Er kritisierte und erweiterte im Zuge dessen innerhalb der bayerischen Verwaltungskorrespondenz die möglichen Entscheidungskriterien in Bezug auf den Umgang mit feindlicher Ausländer/innen. Ähnlich dem Oberamtmann Alexander Schaible vom Bezirksamt Donaueschingen verband der Königliche Hofrat Flessa seine Kritik an der Unverhältnismäßigkeit der Abschiebung und den schwierigen Rahmenbedingungen mit der Schilderung der eigenen Anpassungs- und Organisationsfähigkeit. Und trotz seiner Erfahrungen kondensierte er gleich dem badischen Beamten diese in der Formel: »c’est la guerre!«189 Bürgermeister Wilhelm Flessa erhielt erst am Nachmittag des 24. August 1914 Nachricht davon, dass von 400 in Frage kommenden Ausländer/innen in Bad Kissingen 337 für »reisefähig« erklärt worden waren und bereits auf dem Weg nach Kulmbach seien. Dessen ungeachtet sollte er am Kulmbacher Bahnhof »so viele Wagen wie möglich«190 für die Ankommenden bereitstellen. Diese Weisung hätte ihn misstrauisch gestimmt. »[D]er Verdacht, dass unter den Russen sich doch viele Transportunfähige befinden möchten«, veranlasste ihn, den Zug bereits in Lichtenfels zu inspizieren, wo sich sein Verdacht bestätigte. »Ein flüchtiges Durchgehen der Eisenbahnwagen überzeugte mich, dass tatsächlich eine ziemliche Zahl von alten Männern und Frauen gänzlich erschöpft und infolge von Herz- und Atembeklemmungen völlig hilflos da sassen bzw. lagen.« Infolgedessen wies er den Krankenhausarzt und eine Abteilung der Sanitätskolonne an, sich am Kulmba186 Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußeren (gez. i. A. Loessl), 25.8.1914, (Telegramm) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 54. 187 Bei den Russen in der Plassenburg, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 28.8.1914 (Nr. 435), Ztga. in: BArch Berlin, R 901/83547. 188 Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 15. 189 Ebd., S. 27. 190 Herv. im Org.
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cher Bahnhof bereitzuhalten. Die angeforderten Wagen standen aus »faktische[r] Unmöglichkeit« nicht zur Verfügung und die Ankommenden mussten einen Fußmarsch auf den Festungsberg zurücklegen. Obwohl bereits einige Personen in Kulmbach die Erlaubnis erhielten, das städtische Krankenhaus aufzusuchen, war der Weg vom Bahnhof zur Plassenburg für die meisten eine Tortour. »Die Sanitätskolonnen hatten vollauf zu tun. Da und dort stellten sich Herzkrämpfe bei Frauen und Schwächeanfälle bei alten Männern ein.« Versuchte der Bürgermeister diese Vorfälle noch mit dem Handgepäck der Ausländer/innen, »von dem sie sich nicht trennen wollten«, zu entschuldigen, fasste der Krankenhausarzt Dr. Herwig den Gesundheitszustand der Ankommenden als »schlecht« zusammen. »[E]twa 10 bis 15 Personen waren sogar schwer leidend, bei einigen bestand Lebensgefahr, ausserdem sahen 2 Frauen ihrer Niederkunft entgegen.«191 Bei den übrigen diagnostizierte er Herzleiden, tuberkulöse Verfassung, Brüche und »Erkrankungen des Verdauungs-Tractus«. Von 54 im militärpflichtigen Alter stehenden ehemaligen Kurgästen wollte er lediglich dreien die Wehrfähigkeit bescheinigen. Aus Sicht des Arztes entsprachen zudem die hygienischen Verhältnisse und die Ernährung nicht den Erfordernissen der Kranken. Unter diesen Umständen und aufgrund der Bestimmung des stellvertretenden Generalkommandos, kranken Ausländer/innen die Ausreise zu gewähren, erfolgte ab dem 2. September in Absprache mit dem Burgkommandanten und dem Arzt die Entlassung der Internierten. Nach mehreren Zwölfstundentagen für den Bürgermeister und seine Beamten hatten bis auf fünf russländische Staatsbürger alle die Stadt wieder verlassen. Der Arzt resümierte schließlich: »Ein wahres Glück bedeutete es für die Kranken, dass während der ganzen Internierungszeit ununterbrochen ein geradezu ideales Sommerwetter herrschte – sonst wären Zufälle der schlimmsten Art wohl unausweichlich geblieben.«192 Die Schlussfolgerungen des Arztes verwiesen auf die prekäre Lebenslage vieler Internierter auf der Plassenburg. Die Situation war keineswegs unveränderlich gewesen. Sie wurde beeinflusst durch willentlich herbeigeführte Rahmenbedingungen, die Ergebnisse akteursbezogener Interaktionen waren. Für den Bürgermeister galt die angeordnete Prämisse, »die Ausgaben für die baulichen Massnahmen auf das Allernotwendigste zu beschränken und im übrigen nur die zur Erhaltung des Lebens unentbehrliche Nahrung, Kleidung und Pflege zu gewähren«.193 Hatte bei Alexander Schaible die kalte Jahreszeit begonnen, die ungenügende Versorgung der Ausländer/innen aufgrund ähnlicher Vorgaben aufzudecken, so ließ das Sommerwetter in Kulmbach laut dem zuständigen Arzt die dortigen Missstände nicht sichtbar werden. In beiden Berichten firmierte das Wetter als ein Argument, das die Möglichkeitsgrenzen der verantwortlichen Akteure 191 Dr. Herwig zit. nach: Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 14. 192 Dr. Herwig zit. nach: Ebd., S. 15. 193 Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 1.
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aufzeigte. Die Berichterstatter benannten darüber hinaus eine entscheidende Rahmenbedingung, die Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen zeitigte. Zeitgleich versuchten die Internierten, die Rahmenbedingungen zu ihren Gunsten zu verändern. Noch in Bad Kissingen konnten sie zunächst ihre Ärzte von einer schriftlichen Eingabe an das Bayerische Kriegsministerium überzeugen, in der diese »[i]m Interesse unserer Schwerkranken« einen »Reiseaufschub« erbaten, »bis andere Bedingungen der Abreise gewährt werden.«194 Anschließend war es »[e]inigen gutbemittelten, schwer herzleidenden Frauen« gelungen, bei ihrer Ankunft in Kulmbach »für Geld und gute Worte ein Fuhrwerk für die Fahrt auf die Plassenburg zu erhalten«.195 Sodann hatten die »Patienten« ihre »aus den Kulmbacher Apotheken bezogenen zum Teil sehr teueren [sic] Medikamente […] selbst bezahlt, ebenso die Kosten für ärztliche Behandlung und für die auf ihr Verlangen eingerichtete ständige Sanitätswache«.196 Da viele Internierte Bargeld bei sich trugen, bewilligte das Bayerische Innenministerium schließlich auf dem Festungshof einen Verkaufsstand, »in welchem Südfrüchte, Obst, Eier, kondensierte Milch, Konditoreiwaren, namentlich Schokolade, Limonade und dergl.« bezogen werden konnten. Gerade die kondensierte Milch, ein gängiges Grundnahrungsmittel für Säuglinge und ältere Menschen, deutete auf die Bedeutsamkeit dieser Eigenversorgung für die »Familien mit kleinen Kindern«197 hin und relativierte den mutmaßlichen Luxus dieser Einrichtung.198 Zuletzt, als die Abreise von der Plassenburg organisiert werden musste, unterstützten die »gutsituierten Juden« ihre »unbemittelten Glaubensgenossen«, indem sie ihnen halfen, die Reisekosten zu bezahlen.199 Innerhalb ihrer Gemeinschaft wählten die (männlichen) Internierten ein Komitee, das als Ansprechpartner für den Bürgermeister und den Wachkommandanten und gleichzeitig als Interessenvertretung gegenüber diesen dienen sollte. Als der Regierungspräsident von Unterfranken die Plassenburg besuchte, stimmten die Frauen zudem ein »entsetzliches Klagegeheul« an, um ihrem Protest und ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.200 Die Sprecher der Internierten verfolgten eine entgegensetzte Strategie und bekundeten den Verantwortlichen ihr Wohlwollen und Wohlverhalten und versicherten ihnen, sie in ihre Gebete einzubeziehen.201 Die russischen Staatsangehörigen mobilisierten ferner weitere Akteure außerhalb der Festungsmauern für ihre Interessen. Sie erhielten erstens von deutschen wie 194 Dr. Muenz, Dr. Norvitzki, Dr. Bamberger, Dr. Dietz an d. Bay. KM München, 23.8.1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53983. 195 Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 7. 196 Ebd., S. 15. 197 Ebd., S. 10. 198 Ebd., S. 16. 199 Ebd., S. 13. 200 Ebd., S. 19. 201 Ebd., S. 8 u. 21.
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ausländischen Banken, Angehörigen, Verwandten und Bekannten Bargeld übersandt.202 Zweitens verfassten sie mehrere Briefe an staatliche Akteure. Eine »wohlstilisierte Eingabe« adressierten sie an den spanischen Botschafter in Berlin.203 Dieser telegrafierte daraufhin an das Auswärtige Amt und forderte, die Abschiebung umgehend zu widerrufen. Die »Panik ist gross«, und für viele Zivilisten sei die Abschiebung »geradezu lebensgefährlich«, fasste er die Situation in Kulmbach zusammen.204 Damit stellte er sich der Schilderung des Berliner Lokal-Anzeigers entgegen. Statt einer »ausgezeichneten Behandlung« zeichnete der Botschafter das Bild kranker und leidender Internierter. Seine Intervention hatte Erfolg. Am 3. September ließ der bayerische Innenminister von Soden ein Schreiben an den Stadtmagistrat von Kulmbach aufsetzen. Darin wurde den russländischen Staatsangehörigen die Abreise zugesichert, sofern sie über ausreichende Geldreserven verfügten, keiner »deutschfeindlichen Gesinnung verdächtig« seien und »mit ausreichenden Ausweisen versehen sind«.205 Den Schwerkranken sollte »jede tunliche Erleichterung, insbesondere auch durch Aufnahme in das städtische Krankenhaus«, gewährt werden. Der Innenminister betonte überdies, dass es »nicht nur selbstverständlich, sondern auch der ausdrückliche Wille des Staatsministeriums des Innern« sei, dass »keine Schwerkranken von dieser Maßregel betroffen werden sollten«. Als Verantwortliche für die entstandenen Missstände benannte er indirekt die Gutachten der Kissinger Ärzte, die einen gegensätzlichen Eindruck über den Gesundheitszustand der Kurgäste vermittelt hätten.206 Allerdings folgte Wilhelm Flessa auch in diesem Punkt nicht den Darlegungen des Innenministers. Er verteidigte in seiner Denkschrift die Einschätzungen der Ärzte und verwies auf die Verantwortung der abschiebenden Behörden. »[S]ehr viele der Kissinger Verschubungsausweise trugen auch den unmittelbar vor der Abreise mit Bleistift geschriebenen Vermerk: ›Bleibt da. Dr. Stobäus‹. Trotzdem waren die Inhaber solcher Verweise fortgeschafft worden.«207 Wilhelm Flessas argumentierende und beschreibende Intervention gegen die ministeriale und die Kissinger Darstellung der Ereignisse benannte die vielen Versäumnisse der Anderen. Obwohl sein eigenes Handeln in seinem Zuständigkeitsbereich dem gegenüber in den Hintergrund trat, kann sein Bericht ebenso als umfassende Legitimierungs- und Rechtfertigungsschrift betrachtet werden. Neben den benannten konflikthaften Rahmenbedingungen der Ausweisung und der fehlenden Informationen sticht aus dieser Perspektive das als improvisierend beschriebene Handeln hervor. Sowohl hinsichtlich der zügigen Einrichtung der 202 203 204 205
Ebd., S. 13. Ebd., S. 19. Note Verbale d. Embajadade Espana Berlin an d. AA, 25.8.1914, in: BArch Berlin, R 901/83547. Bay. SMdI an d. Stadtmagistrat Kulmbach, 3.9.1914, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 161. 206 Ebd. 207 Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 15.
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Festung mit Schlafstätten, Kantinenausstattung und Toiletten als auch im Umgang mit den Ausgewiesenen musste Flessa vielfältige situationsabhängige und kurzfristige Entscheidungen treffen. Als Orientierungspunkt galt ihm die Weisung, nur das »Unentbehrlichste« zu gewähren.208 In diesem Zusammenhang wird die Organisation der Internierung als ein Akt körperlicher Anstrengung für die Kulmbacher Beamten dargestellt, die viele Überstunden leisten mussten.209 Dahingegen verschwimmen die Verantwortungsbereiche und Handlungsspielräume des Bürgermeisters jenseits der Überführung der Kurgäste auf die Plassenburg. Er tritt in eine Beobachtungsposition zurück, aus der er die »Russengeschichte« niederschreibt. Eine Verschlechterung der Lebensbedingungen wurde offenbar durch die vielfältige Selbsthilfe der Internierten verhindert. Sie basierte erstens auf der unterschiedslosen Internierung der ehemaligen Kurgäste. Jene mit Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen konnten in dieser Hinsicht Benachteiligte unterstützen. Die Ausgewiesenen hatten demzufolge ihre ökonomische und soziale Verschiedenartigkeit weitgehend zurückgestellt. Zweitens wurden ihre Kommunikationswege nach außen nicht unterbunden. Dies stellte für die Mobilisierung der Selbsthilfe einen entscheidenden Vorteil dar. Für die verantwortlichen Akteure barg es das Risiko, dass Missstände öffentlich benannt wurden.
Ordnen und Erinnern Für den Kulmbacher Bürgermeister bestand die Gruppe der ehemaligen Kurgäste keineswegs nur aus Kranken und Hilfsbedürftigen. Zuerst handelte es sich um 136 Männer, 179 Frauen und 22 Kinder im Alter von 9 Monaten bis »70 Jahren und darüber«.210 Eine weitere Unterscheidung bemerkte er bereits am Abend ihrer Ankunft. Nachdem der Burgkommandant vor den Versammelten eine Ansprache gehalten hatte, in der er ihnen versprach, »dass sie alle im Falle ihres Wohlverhaltens gerecht und als Menschen behandelt [werden] würden«211, ergriffen die Internierten das Wort. »Einige Wortführer der Russen dankten in fliessender deutscher Sprache für die schonende Behandlung während des Aufstiegs auf die Burg.« Darüber hinaus erklärten sie, dass sie nicht »deutschfeindlich« gesinnt seien, »denn als Juden seien sie ja in Russland unterdrückt, geknechtet und entrechtet« worden. »Sehr viele von ihnen seien schon seit Jahren, manche seit Jahrzehnten Badegäste in Kissingen gewesen und als solche wüssten sie deutsche Sitte und Kultur hoch zu schätzen.«212 Die Aussagen fand der Bürgermeister in den übermittelten Verzeichnissen aus Bad Kissingen bestätigt, nach denen sich »lediglich 6 als Christen […] [bekannten]; alle übrigen waren Israeliten, darunter sicher mehr als 75 % 208 209 210 211 212
Ebd., S. 1 f. Ebd., S. 2, 20 u. 25. Ebd., S. 5. Burgkommandant zit. nach: Ebd., S. 8. Ebd., S. 8.
Provisorische Einquartierungen als vielfältige Herausforderungen
229
sogen. ›Streng- oder Rechtgläubige‹«.213 Er stellte weiterhin fest, dass die »Russen« zu einem »starke[n] Prozentsatz« sich zu den »Deutschrussen und Polen« zählten und »die übrigen sich auf das ganze europäische Russland [verteilten].«214 »Unter den Deutschrussen waren viele mit deutschen Frauen verheiratet und hatten ihre nächsten Angehörigen in Deutschland.« Vor den Augen des Bürgermeisters differenzierten sich die Internierten von den »gelehrten Ständen«, vertreten unter anderem durch Ärzte und Apotheker, über »einige bessere Kaufleute«, die »als gesellschaftsfähig in unserem Sinne angesprochen werden« durften, »bis herunter zum ›Schnorrer‹« aus.215 250 »Bemittelte« wiesen ihm bei ihrer Abreise 100.000 Mark in bar nach, und wenige »Unbemittelte« verfügten über weniger als 50 Mark. Während ihm einige der »reichen Jüdinnen« mit »unheimliche[n] Mengen« an Schmuck in »massigen Formen« auffielen, bewertete er »wenige junge Polinnen«, die »ihre nationalen […] farbenreichen Gewänder« trugen, als »vorteilhaft« gekleidet. Was alle in seinen Augen verband, war ihr fehlender »Reinlichkeitssinn«, der »namentlich beim Gebrauch gewisser Räume und Gefässe alles zu wünschen übrig liess«. Diese Geschichte der vielfältigen Wahrnehmungen des Hofrates, die in ihren sprachlichen Nuancen zeitgenössische Stereotype über »die Russen«, »die Polen« und »die Juden« widerspiegelten, zeitigte keine unmittelbaren Folgen für die Internierten. Eher verhinderte seine Einschätzung, nach der es sich bei vielen Ausländer/ innen um bemittelte Juden handelte, eine restriktivere Festungshaft. Denn in seinen Augen konnten Juden nicht deutschfeindlich gesinnt sein.216 Ein weiterer Topos bestimmte zugleich die Sicht auf die Ausländer/innen. Bereits die Bad Kissinger Saale-Zeitung unterrichtete ihre Leser/innen über die Haltung der Kurgäste zu ihrer Ausweisung. »Einige erregte Szenen seitens nervöser Frauen waren natürlich nicht zu vermeiden, im ganzen fügten sich aber alle in ihr gar nicht schreckliches Schicksal.«217 Ebenso notierte der Regierungspräsident von Unterfranken über die Abreise aus Bad Kissingen, dass »die Maßnahme nicht freudig begrüßt« wurde. »[Aber] immerhin ergaben sich die Beteiligten ruhig in ihr Schicksal, das sie ja doch selbst anders gar nicht erwarten konnten.«218 Und schließlich schilderte Wilhelm Flessa in seiner Denkschrift in ähnlichen Worten ihre Ankunft. »Wagen für Wagen wurde entleert, willenlos und geduldig fügten sie sich alle in die Anordnungen des Wachkommandos.«219 »Ihr Gehorsam hatte im Allgemeinen etwas sklavisches und kriechendes an sich«, empfand er das spätere 213 Ebd., S. 11. 214 Ebd., S. 7. 215 Ebd., S. 11 f. 216 Ebd. 217 Der Auszug von ca. 500 Russen, in: Kissinger Saale-Zeitung, 25.8.1914 (Jg. 69, Nr. 196). 218 Präsidium d. Reg. von Unterfranken u. Aschaffenburg (gez. v. Brettreich) an d. Bay. SMdI, 29.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 219 Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 6.
230
Ausweisen und Einquartieren
Verhalten der Internierten. »Für jede Vergünstigung bezeugten sie ihren Dank in überschwänglicher Weise.«220 Der wiederkehrende Verweis darauf, dass sich die Ausländer/innen ihrem »Schicksal« ergeben hätten, und der ausbleibende, vor allem physische Widerstand kennzeichnete sie zeitgenössisch als ungefährlich. Die vorgestellte und geforderte Ordnung wurde von ihnen nicht hintergangen. So entstand das Bild einer Gruppe, über die trotz verschiedenartiger Bedürfnisse und Verfassungen beliebig verfügt werden konnte. Die Verschiedenheit der Ausgewiesenen und ihre daraus resultierenden Bitten drängten den Bürgermeister zu kurzfristigen Entscheidungen. Aufgrund von Unsicherheiten wandte er sich telefonisch an das Innenministerium und wollte wissen, ob den »orthodoxen Russen rituelle Kost« gewährt werden dürfe, ob die »unverdächtigen« Ausländer/innen, die im Besitze genügender Mittel waren, abreisen könnten, ob der Spaziergang außerhalb der Festung zu gewähren sei, wer die Aufsicht über den Schriftwechsel übernähme, ob »insbesondere den Damen die Bedienung gestellt werden [könne], die zur Verrichtung der niedrigsten Dienste (Zimmerreinigung, Kübelentleeren) nötig ist«.221 Mit diesem Fragenkatalog delegierte er weitreichende Entscheidungen über den Alltag und die Lebensbedingungen in der Internierung an die vorgesetzte Behörde. Er manövrierte sich, ähnlich seinem badischen Amtskollegen Alexander Schaible, in eine Vermittlungsund Verkündungsposition. In dieser verantwortete er nicht, sondern teilte lediglich Antworten auf von ihm gestellte Fragen mit und vollzog sie. »Mit größter Spannung erwarteten sie [die Internierten, d. Verf.] meine Besuche; […] [w]ar etwas zu verkündigen, so gab der Trompeter oder der Trommler ein kurzes Zeichen«,222 charakterisierte Flessa selbst seine Stellung zu den Festungsinsassen. Aus einer Aktennotiz an den bayerischen Innenminister geht hervor, dass der Referent im Innenministerium eigenverantwortlich noch während des Telefonats die Fragen des Bürgermeisters »[u]nter ausdrücklichem Vorbehalte der Entscheidung des Herrn Ministers« beantwortete. Er erwiderte dem Hofrat, dass rituelle Kost gewährt werden könne und die Aussicht bestünde, dass die »vermöglicheren Russen« Bayern bald verlassen könnten. Über einen kurzzeitigen Ausgang aus der Festung, wenn »keine Belästigungen der Russen durch die Bevölkerung zu befürchten sind«, und über Postkontrollen sollte der Militärbefehlshaber entscheiden. Gegen die Stellung von Bediensteten hatte der Referent ebenfalls keine Bedenken.223 Die soziale und religiöse Heterogenität der Ausländer/innen wurde demzufolge von dem zuständigen Ministerialreferenten anerkannt und durch seine Entscheidungen berücksichtigt. Die einzelnen Gruppen innerhalb der Internierten220 Ebd., S. 17. 221 Aktennotiz betr. Unterbringung d. Russen auf d. Plassenburg (gez. Brand), 25.8.1914, in: HStA München, MInn 53983. 222 Flessa, Denkschrift betr. d. Verwahrung, S. 17. 223 Ebd.
Provisorische Einquartierungen als vielfältige Herausforderungen
231
gemeinschaft konnten ihre Lebensweisen beibehalten und mussten sich nicht ausschließlich nivellierenden Regelungen unterwerfen. Die Trennung von zivilen und militärischen Entscheidungen und Bestimmungen für die Plassenburg verwies auf das komplexe Geflecht aus Akteuren, die in den Lageralltag hineinwirkten. Nur am Rande tauchte hierbei ein für Bad Kissingen entscheidender Akteur auf: das Publikum. Von Besuchen der Stadt Kulmbach durch die Internierten berichtet die Denkschrift Wilhelm Flessas nicht. Kurze Ausgänge wurden ihnen nur in die nähere Umgebung der Festung gestattet. Der Kontakt zu städtischen Einwohner/innen beschränkte sich wohl auf das Ankommen der Ausgewiesenen. »Die Bevölkerung von Kulmbach war wohl vollzählig auf den Beinen«, erinnerte sich Flessa. »Wie eine Mauer stand sie durch alle Strassen im dichten Spalier. Kein Lärm war hörbar, geschweige denn rohe Zurufe oder sonst dergleichen.«224 Das stumme Bild erinnert an die Szene der Abreise aus Bad Kissingen. Doch anders als in dem »Weltbad« waren die russländischen Staatsangehörigen nicht in das kulturelle und ökonomische Leben der Stadt integriert. Sie kamen nicht als umworbene Gäste und verließen die Kurhotels als unerwünschte Ausgewiesene. Die am Kulmbacher Bahnhof aus den Wagons Aussteigenden waren zwangsweise Zugewiesene, anonyme Reisende in Folge vieler Entscheidungen bayerischer Verantwortlicher. Der Rechenschaftsbericht des Kulmbacher Bürgermeisters, der sich in andere Rapporte Verantwortlicher einreihte, verweist auf einen Moment der Kontrolle und Bilanzierung innerhalb der staatlichen Administration. Die situativ getroffenen Entscheidungen fanden ihre Rechtfertigung nicht allein im Zustand der Improvisation in den ersten Tagen des Krieges. Sie erforderten eine weitergehende Darlegung. Ihre Einordnung erschloss sich schließlich keineswegs nur aus der Beschreibung der Ereignisse im Spätsommer 1914. Wilhelm Flessa war in diesem Sinne der erste Chronist, der über die Internierung auf der Plassenburg berichtete. Er verfasste eine Geschichte und setzte sie in eine Traditionslinie. Er ordnete die Internierten und verortete das Ereignis in der Geschichte Kulmbachs. Schon einmal hätten »Russen« im Zuge des Österreichischen Erbfolgekrieges 1740 bis 1748 Kulmbach durchzogen.225 Die betrachteten Internierungen stellten ein narratives und praktisches Versuchsfeld dar, dem keine entsprechenden Pläne zugrunde lagen und für welches keine adäquaten Erfahrungen aus der Verwaltungspraxis existierten. Die Verantwortlichen entwarfen im Zuge kurzfristiger Ausweisungen zivilverwaltete Internierungslager weder als repressive Maßnahme gegenüber Einzelnen noch als Vergeltung gegenüber Staaten. Sie agierten meist unter der Prämisse des geringsten finanziellen Aufwandes. Die eilig eingerichteten Lager galten als ein kostengünstiger Weg, eine Vielzahl an Mittellosen mit dem Notwendigsten zu versorgen. 224 Ebd., S. 7. 225 Ebd., S. 27.
232
Ausweisen und Einquartieren
In den Barackenlagern wie Festungen gestalteten lokalstaatliche Akteure in einer Krisensituation Möglichkeiten des Umgangs mit feindlichen Ausländer/innen. Sie planten wiederum vor dem Hintergrund geringer finanzieller, personeller oder materieller Ressourcen die provisorisch hergerichteten Unterbringungsmöglichkeiten als kurzlebige Einrichtungen. Der heraufziehende Herbst 1914 ließ deshalb die engen Grenzen und die vielen Mängel der Internierungsstätten sichtbar werden.
Verbotene Orte und unerwünschte Aufenthalte Als im November des Jahres 1914 eine baldige militärische Entscheidung des Krieges in unabsehbare Ferne rückte, unterzeichnete der Chef des stellvertretenden Generalstabes der Armee, Kurt von Manteuffel, einen für feindliche Ausländer/ innen folgenschweren Erlass. Er legte für sie verwehrte Aufenthaltsorte fest, die sie innerhalb weniger Tage verlassen mussten. Unter anderem handelte es sich um die Städte Bremen, Breslau, Danzig, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a. M., Hamburg, Köln, Königsberg i. Pr., Leipzig, Mannheim, Potsdam und Straßburg.226 Von Manteuffel begründete den Erlass vom 10. November 1914 mit dem Verweis auf »militärische Gründe«. Dementsprechend hatte er darin reichsweit kritische Militärbezirke benannt. Die zukünftigen Wohnorte der Betroffenen ließ er dagegen offen. Somit entzog er einerseits lokalen militärischen wie zivilen Akteuren die Entscheidung über etwaige Ausweisungen aufgrund einer militärischen Gefahr. Andererseits übertrug er ihnen die Verantwortung, die ausgewiesenen Ausländer/ innen weiterhin wirksam gemäß den mitgeteilten Vorschriften zu kontrollieren und nötigenfalls ihre Unterkunft und Versorgung sicherzustellen. Damit einhergehend gewährte von Manteuffel Handlungsspielräume für die Marine-Stations-Kommandos und die stellvertretenden Generalkommandos sowie das Oberkommando in den Marken. Obwohl die »Angehörigen aller Staaten, mit 226 Erlass d. Chefs d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel), hier an d. Säch. KM, 10.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 1 f. u. in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 80 f. Zusätzlich handelte es sich um die Orte: Allenstein, Alsen und Nordfriesische Inseln, Baden-Oos, Befestigungen der masurischen Seen, Culm, Darmstadt, Düren, Elbing, Emden, Friedrichshafen, Glatz, Glogau, Gotha, Graudenz, Liegnitz, Nordseeküste und vorgelagerte Inseln einschl. Fehmarn, Rostock, Kiel, Lahr, Lübeck, Marienburg, Metz-Diedenhofen, Neu-Breisach, Neumünster, Nordostseekanal, Elb- und Wesermündung bis Hamburg bezw. einschl. Bremen, Oberrheinbefestigungen, Ostseeküste einschl. Insel Rügen, Posen, Schneidemühl, Spandau, Stettin, Thorn, Trier, Wilhelmshafen. Für Königsberg wurde die entsprechende Maßnahme bereits am 6. November bekanntgegeben: Bkm. d. Gouverneurs v. Königsberg, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 6.11.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 418, S. 263. Über die Ausweisungen berichtete u. a. die Jüdische Rundschau. Siehe: Die Ausweisung der russischen Juden aus Leipzig u. Ausländerausweisungen, in: Jüdische Rundschau, 4.12.1914 (Nr. 49).
233
Verbotene Orte und unerwünschte Aufenthalte
denen wir uns im Kriegszustande befinden, […] ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht« ausgewiesen werden sollten, legte er es in die Hände der Militärkommandeure vor Ort, über Ausnahmen zu entscheiden. Diese sollten in der Regel »auf amtsärztlich bescheinigte schwere Krankheitsfälle« beschränkt werden. Aber darüber hinaus konnte der Verbleib im militärischen Sperrbezirk ebenso für Personen, »die sich seit vielen Jahren in Deutschland befinden, und für deren deutschfreundliche Gesinnung und Betätigung angesehene Deutsche volle Bürgschaft übernehmen«, in Betracht gezogen werden. Mit diesen Richtlinien wurden in den ersten Kriegsmonaten formulierte Argumente und angewandte Verfahren aufgegriffen, nachträglich legitimiert und über Armeekorpsgrenzen hinweg in Geltung gesetzt. Der Erlass bestätigte gleichzeitig die militärische Hoheit über Entscheidungen in Einzelfällen. Die Rolle der Zivilverantwortlichen vor Ort sollte sich auf gutachterliche Äußerungen und gegebenenfalls das Ausstellen eines ärztlichen Attestes beschränken.227 Auf den beträchtlichen Umfang, den damit verbundenen Arbeitsaufwand und die Bedeutung der Ausnahmegenehmigungen verweist in diesem Zusammenhang das Beispiel der sächsischen Landeshauptstadt. In Dresden stellten Gesuche um Befreiung von der Ausweisung keinen Sonderfall dar. Von 1445 betroffenen Zivilisten richteten 1228 eine schriftliche Eingabe an das Militärkommando. Hierbei stand im Falle einer Ablehnung den Antragssteller/innen die Möglichkeit offen, Widerspruch einzulegen und ein zweites Entscheidungsverfahren in Gang zu setzen. Im Weiteren zeigte sich, dass viele Aufenthaltsgesuche Aussicht auf Erfolg hatten (Tab. 4).228 Von den 1228 Anträgen feindlicher Ausländer/innen bewilligten die Militärbeamten allein im ersten Verfahren 144 aufgrund von Krankheit und 905 infolge von Bürgschaften. Tabelle 4: Zusammenstellung der ausgewiesenen und in Dresden befindlichen Ausländer/ innen, 9. Februar 1915 Staatsangehörigkeit (erwachsene Personen beiderlei Geschlechts)
russ länd.
briti sche
franz.
belgi sche
serbi sche
japan.
insge samt
nach Kriegsbeginn Anwesende:
1.416
446
71
29
12
4
1.978
seit Kriegsbeginn bis November 1914 Zugezogene:
268
18
3
3
—
—
292
bis November 1914 aus Dtl. Ausgereiste:
512
227
8
6
6
3
762
227 Zum Verfahren im Großherzogtum Baden siehe: Protokoll Besprechung im Bad. MdI (Referent u. Major Varrentrapp), 15.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 228 Tabellarische Zusammenstellung d. ausgewiesenen u. in Dresden befindlichen feindlichen Ausländer, 9.2.1915, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 25 f.
234
Ausweisen und Einquartieren Staatsangehörigkeit
(erwachsene Personen beiderlei Geschlechts)
russ länd.
briti sche
franz.
belgi sche
serbi sche
japan.
insge samt
—
63
—
—
—
—
63
1.172
174
66
26
6
1
1.445
Ausweisungsbefehl oh ne Gesuche befolgt:
184
30
1
2
—
—
217
Gesuche um Aufent haltsgenehmigung:
988
144
65
24
6
1
1.228
genehmigte Gesuche wegen Krankheit:
111
26
4
3
—
—
144
genehmigte Gesuche wegen Bürgschaft:
745
95
43
19
2
1
905
abgelehnte Gesuche:
132
23
18
2
4
—
179
infolgedessen verlie ßen Dresden:
98
17
14
1
2
—
132
nochmalige Gesuche:
34
6
4
1
2
—
47
genehmigte zweite Gesuche:
26
4
3
1
—
—
34
abgelehnte zweite Gesuche:
8
2
1
—
2
—
13
infolgedessen verlie ßen Dresden:
nach d. Lager Ruh leben (männliche) Überführte: in Dresden im Novem ber 1914 Anwesende:
8
2
1
—
2
—
13
freiwillige Abreise, trotz Aufenthalts genehmigung:
41
7
2
7
—
1
58
nach Ruhleben oder Holzminden Überführte:
—
9
20
—
—
—
29
endgültig in Dresden Verbleibende:
841
109
28
16
2
—
996
von diesen unter Kontrolle:
729
79
26
11
2
—
847
von der Kontrolle Befreite:
112
30
2
5
—
—
149
Anwesende unter 15 Jahren:
181
20
15
4
2
—
222
Quelle: Zusammenstellung d. ausgewiesenen u. in Dresden befindlichen feindlichen Aus länder, 9.2.1915, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 25 f.
Verbotene Orte und unerwünschte Aufenthalte
235
Die Ausgewiesenen sahen sich mit Polizeikontrollen in ihrem Abreise- und Ankunftsort konfrontiert. Ihre selbst- oder fremdbestimmte Ortswahl war im Allgemeinen auf den jeweiligen militärischen Korpsbezirk beschränkt und hing mit ihrem sozialen und ökonomischen Status zusammen. Denn nur wer als finanziell unabhängig galt, konnte über seinen zukünftigen Wohnort frei entscheiden. Aus der Sicht jener, die nicht auf staatliche Fürsorge angewiesen waren, schilderte die australische Staatsbürgerin Ethel Cooper ihre Überlegungen. Sie wohnte in der sächsischen Messestadt Leipzig und wartete Anfang Dezember 1914 bereits mehrere Wochen auf ihren Ausweisungsbescheid. Schwer klagte sie gegenüber ihrer Schwester Emmie Bevan Carr. »We can’t go to Halle or Weimar, or any place outside the district of the 19th Army Corps, so that we are limited to villages like Grimma, and Wurzen, and one or two manufacturing towns like Chemnitz and Riesa. Most of them are going to Chemnitz, as it is the biggest, and has at least a library and a theatre, but it sounds to me deadly.«229 Anders erging es Ausländer/innen, die nicht über die finanziellen Mittel zum selbstständigen Wohnortswechsel verfügten. Ihnen sollte nach von Manteuffels Erlass lediglich ein neuer Aufenthaltsort zugewiesen werden. Eine gemeinsame Unterbringung oder Internierung sah er nicht explizit vor. Aber unter den bereits skizzierten Prämissen der Kontrolle und Kostenvermeidung äußerten viele Militärverantwortliche darüber keine Zweifel. Im Falle des Großherzogtums Baden betrafen die (erneuten) Ausweisungen mehr als 246 »mittellose« Zivilisten, die kurzfristig auf dem Truppenübungsplatz Heuberg interniert wurden. Dort trafen sie auf Kriegsgefangene. Am 2. Dezember musste schließlich für das militärverwaltete Lager aus Kapazitätsgründen ein Aufnahmestopp verhängt werden.230 In Verbindung mit der Internierung britischer und später französischer Wehrpflichtiger im November und Dezember 1914 und ihrer Überführung in gesonderte Zivilgefangenenlager war ein folgenschweres, kriegsbedingtes Ordnungsmodell im Umgang mit feindlichen Ausländer/innen geschaffen worden. Einsprüche zivilstaatlicher Akteure gegen die militärischen Bestimmungen blieben gleichwohl nicht aus. Beispielsweise beklagte der Oberbürgermeister von Düsseldorf, Adalbert Oehler, Schwierigkeiten bei den geforderten Ausweisungen. Er führte einleitend die fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten im Zielort Remscheid an. Nur »für etwa 5 bis höchstens 10« von »etwa 120 bis 150« mittellosen Familien konnten die dortigen Behörden Wohnraum zusagen. Infolgedessen sorgte er sich darum, dass »[d]ie übrigen Familien […] ihr Mobiliar hier lassen müssen«. Da die Vermieter dieses materielle Eigentum wohl auf die Straße stellen würden, 229 Cooper, Behind the Lines, Letter 19 (6.12.1914), S. 45 f. 230 Aktennotiz u. Bad. MdI an d. Bad. BzÄ, 2.12.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
236
Ausweisen und Einquartieren
sei die Stadt in Bälde »genötigt«, »aus Gründen der Menschlichkeit« dieses zu verwahren. Die daraus entstehende Mehrbelastung für die Verwaltung lehnte er ab. Der Oberbürgermeister erkannte des Weiteren mit Blick auf die einzelnen Betroffenen gewichtige Gründe, die gegen eine Ausweisung sprachen. So sei eine große Zahl der 297 Männer, 279 Frauen und 666 Kinder »seit langen Jahren in Deutschland ansässig«. Viele Männer hätten »deutsche Frauen« geheiratet. »Eine ganze Anzahl hat zwar die belgische Nationalität noch beibehalten, ist aber hier in Deutschland geboren und in jeder Beziehung unverdächtig und harmlos; sie haben zu Belgien keine weiteren Beziehungen, als den förmlichen Staatsangehörigkeitsausweis.« Mit dieser Einschätzung setzte er sein lokales Wissen und seine Erfahrungen der militärischen Lagebeurteilung entgegen. Zugleich stellte er – wie viele andere – das formale Kriterium der Staatsbürgerschaft als Loyalitätsgarantie in Frage. Zum Schluss wies Oehler auf die wirtschaftlichen Folgen der Ausweisungen hin. »Eine Anzahl von Geschäften und Fabriken würden auch in Verlegenheit kommen, da ihnen fleißige ordentliche Leute entzogen werden; sie können nicht ohne weiteres ersetzt werden, da es arbeitsfähige und arbeitswillige Leute hier kaum gibt.«231 Mit diesem argumentativen Dreischritt aus vorhandenem Hausrat, einem ständigen Aufenthalt in Deutschland und der Integration in die Düsseldorfer Wirtschaft hinterfragte er die Ausweisungen als sicherheitspolitisch vernünftige Maßnahme. Indem er in den ausländischen Zivilisten nicht nur Spione und Saboteure, sondern umfänglich integrierte Einwohner/innen erblickte, erweiterte er die militärisch verengende Perspektive auf sie. In seinen Augen gefährdeten die Ausweisungen sogar die Stadtgemeinde. Adalbert Oehler entwarf deshalb einen Kriterienkatalog, der die Unbedenklichkeit ausländischer Staatsangehöriger garantieren sollte und der unterschiedslosen Ausweisung eine differenzierte Einzelfallbetrachtung entgegensetzte.232 Demzufolge hätte eine Geburt in Deutschland, ein langer Aufenthalt im Inland, die Heirat einer deutschen Staatsbürgerin, eine feste Anstellung und Bürgschaft des Arbeitgebers oder Grundeigentum wie der Besitz von Gewerbebetrieben die Ausländer/ innen vor einer Ausweisung bewahrt.233 Der militärische Ausweisungserlass provozierte folglich ein Nachdenken über Loyalitätskriterien für fremde Staatsangehörige und stieß Überlegungen an, wie ein daran anknüpfender Abwägungsprozesses administrativ ausgestaltet werden könnte. Ob diese vorgebrachten Einwände von den Militärbehörden zur Jahreswende 1914/15 berücksichtigt wurden, muss offenbleiben. Allerdings kann für die weiteren Kriegsjahre festgestellt werden, dass
231 Polizeiverwaltung (Ober-Bürgermeister) Düsseldorf an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 24.11.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 39 f. 232 Ebd. 233 Siehe das Kapitel Identifizieren und Überwachen.
Verbotene Orte und unerwünschte Aufenthalte
237
Argumente für das reibungslose Funktionieren der Kriegswirtschaft immer stärker an Bedeutung gewannen und die Gewährung von Ausnahmen üblich wurde.234 Wie der Düsseldorfer Bürgermeister wandte sich der Amtsvorstand des Bezirksamtes Baden, Heinrich von Reck, gegen den Ausweisungsbeschluss. Er kritisierte besonders die Prämisse der Spionageabwehr in den militärischen Sperrbezirken. »Dadurch, daß wir die Angehörigen feindlicher Staaten hier auf den Stadtbezirk beschränkten, dürfte jeder Mißbrauch der Aufenthaltsberechtigung hier sowie jede Gefährdung der Luftschiffhalle in Oos ausgeschlossen gewesen sein«, stellte er heraus.235 Gerade die Ausweisung aus der Stadt »ohne jeden Unterschied« erschwere diese Überwachung. »Nun sollen sich diese Leute über ganz Deutschland zerstreuen. Sie gelangen dabei in Orte, die wohl ohne Zweifel für die Überwachung weniger geeignet sind als Baden und wo auch die Behörden und deren Organe sowie die Bevölkerung mit Ausländern weniger umzugehen wissen wie hier.« Der vertraute Kontakt zu den seit längerer Zeit anwesenden Ausländer/ innen war für von Reck eine wichtige Voraussetzung für deren Überwachung. Darüber hinaus identifizierte auch er die Geburt in Deutschland oder den jahrzehntelangen Aufenthalt in Baden als einen wichtigen Vertrauensmoment. Ihm erschloss sich deshalb die Ausweisung jener, »an deren Harmlosigkeit kein Zweifel obwalten kann«, nicht. Mit seiner Intervention eröffnete er einen argumentativen Möglichkeitsraum, indem er der Zivilinternierung als sicherheitspolitische Maßnahme eine zivilstaatliche Alternative zur Seite stellte. In diesem Sinne hielt er die gemeinsame Unterbringung der militärischen Kriegsgefangenen, die sich dem geläufigen und längerfristigen Kontakt entzogen, weiterhin für notwendig. Der Amtsvorstand sah sich ferner veranlasst, die betroffenen Ausländer/innen als Wirtschaftsfaktor bezüglich des Gasthofgewerbes in den Vordergrund zu rücken. Denn »in weiteren Kreisen der hiesigen Bevölkerung« hätte die Ausweisungsanordnung »Befremden erregt«. Obwohl »Vergeltungsmaßnahmen begrüßt werden«, könnten viele städtische Bürger nicht verstehen, »weshalb z. B. Städte wie Bruchsal, wo doch eine Garnison ist, und Pforzheim für die Unterbringung der Fremden geeigneter sein sollen«. Damit erschien von Reck auch »eine Repressalie gegen die fremden Staaten«236 verfehlt. Viele Bürgermeister, Landräte und Bürger votierten wie er und Adalbert Oehler gegen die Ausweisungen ausländischer Staatsangehöriger, solange sie als wohlhabend galten, Finanzvermögen nachweisen konnten oder eine ökonomische Bedeutung besaßen. Anders gestaltete sich die Situation in den neuen Aufenthaltsorten, die nicht zu den militärischen Sperrbezirken zählten. Dort folgten auf den Zuzug meist Klagen. Zum Beispiel war laut den Beamten des Bezirksamtes Pforzheim die Zahl der 234 Siehe ebenso das Kapitel Einschränken und Entrechten. 235 Bad. BzA Baden (gez. Heinrich v. Reck) an d. Bad. MdI, 21.11.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 236 Herv. im Org.
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Ausweisen und Einquartieren
ausländischen Staatsangehörigen in der circa 69.000 Einwohner/innen zählenden Stadt von 61 auf 201 Personen gestiegen. »Da Pforzheim die einzige größere Stadt Badens ist, nach welcher feindliche Ausländer zureisen können«, erklärten sie, »so ist die Zahl derselben hier erheblich angewachsen und droht, zumal die Zahl der mittellosen Ausländer eine immer bedeutendere wird, einen für die hiesigen Verhältnisse unerträglichen Umfang anzunehmen, da hier am allerwenigsten Gelegenheit zu Arbeit und Verdienst gegeben ist.«237 Als Ankommende gerieten sie sogleich in den Verdacht, die städtische Armenkasse zu belasten und für ansässige Einwohner zu einer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu werden. Ihr Zuzug konnte zugleich bei der Bevölkerung auf Widerstand stoßen. Die Ausgewiesenen wurden wie die Ankommenden zu einer öffentlichen Angelegenheit, die weit mehr als die städtischen Behörden betraf. Über das östlich von Leipzig gelegene Wurzen berichtete das Mittweidaer Tageblatt, dass »sich in der Bewohnerschaft bereits starke Mißstimmung gegen die ungebetenen Gäste, meist Russen, geltend« mache. Die Stadtverordneten empfahlen daraufhin den Grundstücksbesitzern, »sich gegen derartige Mieter ablehnend zu verhalten, dann würde sich ein längerer Aufenthalt der Ausländer von selbst verbieten«.238 Die Deutsche Tageszeitung informierte ihre Leser/innen über eine schwelende Missstimmung im sächsischen Chemnitz und Freiberg. Dort »wird lebhaft geklagt, dass […] die Russen sich in Gastwirtschaften und Kaffeehäusern umhertrieben, sich rücksichtslos auf den Bürgersteigen bewegten und durch dreistes Benehmen die Bevölkerung störten«.239 In Löbau in der Oberlausitz sahen sich die verweilenden russländischen Staatsangehörigen aufgrund solcher Stimmungswahrnehmungen mit einer abendlichen Ausgangssperre belegt. »Denn sie verhindert,« wusste der Stadtrat, »daß die Russen abends Vergnügungslokale und Schankstätten aufsuchen, daß sie sich dem Alkoholgenuß hingeben können. Dadurch können leicht Händel- und Stechereien entstehen. Das Publikum will eben nicht mit den Angehörigen der Staaten an einem Biertisch sitzen, die unsere Landsleute nach Sibirien schicken.«240 237 Bad. BzA Pforzheim (Amtsvorstand Franz Keim) an d. Bad. MdI, 28.12.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23186. 238 Meldung, in: Mittweidaer Tageblatt, 19.12.1914 (Nr. 294), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3347b, Bl. 18. 239 Urspr. Zeitungsmldg.: Leserbrief (Sprechsaal, ohne Verantwortung d. Redaktion), in: Freiberger Anzeiger, 16.4.1915 (Nr. 86), Ztga. in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 8. Abdruck ebenfalls in: Die lieben Russen, in: Chemnitzer Neueste Nachrichten, 17.4.1915, Ztga. in: Ebd., Bl. 1. Der Zeitungsartikel der Deutschen Tageszeitung kursierte ebenfalls auf den Fluren des Berliner Kriegsministeriums und löste eine Anfrage an die sächsischen Behörden aus: Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich) an d. Sächs. KM, 8.5.1915; wtgl. an d. stv. Gkdo. XII. AK, 12.5.1915, in: Ebd., Bl. 7 u. Stv. Gkdo. XII. AK an d. Stadtrat zu Freiberg, 13.5.1915, (Ent.) in: Ebd. 240 Stadtrat d. Stadt Löbau an d. Sächs. KrhM Bautzen, 10.1.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 54.
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Die Verfügung des stellvertretenden Generalstabes der Armee aktualisierte folglich die Ausländer/innenfrage. In den betroffenen Städten und Gemeinden wurde einmal mehr die Anwesenheit ausländischer Staatsangehöriger zum Gegenstand verwaltungsinterner und öffentlich ausgetragener Diskussionen. Misstrauen gegenüber den fremden ›Feinden‹ und finanzielle Bedenken ähnelten den vorgebrachten Argumenten der ersten Kriegswochen. Dabei erfassten die Ausweisungen eine Vielzahl an Ausländer/innen, die bis November 1914 nur den Kontroll- und Meldebestimmungen unterworfen waren. Nicht wenige auf öffentliche Unterstützung Angewiesene fanden sich plötzlich an Internierungsorten wie dem Truppenübungsplatz Heuberg oder dem sächsischen Burgstädt wieder, das zum Ziel für jene wurde, die die sächsische Messestadt Leipzig verlassen mussten.241 Ethel Cooper, die als australische Staatsbürgerin von der Maßnahme in Leipzig nicht betroffen war, bildete eine Ausnahme unter ihren Bekannten, die als Nicht-Unterstützungsbedürftige meist in Chemnitz eine Bleibe fanden. Weil die Bestimmungen ebenfalls den Passus enthielten, dass »[m]ittellosen Personen« der Aufenthaltsort zu bestimmen sei, erwuchs sächsischen Behörden ein neues Aufgabenfeld.242 Nachdem die Beamten der Kreishauptmannschaft Leipzig verschiedene Möglichkeiten ausgelotet hatten, entschieden sie sich für das südöstlich von Leipzig gelegene Burgstädt. Um die Unterstützungsbedürftigen dort ab dem 14. Dezember 1914 zu internieren, mieteten sie in der Bahnhofstraße 5 ein leerstehendes Fabrikgebäude der Chemnitzer Stanzwerke G.m.b.H. an.243 Der Kreishauptmann Curt von Burgsdorff (1849–1922) begründete die Wahl mit mehreren Erwägungen. Erstens böten die zur Verfügung stehenden Fabrikräume die Möglichkeit, das Lager »je nach Bedarf« zu erweitern. Zweitens beherberge die Stadt einen »technische[n] Beamtenapparat« und verfüge über eine eigene Schutzmannschaft. Drittens war Burgstädt an das sächsische Eisenbahnnetz angeschlossen. Durch diese Rahmenbedingungen sei die Unterbringung und die Überwachung der Ausländer/innen im zur Straße abgeschlossenen Gebäude wesentlich erleichtert worden. Darüber hinaus spielte die ermittelte, aber potenziell infrage stehende Staatsangehörigkeit der zu Internierenden für die »Gestaltung des […] zu bietenden Unterkommens« eine »wesentlich[e]« Rolle. So seien die Ausländer/innen »meist Russen, doch sind auch eine Anzahl Franzosen darunter«, erläuterte der Kreishauptmann.
241 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (Frhr. v. Manteuffel) an d. Sächs. KM, 10.11.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 1 ff. 242 Sächs. KrhM Leipzig an d. Bahnhofskommandantur Leipzig, 10.12.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 142 f. 243 Sächs. KrhM Leipzig (gez. v. Burgsdorff) an d. Sächs. MdI, 21.12.1914, in: HStA Dresden, 10736/3347b, Bl. 151 ff.
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»Vielfach sind es Frauen deutscher Abstammung, die durch Verheiratung eine fremde Staatsangehörigkeit erlangt haben, das Ausland selbst überhaupt niemals gesehen und ihre und ihrer Kinder Lebensführung und -haltung nach deutschen Sitten eingerichtet haben.«244 Organisiert wurde die Unterbringung vom Burgstädter Ortsarmenverband. Im Dezember 1914 fanden in zwei Schlafsälen insgesamt 60 Männer, Frauen (drei kurz vor der Entbindung) und Kinder getrennt nach »Geschlechter[n] und Volksangehörigen« auf Strohlagern Unterkunft.245 Im Spätsommer 1915 war ihre Zahl auf 86 gestiegen.246 Ihr Leben spielte sich vor allem im Bereich des Fabrikgebäudes ab, das des Weiteren über ein Waschhaus, einen Aufwasch- und Küchenraum, ein Krankenzimmer und einen »großen« Hof verfügte. »[L]etzterer im Interesse der Kinder, die nicht aufsichtslos in der Stadt herumlaufen sollen«, wie von Burgsdorff betonte. Für die Verpflegung, die von der Volksküche getragen wurde, stellte die Stadt 1,10 Mark zur Verfügung (in Donaueschingen hatte diese nur 70 Pfennig betragen). Die Bewachung der Ausländer/innen erfolgte durch das Polizeiamt der Stadt »und zwar in einer Weise, daß der Zweck der Internierung erreicht, unnötige Härte aber vermieden wird«.247 Mit dieser Klarstellung in den aufgestellten Grundsätzen für die Internierung offenbarten die Vertreter der Kreishauptmannschaft und der Stadtgemeinde ein Wissen über den Zweck der Maßnahme, das aus dem militärischen Erlass des stellvertretenden Generalstabes nicht hervorging. Die Ausweisungen erfolgten zwar aus »militärischen Gründen«, aber über die Gefährlichkeit der Betroffenen wurde darin keine Aussage getroffen. Die Kontrolle der Internierten in Burgstädt stellte demzufolge die Konsequenz eines angenommenen Sachverhaltes dar. Aus einer Maßnahme zur kostengünstigen Unterbringung von Unterstützungsbedürftigen erwuchs ein überwachtes, das Leben des Einzelnen reglementierendes Fabriklager. Aus Armen wurden Gefangene. Dies unterstreicht gleichfalls der geplante Besuch des zivilverwalteten Lagers durch eine Kommission des Dänischen Roten Kreuzes, die ansonsten nur Militärlager besichtigte und erst im letzten Moment ihre Inspektion abgesagte.248 Ebenso kam es in Burgstädt zu Protesten durch den Stadtrat, der sich »einstimmig« gegen die Zuweisung der Ausländer/innen ausgesprochen hatte. Die Ratsmitglieder begründeten dies, so der Kreishauptmann von Burgsdorff, »nicht 244 Ebd. 245 Zur Überführung nach Burgstädt: Sächs. KrhM Leipzig an d. stv. Gkdo. XIX. AK, Leipzig, 15.12.1914, in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 150. 246 Sächs. MdI an das Sächs. KM, 24.9.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 147. 247 Grundsätze d. Sächs. KrhM Leipzig u. d. Stadtgemeinde Burgstädt über d. Internierung d. im Regierungsbezirk Leipzig wohnhaften Angehörigen feindlicher Staaten in Burgstädt (gez. Roth), 14.12.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3347b, Bl. 154 f. 248 Sächs. KM an d. Sächs. MdI, 1.10.1915, in: HStA Dresden, 10736/3358, Bl. 7.
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sowohl allein aus der Befürchtung, finanziell dadurch in Anspruch genommen zu werden, als vielmehr auch aus Unbehagen vor dem Zuzuge minderwertiger Elemente, die sich in der Stadt unliebsam bemerkbar machen würden«. Sie forderten im Zuge dessen, dass »der Staat« und nicht die Stadt für Schäden aufkommen sollte, die von den Verursachern nicht erstattet werden könnten. Während die Internierung durchaus auf einen längeren Zeitraum angelegt war, erschien es von Burgsdorff nur »billig, zur Beruhigung der städtischen Vertretung in Aussicht zu stellen, daß sie von der unbequemen Einquartierung, sobald die Rückkehr in das Sperrgebiet wieder gestattet und deshalb das Ausländerlager aufzulösen ist, wieder befreit wird«.249 Das Burgstädter Lager hatte die verbleibende Kriegszeit Bestand. Die finanziellen Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und der Kreishauptmannschaft prägten die darauffolgenden Diskussionen über die untergebrachten Ausländer/ innen.250 Denn erst ab Juli 1915 fanden sie bezahlte Arbeitsmöglichkeiten. Aber eine vollständige daraus erwachsende Eigenversorgung blieb ihnen verwehrt.251 Der Burgstädter Stadtrat musste sich weiterhin für die getätigten Ausgaben rechtfertigen und selbst die Kosten für neue Schuhe gegenüber der Kreishauptmannschaft verteidigen. »Es ist zu bedenken, daß die Leute vielfach schon mit recht defekten Schuhen dem Lager überwiesen werden und daß im Laufe der Zeit der Zustand sich immer mehr verschlechtert. Mehr als 1 paar Schuhe haben die Gefangenen nicht, sodaß es nicht Wunder nehmen kann, wenn diese nach 9 monatiger Benutzung nicht mehr zu gebrauchen sind. Gewöhnlich nimmt der Beamte die Bitte der Leute erst dann entgegen, wenn diese so zerrissene Schuhsohlen haben, daß sie faktisch auf dem Erdboden laufen.«252 Die Verwaltung des Mangels, welche sich bereits in Donaueschingen gezeigt hatte, wurde in Burgstädt verstetigt. Der Zivilinternierung durch militärische Akteure standen zivile, improvisierte Internierungsregime in Fabrikgebäuden und Gefängnissen zur Seite. Sie entsprangen weder einer akuten Sicherheitsgefährdung noch einer systematischen Zurückhaltung Wehrpflichtiger, sondern waren die Folge von Ausweisungen und Abschiebungen. 249 Sächs. KrhM Leipzig (Kreishptm. v. Burgsdorff) an d. Sächs. MdI, 21.12.1914, in: HStA Dresden, 10736/3347b, Bl. 151 ff. 250 Rat d. Stadt Burgstädt an d. Sächs. KrhM Leipzig, 9.1.1919, in: HStA Dresden, 10736/3373, Bl. 37. 251 Stadtrat von Burgstädt an d. Sächs. KrhM Leipzig, 5.4.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3356, Bl. 172. 252 Stadtrat von Burgstädt (Dr. Roth) an d. Sächs. KrhM Leipzig, 17.7.1915; bezüglich einer Anfrage betreffs der hohen Kosten für neues Schuhwerk, in: HStA Dresden, 10736/3355, Bl. 93 f.
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Viele Landräte, Bürgermeister und Polizeipräsidenten empfanden die ihnen diktierten Aufgaben und Pflichten durch die angeordnete Aufnahme abgeschobener Ausländer/innen als eine Bürde. Eine zügige Abwicklung der Lagerstätten gehörte zu ihren fortwährenden Zielen. Nachdem militärische Zivilinternierungslager ihren Dienst aufgenommen hatten, bot sich daher für die Zivilverantwortlichen die naheliegende Möglichkeit, eine Überführung der Internierten dorthin zu beantragen. Die Referenten der Abteilung IV des sächsischen Innenministeriums, deren Geschäftsbereich die Straf- und Versorgungsanstalten des Königreiches umfasste, wählten diesen Weg für russländische Studenten, die im Gefängnis zu Waldheim untergebracht waren. Denn die ehemaligen Studierenden des sächsischen Polytechnikums in Mittweida hatten zum einen mehrmals gegen ihre Unterbringung in der Strafanstalt protestiert. Zum anderen sorgten ein Selbstmord und ein weiterer Todesfall unter ihnen für internationale Aufmerksamkeit in der Moskauer Zeitung Wetscherneje Wremja (Abendzeit).253 Im August 1915 schlugen die Ministerialreferenten vor, die Internierten im Lager Holzminden südlich von Braunschweig unterzubringen.254 Die Diskussionen, die zu dieser Bitte führten, geben einen Einblick in die zivilstaatlichen Überlegungen bezüglich der nichtmilitärisch organisierten Internierungen.255 Die Referenten stimmten mit der Anstaltsleitung in Waldheim überein, dass die zunehmenden Beschwerden auf die Festsetzung in einem Gefängnis zurückzuführen seien. »Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß die Verwahrung in einer Strafanstalt für Personen, die sich keiner Schuld bewußt sind und ja auch gar nicht gestraft werden sollen, auf die Dauer schwer zu ertragen ist.« Sie zweifelten zugleich daran, dass der Krieg alleinig als Grund für die dortige Unterbringung herangezogen werden sollte. »Es läßt sich auch mit Bestimmtheit voraussehen, daß diese Art der Unterbringung feindlicher Ausländer, nachdem sie den Charakter einer vorübergehenden Notmaßnahme verloren hat, später als ein Akt mangelnder Humanität hingestellt werden wird«, befürchteten die Referenten der Abteilung IV. Im »Konzentrationslager in Holzminden« hätten die Studierenden dagegen »die wünschenswerte Freiheit in der Bewegung und der Wahl der Kost und ausreichenden Verkehr mit Heimatgenossen, auch ist dort auf die jüdischen rituellen Vorschriften billige Rücksicht genommen«. Am Rand ihrer Stellungnahme skizzierten die Beamten verhandelbare Kriterien einer angemessenen Zivilinternierung. Die latente Selbstkritik in ihren Überlegungen vermag indes nicht, die dahinterstehende Absicht einer Abschiebung der zur Last fallenden Studenten zu verdecken. 253 Anlage zum Bericht d. Auswärtigen Auslandsnachrichtenstelle, 23.7.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 1 u. Beschlußvorlage d. Abt. IV d. Sächs. MdI an d. Abt. II, 19.8.1915, in: Ebd., Bl. 2. 254 Sächs.KM (gez. v. Wilsdorf) an d. Preuß. KM, 10.9.1915, in: Ebd., Bl. 87. 255 Sächs. MdI, Abt. IV (gez. Fink[?]) an d. Abt. II, 24.8.1915, in: Ebd., Bl. 85 f.
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Die Mitarbeiter des Ministeriums verknüpften zudem einen weiteren Vorschlag zur zukünftigen Unterbringung der russländischen Staatsangehörigen mit einem finanziellen Kalkül. Sie vermuteten, dass Personen, die in den durch deutsche Truppen okkupierten osteuropäischen Gebieten wohnhaft waren, »bald […] mangels der nötigen Mittel zum Unterhalt schließlich gefangen gesetzt werden müssen«. Die russische Regierung würde Unterstützungszahlungen ablehnen und »das russische Hilfskomitee ist keinesfalls in der Lage, den vollen Unterhalt aller in Frage kommenden Personen zu bestreiten«. Sie schlugen deshalb vor, dass dem zivilgesellschaftlich organisierten Komitee »für Kopf und Tag ein bestimmter Beitrag« gezahlt werden sollte, wenn es die »geeignete Unterbringung dieser Personen übernehmen würde«. Die sächsischen Beamten scheuten nicht davor zurück, die Internierung der Ausländer/innen mindestens zum Teil zu privatisieren. Neben einer »Ersparnis« für den Haushalt des Königreiches, betonten sie, dass dadurch »die Verwahrung der Ausländer auf das wünschenswerte Maß eingeschränkt bleiben« könnte.256 Die Antwort des geschäftsführenden sächsischen Kriegsministers Carl Viktor von Wilsdorf (1857–1920) auf die Vorschläge der Zivilbeamten kennzeichnete ein bezeichnendes Nicht-Wissen. Sie deutete eine überaus geringe Bedeutung feindlicher Ausländer/innen für die Militärverwaltung im Königreich Sachsen an. »Die Befürchtung, dass sich bald die Zahl der feindlichen Ausländer mehren werde, die mangels der nötigen Mittel zum Unterhalt schliesslich gefangen gesetzt werden müssten, halte ich nicht für begründet, da der Mangel an Unterhaltsmitteln allein bisher noch nie Veranlassung zu einer Internierung gegeben hat.«257 Von Wilsdorf übersah nicht nur die polizeilichen Festnahmen und Internierungen im August und September 1914, sondern ignorierte ebenfalls die militärische Ausweisungsorder im November des Jahres. Nonchalant hielt er an der Überzeugung fest, dass gegen alle Zivilinternierten politische oder militärische Internierungsgründe vorlagen. Nach dem Abklingen der sogenannten Spionenfurcht Anfang September 1914 setzte eine Ausreisewelle ›feindlicher‹ nicht-wehrpflichtiger Zivilisten ein. Infolgedessen veränderte sich die Zusammensetzung der Gruppe der Ausländer/innen im Deutschen Reich erheblich. Russländische Staatsangehörige stiegen in die Fähren nach Schweden, französische kehrten oftmals über die Schweiz und britische über die Niederlande in ihre Heimat zurück. »All were early at the Bahn-Hof«, notierte Harriet Jephson (1854–1930) in ihrem Tagebuch über die Abreise aus Frankfurt 256 Ebd. 257 Sächs. KM (gez. v. Wilsdorf) an d. Sächs. MdI, 10.9.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 87.
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Ende September 1914. »There for the last time, please God! We found our old horror the Chief of Police. He had a long paper in his hand, and read out our names: ›Hamilton?‹ ›Here!‹ ›Your passport?‹ (which he scrutinised as if he had never seen such a thing before), and so on.«258 Wenige Tage später erinnerte sie sich, wie der Zug Frankfurt verließ und sie Richtung »Heimat« und »Freiheit« aufbrach. »Now and then we looked out of the windows with distaste – agreed that the outskirts of Frankfort were hideous with their obtrusive and insistent collection of factory chimneys; and shuddered at the distant and beautiful background of mountain and forest, to us so teeming with painful memories.«259 Boris Ionovič Birukov bestieg in Sassnitz eine Fähre in Richtung Schweden, nachdem er nochmals umfänglich kontrolliert worden war.260 »Alle machten es sich bequem auf dem Promenadendeck und warteten ungeduldig auf das Ablegen des Schiffes vom feindlichen Ufer«, schrieb er in seiner Kriegserinnerung.261 »Endlich – ein kurzer Pfiff kündigte das Ablegen des Schiffes an. Schnell verschwand das Ufer des Landes, wo wir statt der erwarteten Gastfreundschaft Bosheit erlebten, Verhöhnung, bewusste Ignoranz gegenüber allen unseren Menschenrechten und Schadenfreude bei jedem Missgeschick, das uns widerfuhr. […] Alles Entsetzen war vorbei.« Während Birukovs Lebensalltag nach Kriegsbeginn in Bad Homburg maßgeblich von den situativen Entscheidungen lokaler Beamter abhängig gewesen war, stand die Möglichkeit seiner Ausreise unter gänzlich anderen Vorzeichen. Vor allem achteten die Heeresführung und die Reichsleitung auf eine zeitnahe Ankunft deutscher Staatsangehöriger aus dem Russischen Reich und den anderen Staaten der Kriegsgegner. Der stellvertretende Generalstab der Armee versuchte zudem, die Austauschreisen zu instrumentalisieren, indem einzelne »hochstehende Personen« vorübergehend zurückgehalten wurden. »Der Zweck dieser rein vorläufigen Maßregeln ist, für unsere in Rußland befindlichen Staatsangehörigen bessere Lebensbedingungen durchsetzen zu können, als ihnen den Nachrichten zufolge bis jetzt zugestanden sind«, ließ Kurt von Manteuffel die stellvertretenden Generalkommandeure wissen.262 Sie sollten drei bis fünf solcher Personen auswählen, aber ihnen den Zweck des Ausreiseverbots verschweigen. Die Militärführung unterwarf die Ausreisenden einer strikten Gegenseitigkeitsdoktrin und einem militärischen Kalkül, für dessen Erfolg es keine Garantie gab. Diese Vorstellungen und
258 Harriet J. Jephson, A War-Time Journal. Germany 1914 and German Travel Notes, London 1915, S. 58 (Frankfurt, 25.9.1914). 259 Ebd., S. 60 f. (28.9.1914). 260 Zu den Kontrollmaßnahmen in Sassnitz und Warnemünde: Preuß. MdI (gez. i. A. Stein) an d. Reichskanzler (RAdI), 10.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112030, Bl. 93–95. 261 Birukov, V germanskom plěnu, S. 103. 262 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 23.9.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, Bl. 159.
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Möglichkeiten des Krieges beeinflussten gleichsam die Entscheidungen wie Argumentationen der lokalen Militärbefehlshaber. Im Herbst 1914, wenige Wochen nach Beginn der Ausreisen, erreichten Berichte in der Presse über unwürdige Zustände besonders in Großbritannien einen Höhepunkt. Wie diese Folgen für einzelne Ausländer/innen zeitigen konnten, verdeutlicht eine Stellungnahme des stellvertretenden kommandierenden Generals Hans Gaede. Er musste Ende November 1914 über das Gesuch der britischen Staatsbürgerinnen Schiele und Venables entscheiden, nicht über Bentheim, sondern über Schaffhausen ausreisen zu dürfen.263 Eine solche Einzelfallentscheidung hatten die Richtlinien zur Ausreise ermöglicht, die Ausnahmen genehmigt durch die stellvertretenden Generalkommandos vorsahen.264 »Die Sicherheit des Reiches wird nicht bedroht werden, wenn sieben Kinder englischer Staatsangehörigkeit von 1–12 Jahren mit zwei Kinderfrauen und einer Tante aus Baden-Baden nach der Schweiz reisen. Die Sache ist aber unter einem wesentlich anderen Gesichtspunkt zu beurteilen und zu behandeln«, belehrte er die badischen Ministerialbeamten in Karlsruhe.265 Denn vor dem Hintergrund »brutale[r] Rücksichtslosigkeit« in Großbritannien, hieße es, »die gegen die englischen Staatsangehörigen in Deutschland beabsichtigten harten Maßregeln bis zur Unwirksamkeit ab[zu]schwächen, wenn man in Einzelfällen weich und nachgiebig sein wollte«. Davon seien zwar ebenso »harmlose und persönlich unanfechtbare Personen« betroffen, aber im Vergleich zu den britischen Maßnahmen seien die deutscherseits ergriffenen »ausserordentlich milde«. Für wohlhabende Familien mit »guten Beziehungen in Deutschland« seien spürbare Repressionen von besonderer Bedeutung. Denn »sie sollen veranlasst werden, darüber in England Klage zu führen, und auf diese Weise dazu beitragen, daß die englische Regierung genötigt wird, unsere Landsleute in England menschenwürdig zu behandeln«. Jedwede »Härten« rückten folglich in das Kalkül des Militärbefehlshabers, der in den ›feindlichen‹ Zivilisten Objekte der Vergeltung erblickte. Spionage- oder Sabotagemöglichkeiten der Ausländerinnen beeinflussten seinen Standpunkt nicht. Die Gefahr wich einem spezifischen militärdiplomatischen Wert, der aber letztendlich ebenfalls eine restriktive Behandlung bedeutete. »Die Klagen irgend einer unbedeutenden englischen Klavierlehrerin, die in Deutschland gemaßregelt wird, würden in England wirkungslos verhallen, die Klagen einflußreicher und wohlhabender Leute werden möglicherweise mit der Zeit wirksam werden«, hoffte Gaede. Eine Abreise über Bentheim stand den Frauen und ihren Kindern weiterhin zu. 263 Stv Gkdo. XIV. AK (gez. Hans Gaede) an d. Bad. MdI, 19.11.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/349. 264 Reichskanzler (RAdI), betr. Behandlung Angehörige feindlicher Staaten, an sämtl. Bundesregierungen u. d. Statthalter Elsaß-Lothringens, 8.9.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 130. 265 Stv Gkdo. XIV. AK (gez. Hans Gaede) an d. Bad. MdI, 19.11.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/349.
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Bis zum Jahreswechsel 1914/15 reisten 15.000 bis 16.000 Personen über Kopenhagen und Stockholm nach Russland aus.266 Nachdem im September 1914 das schweizerische Bureau für Heimschaffung internierter Zivilpersonen seine Tätigkeit aufgenommen hatte,267 traten 1076 mittellose Personen mit französischen Pässen, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, den Weg über Schaffhausen und Genf nach Frankreich an.268 Hinzu kamen etwa 1000 Personen, die auf eigene Kosten Deutschland verlassen hatten. Im Gegenzug verließen 5073 überwiegend internierte Frauen und Kinder Frankreich.269 Im Frühjahr 1915, als das schweizerische Bureau seine Arbeit einstellte, teilte sein Vorsitzender Ernst Röthlisberger (1858– 1926) mit, »dass zwischen dem 24. Oktober 1914 und dem 1. März 1915 im ganzen 20.475 Internierte in 186 begleiteten Transporten die Schweiz durchquert hatten, nämlich 10.845 Franzosen, 7650 Deutsche und 1980 Österreicher und Ungarn, oder nach Geschlechtern und Lebensalter eingeteilt 5271 Männer, 11.835 Frauen, 1684 Knaben unter 13 Jahren und 1685 Mädchen unter 13 Jahren«.270 Hiermit hatte sich die geschlechtsspezifische, soziale und nationale Zusammensetzung der ausländischen Staatsangehörigen im Deutschen Reich nachhaltig verändert. Jene, die Deutschland nicht verlassen wollten oder aufgrund ihrer Wehrfähigkeit nicht ausreisen durften, hatten die Polizei- und Militärerlasse über Melde- und Aufenthaltsvorschriften zu beachten.271 Militärpflichtige britische und französische Staatsangehörige sahen sich im November beziehungsweise Dezember 1914 mit einer systematischen Internierung konfrontiert.272 Die Anzahl derer, die im Deutschen Reich freiwillig verblieben, festzustellen, ist nicht möglich. Für die Hauptstadt Berlin meldete das Berliner Tageblatt, dass im Januar 1915 in den hiesigen Gasthöfen und Herbergen 103 russländische, 28 belgische, 4 britische und keine
266 Vierzehnter Geschäftsbericht (1915) des Hilfsvereins der Deutschen Juden, Berlin 1916, S. 14 f. 267 Deutsche Gesandtschaft in Bern (gez. Romberg) an d. Reichskanzler, 12.9.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 120 u. Reglement d. Hilfskomitees, in: Ebd., Bl. 121 ff. Zur Einrichtung d. Bureaus siehe: Schw. Bundesratsbeschluss, betr. d. Errichtung eines Bureaus für Heimschaffung internierter Zivilpersonen, 22.9.1914, (Schw. Bundesblatt, 1914, IV, S. 117) in: BArch Berlin, R 67/1264 u. ebenso: Conseil Fédéral, Procès-verbal de la séance du 22.9.1914, in: Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 6 (1914–1918), hg. von Jacques Freymond, Bern 1981, Dok.-Nr. 51, S. 75–76. 268 Zur Situation der durchreisenden Zivilisten in der Schweiz siehe: Anja Huber, Fremdsein im Krieg. Die Schweiz als Ausgangs- und Zielort von Migration 1914–1918, Zürich 2018, S. 164–169. 269 Schweiz. Politisches Departement, Bureau für Heimschaffung internierter Zivilpersonen, Mitteilung der Zentralleitung in Bern, 3.12.1914, in: BArch Berlin, R 67/1264. 270 Schweiz. Politisches Departement, Bureau für Heimschaffung internierter Zivilpersonen, Mitteilung der Zentralleitung in Bern, 9.3.1915, in: BArch Berlin, R 67/1264. 271 Siehe das Kapitel Identifizieren und Überwachen. 272 Siehe das Kapitel Internieren und Freilassen.
Verbotene Orte und unerwünschte Aufenthalte
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französischen Staatsbürger/innen nächtigten.273 Für das Großherzogtum Baden liegt eine Erhebung aus dem März 1915 vor. Demnach erhielten 754 russländische Staatsangehörige, die Internierten eingeschlossen, die Erlaubnis zur Ausreise. Nur 13 hatten davon Gebrauch gemacht. Im Barackenlager in Donaueschingen betraf dies sieben russländische Bürger. Keiner von ihnen wollte ausreisen.274 In Hamburg hielten sich im Sommer 1918 noch 2317 Bürger/innen des vergangenen Russischen Reiches auf. 453 stammten aus den nicht besetzten Gebieten. Von ihnen wollten lediglich fünf Männer und elf Frauen mit vier Kindern ausreisen. 156 Personen lehnten ein Verlassen Deutschlands ab.275 Nach dem Waffenstillstand im November 1918 deutet ein Schriftwechsel zwischen dem Bezirksamt Konstanz und dem stellvertretenden Generalkommando des XIV. Armeekorpsbezirks eine Wiederholung der unübersichtlichen Situationen zu Kriegsbeginn an. Ehemalige feindliche Ausländer/innen kämen »teilweise mit völlig ungenügenden Papieren nach Konstanz«, klagte die Zivilbehörde. »Sie werden beinahe regelmäßig, zu mal, wenn es sich um unbemittelte Personen handelt, von der Schweiz nicht übernommen, auch wenn sie […] Sichtvermerk erhalten haben.« Die Beamten des Bezirksamtes sorgten sich deshalb vor allem um die »Sicherheit der Stadt«, denn unter den Ankommenden befänden sich »wenig vertrauenswürdige Elemente«.276 Informationen der Reichsbehörden lagen ihnen Ende November 1918 nicht vor. Aber sie forderten von den Militärverantwortlichen, dass »Personen, welche ohne Erlaubnis hierher zuströmen, […] alsbald von hier weg nach einem Sammelort entfernt von der Grenze gebracht werden« sollten. Zur selben Zeit erging infolge des Waffenstillstandsvertrages vom 25. November 1918 die reichsweite Weisung, den »Staatsangehörigen Großbritanniens, Serbiens, Montenegros, Japans, Portugals, Italiens, der Vereinigten Staaten von Amerika, Panamas, Cubas, Costa-Ricas, Siams, Liberias, Chinas, Brasiliens, Guatemalas, Nicaraguas u. Haitis« die Ausreise zu gestatten.277 Indes erklärte sich das Karlsruher stellvertretende Generalkommando in Ausreiseangelegenheiten nicht mehr für zuständig und leitete die Anfrage an das badische Innenministerium weiter.278 Währenddessen kämpfte Etel Mandel, die nach dem Krieg die ungarische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, noch im Frühjahr 1919 um die Rücknahme ihrer Ausweisung aus Württemberg. Sie hatte mehrere Jahre in Stuttgart gelebt und 273 Ziffern vom Berliner Fremdenverkehr, in: Berliner Tageblatt, 8.2.1915 (Nr. 71, Abendausgabe). 274 Stv. Gkdo. XIV. AK an d. Bad. MdI, 25.3.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23204. 275 Polizeibehörde Hamburg an den Senat, Hamburg, 7.2.1918, in: StA Hamburg, 111–2, L z 45, Bl. 71. 276 Bad. BzA Konstanz (gez. Vesenbeckh) an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 23.11.1918, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 277 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. Unterstaatssekretär Göhre u. v. Fransecky), 25.11.1918, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 278 Stv. Gkdo. XIV. AK an d. Bad. MdI, 27.11.1918, in: GLA Karlsruhe, 236/23177.
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Ausweisen und Einquartieren
musste 1915 nach München übersiedeln. Die Ausweisung sei ihr zufolge »aus politischen Gründen« veranlasst worden.279 Dem württembergischen Innenminister, Hugo Lindemann (1867–1949), lagen im April 1919 dagegen nur »allgemein polizeiliche Gründe« vor. Er ließ aber auch nach der Fürsprache des Landesausschusses der Arbeiter- und Bauernräte eine Rückkehr der Ausländerin in das württembergische Staatsgebiet nicht zu.280 Denn staatlicherseits waren die polizeilichen Argumente sozialen und wirtschaftlichen Interessen gewichen. Gegenüber der Stuttgarter Stadtdirektion merkte er an: »Mit Rücksicht auf die zur Zeit herrschende Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot geht es nicht an, die Rückkehr ausgewiesener Ausländer nach Stuttgart zu begünstigen.«281
Resümee: Die Bürde der Verantwortung Selbstbestimmte Ausreisen, angeordnete Ausweisungen und organisierte Abschiebungen setzten feindliche Ausländer/innen in der Mobilmachungsphase und darüber hinaus in Bewegung. Sie durchquerten territoriale Netze aus unterschiedlichen militärischen ebenso wie polizeilichen Vorschriften und Vorstellungen, staatlichen Verantwortungen und Zuständigkeiten. Waren die Ausgewiesenen keine Kurgäste, Touristen oder Saisonarbeitskräfte, stellten die Ausweisungsbefehle keinen Konsens dar. Denn viele Menschen, die nicht die Reichsangehörigkeit besaßen, lebten konfliktfrei als Teil der lokalen Gesellschaften. Sie waren in das Arbeits-, Bildungs- und Wirtschaftsleben integriert. Bei den allgemeinen militärischen Bestimmungen zählte allerdings nicht, wo und wie sich die Betroffenen in der Gesellschaft und im Krieg verorteten, sondern welche Staatsangehörigkeit sie besaßen. Nicht nur die Ausgewiesenen selbst, sondern ebenfalls Bürgermeister, Amtsvorstände und Polizeibeamte sahen ihre Integration aufgrund der militärischen Maßnahmen in Frage gestellt. Im Anschluss daran wurden soziale, kulturelle und wirtschaftliche Unterscheidungen in Geltung gesetzt und von den Ausländer/innen Positionierungen eingefordert. Ausweisungen und Einquartierungen erzeugten vielerlei Abhängigkeiten der Betroffen von staatlichen Institutionen. Improvisierte Quartiere und Lagerstätten, die einer militärischen und polizeilichen Überwachung unterstanden, beendeten in einem besonderen Maße das eigenverantwortliche Wirtschaftsleben. Die lokal verantwortlichen Akteure kämpften mit den daraus entstehenden Versorgungsund Unterhaltsschwierigkeiten und taumelten zwischen Pragmatismus und Über279 Etel Mandel an d. Arbeiter- und Soldatenrat Stuttgart, 26.2.1919, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 135a, Bü 221. 280 Vorsitzender d. Landesausschusses der Arbeiter- und Bauernräte (gez. Zernicke) an d. Württ. MdI, 4.3.1919, in: HStA Stuttgart, E 135a, Bü 221. 281 Württ. MdI (gez. Lindemann) an d. Stadtdirektion Stuttgart, 9.4.1919, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 135a, Bü 221.
Resümee: Die Bürde der Verantwortung
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forderung. Aber sie erkannten die Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit der in ihre Obhut Überstellten an. Neben allgemein humanitären Aspekten des Umgangs mit Ausländer/innen rückten finanzielle Erwägungen, nationale Einsichten und die gesundheitliche Verfassung des Einzelnen in den Blick. Während die Ausweisungsbekanntmachungen Gruppen ausländischer Zivilisten nach ihrer Staatsangehörigkeit konturiert hatten, standen für die zivilen Lokalbeamten die Einzelfälle im Vordergrund. Ausweisungen und Einquartierungen waren improvisierte und als Improvisation beschriebene nichtalltägliche Praktiken. Lokale zivilstaatliche Akteure übernahmen in einem Geflecht aus Annahmen, Ressourcen und Zielen innerhalb kürzester Zeit die Verantwortung für viele ihnen unbekannte Menschen. Wie wenig die monarchische Führungselite über diese Vorgänge bezüglich feindlicher Ausländerinnen und Ausländer in den ersten Kriegsmonaten informiert war, deutet ein Ersuchen König Wilhelms II. von Württemberg (1848–1921) an. Sein Kabinettschef übergab im Februar 1915 dem Präsidenten des Staatsministeriums eine kurze Anfrage, weil »Seiner Majestät zu Ohren gekommen [sei], daß schon seit Ausbruch des Kriegs eine Anzahl aus Frankreich, Belgien und Rußland stammender Zivilpersonen beiderlei Geschlechts an verschiedenen Orten Württembergs gefangen gehalten werden.« Monate, nachdem Ausländer/innen ausgewiesen und eilig Lager eingerichtet worden waren, wünschte »Seine Majestät […] eine Auskunft darüber, wer und woher diese Personen sind, wo und auf wessen Befehl sie eingesperrt, wie sie untergebracht und wessen sie beschuldigt sind, wie sie behandelt werden und wer für deren Behandlung verantwortlich ist.«282
282 Kabinettschef Seiner Majestät d. Königs von Württemberg (gez. Julius v. Soden) an d. Präsidenten d. Staatsministeriums u. d. Staatsminister d. Auswärtigen Angelegenheiten, in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1148, Qu. 769 u. 800. Vermutlich trat die Pazifistin Frida Perlen an den königlichen Hof heran und machte auf die schwierige Lage der Zivilinternierten aufmerksam. Siehe: Frida Perlen an Elisabeth Rotten, 23.2.1915, in: EZA Berlin, 51/C III c 3,3.
5. Sorgen und Unterstützen
Auf den Spuren feindlicher Ausländer/innen in Archiven und Bibliotheken stoßen Historiker/innen zwischen Militärbestimmungen und Verwaltungskorrespondenzen auf nichtstaatliche Rechenschaftsberichte, Erinnerungen und Briefwechsel, die einen Zugang zu Akteur/innen eröffnen, die ihr Handeln vornehmlich mit den Motiven der Fürsorge und der Nächstenliebe rechtfertigten. Sie lediglich anhand ihres Wirkungsfeldes als wohltätige Unterstützer/innen ausländischer Zivilisten zu beschreiben, würde aber ihren vielen Rollen während des Krieges nicht gerecht werden. Denn um Ausländer/innen zu helfen, traten sie nicht nur als Vermittler von Bitten, Sorgen und Nöten auf. Vielmehr übersetzten sie die vielschichtigen Positionen, Verhaltensweisen und Lebensverhältnisse ausländischer Staatsangehöriger für staatliche und private Akteure. Sie legten hierbei ihre eigenen Wahrnehmungen dar, definierten Ziele aufgrund eigener Maßstäbe, orientierten sich an ihnen gesetzten Handlungsspielräumen, versuchten diese auszuweiten und vernetzten sich untereinander.
Wohlfahrtspflege zwischen Frieden und Krieg Die Akteure der privaten Fürsorge und öffentlichen Wohlfahrtspflege entfal teten ihre Hilfstätigkeiten vor dem Hintergrund in der Vorkriegszeit etablierter rechtlicher Maßstäbe, politisch ausgehandelter Normen und anerkannter Verfahrensweisen. In weiten Teilen des Deutschen Reiches galt das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz. Nach diesem sollten Ausländer/innen »vorläufig von demjenigen Ortsarmenverbande unterstützt werden, in dessen Bezirke sie sich bei dem Eintritte der Hülfsbedürftigkeit befinden«.1 In der Regel bestand diese Verpflichtung unabhängig von den Gesetzen und Verfahrensweisen in anderen Staaten und war nicht an internationale Vereinbarungen mit diesen geknüpft. Ebenso unvoreingenommen sollten die materiellen und finanziellen Leistungen
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Gesetz über d. Unterstützungswohnsitz (hier Paragraf 60), 6.6.1870, in: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1870, S. 360–373. Der Paragraf 60 blieb in der Neufassung des Gesetzes von 1908 unberührt: Gesetz über d. Unterstützungswohnsitz, 30.5.1908, in: RGBl. 1908, S. 381–396.
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Sorgen und Unterstützen
bemessen sein. Die preußischen Ausführungsbestimmungen sahen ausdrücklich eine Gleichstellung von In- und Ausländer/innen in dieser Frage vor.2 Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keine zwischenstaatlichen Verträge und sozialen Ausschlusskriterien gegeben hätte. Von den Grundsätzen abweichend trat 1906 der Niederlassungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und den Niederlanden in Kraft. Er bestätigte einerseits die beiderseitige Unterstützung bedürftiger Staatsangehöriger. Andererseits betonten die Vertragspartner das fortdauernde Ausweisungsrecht, »sei es infolge eines gerichtlichen Urteils, sei es aus Gründen der inneren oder äußeren Sicherheit des Staates, sei es weil die Interessen der öffentlichen Gesundheit oder Sittlichkeit es erfordern, oder weil die Personen weder genügende Unterhaltsmittel besitzen noch durch ihre Arbeitskraft erwerben können«.3 Dementsprechend erhielten 1910 insgesamt 514 und 1913 433 wegen Bettelei, Landstreicherei, Diebstahl, Betrug oder Prostitution Verurteilte einen Ausweisungsbescheid.4 Neben der kommunalen Armenfürsorge hatten ausländische Staatsbürger/ innen die Möglichkeit, sich an die Konsulate ihrer Heimatländer zu wenden. Deren Richtlinien und Budgets für die Unterstützung von Bedürftigen unterschieden sich aber erheblich voneinander. Während einigen Konsuln ein gut ausgestatteter Fonds zur Verfügung stand, konnten andere lediglich Zuschüsse für die Heimreise, zum Teil aus ihrem Privatvermögen, gewähren oder stellten überhaupt keine finanziellen Beihilfen bereit. Unabhängig davon agierten sie stets als Ansprechpartner für ausländische Staatsangehörige und vernetzten sich nicht selten mit kommunalen Fürsorgeträgern.5 Seit 1910 unterstützte die durch Ernest Cassel (1852–1921) gegründete König Eduard VII. Stiftung deutsche Staatsangehörige in Großbritannien und britische Staatsangehörige in Deutschland. Neben dieser auf einer gegenseitigen Initiative beruhenden, von Kaiser Wilhelm II. geförderten Hilfsorganisation existierten in den größeren Städten des Deutschen Reiches weitere private und meist konfessionell gebundene Wohltätigkeitsvereine, die sich ausschließlich der ausländischen Hilfsbedürftigen annahmen. In Berlin waren beispielsweise der Österreich-Ungarische Hilfsverein, die British Relief Association, die Società italiano di mutuo soccorsoe beneficenza und der Wladimir-Wohltätigkeitsverein ›Brastow‹ sowie der Schweizerunterstützungsverein ansässig. Ähnlich der Situation in den
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Alfred Olshausen, Die Fürsorge für Ausländer in Deutschland. Bericht, Leipzig 1904, S. 13 f. u. 28. Niederlassungsvertrag zwischen d. Deutschen Reiche u. d. Niederlanden, 27.12.1916, in: RGBl. 1906, S. 879–887, hier zitiert Art. 2, S. 880 f. Zusammenfassend zum deutsch-niederländischen Zuwanderungsvertrag von 1906/08: Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S. 150 ff. Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit, S. 143–149. Olshausen, Fürsorge für Ausländer, S. 159–179.
Wohlfahrtspflege zwischen Frieden und Krieg
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Konsulaten engagierten sich in ihnen unterschiedlich viele Mitarbeiter/innen, variierten ihre finanzielle Ausstattung und die angebotenen Hilfen.6 Während die staatlichen Armenverbände folglich eine flächendeckende und gleichartige Unterstützung vorsahen, war die von Konsulaten und privaten Vereinen organisierte Wohltätigkeit durch eine lokale und oftmals national strukturierte Diversität gekennzeichnet. Innerhalb beider Bereiche fanden die Akteure der Fürsorge Anknüpfungspunkte und Maßstäbe für ihre Praktiken in den Jahren 1914 bis 1918. Feindliche Ausländer/innen fielen auch im Krieg unter das Unterstützungswohnsitzgesetz. Viele Beamte in den Städten und Gemeinden beklagten die dadurch zunehmenden Fürsorgeaufgaben als eine schwerwiegende finanzielle Belastung. Die Reichs- und Landesbehörden mussten deshalb fortwährend zur Einhaltung der kommunalen Verpflichtungen ermahnen. Das Auswärtige Amt wies die württembergischen Verantwortlichen im Februar 1915 darauf hin, Ausländer/ innen und Reichsangehörige gleichermaßen zu unterstützen.7 Ebenso hatte das sächsische Innenministerium im Oktober 1914 angeordnet, arbeitslose Landarbeiter/innen von den Armenleistungen nicht auszuschließen. »Soweit notwendig, sind die Armenverbände […] verpflichtet, ihnen Obdach, den unentbehrlichen Lebensunterhalt und Pflege in Krankheitsfällen zu gewähren«, wurden die Lokalbehörden ermahnt.8 Die staatliche Fürsorgeverpflichtung war aber besonders für ausgewiesene und abgeschobene Ausländer/innen ebenso auf Landesebene nicht unumstritten. Die preußischen Ministerialbeamten nahmen den Standpunkt ein, dass »eine Verpflichtung der Gemeinden […] zur Unterhaltung der zugeschobenen Mittellosen nicht bestehe, da ihnen der militärischen Anordnung gegenüber die Schutzmittel des vorgedachten Gesetzes genommen wären, und daß keinesfalls ein Rechtsgrund für eine Verpflichtung des Staates zur Tragung dieser Kosten vorläge«.9 Bürgermeister und Landräte beschwerten sich viele Male über die Finanzausgaben für Ausländer/innen. Infolge von Ausweisungen, Aufenthaltsbeschränkungen und Ortszuweisungen konnten Städte mit zunächst wenigen wohnhaften ausländischen Staatsangehörigen innerhalb kurzer Zeit zu Zentren der Migration werden. Im Zuge dessen lenkten die rheinischen Städte Elberfeld, Barmen, Remscheid, Solingen und der Kreis Lennep die Aufmerksamkeit beim 6 7
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Ebd., S. 180–192. AA an d. Württ. Min. d. Auswärtigen Angelegenheit, 28.2.1915, in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 623 u. Württ. MdI an d. Württ. Min. d. Auswärtigen Angelegenheiten, 12.6.1915, in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 623 (Vorgang: Verbalnote, Großhzgl. Bad. Gesandtschaft an d. Württ. Min. d. Auswärtigen Angelegenheiten, 29.5.1915). Sächs. MdI an d. Sächs. KrhM u. AmhM, Stadträte d. Städte mit rev. Städteordnung, d. Polizeidirektion u. d. Polizeiämter, 28.10.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 13–15. Aufzeichnung über d. Ergebnis d. am 13.2.1915 im Preuß. MdI stattgehabten kommissarischen Verhandlung über d. Kostentragung hinsichtlich d. auf militärische Anordnung erfolgten Inhaftierung feindlicher Ausländer, in: GStA PK, I. HA, Rep. 151 IC, Nr. 2481.
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Sorgen und Unterstützen
Regierungspräsidium in Düsseldorf auf die »ganz erhebliche Belastung« und die ungleichmäßige Kostenverteilung. In ihren Augen sollten die Militärbehörden für Unterstützungsbedürftige aufkommen oder Zuwendungen über Kreiskassen auf alle Gemeinden umgelegt werden.10 Einen anderen Vorschlag brachte der Landarmenverband von Oberbayern vor, der »eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Angehörigen des feindlichen Auslands« unterstützte. Er habe angefragt, teilten die Vertreter des Königreiches dem Reichsamt des Innern mit, »ob es nicht möglich sei, sich solcher Personen zu entledigen«. Ins Auge fassten die Verbandsmitglieder vermehrte Zivilgefangenenaustauschtransporte oder Abschiebungen in das neutrale Ausland.11 Die Beamten des Badischen Innenministeriums versuchten, die finanziellen Unterstützungen zu begrenzen. Sie rieten dem Bezirksamt in Baden, nicht mehr als 70 Pfennig täglich für mittellose Ausländer/innen zur Verfügung zu stellen. »Sollte der Aufwand erheblich höher sein als dies in Donaueschingen und Villingen für den gleichen Zweck der Fall ist […], so müßte eine Abschiebung der mittellosen Elemente von Baden nach Donaueschingen [in die Militärbaracken, d. Verf.] erwogen werden.«12 »Die zahlreichen, in wenigen Orten des Großherzogtums zusammengedrängten Ausländer sind eine Last, da sie erhebliche Mittel der Staatskasse zu ihrer Ernährung beanspruchen«, hatten sie bereits im August 1914 festgestellt.13 Obwohl grundsätzlich die Ortsarmenverbände für Mittellose und Unterstützungsbedürftige zuständig blieben, wurde die Fürsorge auch in den späteren Kriegsjahren in Frage gestellt. So brach im Sommer 1916 nach dem Kriegseintritt Italiens die Hansestadt Hamburg die finanzielle Unterstützung für italienische Staatsangehörige ab.14 Für Inländer/innen wurde zur selben Zeit, aufbauend auf dem Gesetz betreffend die Unterstützung von Familien in den Dienst eingetretener Mannschaften, ein umfangreiches Programm staatlicher Unterstützungsleistungen initiiert. Diese richteten sich nicht länger ausschließlich an die ökonomisch ärmsten Bevölkerungsteile, sondern zielten überwiegend auf die soziale Sicherung der bürgerlichen Mittelschicht. Dementsprechend erfolgte eine strikte Unterscheidung von der älteren, diskriminierenden, aber weiterbestehenden Armenfürsorge. Auf die Kriegsfür10 Landrat von Lennep, Bürgermeister von Remscheid u. Oberbürgermeister von Elberfeld, Barmen u. Solingen an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 4.12.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14998, Bl. 116 ff. u. Bürgermeister Lennep an d. Landrat Lennep, 9.1.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 93. 11 Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußern an d. RAdI, 19.5.1917, (Abs.) in: HStA München, MInn 53977. 12 Bad. MdI an d. Bad. BzA Baden, 26.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 13 Bad. MdI an d. Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen (Abt. d. Auswärtigen), 26.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 14 Elia Morandi, Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 138.
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sorgeleistungen hatten die Bürger/innen einen gesetzlichen Anspruch und mussten nicht den Verlust ihres Wahlrechts und ihrer Freizügigkeit, eine strenge wie demütigende Bedürfnisprüfung oder eine Rückerstattungspflicht befürchten. Da die finanziellen, durch das Reich gewährten Hilfen in Zeiten zunehmender Lebensmittelknappheit und materieller Not kaum ausreichten, entstand darüber hinaus die kommunale Kriegswohlfahrtspflege. Durch ihre Einrichtung in den Gemeinden und Städten konnten die Betroffenen zusätzlich Mietzuschüsse sowie Sach- und Naturalleistungen erhalten.15 Indem Ausländer/innen von diesen Sozialleistungen ausgeschlossen blieben, etablierte der Krieg eine wirkmächtige und nachhaltige Unterscheidung, die nicht an soziale Klassen, sondern an die Staatsbürgerschaft gebunden war. Die nicht-staatlichen Fürsorgenden bewegten sich innerhalb eines dritten, kriegsbedingt expandierenden Feldes privat organisierter Wohlfahrtspflege. Seit den ersten Kriegstagen engagierten sich meist bürgerliche Frauen in etablierten und neu gegründeten Vereinen, deren Dachverband der am 31. Juli 1914 gegründete Nationale Frauendienst war. Als dessen Aufgaben formulierten die Initiatorinnen die gerechte Ausgestaltung der Lebensmittelversorgung, die Fürsorge für Soldatenfamilien, die Arbeitsvermittlung und die allgemeine Auskunftserteilung. Demzufolge sollte die intensive und individuelle Betreuung der Hilfesuchenden eine Kernaufgabe der Unterstützer/innen sein. Sie ergänzten zum einen die gesetzlichen Fürsorgemaßnahmen. Zum anderen wurden sie selbst zu personellen Bindegliedern zwischen privaten und staatlichen Institutionen, indem sie oftmals den kommunalen Kriegswohlfahrtskomitees beitraten und innerhalb dieser wichtige Funktionen ausfüllten.16 Ehrenamtliche Mitarbeiter/innen prüften und recherchierten in vielen Orten, ob Antragsteller/innen finanzieller Beihilfen als bedürftig anerkannt werden konnten. »In sieben Tagen habe ich etwa 145 Frauen vernommen«, schilderte ein in Berlin Beteiligter in der Vossischen Zeitung.17 Er überprüfte anhand eines etwa 30 Fragen umfassenden Protokolls die Bedürftigkeit der Antragssteller/ innen. Einer ›Kriegerfrau‹ mit sechs Kindern, die kein Familienstammbuch und andere schriftliche Nachweise über ihre Familie vorlegen konnte, half er dennoch. »[D]ie Mutter hat alle Geburtstage der Familienmitglieder fest im Kopf. Sie diktiert, ich schreibe, und bei jedem Kindesnamen seufzt sie leise[.] […] Unter dem Tisch hole ich mein Geldtäschen heraus, nehme die größte Silbermünze und drücke sie der Ärmsten stumm in die Hand[.]« 15 Christoph Sachße u. Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart 1988, S. 50–54. 16 Ebd., S. 56–60. Die Autoren ziehen das Fazit (S. 60), dass einer »Unterscheidung von öffentlich und privat nur noch formelle Bedeutung« beizumessen war. 17 In der Unterstützungskommission (R.K.), in: Vossische Zeitung, 7.9.1914 (Nr. 454, Abendausgabe).
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Sorgen und Unterstützen
Über die Situation in der Mannheimer Ermittlungs- und Nachprüfungsstelle berichtete Salomon Altmann, Professor für Volkswirtschaftslehre, dass diese Kontrollen »ausschließlich von freiwillig und ehrenamtlich tätigen Hilfskräften ausgeführt [wurden], die sich aus allen Kreisen der Mannheimer Bevölkerung – vorwiegend Lehrkräften der Mannheimer Schulen« – zusammensetzten.18 Deren Arbeit sei »von der grundlegendsten Bedeutung für die weitere Behandlung aller Anträge« gewesen. Altmanns Schilderung verwies aber nicht nur auf die enge Vernetzung zwischen staatlichen und privaten Akteuren in der Kriegswohlfahrtspflege. Zugleich beleuchtete sie die zunächst kaum vorgegebenen Verfahrensweisen. »In dem ursprünglichen Organisationsplan der Zentrale«, bemerkte Altmann, »waren die Aufgaben der Ermittlungsstelle nur kurz umrissen, denn es galt, erst Erfahrungen zu sammeln und die Natur der Aufgabe praktisch zu erfassen.«19 Folglich war die Wohlfahrtspflege zu Kriegsbeginn ein dynamisches Handlungsfeld, in dem Adressaten und Verantwortungsträger wechseln sowie Maßnahmen und deren Umsetzung angepasst werden konnten. Die privaten Akteure hatten darauf einen nicht unwesentlichen Einfluss. Sie erkauften sich indes die gewonnenen Handlungsspielräume und Privilegien durch die zunehmende staatliche Kontrolle ihrer Vereinsaktivitäten. Unter anderem mussten sie für Spendensammlungen eine Genehmigung einholen.20 Obwohl die »Unterstützung der hier in Berlin weilenden hilflos gewordenen Ausländer« beispielsweise zum Forderungskatalog der Berliner Sozialdemokraten gehörte,21 blieb ihnen die kommunale Kriegsfürsorge zumeist verschlossen. Die Helfenden interagierten vor dem Hintergrund privater Wohlfahrtspflege. Ihr Einsatz wurde bereits Ende August 1914 von staatlichen Institutionen anerkannt. »Die Zahl der Unterstützungsbedürftigen wäre wesentlich größer, wenn sich nicht die jüdischen Gemeinden ihrer Glaubensgenossen annehmen würden«,22 würdigten badische Ministerialreferenten ihre Arbeit.
18 Salomon Altmann, Die Kriegsfürsorge in Mannheim, Mannheim 1916, S. 119. 19 Ebd. 20 Sachße u. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2, S. 56. 21 Paul Hirsch, Kriegsfürsorge in Berlin und Vororten. Im Auftrag des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlin und Umgegend erarbeitet, Berlin 1915, S. 4. 22 Bad. MdI an d. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen-Abt. d. Auswärtigen, 26.8.1914, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
Helfen vor Ort im Wissen um viele Initiativen
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Helfen vor Ort im Wissen um viele Initiativen Ausgangs- und Bezugspunkt für die Betrachtung nicht-staatlicher Unterstützer/ innen ausländischer Staatsangehöriger soll der 1901 auf Betreiben des Publizisten und Philanthropen Paul Nathan (1857–1927)23 gegründete Hilfsverein der Deutschen Juden sein. Dieser hatte sich in der Vorkriegszeit zu einer maßgeblichen Institution für die Transitreisenden aus Ost- und Südosteuropa entwickelt, die dem amerikanischen Kontinent zustrebten. Laut der Mitteilung des Vereins sorgten seine Mitarbeiter/innen für bis zu 200.000 Migrant/innen auf ihrem Weg durch Mitteleuropa.24 Die Fürsorgenden waren bemüht, sowohl die körperlichen Anstrengungen und nervlichen Belastungen als auch die finanziellen Kosten der Reise zu begrenzen. Sie erteilten Auskünfte, betrieben Auswandererherbergen, verpflegten die Reisenden in Kantinen und veranstalteten Gottesdienste. Zum Erreichen ihrer Ziele vernetzten sie sich mit lokalen und gesamtstaatlichen Verantwortungsträgern der Auswanderung. Sie unterhielten vielfältige Beziehungen zu den nationalen Auswandererämtern, den Grenzkontroll- und Polizeistationen in Osteuropa, den Eisenbahn- und Schifffahrtsgesellschaften wie zu den Einwanderungsbehörden auf der vor den Toren New Yorks gelegenen Insel Ellis Island.25 Entlang dieser institutionellen wie geographischen Reiseroute errichtete der Hilfsverein Büros und Versorgungsstellen. Mit dieser Vielzahl an Aktivitäten wirkte er auf die Infrastruktur der Auswanderung ein und sicherte deren Durchführung. Die Tätigkeiten der Mitarbeiter/innen beschränkten sich in den Grenzkontrollstationen nicht allein auf die karitative Wohlfahrtspflege. Denn im Namen des Hilfsvereins bürgten sie gegenüber den Schifffahrtsgesellschaften für erfolgversprechende Einreisen. Sie trafen im Zuge dessen unter den Gesuchsteller/innen eine Auswahl, die sich an den Durch- und Einreisebestimmungen der Transit- und Zielländer orientierte und diese demnach präventiv umsetzte. Bargeldlose Migrant/innen, die keine Verwandtschaft in den Zielländern nachweisen konnten, und kranke Personen hatten infolgedessen kaum eine Aussicht auf Unterstützung. Darüber hinaus arrangierten sich die Mitarbeiter/innen in ihrer Unterstützungspraxis mit den politischen Vorgaben staatlicher Akteure und verweigerten ebenso poten-
23 Zum Leben und Wirken Paul Nathans siehe weiterführend: Christoph Jahr, Paul Nathan. Publizist, Politiker und Philanthrop (1857–1927), Göttingen 2018. 24 Der Hilfsverein der Deutschen Juden. Seine Tätigkeit und seine Aufgaben, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung, 20.10.1927 (Nr. 10), S. 302 f., hier S. 302. 25 Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung, S. 135–142; Tobias Brinkmann, Migration und Transnationalität, Paderborn 2012, S. 81–83 u. Katja Wüstenbecker, Von Hamburg nach Amerika. Hilfsorganisationen für jüdische Auswanderer 1880–1910, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 91 (2005), S. 77–102, hier S. 95–97.
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ziellen Revolutionären Fürsorge und Bürgschaft.26 Sie wirkten dementsprechend als Vermittler und Vollzieher staatlicher Interessen und Richtlinien. Sie mussten Bevorzugung und Fürsorge, Kontrolle und Nächstenliebe miteinander vereinbaren. In den Balkankriegen wirkten besonders Paul Nathan und sein Mitarbeiter Bernhard Kahn (1876–1955) bei der finanziellen und materiellen Unterstützung der auf den Kriegsschauplätzen ansässigen jüdischen Bevölkerung mit. Sie reisten unter anderem nach Belgrad, Sofia, Thessaloniki und Konstantinopel, trafen sich dort mit Botschaftern, Regierungsvertretern wie Organisatoren von Hilfswerken und beteiligten sich an Konferenzen über die akuten Flüchtlingsfragen.27 Somit gehörten der Aufbau von stabilen institutionellen Strukturen ebenso wie die kurzfristige Entscheidungsfindung, die flexible Organisation und die Vernetzung mit unterschiedlichsten Akteuren und Verantwortungsträgern zu den Erfahrungen und Fähigkeiten der führenden Protagonisten des Hilfsvereins. Ihre Ziele und ihr Handeln können in der Folge selten von der Arbeit des hinter ihnen stehenden Hilfsvereins getrennt werden. 1914 bis 1918 bezog sich die »Kriegshilfstätigkeit« des Vereins in Europa vorrangig auf zwei Personenkreise. Zuerst organisierten die Vereinsmitarbeiter/innen die Unterstützung der im Deutschen Reich zurückgehaltenen russländischen Staatsangehörigen. »Wir betrachten es als unsere vaterländische Aufgabe, diesen unschuldig in schwerste Not Geratenen beizustehen«,28 hieß es rückblickend im Geschäftsbericht für das Jahr 1914. Hierfür rief der Vereinsvorstand zu Geldspenden auf und organisierte die Verpflegung von Hilfsbedürftigen in Berlin. Darüber hinaus gelang es ihm, den Verein als zentralen Ansprechpartner für die Verwaltungsbehörden bezüglich der Hilfstätigkeit für russländische Staatsbürger/ innen zu empfehlen. Dabei wurde Hilfe »ohne Unterschied der Konfession«,29 aber nicht für die osteuropäischen Saisonarbeiter/innen gewährt. Im Zuge der deutschen und österreich-ungarischen Besetzung russisch-polnischer Gebiete 1915 erweiterte sich die Gruppe der zu Unterstützenden um die dort lebenden hilfsbedürftigen Juden. Um die Helfenden und ihre Tätigkeiten zu koordinieren, beteiligte sich der Vorstand des Vereins federführend an der Einrichtung des Interkonfessionellen Unterstützungskomitees für bedürftige Russen und der Gründung des Hilfskomitees für Polen und Litauen. Charakteristisch für beide waren die engen finanziellen, institutionellen und personellen Verflechtungen mit dem Hilfsverein, der die Verwaltungsgeschäfte übernahm und die Organisationsstrukturen des Berliner Büros 26 Just, Ost- und südosteuropäische Amerikawanderung, S. 138, 141 f. u. Wüstenbecker, Von Hamburg nach Amerika, S. 85. 27 Ernst Feder, Paul Nathan, the Man and his Work, in: Leo Baeck Yearbook, Jg. 3 (1958), Heft 1, S. 60–80, hier S. 70 u. Ders., Politik und Humanität: Paul Nathan. Ein Lebensbild, Berlin 1929, S. 91–93 sowie Jahr, Paul Nathan, S. 180 f. 28 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 5. 29 Ebd.
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zur Verfügung stellte. Dessen Büroräume reichten für die Mitwirkenden bald nicht mehr aus. Als 40 Hilfskräfte eingestellt wurden, »um die von Tag zu Tag umfangreicher werdende Arbeitslast zu bewältigen«, musste der Verein schließlich ein weiteres Stockwerk anmieten.30 Der Vorsitzende des Vereins James Simon (1851–1932), der stellvertretende Vorsitzende Paul Nathan und der Generalsekretär Bernhard Kahn agierten als führende Protagonisten dieser expandierenden Unternehmung.31 Das deutschlandweit ausgerichtete Interkonfessionelle Unterstützungskomitee hatte seit seiner Einrichtung eine rege Inanspruchnahme zu verzeichnen. Aus den ersten Tagen des Komitees blieben Bernhard Kahn vor allem die unzähligen Hilfesuchenden in Erinnerung. »[W]hen the people learned of the existence of the comitee,« notierte er rückblickend, »those in distress flocked to our office which was swamped by many thousands of men, women and children. About a dozen mounted policeman with drawn sabres, and a number of other policemen surrounded the crowd.«32 Für die ab September 1914 ermöglichte Ausreisekampagne für russländische Staatsangehörige entwickelte sich das Unterstützungskomitee zu einem organisatorischen Mittelpunkt. Seine Mitarbeiter verantworteten gleichzeitig die Auszahlung finanzieller Beihilfen für Bedürftige. Nach eigenen Angaben hatten im Frühsommer 1915, nach dem Abschluss der ersten Ausreisen, etwa 10.000–11.000 russländische Staatsangehörige diese in Anspruch genommen. Bis zum 25. Juni 1915 wurden 1.890.000 Mark in 70.000 Einzelzahlungen zur Verfügung gestellt.33 Während der vier Kriegsjahre ordnete das Komitee rund 100.000 Einzelzahlungen in Höhe von 2,75 Millionen Mark an.34 Unterdessen beschränkte sich die Tätigkeit des Komitees nicht auf Geldauszahlungen. Beispielsweise bemühten sie sich
30 Vierzehnter Geschäftsbericht (1915) d. HVDJ, S. 10. 31 Zum Vorsitzenden des Interkonfessionellen Unterstützungskomitees für bedürftige Russen wurde Justizrat Bernhard Breslauer (1851–1928), Mitglied des Zentralkomitees des Hilfsvereins, ernannt. Weitere Mitglieder waren unter anderem Bernhard Kahn und Paul Nathan. Zum Vorsitzenden des Hilfskomitees für Polen und Litauen wurde der Vorsitzende des Hilfsvereins, James Simon, gewählt. Als Generalsekretär fungierte Bernhard Kahn, und dem geschäftsführenden Ausschuss gehörte unter anderem Paul Nathan an. Siehe: Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 8. 32 Bernhard Kahn, Memories 1914–1921, o. O. u. J. (nach 1945), in: Leo Baeck Institute Archives, New York, LBI Memoir Collection, ME 344a, S. 4 f. 33 Vierzehnter Geschäftsbericht (1915) d. HVDJ, S. 14 f. Und: Zusammenfassung Besprechung d. Unterstützungskomitees für bedürftige Russen (gez. Bernhard Kahn) an d. Geh. Oberregierungsrat Dr. Dammann, Berlin, 18.5.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 12 ff. 34 Paul Nathan, Entstehung und Aufgaben des Hilfsvereins der Deutschen Juden. Pogrome/ Das Hilfswerk im Kriege, in: Festschrift anlässlich der Feier des 25jährigen Bestehens des Hilfsvereins der Deutschen Juden, Berlin 1926, S. 5–22, hier S. 17 f.
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in der sächsischen Industriestadt Chemnitz um Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose und richteten unter anderem eigenverantwortlich Arbeitsstätten ein.35 Eine andere Ausrichtung gaben die Mitglieder dem in Frankfurt am Main gegründeten Ausschuß für Rat und Hilfe in staats- und völkerrechtlichen Angelegenheiten für In- und Ausländer, zu dessen geschäftsführendem Vorsitzenden der Jurist Alexander Dietz (1864–1934) bestellt wurde.36 Der Ausschuss offerierte keine finanziellen oder materiellen Beihilfen, sondern er vermittelte Briefe und Pakete der Angehörigen und erteilte Auskünfte über den Postverkehr. Er verfasste und befürwortete Gesuche »der hier lebenden feindlichen und neutralen Ausländer […] bei den deutschen Behörden um Aufenthaltsbewilligung, Entlassung aus den Gefangenenlagern, Erteilung von Reisepässen, Einziehung von Erkundigungen« und setzte »Schreiben aller Art« für die Hilfesuchenden auf. Seine Mitglieder erstellten Gutachten »an Private und Behörden über zahlreiche staats- und völkerrechtliche Fragen, wie doppelte Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit nach deutschem Recht und demjenigen der feindlichen Staaten«. Ferner beteiligten sie sich an der Suche nach Vermissten, aus der im Laufe des Krieges ein wichtiges Tätigkeitsfeld für die im Ausschuss Engagierten erwuchs.37 Unter dem Leitspruch »caritas inter arma« betrat Anfang Oktober 1914 ein weiterer Zusammenschluss von Helfenden das Feld der Kriegsfürsorge, die in Berlin residierende Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland. Initiiert von dem Pazifisten, Sozialpädagogen und evangelischen Theologen Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969),38 überschnitten sich deren Fürsorgeleistungen mit denen des Hilfsvereins und des Ausschusses für Rat und Hilfe. Neben Geld für den täglichen Lebensunterhalt verteilten die Mitarbeiter/innen Lebensmittel, Milch- und Speisemarken, organisierten Kohlenlieferungen, kümmerten sich um Bekleidung und Mietbeihilfen und verhandelten Schuldentilgungen. Sie versuchten darüber hinaus, durch persönliche Verbindungen und Empfehlungen Arbeitsgelegenheiten zu vermitteln. Die Art und Höhe der gewährten Hilfen wurde fallweise entschieden und richtete sich laut dem Rechenschaftsbericht »nach der sozialen Stellung der Familie, nach dem etwaigen Arbeitsverdienst und vor allem auch nach den von andrer Seite gewährten
35 UKbR an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 16. 36 Zweiter Tätigkeitsbericht d. Ausschußes für Rat u. Hilfe in staats- und völkerrechtlichen Angelegenheiten für In- u. Ausländer (August 1914–Juli 1915), in: BArch Berlin, R 67/1964. 37 Ebd. 38 Zum Leben und Wirken Friedrich Siegmund-Schultzes siehe: Johannes Weissinger, »Weil der Planet ein Dorf geworden ist«. Friedrich Siegmund-Schultzes deutsch-britische Friedensaktivitäten vor und im Ersten Weltkrieg, in: Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 495–509.
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Unterstützungen«.39 Darüber hinaus vermittelte die Hilfsstelle ebenso dringende Lebensmittel- und Kleiderspenden in die Internierungslager.40 Für die Gemeinschaft der Fürsorgenden war die Auskunfts- und Hilfsstelle ein entscheidendes Bindeglied. Denn unter ihrer charismatischen41 Geschäftsführerin Elisabeth Rotten (1882–1964)42 verband sie nationale und internationale Akteure und Organisationen durch persönliche Kontakte und unermüdliche Briefwechsel miteinander.43 Im Adressbuch der Schweizer Staatsbürgerin, die ein Jahr in London als Lektorin gearbeitet hatte,44 versammelten sich Privatpersonen, Wohlfahrtseinrichtungen und Unterstützungsfonds wie der Hilfsverein für Russen, das Polenkomitee45 oder die britisch-deutsche König Eduard VII.-Stiftung.46 Sie unterhielt zudem Verbindungen zu Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Preußischen Kriegsministeriums und der Berliner Kommandantur. Über Staatsgrenzen hinweg knüpfte sie Kontakte zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, der Young Men’s Christian Association und dem Friends Emergency Committee for the Assistance of Germans, Austrians and Hungarians in Distress. Sie reiste zum Internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag Ende April 1915 und besuchte anschließend den englischen Friedensaktivisten Stephen Hobhouse (1881–1961) vom Friends Emergency Committee in London. Im September des gleichen Jahres wurde sie vom Generalgouverneur für Belgien, Moritz von Bissing, empfangen.47
39 Elisabeth Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland, April 1916, (Druckschrift) in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540 u. abgedruckt in: Die Eiche. Vierteljahrsschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 115–120. 40 Vgl. u. a. die Schriftstücke in: EZA Berlin, 51/C III g 2. Dort finden sich Anfragen an die Kommandantur des Internierungslagers Havelberg um Bestätigung von Bitten nach Geld und Kleidung. In den zugehörigen Unterakten sind weiterhin Korrespondenzen überliefert, die eine umfangreiche Vermittlungsarbeit für das Internierungslager Lauban belegen. 41 Dietmar Haubfleisch, Elisabeth Rotten (1882–1964) – eine (fast) vergessene Reformpädagogin, in: Inge Hansen-Schaberg (Hg.), »etwas erzählen« – Die lebensgeschichtliche Dimension in der Pädagogik, Hohengehren 1997, S. 114–131, hier S. 125. 42 Vgl. zu Elisabeth Rottens Arbeit im Krieg: Matthew Stibbe, Elisabeth Rotten and the ›Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland‹, 1914–1919, in: Alison Fell u. Ingrid Sharp (Hg.), The Woman’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, New York 2007, S. 194–210. Einen biographischen Überblick mit umfassender Bibliographie vermittelt: Haubfleisch, Elisabeth Rotten, S. 114–131. 43 Eine unvollständige Übersicht der Zusammenarbeit mit anderen Vereinen findet sich in: Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle, S. 119 f. 44 Elisabeth Rotten, Idee und Liebe, in: Rudolf Weckerling (Hg.), Durchkreuzter Hass. Vom Abenteuer des Friedens, Berlin 1961, S. 78–84. 45 Kurzform der Vereinigung zur Unterstützung der in Not geratenen in Berlin und Umgegend wohnhaften Angehörigen Russisch-Polens. 46 Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle, Anhang. 47 Stibbe, Elisabeth Rotten, S. 200.
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Elisabeth Rotten knüpfte ebenfalls Kontakt zu dem bekannten französischen Pazifisten und Schriftsteller Romain Rolland (1866–1944).48 Während des Krieges in der Schweiz lebend, hatte er sich im Herbst 1914 an den Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gewandt und darum gebeten, in der Hilfsorganisation eine verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen zu können. Im kommenden dreiviertel Jahr engagierte er sich innerhalb der von Frédéric Ferrière (1848–1924) errichteten Zentralstelle für Kriegsgefangene für die Belange der Zivilinternierten. Er begleitete den strukturellen Ausbau der Auskunfts- und Aufklärungsarbeiten, engagierte sich in Hilfs- und Vermittlungstätigkeiten und trieb die internationale Vernetzung der Organisation entschieden voran.49 »Wenn sich in Österreich, Deutschland und Frankreich großherzig gesinnte Männer und Frauen bereit fänden, die Lager jener Zivilinternierten ausfindig zu machen, Listen von ihnen aufzustellen und diese durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes von Land zu Land auszutauschen, wäre das eine große humanistische Tat«, schrieb er seinem Freund Stefan Zweig (1881–1942).50 Rolland prangerte öffentlich die Situation deportierter Zivilisten an und warb um Unterstützung für das Rote Kreuz.51 Hierbei appellierte er im Journal de Genève an die Daheimgebliebenen, ihre Anteilnahme nicht den Bedürftigsten und unter ihnen den Zivilinternierten zu verwehren. Denn es sei, als gäbe es sie nicht – »Ils sont comme s’ils n’existaient pas.«52 Im Zuge dessen pries er ebenso das Hilfswerk der Auskunfts- und Hilfsstelle an.53 In den darauffolgenden Monaten und Jahren entwickelte sich das Genfer Komitee zu einer zentralen Koordinierungsstelle und einem bedeutenden Wissensvermittler für die Hilfstätigkeiten zur Unterstützung Kriegs- und Zivilgefangener in den kriegführenden Staaten.54
48 Romain Rolland, Das Gewissen Europas. Tagebuch der Kriegsjahre 1914–1919. Aufzeichnungen und Dokumente zur Moralgeschichte Europas in jener Zeit. Bd. 1: Juli 1914 bis November 1915, Berlin 1963, S. 387 f., 399 u. 780. 49 Michael Klepsch, Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000, S. 76–90. 50 Romain Rolland an Stefan Zweig, 10.10.1914, in: Romain Rolland und Stefan Zweig, Briefwechsel 1910–1940, Bd. 1: 1910–1923, übers. aus d. Franz. von Eva u. Gerhard Schewe u. Christel Gersch, Berlin 1987, S. 74–76. 51 Klepsch, Romain Rolland im Ersten Weltkrieg, S. 77. 52 Romain Rolland, Inter arma caritas, in: Journal de Genève, 4.11.1914 (verf. 30.10.1914). 53 Romain Rolland, Notre Prochain, l’Ennemi, in: Journal de Genève, 15.3.1915. Eine Übersetzung erschien zeitgleich in: Romain Rolland, Unser nächster, der Feind, in: Das Forum, Jg. 1 (1915), Heft 12, S. 639–644. 54 Zur organisatorischen Entwicklung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz siehe: Uta Hinz, Humanität im Krieg? Internationales Rotes Kreuz und Kriegsgefangenenhilfe im Ersten Weltkrieg, in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, S. 216–236, hier bes. S. 220–227.
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Ein zentraler Aspekt der Fürsorgearbeit vor Ort war die religiöse Seelsorge in Form von Gottesdiensten, persönlichen Gesprächen55 und der Verteilung religiöser Schriften. Für die daran Beteiligten bedeutete die Betreuung der in Deutschland Internierten und Kriegsgefangenen ein neues Aufgabenfeld. Dieses wurde zwar durch die stellvertretenden Generalkommandos organisiert, aber die Bischöfe, Pfarrer und Rabbiner hatten große Gestaltungsspielräume, wenn sie diese vor allem im Zuge persönlichen Engagements nutzten.56 Als koordinierende Stelle wurde im Dezember 1914 der Interkonfessionelle Hilfs-Ausschuss für Gefangenenseelsorge eingerichtet.57 Dieser gliederte sich in eine evangelische und eine katholische Abteilung. Ein Rabbiner vertrat die jüdischen Interessen.58 Für die katholische Kirche entwickelte sich überdies die Diözese Paderborn unter Bischof Karl Josef Schulte (1871–1941) und die dort gegründete Kriegshilfsstelle Paderborn zu einem organisatorischen Mittelpunkt der Seelsorge. Orientiert an einem Erlass der Römischen Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegenheiten vom 22. Dezember 1914, konzentrierten sich die Geistlichen in der ersten Zeit auf die Durchführung von Gottesdiensten. Sie errichteten für diese zum Teil »dauerhafte Notkirchen« in den Gefangenenlagern aus eigenen Finanzmitteln. Aufgrund der vielen Anfragen nach vermissten Personen baute der Paderborner Bischof alsdann Anfang 1915 ein Nachrichtenbüro auf. Dieses arbeitete eng mit der Mission Catholique Suisse zusammen, die von der britischen, der deutschen und der französischen Regierung anerkannt wurde. Die Mitarbeiter/ innen des Büros ergänzten die Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, indem sie dort erfolglose Vermisstensuchen weiterverfolgten. Aus diesen beiden Arbeitsfeldern ging im Laufe der Zeit eine Fürsorgestelle hervor, die vor allem Spendensammlungen französischer Diözesen an die kriegsgefangenen und internierten französischen Staatsbürger/innen übermittelte.59 Durch ihre seelsorgerische Arbeit außer- wie innerhalb der Internierungslager über Armeekorpsgrenzen hinweg hatten kirchliche Akteure einen unmittelbaren Zugang zu einer Vielzahl an Ausländer/innen und gewannen infolgedessen tiefe
55 Zu diesem Aspekt in den Kriegs- und Zivilgefangenenlagern siehe: Hickmann, GefangenenSeelsorge, S. 16 f. 56 Hermann-Josef Scheidgen, Deutsche Bischöfe im Ersten Weltkrieg. Die Mitglieder der Fuldaer Bischofskonferenz und ihre Ordinate 1914–1918, Köln 1991, S. 151 f. u. Fn. 151. 57 Umfassend zur Tätigkeit des Hilfs-Ausschusses siehe: Hugo Hickmann, Deutsche evangelische Gefangenen-Seelsorge im Weltkriege. Tätigkeits-Bericht des Hilfs-Ausschusses für Gefangenen-Seelsorge, Leipzig 1921. 58 Hilfs-Ausschuss für Gefangenen-Seelsorge an d. Deutschen Evangelischen Kirchen-Ausschuss z.H. des Präsidenten, Herr Wirklicher Geheimer Rat D. Voigts, Berlin, 21.8.1915, in: EZA Berlin, 1/787. 59 Constantin Noppel, Die kirchliche Kriegshilfsstelle Paderborn, in: Die Eiche. Vierteljahrsschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 201–209.
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Einblicke in deren Lebenswelten.60 Der Berliner Pfarrer Albert Nicole (1873–1966) beschrieb seine Erfahrungen aus der Seelsorge innerhalb des Kriegsgefangenenlagers Zossen und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen folgendermaßen. »Nach meiner ersten Predigt am 18. Oktober 1914 wurde es mir klar, dass mit der rein seelsorgerischen Arbeit meine Tätigkeit als Lagergeistlicher nicht erschöpft sein konnte. Es musste etwas, ja selbst viel, für die leibliche Not getan werden. Ich erbat und erhielt von der Kommandantur die Erlaubnis, an Bedürftige Liebesgaben jeder Art zu verteilen mit Ausnahme von Alkohol.«61 Ebenso wurden Missstände und Klagen, Nöte und Bedürfnisse zuerst an die Seelsorger herangetragen. Diese konnten sie im Falle der Lager alsbald ohne Umwege über Verwaltungshierarchien an die Kommandanten herantragen62 oder direkt den privaten Wohltätigkeitsvereinen melden.63 Aber auch außerhalb der Lagergrenzen stellten Seelsorger einen wichtigen Bezugspunkt für Ausländer/innen dar. Unter anderem klagten sie gegen allzu restriktive Ortswechselverbote, die den Gottesdienstbesuch der Gläubigen verhinderten.64 Sie wandten sich gegen Einschränkungen des Briefverkehrs und prangerten schlechte Arbeitsbedingungen an.65 In ihrer Stellung als religiöse Autoritäten agierten sie zumindest als moralische Beobachter gegenüber den jeweiligen Verantwortlichen. Ihr unmittelbarer und vertraulicher Zugang zu Ausländer/innen und ihre darauf aufbauende Vermittlerposition blieben staatlichen Akteuren nicht verborgen. Einerseits konnten die Kirchenvertreter schnell Misstrauen erregen. So wurde ihnen im Falle der Sächsischen Kreishauptmannschaft Chemnitz eine zu große Gutmütigkeit nachgesagt. Die Wahrnehmung der Beamten, dass der ansässige Pfarrer Jakob Schewtschik (1867–1935) den ausländischen Saisonarbeiter/innen »zu viel Glauben [schenke], wenn sie ihm unter Tränen ihr Leid klagen«, führte gar zum Vorwurf der Sabotage staatlicher Ziele. Denn »die russisch-polnischen Arbeiter [dürften] in ihrer Neigung zu Unbotmäßigkeit nur gestärkt werden, wenn sie sehen, dass ihr Seelsorger allen ihren Erzählungen ohne Weiteres Glauben schenkt und sie auch in weltlichen Angelegenheiten bei der oder gegen die Obrigkeit zu unterstützen sich bestrebt«, wurde innerhalb der Kreishauptmannschaft festgestellt.66 60 Z. B.: Friedrich Siegmund-Schultze, Caritas inter arma, in: Die Eiche. Vierteljahrsschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 89–107. 61 Albert Nicole, Bilder aus der Seelsorge an französischen Gefangenen, in: August Wilhelm Schreiber (Hg.), Deutsche Kriegsgefangenen-Seelsorge, Berlin 1916, S. 52–56, hier S. 54. 62 Scheidgen, Deutsche Bischöfe im Ersten Weltkrieg, S. 155–166. 63 Z. B.: AHS an Eduard Fuchs (Zehlendorf), 5.1.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. 64 Katholisches Pfarramt I (gez. Schewtschik) an d. Sächs. KrhM Chemnitz, 6.1.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3360, Bl. 106. 65 Sächs. KrhM Chemnitz an d. Sächs. MdI, 14.6.1916, in: HStA Dresden, 10736/3363, Bl. 125 f. 66 Ebd.
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Andererseits versuchten staatliche Verantwortungsträger, die Geistlichen aufgrund ihres »tiefergehenderen Einblicks in die Arbeiterpsyche und des ihnen zugebotestehenden stärkeren Einflusses« für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.67 Die Offiziere und Mitarbeiter des Kriegsamtes hielten in den Grundsätzen über »die Heranziehung arbeitsscheuer Belgier zu Arbeiten in Deutschland« fest, dass auf eine »ausreichende seelsorgerische Behandlung […] Gewicht zu legen« sei. Aber als Voraussetzung für die Zulassung galt eine »sichere nationale Haltung«.68 Die Seelsorger sollten in »geeigneten Fällen […] zur Vermittlung« herangezogen werden und »sich der Leute« annehmen.69 Das Apostolische Vikariat im Königreich Sachsen ermahnte beispielsweise in diesem Sinne die russländisch-polnischen Arbeiter/ innen während und außerhalb des Gottesdienstes »zur Ruhe und Beachtung der gesetzlichen Vorschriften«.70 Die Pfarrämter sollten entsprechend dem Interesse der Landwirte sich energisch gegen das unerlaubte Verlassen der Arbeitsstellen wenden.71 Daraufhin wurde der polnischsprachige Kaplan Rolewski seitens des Vikariats angehalten, »im Beichtstuhl und auf der Kanzel und im persönlichen Verkehr« auf die Arbeiter/innen einzuwirken. Wenn er es für nötig erachtete, durfte er zu diesem Zweck die Zahl der Gottesdienste erhöhen.72 Vor dem Hintergrund dieser Doppelrolle der Seelsorger kommt Kai Rawe zu dem Schluss, dass die religiöse Fürsorge »auch einen Beitrag zur Ausbeutung der russisch-polnischen und belgischen Arbeitskräfte« leistete.73 Die Beispiele verdeutlichen darüber hinaus die Bedeutung lokaler Organisationen ebenso wie vor Ort tätiger Einzelpersonen und Initiativen im Feld der Fürsorge. Sie hatten einen unmittelbaren Zugang zu Ausländer/innen, konnten ihre Urteile aus eigenen Anschauungen gewinnen und waren nicht nur auf Schilderungen in Briefen oder Zeitungen angewiesen. Stellvertretend für viele andere seien ein Komitee im ostpreußischen Königsberg und eines in Frankfurt am Main angeführt. Die Mitglieder der in Königsberg ansässigen jüdischen Gemeinde gründeten am 5. August das Jüdische Hilfskomitee 1914, um die »zu erwartende Kriegsnot« zu lindern. Die Freiwilligen und Förderer sollten mit ihren nüchternen Vorahnungen recht behalten. In den ersten Tagen des Krieges unterstützten sie vielfach aus 67 Preuß. KM (gez. v. Wrisberg) an d. preuß. Minister d. Innern, Oktober 1916, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 52 ff. 68 Preuß. KM (Kriegsamt) an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, 15.11.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 69 Preuß. KM (Kriegsamt), betr. Verwendung von Arbeitskräften aus Polen in d. dt. Kriegswirtschaft, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, 11.1916, (Ent.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 70 Apostolisches Vikariat im Königreich Sachsen an d. Sächs. Min. d. Kultus u. öffentlichen Unterrichts, 29.4.1915, (Auszugsweise Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3355, Bl. 95 f. 71 Sächs. AmhM Löbau an d. stv. Gkdo. XII. AK, 26.9.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 105. 72 Sächs. MdI an d. Sächs. KrhM, 12.5.1915, in: StA Chemnitz, XXXVI.X.178 (Feindliche Ausländer), Bl. 24. 73 Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 248.
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dem Reichsinnern eintreffende feindliche Ausländer/innen. »Zahlreiche russische Staatsangehörige jüdischen Glaubens, Kranke, die in hiesigen Kliniken untergebracht waren, Kurgäste aus den ostpreußischen Seebädern oder solche, die aus dem Westen heimkehrend, die russische Grenze versperrt gefunden hatten, waren zu hunderten auf dem Schloßhof interniert und harrten des Abtransports«, erinnerte sich Rabbiner Hermann Vogelstein (1870–1942).74 Nachdem die Helfenden ausländische Staatsangehörige verpflegt und oftmals mit Geld unterstützt hatten, versorgten sie Flüchtende aus den ostpreußischen Frontgebieten, die in der Stadt ankamen. Anschließend blieb ihnen keine Zeit zum Durchatmen. In zwei Etappen wurden die russländischen Staatsangehörigen erst aus dem Festungsrayon und später aus der Stadt Königsberg ausgewiesen.75 »Bald aber mußten Hunderte, zum Teil seit Jahrzehnten hier ansässige Gemeindemitglieder russischer Staatsangehörigkeit mit Weib und Kind über Hals und Kopf Königsberg verlassen«, schilderte Joseph Rosenthal, der Geschäftsführer des Hilfskomitees, die Situation vor Ort. »Ganz plötzlich, zuweilen von der Straße hinweg, wurden diese Unglücklichen in oft wenig rücksichtsvoller Weise von polizeilichen Organen zur Bahn befördert, ohne daß man ihnen noch Zeit gelassen hatte, ihre persönlichen Verhältnisse zu ordnen.«76 Ein Teil von ihnen fand sich in Internierungslagern wieder. Im Laufe des Herbstes und Winters 1914/15 sammelten sich abhängig vom Frontverlauf in Ostpreußen erneut Geflüchtete aus den Kriegsgebieten in der Stadt. Im Angesicht dieser zahlreichen Hilfesuchenden entfaltete das Königsberger Komitee eine fortwährende ausgedehnte Fürsorgearbeit: Darlehen wurden gewährt, eine Volksspeisung eingerichtet, Verpflegung für die Abreisenden und Internierten gestellt, Seelsorge organisiert, Kleiderspenden veranstaltet und die zurückgelassenen Wohnungseinrichtungen kontrolliert oder verwahrt. Ebenso engagierten sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, als im August 1914 russländische Staatsangehörige hilfesuchend in der Stadt eintrafen. »Die Begüterten hielten sich anfangs in einigen Hotels auf, welche aber bald Schwierigkeiten machten, während die Mittellosen von der Poli-
74 Hermann Vogelstein, Die Flüchtlingsfürsorge in den jüdischen Gemeinden, in: Ostpreußische Kriegsblätter, hg. von Albert Brackmann, Heft 2: Die Fluchtbewegung und Flüchtlingsfürsorge, Berlin 1915, S. 100–109, hier vor allem S. 100–102. Ein Teilabdruck des Artikels findet sich ebenso in: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Jg. 22/Heft 1–2 (Januar 1916), S. 18–20. 75 Bkm d. Gouverneurs v. Königsberg, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 6.11.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 418, S. 263. Königsberg wurde ebenso mit der Verordnung des Chefs des Generalstabes der Armee zum »verbotenen Ort« erklärt. Siehe: Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (v. Manteuffel) an u. a. d. Sächs. KM, 10.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 1 ff. 76 Joseph Rosenthal, Die Kriegsarbeit des Jüdischen Hilfskomitees 1914 zu Königsberg i. Pr., Königsberg 1919, S. 7.
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zei in Schutzhaft genommen wurden«, berichtete die Jüdische Rundschau.77 Der Gemeindevorstand bildete daraufhin eine Kommission, setzte sich mit der Polizei in Verbindung und organisierte die Unterbringung wie die Verpflegung der in Not Geratenen in einer leerstehenden Synagoge. »Für eine weitere Anzahl solcher Russen, denen man mit Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Stellung in ihrer Heimat nicht zumuten wollte, in dem Hörsaale zu nächtigen, […] wurden […] leerstehende Mietwohnungen gemietet[.] […] Eine Anzahl begüterter Leute, die allerdings jetzt über keine Barmittel verfügen, wurden von Gemeindemitgliedern als Gäste in ihre Wohnungen aufgenommen.«78 Viele unzählige Einzelpersonen leisten zusätzlich Hilfe. Die Fürstin Evelyn Blücher von Wahlstatt erhielt »täglich zahllose Briefe und Telegramme« aus Großbritannien zugesandt, in denen sie gebeten wurde, Auskunft über vermisste Personen einzuholen. Sie versuchte, jedem Gesuch nachzukommen, und recherchierte zu zahlreichen Einzelfällen.79 Die Pazifistin Frida Perlen (1870–1933) erlangte durch Vermittlung des württembergischen, königlichen Kabinettschefs Listen von Zivilgefangenen in den Lagern Ulm und Heilbronn, verfasste Berichte an ihn und half in Württemberg gestrandeten Ausländer/innen.80 Der Kaufmann Victor Rubin (1876–?) nahm im Königreich Sachsen eine herausragende Stellung für die Fürsorgearbeit ein. Der russländische Staatsangehörige war ehrenamtlich für das Spanische Konsulat tätig und genoss wohl eine »Vertrauensstellung bei der Polizeidirektion Dresden«.81 Er kümmerte sich um internierte russländische Studenten, vermittelte Briefe, erteilte Auskünfte und entschied über die Gewährung materieller und finanzieller Unterstützung.82 Für letztere Tätigkeit rief er ein in Sachsen arbeitendes Unterstützungskomitee ins Leben.83 Rubins Korrespondenzen umfassten tausende Schriftstücke. Um das Arbeitsaufkommen zu bewältigen, stellte er Hilfskräfte ein.84 77 Meldung, in: Jüdische Rundschau, 11.9.1914 (Nr. 37). In dieser Ausgabe der Rundschau finden sich viele weitere Beispiele eines breiten Engagements zur »Linderung der Kriegsnot« und Spendenaufrufe. 78 Ebd. 79 Evelyn Fürstin Blücher von Wahlstatt, Tagebuch 1914–1919, München 1924, S. 47 (16.10.1914). 80 Frida Perlen an Elisabeth Rotten, 23.2.1915, in: EZA Berlin, 51/C III c 3,3. 81 Sächs. AmhM Borna an d. Sächs. MdI, 30.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3359, Bl. 47. 82 Sächs. Min. für auswärtige Angelegenheiten an d. stv. Gkdo. XII. AK, 11.11.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 15; Spanisches Konsulat an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, Dresden, 28.2.1917, zur Kenntnisnahme d. stv. Gkdo. XII. AK (gez. v. Lüder), (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 146 f. 83 Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 29.6.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 225 f. 84 Bericht d. Kriminal-Gendarmen Albert Willmann, Polizeidirektion Dresden, 20.7.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 13451/70, Bl. 11–12.
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Otto Peterson arbeitete unermüdlich in Berlin.85 Für Analphabeten setzte er schriftliche Gesuche auf, für Fremdsprachige dolmetschte er Gespräche mit den Beamten städtischer Behörden und vermittelte bei Missverständnissen. Er recherchierte des Weiteren vermisste Personen, wurde als Arbeitsvermittler tätig und vertrat die Interessen der Ausländer/innen gegenüber Banken, indem er Zahlungsaufschübe erwirkte, sowie gegenüber Ärzten, die er zu kostenfreien Behandlungen bewegte. Victor Rubin stand ebenso wie Frida Perlen in engem schriftlichen Austausch mit Elisabeth Rotten.86 In diesem Zusammenhang können beide exemplarisch für viele andere Privatpersonen stehen, die Anfragen an die Geschäftsführerin der Auskunftsstelle formulierten und von dieser wiederum selbst Bitten um Erkundigungen und Hilfe erhielten. »Wir bemühen uns auch und haben hie und da Erfolg dabei, einen Geistlichen oder einen städtischen Beamten zu interessieren«, schrieb Rotten über die Mobilisierung weiterer Hilfsbereiter außerhalb Berlins.87 Die damit verbundenen Briefwechsel, mit denen sich die Akteure gegenseitig in Bewegung setzten, wirken bis in die Gegenwart. Denn Historiker/innen erhalten erst durch sie Kenntnis von der Vielzahl an Mitwirkenden und ihrem Einsatz für Ausländer/ innen. »Sofort nach Erhalt solcher Bitten beginnt eine endlose Schreiberei«, notierte die Fürstin Blücher von Wahlstatt in ihrem Tagebuch über ihre ersten Arbeitsschritte.88 Im Angesicht der überlieferten Briefe werden keineswegs alle Aspekte der Wohlfahrtspflege sichtbar. Gleichwohl dokumentieren sie einen entscheidenden, prägenden Moment der sozialen Arbeit für Ausländer/innen: Fürsorgen hieß insbesondere Schreiben. Es war nicht nur für den Kontakt zu staatlichen Institutionen essentiell, sondern ebenso für die dauerhafte Vernetzung mit anderen Unterstützer/innen, für den Austausch von Informationen und die Anwerbung neuer Helfer und dringend benötigter Spenden. Denn Rotten, Rubin, Nathan und ihre unzähligen Mitstreiter/innen organisierten sich größtenteils jenseits der öffentlichkeitswirksamen Tagespresse. Die Briefe dokumentieren daher keine Ergebnisse, sondern sie waren Elemente eines Prozesses. Sie repräsentieren ein Wissensfeld über die Nöte ausländischer Staatsbürger/innen und die Zugänge zu vielfältigen Ressourcen, um diese zu lindern. Auf einen Teil dieses Briefwerkes stoßen Historiker/innen im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin. Im Bestand »caritas inter arma« sind unzählige Korres85 Otto Peterson, 3 Jahre Fürsorgearbeit an russischen Zivilgefangenen in Berlin. (1914–1917), Berlin 1917 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). 86 Korrespondenz zwischen Victor Rubin u. Elisabeth Rotten (1917), in: EZA Berlin, 51/C III d 13 (Josephine Grange). 87 Friedrich Siegmund-Schultze u. Elisabeth Rotten, Bericht der Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland, Januar 1915, in: Die Eiche. Vierteljahrsschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 111–115, hier S. 114. 88 Blücher von Wahlstatt, Tagebuch, S. 47 (16.10.1914).
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pondenzen der Auskunfts- und Hilfsstelle überliefert. Sie verweisen auf ein transnationales zivilgesellschaftliches Engagement, das als Einheit in den Archivregalen überdauerte. Bei einem genaueren Blick auf die Konvolute offenbaren sich tausende Einzelfälle, in denen zahllose Akteure aktiv wurden. Im Folgenden kann nicht jeder von ihnen betrachtet und gewürdigt werden. Stattdessen soll das Wie ihrer vielzähligen Tätigkeiten und Interventionen im Mittelpunkt stehen.89
Fürsorge als umtriebiges und unnachgiebiges Tätigsein Fürsorgende nahmen sich der Ausländer/innen an und standen ihnen in unterschiedlichsten Lebenssituationen bei.90 Vertrauensvolle Gespräche, ausgehändigte Kleider- und Lebensmittelspenden, überwiesene Zuschüsse zur Miete, entgegengenommene Briefe an die Verwandten im Ausland oder die übermittelte Adresse eines wohlwollenden Arbeitgebers stellten das Ergebnis eines sich fortwährend wandelnden Tätigseins dar. Weder beruhte es auf staatlichen Direktiven, noch lag diesem ein weitreichender Plan zugrunde. Die fürsorgenden Akteure konnten zwar zum Teil, wie im Falle des Hilfsvereins der Deutschen Juden, an bestehende Organisationsstrukturen anknüpfen, aber der Krieg und der Belagerungszustand definierten gänzlich neue Rahmenbedingungen. Sie mussten herausfinden, welche Handlungsspielräume ihnen zur Verfügung standen, Erfahrungen sammeln und Prozeduren für ihre Tätigkeiten entwickeln. In diesem Sinne bezeichneten die Mitarbeiter/innen des Ausschusses für Rat und Hilfe ihre begonnene Fürsorgearbeit als einen »Versuch«.91 Die damit verbundene Ungewissheit über Erfolg oder Scheitern galt nicht nur für die ersten Kriegsmonate. Vielmehr war sie für die gesamte Kriegszeit charakteristisch. Denn während die humanitären Ziele der Unterstützer/innen sich kaum veränderten, standen ihnen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Ihre Adressaten wechselten in Bezug auf Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit. Infolgedessen veränderten sich die zu lindernden Nöte. Sie waren abhängig von den Aktionen und Reaktionen sowie der Wohlfahrtstätigkeit gegenüber Ausländer/innen in den Staaten der Kriegsgegner. Das Wissen und die Wahrnehmung über dortige Verhältnisse konnten gewährte Handlungsspielräume öffnen oder schließen. Nicht selten gaben Vorfälle im Ausland staatlichen Akteuren Anlass, in Arbeitsfeldern der Fürsorgenden zu intervenieren. Folglich gestaltete sich das Tätigsein als eine Aneinanderreihung herausfordernder Initiativen, die 89 Eine unvollständige Übersicht der Organisationen und Vereine, die sich unter anderem in der Gefangenen- und Ausländer/innenfürsorge engagierten, findet sich in: Die Eiche. Vierteljahrsschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 121 ff. 90 Zur Gefangenenhilfe im Ersten Weltkrieg siehe: Hinz, Humanität im Krieg? 91 ARH an d. Kommandanten eines Gefangenenlagers, o.D. (ca. Mai 1915), (Abs.) in: HStA München, Abt. IV, MKr 12791.
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von vielfältigen Faktoren beeinflusst wurden. Improvisation bedeutete für die Fürsorgenden keine Ausnahme, sondern den Grundzustand ihres Handelns. Elisabeth Rotten interpretierte dies aber nicht als einen Nachteil. »Bei der gesamten Fürsorgetätigkeit sind wir bemüht,« schrieb sie 1916, »der Arbeit den Charakter einer provisorischen, für die besonderen Nöte des Krieges eingerichteten Hilfsaktion zu bewahren.«92 In ihrem Tätigsein lehnte sie eine Institutionalisierung ihrer kriegsbedingten Fürsorgeinitiativen ab. Der Krieg begründete ihre tägliche Arbeit und der Frieden sollte sie wieder beenden.
Projekte erschaffen Am 13./14. August 1914 richtete der Vorstand des Hilfsvereins der Deutschen Juden eine Denkschrift über die Lage der russländischen Staatsangehörigen im Deutschen Reich an das Reichsamt des Innern, das Auswärtige Amt und den Stellvertretenden Generalstab.93 Der Vorsitzende James Simon, der als ein prominenter Kunstmäzen, Geschäftsmann und Philanthrop in den höheren Berliner Gesellschaftskreisen verkehrte und vertrauensvolle Kontakte zu Kaiser Wilhelm II. unterhielt, unterzeichnete das mehrseitige Schreiben.94 Paul Nathan und Bernhard Kahn fanden darin ebenfalls Erwähnung als Ansprechpartner. Die Verfasser skizzierten ohne Vorrede die drängenden, durch den Krieg verursachten Probleme. »Die Zahl der in Deutschland weilenden Russen wird auf 50 bis 60 000 veranschlagt; nicht eingerechnet die russischen Erntearbeiter«, stellten sie fest und fuhren resümierend fort: »Die russischen Erntearbeiter sind für Deutschland zur Zeit noch unentbehrlich, dagegen stellt der Rest der in Deutschland heute weilenden Russen eine Last dar, die entweder die private Wohltätigkeit oder die kommunale Armenpflege oder die unmittelbare staatliche Fürsorge erheblich belastet; in erster Reihe in finanzieller Beziehung, dann aber auch die staatlichen Organe dadurch, dass eine Überwachung dieser Massen in größerem oder geringerem Umfange angeordnet worden ist.«95
92 Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle, S. 117. 93 HVDJ (gez. James Simon) an d. AA, 13.8.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1 u. in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 27 ff. Das Memorandum wird ebenfalls erwähnt in: Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 5–6. Dort wird Paul Nathan als maßgeblicher Autor genannt. Im Folgenden wird von mehreren Verfassern ausgegangen. 94 Prägnant zu James Simon: O. A., James Simon: Industrialist, Art Collector, Philanthropist, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Jg. 10 (1965), Heft 1, S. 3–23. 95 HVDJ (gez. James Simon) an d. AA, 13.8.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1.
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Die Perspektive war für die militärischen und zivilen Adressaten wohl gewählt. Sie ruhte allein auf den staatlichen Interessen Ökonomie und Sicherheit. Die Ausländer/innen zerfielen in zwei Kategorien: die wirtschaftlich nützlichen Saisonarbeiter/innen und die zur finanziellen Belastung werdenden »in überwiegender Zahl« »wohlhabenden Leute«, die zur Kur oder zum Arztbesuch nach Deutschland gereist waren. Letztere hätten zwar »genügende Geldmittel in Papier-Rubeln«, aber diese seien im Krieg wertlos geworden. Nun gelte es, »Deutschland von Zehntausenden von Essern [zu] befreien«. Die in der Denkschrift formulierte Lagebeurteilung entsprach zumindest den Einschätzungen innerhalb des Reichsamt des Innern, wenn sie diese nicht sogar geprägt hat.96 Vertreter der obersten zivilen Reichsbehörden und des Generalstabes diskutierten am 17. August 1914 über den weiteren Umgang mit feindlichen Ausländer/innen. Die Eingabe des Hilfsvereins stand dabei zur Erörterung. Die darin kolportierte Zahl von 50.000–60.000 russländischen Staatsangehörigen wurde zum Teil als Grundlage der Diskussion übernommen. Auf welchen Informationen diese Zahlen beruhten, hinterfragten die Anwesenden nicht. Dass es sich um eine prekäre Schätzung handelte, wird erst im Geschäftsbericht des Hilfsvereins im darauffolgenden Jahr sichtbar, als dort von 60.000–80.000 »Russen« ausgegangen wurde.97 Daran anschließend schlugen die Autoren der Denkschrift vor, die »Rückwanderung dieser Flüchtlinge« zu veranlassen. Davon auszuschließen seien die Erntearbeiter/innen, weil ihre »Arbeitskraft« weiterhin benötigt werde. Ebenso sollten die »kriegsfähigen jungen Leute« zurückgehalten werden. »Endlich müßten zurückbleiben alle gefährlichen politischen Elemente, die aus Gründen der deutschen Politik festzuhalten ein Interesse vorliegt.« Von den zur Ausreise Zugelassenen solle ein Abgesandter nach Russland reisen und dort die nötigen Gelder für die Fahrt sammeln. »Dabei müßten die reichen Russen verpflichtet werden, für ihre ärmeren Landsleute zugleich das nötige Reisegeld mitaufzubringen.« Eine »milde« Behandlung der russischen Staatsangehörigen sei von Vorteil, da sie zu Botschaftern würden, »mit welcher Begeisterung in Deutschland dieser uns aufgezwungene Krieg geführt wird, und welche Ordnung und Ruhe in unserem Vaterlande herrschen«.98
96 Protokollent. d. Besprechung im RAdI, betr. d. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30 ff. u. Rundschreiben d. Reichskanzlers (RAdI), 18.8.1914, (Aktenexemplar) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 39. Auch: Bay. Bevollmächtigte zum Bundesrat, Staatsrat Strößenreuther an d. Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, 18.8,1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53976. 97 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 5–6. 98 HVDJ (gez. James Simon) an d. AA, 13.8.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1.
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Bis zu dieser Feststellung trat der Vorstand des Hilfsvereins als Informant auf, der seine Befürchtungen und Überlegungen den Staatsbeamten mitteilte. Erst im darauffolgenden Absatz legte er seine Absichten dar und verschob die Perspektive auf das zuvor Geschriebene. »Der Hilfsverein der deutschen Juden ist zwar statutenmäßig nur berufen, für unsere Glaubensgenossen tätig zu sein, er würde aber in diesem Falle bereit sein, unter Zustimmung und Beihilfe der Staatsregierung die gesamte Aktion in die Hand zu nehmen, ohne bei dem Rücktransport zwischen russischen Juden und russischen Christen zu unterscheiden.« Nichts weniger als »die Interessen der […] Russen in Deutschland […] nach allen Richtungen hin wahrzunehmen«,99 wie es im Geschäftsbericht für 1914 heißen wird, war das dargelegte Ziel der führenden Protagonisten des Hilfsvereins. Sie schilderten demzufolge im ersten Teil ihrer Denkschrift weit mehr als eine akute Notlage der Ausländer/innen, die auf den Staat zurückwirken werde. Sie definierten ebenfalls eine zu versorgende Klientel ihrer Wohlfahrtspflege, das Kur- und Badegäste ein- und Saisonarbeiter/innen ausschloss. In ihrer Darlegung der »Aktion« entwarfen sie ein neues Aufgabenfeld. Sich selbst inszenierten sie als Experten für ausländische Staatsangehörige. Das humanitäre Projekt Ausreise war ein ungewisses Unterfangen, besonders weil es keine verbindlichen zwischenstaatlichen Vereinbarungen gab. Über die Situation deutscher Staatsbürger/innen im Ausland lagen den staatlichen Behörden zu dieser Zeit keine »sicheren Nachrichten« vor.100 Die Möglichkeiten zum Verlassen des Staatsgebietes waren ungeklärt. Zwar konnten noch am 15. August 800 Frauen und Kinder über die deutsch-russische Grenze nach Russland reisen,101 aber bereits die Schweizer Grenzsperren hatten gezeigt, dass sich Wege schnell verschließen konnten. Die Ausreise ausländischer Staatsangehöriger war ein Handlungsfeld, das gedanklich und praktisch erst erschlossen werden musste. Wie im Krieg selbst fielen keine endgültigen Entscheidungen. Beginnend bei der Finanzierung, über die favorisierte Reiseroute bis zu den diplomatischen Verhandlungen konnte das Wagnis scheitern. Die Verfasser der Denkschrift entwarfen zugleich eine Vorstellung vom Krieg, die weithin kongruent mit der staatlicher Führungseliten war. Nicht wehrfähige Zivilisten, deren Arbeitskraft nicht gebraucht wurde, sollten unabhängig von der Haltung der Kriegsgegner ausreisen dürfen. Ihre Kennzeichnung als »Flüchtling« stellte sie jenseits nationaler Zuschreibungen den aus den ostpreußischen Grenz 99 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 5 f. 100 Protokollent. d. Besprechung im RAdI, betr. d. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30 ff. 101 Ebd.
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gebieten Fliehenden gleich. Dahingegen zweifelten James Simon und seine Mitstreiter gegenüber den Reichsbehörden nicht an der Legitimität, die ausländischen Saisonarbeiter/innen zurückzuhalten. Ihre persönliche Freiheit hatte sich an dem Wert ihrer Arbeitskraft zu orientieren. Ob sich diese Vorstellungen durchsetzen würden, ob Ausländer/innen mehr eine Bedrohung für die Sicherheit des Deutschen Reiches als eine finanzielle Last darstellten, und wie weitreichend das Argument der Arbeitsleistung wirken sollte, war unentschieden. Was sollte in diesem Krieg gelten? Die führenden Mitarbeiter des Hilfsvereins hatten darauf eine Antwort und ein Projekt, diese umzusetzen. Sie befanden sich in einem »eigentümlichen Schwebezustand«, operierten im juristischen und politischen »Dazwischen einer ungesicherten Ordnung und des kanonisierten Wissens«. Ihre Position zwischen staatlichen Verantwortlichen und Ausländer/ innen, zwischen ziviler Wohlfahrtspflege und staatlicher Kriegspolitik »markiert[e] geradewegs den Übergang zwischen kritischer Zwangslage und einer noch unentschiedenen, zu gestaltenden Zukunft«.102 In diesem Sinne agierten sie als ›Projektemacher‹ der Fürsorge. Die Absender der Denkschrift waren mit ihrer Eingabe erfolgreich. Arthur Zimmermann (1864–1940), der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, hielt ihre Ausführungen für beachtenswert,103 und der Reichskanzler bezeichnete den Hilfsverein in einem Rundschreiben als zentralen Ansprechpartner für die Fürsorge russländischer Staatsangehöriger.104 Darüber hinaus nahmen die Protagonisten Paul Nathan, Bernhard Kahn und Bernhard Breslauer, der Vorsitzende des Unterstützungskomitees für bedürftige Russen, am 28. August an einer interministeriellen Besprechung im Reichsamt des Innern teil.105 Sie diskutierten dort die praktische Umsetzung der Ausreise. Organisiert wurde diese schließlich im September und Oktober 1914 von den Mitarbeitern des Hilfsvereins in Kooperation mit dem Unterstützungskomitee, nachdem sie bereits die Spendensammlung koordiniert hatten. Der Vorschlag, die wohlhabenden Ausreisenden für die zahlungsunfähigen aufkommen zu lassen, wurde von der Berliner Kommandantur übernommen.106 102 Markus Krajewski, Über Projektemacherei. Eine Einleitung, in: Ders. (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004, S. 7–25, hier S. 24. 103 Preuß. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten (gez. Zimmermann) an d. Chef d. Generalstabes d. Armee, Berlin, 13.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 26. 104 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 6. 105 U. a. waren weiterhin als nichtamtliche Vertreter anwesend: Paul Mankiewitz (1857–1924), Direktor der Deutschen Bank, der Bankier Hugo Simon (1880–1950) und der OsteuropaHistoriker und Publizist Theodor Schiemann (1847–1921). Siehe: Protokoll Besprechung im RAdI betr. Abbeförderung russischer Staatsangehöriger, 28.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 88–95. 106 Im Protokoll der Sitzung im RAdI am 17.8. wird der Vorschlag direkt auf die Denkschrift des Hilfsvereins zurückgeführt. Siehe: Protokollent. d. Besprechung im RAdI, betr. d. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30–33.
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Projekte verwirklichen Im September 1914 konnten in 17 Sonderzügen 15.000–16.000 russländische Staatsangehörige über das im Nordosten der Insel Rügen gelegene Saßnitz und die schwedische Küstenstadt Trelleborg ausreisen. Der Generalstab der Armee ging insgesamt von 35.000–40.000 Ausreisenden bis zum 10. Oktober 1914 aus.107 Ohne staatliches Handeln und die Vermittlung des spanischen Botschafters wäre diese Unternehmung nicht möglich gewesen.108 Dennoch verantworteten und realisierten vor allem nicht-staatliche Akteure die Ausreiseaktion. Die privaten finanziellen Zuschüsse in Höhe von 380.555 Mark für den Monat September erfassen dabei nur einen Aspekt der geleisteten Unterstützung.109 Anhand der Erinnerungen zweier Akteure sollen weitere Tätigkeitsmomente offengelegt und die Verwirklichung des Projektes Ausreise nachgezeichnet werden. Im Jahr 1917 legte Otto Peterson110, der sich selbst als Armenpfleger bezeichnete, eine maschinenschriftliche Zusammenfassung seiner dreijährigen »Fürsorgearbeit an russischen Zivilgefangenen in Berlin« vor.111 Diese widmete er dem evangelischen Theologen und Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Adolf von Harnack (1851–1930). Zusammen hatten beide während des Weltkrieges ausländische Staatsangehörige und insbesondere die deutschsprachige, in den baltischen Provinzen Russlands lebende Minderheit auf vielfältige Weise unterstützt.112 Peterson, der viele europäische Länder bereist hatte, besaß einen russländischen Pass und wurde selbst als »feindlicher Ausländer« bezeichnet.113 »Bei Ausbruch des Krieges weilte er mit seiner Familie in einem deutschen Bade und wurde bei seiner
107 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an u. a. d. Sächs. KM, 10.10.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 65 f. 108 Reichskanzler (RAdI, gez. Delbrück) an d. Regierungen d. Bundesstaaten u. d. Statthalter in Elsaß-Lothringen, 1.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 12 ff. 109 Vierzehnter Geschäftsbericht (1915) d. HVDJ, S. 14 f. 110 Peterson wuchs im heute estnischen, damals zum russischen Gouvernement Livland gehörenden Tartu (dt. Dorpat) auf. Er war in St. Petersburg Oberlehrer an der Reformierten Schule, der St. Petrie Schule und Schulrat für die Schulen des dortigen Bildungsvereins. Siehe: August Wilhelm Schreiber an Oberhofprediger Scholtz, 25.6.1915, in: EZA Berlin, 45/2 (Hilfsausschuss für Gefangenenseelsorge 1914–1921). In der Nachkriegszeit förderte er das Deutsch-Russische Realgymnasium in Berlin-Wilmersdorf und war ferner Vorsitzender der Evangelischen Gemeinde Deutschstämmiger aus Russland e. V. 1923 erhielt er, verliehen durch den Reichspräsidenten, die »Denkmünze für das Deutschtum im Ausland«. Siehe: Kurt Düwell, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918–1932. Grundlinien und Dokumente, Köln 1976, S. 144 f. Keine Erwähnung findet er in: Wilhelm Lenz (Hg.), Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, Köln 1970. 111 Peterson, 3 Jahre Fürsorgearbeit an russischen Zivilgefangenen. 112 Petersons und von Harnacks gemeinsame Bemühungen finden knapp Erwähnung bei: Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930, Tübingen 2004, S. 59. 113 Peterson, Fürsorgearbeit, S. 2.
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Ankunft in Berlin interniert.«114 Verpflichtet, die Stadt während des Krieges nicht zu verlassen und den örtlichen Meldevorschriften unterworfen, gelang es ihm nach seiner Entlassung aus der Haft noch im August 1914, »[u]nter den schwierigsten Verhältnissen« ein weites Netzwerk von Unterstützern aufzubauen. »Atheisten, Rechtgläubige und ›recht Gläubige‹, Arme und Reiche, Konservative und Sozialdemokraten halfen ihm«.115 Er wandte sich an das Auswärtige Amt, das Reichsamt des Innern, das Preußische Kriegsministerium und die Kommandantur Berlin, erhielt eine Audienz bei der Herzogin Marie von Sachsen-Coburg und Gotha, verhandelte mit Hotelinhabern und Bankdirektoren, wurde unterstützt von Ärzten und karitativen Organisationen sowie von vielen Privatpersonen. Bei diesen Tätigkeiten handelte er institutionell wie finanziell ungebunden, »ohne Angliederung an eine bestehende Wohltätigkeitsgesellschaft oder eine zuständige Behörde«.116 Auch nach seiner Einbindung in die Kommandantur Berlin als »Vertrauensmann« hätte er Wert daraufgelegt, dass er weiterhin ehrenamtlich tätig sei und »als Privatperson nicht in der Personalliste der Kommandantur geführt« werde.117 Diese »eigenartige Stellung« bildet einen wiederkehrenden Topos in Petersons Betrachtungen. Sie hätte ihm erst das »Experiment« seiner Hilfstätigkeit, die sich an der Universalität »der Liebe und des Glaubens« orientierte, ermöglicht. Grundvoraussetzung für die von ihm geschilderten ungetrübten Erfolge seien die »Konzentration und Innerlichkeit« seiner Arbeit gewesen, die er nicht öffentlich zur Schau stellte. Er schrieb über sich selbst: »3 Jahre hat er geschwiegen. Keine Zeitungsnotiz, kein Bericht hat (auf seinen Wunsch) bisher von seiner Arbeit geredet.«118 Das hilfsbedürftige Klientel, das Peterson vorrangig im Blick hatte und das er als »seine notleidenden und kranken Landsleute« bezeichnete, benannte er in einem »vergeblich« an Zeitungsredaktionen gesandten Aufruf: »Was soll aus diesen Tausenden, den gutsituierten Kreisen angehörigen russischen Staatsangehörigen werden?«119 Die Mehrzahl von ihnen gelangte in den ersten Kriegswochen aus deutschen Kurorten nach Berlin und plagte sich, so der Armenpfleger, hauptsächlich mit der Sorge um die Beschaffung von Geld und Kleidung, als die Auszahlung von Kreditbriefen verweigert wurde und die aufgegebenen Gepäckstücke ihren Zielort nicht erreichten.120 Im Angesicht dessen begrenzte er sein Tätigkeitsfeld nicht auf das Sammeln von Spenden und die private Seelsorge unter den Gestrandeten. Der Ausländer Peterson sollte bereits im September 1914 an der Schnittstelle zwischen 114 Bericht über d. Audienz bei Herzogin Marie von Sachsen-Coburg und Gotha auf Schloss Rosenau, 22.6.1915, in: EZA Berlin, 45/2. 115 Peterson, Fürsorgearbeit, S. 2. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 3. 118 Ebd., S. 27. 119 Ebd., S. 1. 120 Ebd., S. 5.
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ausländischen und deutschen Akteuren wirken. In dem von James Simon vorangetriebenen Projekt Ausreise betätigte er sich innerhalb Berlins in zentralen Rollen. Des Morgens arbeitete er in der Kommandantur Berlin. Der Verkauf der Fahrkarten für die Heimreise, den Peterson in seinem Bericht als ein »Recht« hervorhob, oblag dem Unterstützungskomitee und fand in einem Büro der Militärbehörde statt. Im Sinne der Vertreter des Großen Generalstabs, die darauf gedrängt hatten, zuerst die Unbemittelten zur Ausreise zu bewegen und die Wohlhabenderen dafür in die Pflicht zu nehmen,121 entschied ein speziell eingerichteter Ausschuss über den Finanzierungsmodus. Dessen Mitglieder staffelten die Kaufkonditionen und legten drei Wagenklassen fest.122 Demzufolge musste jeder Käufer eines Billetts erster Klasse zusätzlich eine Fahrkarte für die zweite und eine weitere für die dritte Wagenklasse erwerben. Diese Billetts wurden anschließend unentgeltlich finanzschwachen Ausreisenden zur Verfügung gestellt.123 Am ersten Tag der Fahrkartenausgabe kam es, laut dem Berliner Tageblatt, zu einem »Massenandrang«. »Der Ansturm war so groß,« schilderte die Zeitung, »daß die Tore der Kommandantur geschlossen werden mußten und die Menge nur truppweise eingelassen wurde. Mit Mühe konnte ein größeres Wachaufgebot die Ordnung aufrechterhalten.«124 »Sechstausend Personen begehren Einlaß, wo nur fünfhundert abgefertigt werden können«,125 bemerkte ein Journalist der Jüdischen Rundschau, der den Geschehnissen ebenfalls beiwohnte. Und auf der Jahresversammlung des Hilfsvereins Deutscher Juden wurde den Mitgliedern berichtet: »[U]nbeschreiblich [waren] die Szenen vor der Kommandantur, als die Arbeiten dort vorgenommen wurden. Es war eine ungeheuer schwierige Aufgabe, der aufgeregten Massen von Männern, Frauen und Kindern Herr zu werden und ihnen die notwendige Hilfe angedeihen zu lassen.«126 Des Abends verrichtete Peterson seinen selbstgewählten »Bahnhofsdienst« am Stettiner Bahnhof127. Mit der Erlaubnis des Stationsvorstehers und des zuständigen Polizeireviers empfing er die ankommenden Ausländer/innen und organisierte ihre Unterbringung oder Weiterreise. Die nach Russland Aufbrechenden reisten in Gruppen von 800–1000 Personen pro Zug. Peterson habe sie »mit Hilfe von Schutzleuten« in drei Gruppen eingeteilt: »zur ersten gehörten die Kranken; 121 Sächs. Gesandter, v. Salza u. Lichtenau, an d. sächs. Staatsminister für d. auswärtigen Angelegen heiten (Vitzthum v. Eckstädt), 28.8.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 5 u. Proto kollent. d. Besprechung im RAdI, betr. d. Behandlung d. in Dtl. befindlichen Russen, Engländer, Franzosen u. Belgier, 17.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 30–33. 122 Kahn, Memories, S. 7 f. 123 Peterson, Fürsorgearbeit, S. 4. 124 Die Abreise der Russen, in: Berliner Tageblatt, 6.9.1914 (Nr. 452, Morgenausgabe). 125 Die »Russen« in Berlin, in: Jüdische Rundschau, 11.9.1914 (Nr. 37). 126 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 6 f. 127 Der Stettiner Bahnhof lag im Norden Berlins und war Abfahrtsort der Sonderzüge. Siehe: Die Abreise der Russen, in: Berliner Tageblatt, 6.9.1914 (Nr. 452, Morgenausgabe).
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zur zweiten: Mütter mit kleinen Kindern und zur dritten: die gesunden Männer, Frauen und größere Kinder«.128 Er selbst urteilte über seine organisatorische Tätigkeit, dass sie sich »ausgezeichnet« bewährt habe. In dem bereits zitierten Artikel des Berliner Tageblatts ging diese in einem gern bemühten Bild preußischer Verwaltung auf: »Mit gewohnter Ruhe brachten die preußischen Beamten [sic] Ordnung in dieses Wirrwarr.«129 Der Privatmann Peterson, der über Zeit, Geld und ausreichende Sprachkenntnisse verfügte, agierte somit in einer potenziell konfliktreichen Position. Denn er arbeitete für staatliche Institutionen und versuchte zugleich die Interessen der Ausländer/innen gegenüber jenen durchzusetzen. Er half als indirekter Vertreter der Berliner Kommandantur und ihrer Ziele, die Kaufkonditionen für die Fahrkarten zu vermitteln und anschließend die Kaufgesuche zu priorisieren.130 In welche Interessenkonflikte er geraten konnte, deutete er in einem Zeitungsartikel an, in dem er betonte, dass »[der] Wunsch der in Berlin durch die Kriegsereignisse überraschten Russen […] auf möglichst baldige Abreise gerichtet« war. Infolgedessen »gelang es einigen unlauteren Elementen, die verängstigten Russen dahin zu beeinflussen, als ob sie, unter Umgehung der Kommandantur, gegen eine ›Wohltätigkeitssteuer‹, schneller abgefertigt würden. Dem Berichterstatter [Peterson] gelang es, mit Hilfe der Kommandantur diese Elemente unschädlich zu machen.«131 Während Peterson die Urheber der Korruption nicht nannte, schrieb Bernhard Kahn zu den Vorfällen: »Soon the applicants for tickets found out that they could bribe the sergeant who then did everything, to make it possible for them to go away quickly, or to leave at all if of military age. The two detectives before long also joined in this thriving business of bribery[.]«132 Folglich half Peterson, innerhalb der Berliner Kommandantur den Missbrauch polizeilicher Ämter zu unterbinden. Ebenso war er in mehrfacher Weise gegenüber den Ausländer/innen ein Ordnungshüter, der das Gewaltmonopol des Staates auf seiner Seite wusste. Er bediente sich bewusst staatlicher Autorität in Form von Polizeibeamten, um das Projekt Ausreise umzusetzen. Die lokalen Verantwortlichen ließen ihn gewähren, und der »Armenpfleger« besetzte fortan eine Schlüsselposition, in der er organisierte, kategorisierte und vermittelte. Es liegt nahe, hinter dem defensiven Auftreten staatlicher Akteure die Prämisse zu erkennen, dass zunächst Ausländer/innen für Ausländer/innen sorgen und verantwortlich sein sollten. Aber Peterson wollte ebenso den Ausreisewilligen helfen. Er verteidigte ihre Interessen gegenüber den Militärbehörden und war für sie, nach eigenen Aussagen, 128 129 130 131 132
Peterson, Fürsorgearbeit, S. 4. Die Abreise der Russen, in: Berliner Tageblatt, 6.9.1914 (Nr. 452, Morgenausgabe). Zu diesem Aspekt auch: Kahn, Memories, S. 7 f. Peterson, Fürsorgearbeit, S. 6. Kahn, Memories, S. 8.
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ein wichtiger Ansprechpartner. Somit genoss er das Vertrauen beider Seiten und übernahm für staatliche Institutionen wie für Privatpersonen Verantwortung. Mit ganz eigenen Absichten gestaltete er einen Aspekt des Krieges mit. Ein weiterer Akteur, der erheblichen Anteil am Erfolg der Ausreise hatte, war Bernhard Kahn. Der Generalsekretär des Hilfsvereins der Deutschen Juden und des Unterstützungskomitees für bedürftige Russen agierte vor allem zwischen staatlichen Institutionen. Seine maschinenschriftlichen, im Leo Baeck Institute in New York überlieferten Memoiren entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dokumentieren daher sein Handeln von einem weit entfernten Standpunkt aus.133 Bernhard Kahn sollte den überstürzten Aufbruch aus seinem Sommerurlaub, den er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Belgien verbracht hatte, nicht vergessen. Auf seiner beschwerlichen Rückreise über die belgische Grenze erlebte er zwischen den Grenzstationen die Vorboten des Krieges. »With thousands of people swarming over the place, it was again very hard to protect our children who were tired, lay down on the floor and fell asleep.«134 Seine erste Begegnung mit Ausländer/innen in Berlin schilderte er folgendermaßen: »Riding through the city, we saw a large group of foreigners, may be 100 or more, most of them apparently Russians, being attacked by the mob. They were not protected by the police, and seeing the frightened expression on their faces, we felt very sorry for them.«135 Er beschloss zugleich, in der Fürsorge für die Hilfsbedürftigen mitzuwirken. Kahn stand im regen Austausch zu den Berliner Verantwortlichen und seine Tätigkeiten wurden durch die Kommandantur befürwortet.136 Er war darüber hinaus als Generalsekretär des Unterstützungskomitees an allen wichtigen Entscheidungen bezüglich der Ausreiseaktion beteiligt. Nachdem der Chef des Stellvertretenden Generalstabes der Armee die Heimreise russländischer Staatsangehöriger genehmigt hatte137 und die Sonderzüge mit ihnen in Richtung Saßnitz aufbrachen, sollte seine Person besonders gefragt sein. Denn der Stettiner stellvertretende Generalkommandeur Hermann von Vietinghoff (1851–1933) stellte sich gegen die Ausreisegenehmigung. Nur dem Obersten Militärbefehlshaber Kaiser Wilhelm II. verantwortlich, boykottierte er die Durchführung der Aktion wider den Willen der Berliner Militärbefehlshaber und des stellvertretenden Generalstabs der Armee. Nachdem mehrere Züge seinen Armeekorpsbereich durchquert hatten, stoppte er die folgenden Transporte. »It came to 133 Kahn, Memories. Kurzbiografie und Nachweis in: Leo Baeck Institute New York. Bibliothek und Archiv. Katalog, Bd. 1, hg. von Max Kreutzberger, Tübingen 1970, S. 426. 134 Kahn, Memories, S. 3. 135 Ebd., S. 3 f. 136 Empfehlungsschreiben Kommandantur Berlin (gez. v. Stockhausen), 28.9.1914 u. 3.11.1914, in: Bernhard Kahn Collection, Leo Baeck Institute Archives, New York, AR 416: Box 2, Folder 11, Biographical Notes and Official Documents, 1913–1955. 137 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. AA, hier nachrichtlich an d. RAdI, 16.9.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 5.
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a fight between the general staff in Berlin and the commanding general in Stettin«,138 spitzte Kahn die entstandene Situation in seinen Erinnerungen dramaturgisch zu und fuhr fort: »The Berlin general staff requested me to go to Stettin and explain to the commanding general what we are doing and how we are doing our work.«139 Eine Auseinandersetzung zwischen militärischen Akteuren sollte von einem Zivilisten geschlichtet werden. Kahn reiste daraufhin nach Stettin und versuchte, eine Audienz bei von Vietinghoff zu erhalten. In seinem Hotel angelangt, wurde er zugleich entmutigt. »I was even threatened with arrest because the commanding general felt that I was a traitor by helping Russian People get back to Russia.«140 Dieser wies brüsk das Vermittlungsangebot zurück und beharrte auf seinem Standpunkt. »He […] was the highest authority and would do what he thought best in the interest of the fatherland.«141 Infolgedessen scheiterten Bernhard Kahns Bemühungen um eine Fortsetzung der Ausreise durch das Gebiet des II. Armeekorpsbezirks. Die verbleibenden Sonderzüge mussten eine andere Route befahren. Aber der Vorgang zeigt, welche Position die Berliner Militärvertreter dem Geschäftsführer des Unterstützungskomitees zugestanden. Trotz dieser Niederlage konnte Kahn kurz darauf erneut als Vermittler tätig werden. Zur selben Zeit, als nur wenige deutsche Staatsangehörige über Schweden in den deutschen Ostseehäfen eintrafen, verbreiteten sich unter den Verantwortlichen der Unternehmung Gerüchte, dass Mitgliedern des Deutschen Flottenvereins und Konsularbeamten die Ausreise gänzlich verwehrt worden sei. Die in Deutschland Ankommenden berichteten zudem von vielerlei Strapazen und Schikanen in Russland. Die Behandlung »hochbetagter Leute« und Familien aus »guten Gesellschaftskreisen« sei »durchaus unwürdig« und spräche den »bei gesitteten Nationen üblichen Bräuchen Hohn«, waren sich die Vertreter des stellvertretenden Generalstabes einig.142 Nachdem der spanische Botschafter aufgefordert worden war, zu Gunsten der deutschen Staatsbürger/innen einzuschreiten, konsultierten die Militärvertreter zusätzlich Bernhard Kahn. »In order to solve the problems arising from the difficult situation of high-ranking Russians in Germany, and of similar German people in Russia, the general staff in Berlin again enlisted my service, and requested me to go to Sweden and try to make some arrangements in this respect with the Russian Embassy there.«143 Wenige Tage nach der Schlacht 138 Kahn, Memories, S. 10. Es ist unklar welche militärische Instanz Kahn mit »general staff« beziehungsweise »Berlin general staff« bezeichnet. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass damit das Oberkommando in den Marken gemeint ist. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 11. 142 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an u. a. d. Sächs. KM, 10.10.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 65 f. 143 Kahn, Memories, S. 11.
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bei Tannenberg reiste Kahn im Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt nach Stockholm. Über seine Reise legte er anschließend Rechenschaft ab.144 Bernhard Kahn traf in der schwedischen Hauptstadt, vermittelt über die spanische und die amerikanische diplomatische Vertretung, den russischen Gesandten Anatoli Wassilewitsch Nekljudow (1856–1943). Nach schwierigen Verhandlungen zwischen dem Privat- und dem Staatsmann, an denen der deutsche Gesandte in Schweden nicht teilnahm, kam es zu wohlwollenden Beschwichtigungen. Beide Seiten tauschten Listen über zurückgehaltene »Persönlichkeiten« aus und versicherten, die Ausreisebemühungen weiter voranzutreiben. Kurz darauf traf Kahn den amerikanischen Botschafter, der bereits über die Unterredung informiert worden war. Dieser hielt die Verhandlungen für äußerst gewinnbringend und erwartete, dass »von diesem Tage an eine günstige Wendung in der Behandlung der Deutschen in Russland zu erwarten sei«.145 Der deutsche Gesandte in Schweden, Hellmuth Lucius von Stoedten (1869–1934), der sich verwundert über die diplomatische Verhandlungsrolle Kahns zeigte,146 war schließlich ebenfalls vom »Nutzen« der Unterredung überzeugt. Bernhard Kahn schilderte in seinem Bericht, wie er selbstbewusst auftrat und die Vorteile seiner Verhandlungsposition nutzte. Während der Gesandte N ekljudow nur versprechen konnte, die Verantwortlichen in Petrograd schnellstmöglich zu kontaktieren, hätte Kahn mehrmals indirekt mit der Auflösung des Unterstützungskomitees gedroht. »Ich erklärte schliesslich, dass ich hoffe, diese Herren bald in Deutschland zu treffen, es würde dann für uns ein Ansporn sein, unsere Tätigkeit fortzusetzen«, vermerkte er. Und das Verbot russischer Hilfskomitees für deutsche Staatsangehörige kommentierte er mit den Worten: »Wir würden selbstverständlich, auch ohne ein Verbot der deutschen Behörden abzuwarten, zu arbeiten aufhören, falls nicht auch hierin ein Wandel geschaffen würde.«147 Beide Seiten hielten letztlich ihre Zusicherungen im Unbestimmten. Kahn allerdings sprach lediglich als Vertreter des Komitees. Er vermittelte in einer Zwischenposition, in der er keine Verantwortung für militärische Maßnahmen übernehmen konnte. Wie fragil die Verhandlungsposition Kahns war, wird nicht aus seinen Erinnerungen oder seinem Bericht ersichtlich. Erst ein Blick auf die Verantwortungsbereiche innerhalb des Deutschen Reiches lässt das Dilemma seiner Reise erahnen. Denn selbst die Reichsleitung entschied nicht über individuelle Ausreiseverbote. Ein Rundschreiben des Preußischen Kriegsministeriums 144 Bericht Bernhard Kahn, 18.10.1914, hier wtgl. durch d. Kommandantur Berlin an d. Geheimen Oberregierungsrat Dr. Lenz, Preuß. MdI, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77 Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1. 145 Bericht Bernhard Kahn, 18.10.1914, S. 12, in: Ebd. 146 In seinen Erinnerungen schilderte Kahn ein gewisses Erstaunen seitens des deutschen Gesandten: »He said that he had been wondering about this coming of a German to Stockholm, to discuss German affairs with an enemy ambassador[.]« Siehe: Kahn, Memories, S. 13 f. 147 Ebd., S. 10.
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fasste die militärische Position unmissverständlich zusammen. »Der fortlaufende Abtransport,« hieß es darin, »kann jeder Zeit durch den stellvertretenden Generalstab eingestellt werden, sobald es militärische Rücksichten bedingen oder Rußland die zugesagte Gegenseitigkeit nicht wahrt.« Um »Einfluß zu Gunsten unserer dort lebenden Staatsangehörigen ausüben zu können«, sollten russländische »hochstehende« Staatsbürger zurückgehalten werden. Allerdings oblag die Entscheidung darüber den stellvertretenden Generalkommandos, die drei bis fünf solcher Personen zu melden hatten.148 Wie eigensinnig diese entscheiden konnten, zeigte das Beispiel Stettin. Bernhard Kahn hatte mit seinen diplomatischen Bemühungen weniger eine kurzfristige Verbesserung für die Ausländer/innen als vielmehr einen langfristigen Erfolg für das Unterstützungskomitee erzielt. Obschon die Ausreisewilligen russländischer Staatsangehörigkeit das Deutsche Reich verlassen konnten,149 lag die Anzahl der aus Russland Rückreisenden weiterhin unter den Erwartungen des stellvertretenden Generalstabes. Dieser entschied daher, die Ausreisen russländischer Bürger/innen ab dem 5. November 1914 zu verbieten.150 Erst als »in größerem Umfange« die Ankunft von deutschen Staatsbürger/innen registriert wurde, gestatteten die Militärverantwortlichen ab dem 23. November eine Wiederaufnahme des Ausreiseverkehrs. Wehrpflichtige, Verdächtige und »die als hochgestellte Personen bezeichneten Russen« sollten allerdings bis zum Abschluss der andauernden Verhandlungen weiterhin zurückgehalten werden.151 Die Diplomaten hatten folglich keine erkennbaren langfristigen Ergebnisse errungen. Erst militärische Zwänge zeitigten deutlichere Veränderungen. Diesen Handlungsprämissen militärischer Akteure setzte ein Vertrag zwischen der deutschen und der russischen Regierung am 12. Februar 1915 ein Ende. Darin bestimmten die beiden Kriegsparteien, dass alle weiblichen Personen und alle Männer unter 17 und über 45 Jahren die Erlaubnis zur Abreise erhielten. Ihnen stünde das Recht zu, ihr Gepäck, ihr Geld und sonstige Wertsachen bei sich zu führen. Weiterhin sollten Hilfskomitees zugelassen werden, »um direkt mit den Abreisenden zu verhandeln und sie mit den nötigen Mitteln zu versehen«.152 Die Ziele der Komitees wurden zwar eng definiert, aber sie erhielten durch den zwischenstaatlichen Vertrag eine rechtliche Absicherung. 148 Zusammenstellung d. Preuß. KM d. über d. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten bisher erlassenen Bestimmungen, 10.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 41 ff. 149 Kommandantur d. Residenz Berlin an d. RAdI, 9.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 183. 150 Stv. Generalstab d. Armee an d. Sächs. KM, 5.11.1914, (Telegramm, Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 88. 151 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an u. a. d. Sächs. KM, 23.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 102 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 96. 152 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an u. a. d. Sächs. KM, 15.2.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 160.
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Das Wagnis war nicht gescheitert. Unter der Mithilfe von Privatpersonen waren Normen und Verfahren durchgesetzt worden, die später ebenso für die britischen und französischen Staatsbürger/innen gelten sollten.153 James Simon und Paul Nathan hatten diesen Prozess unter anderem mit ihrer Denkschrift angestoßen. Aus einer Erzählung über die Lebenssituation vieler feindlicher Ausländer/innen wurden politische Prämissen. Die Experten der Fürsorge inszenierten sich als wichtige Informanten und Ideengeber für staatliche Akteure. Ihnen konnten Rollen zugeschrieben werden, in denen sie Verantwortung für staatliche Interessen übernahmen. Für die Protagonisten des Hilfsvereins stellte dies gleichwohl kein Novum des Krieges dar.
Abhängigkeit und Konkurrenz Die vorangegangenen Schilderungen verwiesen auf die Akteure der Fürsorge als Vermittler, die im Interesse feindlicher Ausländer/innen elegant Spielräume ausnutzten und erfolgreich das Projekt Ausreise vorantrieben. Die Erinnerungen Otto Petersons und Bernhard Kahns können aus einer weiteren Perspektive betrachtet werden. Fragen Leser/innen nach den subtilen und offensichtlichen Abhängigkeiten, die beide Tätigkeitsberichte durchziehen, erscheinen die staatlichen und privaten Akteure, die finanziellen Ressourcen und exklusiven Wissensbestände nicht nur als Faktoren einer Erfolgsgeschichte. Sie benennen vielmehr virulente Verflechtungen, die die Fürsorgenden miteinander vereinbaren mussten und die ihre Möglichkeiten beschränkten. Anhand mehrerer Einzelfälle sollen die Abhängigkeitsverhältnisse in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden. Bernhard Kahn musste sich im Mai 1915 an den Geheimen Oberregierungsrat Bruno Dammann (1869–1934) wenden, der für die Fürsorgenden zu einem wichtigen Ansprechpartner und in Besprechungen im Reichsamt des Innern zu einem kundigen Wortführer geworden war.154 Der Generalsekretär des Unterstützungskomitees hatte schlechte Nachrichten erhalten. Der Staatsrat des Russischen Reiches hatte beschlossen, die Finanzzuschüsse für seine Bürger/innen im Deutschen Reich einzuschränken. Inhaber russländischer Pässe, die nicht aus militärischen Gründen zurückgehalten und die von keiner schweren Krankheit am Aufbruch nach Russland gehindert wurden, sollten keine finanziellen Beihilfen mehr erhalten. Im Gegenzug bekamen hilfsbedürftige Ausreisende fortan eine Unterstützung aus-
153 Für Großbritannien: Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Loebell) an d. Oberpräsidenten, 9.9.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835 u. in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 201 f. Für Frankreich: Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. Sächs. KM, 14.10.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 83. 154 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Ausländer, 26.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365, Bl. 31 ff.; Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Ausländer, 17.5.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365, Bl. 271 ff.
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gezahlt.155 Zehn Monate nach Kriegsbeginn duldete die russische Regierung den freiwilligen Verbleib ihrer Staatsbürger/innen in Deutschland nicht weiter. Aber genau diese Klientel bildete mehr als die Hälfte der durch das Kahnsche Komitee begünstigten Personen. Unter den 6806 in Berlin Unterstützten befanden sich 518 nicht-militärpflichtige Männer, 1552 Frauen und 1691 Kinder. Reichsweit waren weitere 4000–5000 Menschen, einschließlich der Zivilgefangenen, auf die regelmäßigen Zahlungen angewiesen.156 Kahn führte gegenüber Dammann aus, dass die aus Russland über die Spanische Botschaft angewiesenen Gelder selbst für die aus militärischen Gründen zurückgehaltenen 3045 Männer knapp wären. Da er eine dauernde Zahlungseinstellung befürchtete, sah er keinen anderen gangbaren Weg, als die Zahl der Unterstützungsbedürftigen »unter allen Umständen« zu reduzieren. Er schlug deshalb dem Vertreter des Reichsamtes mehrere Maßnahmen vor. Verheiratete wehrpflichtige Männer sollten Ausreisegenehmigungen erhalten und Erwerbsfähige von Meldepflichten, nächtlichen Ausgangs- und überregionalen Ortswechselverboten befreit werden. Bereitwillig nach neutralen Staaten Ausreisende ebenso wie Rückkehrer in die besetzten osteuropäischen Gebiete würden bei ihren Vorhaben zu unterstützen sein.157 Die Regierungsvertreter stimmten Kahns Vorschlägen, die sich überwiegend den Entscheidungsbefugnissen ziviler Instanzen entzogen, nicht zu. Aufgrund dessen spitzte sich die finanzielle Lage des Unterstützungskomitees bis Mitte Juni 1915 weiter zu. Bereits in den roten Zahlen und lediglich durch die Spanische Botschaft subventioniert, informierte der Generalsekretär in einer Presseerklärung über die Insolvenz des Komitees.158 Obwohl er diese nochmals um vierzehn Tage hinauszögern konnte, erfüllte sich seine Hoffnung nicht. Das Unterstützungskomitee stellte Ende Juni 1915 weitestgehend seinen Dienst ein.159 Die reibungslos verlaufene Ausreise und die zwischenstaatliche Vereinbarung über die Zulassung von Hilfsvereinen genügten nicht, um die Fürsorgearbeit fortzuführen. Angesichts der finanziellen Erschöpfung und des fehlenden politischen Entgegenkommens kollabierte das Komitee. Aber führende Vertreter der Reichsministerien, des Generalstabes und des Oberkommandos in den Marken lehnten eine »Übernahme dieser Unterstützungen« durch die Armenverbände vor Ort als »eine unerträgliche Last« ab. Sie erwogen deshalb unter anderem in einer Beratung am 17. Mai 1915, »die Ausweisung aller 155 Embajada de España en Berlin an d. Spanische Konsulat, wtgl. an d. UKbR 11.5.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 10. 156 Ergebnisprotokoll, Besprechung d. UKbR (gez. Bernhard Kahn) an d. Geh. Oberregierungsrat Dr. Dammann, 18.5.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 12 ff. 157 Ebd. 158 UKbR (gez. Bernhard Kahn) an d. Ministerialdirektor Dr. Lewald (RAdI), 11.6.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 80. 159 Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 29.6.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 225 f.
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derjenigen Russen […], die außerstande sind, sich selbst zu ernähren«.160 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die russische Regierung mehr als 2.000.000 Mark dem Unterstützungskomitee zur Verfügung gestellt.161 Sie verhinderte hierdurch in vielen Fällen, dass russländische Staatsbürger/innen der kommunalen Armenunterstützung anheimfielen und ihren sozialen Status aufgeben mussten. Mit den strikteren Vergaberegeln versuchte sie Druck auf die ehemaligen Zahlungsempfänger/innen auszuüben. Die Mitwirkenden im Komitee agierten in diesem Sinne lediglich als Verteilende, deren Handlungsspielräume durch die Interessen der deutschen und russischen Regierungsvertreter definiert wurden. Ihre Wohlfahrtsbemühungen mussten eingeschränkt werden und schließlich enden, als die Zahlungen ausblieben. Viele Fürsorgende befanden sich in ähnlich prekären Zwangslagen, die eine Grunderfahrung der Unterstützungsarbeit darstellten. Die Fürsprache staatlicher Verantwortungsträger, die das Komitee für bedürftige Russen dennoch erfuhr, war keine Selbstverständlichkeit. Elisabeth Rotten und Friedrich Siegmund-Schulze stießen mehrmals an die Grenzen der bereitwilligen Hilfe. Sie hofften zwischen öffentlichkeitswirksamen deutschen Aufrufen an die Kulturwelt und Kriegsanleihen bewerbenden Maueranschlägen, zwischen restriktiven Meldebestimmungen und der militärischen massenweisen Internierung ausländischer Wehrpflichtiger auf ein Entgegenkommen innerhalb der höchsten Militär- und Zivilbehörden. Um ihren Gesuchen Nachdruck zu verleihen, warben sie um die Empfehlungen angesehener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Sie gewannen beispielsweise im Sommer 1916 Theodor Wolff (1868–1943), den Chefredakteur des Berliner Tageblatts, als Fürsprecher. Im Falle der Heimreise von 300 Kindern aus den besetzten Gebieten Nordfrankreichs, die von ihren Eltern getrennt worden waren, sicherte er ihnen seine Unterstützung und die weiterer anerkannter Persönlichkeiten zu. Gemeinsam richteten sie ein Gesuch an den Ersten Generalquartiermeister Erich Ludendorff.162 Doch trotz der breiten Unterstützung verlief die Unternehmung schleppend. Als die Austauschtransporte Ende Dezember 1916 zeitweilig ausgesetzt wurden, waren lediglich 70 Kinder zu ihren Eltern nach Frankreich heimgekehrt.163 Noch im Mai 1917 beklagte der unabhängige Sozialdemokrat Oskar Cohn (1869–1934) im Reichshaushaltsausschuss, dass die Kinder als »Austauschobjekte für angesehene deutsche Persönlichkeiten benutzt würden«.164 160 Protokoll Besprechung im RAdI, betr. Ausländer, 17.5.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365, Bl. 271 ff. 161 Kahn, Memories, S. 9 und Nathan, Entstehung und Aufgaben des Hilfsvereins der Deutschen Juden, S. 17 f. 162 Theodor Wolff, Tagebücher 1914–1919, hg. von Bernd Sösemann, Boppard am Rhein 1984, Erster Teil, Dok.-Nr. 433, S. 432 (25.9.1914). 163 Ebd., Dok.-Nr. 485, S. 466 (23.12.1916). 164 Oskar Cohn, 153. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 5.5.1917, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 3, S. 1424–1428, hier S. 1427.
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Das Entgegenkommen staatlicher Akteure blieb unsicher und hing von vielfältigen militärischen und politischen Interessenabwägungen ab. Dies mussten die beiden Fürsorgenden ebenso im Kontakt mit den zivilen Reichsbehörden erfahren. Nachdem Gertrud Bäumer (1873–1954), die Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, sich Ende November 1914 gegenüber dem Reichsamt des Innern für die Unterstützung von Frauen und ihren Kindern eingesetzt hatte, die meist durch Heirat britische Staatsangehörige geworden waren,165 betonten Rotten und Siegmund-Schulze Mitte Dezember erneut nachdrücklich, dass die Betroffenen »keine Möglichkeit haben, die für sie notwendige Unterstützung zu finden«.166 Sie griffen, um ihr Gesuch zu verstärken, die Situation in Großbritannien auf, die ihnen vom US-amerikanischen Gesandten in Berlin geschildert worden war. »[S]eit dem 19. November [sorge] die Britische Regierung auch für diejenigen in England geborenen Frauen und deren Kinder […], die deutsche Untertanen sind, wodurch die Beihilfe, die von der Deutschen Regierung […] gewährt wird, sich um die Hälfte der bisherigen Zahlungen ermässigt [habe].«167 Demgemäß schlugen sie vor, in Deutschland ähnlich zu verfahren. Während sie mit ihrem Anliegen auf den Fluren des Preußischen Kriegsministeriums auf Unterstützung stießen,168 trafen sie bei den zivilen Regierungsvertretern auf Widerstand. In einer am 26. Januar 1915 stattgefundenen Besprechung verwies der Geheime Oberregierungsrat Dammann darauf, dass der Fokus auf besonders jenen »Persönlichkeiten« ruhe, »deren Anheimfallen an die Armenverwaltung besonders unerwünscht erscheint«. Eine nicht geringe Unterstützung für Frauen, deren Ehemänner im Internierungslager Ruhleben interniert waren, würde bereits durch die König Eduard VII.-Stiftung erfolgen.169 Rottens und Siegmund-Schulzes Eingabe wurde zwar abgelehnt, und das Kriegsministerium übernahm fortan die Argumentation der Reichsleitung, allerdings erhöhte keinen Monat später der Verwaltungsausschuss der Stiftung sein Budget um 100.000 Mark für die Wohlfahrtspflege der Betroffenen.170 Aus diesem Vorgang folgen zwei Einsichten. 165 Siehe ebenso: Matthew Stibbe, The German Empire’s Response: From Retaliation to the Painful Realities of Defeat, in: Panikos Panayi (Hg.), Germans as Minorities during the First World War. A Global Comparative Perspective, Farnham 2014, S. 47–68, hier S. 56 f. 166 AHS (gez. Siegmund-Schulze u. Rotten) an d. RAdI, 16.12.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 218. 167 Ebd. 168 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Gewährung von Unterstützungen an in Dtl. geborene Frauen festgenommener Ausländer, an RAdI, 23.12.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 210. 169 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Ausländer, 26.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365, Bl. 31 ff. Die Stiftung war bereits im August 1914 tätig geworden. Siehe: Unterstützung britischer Staatsangehöriger, in: Vossische Zeitung, 24.8.1914 (Nr. 428, Abendausgabe). 170 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Rohde) an d. stv. Gkdo. VIII. AK, 3.3.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15003, Bl. 15.
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Erstens konnte es durchaus im Interesse der Regierungsakteure liegen, bestimmte Gruppen feindlicher Ausländer/innen jenseits eines kriegsorientierten Kalküls zu unterstützen. Verfügten diese über einen besonderen Status oder ausreichend soziales Kapital, brauchten sie sich nicht um ihre Privilegien zu sorgen. Rotten und Siegmund-Schulze jedoch waren auf Hilfsbedürftige gestoßen, die weder von der gesetzlichen Armenfürsorge noch von privaten Stiftungen unterstützt wurden. Sie fielen durch ein verhandelbares Raster aus national ausgerichteten Bestimmungen, politischen wie militärischen Interessen und sozialer Klassenzugehörigkeit. Zweitens ging der Ablehnung eine Diskussion innerhalb des Regierungsapparates voraus. Die Eingabe wurde beachtet, und die Ausführungen des Geheimen Oberregierungsrates Dammann können als Erwiderung und Rechtfertigung verstanden werden. So peripher die thematisierten Ausländer/innen gesehen werden mochten, die Protagonisten der Auskunfts- und Hilfsstelle erregten nicht nur als hartnäckige Bittsteller Aufmerksamkeit. Ihren Stellungnahmen und ihrer Tätigkeit ruhte ein Konfliktpotenzial inne. Deutlicher als im Falle der nicht unterstützten Ehefrauen und Kinder traten die Konfliktlinien zwischen Fürsorgenden und staatlichen Akteuren im Frühjahr 1916 zu Tage, als ein harsch formuliertes Schreiben aus dem Berliner Kriegsministerium bei der Hilfsstelle eintraf. Darin wurde den sozial Engagierten eröffnet, dass »für in Deutschland internierte Frauen und Kinder durch staatliche Massnahmen in weitgehender Weise gesorgt wird und es sich daher erübrigt, den Betreffenden weitere Zuwendungen aus privaten Mitteln zugute kommen zu lassen«. Stattdessen solle der Blick auf das »Los der deutschen Frauen und Kinder im feindlichen Ausland« gerichtet werden, deren Lebensumstände »zu zahlreichen Klagen berechtigten Anlass« gäben.171 Was bereits andeutungsweise der Oberregierungsrat in der behördeninternen Diskussion getan hatte, schrieb der unterzeichnende Ulrich Hoffmann nun nieder. Er stellte die soziale Fürsorgearbeit der Auskunfts- und Hilfsstelle in Frage. Denn aus seiner Perspektive existierten die geschilderten Probleme vor Ort überhaupt nicht. Indem er behauptete, dass die Grundversorgung in den Internierungslagern gesichert sei, zweifelte er an der Bedürftigkeit der Hilfesuchenden und an der Berechtigung der Rottenschen Unternehmung. Elisabeth Rotten entschied sich dem entgegen, der dahinterstehenden Auffassung eines ausreichenden Lebensstandards in den Lagern entgegenzutreten. Als zur gleichen Zeit ein Brief aus dem Lager Havelberg seinen Weg auf ihren Schreibtisch fand, zweifelte sie nicht an der Berechtigung der darin enthaltenen Bitten. Nadeschda Bogdanowa ersuchte für sich und ihre in der Internierung geborene
171 Preuß. KM (gez. i. A. Hoffmann) an d. AHS, 16.3.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 3.
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Tochter um Kleidung und einen kleineren Geldbetrag.172 »Kindersachen, 1 Lätzschen, 3 Hemdchen, 2 Jäckchen, 2 Hosen, 1 Überhose, 1 Kleid«, vermerkte Rotten über den Inhalt des an Bogdanowa daraufhin adressierten Paketes.173 Es symbolisiert eine Antwort auf den energischen Widerspruch Hoffmanns und die nicht miteinander zu vereinbarenden Wahrnehmungen und Grundsätze beider. In der skizzierten Auseinandersetzung trat die Fürsorgende als Konkurrentin militärischer Akteure auf. Sie beanspruchte für sich ein anderes Wissen über die Situation feindlicher Ausländer/innen innerhalb militärischer Räume und stellte damit die Deutungshoheit militärischer Akteure empfindlich in Frage. Die kritische Intervention seitens des Preußischen Kriegsministeriums sollte nur ein Vorbote weiterer Diskussionen gewesen sein. Auslöser für die erneuten Auseinandersetzungen Ende November 1916 war ein Antrag Elisabeth Rottens auf Genehmigung ihrer Spendensammlungen.174 Der dafür zuständige Staatskommissar für die Regelung der Kriegswohlfahrtspflege in Preußen, der alle Sammlungen, gleich welche Absicht mit ihnen verfolgt wurde, zu überwachen hatte,175 delegierte zunächst die Entscheidungsfindung an verschiedene Akteure. Das Zentralkomitee der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz meldete keine Bedenken gegen die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle an, da sich die jeweils anvisierten Personenkreise unterschieden.176 Allerdings zweifelte Johannes Kriege (1859–1937), Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, an der Notwendigkeit der Unterstützung der »deutschgeborenen Ehefrauen von britischen Staatsangehörigen«. Die bisher ausgezahlten 139.887 Mark seien ausreichend gewesen, um eine Auswanderung der Betroffenen nach England zu vermeiden. Ein höheres finanzielles Engagement hielt er nicht für angebracht.177 Weitergehend kritisierten die Offiziere der Abteilung für Kriegsgefangenenschutz im Berliner Kriegsministerium die Werbung der Fürsorgenden um Spenden. Da eine »Volksspende« für die Versorgung deutscher Kriegs- und Zivilgefangener gerade zum Abschluss gekommen war,178 sei es vor dem Hintergrund der langen Kriegsdauer geboten, 172 Nadeschda Bogdanowa (z. Z. Havelberg) an das Hilfskomitee Berlin, 1.3.1916 (eing. 14.3.1916), in: EZA Berlin, 51/C III g 1. Ebenso zitiert und ins Englische übersetzt in: Stibbe, Civilian Internement and Civilian Internees, S. 49. 173 Notizzettel zur Eingabe von Nadeschda Bogdanowa, 27.6.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 1. 174 AHS (gez. Elisabeth Rotten) an d. Staatskommissar für d. Regelung d. Kriegswohlfahrtspflege in Preußen (gez. Jaroslaw v. Jarotzky), 23.11.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540. 175 Sachße u. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, Bd. 2, S. 56. 176 Zentralkomitee d. dt. Vereine vom Roten Kreuz, Abt. XI., an d. Staatskommissar für d. Regelung d. Kriegswohlfahrtspflege in Preußen, 30.11.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540. 177 AA (gez. Kriege) an d. AHS, 5.12.1916, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540. 178 Rundschreiben d. Hauptarbeitsausschußes (gez. Friedrich [Generalmajor, Vorsitzender u. Dep.-Direktor im Preuß KM, Lismann [Delegierter d. Kaiserlichen Kommissars], Bauer [Oberstleutnant, Abteilungschef im Preuß. KM], Martin [Schriftführer]) d. Volksspende
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die »öffentliche Wohltätigkeit« »möglichst wenig in Anspruch zu nehmen«. »Es erscheint deshalb nicht zweckmässig, die für derartige Spenden in Betracht kommenden Kreise durch allzu häufige Inanspruchnahme unlustig zu machen und auf diese Weise eine gewisse Teilnahmslosigkeit künstlich grosszuziehen.«179 Der vorgebrachte Einwand der Militärvertreter verwies auf das zivilgesellschaftliche Engagement, das im Krieg zu einem staatlichen Interventionsfeld geworden war. Der Versuch, dies zu steuern, ließ den Konflikt mit Rotten und ihren Mitstreiter/innen hervortreten. Zu den Meinungsverschiedenheiten über die Situation der Ausländer/innen in Deutschland kamen die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit privater Wohltäter/innen und ihrer Spenden hinzu. Erst ihr persönliches Erscheinen im Berliner Kriegsministerium befriedete den Konflikt, und Elisabeth Rotten konnte ihre Sammlungsaktivitäten fortführen. Sie verpflichtete sich im Zuge dessen, nicht in der Kriegs- und Zivilgefangenenfürsorge tätig zu werden.180 Darüber hinaus überzeugte sie die Offiziere mit dem diskreten Weg ihrer Spendeneinwerbung, der von einem öffentlichen Appell an ein anteilnehmendes Publikum absah. Bereits gegenüber dem Staatskommissar für Kriegswohlfahrtspflege hatte sie ihre Vorgehensweise dargelegt. Die Geschäftsführerin sandte demnach die schon angesprochenen Tätigkeitsberichte an Persönlichkeiten, »deren Interesse für unsere Bestrebungen uns bekannt ist oder aus besonderen Ursachen angenommen werden kann. Wir haben noch niemals an uns unbekannte Personen ohne einen besonderen Anlass oder Berufung auf eine unserer Arbeit nahestehende Persönlichkeit geschrieben.«181 Die Hinwendung zu einem breiteren Adressatenkreis blieb Rotten und ihren Mitstreiter/innen ohnehin verwehrt. Zeitungsannoncen oder Maueranschläge durften sie nicht verbreiten.182 Die entstandenen Tätigkeitsberichte über die Arbeit der Hilfsstelle dienten demzufolge als Dokumentation des Geleisteten, als Werbebroschüren, deren Aufgabe es war, einen spezifischen Adressatenkreis von den Zielen der Unternehmung zu überzeugen und schließlich als Rechenschaftsbericht über die Verwendung der Spenden. Der Ansicht Otto Petersons, »daß nur die in der Stille ausgeübte Liebestätigkeit (ohne Veröffentlichung von ›Jahresberichten‹ u.s.w.) den Segen der Ver-
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für die deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen, 1.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/162, Bl. 429 f. Das Ergebnis der Volksspende betrug 12,5 Millionen Mark. Preuß. KM (Abt. Kriegsgefangenenschutz, gez. Bauer) an d. Staatskommissar für d. Regelung d. Kriegswohlfahrtspflege in Preußen, 21.12.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540. Preuß. KM (Abt. Kriegsgefangenenschutz, gez. Bauer) an d. Staatskommissar für d. Regelung d. Kriegswohlfahrtspflege in Preußen, 4.1.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540. AHS (gez. Elisabeth Rotten) an d. Staatskommissar für d. Regelung d. Kriegswohlfahrtspflege in Preußen, 2.1.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. Bauer) an d. Staatskommissar für d. Regelung d. Kriegswohlfahrtspflege in Preußen, 4.1.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 191, Nr. 3540.
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innerlichung und auch des äußeren Gelingens bedingt«,183 hätte Elisabeth Rotten wohl eifrig widersprochen. Die Fürsorgenden der Auskunfts- und Hilfsstelle waren erneut von ihren persönlichen Kontakten abhängig gewesen. Diese bildeten die ökonomische Infrastruktur des Unternehmens ab, das von zur damaligen Zeit prominenten Persönlichkeiten wie dem Historiker Hans Delbrück (1848–1929), dem Verleger Herrmann Ullstein (1875–1943), dem Zeitungsverleger Rudolf Mosse (1843–1920) und dem Bankdirektor Max Warburg (1867–1946) gefördert wurde.184 Den Zuwendungen lagen keine tradierten Kriegsnormen oder gesetzlichen Bestimmungen zugrunde. Sie mussten fortwährend bestätigt oder eingeworben werden, und Regierungsbehörden konnten sie jederzeit einer staatlichen Reglementierung unterwerfen. Deshalb war das Projekt von Elisabeth Rotten und Friedrich Siegmund-Schulze auch zwei Jahre nach dessen Begründung weiterhin prekär, obwohl es staatliche Akteure gab, die gerade die finanziellen Entlastungen wertschätzten wie beispielsweise die Vertreter des Badischen Innenministeriums.185 Die finanziellen Ressourcen bildeten aber nur einen Aspekt der Unsicherheit in der Fürsorgearbeit. Ein weiterer ergab sich aus den zur Verfügung stehenden Informationen. Diese waren oftmals unbestätigt und lückenhaft oder sie wurden von zivilen und staatlichen Akteuren angezweifelt und in Frage gestellt. Darüber hinaus konnten Kommunikationswege vor allem durch Zensur und Briefsperren gestört oder gar blockiert werden. Anita Augspurg (1857–1943), die Vorsitzende des Bayerischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, nahm noch Anfang 1915 an, dass es in Deutschland keine Frauen und Kinder unter den Zivilgefangenen gebe.186 Erst ihre Korrespondenz mit Aktivistinnen der französischen Frauenbewegung schürte an diesem Glauben Zweifel. Gesicherte Informationen erhoffte sie sich anschließend vom Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow (1863–1935). Ihr Auskunftsgesuch verweist auf die schwierige Sicherung von Informationen. Sie war nicht gänzlich geneigt, den Aussagen ihrer französischen Korrespondenzpartnerinnen zu glauben. Aber ebenso musste sie davon ausgehen, dass der Staatssekretär keine vertraulichen Informationen weitergab. Gerade innerhalb des Preußischen Kriegsministeriums wurde zunächst eine zu große Informationsfreiheit über die Kriegs- und Zivilgefangenenlager befürchtet. Deshalb erhielten die Lagerkommandanten Ende Dezember 1914 Bestimmungen, in denen eine allgemeine Auskunftssperre über die Gefangenen angeordnet wurde. Diese Einschränkung sollte allerdings nur knapp drei Monate Bestand haben. 183 Peterson, Fürsorgearbeit, S. 1. 184 Vgl. Stibbe, Elisabeth Rotten, S. 202 f. 185 Bad. MdI an d. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen-Abt. d. Auswärtigen, 26.8.1914, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 186 Bay. Verein für Frauenstimmrecht (gez. Anita Augspurg) an d. AA (z.H. Staatssekretär v. Jagow), 3.2.1915, in: BArch Berlin, R 901/82914.
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Denn als die Militärvertreter erfuhren, dass die französischen Behörden einen regen Informationsaustausch über deutsche Kriegsgefangene nicht nur duldeten, sondern beförderten, tendierten die Berliner Verantwortlichen zu einer informationellen Offenheit. Diese ging über den standardisierten Austausch von Listen, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf vermittelte, hinaus. Die Kommandeure und ihre Stäbe waren nun angehalten, auch »auf einfache Anfragen persönlicher Art« zu antworten. Dies konnte beinhalten, ob ein Kriegs- oder Zivilgefangener einzelne Pakete oder Briefe erhalten hatte oder »warum er bisher nicht an seine Angehörigen geschrieben hat«. Für die dadurch entstehende »Ermittlungsund Schreibarbeit« sollten »gebildete Elemente« herangezogen werden, womit die Datenerhebung eine nicht unwesentliche Änderung erfuhr. Lediglich der gewerbsmäßige Handel mit Informationen sollte unterbunden werden.187 Eine zentrale Aufgabe der Fürsorgenden blieb somit bestehen. Sie mussten Informationen über die Internierten und ihre Bedürfnisse sammeln, überprüfen und beständig aktualisieren. Besonders waren sie hierbei von der Zusammenarbeit mit den Lagerkommandanturen abhängig, deren Umsetzung bestehender Richtlinien unterschiedlich ausfallen konnte. Elisabeth Rotten pflegte einen regen Austausch mit der Kommandantur des Zivilgefangenenlagers Havelberg, von der sie sich stets die Bedürftigkeit von Internierten bestätigen ließ.188 Ebenso wandten sich die dortigen Offiziere mit der Bitte um Bekleidung an sie.189 Diese Zusammenarbeit dauerte fort, als sie bereits dem Berliner Kriegsministerium versichert hatte, nicht mehr in der Zivilgefangenenfürsorge tätig zu werden. Dagegen gestalteten sich die Beziehungen zu der Kommandantur im Holzmindener Lager anscheinend schwieriger. Um »Elsässerinnen deutscher Staatsangehörigkeit«, die sich dort in »Schutzhaft« befanden, zu unterstützen, versuchte sie, vor allem durch vorgesetzte Instanzen Druck auszuüben. In einem Schreiben an die Lagerverwaltung, in dem sie Auskünfte über die dringlichsten Bedürfnisse der Frauen erbat, erinnerte sie den Kommandanten an entsprechende Weisungen des Preußischen Kriegsministeriums und der Inspektion der Kriegsgefangenenlager des X. Armeekorps.190 Die örtlichen Seelsorger nahmen neben den Lagerkommandanten eine wichtige Position bei der Vermittlung von Informationen ein. Nachdem im Januar 1916 der Berliner Prediger der französischen reformierten Gemeinde, Pfarrer Albert Nicole, das Zivilgefangenenlager im schlesischen Lauban (poln. Lubań) besuchte hatte, berichtete er Elisabeth Rotten über die dortigen Zustände. Er sei vielen 187 Preuß. KM (gez. Friedrich), betr. Nachrichtenvermittlung über Kriegs- u. Zivilgefangene, 16.2.1915, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 33, Bl. 19 u. in: GLA Karlsruhe, 456/F38/115. 188 Z. B. AHS an d. Kommandanten d. Gefangenenlagers in Havelberg, 31.8.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 189 Kommandantur d. Gefangenenlagers Havelberg (gez. Wilke) an d. Hilfe für kriegsgefangene Deutsche, 19.2.1917, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 2,3. 190 AHS (gez. Rotten) an d. Kommandanten d. Gefangenenlagers Holzminden, 12.7.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2.
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Frauen und Kindern vom östlichen Kriegsschauplatz begegnet, »denen es am allernotwendigsten an Kleidungsstücken und Nahrung fehlt«.191 Die HilfsstellenMitarbeiterin Ledermann trat daraufhin in persönlichen Kontakt mit der Lagerverwaltung. Sie erhielt Auskunft über die Internierten und die fehlenden Nahrungsmittel und Kleidungsstücke.192 Im Zivilgefangenenlager selbst hatte Rotten alsbald den evangelischen Lagergeistlichen, Pastor Siegfried Müller, als Kontaktperson. Er informierte sie beständig über die benötigten Sachen und die wichtigsten Ereignisse. Über die durch Rotten ermöglichte Weihnachtsbescherung 1916 schrieb er, »daß die herzlichen und so reichlichen von Ihnen gespendeten Gaben ganz unausprechlichen Jubel bei den kleinen Jungfängern ausgelöst haben«.193 Die vor dem Hintergrund dieser vielschichtigen Abhängigkeitsverhältnisse entstandenen und überlieferten Briefe, Tätigkeitsberichte und Eingaben verweisen zum einen auf die Verflechtungen der Fürsorgenden untereinander. Zum anderen zeigen sie die entscheidende Funktion von Experten wie Paul Nathan, Bernhard Kahn und Elisabeth Rotten. Diese Protagonisten stellten Knotenpunkte innerhalb des Fürsorgenetzes dar, die hilfsbedürftige und helfende Akteure untereinander verknüpften. Sie verteilten Informationen, warben Ressourcen an und teilten diese zu. Gleichzeitig ergriffen sie das Wort für die Gruppe der Fürsorgenden. Trotz ihrer Abhängigkeit von staatlichen Institutionen befanden sie sich somit in einer einflussreichen, machtvollen Position, die sie selbstbewusst und durchsetzungsfähig erstritten und verteidigten. Als publizistische Schlüsselpersonen begründeten und beeinflussen sie bis heute maßgeblich die Geschichten über die Unterstützungskultur während des Ersten Weltkrieges. Dennoch sind die vielen namenlosen Akteure der Fürsorge nicht auf diese Experten und ihre Tätigkeiten zu reduzieren. Denn was die Helfenden vor allen anderen Praktiken verband, war die gemeinsame Anerkennung und Verteidigung eines Leitnarrativs. Nach diesem waren feindliche Ausländer/innen auf die Unterstützung in Deutschland aus vielfältigen Gründen angewiesen. Gegenteiligen Ansichten traten sie entschieden entgegen.
Rechtfertigen Lakonisch stellte Friedrich Siegmund-Schultze in einem halböffentlichen Aufruf der Auskunfts- und Hilfsstelle fest, dass karitative Bemühungen für Ausländer/ innen überall »unpopulär« seien.194 Deren Mitarbeiter/innen hatten besonders in den ersten Kriegsmonaten mit Anfeindungen zu kämpfen.195 Staatliche Akteure 191 192 193 194
AHS an Eduard Fuchs, 5.1.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. AHS an Eduard Fuchs, 12.1.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. Evangelischer Lagergeistlicher in Lauban an d. AHS, 23.1.1917, in: EZA Berlin, 51/C III g 2,3. Spendenaufruf d. AHS (gez. Siegmund-Schultze), 6.12.1915, abgedruckt in: Die Eiche, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 108–111. 195 Siegmund-Schultze, Caritas inter arma, S. 96.
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zweifelten oft an der Sinnhaftigkeit der karitativen Unternehmungen für feindliche Zivilisten und misstrauten den Fürsorgenden. Nachdem Friedrich Siegmund-Schultze bei seiner Unterstützungstätigkeit im Internierungslager Ruhleben denunziert worden war, fand er sich als Spionageverdächtigter vor einem Militärgericht wieder. Dieses stellte das Verfahren erst aufgrund einer Solidaritätsbekundung Kaiser Wilhelms II. für den Beschuldigten ein.196 Siegmund-Schultzes Mitstreiterin Elisabeth Rotten sah sich ebenfalls mit Argwohn und Zweifeln konfrontiert. Ihrem späteren Mitarbeiter Heinrich Becker erzählte sie, dass sie stets mit der Möglichkeit gerechnet habe, verhaftet zu werden.197 Victor Rubin geriet mehrmals in Konflikt mit der sächsischen Kriegsjustiz. Unter anderem warf ihm die Dresdner Staatsanwaltschaft vor, illegal Briefe aus den besetzten osteuropäischen Gebieten nach dem Ausland vermittelt zu haben.198 Der sächsische Pfarrer Jakob Schewtschik stand ebenso unter polizeilicher Beobachtung, und der engagierte Otto Peterson wurden nach eigenen Aussagen gleichfalls denunziert.199 »Zeigen wir aber eine zu rege Anteilnahme und Besorgnis, so werden wir sofort als englischfreundlich angesehen«, vertraute Fürstin Blücher von Wahlstatt ihrem Tagebuch an.200 Laut Bernhard Kahn stieß zeitgleich innerhalb des Hilfsvereins der Deutschen Juden die Fürsorgearbeit auf größeren Widerstand: »hundreds of overpatriotic Jews protested against it.«201 Womöglich hatte er sorgenvoll das Beispiel Rostock vor Augen gehabt. In der dortigen jüdischen Gemeindeversammlung war es zu heftigen Auseinandersetzungen über das Stimmrecht ausländischer Juden gekommen. Trotz leidenschaftlicher Vorträge und eindringlicher Mahnungen des Vorstandes verloren Juden, die nicht die deutsche Reichsangehörigkeit besaßen, ihr Stimmrecht.202 Die Fürsorgenden standen im Verdacht, den Feind zu unterstützen und mussten deshalb ihre Initiativen fortwährend rechtfertigen. In ihren öffentlichen Reden und Schriften formulierten sie vor allem zwei Argumente für ihr Tätigsein. Sie betonten wiederholt die Bedeutung der Nächstenliebe für ihre Arbeit. So sprach der Tätigkeitsbericht des Hilfsvereins der Deutschen Juden von einer »Menschenpflicht«.203 »Auch in Kriegszeiten ist der unser Nächster, der unserer Hilfe bedarf,« 196 Weissinger, »Weil der Planet ein Dorf geworden ist«, S. 501 f. 197 Stibbe, British civilian internees, S. 147 u. Ders., Elisabeth Rotten, S. 199 f. 198 Zu den Anschuldigungen und Victor Rubins Verteidigung siehe: HStA Dresden, 13451/70, Bl. 11–13 u. 20–23. 199 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt, gez. Dr. Gente) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 22.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 33 ff. Und: Peterson, Fürsorgearbeit, S. 2. 200 Blücher von Wahlstatt, Tagebuch, S. 47 (16.10.1914). 201 Kahn, Memories, S. 4. 202 Entrechtung der Ausländer in der jüdischen Gemeinde Rostock, in: Jüdische Rundschau, 11.12.1914 (Nr. 50). 203 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 5.
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begründete der Vorstand der Auskunfts- und Hilfsstelle sein Engagement. »Feindesliebe [bleibt] das Erkennungszeichen derer, die dem Herrn die Treue halten.«204 Und der Theologe Siegmund-Schultze schrieb: »Wir glauben an eine Macht, die stärker ist als der Hass. Und wir sind gewiss, dass diejenigen, die sich im Ernst zu der Religion der Liebe bekennen, immer mehr und immer allgemeiner sich auch zu unserer Arbeit bekennen werden.«205 Dieser inneren Motivation und äußeren Begründung voraus ging die Einschätzung, dass die feindlichen Ausländer/innen in ihrer Mehrzahl körperliche, emotionale und nervliche Notleidende waren. Diese Wahrnehmung beruhte meist auf persönlichen Erfahrungen und war keine allgemein zugängliche, öffentliche Interpretation. Elisabeth Rotten erinnerte sich Jahrzehnte später an die Begegnung mit den ersten ausländischen Hilfsbedürftigen. »Not, Verlassenheit und Ausgestoßensein der Betroffenen waren weit größer, als ich mir vorgestellt hatte, und ich beschloß, in Berlin zu bleiben und Hilfe für die Lösung der sich aufdrängenden mitmenschlichen Aufgaben zu suchen.«206 Die zwei Jahre andauernde Ausreiseaktion belgischer und französischer Austauschschüler sah die Pazifistin und Reformpädagogin als nachhaltigen Einschnitt in ihrem Leben und bestimmend für ihre spätere Arbeit an.207 »Die intime Verbindung mit angstverstörten belgischen und französischen Müttern ließ in mir den Entschluß reifen, mein Leben dafür einzusetzen, daß dem einen großen Volk der Kinder […] und ihren Müttern und Betreuern ein solches Geschick künftig erspart werde.«208 Von finanziellen und sozialen Notlagen feindlicher Ausländer/innen erfuhren Leser/innen der Tagespresse nichts. Überdies war den Fürsorgenden öffentliche Werbung für ihre Sache verboten worden.209 Stattdessen klagten polemische Zeitungskommentare über eine zu gute Behandlung der ausländischen Staatsbürger/innen. In den Leipziger Neueste Nachrichten wies die Dresdner Redaktion der Zeitung Ende Oktober 1914 darauf hin, dass anerkannt werden müsse, dass gegenüber Ausländer/innen »in Dresden eine entschieden zu weitgehende Humanität geübt wird«.210 Tags zuvor fragte ein Kommentator in der Kölnischen Zeitung: »Sollen Engländer sich in Deutschland andauernd eines unbehelligten Götterdaseins erfreuen, während unsere Volksgenossen drüben wie Parias behandelt
204 Zitiert nach: Romain Rolland, Dokumente der Liebe. Unser nächster, der Feind, in: Das Forum, Jg. 1 (1915), Heft 12, S. 643. 205 Siegmund-Schultze, Caritas inter arma, S. 107. 206 Rotten, Idee und Liebe, S. 79. 207 Für Rottens Lebensweg nach dem Ersten Weltkrieg siehe: Dietmar Haubfleisch, Elisabeth Rotten, S. 114–131. 208 Rotten, Idee und Liebe, S. 80. 209 Ebd., S. 79. 210 Die feindlichen Ausländer in Dresden, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 24.10.1914 (Nr. 295), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3316, Bl. 38.
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werden?«211 Der Appell zu Humanität und Empathie war folglich kein leichtes oder voraussetzungsloses Unterfangen. Die Unterstützer/innen mussten gegenüber zivilen und staatlichen Akteuren weitere Argumente mobilisieren, um ihr Wirken zu begründen. Zum einen versuchten die in der Fürsorge Engagierten, die unterstützten Ausländer/innen als »zumeist Deutschlands beste Freunde und durch tausend Bande mit uns verknüpft« zu charakterisieren.212 Zum anderen rückten sie konsequent die weitreichenden Vorteile ihrer Unternehmungen für Deutschland und für deutsche Staatsangehörige im Ausland in den Vordergrund. »Denn der Abtransport dieser Ausländer und die geregelte Unterstützung der in Deutschland Verbleibenden liegt zugleich im Interesse unseres Vaterlandes«,213 hob der Jahresbericht des Hilfsvereins hervor und zugleich wurden die Tätigkeitsfelder als »vaterländische Aufgabe« beschrieben. Der Ausschuss für Rat und Hilfe rechtfertigte seine umfangreiche Hilfsbereitschaft daran anschließend mit diplomatischen Argumenten. »Bei seinen menschenfreundlichen Bemühungen für die Ausländer glaubt der Ausschuß insofern zugleich dem vaterländischen Interesse gedient zu haben, als er den Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit stets zur Geltung zu bringen und den vermißten und kriegsgefangenen Deutschen in Feindesland entsprechende Unterstützung zu verschaffen gesucht hat.«214 In einem Informationsschreiben an den Kommandanten eines Gefangenenlagers betonte der Frankfurter Ausschuss des Weiteren, dass er zusätzlich im Ausland für die geleistete Hilfe werben wolle, damit »entsprechend für die kriegsgefangenen Deutschen gesorgt wird« und um anschließend Informationen über ihren Verbleib zu erhalten.215 Den damit verbundenen Gegenseitigkeitseffekt bezeichnete Elisabeth Rotten 1916 als gewinnbringend. Durch »die Hilfsbereitschaft für die Ausländer in unserer Mitte« sei die »mitfühlende Stimmung« und die »Liebestätigkeit« für deutsche Staatsangehörige im Ausland nachhaltig befördert worden.216 Die Bezeichnung der Auskunfts- und Hilfsstelle als Organisation »für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland« verwies in diesem Sinne nicht nur auf eine doppelte Funktion, sondern deutete ebenso eine Wechselbeziehung zwischen 211 Unsere lieben Engländer. Sollen wir Vergeltungsmaßregeln ergreifen?, in: Kölnische Zeitung, 23.10.1914 (Nr. 1164, Mittagsausgabe), Ztga. in: StA Hamburg, 111–2, L e (Herv. im Org.). 212 Spendenaufruf d. AHS (gez. Siegmund-Schultze), 6.12.1915, in: Die Eiche, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 108–111. 213 Dreizehnter Geschäftsbericht (1914) d. HVDJ, S. 7. 214 Zweiter Tätigkeitsbericht d. ARH (August 1914–Juli 1915), in: BArch Berlin, R 67/1964. 215 ARH an d. Kommandanten eines Kriegsgefangenenlagers, o.D. (etwa Mai 1915), (Abs.) in: HStA München, Abt. IV, MKr 12791. 216 Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle, S. 115.
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den beiden Adressaten an. Diese interpretierte Friedrich Siegmund-Schultze in einem Vorwort zu einem halb-öffentlichen Aufruf um »Mithilfe und Gaben« als einen humanitären »Wettstreit«. »Unsere englische Schwesterorganisation allein (›Emergency Committee‹) hat während der vergangenen Monate über 6000 M. wöchentlich an notleidende deutsche Familien Londons aus freiwilligen englischen Beiträgen gezahlt. Ebenso wie die Wirksamkeit dieses Komitees uns unmittelbar zu verstärkter Liebestätigkeit antreibt, so wird auch unsere Arbeit, je mehr sie in Deutschland unterstützt wird, einen desto weiteren Widerhall in den feindlichen Ländern finden.«217 Siegmund-Schultze stellte in seinem Unterstützungsaufruf zum einen der wahrgenommenen Not der Ausländer/innen die praktische Arbeit der sich gegenseitig anspornenden »Liebestätigkeit« gegenüber. Zum anderen übersetzte er die an militärischen und kulturell-publizistischen Fronten geführten Kämpfe in das Feld der Kriegswohlfahrtspflege. Er schrieb pointiert an anderer Stelle: »Inmitten des Kampfes der Völker hat sich ein zweiter Kampf erhoben, der noch stärker an die Ehre der Kämpfenden greift als Siegen und Unterliegen: ein Kampf um die Vorherrschaft auf geistig-sittlichem Gebiete.« In diesem rangen seine Mitstreiter/ innen und er mit Fürsorgenden aus feindlichen Ländern darum, »dass unser Volk den Krieg ritterlicher, reiner, tapferer führt als jedes andre; dass unser Volk sich gegen seine Feinde edler, vornehmer, grossmütiger verhält, als jene es vermögen«.218 Siegmund-Schultze verteidigte mit seiner Auffassung die international aufeinander bezogene Fürsorgearbeit als eine positiv ausgleichende Kampagne. Die Unterstützungen für Ausländer/innen repräsentierten insofern den entgegengesetzten Möglichkeitspol zu den militär-politischen Vergeltungsmaßnahmen gegen ausländische Zivilisten und Kriegsgefangene. Seit Herbst 1914 hatte die militärische Führungselite des Deutschen Reiches die negative Disziplinierung der Kriegsgegner befürwortet. Militärstrategen wie Politiker nahmen an, dass durch gezielte Strafaktionen gegen bestimmte ausländische Personen beziehungsweise Gruppen oder durch die zwischenzeitliche Absenkung ihres Lebensstandards die eingeforderten Rechte für deutsche (kriegsgefangene) Staatsangehörige erzwungen werden könnten. Die Fürsorgenden setzten diesem Denken mit ihrer täglichen Arbeit eine Alternative entgegen. Die Akteure der Fürsorge legten in zahlreichen sprachlichen Variationen die Nächstenliebe und die nationalen Vorteile als rechtfertigende Argumente vor. Innerhalb von Tätigkeitsberichten und halb-öffentlichen Proklamationen wie in 217 Spendenaufruf der AHS (gez. Siegmund-Schultze), 6.12.1915, in: Die Eiche, Jg. 4 (1916), Heft 2/3, S. 108–111, hier S. 108. 218 Siegmund-Schultze, Caritas inter arma, S. 89.
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Korrespondenzen mit staatlichen Akteuren formte der Verweis auf die Zweckmäßigkeit ihres Handelns eine Rahmenerzählung, die die Fürsorgearbeit in die zivilen Kriegsanstrengungen jenseits der Schützengräben integrierte. Dieser narrative Akt war weit mehr als eine beiläufige, moralisierende Kriegsfloskel. Er umhüllte die Fürsorgearbeit mit einem instrumentellen Charakter und wies ihr einen konkreten, auf den Krieg bezogenen Sinn zu. Dieser enge nationale Argumentationsrahmen war gleichwohl adressatenabhängig und wurde bisweilen verlassen, wenn er sich als ungenügend herausstellte. So konnten humanitäre und national bezogene Prämissen beispielsweise gegenüber der Betonung privater, ökonomischer Vorteile zurücktreten. Für die Spendensammlung erwog Elisabeth Rotten, den möglichen Imagegewinn gegenüber Finanziers aus »Bank- und Geschäftskreisen« hervorzuheben, der infolge der Unterstützungstätigkeit eintreten könne. Da sie »nach dem Kriege die internationalen Beziehungen wieder werden anknüpfen müssen«, spekulierte Rotten, dass »es ihnen dann ganz lieb sein könnte, sich auch während desselben in philanthropischen Dingen grosszügig und nicht engherzig national gezeigt zu haben«.219 Mithin konnten aus den gegenwärtigen Opfern des Krieges zukünftige Werbeträger/innen werden. Elisabeth Rotten und ihre Begleiter/innen fungierten in dieser Hinsicht als Makler von Zuschreibungen.
Adressatenwandel Für die Mitarbeiter/innen des Hilfsverein der Deutschen Juden bedeuteten die Jahre 1914 und 1915 eine Hochphase ihrer Fürsorgearbeit für feindliche Ausländer/innen in Deutschland. Seit 1916 verringerte sich diese fortwährend und wurde in »kleinerem Maßstabe« fortgesetzt.220 Diese Entwicklung spiegelte sich in den angewiesenen Einzelzahlungen wider. Im Laufe des gesamten Krieges wurden 100.000 solcher veranlasst. Allein auf die ersten elf Kriegsmonate entfielen 70.000.221 Der Kreis der Hilfesuchenden und die Aufgaben der Auskunfts- und Hilfsstelle unterlagen gleichfalls Konjunkturen. Wurden Ausländer/innen in Deutschland und deutsche Staatsangehörige im Ausland zu Kriegsbeginn gleichermaßen unterstützt, traten die Mitarbeiter/innen für letztere zunehmend als Vermittler von Nachrichten auf und stellten Kontakte zu Hilfsorganisationen im Aufenthaltsland her. Der für Liebesgaben zuständige Ausschuss des Vereins ging dementsprechend mit der Berliner Hilfsstelle für kriegsgefangene Deutsche zusammen.222 Dennoch nahm die Arbeitsbelastung in der Hilfsstelle nicht ab. Diese blieb vorrangig von Spenden abhängig, die vertrauensvoll eingeworben werden mussten. Alsdann erbaten mit 219 220 221 222
Elisabeth Rotten an Herrn Mathie, 25.9.1917, zit. nach: Stibbe, Elisabeth Rotten, S. 208, Fn. 10. Vierzehnter Geschäftsbericht (1915) d. HVDJ, S. 15. Nathan, Entstehung und Aufgaben des Hilfsvereins der Deutschen Juden, S. 18. Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle, S. 115.
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dem Kriegseintritt Italiens und der Vereinigten Staaten von Amerika weitere Ausländer/innengruppen Unterstützung. Hinzu kam die lange Dauer des Krieges. Der Bekanntheitsgrad der Hilfsstelle wuchs mit der Zeit und ließ die Zahl der Hilfegesuche steigen. Gleichzeitig gerieten immer weitere Kreise in Abhängigkeit von den Fürsorgeangeboten. »Viele, die hofften, sich mit geringem Verdienste, Ersparnissen oder kleineren Beihilfen von andrer Seite allein durchzuhelfen, kommen erst jetzt hilfesuchend zu uns«, gibt der Rechenschaftsbericht 1916 Auskunft.223 Die Unterstützung internierter Frauen und Kinder nahm mit der Ausreise dieser während des Krieges stetig ab. Anfang 1916 befanden sich laut Preußischem Kriegsministerium »Frauen und Kinder in grösserer Anzahl« in den Internierungslagern in Lauban, Havelberg, Holzminden und Bütow (poln. Bytów). Sie seien von den Kriegsschauplätzen oder aus den besetzten Gebieten nach Deutschland überführt worden und hätten »kein anderes Unterkommen« gefunden.224 Zum Jahreswechsel 1916/17 hielten sich infolge eines Zivilgefangenenaustausches Ende 1916 in Holzminden keine Frauen und Kinder mehr auf.225
Auswählen Bevor Unterstützung gewährt wurde, prüften die Komitees und Ausschüsse, ob die eingegangenen Gesuche berechtigt waren. Das Unterstützungskomitee für bedürftige Russen trat hierfür mehrmals wöchentlich zu Beratungen zusammen.226 Das Königsberger Hilfskomitee traf sich »in den ersten Monaten fast täglich, später wöchentlich und zuletzt nach Bedarf«, um Gesuche zu bearbeiten und die Hilfesuchenden anzuhören.227 Entgegen den zentralisierten Auswahlverfahren favorisierten die Mitarbeiter/innen der Auskunfts- und Hilfsstelle eine persönliche Einzelfallprüfung, bei der der Kontakt zu den Hilfesuchenden eine wichtige Rolle spielte. »Ehe wir Unterstützung gewähren,« erläuterte Rotten, »werden die Verhältnisse der Leute genau von uns untersucht. In den meisten Fällen übernimmt dann eine Mitarbeiterin, die die Ermittlungen gemacht hat, die Fürsorge für die Familie, d. h. sie besucht sie alle zwei bis drei Wochen, erteilt Ratschläge und beantragt die notwendigen Unterstützungen in unserm Büro.«228
223 Ebd., S. 116. 224 Preuß. KM (Unterk.-Dept.) an d. Geschäftsstelle »Die Eiche«, Berlin, 5.2.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. 225 Elisabeth Rotten an Reginald G. Foster, Rockefeller Kriegshilfskommission in Bern. 14.11.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 226 Paul Nathan, Entstehung und Aufgaben des Hilfsvereins der Deutschen Juden. Pogrome/ Das Hilfswerk im Kriege, in: Festschrift anlässlich der Feier des 25jährigen Bestehens des Hilfsvereins der Deutschen Juden, Berlin 1926, S. 5–22, hier S. 18. 227 Rosenthal, Die Kriegsarbeit des Jüdischen Hilfskomitees, S. 12. 228 Rotten, Bericht über die Tätigkeit der Auskunfts- und Hilfsstelle, S. 116.
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Im Falle der Hilfsstelle ging folglich die Fürsorge mit einer nicht geringen Kontrolle einher. Die Bedürftigen mussten vor den Ermittlerinnen ihre ökonomischen Verhältnisse offenbaren und Einblicke in ihr persönliches Leben gewähren. Abhängig davon, wie die Fürsorgevertreterinnen ihren »sozialen Stand« bewerteten, erhielten sie anschließend Beihilfen. Diese waren vor allem eine Hilfe zur Selbsthilfe innerhalb schwieriger Rahmenbedingungen wie der Meldepflicht und der Ortswechselverbote. Allerdings dienten die regelmäßigen häuslichen Besuche nur zu einem gewissen Maße einer stetigen sozialen Überprüfung der Gesuchsteller/innen. Vielmehr können sie als eine fortwährende Neuaushandlung der »dringendsten Bedürfnisse« angesehen werden. Denn die Auskunfts- und Hilfsstelle agierte während der gesamten Kriegszeit – wie bereits beschrieben – vor dem Hintergrund einer drohenden Zahlungsunfähigkeit. »Da wir aber ganz von den eingehenden Beiträgen abhängig sind, stehen wir von Monat zu Monat vor der Gefahr, auch diese notwendigste Hilfe nicht mehr gewähren zu können«, resümierte Elisabeth Rotten im April 1916.229 Die Auswahl der Hilfesuchenden war daher keine Nebensächlichkeit. Der Blick auf die Vermittlung von Unterstützungen in die Internierungslager offenbart eine ähnliche Praxis. Verschiedene Briefe belegen, dass sich Elisabeth Rotten bei Lagerkommandanturen versicherte, ob Gesuche über Kleidungs- und Nahrungsmittelspenden berechtigt waren.230 In anderen Fällen bürgte ein Lagergeistlicher für die Dringlichkeit der benötigten Güter.231 Die Kontrolle des rechtmäßigen Anspruchs der Unterstützten stellte somit einen festen Bestandteil des Fürsorgesystems dar. Dass die Hilfeleistungen zugleich nationalen Prämissen folgen konnten, legen Beschwerden von russländischen Staatsangehörigen in Freiberg nahe. Die Beamten des dortigen Polizeiamtes registrierten viele Klagen »hiesiger Russen, hauptsächlich Deutschrussen, daß die Geschäftsführung Rubins als Vorsitzender des russischen Hilfsausschusses parteilich sei«. Er unterstützte zugleich keine polnischen Saisonarbeiter/innen, obwohl sie einen russländischen Pass besaßen.232 Seine Arbeit beschränkte sich anscheinend auf einen nationalen Kern russischer Bürger/innen. Auch die Fürsorgenden konnten durch ihre Arbeit Grenzen ziehen und verfestigen.
Ausstellen Die Beteiligten am Ausschuss für Rat und Hilfe verorteten gleich dem Hilfsverein der Deutschen Juden ihr Tätigkeitsfeld keineswegs alleinig in der Wohlfahrtspflege. Sie wollten ebenso außerhalb Deutschlands über die Situation der Ausländer/innen 229 Ebd. 230 Anfragen u. Bestätigungen z. B. in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 231 AHS an d. Hilfsstelle für Kriegsgeiseln in Basel (z.H. Fräulein Georg), 7.2.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. 232 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt, gez. Dr. Gente) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 22.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 33 ff.
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in den Kriegs- und Zivilgefangenenlagern informieren und sahen sich infolgedessen als Aufklärer. In einem Bericht des Ausschusses hieß es deshalb, dass sie zuerst Eingaben an das Preußische Kriegsministerium und das Auswärtige Amt verfassten »mit Vorschlägen wegen Besichtigung der Gefangenenlager durch neutrale Kommissionen« und »wegen Austausches und besseren Schutzes der deutschen Zivilgefangenen in Feindesland«. Sie bemühten sich um eine Vermittlerrolle und erhielten bald darauf die Möglichkeit diese auszufüllen. Bei der Besichtigung der in der Umgebung von Frankfurt am Main gelegenen Lager fungierten sie als »Begleitung« für den Schweizer Nationalrat Arthur Eugster (1863–1922) und den spanischen Konsul.233 Auch Elisabeth Rotten, die umfangreiche Kontakte zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz pflegte, war 1917 die erste Ansprechpartnerin für eine neutrale Kommission der Genfer Institution gewesen.234 Als Informanten wurden ihnen seitens der neutralen Delegationen Rollen zuerkannt, die weit über eine Beobachterposition hinausreichten. Sie traten als Wissensvermittler zwischen in- und ausländischen Akteuren auf, die die Bilder über Ausländer/innen in Deutschland mitgestalteten. Die staatlichen Institutionen und Akteure ließen sie darin wiederum gewähren. Neben den unmittelbaren Kontakten zu Vertreter/innen ausländischer Delegationen publizierten die Mitglieder des Ausschuss für Rat und Hilfe die dreiteilige Heftreihe Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern.235 Ausgestattet mit einer Vielzahl an Fotografien sollten die Schriften repräsentativ das »Leben und Treiben« innerhalb der deutschen Kriegs- und Zivilgefangenenlager schildern.236 Das erste Heft beinhaltete neben dem deutschen Begleittext eine französische Übersetzung, die auf das Ziel und die Adressaten der Bemühungen verweist.237 Im zweiten Band hielt der Journalist Alfons Paquet (1881–1944) seine Hoffnungen fest. »Möge daher die vorliegende Schrift […], manche besorgte Mutter und Gattin trösten. Möge sie auch vor die Augen derjenigen gelangen, die auf das Schicksal unserer im Auslande gefangenen Brüder Einfluß haben, und die Überzeugung verbreiten helfen, daß Deutschland alles tut, was in seinen Kräften steht, um das Los der […] Kriegsgefangenen so erträglich wie möglich zu gestalten.«238
233 Zweiter Tätigkeitsbericht d. ARH (August 1914–Juli 1915), in: BArch Berlin, R 67/1964. 234 Stibbe, Elisabeth Rotten, S. 200. 235 Ausschuß für Rat und Hilfe in Staats- und Völkerrechtlichen Angelegenheiten für In- und Ausländer (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 1.–3. Folge, Frankfurt a. M. 1915– 1916. 236 Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 1. Folge, S. 3. 237 Der 3. Band erschien in einer separaten deutschen und französischen Ausgabe. 238 Alfons Paquet, Vorwort, in: Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 2. Folge, S. 7–13, hier S. 8.
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Die soziale wie finanzielle Unterstützung des Einzelnen und der Rahmen der Presseberichterstattung wurde damit überschritten. Die Herausgeber erkannten die Wirkmächtigkeit von Informationen über die Lebenssituation kriegsgefangener (und ziviler) ausländischer Staatsangehöriger. Sie setzten wie Elisabeth Rotten auf eine positive wechselseitige Fürsorgearbeit. Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern kann deshalb als ein Referenzpunkt verstanden werden. Wie dieser zu lesen war, wurde zu Beginn des ersten Heftes dargelegt. Die gleichförmigen, schier endlosen Barackenreihen wie die innere Aufteilung trügen »den Stempel der Menschlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Ordnung«.239 Die drei Leitmotive bedingen sich im Heft gegenseitig und durchziehen dessen Texte und Fotos. Den Herausgebern der drei Schriften kann unterstellt werden, die Menschlichkeit vor allem durch ihre seelsorgerische und fürsorgerische Arbeit verwirklicht gesehen zu haben. Im zweiten Band werden die einzelnen Aspekte des Lageralltags wie unter anderem die Unterkunft und Verpflegung, die Gesundheitsfürsorge, die Seelsorge und die Postübermittlung durch verschiedene militärische und zivile Autoren beschrieben. Obwohl die Kriegs- und Zivilgefangenenlager allein im Verantwortungsbereich der Militärbefehlshaber lagen, wird deutlich, dass zivile Fürsorgende neben ihnen auftraten und innerhalb der Lagerwelten wichtige Aufgaben wahrnahmen. Repräsentiert wird sogar ein gleichberechtigtes Zusammenspiel, das von keinem der Akteure geplant war und seitens des Militärs nicht forciert wurde. Der provisorische Charakter der Lager wie der eigenen Hilfsarbeit geriet in den Heften aus dem Blickfeld. Die Probleme bei der Errichtung der Lager und die Versorgungsengpässe in den ersten Tagen, die Sorgen und Nöte des einzelnen Internierten blendeten die Herausgeber aus. Sie zeichneten ganz im Sinne der Militärverantwortlichen ein Idealbild des Lageralltags, das den Einzelnen in vielen Rollenzuschreibungen auflöste. Die Gefangenen betraten die Bühne als Gartenarbeiter, Gläubige, Kranke, Theaterschauspieler, Fußballer, Feuerwehrmänner, Handwerker, Köche oder Postmänner. Sie wurden festgehalten auf Gruppenfotos, die dennoch nur die dinglichen Dimensionen des Lagers ausstellen. Den Angehörigen der Insassen oblag es, ihre Nächsten darin zu verorten. Denn gleich einer überindividuellen Werbebroschüre sollten die Szenerien für »alle« Lager »typisch« sein. In diesem Moment lag wohl der Erfolg der Reihe begründet. »In zahlreichen Zuschriften ist dem Frankfurter Ausschuß für Rat und Hilfe […] mitgeteilt worden, daß das […] Heftchen ›Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern‹ viel zur Beruhigung der Familien über das Schicksal ihrer in den Lagern befindlichen Angehörigen beitragen konnte.«240 Der privilegierte Zugang kirchlicher Akteure zu den Kriegs- und Zivilgefangenenlagern ermöglichte ihnen schlaglichtartige Einblicke, die sie ebenfalls 239 Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 1. Folge, S. 5. 240 Paquet, Vorwort, in: Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 2. Folge, S. 7.
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einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln konnten. Charles Correvon (1856–1928), der Pfarrer der französischen reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main, hatte 1915 die Verantwortung für die Seelsorge an französischen und belgischen Kriegsgefangenen in den bayerischen und preußischen Armeekorps übernommen.241 Er besuchte in den ersten 10 Monaten seiner Tätigkeit etwa 80 Lager, in denen er Gottesdienste veranstaltete, mit den Gefangenen sprach und religiöse Schriften verteilte. Seine Eindrücke von Lagerbesuchen und Gottesdiensten schilderte er nicht nur im dritten Band der Heftreihe des Ausschusses für Rat und Hilfe,242 sondern ebenfalls in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung.243 Darüber hinaus hielt er unter anderem in Bern, Basel und Zürich Vorträge, die er mit Filmaufnahmen und Fotografien illustrierte.244 Allein in Zürich sprach er im dortigen Konzerthaus vor über 1000 Zuhörern.245 Als Seelsorger und Leiter der französischen Abteilung des interkonfessionellen Hilfsausschusses für Gefangenenseelsorge verband sich mit Correvons Namen und seinem Amt eine Autorität, die für die Authentizität seiner veröffentlichten Berichte bürgte. Über die »4500 Frauen, Kinder und alten Männer« im Zivilgefangenenlager Rastatt, denen er auf seiner zweiten Reise begegnete, berichtete er mitfühlend. »Diese besonders aus der Nähe Soissons stammenden Alten und Kinder erregten unser größtes Mitleid. Eine Frau von 93 Jahren befand sich darunter, die, noch geistig sehr frisch, mir versicherte, sie sei lieber hier, von ihren Bekannten und Freunden umgeben, als unter dem fortwährenden Feuer der beiden einander gegenüberliegenden Armeen. Auch zwei Kinder sahen wir hier von 3 bis 4 Jahren, die Vater und Mutter verloren hatten und deren Haus zerschossen war. Unter dieser Schar von Frauen und Kindern befand sich ein katholischer Pfarrer, der seine Armen auf der Flucht begleitet und ihnen in großartiger Weise selbstlos und treu dient. Da wir gerade um die Essenszeit ankamen, ließ ich mir die Gelegenheit nicht nehmen, die Milch, die die Leute 241 Bendix Balke, Eduard de Neufville und Charles Correvon. Zwei Pioniere der ökumenischen Friedensarbeit aus der Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt a. M. vor und im Ersten Weltkrieg, in: Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 454–477, bes. S. 466–475. 242 Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 3. Folge: Charles Correvon, Eindrücke eines Seelsorgers, Frankfurt a. M. 1916. 243 Charles Correvon, Seelsorge an den evangelischen Kriegsgefangenen französischer Zunge in Deutschland, Erste u. Zweite Reise, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 21.7.1915 (Nr. 200, Zweite Ausgabe). Abdruck fand die Reise in zwei Teilen ebenso in der Badischen Presse: Erste Reise, in: Badische Presse, 23.7.1915 (Nr. 337, Mittagsblatt) u. Zweite Reise, in: Badische Presse, 27.7.1915 (Nr. 343, Mittagsblatt). Siehe auch: Hickmann, Gefangenen-Seelsorge, S. 27 f. 244 Correvon, Eindrücke eines Seelsorgers, S. 16 u. 19. 245 Balke, Eduard de Neufville und Charles Correvon, S. 473.
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sich aus der Kantine holen dürfen, sowie die Abendsuppe und das Brot zu kosten. Alles war ausgezeichnet.«246 Obwohl er mit seiner Seelsorgearbeit einen regelmäßigeren Zugang zu den Lagern als neutrale Inspekteure besaß, besonders im Bereich des XVIII. Armeekorps, verschloss er sich einer kritischeren Berichterstattung. Seine Schilderungen blieben einer religiösen Weltdeutung verhaftet, in der der Zusammenhalt der Deportierten und die ihnen zuteil gewordene Hilfe im Vordergrund standen. Correvon achtete ebenso in seiner Schrift Eindrücke eines Seelsorgers vornehmlich auf die Momente und Zeugnisse der Frömmigkeit und konzentrierte sich auf die »versöhnende, ausgleichende und harmonische Macht der Religion«, der er bei seinen Reisen begegnete.247 Die »bitteren Klagen« über die Zivilgefangenenlager fand er »[b]egreiflich«. Denn »[d]iese armen Leute sind auch die bedauernswertesten, denn sie sind die unschuldigen Opfer des Krieges«. »Aber für die Deutschen im feindlichen Auslande gilt das ja genauso.« 248 Er enthielt sich einem Urteil über die Unterkünfte, die hygienischen Zustände in manchen Lagern oder über die soziale Trennung der Internierten und verwehrte sie im Zuge dessen seinen Leser/innen. Ganz anders liest sich der Bericht des Nationalrates Arthur Eugster, der im Auftrag des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz reiste. Er beschrieb seinen Besuch vor dem Hintergrund einer Vielzahl an Klagen, denen er nachging.249 Sein Blick war geordnet nach Kategorien wie Lagerstätten, Desinfektion, Badeanstalt und Nahrungsmittel. Aber ebenso wie Pfarrer Correvon schwieg er über die zweifelhafte Internierung von Frauen und Kindern in den Lagern oder über die Unverhältnismäßigkeit der Deportationen aus Belgien und Nordfrankreich. Womöglich lag die Zurückhaltung des Seelsorgers und des Inspekteurs auch in ihrer Abhängigkeit von Generalkommandeuren und Lagerkommandanten begründet. Die Fürsorgenden mussten in ihren Darstellungen stets abwägen zwischen einer kritischen Wissensvermittlung und der zukünftigen Gewährung des Eintritts in die Welten der Lager, in denen sie eine seelsorgerische oder vermittelnde Rolle einnahmen. Nicht alle Akteure der Fürsorge waren publizistisch aktiv. Aber einige von ihnen nahmen repräsentative Aufgaben wahr. Sie interpretierten nicht nur die praktische Fürsorge als eine wechselseitige Chance zur Verbesserung von Lebenssituationen, sondern erkannten die narrativen Dimensionen des Gegenseitigen. Indem sie innerhalb einer spezifischen Bildsprache das Leben der Kriegs- und Zivilgefangenen beleuchteten, handelten sie im Interesse der Militärbehörden. Sie 246 Charles Correvon, Seelsorge an den evangelischen Kriegsgefangenen französ. Zunge in Deutschland, Zweite Reise, in: Badische Presse, 27.7.1915 (Nr. 343, Mittagsblatt). 247 Correvon, Eindrücke eines Seelsorgers, S. 37. 248 Ebd., S. 31. 249 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster, Nationalrat (II. Reise), u. Dr. C. de Marval, Oberstleutnant (III. und IV. Reise), Mai 1915, S. 45 f.
Resümee: Die Unterstützungskultur der Fürsorgenden
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erbrachten im Propagandakrieg eine nicht unbedeutende Leistung für das Deutsche Reich. Gleichwohl sollten ihre Bemühungen, Eindrücke und Wissen zu vermitteln, nicht als Propaganda beschrieben werden. Dies würde ihren Intentionen und ihrer Fürsorgearbeit in den Lagern nicht gerecht werden. Ihre wohlwollenden oder distanzierten Ausführungen stellten prekäre Übersetzungen dar, in denen sie repräsentierbare und anschlussfähige Aspekte ihrer vielfältigen Tätigkeiten herausgriffen.
Resümee: Die Unterstützungskultur der Fürsorgenden Die in Archiven und Bibliotheken überlieferte zivile Schreibarbeit der Fürsorgenden eröffnet eine weitere Perspektive auf feindliche Ausländerinnen und Ausländer. Diese wurden nicht nur als eine finanzielle Belastung, ein militärisches Sicherheitsrisiko oder eine Störung innerhalb der Kriegsgesellschaft wahrgenommen. Ebenso galten sie als Hilfsbedürftige, deren kriegsbedingte Ausgrenzungen auf Kritik stießen. Akteure aus der Zivilgesellschaft begründeten Projekte und Unternehmungen, die die Hilfstätigkeiten koordinieren und organisieren sollten. Dabei arbeiteten die Fürsorgenden einerseits mit staatlichen Institutionen zusammen. Andererseits versuchten sie, die Interessen der Ausländer/innen gegenüber diesen durchzusetzen. Innerhalb dieses Spannungsfeldes konnten sie sich Handlungsspielräume eröffnen, die jedoch stets von staatlichen Institutionen und Akteuren abhängig waren. Dennoch gelang es ihnen, unter sich verändernden Rahmenbedingungen – wie der militärischen Internierung wehrpflichtiger und -fähiger Männer – durch persönliches Renommee, Engagement und vielfältige Kontakte ihrem Handeln Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit zu verleihen. Die Fürsorgenden nahmen innerhalb weniger Monate eine wichtige Rolle im Leben vieler feindlicher Ausländer/innen in Deutschland ein. Sie tradierten hierbei in ihrem Handeln die sozialen Differenzen der Gesellschaft fort. In Frankfurt am Main mussten »Begüterte« nicht in der Massenunterkunft übernachten, und die Auskunfts- und Hilfsstelle zahlte, der »sozialen Stellung« entsprechend, finanzielle Unterstützungen aus. Gleichzeitig sicherten die Unterstützer/innen innerund außerhalb der Internierungslager die Grundversorgung nicht weniger ausländischer Staatsbürger/innen. Dazu gehörten Kleidung für die Wintermonate, Lebensmittel für Kranke und Kleinkinder oder Miet- wie Heizzuschüsse. Sie übernahmen unerwartet und in keiner Mobilmachungsanweisung bedacht eine weitreichende Verantwortung für die Hilfsbedürftigen. In vielen Fällen waren sie für die Unterstützten alternative Ansprechpartner/innen oder Zuhörer/innen, mit denen jene in ihrer Muttersprache sich austauschen konnten. Ein Brief Paul Nathans an den Ministerialdirektor des Reichsamtes des Innern zeigt diesen schleichenden Übergang der Verantwortung von staatlichen hin zu
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privaten Akteuren. Er schrieb im Oktober 1914 an den Staatsbeamten, dass ihm mitgeteilt worden sei, »daß sich im Munsterlager in der Provinz Hannover sowie in Altengrabow bei Magdeburg eine Anzahl gebildeter Russen in den allerbedauernswertesten Verhältnissen befinden. […] Sie sollen auch das Allernötigste ermangeln, vielfach nicht einmal Schuhe an den Füßen haben.« Um ihnen zu helfen, bat Nathan zunächst ihre allgemeinen Lebensumstände zu verbessern. Alsdann schlug er vor, den zumeist aus den polnischen Provinzen Russlands Stammenden entweder die Ausreise zu genehmigen oder sie zumindest aus der Internierung zu entlassen. Er rechnete allerdings damit, dass dieser Bitte nicht unbedingt entsprochen werden würde. »Und stehen dem in einzelnen Fällen gewichtige Bedenken entgegen,« teilte er deshalb mit, »so würde jetzt bei der hereinbrechenden kälteren Jahreszeit für eine bessere Ausstattung der Festgehaltenen aus unseren Fonds gesorgt werden müssen.«250 Mit dieser weitreichenden Fürsorgepraxis wirkten die Helfer/innen in staatliche und militärische Verfügungsräume hinein. Sie erhielten Einblicke, die der Bevölkerung versagt blieben und vermittelten ihre eigenen Wahrnehmungen über die Lebenssituationen ausländischer Staatsangehöriger. Bernhard Kahn notierte unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges fast ungläubig über seine Erinnerungen: »At the time of the first world war, there was still a possibility to communicate with enemy countries through neutral countries, and through the Spanish Embassy.«251 Die fortgeführten Beziehungen und aufrechterhaltenen Verbindungen stellten keine Ausnahmen dar. Sie gehörten zur alltäglichen Arbeit der Unterstützer/innen, die innerhalb eines internationalen Fürsorgenetzwerkes agierten. Dies ruhte in weiten Teilen auf den Kontakten in europäische und außereuropäische Länder der Vorkriegszeit. Es erwies sich als belastbar für die von den Akteuren etablierten Unterstützungsunternehmungen und konnte im Krieg um viele lokale Fürsorgende erweitert werden. Die Helfenden ließen nicht-öffentliche Informationen zirkulieren und mobilisierten Hilfsgüter von Geld über Kleiderspenden bis hin zu kondensierter Milch. Ihr grenzüberschreitendes Tätigsein verdichtete sich infolgedessen zu einer Unterstützungskultur einer alternativen Wissensgemeinschaft. Daraus folgen schließlich Einsichten in das Leben feindlicher Ausländer/innen. Viele von ihnen hätten während der Kriegszeit ausreisen können. Die erfolgreichen und gescheiterten Unterstützungsbemühungen seitens der Fürsorgenden betonen das Wagnis, welches sie eingingen, indem sie in Deutschland blieben.
250 Paul Nathan an d. Ministerialdirektor d. RAdI, 6.10.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1. 251 Kahn, Memories, S. 9.
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Die Kriegsgesellschaft widmete dem fremd Erscheinenden große Aufmerksamkeit. Diese fand ihren Ausdruck in unzähligen Papierarbeiten, »die Teil der riesigen Schreibmaschine […], die dieser Krieg in Gang setzt[e]« waren.1 Gegenwärtige Betrachter/innen treffen darin auf konflikthafte Begegnungen mit scheinbar Ausländischem und auf vielstimmige Gedanken über dieses. Etliche Akteure dokumentierten und kategorisierten, charakterisierten und erklärten feindliche Ausländer/ innen. Einige denunzierten sie an öffentlichen Orten und wiederum andere sorgten sich um sie. In den ersten Kriegstagen setzten sich in den Zeitungen die lautesten unter ihnen, die ausländischen Staatsbürger/innen die Rolle ›feindlicher‹ Spione zuwiesen, durch. Doch dies sollte erst der Anfang vielfältiger Aneignungen und Zuschreibungen sein, die den Kriegsalltag durchzogen. Jeder Einzelne war gezwungen, einen Standpunkt zu entwickeln, wie er sich gegenüber (vermeintlichen) Ausländern und Ausländerinnen verhalten wollte. Die Kölnische Zeitung fragte ihre Käufer/innen im Oktober 1914, »die Nebensachen« beiseitelassend, »ohne Umschweife« nach den Grenzen eines respektvollen und toleranten Zusammenlebens im Krieg. »Sollen Engländer sich in Deutschland andauernd eines unbehelligten Götterdaseins erfreuen, während unsere Volksgenossen drüben wie Parias behandelt werden? Sollen sie bei uns ungehindert weiter ihr reichliches Geld verdienen, während man die Unsrigen drüben unter Vertragsbruch aus Lohn und Brot wegjagt? Bei uns können englische Firmen ruhig fortfahren, mit den drüben geächteten Deutschen Geschäfte zu machen.«2 Viele entschieden sich, in ihren Erzählungen und in ihrem sozialen Handeln Grenzen festzulegen. Sie sahen sich durch den Krieg dazu ermächtigt. Zugleich erfuhren sie durch militärische und zivile Bekanntmachungen, durch die Antworten und das Vorgehen staatlicher Institutionen, ob die eigenen Positionen anschluss- und mehrheitsfähig waren oder ob diese auf Ablehnung und Widerstand stießen. Vielfältige, ineinander verwobene Grenzziehungen sollen im Folgenden als ein dynamischer Prozess im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Durch archi1 2
Gfrereis, Zur Ausstellung »August 1914. Literatur und Krieg«, S. 47. Unsere lieben Engländer, in: Kölnische Zeitung, 23.10.1914 (Nr. 1164, Mittagsausgabe), Ztga. in: StA Hamburg, 111–2, L e (Herv. im Org.).
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valische und publizistische Überlieferungen hindurch wird entlang von Erzählungen und Handlungen nach den Resonanzen und Dissonanzen des Ausländischen in der deutschen Kriegsgesellschaft gefragt. Zugleich wird nicht außer Acht gelassen, dass die vielzähligen Schreibakte ebenso wie das soziale Tätigsein den feindlichen Staatsangehörigen sowohl eine zeitgenössische Sichtbarkeit verliehen als auch gegenwärtig diese dokumentieren. Mithin brachten staatliche und zivilgesellschaftliche Bewegungen feindliche Ausländer/innen erst hervor und manifestierten sie.
Irritationen sprachlicher Vielstimmigkeit Radieren Unter der Augustsonne des Jahres 1914 wandelte sich das Äußere europäischer Städte. Manches verging so schnell, wie es gekommen war: die mit Fahnen verhängten Straßenfluchten, die durch sie hindurch ziehenden Kolonnen abmarschierender Soldaten, flankiert von unzähligen Zuschauer/innen, die Bienenschwärmen gleichenden Menschentrauben vor Zeitungsredaktionen, Polizeistationen und Litfaßsäulen. Was aus diesen Tagen der Erregung blieb, war eine veränderte Oberfläche öffentlicher Räume. Die Radierung der als fremd empfundenen Bezeichnungen führte zu einer anderen Lesbarkeit von Straßen, Plätzen und Häusern. Unter dem wachsamen Blick des Publikums änderten Hotel-, Café- und Gaststättenbesitzer fremdsprachige Geschäftsbezeichnungen und redigierten Speisekarten, hängten Kinobetreiber ausländische Filmplakate ab und nahmen die »Films«3 aus ihren Programmen, suchten Fabrikinhaber »deutsche« Namen für ihre Firmen und Produkte. Andere wiederum, wie die Berlitz-School of Languages, mussten ihre Herkunft klarstellen. In einer Zeitungsanzeige versicherte die Geschäftsleitung »[u]m eine[r] irrige[n] Auffassung vorzubeugen«, dass die Schulen amerikanischen Ursprungs seien und verkündete: »Herr Berlitz ist DeutschAmerikaner.«4 Als exemplarisch für viele andere sprachkritische Szenen in vielen anderen Städten können die Ereignisse gelten, die ein Reporter des Leipziger Tageblatts auf dem Augustusplatz der Messestadt am Nachmittag des 3. August 1914 festhielt. »Man sah einen Angestellten des Cafés Felsche, auf hoher Leiter stehend, die großen goldenen Buchstaben entfernen, die solange in friedlichen Jahren den Leipzigern das Dasein des Cafés Français verkündet hatten. Buchstabe auf
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Keine französischen Films mehr, in: Vossische Zeitung, 5.8.1914 (Nr. 393, Abendausgabe). Anzeige Berlitz-School of Languages, in: Schwäbischer Merkur, 26.1.1915, Ztga. in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622.
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Buchstabe wurde heruntergenommen und jedesmal folgten Hoch- und Hurrarufe dem Vorgehen des Mannes.«5 Der auf der Leiter Balancierende vollzog »kurz entschlossen« unter dem Eindruck einer verbitterten und fordernden »Volksmenge« eine bereits vor dem Kriege geäußerte »Anregung«.6 Und das jubelnde Publikum gab sich mit der demonstrativen Namensänderung zufrieden. Die beliebte Adresse der Leipziger Upperclass hieß fünf Tage lang Café Felsche. Erst nachträglich entschied sich der Pächter zu einer konsequenteren Eindeutschung und fortan lud das Kaffeehaus Felsche zu Tee, Torten und Getränk ein. Die begüterte Kundschaft im Kaffeehaus stieß allerdings hinter den ausladenden Schaufenstern weiterhin auf jene, die die Konditorenkunstwerke zwar von draußen bewundern, aber nicht genießen konnten. Dem Pächter des Cafés, Richard Moßig, wurde daher seitens der Polizei im Juli 1916, als sich die Versorgungslage kriegsbedingt verschlechtert hatte, empfohlen, Gardinen aufzuhängen, um Blicke auf die »Leckereien« und die dinierenden Gäste zu behindern.7 Schließlich kam es erst nach dem Krieg am 4. Juli 1923 zur Erstürmung des Hauses durch »Erwerbslose«.8 Fortwährend stellte das Café einen Brennpunkt sozialer Konflikte dar. Auch die unter national abgrenzenden Vorzeichen initiierten Namensänderungen vermochten nicht, das Wissen über sozioökonomische Brüche innerhalb der Gesellschaft zu verdecken. Aufmerksame Akteure bemerkten diese feinen Unterschiede. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Eduard David (1863–1930) stellte am 21. August 1914 in seinem Tagebuch die rhetorische Frage, ob der Umsturz des Bezeichnenden Folgen für das Bezeichnete zeitigen wird. »Man erklärt dem Fremdländischen den Krieg und berichtet mit Genugtuung, daß der General v. Emmich den Orden pour le mérite erhalten habe. – Die Speisekarten werden verdeutscht. Ob die Fürsten ihre französischen Küchenchefs entlassen werden? – Man gibt die englischen, russischen, japanischen Orden dem Roten Kreuz zum Einschmelzen. Ob die Fürsten, Diplomaten, 5 6 7
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Leipziger Tageblatt, 3.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 165, S. 97. Ähnliche Szenen spielten sich beispielsweise in Dresden vor dem Café de Paris ab. Siehe: Lagebericht d. Sächs. MdI, 5.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 45. Rudolf Junghanns, Kaffeehaus Felsche. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Kaffeehauses Felsche, Leipzig 1935, S. 33 ff. Im Bezirk des VII. AK wurde dafür bereits im Januar 1915 eine Verordnung erlassen, in der das »Aufstellen von Kuchen und kuchenartigen Gebäcken auf den Tischen der Gäste, sowie das Anbieten dieser Gebäcke im Umhertragen in den Cafés und Konditoreien« verboten wurde. Siehe: Bkm. d. stv. Gkdos. VII. AK (gez. v. Gayl), 22.1.1915, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Erste Ausgabe, S. 28 (Herv. im Org.). Junghanns, Kaffeehaus Felsche, S. 34.
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Staatsmänner und Generale dem Beispiel folgen werden? Und wie wird man es halten mit dem französischen Sekt, dem russischen Kaviar usw.?«9 Der Zeitzeuge David konturierte in seinem Eintrag spitzfindig die transnationalen kulturellen Lebensweisen und Selbstverständnisse, die Abgrenzungsinstrumentarien und gemeinsamen Orientierungspunkte vielfältiger Adelsgruppen.10 Sprachen waren innerhalb dieser Kommunikationsmittel und Unterscheidungsmerkmal zugleich. Sie gehörten zu internationalen symbolischen Fäden, die feingliedrig auch die Gesellschaft des Deutschen Reiches durchzogen, Differenzen erfahrbar machten und reproduzierten. Sie waren nicht von dem Besitz an kulturellem, ökonomischem oder sozialem Kapital zu trennen. Eduard David verwies gleichzeitig auf Grenzen und Widersprüche, die aus der sprachlichen und symbolischen Nationalisierung hervorgingen. Denn weite Kreise der betroffenen Führungselite betrachteten die kriegsbedingten und vorerst kriegsgebundenen nationenbezogenen Vorsätze durchaus kritisch. Dies wurde im Spätsommer 1914 besonders deutlich in einer kurzen Diskussion über die Neuausgabe des Handbuchs über den Königlich Preußischen Hof und Staat. Offiziere der Obersten Heeresleitung und Staatssekretäre sahen sich vor die Frage gestellt, ob ausländische Orden durch eine allgemeine Verfügung zurückgegeben oder lediglich im Handbuch fortgelassen werden sollten.11 Die Vertreter des Auswärtigen Amtes rieten zu einem maßvollen Entschluss, denn »die wünschenswerte und notwendige Wiederannäherung zwischen den jetzt feindlichen Staaten zu erschweren«, sei nicht erstrebenswert. Sie wiesen auf das Jahr 1870 hin, in dem Friedrich Wilhelm von Preußen und Otto von Bismarck in den Ranglisten auch ihre Auszeichnungen der französischen Ehrenlegion geführt hatten. Somit könnten solche ausländischen Anerkennungen die »Würde eines Beamten nicht beeinträchtigen«. Der Chef des Militärkabinetts, Moriz von Lyncker (1853–1932), hielt dagegen die Zeit für eine Entscheidung noch nicht gekommen. Denn die »zu berücksichtigenden politischen Verhältnisse« seien nicht absehbar.12 Im Zivilkabinett fand er Zustimmung. Das Hof- und Staatshandbuch wurde während des
9 Eduard David, Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914–1918, bearb. von Erich Matthias u. Susanne Miller, Düsseldorf 1966, S. 20 (21.8.1914). 10 Zur forschungsgeschichtlichen Differenzierung dieser und den methodischen Zugängen zu diesen Gruppen siehe: Stephan Malinowski, Ihr liebster Feind. Die deutsche Sozialgeschichte und der preußische Adel, in: Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 203–218. 11 Vizepräsident d. Preuß. Staatsministeriums (gez. Delbrück) an d. Präsidenten d. Staatsministeriums, 30.9.1914, in: BArch Berlin, R 43/2466.c, Bl. 63. 12 Chef d. Militär-Kabinetts (gez. v. Lyncker) an d. Chef d. Zivilkabinetts, 7.10.1914, in: BArch Berlin, R 43/2466.c, Bl. 145 f.
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Krieges nicht herausgegeben und ein möglicher Konflikt mit nationalistischen Anklägern vermieden.13 Während europäische Adelsgruppen aus vornationalen Traditionen wie der französischen Hofsprache schöpften und Offiziere wie Beamte an militärische und diplomatische Riten anknüpften, kritisierte der Sprachkritiker Oskar Kresse 1915, dass der Fremdwortgebrauch mit höherem Bildungsgrad zunehme und Fremdworte als Zeichen von Intellektualität gälten.14 Der Dramatiker, Übersetzer und erste Präsident des deutschen P.E.N.-Klubs, Ludwig Fulda (1862–1939), beklagte während des Krieges: »Wie oft habe ich es persönlich erlebt, daß auf deutschem Boden eine ganze deutsche Gesellschaft, in der sich ein Franzose oder Engländer befand, ihm zuliebe zu französischer oder englischer Konversation überging.«15 So verwundert es nicht, dass ebenso der internationale Sprachgebrauch an Hochschulen öffentlich scharf kritisiert wurde.16 In der Kriegsschrift Wir und die Anderen appellierte daran anschließend der Autor Richard Günther an den »Stolz« und das »Selbstbewußtsein« der »Deutschen«, gleichwohl nicht an den »gewöhnlichen Manne«. »Wo soll er es herwissen, daß ›logis‹, ›trottoir‹ (rheinisch trotowar) ›etage‹, ›retour‹ nicht deutsch ist, nachdem er es doch nie anders gehört hat.« »Bessergestellte« oder »[d]ie Gebildeten sind es, die vorbildlich wirken müssen.«17 Der Krieg aktualisierte folglich einen Konflikt um das nationale Bekenntnis des Einzelnen.18 Dies konnte privat geschehen in der Verwendung der deutschen vor der lateinischen Schreibschrift, wie der Rechtsanwalt und Notar Georg Steigertahl es forderte.19 Denn die »lateinischen Buchstaben« seien »auch die Schriftzeichen der Franzosen und Engländer«. Öffentlich konnte es bezeugt werden durch das Ablegen französischer Mode, die Zurückgabe ausländischer Orden, das Abhängen fremdsprachiger Geschäftsbezeichnungen oder ferner durch den Verzicht auf die französische Sprache in der Dresdner Straßenbahnlinie 1. Zwischen den Villen der ehemaligen Loschwitzer Weinberge im Elbtal und dem Ortsteil Plauen hatte sich vor den Augen einer »Zeugin« eine unerhörte Begebenheit ereignet. Schnell brachte sie ihre Aufregung über diese zu Papier, und bereits am folgenden Tage, dem 15. November 1914, veröffentlichten die Dresdner Neueste Nachrichten die Schilderungen, die sie »[v]on durchaus vertrauenswürdiger
13 Geheimes Zivilkabinett (gez. v. Valentini) an d. Chef d. Militärkabinetts, 9.10.1914, in: BArch Berlin, R 43/2466.c, Bl. 146. 14 Oskar Kresse, Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter, Berlin 1915, S. 121. 15 Ludwig Fulda, Deutsche Kultur und Ausländerei, Leipzig 1916, S. 9. 16 Ausländer an den deutschen Hochschulen, in: Badischer Beobachter, 1.10.1914 (Nr. 269). 17 Richard Günther, Wir und die Anderen; auch ein Kriegskapitel, Bonn 1915, S. 46. 18 Vgl. Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 224. 19 Einsendung Georg Steigertahls, in: Hannoverscher Kurier, 11.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 369, S. 242.
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Seite« erhalten hatten.20 Der Ausgangspunkt des abgedruckten Briefes bildete die Intervention eines älteren Herren, der sich »höflich das laute FranzösischSprechen zweier anscheinend den besseren Ständen angehörender Damen« in der Tram verbat. »Alle Mitfahrenden stimmten dem Herrn bei, welcher sagte: ›Ich konnte es nicht mehr stillschweigend mit anhören!‹ Darauf erging sich die eine der ›Damen‹ gegen diesen in beleidigenden Schimpfworten – ›Sie alter Kerl, alter Sie‹ –, die ihr in deutscher Sprache nur so von den Lippen sprudelten. Sie konnte also doch deutsch reden. […] Mein Verlangen nach einem Polizisten blieb leider ungehört, doch mußten die beide ihre Fahrt vorzeitig unterbrechen[.] […] Der Schaffner meinte, bloß auf ausdrücklichen Wunsch des beleidigten Herrn hätte er einschreiten dürfen. Es war zu verwundern, daß keiner der anderen mitfahrenden Herren für den mit der Erregung kämpfenden alten Herrn die nötigen Schritte tat.«21 Die Szene und ihre Repräsentation stehen bezeichnend für die nicht abschließbare Zuordnung und Erklärung des Eigenen und des Fremden. Die beiden »Damen« werden von der Briefautorin »den besseren Ständen« zugeschrieben. Offenbar auch wegen ihres französischen Sprachgebrauchs, der vor dem Hintergrund des Krieges ihre nationale Loyalität in Frage stellte. Ebenso erkannte der ältere Herr den sozialen Unterschied, als er zunächst entschuldigend das »laute« französisch sprechen anprangerte und sich sogleich rechtfertigte. Dieser sozialen Grenzüberschreitung folgten die Frauen mit einem gesellschaftlichen Konventionsbruch. Sie beschimpften den »alten Herrn«, woraufhin andere Fahrgäste mit »Empörung und Entrüstung« reagierten. In der Folge mussten beide Frauen die Bahn verlassen. Das Empörende entfaltete sich für die Autorin des Leserbriefes erst jetzt. Denn es blieb nicht nur die Solidarität anderer Fahrgäste mit der Sprachintervention des Herren aus. Viel mehr verlangte er nach dem Ausstieg der Frauen keine weiteren Sanktionen, wie der Schaffner berichtete. Ganz zum Unmut der Autorin hatte sich die Auseinandersetzung rasch nach der emotionalen Erregung der Beteiligten beruhigt. Sie meinte allerdings, dass die Frauen »einen anderen Denkzettel verdient« hätten: nicht nur Ausgrenzung, sondern auch Bestrafung. Die beiden Frauen bekannten sich im Sinne dieser Lektüre des Briefes nur ungenügend zur deutschen Nation und stifteten durch ihr Verhalten Unfrieden. Den Zeitungskäufer/innen wurde jedoch eine andere Lesart dieser Zeilen vorgegeben. Unter der Überschrift Empörendes Benehmen von Ausländerinnen in Dresden deuteten die Redakteure eine gänzlich andere Konfliktkonstellation an. 20 Empörendes Benehmen von Ausländerinnen in Dresden, in: Dresdner [Neueste] Nachrichten, 15.11.1914 (Nr. 317), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3317, Bl. 26. 21 Ebd.
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Sie gaben der Erzählung eine abweichende Erklärung und eine anders gewichtete Bedeutung. Der Moment der Empörung entsprang aus ihrer Perspektive einem Konflikt zwischen In- und Ausländer/innen. Die Szene in der Straßenbahn drehte sich nun nicht um ein fehlendes nationales Bekenntnis zwischen sozial ungleichen Akteuren, sondern um zwei respektlose Französinnen, einen heldenhaft auftretenden älteren Herren und zurückhaltende deutsche Fahrgäste. Die Feststellung der Autorin, dass die Frauen »also doch deutsch reden« konnten, wurde nicht als spöttische Verachtung interpretiert. Diese diente nun als Verwunderung über die Fähigkeiten der »Ausländerinnen«. Die Offenheit der Schilderung lässt diese voneinander abweichenden Interpretationen zu. Ob die beiden Frauen tatsächlich im Besitz eines nicht-deutschen Passes waren, bleibt unbeantwortet. Französisch sprechende deutsche Staatsangehörige und des Deutschen mächtige französische Bürger/innen verweilten in einem Raum unsicherer nationaler und sozialer Grenzen. Aber der Krieg legte den Redakteuren eine Perspektive nahe, die eine nicht angezweifelte Eindeutigkeit suggerierte. Beide Lesarten überschneiden sich in der Frage nach dem angemessenen Verhalten des Einzelnen im Krieg. Inländer/innen sollten im Gebrauch fremder Sprachen Zurückhaltung üben und konsequent einstehen für die deutsche Nation. Zugleich offenbart die bedingte Deutung des Textes durch die Überschrift die Fragilität der Gleichsetzung von fremden Sprachen mit fremden, ausländischen Staatsangehörigen. Dies musste eine andere Dresdnerin, »ihrer äußeren Erscheinung nach zu urteilen eine Frau von Erziehung und Kultur«, ebenfalls in der Straßenbahn erfahren. Als sie sich von ihrem Sitzplatz erhob, um drei USamerikanische Mitfahrer zu ermahnen, dass Englisch sprechen nicht erlaubt sei, teilte einer der Herren ihr mit, »daß er in Deutschland geboren sei und in der deutschen Armee im deutsch-französischen Kriege gedient habe«.22 Sprachen stellten ein unzureichendes nationales Identifikationsmerkmal dar. Dennoch wurden sie benutzt, um das Eigene und das Andere zu markieren. Der Geschäftsführer des ehemaligen Café Français bewies mit der Namensänderung seine Loyalität gegenüber der nationalen Gemeinschaft. Die ehemalige übernationale soziokulturelle Grenzziehung, die sich in der Namensgebung und in der Bevorzugung der süßen Pariser Haute Cuisine gegenüber regionalem Gebäck ausgedrückt hatte, wich zumindest äußerlich einem nationalen Bekenntnis. Den latenten öffentlichen Druck, der diese Entscheidung beeinflusste, setzte die Düsseldorfer Dependance des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins in Szene. Deren Mitglieder ließen einen Schaufensteraushang in der Stadt verteilen, der von den Passanten eine kritische Aufmerksamkeit einforderte und sie zu demonstrativem nationalen Handeln aufforderte. »Kauft bei solchen Leuten, die mit Euch gut Deutsch reden, die an Euch gut Deutsch schreiben und auf ihren Empfehlungs22 American Consulate General, Dresden, Saxony (gez. Bergholz) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, Mai 1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/11086, Bl. 54 f.
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karten, auf ihren Straßenschildern und in ihren Schaufenstern in guter deutscher Sprache Euch beweisen, daß sie selbst gute Deutsche sind!«23 Zu der Beweisführung gehörte nicht selten die Dokumentation der Änderungen, deren bleibende öffentliche Sichtbarkeit. In den Straßen begegneten Flaneure deshalb nicht nur der schönen neuen ›deutschen‹ Welt, sondern ebenfalls den Hinweisen auf das Vorangegangene, den Makeln der Umbenennung. Der Geschäftsführer des Café Français ließ zu Farbe und Pinsel greifen. »Als der letzte Buchstabe verschwunden war, vernichtete dicke, schwarze Farbe die letzte Spur der Erinnerung an ein Wort aus einer Sprache, die von nun an allen Deutschen verhaßt im Ohre klingen wird. Gleich darauf ging unter begeistertem Jubel eine schwarz–weiß–rote Fahne auf dem Dache des Gebäudes empor.«24 Dem regionalen Korrespondenten der Frankfurter Volksstimme begegnete beim Durchqueren der Straßen »ein merkwürdiges Bild. Überkleisterte, überpinselte, verhängte, ausgemeißelte Geschäftsschilder mit französischen Aufschriften zu Tausenden! Ein scheckigeres Bild wie jetzt dürfte die Stadt noch nie geboten haben.«25 Keineswegs metaphorisch wurde in den Hamburger Nachrichten bemerkt, dass »mit einem kräftigen Striche« die erste Kriegswoche Fremdwörter »hinweggefegt« hätte.26 Patriotismus und unüberhörbare Demonstranten waren zwei von vielen Gründen für die Namensänderungen. »Entfernen Sie bis morgen Abend das französische Schild über Ihrem Laden, sonst wird ihnen dieses sowie Schaufenster und Ladentür zerstört«, musste die Inhaberin eines Berliner Hutgeschäftes in einem an sie gerichteten Brief lesen.27 »Wir deutschen Frauen und Mädchen tragen deutsche Hüte[.]« In Frankfurt am Main trieben »heldendeutsche Jünglinge« die Umbenennungen voran. Sie stellten mit Steinen bewaffnet Ladeninhabern Ultimaten und ließen nicht selten Glas splittern. Unter dem Eindruck einer »karnevalesken Stimmung« hätten die zwölf- bis zwanzigjährigen Fremdwortjäger aus der bürgerlichen Mittelschicht ihren Spaß gesucht, vermutet Jeffrey Verhey und fand keine Belege für Festnahmen.28 Erst als es in Berlin im Herbst 1915 zu Lebensmittelengpässen kommen sollte, nahmen »die radaulustigen Straßenjungen« ihre 23 Fensteraushang d. Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Zweigverein Düsseldorf, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 27. 24 Leipziger Tageblatt, 3.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 165, S. 97. 25 Stimmungsbilder, in: Frankfurter Volksstimme, 5.8.1914 (Nr. 180, Beilage), zit. nach: Verhey, Der Geist von 1914, S. 151. 26 Volker Ullrich, Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg, Köln 1982, S. 16. 27 Deutsche Hüte für deutsche Frauen, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 13.8.1914 (Nr. 189, Zweite Ausgabe). 28 Verhey, Der Geist von 1914, S. 151 ff.
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Tätigkeit wieder auf und warfen nun vorzugsweise Schaufensterscheiben von Fleischwarengeschäften ein.29 »Kauft deutsche Waren!«, forderte ein Leserbriefautor (A.N.) im GeneralAnzeiger für Hamburg-Altona und appellierte an die Bürgerschaft, dass »keine englischen, französischen, russischen aber auch keine – amerikanischen Erzeugnisse […] in uns künftig Liebhaber und Abnehmer finden« sollten.30 Im Zuge dessen wurde das Nationale zu einer Werbestrategie. »[C]levere Geschäftsmänner«, die die Zeichen der Zeit erkannten, hofierten ihm nicht selten als Motor ökonomischen Profits.31 Gleichzeitig führten wirtschaftliche Zwangslagen zu Kennzeichnungsänderungen. Johanna Boldt, die während des Krieges als Geschäftsführerin einen Kolonialwarenladen in Hamburg leitete, empörte sich in einem Brief an ihren Ehemann, der an der Ostfront diente, über Teile ihrer Kundschaft. »Wie die Deutschen sich gegen ausländische Produkte verhalten, grenzt bald ans Lächerliche«, bemerkte sie. »Engl. Marmelade ist verpönt, franz. Camembert will kein Mensch; selbst von den Bonbongläsern haben wir die Streifen einer englischen Firma entfernen müssen.«32 Aber nicht nur wählerische Käufer/innen, jugendliche Demonstrant/innen, gewiefte Unternehmer/innen, Sprachaktivist/innen oder national-empörte Bürger/innen waren die Protagonist/innen der Sprachbewegung gegen ausländische Bezeichnungen und Symbole. Diese fand ebenso innerhalb staatlicher Institutionen Befürworter und Antreiber, die über gänzlich andere Sanktionsmöglichkeiten verfügten. Der Berliner Polizeipräsident, Traugott von Jagow, stellte am 29. September 1914 fest, dass in der Hauptstadt »[n]och immer […] die englischen und französischen Geschäftsbezeichnungen […] nicht vollständig beseitigt« sind. Darin entdeckte er einen »bedauerlichen Mangel an Nationalbewußtsein« und forderte das Berliner Polizeirevier auf, umgehend zu handeln. Er bestand darauf, gegenüber »Geschäftsinhabern auf die Beseitigung dieser würdelosen, nicht zeitgemäßen Bezeichnungen« hinzuwirken und empfahl vor allem die »geschäftlichen Interessen« als zentrales Argument.33 Seine Aktivitäten beschränkten sich nicht auf die ersten Kriegswochen. Der »Fremdwort«-Eintrag im Kriegstaschenbuch klärt über weitere Initiativen auf. 29 Bericht d. Polizeipräsidenten Berlin (gez. Jagow) an d. Okdo. in d. Marken, 19.10.1915, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 97, S. 92 f. 30 General-Anzeiger für Hamburg-Altona, 26.2.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 7, Dok.Nr. 55a, S. 35. 31 Ullrich, Kriegsalltag, S. 16. 32 Johanna Boldt an Julius Boldt, 27.8.1914, in: Edith Hagener, »Es lief sich so sicher an Deinem Arm«. Briefe einer Soldatenfrau 1914, Weinheim 1986, S. 41. Ebenso zitiert in: Ullrich, Kriegsalltag, S. 23. 33 Polizeipräsident Berlin (gez. v. Jagow) an d. Polizeirevier Berlin, 29.9.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 77.
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»Fremdwort. Die vom allgemeinen Deutschen Sprachverein schon im Frieden geschaffene Bewegung gegen das F. hat im Krieg vielfach die Unterstützung auch der Behörden gefunden. Anf. Juni 15 hat der Berliner Polizeipräs. v. Jagow die Verfügung über die ›Bekämpfung des unwürdigen F. in Handel und Gewerbe‹ erlassen, gleichzeitig mit einer Zusammenstellung der von den Polizeirevieren in Großberlin ermittelten fremdländischen Geschäftsschilderinschriften usw. Anschließend wurde ein Sprachausschuß (unter Vorsitz des Reg.–Rats Lehmann) gegründet, der mit den einzelnen Gewerbeverbänden in Fühlung trat[.]«34 Diese Schilderung aus Berlin kann ohne Mühe um weitere zivilstaatliche Initiativen erweitert werden. Die Münchner Polizei stand ihrem Hauptstadtpendant in nichts nach, und im bayerischen Innenministerium wurden die Beamten nachdrücklich ermahnt, auf Fremdwörter zu verzichten.35 In Hamburg erörterte die Bürgerschaft intensiv, ob die Verfassung es erlaube, den Begriff »Budget« durch »Staatshaushalt« zu ersetzen.36 Diese Bemühungen wurden schließlich flankiert durch Anordnungen stellvertretender Generalkommandeure, welche die Sprache öffentlicher Aufschriften und Schilder regulierten.37 Eine Ausnahme bildete Egon Freiherr von Gayl, der für den VII. Armeekorpsbereich mit Sitz in Münster verantwortlich zeichnete und sich entschied, von Verboten Abstand zu nehmen. Die Betriebsamkeit von Jagows nicht teilend, gab er in einer historisch ausholenden Denkschrift Folgendes zu bedenken. »Von einem solchen Verbot sieht das stellv. Generalkommando vorläufig ab; es vertraut der Bevölkerung, deren gesundes und vaterländisches Empfinden sich schon so oft bewährt hat, dass sie aus freien Stücken selbst dafür sorgen wird, unsere Muttersprache von der Schmach der Ausländerei zu befreien. Massregeln von Behörden können allein wenig helfen[.]«38 Als die Düsseldorfer Polizeiverwaltung im Juli 1915 keinen nachhaltigen Erfolg bei der »Bekämpfung des Fremdwörterunwesens« feststellen konnte,39 verteidigte der 34 Art. Fremdwort, in: Kriegstaschenbuch, S. 98. Ebenso erschien dazu eine Zeitungsmeldung: Berliner Lokal-Anzeiger, 4.5.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 9, Dok.-Nr. 112r, S. 82. 35 Verhey, Der Geist von 1914, S. 152 f. 36 Leserbrief Dr. Goldfeld (M.d.B.), in: Hamburger Nachrichten, 28.3.1917 (Nr. 160), Ztga. in: StA Hamburg, 111–2, Q b. 37 Unter anderem im Bereich des XIV., XV., XVI. u. XXI. Armeekorps. Siehe: Bezirkspräsident Unter-Elsaß (gez. Killinger) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 14.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 68 ff. 38 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Oberpräsidenten in Münster u. Colmar, 4.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 85 f. 39 Oberbürgermeister Düsseldorf (Polizei-Verwaltung) an d. stv. Gkdo. VII. AK, 5.7.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 126.
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Generalkommandeur diese Haltung gegenüber dem Drängen der Zivilbeamten. Er hoffte nach wie vor, dass »unsere braven Truppen […] bei ihrer Rückkehr in die Heimat erfahren, dass auch hier deutsche Art und deutsche Sitte gegen fremde Eindringlinge gekämpft und gesiegt haben«.40 Als Alternative zu Verordnungen, die mit der polizeilichen Androhung von Zwang durchgesetzt werden konnten, favorisierte er die hartnäckige Beeinflussung der Bevölkerung durch die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Sie sollten sich mit »Vereinigungen bestimmter Berufszweige (Handelskammern, Handwerkskammern, Innungen usw.)« in Verbindung setzen und gegen den Gebrauch von Fremdwörtern ankämpfen. Von Gayl wollte dadurch eine Grundlage schaffen, »auf der im Frieden weiter aufgebaut werden« sollte.41 In Düsseldorf wurde im Zuge dessen ein enger Zusammenschluss von Akteuren der Stadtverwaltung und des Sprachvereins in einem Ausschuss zur Bekämpfung des Fremdwörterunwesens umgesetzt. Dessen beträchtlichen Geltungsanspruch innerhalb des Regierungsbezirks bekundeten die auf der ersten Sitzung beschlossenen Spezialisierungen. Für das Hotelwesen, die Presse, das Handwerk, den Ladenhandel, die Industrie und die Gast- wie Schankwirtschaften wurden eigene Verhandlungsgremien eingerichtet, die wiederum Ortsausschüsse für »Fachzweige« ins Leben rufen konnten.42 In Verbindungen mit weiteren Maßnahmen des Düsseldorfer Regierungspräsidenten, der auf Grundlage der Gewerbeordnung empfahl, Betriebsgenehmigungen zu versagen, wenn »unnötige Fremdwörter« auf Firmenschildern oder Speisekarten zu finden seien,43 und den bereits zitierten Schaufensteraushängen (»Kauft bei solchen Leuten, die mit Euch gut Deutsch reden[.]«), konnten sich regional öffentlichkeitswirksame Antifremdsprachenregime etablieren. Kritik regte sich dagegen nur vereinzelt. In Berlin protestierte im Sommer 1915 die Handelskammer vor allem gegen den Einsatz »polizeilicher Zwangsmittel«. In der Sache gaben sie den Behörden aber recht.44 Eine besondere Bedeutung hatten die Sprachrevisionen durch staatliche Behörden in Elsaß-Lothringen. Der Blick auf das seit 1871 zum Deutschen Reich zählende Reichsland mahnt den Betrachter, die langfristigen politischen Intentionen der Fremdwortstreichungen gegenüber der situativ-kriegsbedingten ›Fremdwortfeindlichkeit‹ nicht zu vernachlässigen. Denn mit 200.220 französischen 40 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Oberpräsidenten in Münster u. Colmar, 4.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 85 f. 41 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Lippische Regierung u. d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 17.7.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 125. 42 Protokoll d. 1. Sitzung d. Ausschusses zur Bekämpfung d. Fremdwörterunwesens, Düsseldorf, 27.10.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 259 ff. 43 Reg.-Präs. in Düsseldorf (gez. Kruse) an u. a. d. Landräte u. Oberbürgermeister, 9.11.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 290 f. 44 Friedrich Naumann u. Gertrud Bäumer, Kriegs- und Heimatchronik, Bd. 1: Aug. 1914–Juli 1915, Berlin 1916, S. 325 (7.7.1915).
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Muttersprachler/innen45 handelte es sich um ein sprachlich wie national heterogenes Grenzland – ein politisches Konstrukt –, in dem die Verdrängung französischer Identitätszuschreibungen angestrebt wurde.46 Als sprachpolitischer Akt zur Umformatierung des öffentlichen Raumes mussten seit 1906 französische In- und Aufschriften durch die Polizeibehörden zugelassen werden, »wo nach den Verkehrsverhältnissen ein Bedürfnis dazu anerkannt werden konnte und demonstrative Absichten ausgeschlossen erschienen«.47 Firmenschilder, Plakate und Kennzeichnungen wurden nach Kriegsbeginn von den kommandierenden Generälen in Elsaß-Lothringen gänzlich untersagt. Sie mussten daraufhin ins Deutsche übersetzt werden. Neben dem öffentlichen Druck des Publikums oder der Kundschaft übten in Lothringen damit einhergehend ebenfalls die Militärpolizeimeister »energischen Druck« auf die Betroffenen aus.48 Das Ziel der Verbote und Änderungen benannte der Bezirkspräsident des Ober-Elsaß gegenüber dem Düsseldorfer Regierungspräsidenten. Er führte aus, dass diese »weniger sprachreinigende als politische Zwecke verfolgten, indem sie gegen diejenigen Kreise im Lande gerichtet waren, die in tendenziöser Weise im privaten und geschäftlichen Verkehr sich der französischen Sprache zu bedienen pflegten«.49 Die Änderungsbestimmungen zielten dementsprechend nicht nur gegen äußerliche Kennzeichnungen. Die deutsche Sprache war unter Berücksichtigung von Ausnahmen und Übergangsfristen durch das noch zu erläuternde preußische Geschäftssprachengesetz von 1876 zur Norm staatlicher Kommunikation erhoben worden. Unter dem Eindruck des Krieges versuchten die zivilen wie militärischen Verantwortlichen, das Deutsche im wirtschaftlichen und alltäglichen Verkehr durchzusetzen. »Insbesondere hat die Einführung des deutschen Aufdrucks bei Rechnungen, Geschäftsbriefen und dergleichen, wie auch die Entfernung der französischen Aufschriften in Geschäftslokalen, Wartesälen, bei Aerzten und dergleichen Schwierigkeiten gemacht. Unter Hinweis auf die Strafbestimmungen ist aber auch in diesen Fällen den polizeilichen Aufforderungen entsprochen worden«, wusste der
45 Statistische Mitteilungen über Elsaß-Lothringen, hg. vom Statistischen Bureau für ElsaßLothringen, Bd. 1908, Heft 31 (Die Bevölkerung Elsaß-Lothringens nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 1. Dezember 1905), S. 94. Von 1.814.564 Personen ermittelten die Statistiker 200.220 französische und 5363 deutsche wie französische Muttersprachler/innen. 46 Vgl. Stephanie Schlesier, Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen. Die Annexion von 1871 und ihre Auswirkungen auf das annektierte Lothringen bis zum Ersten Weltkrieg, in: Christophe Duhamelle, Andreas Kossert u. Bernhard Struck (Hg), Grenzregionen. Ein europäischer Vergleich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007, S. 51–75. 47 Bezirkspräsident Unter-Elsaß (gez. Killinger) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 14.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 68 ff. 48 Bezirkspräsident Lothringen (gez. Karl von Gemmingen-Hornberg [1857–1935]) an d. Reg.Präs. in Düsseldorf, 19.2.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 64. 49 Bezirkspräsident Ober-Elsaß (gez. Freudenfeld) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 18.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 73.
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Bezirkspräsident Lothringens im Februar 1915 zu berichten.50 Überregionale Sichtbarkeit erlangte schließlich die Eindeutschung von 13 Ortsnamen per Gesetz vom 16. Oktober 1915. Davon betroffen waren unter anderem die Gemeinden Ban-Saint-Martin, Dieuze oder Rémilly, die fortan Sankt Martinsbann, Duß und Remelach hießen.51 Die nationalsprachlichen Homogenisierungsversuche legten wie so häufig die Veränderbarkeit der eigenen Sprache offen. Begriffe mit französischem Ursprung wie »Hôtel, Restaurant, Atelier, Konfektion« wurden in Lothringen weiterhin akzeptiert,52 und »Madame« wie »Mademoiselle« galten als ebenso gebräuchlich innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung. Über das Wort »Dentist« urteilte gar das Oberlandgericht Colmar, dass es nicht als Fremdwort angesehen werden könne und verwarf damit den vom Allgemeinen Deutschen Sprachverein favorisierten Übersetzungsvorschlag »Zahntechniker«.53 Nach Egon von Gayls Vorstellung sollten diese äußerlichen Sprachänderungen eine »Wiederbelebung des Gefühls für den Adel und die Reinheit der Sprache« befördern und schließlich in »dem Aufschwung des gesamten deutschen Wesens« münden.54 Damit einhergehend verbreiteten sich Praktiken zur Sensibilisierung vor ›ausländischer‹ und zur Durchsetzung der ›deutscheren‹ Sprache, die besonders in Schulen Anwendung fanden. Sie konnten weit in den Lebensalltag der Bevölkerung reichen. »Der Krieg hat die Verfügung des Unterrichtsministers veranlasst, daß unausgesetzt und nachhaltig dahin gewirkt werden soll, daß im Unterricht alle fremdsprachlichen Ausdrücke und Redewendungen vermieden werden,« erläuterte Arnold Sachse 1917 über die Kriegsmaßnahmen der preußischen Unterrichtsverwaltung. Unter anderem sollten französische und englische Originaltexte durch eingedeutschte Schulausgaben ersetzt werden. Für »Speisen und Getränke, für Spiele und Übungen« wurden als Ersatz für die »bisher beliebten fremdländischen Bezeichnungen deutsche Benennungen« gesucht, die verwendet und »heimisch« gemacht werden sollten.55 In den Versuchen der jugendlichen Jo Mihaly und ihrer Umgebung, den Menschen zum »Deutschen« zu disziplinieren, wird überdies eine 50 Bezirkspräsident Lothringen (gez. v. Gemmingen-Hornberg) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 19.2.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 64. 51 Bkm. über d. Änderung französischer Ortsnamen in Elsaß-Lothringen, 16.10.1915, in: RGBl. 1915, S. 676. 52 Bezirkspräsident Lothringen (gez. v. Gemmingen-Hornberg) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 19.2.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 64. 53 Bezirkspräsident Unter-Elsaß (gez. Killinger) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 14.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 68 ff. 54 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Oberpräsidenten in Münster u. Colmar, 4.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 85 f. 55 Arnold Sachse, Die Kriegsmaßnahmen der Preußischen Unterrichtsverwaltung, in: Internationale Monatsschrift für Kunst, Wissenschaft und Technik, Bd. 11 (1917), Sp. 1153–1196, hier Sp. 1175.
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mögliche persönliche – fast intime – Facette der Verbote deutlich. Das Mädchen vertraute seinem Tagebuch an: »In der Schule sagen die Lehrer, wir hätten die vaterländische Pflicht, nicht mehr fremde Worte zu gebrauchen. Ich hab zuerst nicht gewußt, was sie damit meinten. Jetzt ist mir klar: Man darf nicht mehr ›Adieu‹ sagen, weil das französisch ist. […] Mama muß ich fortan ›Mutter‹ nennen, aber ›Mutter‹ ist nicht zärtlich genug. Ich will Muttchen sagen. Wir haben eine kleine Blechkasse gekauft, in die wir jedesmal fünf Pfennige legen wollen, wenn wir uns versprochen haben.«56 Die Blechkasse und die in ihr verschwindenden Geldbußen wurden zu einem gängigen Instrument schulischer Erziehung, den Fremdwortgebrauch zu sanktionieren.57 Mihaly verweist mit ihren Worten indessen auf die von ihr empfundene Geringfügigkeit des möglichen Vergehens, das versehentlich, ohne Absicht in einem Versprechen ruht. Die Sprachkritik brach in ihren Alltag ein und wurde für sie und ihren Bruder zu einem Spiel zwischen schulischer Ermahnung und geschwisterlichem Besserwissen. »›Heute wird es sicher wieder interessant‹, sagte ich, als ich aufstand und mich anzog«, notierte Mihaly am darauffolgenden Tag und schilderte anschließend die erregte Erwiderung ihres Bruders: »›Fremdwort!‹ schrie Willi. ›Es heißt: fesselnd.‹«58 Wie nachdrücklich diese Sprachbewegung im Angesicht des Krieges sein konnte, zeigt ihr Tagebuch selbst. Bis zum Kriegsende nannte sie ihre Mama Muttchen. Sprachkritik und »Verdeutschungen« stellten keineswegs genuine Bewegungen des Krieges dar. Bereits bei der Gründung des Deutschen Reiches hatten Bestrebungen bestanden, im Eisenbahn-, Heeres- und Postwesen, bei Gesetzestexten und in der Verwaltungssprache »ausländische« durch »deutsche« Begriffe zu ersetzen. 1888 verfügte Kaiser Wilhelm II., dass die Menükarte des Hofes auf deutsche Bezeichnungen zurückgreifen sollte, und viele Fürstenhäuser schlossen sich dieser Entscheidung an.59 Die bei Jo Mihaly erst 1914 eingeführten Fremdwörterkassen hatten ihre Vorläufer an der Fürstenschule zu Pforta oder der Töchterschule in Bromberg.60 »Verdeutschungswörterbücher« kursierten beispielsweise für Ärzte und Apotheker, Juristen und Beamte, für das Berg- und Hüttenwesen oder für den Handelssektor, aber ebenso allgemein für das »häusliche und gesellschaftliche 56 Jo Mihaly, … da gibt’s ein Wiedersehen! Kriegstagebuch eines Mädchens 1914–1918, Freiburg 1982, 3.8.1914, S. 16 f. 57 Verhey, Der Geist von 1914, S. 152. 58 Mihaly, … da gibt’s ein Wiedersehen! 4.8.1914, S. 21 ff. 59 Hermann Dunger, Die deutsche Sprachbewegung und der Allgemeine Deutsche Sprachverein 1885–1910 (Festschrift zur Fünfundzwanzigjahrfeier des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, 10. September 1910), Berlin 1910, S. 27. 60 Ebd., S. 19 ff.
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Leben«.61 Der 1885 in Dresden gegründete, bürgerlich geprägte Allgemeine Deutsche Sprachverein zählte 1910 324 Zweigvereine mit etwa 30.000 Mitgliedern im In- und Ausland.62 Zum 25jährigen Bestehen des Vereins umriss der Germanist Hermann Dunger (1843–1912) dessen Ziele in weitaus mehr als der »Abwehr entbehrlicher Fremdwörter«. Viel wichtiger seien »die Pflege der Muttersprache überhaupt, nicht nur der Reinheit, sondern vor allem der Richtigkeit, Deutlichkeit und Schönheit des Ausdrucks«.63 Er kritisierte dennoch die »Ausländerei«, »die Vorliebe für das Fremde«, »die Eitelkeit, die sich mit fremdsprachlichen Ausdrücken brüstet«, »die Gedankenträgheit, der es unbequem ist, erst nach einem deutschen Ausdruck zu suchen«, als »Erbfehler unseres Volkes«.64 So schrieben sich die Protagonisten des Vereins neben moderaten Beiträgen und begleitet von kontroversen Diskussionen65 gleichfalls mit einer radikalisierten metaphorischen Bildsprache in nationalistische Diskurse ein, in der Fremdwörter zu »Eindringlingen« wurden.66 Im Nachwort seines 1915 erschienenen Wörterbuchs zur Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter konstatierte Oskar Kresse eine Vermehrung der Fremdworte in der deutschen Sprache, die »als eine ernste Krankheit an dem Sprachkörper angesehen werden müssen«.67 Demzufolge existierten vielfältige Akteure, die Sprachänderungen aus ganz unterschiedlichen Motiven vorantrieben, die sich nicht in dem »Wunsch nach nationaler Eindeutigkeit« erschöpften.68 Aber vor dem Hintergrund des Krieges hatten sich für die Sprachkritiker neue Möglichkeiten eröffnet, ihre Forderungen durchzusetzen, sodass eine gesellschaftliche Minderheit weitreichende Erfolge bei der nationalen Umwandlung öffentlicher Orte und einzelner Sprechakte erzielen konnte. Der preußische Innenminister resümierte am 30. September 1915 zufrieden, dass »wir mit Befriedigung ersehen, daß die Beseitigung von Reklameschildern für Firmen des feindlichen Auslandes, die das Volksempfinden verletzten, im wesentlichen durchgeführt ist«.69 Die Dauerhaftigkeit der Erfolge wurde freilich von einigen Akteuren bald in Frage gestellt. »[W]as jetzt geschieht, das geschieht aus einem psychologischen Ausnahmezustand heraus, der als solcher mit seinem Anlaß wieder verschwinden wird«,70 urteilte Ludwig Fulda. Frei61 Übersicht zu den Verdeutschungswörterbüchern des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins: Ebd., S. 144. 62 Ebd., S. 4. 63 Ebd., S. 140. 64 Ebd., S. 139. 65 Ebd., S. 22 f. 66 Anja Stukenbrock, Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945), Berlin 2005, S. 327–331. 67 Kresse, Verdeutschung entbehrlicher Fremdwörter, S. 121. 68 Vgl. Leonhard, Die Büchse der Pandora, S. 222. 69 Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Loebell) u. d. Minister für Handel u. Gewerbe an d. Reg.Präs. in Düsseldorf, 30.9.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 61. 70 Fulda, Deutsche Kultur und Ausländerei, S. 30.
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herr von Gayl bedauerte im Mai 1915, dass die »traurige Neigung der Oeffentlichkeit, das Fremde oder Fremdklingende für das Vornehmere oder Bessere zu halten, […] leider noch nicht erloschen« ist.71 Und Richard Günther konstatierte im selben Jahr: »Heute nach wenigen Monden, ist den meisten Leuten ›tailleur‹, […] ›prestige, interview, puree, abonnement, etage, bleu, play, game, trace, budget, petit fours‹ usw. schon wieder ebenso gleichgültig wie vorher.«72 Bereits im Sommer des Jahres konnte in einer Werbeannonce der Langenscheidt-Verlag wieder dazu aufrufen, fremde Sprachen zu lernen, denn »[d]er Sprachkundige ist schon in Friedenszeiten überall im Vorteil gewesen«.73 Ludwig Fulda unterstützte dieses Argument ein Jahr später. Denn der »praktische Vorteil« der »Vielsprachigkeit« »liegt auf der Hand«. »Sie hat dem deutschen Kaufmann […] in aller Herren Länder den Weg gebahnt; sie hauptsächlich hat ihn auf dem Weltmarkt zu jenem gefährlichen Konkurrenten werden lassen, den nun die rohe Gewalt verdrängen soll.«74
Verstummen Ihr Sound verriet Ausländer/innen und machte Unterschiede erfahrbar, die national gedeutet werden konnten. Die Kölnische Zeitung berichtete im Oktober 1914 über eine Hamburger Straßenszene. »Bei uns in Deutschland, wenigstens in Städten, wo der englische Kaufmann sich in zahlreichen Exemplaren festgesetzt hat, wie z. B. in Hamburg, hört man überall englische Laute auffliegen, und kein Mensch sagt etwas dazu, wenn es einen auch gegenwärtig eigentümlich unangenehm, ja, beinahe als unstatthafte Demonstration berührt.«75 Indes erscheint die beobachtete, keineswegs absichtslos geschilderte Hamburger Gleichgültigkeit eine Ausnahme gewesen zu sein. Denn dem entgegen sahen sich beispielsweise die Zeitungsmacher der Dresdner Volkszeitung gezwungen, eindringlich ihre Leser/innen zu ermahnen, sich nicht mit »Rohheiten gegen Ausländer [zu] beflecken, die oft nur deshalb unternommen werden, weil das Aussehen einen Engländer oder Russen vermuten läßt oder die Aussprache fremdartig klingt«.76 Die Redakteure der Vossischen Zeitung appellierten an »jeden Mitbürger
71 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Oberpräsidenten in Münster u. Colmar, 4.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0004, 1212, Bl. 85 f. 72 Günther, Wir und die Anderen, S. 50. 73 Lernt fremde Sprachen!, in: Simplicissimus, 27.7.1915 (Jg. 20, Nr. 17), S. 199. 74 Fulda, Deutsche Kultur und Ausländerei, S. 10. 75 Unsere lieben Engländer, in: Kölnische Zeitung, 23.10.1914 (Nr. 1164, Mittagsausgabe), Ztga. in: StA Hamburg, 111–2, L e. 76 Phantasieprodukte, in: Dresdner Volkszeitung, 6.8.1914 (Nr. 170), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 154.
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und jede Mitbürgerin« zu bedenken, »daß nicht jeder Englischsprechende dem Volke angehört, daß gestern den Krieg erklärt hat«.77 Aufgrund von Fein- und Rohheiten ›deutscher‹ Akteure forderten viele staatliche Institutionen ausländische Bürgerinnen und Bürger auf, bei der Anwesenheit Dritter auf nicht-deutsche Sprachen zu verzichten. Ethel Cooper, die den Krieg in Leipzig erlebte, berichtete in einem Brief an ihre Schwester am 14. August 1914: »The police came here today – they were quite civil, but forbad one to telephone in English, to speak in English in the streets or to leave the town«.78 Dem US-amerikanischen Generalkonsul Bergholz wurde durch den Dresdner Polizeipräsidenten ans Herz gelegt, »seinen Landsleuten zu empfehlen, daß sie, soweit sie der deutschen Sprache mächtig sind, den Gebrauch einer fremden Sprache in der Öffentlichkeit tunlichst vermeiden oder sich wenigstens durch ein Flaggenabzeichen oder dergleichen als Amerikaner zu erkennen geben möchten«.79 Die im badischen Donaueschingen in einem Barackenlager Internierten erhielten einen Verhaltenskodex ausgehändigt, wenn sie die Erlaubnis erhalten hatten, die Stadt zu besuchen. Sie sollten »möglichste Zurückhaltung im Verkehr mit dem Publikum« zeigen und »wenig Aufsehen bei ihrem Verkehr in den Straßen der hiesigen Stadt« erregen. Dazu zählte, dass »diejenigen, die des Deutschen mächtig sind, auf der Straße oder in den Läden Deutsch sprechen oder, wenn sie des Deutschen nicht mächtig sind, laute Unterhaltungen in einer fremden Sprache in der Öffentlichkeit vermeiden«.80 Der im Bereich des Münchner Armeekorpsbezirks kommandierende General, Oskar von Xylander (1856–1940), begrenzte die Warnungen nicht auf den Sprachgebrauch. »Fremde und Ausländer« forderte er »nachdrücklich« auf, »sich jeder unvorsichtigen Aeußerung oder Handlung zu enthalten und sich nicht dort aufzuhalten wo militärische Vorbereitungen, Truppenbewegungen usw. stattfinden«.81 Auf der einen Seite unterstanden Ausländer/innen staatlichen Kontrollen. Im bürokratischen Akt der regelmäßigen Meldung wurden sie mit dem Gang zur Polizeistation und vor Ort auf dem Registrierbogen sicht- und erfahrbar. Auf der anderen Seite sollten sie in der Öffentlichkeit auf hörbare Unterscheidungen verzichten. Ihre polizeiliche Erkennbarkeit und mögliche gesellschaftliche Ausgrenzungen wurden infolgedessen wiederum erschwert. Im Sound der Ausländer/innen lag im selben Augenblick ein Potenzial für Verwechslungen verborgen. Dies mussten die Zivil- und Militärbehörden im König77 Ruhe und Besonnenheit, in: Vossische Zeitung, 5.8.1914 (Nr. 393, Abendausgabe). 78 Cooper, Behind the Lines, Letter 3 (14.8.1914), S. 25. 79 Sächs. MdI an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 14.5.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/11086, Bl. 58. 80 Bkm. d. Bad. BzA Donaueschingen (gez. Schaible), 30.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/ F38/115. 81 Bkm. durch Maueranschlag im Bezirk d. I. bay. AK (gez. Xylander), 4.8.1914, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.).
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reich Bayern erfahren. Denn die österreich-ungarische Gesandtschaft musste daraufhin weisen, dass fortwährend »österreichische und ungarische Slaven« mit »Russen« verwechselt werden würden und »deshalb Belästigungen ausgesetzt sind«. Die Zivilbeamten wurden aufgrund dessen angehalten, die Staatsangehörigkeit »polnisch sprechender Personen« sorgfältiger zu prüfen.82 Bei ihren Ge- und Verboten setzten staatliche Akteure meist die Mehrsprachigkeit ausländischer Staatsangehöriger voraus. Dem war allerdings nicht so. In der Stadt Baden beispielsweise wurde die Frau des französischen Staatsangehörigen Herzfelder in einer anonymen Eingabe im September 1915 angezeigt, auf der Straße Französisch gesprochen zu haben, ohne dass ihr das gestattet worden sei. Der Amtsvorstand des badischen Bezirksamtes rechtfertigte sich daraufhin gegenüber dem Innenministerium und gab seinen Bedenken bezüglich eines Sprechverbotes Ausdruck. »Natürlich hat der unterzeichnete Polizeibeamte weder der Frau Herzfelder noch irgend sonst jemand jemals eine besondere Erlaubnis erteilt, französisch zu sprechen«, erläuterte er. Gegen ein generelles Verbot wandte er allerdings ein: »Andererseits kann u. E. gegen das französisch sprechen nur bei Personen strafend eingeschritten werden, die deutsch sprechen können und gleichwohl die feindliche Sprache in der Öffentlichkeit benützen.« Er versicherte beschwichtigend über das Auftreten Frau Herzfelders, dass sie »derartig leise« und mit »große[m] Takt und äußerste[r] Zurückhaltung« sich in ihrer Sprache unterhalte.83 Viele Berichte legen nahe, dass die angemahnte öffentliche Zurückhaltung angezeigt war. Dies musste der US-amerikanische Konsul im sächsischen Chemnitz erfahren. Frank Deedmeyer (1863–1945) spürte sogleich die Folgen eines auf offener Straße in Englisch geführten Gesprächs mit seiner Frau. Ein vor ihnen laufender Mann habe sich »plötzlich umgedreht und […] zugleich mit der Faust drohend, zu ihm gesagt, ›hier wird bloß deutsch gesprochen‹«.84 Er berichtete dem Polizeidirektor von weiteren Vorfällen, bei denen sie beschimpft worden seien. Seitdem getraute sich seine Frau ohne Begleitung nicht mehr auf die Straße. Ähnlich erging es »englisch sprechenden Amerikaner[n]« in Dresden.85 Schließlich beschwerte sich die chinesische Gesandtschaft darüber, dass seit dem Kriegseintritt Japans wiederholt »Chinesen durch Worte und zum Teil auch tätlich als vermeintliche Japaner« durch Einwohner Berlins »belästigt« wurden. Daraufhin ermahnte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung: »Keine Belästigung von Chine-
82 Bay. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern u. Bay. SMdI (gez. v. Hertling u. v. Soden) an d. bay. Regierungen (KdI), 7.8.1914, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 83 Bad. BzA Baden (gez. v. Reck u. Häußner) an d. Bad. MdI, 25.9.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23187 (Herv. im Org.). 84 Bericht d. Polizeidirektors d. Polizeiamtes d. Stadt Chemnitz (Lohse) an d. Kreishauptmann Lossow, Chemnitz, 9.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/11086, Bl. 26 ff. 85 Phantasieprodukte, in: Dresdner Volkszeitung, 6.8.1914 (Nr. 170), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 154.
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sen!«86 Wie der Zeitungsartikel die Bevölkerung klärte der preußische Innenminister die Polizeipräsidenten anschließend auf, dass »die Mitglieder der chinesischen Kolonie Abzeichen in Form von kleinen Flaggen aus Seide oder Email in den chinesischen Nationalfarben: rot, gelb, blau, weiß und schwarz, bezw. kleine Rosetten in den Farben tragen«.87 Die Diskriminierung ausländischer Sprachen konnte bis in die Privatsphäre reichen. Lokalbehörden gestatteten feindlichen Ausländer/innen im persönlichen Briefverkehr nur das Deutsche und in manchen Städten wie im sächsischen Freiberg durften sie keine fremdsprachigen Zeitungen kaufen.88 Diese wurden aber auch ohne das Verbot zu einer Mangelware im Deutschen Reich und für einige Ausländer/innen zu einer gehüteten Kostbarkeit. Evelyn Blücher von Wahlstatt vertraute über den Besuch bei einer britischen Bekannten folgende Zeilen ihrem Tagebuch an: »Ich besuchte eine Engländerin, Mrs. D., die hier zurückgehalten wird und deshalb sehr nervös und niedergeschlagen ist. Als ich ins Hotel kam, lag sie zu Bett. Sie flüsterte mir zu: ›Schließen Sie die Tür und sprechen Sie leise; ich muß Ihnen etwas zeigen.‹ Darauf zog sie unter ihrem Kopfkissen ein drei Wochen altes Exemplar der ›Daily Mail‹ hervor. Ich konnte nicht umhin, in Lachen darüber auszubrechen, daß ein altes Exemplar der ›Daily Mail‹ solche Freude bei uns auslösen konnte.«89 Hana Bälz (1864–1937), die aus Japan stammende Frau des Arztes Erwin Bälz (1849–1913), erfasste eine unbeschreibliche Freude, als sie japanische Zeitungen in den Händen hielt. »Wenn man in einem Lande lebt, das Krieg führt und in dem der Verkehr mit der Heimat völlig abgeschnitten ist, und man erhält plötzlich Zeitungen aus der japanischen Heimat, so hat man das Gefühl, als werde der Lebensfaden, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, verlängert. Wenn man sich auch damit abgefunden hat, keine Nachrichten aus der Heimat zu bekommen, so ist es doch wie eine Labung, welche zu erhalten. Diese Sehnsucht und diese Freude ist nicht mit Worten auszudrücken. Wer nicht dieselbe Erfahrung gemacht hat, kann es sich wohl kaum vorstellen.«90 86 Keine Belästigung von Chinesen!, in: Norddeutsche Allgemeine, 4.9.1914, in: PA AA, R 20333, Bl. 42. 87 Preuß. Minister d. Innern (gez. i.V. Drews) an d. Berliner Polizeipräsidenten, 5.9.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762 u. in: PA AA, R 20333, Bl. 72. 88 Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 31 f. 89 Blücher von Wahlstatt, Tagebuch, S. 30 (4.9.1914, Berlin). 90 Ume Kajima, Hana Bälz. Die Frau des Japanarztes Erwin Bälz, übers. aus d. Jap. von Sachiko Yatsushiro, Stuttgart 1978, S. 130. Kajima gibt in Auszügen die Aufzeichnungen Bälz’ wieder.
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Ausländer/innen konnten sich ebenso der deutschen Sprache bemächtigen und ihr nationales Fremdsein dadurch bewusst verschleiern. Als im Laufe des Krieges immer mehr russländisch-polnische Arbeiter/innen in ihre Heimat flüchteten, rechtfertigte sich die Generaldirektion der Sächsischen Staatseisenbahnen gegenüber der Rittergutsbesitzerin Käte Gadegast, warum trotz eines Verbotes weiterhin Fahrkarten an sie verkauft würden.91 Die Generaldirektion nahm ihre Fahrkartenverkäufer im Zuge dessen in Schutz und hinterfragte die generelle Unterscheidbarkeit osteuropäischer Arbeitskräfte von anderen Bahnreisenden. »Leider ist es […] nicht immer möglich, die russisch-polnischen Arbeiter als solche zu erkennen, da sie vielfach der deutschen Sprache mächtig sind und sich auch sonst in ihrer Eigenschaft nicht besonders hervorheben«, gaben die Eisenbahner zu bedenken.92 Zu einer identischen Einschätzung gelangte der Beigeordnete Schröder in der Polizeiverwaltung der rheinischen Stadt Lennep. Auch er sah sich gezwungen, die Eisenbahnbeamten zu verteidigen. Schröder argumentiere wiederum mit der guten Sprachkenntnis der polnischen Arbeiter/innen beziehungsweise mit schlechten Deutschkenntnissen polnischer Einwanderer, die die Reichsangehörigkeit angenommen hatten, wodurch es »unmöglich sein wird, beide Parteien voneinander zu unterscheiden«.93 Das Verstummen wie die Anpassung ausländischer Staatsangehöriger an den ›deutschen‹ Sound der Öffentlichkeit verdeckte ihre Sichtbarkeit und erschwerte ihre Überwachung. Die oberflächliche sprachliche Vereinheitlichung der Kriegsgesellschaft, die nicht selten durch nicht-staatliche Akteure forciert wurde, widersprach im Zuge dessen dem staatlichen Interesse, Ausländer/innen umfänglich zu erfassen und zu kontrollieren.
Verdrängen Ein aufmerksamer Reisender, der eine Eisenbahnfahrkarte vom ostpreußischen Tilsit bis ins elsaß-lothringische Metz gelöst hatte, begegnete vor dem Krieg einer Vielzahl an Sprachen. Wollte es der Zufall, nahmen neben ihm im Zugabteil sich in litauisch und kaschubisch, masurisch und polnisch, dänisch und französisch unterhaltende Mitreisende Platz. Sie waren Bewohner/innen des eben durchquerten Deutschen Reiches und hatten in der Volkszählung im Jahre 1900 eine nicht-deutsche Muttersprache angegeben.94 Nach dem Deutschen stellte das Pol-
91 Käte Gadegast (Rittergut Niedergrauschwitz b. Wermsdorf) an d. Eisenbahndirektion Dresden, 9.7.1917, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 126. 92 Generaldirektion d. Sächs. Staatseisenbahnen (II. Abt.) an Käte Gadegast, Rittergut Niedergrauschwitz, Juli 1917, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 126. 93 Polizeiverwaltung Lennep (gez. Schröder) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 14.8.1917, in: LAV NRW, BR 0007, 15005, Bl. 424. 94 Sprachen mit über 100.000 alleinigen Muttersprachler/innen, in der Reihenfolge der Häufigkeit: Kaschubisch, Litauisch, Dänisch, Masurisch, Französisch, Polnisch; siehe: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1908 (Jg. 29), S. 8.
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nische in der offiziellen Sprachstatistik mit über 3,2 Millionen Sprecher/innen die größte Sprachgruppe dar.95 Für preußische Beamte, Politiker und Statistiker verdichtete sich in der gezählten Vielstimmigkeit das unerwünschte Bild einer multinationalen Bevölkerung, deren Zusammenleben von Gegensätzen und Konflikten gekennzeichnet war.96 In den Institutionen des 1871 begründeten Staates wehrten sie eine gleichberechtigte Integration unterschiedlicher nationaler und sprachlicher Gemeinschaften ab und forderten deren politische wie kulturelle Assimilation ein. Widerstanden und verweigerten sich die damit als Minderheiten konstituierten Bevölkerungsgruppen dieser Politik, sahen sie sich zunehmend staatlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Besonders gegenüber den Einwohner/innen polnischer und französischer Nationalität sowie slawophoner Sprachen wandelte sich die Herrschaftsund Verwaltungspraxis im Laufe der 1870er Jahre von einer indirekt-imperialen zu einer restriktiv-kolonialen. Neben die Durchsetzung des preußischen Machtanspruchs trat ein kultureller und wirtschaftlicher Angleichungszwang.97 Für die polnische Bevölkerung Preußens bedeutete dies unter anderem das Verbot des Schul-, insbesondere des Religionsunterrichts und öffentlicher Versammlungen in ihrer Muttersprache. ›Polnische‹ Zeitungen durften nicht an Bahnhöfen verkauft werden. Briefe mit ›polnischen‹ Adressbezeichnungen wurden nicht befördert. Polen konnten nicht in den unmittelbaren Staatsdienst eintreten, erhielten keine staatlichen Aufträge und ihnen wurden Ehrungen wie Titel oder Herrenhausberufungen verwehrt. Seit 1904 konnten ihnen die preußischen Beamten darüber hinaus die Genehmigung zur dauerhaften Besiedlung neu erschlossener Grundstücke verweigern. »Es giebt in der That für die polnische Bevölkerung […] keine andere Alternative, als in ihrer Isolierung zu verharren und so allmälig von dem deutschen Elemente völlig verdrängt und ausgerottet zu werden, oder aber sich willig durch die Annahme deutscher Cultur zu regenerieren und ihre Eigenart mit dieser zu verschmelzen.«98 Mit diesen Worten charakterisierte 1872 Otto von Königsmarck (1815–1889), der Oberpräsident der preußischen Provinz Posen, seine langfristigen 95 Ebd. Die Ergebnisse der Volkszählung in Bezug auf die polnischsprachigen Einwohner der Provinzen Posen, Westpreußen und Oberschlesien finden sich wiedergegeben bei: Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt a. M. 1972, S. 145 f. 96 Leszek Belzyt, Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914. Die preußische Sprachenstatistik in Bearbeitung und Kommentar, Marburg 1998, S. 3–16. 97 Zu weiterführenden Überlegungen dieser Perspektive auf den preußischen Staat und das Deutsche Reich siehe Philipp Ther, Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire, in: Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 129–148. 98 Bericht d. Oberpräsidenten von Posen, Graf v. Königsmarck, an d. preuß. Staatsminister u. Minister d. Inneren, Grafen zu Eulenburg, 20.2.1872, in: Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961, S. 103–108 (Anlage 4), hier S. 108.
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politischen Ziele. In der dort lebenden polnischsprachigen Bevölkerungsmehrheit99 erblickte er einen Mangel an »politische[r] Zuverlässigkeit«. Er initiierte deshalb als Wortführer preußischer Germanisierungspolitik die Kampagne zur Vereinheitlichung der Verwaltungssprache. Diese hätte in erster Linie »moralisch« zu wirken. Aber von Königsmarck erwartete ebenfalls, dass dadurch die Provinz vollständig in den preußischen »Staats-Organismus« integriert und die Eingliederung polnischsprachiger Rekruten in die Armee erleichtert sowie das lokale Gewerbe überregional vernetzt und modernisiert werden würde.100 Mit dem 1876 verabschiedeten preußischen Gesetz über die Geschäftssprache der Behörden, Beamten und politischen Körperschaften des Staates sollte das Deutsche im staatsbezogenen Schriftverkehr zur ausschließlichen Sprache werden und die vielschichtig geregelte Zweisprachigkeit in Posen und Schleswig ein Ende finden.101 Die Einschränkung und spätere Abschaffung des Unterrichtes in nicht-deutschen Sprachen an Elementarschulen und teilweise im Religionsunterricht begann zu dieser Zeit.102 Indes wich die praktische Umsetzung der Sprachbestimmungen durch Beamte lokaler Verwaltungsinstanzen voneinander ab. In Gemeinderäten des Kreises Malmedy behielt das Französische durchaus seine Bedeutung,103 und in dem 1871 annektierten Lothringen existierten 1914 noch 266 Gemeinden, die von der Verwendung der deutschen Sprache ausgenommen waren.104 In Westpreußen, Schlesien und Posen wurden gleichwohl polnischsprachige Eingaben zurückgewiesen und polnische Orts- und Straßennahmen verboten. Versuche preußischer Beamter, 99 Krzysztof Makowski, Polen, Deutsche und Juden und die preußische Politik im Großherzogtum Posen. Versuch einer neuen Sicht, in: Hans Henning Hahn u. Peter Kunze (Hg.), Nationale und staatliche Minderheiten in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 51–60, hier S. 51. 100 Bericht d. Oberpräsidenten von Posen, Graf v. Königsmarck, an d. preuß. Staatsminister u. Minister d. Inneren, Grafen zu Eulenburg, 18.9.1870, in: Schieder, Das Deutsche Kaiserreich, S. 98–103 (Anlage 3), hier S. 102. 101 Gesetz betr. d. Geschäftssprache d. Behörden, Beamten u. politischen Körperschaften d. Staates, 28.8.1876, in: Schieder, Das Deutsche Kaiserreich, S. 121–124 (Anlage 6). Zur Begründung des Gesetzes vor allem: Bericht d. XIV. Kommission über d. Entwurf eines Gesetzes, betr. d. Geschäftssprache d. Behörden, Beamten u. politischen Körperschaften d. Staates, in: Schieder, Das Deutsche Kaiserreich, S. 112–121 (Anlage 5a). Zur Entstehungsgeschichte d. Gesetzes: Schieder, Das Deutsche Kaiserreich, S. 95–98 u. Torsten Leuschner, »Die Sprache ist eben ein Grundrecht der Nation, das sich nur bis zu einer gewissen Grenze gewaltsam verkümmern läßt.« Deutsch-polnische Gegensätze in der Entstehungsgeschichte des preußischen Geschäftssprachengesetzes von 1876, in: Germanistische Mitteilungen, 52/2000, S. 149–165. 102 Broszat, Polenpolitik, S. 135 f. 103 Klaus Pabst, Das Preußische Geschäftssprachengesetz von 1876 – Sprachwechsel nationaler Minderheiten als Mittel politischer Agitation, in: Peter Nelde (Hg.), Sprachkontakt und Sprachkonflikt, Wiesbaden 1980, S. 191–200, hier S. 195 f. 104 Schlesier, Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, S. 61, zur Sprachpolitik S. 59–65.
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öffentliche Zusammenkünfte in nicht-deutschen Sprachen zu untersagen, hatte das preußische Oberverwaltungsgericht unter Berufung auf die Versammlungsfreiheit noch zurückgewiesen.105 Schließlich bestimmte aber seit 1908 das Reichsvereinsgesetz, dass »[d]ie Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen […] in deutscher Sprache zu führen« seien.106 Wie das Geschäftssprachengesetz enthielt das Vereinsgesetz wiederum die Möglichkeit, Ausnahmen zu gewähren. Davon wurde Gebrauch gemacht gegenüber der französischsprachigen Bevölkerung in Elsaß-Lothringen, der wendischen in Sachsen und der dänischen in SchleswigHolstein.107 Vor allem als Instrument gegen die polnische Nationalbewegung konzipiert, blieb ein solches Entgegenkommen den polnischsprachigen Einwohner/ innen des Reiches verwehrt. Ein »erheblicher Teil« von ihnen konnte somit nur sporadisch nach Lage ihrer Deutschkenntnisse oder über Vermittler mit den staatlichen Institutionen kommunizieren.108 Die Jahrzehnte vor den Sprachänderungen des Sommers 1914 waren von den Bemühungen geprägt gewesen, den öffentlichen Sprachgebrauch der Bevölkerung zu homogenisieren und die politische wie kulturelle Assimilation innerhalb eines multinationalen Staates durchzusetzen. Fremde Sprachen wurden in Räume privater Kommunikation verwiesen. Der Weltkrieg änderte diese Prämissen nicht. Die Vereinheitlichungsbemühungen wurden in ihm auf weitere Sprachen und Orte ausgedehnt. Staatliche Akteure reagierten jedoch vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs mit vielschichtigen Verfahrensweisen, die sich nicht nur regional unterschieden, sondern ebenso nach den jeweiligen Kriegsgegnern variierten. Die Sprache blieb ein wichtiges Argument und Instrument, um Grenzen zwischen Menschen zu verschieben und zu ziehen.
Dulden Während des Krieges betraten neue Akteure die Bühne der Geschehnisse. Die Beamten und Offiziere des Preußischen Kriegsministeriums und der stellvertretenden Generalkommandos beanspruchten nun, die Kriegsgesellschaft mitzugestalten, um den militärischen Sieg zu gewährleisten. Bestimmten vor den Sommermonaten 1914 nationale und kulturelle Argumente die Sprachpolitik, rückten fortan Mobilmachungspläne, kriegswirtschaftliche Interessen und militärisches Kalkül in den Vordergrund. Einerseits wurden amtliche Bekanntmachungen, die die Mobilmachung betrafen, in Posen in Polnisch veröffentlicht. Andererseits untersagten die Militärkommandeure in Westpreußen und Oberschlesien während der ersten 105 Broszat, Polenpolitik, S. 162–165 u. Pabst, Das Preußische Geschäftssprachengesetz, S. 195 f. 106 Vereinsgesetz, § 12, 19.4.1908, in: RGBl. 1908, S. 151–157, hier S. 153. 107 Wilhelm Frank (Zentrum), 162. Sitzung d. RT (XII. Leg.-Per.), 3.4.1911, in: Sten.Ber.RT, Bd. 266, S. 6178 f. 108 Broszat, Polenpolitik, S. 139.
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Kriegsmonate polnischsprachige Zeitungen, weil die Loyalität der polnischen Bevölkerung infrage zu stehen schien.109 Zudem verhinderte das Reichspostamt in den östlichen Provinzen Preußens Ortsferngespräche auf Polnisch. Erst nach Klagen betroffener Bürger wurden diese Maßnahmen auf Betreiben des Preußischen Kriegsministeriums aufgehoben. »[Denn] [i]n den Landesteilen, in denen die polnische Sprache teilweise Muttersprache der Einwohner ist, müssen für ihren Gebrauch größere Freiheiten gewährt werden.«110 Polnischsprachige Einwohner/innen galten trotzdem weiterhin als politisch unzuverlässige Akteure, zumal sie vom Russischen Reich umworben wurden. So hatte der Oberkommandierende der russländischen Armee, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch Romanow (1856–1929), am 14. August 1914 in einer Proklamation verkündet, dass es zu den Kriegszielen gehöre, die polnischen Teilungsgebiete frei in Religion, Sprache und Selbstverwaltung innerhalb des Zarenreiches wiederzuvereinigen.111 Vor dem Hintergrund dieser Forderungen und der breiten Akzeptanz der Burgfriedenspolitik geriet die preußische Regierung in Zugzwang. »Die Umgestaltung der inneren und äußeren politischen Verhältnisse infolge des Krieges und das Verhalten der preußischen Polen im Kriege«, erklärte der preußische Innenminister, Friedrich Wilhelm von Loebell, im September 1915 schließlich, »haben die Frage einer Änderung der bisherigen Stellungnahme der Staatsregierung auf dem Gebiete der preußischen Polenpolitik mit sich gebracht.« Deshalb sollten alle »maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen und Verwaltungsnormen«, die eine wirtschaftliche, kulturelle und politische Gleichberechtigung versagten, überprüft werden. Er sah Grenzen der Anpassung und Veränderung dort, wo Preußen »Erfolge auf nationalpolitischem Gebiet gefährdet und das Deutsche Reich aufhört, ein deutscher Nationalstaat zu sein«.112 Obwohl die preußische Regierung und die Oberpräsidenten der Provinzen eine grundsätzliche Revision der Assimilationspolitik nicht für notwendig erachteten,113 erzwang der Krieg eine Diskussion über staatliche Ausgrenzungspraktiken gegenüber deutschen Staatsbürger/innen polnischer Nationalität. Die rastlosen Bemühungen staatlicher Akteure, russländisch-polnische Arbeitskräfte und Kriegsfreiwillige zu gewinnen und zu motivieren, konnten daran anschließend vorher abgelehnte Verfahren ermöglichen. Das Kriegsamt, welches 109 Denkschrift d. Hauptvorstands d. Deutschen Ostmarkenvereins (Haltung d. Polen in Posen während d. ersten 13 Kriegswochen, 1. August bis 31. Oktober 1914), in: GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 863a, Nr. 1. 110 Preuß. KM (gez. v. Wandel) an d. stv. Gkdos. XVII., II., V., XX. AK, 15.6.1915; hier wtgl. an d. preuß. Minister d. Innern, in: GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 863a, Nr. 13. 111 Broszat, Polenpolitik, S. 176. 112 Preuß. Minister d. Innern (gez. v. Loebell) an d. Oberpräsidenten von Königsberg, Danzig, Posen, Breslau u. Stettin, 22.9.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 863a, Nr. 6. 113 Broszat, Polenpolitik, S. 197 ff. u. zur verwaltungsinternen Diskussion in Preußen: GStA PK, I. HA, Rep 77, Tit. 863a, Nr. 6.
Irritationen sprachlicher Vielstimmigkeit
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die Kriegswirtschaft zentral organisierte, informierte Ende Januar 1918 die Kriegsminister der Bundesstaaten, dass »einzelne amtliche Stellen an sie gerichtete Eingaben poln. Arbeiter deshalb ohne weiteres zurückgewiesen haben, weil sie in polnischer Sprache verfasst waren«.114 Diese Praxis entspräche aber nicht den »Interessen der deutschen Kriegswirtschaft«, denn unter polnischen Arbeiter/ innen, die des Deutschen nicht mächtig sind, werde dadurch »Mißstimmung« erzeugt. »Amtliche Stellen« sollten fortan »sämtliche« Eingaben dieser Arbeiter/ innen prüfen, »falls nicht […] zweifelsfrei feststeht, daß der betr. Arbeiter die deutsche Schriftsprache beherrscht«. Obwohl zwei Monate später klargestellt wurde, dass hierbei lediglich die selten selbstverfassten Eingaben gemeint waren,115 zeigt es die veränderbaren Leitlinien staatlichen Handelns auf, um den Krieg fortführen zu können. Diese kriegsbedingte Dynamik, die beschleunigt wurde durch die Proklamation des Regentschaftskönigreiches Polen im November 1916, erfasste ebenso die nationalpolitischen Sanktionen bezüglich der polnischen Einwohner/innen. Kurt Riezler (1882–1955), der enge Berater des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, betonte bezüglich der innenpolitischen Rückwirkungen der »Wiederaufrichtung des polnischen Staatswesens«: »Es ist selbstverständlich und klar, daß nun nicht mehr eine Fremdsprachenpolitik in Deutschland betrieben werden kann, wie vor dem Krieg.«116 »[A]us den Anforderungen des nachbarlichen, ja freundschaftlichen Verhältnisses zu Polen« ergäbe sich die politische Notwendigkeit, die »bisher verfolgten Wege« zu verlassen. Eine eigenständige Selbstverwaltung innerhalb der Reichsgrenzen lehnte er hierbei nach wie vor ab und deklassierte eine solche als »Überspannung des Nationalitätenprinzips«.117 Der preußische Innenminister Bill Drews (1870–1938) erklärte in ähnlichem Duktus vor dem Preußischen Herrenhaus 1918, dass die Regierung den Polen, die gewillt seien, sich »auf den Boden des preußischen Staates« zu stellen, entgegenkommen wolle.118 »Die Politik, die wir treiben, muß dahin gehen, daß wir diese Polen, […] die gesonnen sind, als Bürger des preußischen Staates das, was sie für wünschenswert halten an polnischen Kulturzielen auf dem Gebiete der Sprache, der Schule, der Wirtschaft usw. zu verwirklichen, nach Möglichkeit stär114 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept., gez. Braun) an u. a. d. Sächs. u. Württ. KM (urspr. an d. RAdI), 31.1.1918, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 257a u. in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 719. 115 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept., gez. Meusel) an d. stv. Gkdo. VI. AK, 30.3.1918, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 719. 116 Kurt Riezler, Polen, der Frieden und die Freiheit (16.11.1916), in: Ders., Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, hg. von Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972, S. 605–628, hier S. 615 (ursp. erschienen in der Europäischen Staats- und Wirtschaftszeitung 1, S. 1433–1443). 117 Ebd., S. 616. 118 Bill Drews, Preußischer Innenminister, 10.4.1918, in: Sten.Ber.PHH, Session 1916/18, Sp. 924–927, hier Sp. 924.
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Grenzen ziehen und verschieben
ken«, verteidigte er das justierte politische Handeln. Dazu gehörte in erster Linie die Abschaffung des Sprachenparagrafen im Reichsvereinsgesetz im April 1917.119 Zugleich ordnete der preußische Kultusminister an, dass der Religionsunterricht für Kinder der Unterstufe fortan wieder in polnischer Sprache durchgeführt werden dürfe.120 Eine Abänderung des preußischen Enteignungsgesetzes, durch das die Preußische Ansiedlungskommission polnischen Landbesitz verstaatlichen konnte, wurde in die Wege geleitet, und vor allem für Kriegsbeschädigte sollten Einschränkungen bei Ansiedlungsgesuchen und Baugenehmigungen aufgehoben werden.121 Eine Wandlung nationalpolitischer Ziele verband der Innenminister damit aber nicht. Er hatte mit seiner »Realpolitik des Möglichen und dauernd Erreichbaren« keinen »Nationalitätenstaat«, sondern einen »einheitliche[n] geschlossene[n] und kräftige[n] Nationalstaat« vor Augen. Zur Staatsräson gehöre es allerdings, »in unserer Ostmark de[n] Kampf bis aufs Messer« zu verhindern.122 Der Fokus ebenso wie die Argumentation sprachpolitischer Interventionen verschoben sich von der Mehrsprachigkeit deutscher Staatsbürger/innen hin zu feindlichen Ausländer/innen. Sie mussten Restriktionen aufgrund ihrer staatlichen Zugehörigkeit erdulden und ihre Sprachen wurden nicht zuletzt als erstrebenswerte Vergeltungsmaßnahme zunehmend diskriminiert. Als hervorzuhebendes Beispiel dafür kann das Verbot von Gottesdiensten in Englisch und Französisch in Württemberg gelten. Den Stuttgarter Militärverantwortlichen ging es nicht um die Frage der praktikablen Überwachung oder nationalen Angleichung ausländischer Staatsangehöriger, sondern um eine grundsätzliche Haltung gegenüber den Zivilisten der deutschen Kriegsgegner.123 Nachdem bereits am 10. September 1914 der französischsprachige Gottesdienst unterbunden worden war, begründete der stellvertretende Generalkommandeur in Stuttgart einen Monat später sein Verbot des Englischen zum einen mit den Maßnahmen der britischen Regierung. Zum anderen war er um die Stimmung in der Bevölkerung besorgt. »Hier wird ergebenst erwidert,« schrieb er an die Stadtdirektion Stuttgart, »dass in Anbetracht der brutalen Massnahmen, welche die englische Regierung der deutschen Bevölkerung Englands gegenüber ergriffen 119 Gesetz, betr. Abänderung d. Vereinsgesetzes vom 19. April 1908, 19.4.1917, RGBl. 1917, S. 361. 120 Der polnische Religionsunterricht in der Provinz Posen, in: Badischer Beobachter, 16.1.1918 (Nr. 26, Abendblatt), S. 2. 121 Werner Conze, Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, Köln 1958, S. 266 ff. u. Paul v. Eisenhart-Rothe, preußischer Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten, 9.4.1918, in: Sten.Ber.PHH, Session 1916/18, Sp. 876–880, hier Sp. 878 f. 122 Bill Drews (preuß. Innenminister) 10.4.1918, in: Sten.Ber.PHH, Session 1916/18, Sp. 924– 927. 123 Stadtdirektion Stuttgart an d. stv. Gkdo. XIII. AK, 23.10.1914, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 1105.
Provokationen alltäglicher Begegnungen
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hat, das stellv. Generalkommando mit Rücksicht auf die Stimmung im Volk nicht mehr in der Lage ist, die von ihm bisher der englischen Kirche und ihrem Geistlichen gegenüber angenommene wohlwollende Haltung aufrecht zu erhalten«.124 Der sprachpolitische Druck in Südwestdeutschland durch veröffentlichte Zeitungskommentare hatte bereits in den ersten Kriegstagen eingesetzt. Die Herausgeber des Badener Tageblatts ließen im September 1914 einen Leserbrief abdrucken, in dem der Autor sein Unverständnis darüber ausdrückte, dass in der englischen Kirche weiterhin Gottesdienste stattfänden. »Wie von glaubwürdiger Seite verlautet und auch in der Presse zu lesen war«, setzte die Beschwerde ein, »wurde in London – und vermutlich in ganz England – gleich nach der Kriegserklärung der Gottesdienst in den deutschen Kirchen untersagt. Daß in Frankreich die Abhaltung deutschen Gottesdienstes jetzt unmöglich ist, bedarf wohl kaum der Erwähnung.«125 Dass die kirchlichen Sprachverbote ebenfalls US-amerikanische und schweizerische Staatsangehörige betrafen, wurde in Kauf genommen. Gleichwohl blieben solche Entscheidungen auf die einzelnen Militärbezirke begrenzt. Im westlich benachbarten Großherzogtum Baden kamen die Vertreter der zivilen Unterrichtsverwaltung zu einem gegenteiligen Schluss. »Wir können keinen Grund finden, die Abhaltung des englischen Gottesdienstes in Baden-Baden zu beanstanden. Solange Engländer dort sind, wird man ihnen billigerweise auch gestatten müssen, Gottesdienst abzuhalten.«126
Provokationen alltäglicher Begegnungen Um in die sprachlichen Lebenswelten ausländischer Staatsangehöriger einzugreifen, hatte der Stuttgarter Militärkommandant mit der »Stimmung im Volk« argumentiert. Diese konnte sich in situativem Handeln auf der Straße oder in der Trambahn zeigen, äußerte sich in Gerüchten und privaten Gesprächen, nahm Gestalt an in Leserbriefen und Eingaben an zivile wie militärische Behörden. Die Stimmung hatte vielfältigste Stimmen. Lauschen wir diesen, hören wir gleichwohl überwiegend empörte und verbitterte, anklagende und drohende Wortmeldungen Einzelner. Sie berichten von wahrgenommenen Konflikten im Zusammenleben mit Ausländer/innen und erzählen von unerhörten Begebenheiten. Sie waren laut und wandten sich meist mit ihren Ansichten an eine breitere Öffentlichkeit. Ihre Geschichten lebten von tiefen Kontrasten und grellen Gegensätzen, nicht von nuancierten Farbtönen oder komplizierten Wahrheiten. Die Sprechenden umrissen in 124 Stv. Gkdo. XIII. AK an d. Stadtdirektion Stuttgart, 28.10.1914, (Ent.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 1105. 125 Quousque tandem …, in: Badener Tageblatt, 11.9.1914 (Nr. 212), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23188. 126 Bad. Min. d. Kultus u. d. Unterrichts an d. Bad. MdI, 23.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23188.
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Sorge und Wut in dreiteiligen Gemälden die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Gesellschaft, in der sie lebten. Mit ihren totalen Antworten auf den Krieg und der Behauptung, für viele zu sprechen, formierten sie eine politische Präsenz, die für staatliche Akteure ein entscheidendes Handlungsmoment darstellte. Aber dies bedeutet nicht, dass sie ein repräsentatives Meinungsbild der damaligen Gesellschaft zeichneten. Zum einen werden die Gegenstimmen bereits in den Interventionen der Empörten sichtbar. Zum anderen spiegeln sie sich an anderen Orten und in anderen Praktiken wider. Folgen wir aber zunächst jenen Bürger/innen, die eine Veränderung der Gesellschaft forderten, weil der Krieg für sie notwendigerweise den bisherigen Umgang mit feindlichen Ausländerinnen und Ausländern in Frage stellte. In vielen Eingaben und besonders in Leserbriefabdrucken können drei wiederkehrende Elemente unterschieden werden, die in jeweils variabler Anordnung den Grund für die Wortmeldung erklärten und die eigene Gesellschaft skizzierten. Die Autor/innen schilderten erstens eine für sie unerhörte Begebenheit, in die feindliche Staatsbürger/innen involviert waren. Das Ereignis vergegenwärtigte ein als selbstverständlich gegoltenes Zusammenleben mit ihnen wie es war, aber nun nicht mehr sein durfte. Zweitens erinnerten sie an die Lage deutscher Staatsbürger/innen im Ausland, von der in vielen Zeitungen berichtet wurde. Dies und die Umstände des Krieges waren meist der Grund, warum der Umgang mit den Zivilisten der Kriegsgegner nicht mehr so sein konnte, wie er gerade gewesen sei. Daraus ergab sich drittens ihre Forderung nach Konsequenzen, die meist als Vergeltungsmaßnahmen beschrieben wurden und ein Bild von der Gesellschaft entwarfen, wie sie sein sollte.
Anonymus »Wenn es sich zum Teil auch um solche Fremden handelt, die länger hier beschäftigt bezw. ansässig sind«, schrieb ein anonymer Absender aus München-Gladbach an das Koblenzer Generalkommando, »so erblicken wir doch, wie die Dinge heute liegen, in der Anwesenheit derselben eine Gefahr für unser Deutsches Vaterland«.127 Ihm schwebte noch das Bild der »[h]ier eingetroffene[n] Deutsche[n], meist wehrlose Frauen und Kinder« vor Augen, die von »Grausamkeiten und Schandtaten« in Belgien berichtet hatten. Durch die Anwesenheit der Ausländer/innen sah er die Ernährungslage gefährdet und er fürchtete Spionageakte. Für ihn spielte ihre innere Haltung zu ihrem Wohnort oder zu Deutschland ausdrücklich keine Rolle. Denn sein Misstrauen richtete sich ebenso gegen jene, die ihre Loyalität bekundeten. »Man mag sich nicht mehr durch die deutsch-patriotische Gesinnung fremder Staatsangehöriger beirren lassen«, appellierte er deshalb an den militärischen Adressaten. Da ihm das Zusammenleben mit ihnen nicht mehr möglich 127 Anonymus (München-Gladbach) an d. Gkdo. VIII. AK, hier wtgl. an d. Regierung Düsseldorf, 10.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 1 f.
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erschien, sollte das Generalkommando erwägen, »ob nicht eine Ausweisung der Ausländer, wenigstens aus den hiesigen Bezirken geboten ist«.128 Geschrieben Anfang August 1914 in einer Situation vielschichtiger Ungewissheiten, enthielt dieser Brief das fortan öffentlich-dominierende Erzählmuster über eine entscheidende Grenzziehung zwischen Inländer/innen und feindlichen Ausländer/innen, die bereits längere Zeit im Deutschen Reich wohnten. Das Zusammenleben mit ihnen wurde aufgrund von Misstrauen, kriegspolitischen Vergeltungsgeboten und nationaler Selbstachtung nachhaltig in Frage gestellt. Der Autor zog daraus nicht nur Konsequenzen für den zwischenmenschlichen Umgang, sondern forderte darüber hinaus die Verhinderung alltäglicher Begegnungen. Er blieb im Vergleich zu seinen Mitstreiter/innen dennoch leise. Denn anders als mit dieser nicht-öffentlichen Wortmeldung suchten viele Akteure eine größere Bühne für ihre Gedanken. Eine ihrer ersten Anlaufstellen für Beschwerden waren die Leserbriefspalten regionaler wie überregionaler Tageszeitungen. Sie konnten sich dort entweder mit der Autorität ihres Namens oder wiederum verborgen hinter einem Pseudonym einer breiteren Öffentlichkeit mitteilen. Viele Blätter druckten die Einsendungen ab und kommentierten diese gelegentlich. Das Medium Zeitung gab anders als der anonyme Absender aus München-Gladbach den verantwortlichen Behörden die Möglichkeit öffentlich zu reagieren. Gleichzeitig übten die Kommentatoren mit ihren Schilderungen einen keineswegs unbedeutenden Druck auf lokale staatliche Akteure aus. Am Beginn solcher kommunikativen Prozesse stand die Einsendung, gefolgt von der Entscheidung der Redakteure, das Geschriebene in ihre Zeitung aufzunehmen. Die Zeitungsmacher suchten alsdann nicht selten eine markante Überschrift für die mitteilenswerte Zuschrift. »Feindliche Ausländer in württembergischen Lehranstalten?«, fragte beispielsweise die Süddeutsche Zeitung am 31. Oktober 1914 ihre Käufer/innen.129 Daran anschließend unterstrichen die süddeutschen Journalisten die Authentizität und Bedeutung des Abgedruckten. Sie stellten heraus, dass der Absender der Redaktion bekannt war. »Von sehr geschätzter Seite wird uns geschrieben«, setzte der Artikel des Blattes ein und gab den folgenden Aussagen damit einen beachtenswerten Charakter. Daraufhin kam der Einsender zu Wort. »[T]iefempört lesen wir von der Mißhandlung deutscher Gefangener im Ausland«, fasste er den Ausgangskonflikt zusammen. Solche Geschehnisse erforderten in seinen Augen eine angemessene Reaktion. »Ueben wir doch endlich auf die Dreibundmächte einen Druck aus, indem wir an ihren Gefangenen Vergeltung üben, und ihre noch im Inland befindlichen 128 Ebd. 129 Feindliche Ausländer in württembergischen Lehranstalten?, in: Süddeutsche Zeitung, 31.10.1914 (Nr. 301, 2. Blatt), Ztga. in: HStA Stuttgart, E 151/05, Bü 136.
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Staatsangehörigen samt und sonders in Lagern internieren, die möglichst primitiv ausgestattet sind! All’ das nur solange, als bis bessere Behandlung unserer Landsleute im Ausland nachgewiesen ist.«130 Den eigentlichen Anlass seiner Ausführungen – einen innenpolitischen Konflikt – verbarg der Autor bis zuletzt, um den erzählerischen Höhepunkt als Skandal zu inszenieren. »Angesichts der mannigfachen Presseäußerungen in diesem Sinne […] ist es unfaßbar, daß eine Handelslehranstalt in Calw noch Japaner, Engländer und dergl. beherbergen soll. Zu einer Zeit, welche uns mit blutigem Schwert vor Augen führt, wie töricht es war, Ausländern unsere Lehrmittel und Lehrkräfte zur Verfügung zu stellen, würde dort aus geschäftlichen Gründen dem Vaterlandssinn und Allgemeininteresse ins Gesicht geschlagen?«131 Sollten sich diese Gerüchte bewahrheiten, »gehört die betreffende Schule in der Tat vor ganz Deutschland an den Pranger gestellt«, beendete er seine Wortmeldung. Die angesprochenen württembergischen Beamten konnte eine solche Anschuldigung nicht unkommentiert und unkontrolliert stehen lassen. Denn staatliche Akteure maßen meist auch den anonymen Pressekommentaren eine hohe Bedeutung bei. Zeitungen stellten für sie eine wichtige Informationsquelle dar. Die Schilderungen mussten zumindest auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Innerhalb der staatlichen Bürokratie und mit ihren Mitteln wurden die zur Diskussion gestellten Vorgänge untersucht. Die Verantwortungsträger vor Ort hatten sich im Zuge dessen gegenüber den vorgesetzten Landesbehörden zu erklären und ihr eigenes Handeln zu rechtfertigen. Die Reaktion der Beamten in Calw und im Stuttgarter Ministerium des Innern kann demzufolge ebenfalls als exemplarisch gelten. Die Mitarbeiter des Calwer Oberamtes mussten binnen weniger Tage dem württembergischen Innenministerium über die ansässigen Handelsschulen berichten. Die Presseinformationen wurden mit den verfügbaren staatlichen Kenntnissen verglichen. Hierbei stellte sich heraus, dass die Kinder russländischer und serbischer Staatsangehöriger unter 17 Jahren nicht, alle übrigen aber sehr wohl durch den Regimentskommandeur, Oberstleutnant von Hoff, interniert wurden. Aufgrund der Abweichung von bürokratischem und öffentlichem Wissen sahen die Beamten sich veranlasst, eine Gegendarstellung in der Zeitung zu veröffentlichen.132 Der Briefschreiber hatte von der Lage in der württembergischen Stadt offenbar keine genaueren Kenntnisse gehabt. Aufbauend auf einer Mutmaßung behauptete 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Württ. Oberamt Calw an d. Württ. MdI, 9.11.1914, in: HStA Stuttgart, E 151/05, Bü 136.
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er, ein Stimmungsbild aus der Bürgerschaft wiederzugeben, in dem die Calwer Verhältnisse einen latenten Konflikt über die Frage der angemessenen Behandlung der Ausländer/innen darstellten. Wird der Blick auf die emotionale Intention gerichtet, erscheint Calw als ein zweckmäßiger Bezugspunkt für die Suche nach einer Antwort auf einen schmerzlich empfunden Vertrauensbruch durch die Kriegsgegner des Deutschen Reiches.
Bahnhofsvorsteher a. D. Einen Schritt weiter als das Verfassen wütender Briefe ging der Bahnhofsvorsteher a. D. und ehemalige Feldwebel, Friedrich Hermanns, in der Stadt Baden. Er trat in einem Akt der Selbstermächtigung gegenüber Ausländer/innen auf und forderte deren Ausgrenzung. Seine Vehemenz konturiert das Selbstverständnis eines besorgten Bürgers und erlaubt im Gegensatz zu den vorangegangenen Äußerungen einen tieferen Einblick in die situativen Reaktionen der staatlichen Lokalverwaltung. Friedrich Hermanns hatte einigen Unmut aufgestaut, als er sich am 5. August 1914 schriftlich an die für ihn zuständige Militärverwaltung wandte. Seine bisherigen Versuche, Gehör bei den zivilen Behörden der Stadt zu finden, waren gescheitert. Der Brief an das stellvertretende Generalkommando stellte für ihn eine kriegsbedingt weitere Möglichkeit dar, Konsequenzen aus seinen Erlebnissen bei einem Spaziergange durch die Lichtentaler Allee vier Tage zuvor zu verlangen. Es war gegen sechs Uhr abends gewesen, als ihm vier junge, sich unterhaltende Menschen begegneten. Die beiden Männer schätzte er auf circa 25 Lebensjahre, ihren Begleiterinnen attestierte er ein »zweifelhaftes Aussehen«. Aber besonders erregte seine Aufmerksamkeit ihr Gebrauch des Französischen. Der ehemalige Soldat entschied sich zu handeln. Er schwieg nicht, er beschimpfte die Geselligen nicht, er eilte ferner nicht zur nächsten Polizeistation. »Ich stellte die Gesellschaft und forderte sie auf sich auszuweisen.«133 Die vier waren für ihn mehr als ein nationales Ärgernis. Erläuternd fasste er seine Ängste zusammen: »Da sich die Ausländer zwischen dem hiesigen Publikum frei, und namentlich die Franzosen in einer geradezu herausfordernden Weise französisch unterhaltend bewegen, dürften bei der Erbitterung des Volkes gegen die Franzosen und Russen, Tätlichkeiten kaum zu vermeiden sein. Auch können sie Spionage ausüben.« Sein Einschreiten war für ihn folglich eine konsequente Haltung bürgerschaftlichen Engagements gegen arrogante Franzosen, gegen potenzielle Ausschreitungen und mutmaßlich gegen Spionage. Die gemeinsam Ausgehenden versagten Hermanns nicht ihre Zusammenarbeit. Die beiden Männer gaben an »Italiener« und »Grieche« zu sein und überreichten ihm ihre Visitenkarten. Dies genügte dem Sistierenden nicht. Während der hinzugekommene Rittmeister Bader die jungen Leute bereitwillig beobachtete, holte 133 Friedrich Hermanns an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 5.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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Hermanns einen Schutzmann. Dieser hätte nach der Aussage Hermanns später zwar festgestellt, dass einer der Herren die französische Staatsbürgerschaft besaß, allerdings »war der Schutzmann nicht zur Festnahme dieses Herrn zu bewegen«. Die beiden besorgten und verärgerten Bürger, Hermanns und Bader, akzeptierten diese Entscheidung nicht. Sie eilten zum Bezirksamt und »trugen dem Herrn Oberamtmann den Sachverhalt vor, mit der Bitte das Weitere zu veranlassen«. Gleichwohl sah auch der Oberamtmann keine Notwendigkeit den Hermannsschen Vorschlag, »die ganze Gesellschaft hinter Schloss und Riegel« zu setzen, anzunehmen. Damit endete der mit erzürnter Feder verfasste Brief, in dem der verletzte Nationalstolz, die gefährdete militärische Sicherheit und die bedrohte zivile Ordnung auf untätige Beamte stießen. Nun trat die Militärbehörde in Erscheinung. Sie stellte für Hermanns erstens eine Beschwerdestelle dar, gegenüber der er das fahrlässige Verhalten der Zivilverwaltung anklagte. Zweitens erkannte er in ihr ein Exekutivorgan, das er um Maßnahmen bitten konnte, die die Zivilinstanz abgelehnt hatte und dem er selbst Vorschläge unterbreitete. »Vielleicht wäre es zweckmässig«, erörterte er, »sämtliche hier anwesenden Franzosen und Russen in einem geeigneten Hotel unterzubringen und dessen Ausgänge ständig bewachen zu lassen.«134 Bei dem zuständigen stellvertretenden Generalkommandeur Hans Gaede stieß sein Anliegen auf Verständnis. Dieser teilte dem Bezirksamt mit: »Im Interesse der Sicherheit des Landes ist es unbedingt geboten, dass die Angehörigen der gegen uns im Krieg stehenden Mächte in ihrem Aufenthalt so beschränkt werden, dass ihnen jede Möglichkeit genommen ist, von unseren Truppenbewegungen sich Kenntnis zu verschaffen und ihrem Staate hierüber Mitteilung zu machen.«135 Gaede erhielt eine ausführliche Antwort des Bezirksamtsvorstandes Karl Josef Häußner.136 Dieser legte den Standpunkt der Zivilverwaltung dar und verwies auf ihre Korrekturfunktion zwischen aufgebrachten Bürger/innen und der Militärbehörde, die innerhalb eines militärischen Bewertungskanons die von Hermanns geschilderte Situation vermaß. Dessen Darstellung widersprach Häußner, und dem anmaßenden Handeln trat er entgegen. Der Amtsvorstand vergegenwärtigte die aktuelle Situation in Baden. Dort seien über 1000 Ausländer/innen137 aus dem Großherzogtum Baden zusammengekommen. »Dass infolgedessen viel französisch hier gesprochen wird, dürfte
134 Ebd. 135 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Gaede) an d. Bad. BzA Baden, 8.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 136 Bad. BzA Baden an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 10.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 137 Unter anderem befanden sich in der Stadt Baden am 10. August 1914 457 russländische, 173 britische, 138 US-amerikanische, 105 französische und 42 österreichisch-ungarische Staatsangehörige. Siehe: Bad. BzA Baden (gez. Häußner) an d. Bad. MdI, 10.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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nicht wundernehmen«, so der Beamte.138 Bedenkliche Reaktionen seitens der Stadtbewohner/innen auf die Zugereisten seien dennoch ausgeblieben. »Wir sind froh, dass die Bevölkerung hier einstweilen ohne Zwischenfälle die grosse Zahl von Ausländern duldet, die ein Steigen der Lebensmittelpreise verursachen und ferner häufig ohne wesentliche Mittel sind.« Dem entgegen stünde das Auftreten Friedrich Hermanns, einem »Heissporne«, der die »besonnene Haltung des Pu blikums […] gefährdet«. Hatte Hans Gaede das Verhalten Hermanns zumindest indirekt legitimiert, erkannte der Amtsvorstand den dahinterstehenden Versuch einer »unbesonnenen« und »taktlosen« Selbstjustiz, welche die Polizeibehörde überging und das Machtmonopol des Staates in Frage stellte. »Dieser Mann hat ohne jede Berechtigung die Fremden auf offener Straße zur Rede gestellt, nur weil sie französisch sprachen. Die fremden Herren gaben bereitwillig ihre Visitenkarten, die sich bei der von uns eingeleiteten Untersuchung als richtig erwiesen. […] Törichterweise genügten dem Bahnhofsvorsteher a. D. aber die Visitenkarten nicht und er holte einen Schutzmann, der die Ausländer dann kontrollierte.«139 Häußner demaskierte zudem die in die Irre führende Schlussfolgerung, dass französisch Sprechende zugleich einen französischen Pass besitzen. Denn Hermanns hatte wenigstens unbeabsichtigt eine widerlegte Information verbreitet. Bei den überprüften vier Personen hatte es sich um einen griechischen Oberstleutnant, einen italienischen Prinzen und seine Frau sowie um eine russländische Staatsbürgerin gehandelt. Amtsvorstand Häußner war gleichwohl kein engagierter Verteidiger der persönlichen Freiheit der Ausländer/innen. Der von Hermanns eingebrachte Vorschlag verstieß nicht grundsätzlich gegen seine Vorstellungen. Dieser war aus seiner Sicht lediglich nicht umsetzbar: »Zur Festnahme lag kein Grund vor; denn wenn wir alle 457 Russen, 173 Engländer und 105 Franzosen festnehmen wollten, wüssten wir nicht, wo wir sie unterbringen sollten.« Stattdessen ordnete er ihre »scharfe Kontrolle« an. Er behauptete mit dieser Maßnahme seinen gradlinigen polizeilichen Standpunkt und bewies eine zielstrebige Entscheidungssicherheit, wodurch er seine Autorität gegenüber dem Militärkommandanten und seinen Vorgesetzten im Badischen Innenministerium verteidigte. Der Aspekt einer mangelnden Durchsetzungsfähigkeit erlangte an Bedeutung, weil Hermanns nicht der einzige besorgte Bürger in der Stadt Baden gewesen war, der den badischen Beamten einen Kontrollverlust durch die Anwesenheit vieler Ausländer/innen unterstellte.140 In den Augen mehrerer Einwohner schien 138 Bad. BzA Baden an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 10.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 139 Ebd. 140 Bad. BzA Baden an d. Bad. MdI, 8.9.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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der vom bedrängten Amtsvorstand konstatierte konfliktfreie Status quo, der für ihn durch die »nur am Anfang und nur ganz selten[en]« »Zwischenfälle« nicht in Frage gestellt wurde, gefährdet. Ihre Skepsis, die leicht zur Anmaßung polizeilicher Kontrollbefugnisse führen konnte, stellte im selben Moment mehr als eine Gegenposition zum Bezirksamt dar. Denn dessen Beamte benutzten gegenüber dem vorgesetzten Ministerium die nicht-staatlichen Interventionen als ein Argument für die gewissenhafte Arbeit vor Ort und die Beherrschung der Lage. Sie berichteten stolz, dass die feindlichen Ausländer/innen »aufs sorgfältigste überwacht [werden] und zwar sowohl durch die hiesige Lokalpolizei, Fahndungspolizei und Kriminalpolizei als auch durch die Bewohner der Stadt Baden selbst«.141 Hiermit bestätigten die Beamten die von Friedrich Hermanns wahrgenommenen und genutzten Handlungsspielräume nicht-staatlicher Akteure zumindest indirekt. Diese Spielräume folgten auf seine Grenzziehung zwischen In- und Ausländer/ innen. Erst die ›gedachte‹ nationale Neukonfiguration der Kriegsgesellschaft stellte die Wirksamkeit der staatlichen Ordnungsmacht in Frage und konnte handlungsleitend werden. Dass die Ausgrenzung der Ausländer/innen nicht die Interessen aller Badener Bürger/innen widerspiegelte, erläuterte der Bezirksbeamte Heinrich von Reck, als von militärischer Seite die Abschiebung von circa 300 feindlichen Ausländer/innen aus der Stadt beschlossen worden war.142 Er sah zum einen ihre Überwachung in der Stadt gewährleistet und verteidigte diese als äußerst effektiv. Zum anderen sei die »Wegweisung« mit »empfindlichen Nachteilen für einen großen Teil der Badener Bevölkerung verbunden«, weil die Ausländer/innen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor waren. »Das Gasthofgewerbe […] liegt hier in Folge des Krieges in einer so schweren Krise darnieder, daß den zahlreichen von ihr betroffenen Personen der Verdienst, den sie aus der Beherbergung der Fremden gewinnen könnten, recht sehr zu gönnen gewesen wäre.« Die Stimmen dieser Einwohner fanden keinen belegbaren Eingang in die Unterlagen der Behörde. Ob der Beamte nur ein vages Stimmungsbild oder seine eigenen Ansichten weitergab, muss offenbleiben. Jedenfalls registrierte er ein »Befremden« über die militärische Entscheidung und vermittelte eine nicht unerhebliche Reaktion auf den restriktiven Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen. Das eine Meinungsbild über ihre Anwesenheit existierte nicht. Die aus nationalen Motiven intervenierenden Bürger/innen veränderten im Zusammenspiel mit der Militärverwaltung dessen ungeachtet die Handlungsprämissen der Lokalverwaltung im Krieg. Denn sie agierten als ein an Bedeutung gewonnener Machtfaktor. Ihre Handlungen griffen in den polizeilichen Verfügungsbereich über. Ihre Stimmen waren mehr als ein Argument innerhalb der 141 Ebd. 142 Bad. BzA Baden (gez. v. Reck) an d. Bad. MdI, 21.11.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
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Behörden, um Forderungen Nachdruck zu verleihen oder auf Missstände hinzuweisen. Ihre Anschuldigungen beanspruchten eine Deutungshoheit über den öffentlichen Raum und die Gesellschaft im Krieg.
Postdirektor Welche Auswirkungen die wahrgenommene ›Stimmung des Publikums‹ auf das Leben der Ausländer/innen zeitigen konnte, verdeutlicht ein Blick auf die Vorgänge im sächsischen Freiberg. An der dortigen Bergakademie hatten in der Vorkriegszeit viele russländische Staatsangehörige studiert. Sie erfreuten sich unter den Einwohner/innen der Stadt aber »wegen verschiedener Vorkommnisse von jeher keiner besonderen Beliebtheit«, wie ein Beamter der Stadt über sie urteilte.143 »[A]ls politisch nicht einwandfrei« schilderte der Amtshauptmann Richard Bollmer seine Erfahrungen mit ihnen in »Friedenszeiten«.144 Unter der Verantwortung Richard Bollmers und des Freiberger Garnisons-Ältesten wurden während der ersten Kriegstage »sämtliche im Bezirk aufhältliche Russen in Verwahrungshaft« gebracht.145 Davon betroffen waren auch russländischpolnische Arbeiter, die eigentlich auf ihren Arbeitsstellen verbleiben sollten.146 Die Registratur der sächsischen Festung Königstein erfasste am 12. August 1914 des Weiteren nicht nur 72 abgeführte Männer, sondern ebenso 10 Frauen und 5 Kinder.147 Der Amtshauptmann erklärte dieses Vorgehen mit der Warnung vor »russischen Spionen und Agenten« und der darauffolgenden »allgemeine[n] Furcht in der Bevölkerung«. Doch einige Freiberger/innen hatten nicht nur Angst. Die Ausländer/innen müssten »außerdem der Wut der Bevölkerung entzogen werden«, »die sich schon an einem oder dem andern der Verhafteten bei der Abführung vergriffen hat«, mahnte Bollmer gegenüber dem Sächsischen Innenministerium an. Indem er zusätzlich einen »Racheakt« der »Russen« fürchtete, stellte er die Situation in der Stadt als überaus konfliktträchtig dar.148 An das Zusammenleben der Vorkriegszeit war unter diesen Vorzeichen scheinbar nicht mehr anzuknüpfen. Dennoch kehrten die Internierten auf Drängen des zuständigen stellvertretenden Generalkommandeurs im Frühjahr 1915 nach Freiberg zurück und
143 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt, gez. Dr. Gente) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 22.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 33 ff. 144 Sächs. AmhM Freiberg (gez. Richard Bollmer) an d. Sächs. MdI, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 83 f. 145 Ebd. u. Oberst Franck (Freiberg) an d. Sächs. KM, 2.8.1914, 8.22 Uhr, (Telegramm, Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 35. 146 Für Sachsen: Reichskanzler, RAdI, (gez. Lewald) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 1.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 26. 147 Interner Bericht d. Sächs. MdI (Abt. IV), 15.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 62. 148 AmhM Freiberg (gez. Richard Bollmer) an d. Sächs. MdI, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 83 f.
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sorgten sogleich für Gesprächsstoff. »Ein Bürger« ergriff im Freiberger Anzeiger das Wort. »Und hier in Freiberg hegt, pflegt und verhätschelt man die Russen. Sie können frei herumlaufen, treiben sich in den Gastwirtschaften und Kaffeehäusern herum, stören durch dreistes Benehmen die Gäste, bewegen sich in rücksichtsloser Weise auf den Bürgersteigen und zwingen selbst ältere Leute beim Begegnen zum Betreten des Fahrdammes. Die armen Ostpreußen werden in Rußland wie die Tiere behandelt und hier Russen wie die Herren!«149 Der Verfasser wünschte sich, dass der »Ostmarken-Verein in Freiberg« »mit Hilfe der deutsch denkenden Bürger« der Stadt »bei den maßgebenden Stellen eine Änderung der Verhältnisse herbei[…]führen« möge. Anders als bei vielen anonymen Leserbriefen gelang es in Freiberg, den Verfasser zu ermitteln. Der Postdirektor Theodor Gustav Legler musste sich mehrmals vor den Vertretern der Stadt für seine Ansichten rechtfertigen. Seine Anschuldigungen bestätigten sich dabei nicht. Da er aber einen Sohn hatte, der in englische Kriegsgefangenschaft geraten war, konnte das Kollegium »begreiflicherweise« seine Erregung »in allen Ausländerfragen« nachvollziehen.150 Weil die Meldung über die Chemnitzer Neueste Nachrichten und die Deutsche Tageszeitung bis ins Preußische Kriegsministerium gelangte151 und Bürger/innen zu Eingaben ermunterte,152 musste sich Oberbürgermeister Max Haupt erneut für die Vorgänge in seiner Stadt erklären. Er verteidigte gegenüber der vorgesetzten Kreishauptmannschaft die anwesenden Ausländer, die als Störenfriede des öffentlichen Lebens reichsweit denunziert worden waren. »Die Russen und die hier sonst sich aufhaltenden Zivilpersonen aus den feindlichen Ländern haben sich seit Kriegsausbruch hier stets anständig und zurückhaltend benommen. […] Das Benehmen der Zivilgefangenen auf der Straße ist hier bisher ein taktvolles und ein den ernsten Umständen, die der Krieg hervorgerufen, angemessenes gewesen.«153 149 Leserbrief (Rubrik: Sprechsaal, ohne Verantwortlichkeit der Redaktion), in: Freiberger Anzeiger, 16.4.1915 (Nr. 86), Ztga. in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 8. 150 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 21.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 8. 151 Die lieben Russen, in: Chemnitzer Neueste Nachrichten, 17.4.1915, Ztga. in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 1. Über einen Artikel in der Deutschen Tageszeitung vom 24. April 1915 berichtete das Preußische Kriegsministerium dem Sächsischen und verlangte Aufklärung: Preuß. KM (gez. Friedrich) an d. Sächs. KM, 8.5.1915, (Abs.) in: Ebd., Bl. 7. 152 Z. B. Prokuristen der Fa. Conradi & Friedemann, Limbach i. Sa., an d. stv. Gkdo. XII. AK, 17.4.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 1. 153 Oberbürgermeister Freiberg (gez. Max Haupt) an d. Sächs. KrhM Dresden, 8.5.1915, in: HStA Dresden, 10736/3352, Bl. 97 ff. (Herv. im Org.).
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Sie hätten Kaffeehäuser und Gastwirtschaften »fast gar nicht« besucht. Entgegen dem Bericht des Amtshauptmannes Bollmer aus dem Vorjahr stellte er fest, dass dem Polizeiamt der Stadt »noch nicht eine einzige Klage über die hier wohnenden feindlichen Ausländer zugegangen« sei. Deshalb hätte der Artikel die Beamten »befremdet«. Das Polizeiamt sah gleichwohl von einer Gegendarstellung ab, um »dem Friedensgefühl Rechnung« zu tragen.154 Dass dieses Bedürfnis auf Reaktionen der Einwohner/innen zurückzuführen war, die mit »Befremden und Beunruhigung« auf die Rückkehr der Internierten reagiert hätten, führte der Oberbürgermeister erst bei späterer Gelegenheit aus.155 In gleichem Maße geriet der Leiter des städtischen Polizeiamtes, Karl Ferdinand Gente, in einen inneren Zwiespalt, weil »aus den Kreisen der Freiberger Bevölkerung wiederholt Klagen über eine zu milde Behandlung der feindlichen Ausländer, namentlich der Russen laut geworden sind«.156 In diesem Sinne kann die Entscheidung der Stadtverordneten gegen eine Rückkehr der Internierten gelesen werden.157 Sie ahnten wohl bereits die kommenden Proteste und die Gefährdung des öffentlichen Friedens. Und sie sollten Recht behalten. Die Stimmen gegen die russländischen Staatsbürger/innen verstummten während des Krieges nicht. Noch zwei Jahre später konstatierte der Freiberger Garnisons-Älteste eine latente Empörung innerhalb der Bevölkerung »über die zu großen Freiheiten« der Ausländer/innen.158 Diese jahrelang wahrgenommene Konfliktsituation zwischen In- und Ausländer/ innen hatte für letztere weitreichende Einschränkungen zur Folge. »Sie werden hier zwar human behandelt, jedoch streng überwacht«, fasste der Oberbürgermeister den staatlichen Umgang mit ihnen zusammen.159 Hinzu kamen Verbote und Anordnungen, die ihr Leben an öffentlichen Orten unter Strafandrohung reglementierten. Es fehlte darüber hinaus nicht an Verhaltensvorschriften. »Die Amtshauptmannschaft hatte den Russen außerdem zur Pflicht gemacht, sich eines bescheidenen und unauffälligen Benehmens zu befleißigen.«160 Feindliche Ausländer/innen mussten sich in Freiberg täglich zweimal persönlich auf der Polizeiwache melden. Nach neun Uhr Abends war es ihnen untersagt, ihre 154 Ebd. 155 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 21.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 8. 156 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt, gez. Dr. Gente) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 22.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 33 ff. 157 Oberbürgermeister Freiberg (gez. Max Haupt) an d. KrhM Dresden, 8.5.1915, in: HStA Dresden, 10736/3352, Bl. 97 ff. 158 Garnison-Kommando Freiberg an d. stv. Gkdo. XII. AK, 9.5.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 239. 159 Oberbürgermeister Freiberg (gez. Max Haupt) an d. KrhM Dresden, 8.5.1915, in: HStA Dresden, 10736/3352, Bl. 97 ff. 160 Sächs. AmhM Freiberg (gez. Richard Bollmer) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 21.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 21 f.
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Wohnungen zu verlassen.161 Eine Stunde vorher sollten sie bereits die Gaststätten verlassen haben. Die Überwachung dieser Bestimmung oblag neben der Polizei den militärischen Wirtshauspatrouillen. Ursprünglich galten deren »Befehlsbefugnisse im allgemeinen nur gegen Personen des Soldatenstandes« und »bei vorkommenden Streitigkeiten zwischen Militär- und Zivilpersonen in Gemeinschaft mit der Polizeibehörde«. Nun hatten sie zusätzlich folgende Befehle zu beachten. »Bei der Durchsicht der Gastwirtschaften ist insbesondere darauf zu achten, dass sich Angehörige der feindlichen Staaten z. B. wie Russen, Engländer, Franzosen, Belgier, Italiener usw. nach 8 Uhr nachm. nicht mehr in Lokalen aufhalten. Sollten derartige Ausländer angetroffen werden, so sind sie vorläufig festzunehmen und der Polizeiwache am Obermarkt zuzuführen.«162 Die Amtshauptmannschaft beschränkte des Weiteren Spaziergänge auf je zwei Stunden am Vor- und Nachmittag sowie auf einen Radius von drei bis vier Kilometern.163 Erst im Oktober 1915 wurde diese Beschränkung der Ausgehzeit in Freiberg »für politisch unverdächtige und einwandfrei geführte feindliche Ausländer« aufgehoben. Zu dieser Zeit waren »[n]ur noch 20 Ausländer« davon betroffen. Zu ihnen gehörten beispielsweise Noah Adler und Wladimir Agaeff, die als politisch unzuverlässig galten und gegen Anordnungen des Polizeiamtes verstoßen hatten. Der Sperrzeit unterlag ebenso die »Dentistin Blanche Senechal, eine Französin, die erst vor einigen Wochen hierher überwiesen, deren politische Gesinnung noch nicht bekannt ist und deren Korrespondenz auch von der politischen Abteilung der Königlichen Polizeidirektion Dresden überwacht wird«. Schließlich galt die Arbeiterin Marianne Krengel als »höchst unzuverlässig«. Auch sie hatte »gegen die polizeilichen Anordnungen wiederholt verstoßen«. Der »Gewerbsunzucht« wurde sie verdächtigt, konnte »bisher derselben aber nicht überführt werden«.164 Victor Rubin, der Vertreter der Spanischen Botschaft und Vorsitzender des russischen Hilfsausschusses in Dresden, sah gerade in diesen polizeilichen Maßnahmen eine Ursache für den Argwohn der Freiberger/innen. Denn solche Einschränkungen seien »geeignet, den Ruf der Russen bei der Bevölkerung gewissermaßen herabzuwürdigen«.165 Der Stadtrat zweifelte an der Integrität der anwesenden ausländischen Zivilisten keineswegs und beschied ihnen weiterhin 161 Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 31 f. 162 Garnisonsbefehl d. Garnison-Kommandos Freiberg (gez. Oberstleutnant u. Garnison- Ältester Schiller), 17.9.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 65. 163 Sächs. AmhM Freiberg (gez. Richard Bollmer) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 21.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 21 f. 164 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 12.10.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 48 f. 165 Viktor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.7.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3356, Bl. 41 f.
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bis zum Kriegsende eine gute Führung, die »keinerlei Grund zu Klagen« gebe. Dem entgegen hielten gleichsam die Militärvertreter an ihrem Standpunkt fest. Der Garnisons-Älteste widersprach den Stadtverordneten und empfand die Überwachung als mangelhaft. »[N]ach Aussage hiesiger Ortseinwohner fahren sogar Ausländer mittags nach erfolgter Meldung nach Dresden und anderen Orten, und besuchen hier auch vielfach Lokale«, beklagte er sich.166 Die in Freiberg Überwachten unterlagen die ganze Zeit über auch in ihrem persönlichen Verkehr den Bestimmungen der städtischen Behörden. Briefe konnten sie nur in deutscher Sprache verfasst abschicken und als »deutschfeindlich« kategorisierte russische Zeitungen erhielten sie nicht ausgehändigt.167 Selbst unter veränderten außenpolitischen Vorzeichen durch die Russische Revolution 1917 und die Machteroberung der Bolʹševiki in Petrograd befanden sich diese Bestimmungen noch 1918 in Kraft. Victor Rubin beschwerte sich wiederholt besonders über den eingeschränkten Briefverkehr und die daran anschließenden Maßnahmen. Nach seinen Aussagen wurden sämtliche Briefe vom Polizeiamt geöffnet; auch jene, die bereits die militärischen Prüfstellen passiert hatten. »Dabei müssen die Empfänger etwa nicht in deutscher Sprache abgefaßte Briefe dem betreffenden Polizeibeamten übersetzen.« Im Zuge dessen sei es vorgekommen, dass sich der Betreffende vor dem Beamten über die persönlichen Verhältnisse zum Schreiber oder zur Schreiberin erklären musste.168 Kennzeichnend für die Lebensumstände vieler Ausländer/innen in Freiberg waren nicht nur die polizeilichen Überwachungsmaßnahmen, sondern ebenso die ununterbrochene Hilfsbedürftigkeit und finanzielle Not. Ihre geringen Bargeldreserven hatten bereits zu Kriegsbeginn eine eigenmächtige Abreise aus der Stadt verhindert.169 Im Freiberger Anzeiger wurde von 20.000 Mark Schulden der russländischen Studierenden gesprochen.170 Die »russischen Arbeiter und Arbeiterinnen« wurden Mitte 1915 »vielfach« von der städtischen Armenkasse unterstützt.171 Zwei Jahre später stand das Freiberger Polizeiamt laut Aussage des Garnisons-Ältesten auf dem Standpunkt, »dass die Ausländer alle in so schlechter finanzieller Lage seien, dass sie sich sowieso nur in ihren Räumlichkeiten auf-
166 Garnison-Kommando Freiberg an d. stv. Gkdo. XII. AK, 9.5.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 239. 167 Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 31 f. 168 Viktor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.7.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3356, Bl. 41 f. 169 Sächs. AmhM Freiberg (gez. Richard Bollmer) an d. Sächs. MdI, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 83 f. 170 Die Russen in Mittweida, in: Deutsche Tageszeitung, 5.9.1914 (Nr. 450), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 235. 171 Stadtrat Freiberg (Polizeiamt, gez. Dr. Gente) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 22.7.1915, in: HStA Dresden, 11348/2792, Bl. 33 ff.
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hielten«.172 Selbst im letzten Kriegsjahr hatten viele von ihnen keine Anstellung gefunden,173 und regelmäßige Geldsendungen aus Russland trafen nicht mehr in Freiberg ein. Fünfzehn russländische Staatsangehörige wandten sich daher im Juni 1918 an die Berliner Kommandantur. Sie baten um einen Austausch »mit dem nächstfolgenden Transport der Zivilgefangenen aus Berlin nach Petersburg oder einer anderen Stadt Russlands«.174 Die Vorgänge in Freiberg verweisen auf ein Einflussgeflecht, das sich aus vielen städtischen und militärischen, lokalen und überregionalen Akteuren zusammensetzte. Ihre unterschiedlichen und entgegengesetzten Interessen in Bezug auf die anwesenden Ausländer/innen bildeten den Ausgangspunkt einer durchaus verhandelten Kriegswirklichkeit, die schließlich in einem Restriktionsregime mündete. Während die einen Vergeltung für persönlichen Schmerz und fehlende nationale Ehrerbietung forderten, fürchteten sich andere um ihre Sicherheit. Während die einen eine uneingeschränkte Überwachung anmahnten, beklagten andere die vielfältigen Unfreiheiten ausländischer Zivilisten in der Stadt. In diesem spannungsvollen Mikrokosmos fanden sich die zivilen Beamten, die selbst einen Standpunkt bezogen und verteidigten, in einer ständigen Vermittlerrolle wieder. Bedacht auf die öffentliche Ruhe und Sicherheit in Freiberg, versuchten sie bei ihrem Handeln entgegengesetzte Forderungen zu berücksichtigen und auszugleichen. Dessen ungeachtet hatte die öffentliche ›Stimmung des Publikums‹ Konflikte in der Kriegsgesellschaft über den Umgang mit feindlichen Ausländer/innen sichtbar werden lassen. Es gelang den städtischen Akteuren allerdings nicht, die kontroversen Auseinandersetzungen beizulegen, obwohl viele Einschränkungen für ausländische Zivilisten beschlossen worden waren.
Stadtverordnete Die Situation im sächsischen Chemnitz, das 1915 zum bevorzugten Ziel der aus Leipzig und Dresden Ausgewiesenen geworden war, gestaltete sich ähnlich der in Freiberg. Der Zuzug feindlicher Ausländer/innen nach dem Industriezentrum, wo Konsulate und Hilfskomitees ihren Sitz hatten, provozierte wiederum ein Nachdenken über das Zusammenleben mit ihnen. Auch die Chemnitzer Stadtvertreter mussten eine veränderte Stimmung innerhalb der Bevölkerung registrieren. Sie distanzierten sich jedoch nicht von dieser. Stattdessen folgten sie mit ihren klagenden Worten gegenüber dem stellvertretenden Generalkommando des XIX. Armeekorps dem gängigen Schema mahnender Eingaben und Leserbriefe. Sie tradierten damit in der Stellungnahme 172 Garnison-Kommando Freiberg an d. stv. Gkdo. XII. AK, 9.5.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 239. 173 Viktor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.7.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3356, Bl. 41 f. 174 Brief russländischer Staatsangehöriger (15 Unterzeichner) in Freiberg an d. Kommandantur zu Berlin, 10.6.1918, in: HStA Dresden, 11348/2827, Bl. 188.
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einer politischen Körperschaft die emotionalen und nationalen Argumentationen innerhalb staatlicher Institutionen fort. Waren der badische Amtsvorstand Häußner und der Freiberger Oberbürgermeister Haupt noch als wachsame Beobachter beider Seiten aufgetreten, die aufklärend die Lage vor Ort beurteilten, verstärkte der Rat der Stadt Chemnitz die einseitigen und privaten Wahrnehmungen seitens der Einwohner/innen. Nach der Feststellung, dass »die Russen sich hier ohne jede besondere persönliche Einschränkung aufhalten können, während deutsche Staatsangehörige in Rußland nach zuverlässigen Berichten eine unwürdige, ja geradezu unmenschliche Behandlung erdulden müssen«, vermerkten sie aufgeregt über die etwa 900 russländischen Zivilisten nachfolgendes. »Mit Mißfallen ist es beobachtet worden, wie sie – in der Hauptsache sind es zugereiste russische Studenten – zur Zeit des stärksten Verkehrs auf den Fußsteigen der inneren Stadt auf- und abgehen und sich dabei ziemlich laut und auffällig benehmen, wie sie sich viel in den gutbesuchten größeren Kaffeehäusern der inneren Stadt, häufig bis zu Beginn der Polizeistunde nachts 2 Uhr aufhalten und sich dort so frei und ungebunden bewegen, als hielten sie sich gar nicht in einem Staate auf, der sich mit ihrem Heimatstaate im Kriegszustande befindet. Es ist weiter darüber geklagt worden, daß solche russischen Ausländer in ihren Wohnungen bis spät in die Nacht hinein bei offenen Fenstern sich überlaut unterhalten, gesungen, musiziert und auch getanzt haben.«175 Die Stadtbewohner/innen rückten als »hiesige Bürgerschaft« in die Rolle eines kollektiven und doch anonymen Klägers. Hunderte Ausländer/innen wurden zu Beschuldigten für wahrgenommene Missstände. Wer über die Vorkommnisse berichtete, wo und durch wen sie verursacht worden sind, wurde unwichtig. Welcher Art waren die störenden Begebenheiten selbst gewesen? Menschen sprachen miteinander, sie liefen gemeinsam in Gruppen durch die Stadt, tranken zusammen Kaffee und sangen in ihren Wohnungen, während die offenen Fenster des Nachts die Sommerhitze des Tages hinauslassen sollten. Die Ruhestörer waren wohl respektlos gegenüber ihren Mitmenschen, aber es kann angenommen werden, dass die Chemnitzer Polizeibehörde Erfahrungen mit solchen alltäglichen Situationen in einer Großstadt hatte. Die Stadträte entschieden, einen anderen Weg zu gehen, den der Krieg ihnen eröffnet hatte. Sie verstetigten eine wahrgenommene Bresche zwischen akzeptierten In- und feindlichen Ausländer/innen und übersetzten den zwischenmenschlichen Konflikt in ein kriegspolitisches Gegenseitig-
175 Rat d. Stadt Chemnitz an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 10.7.1915, in: StA Chemnitz, XXXVI.X.178 (Feindliche Ausländer), Bl. 35. Dem Schreiben voraus ging eine Diskussion während der Ratssitzung am 2. Juli 1915. Siehe: Auszug aus d. Ratsprotokoll d. 25. Ratssitzung, Chemnitz, 5.7.1915, in: Ebd.
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keitsparadigma. Die von ihnen gewünschte militärische Intervention sollte eine weitere Grenze in der städtischen Gesellschaft ziehen. Die Stadtvertreter hatten mit ihrem Anliegen Erfolg. Ab dem 15. Juli 1915 war es Ausländer/innen verboten, zwischen 9 Uhr Abends und 7 Uhr Morgens ihre Wohnungen zu verlassen. »Während dieser Zeit ist musizieren, tanzen, singen untersagt«, führte die entsprechende Verordnung aus, die mit einer Freiheitsstrafe von 14 Tagen Arrest drohte.176
Ausgrenzungsvariationen Die Chemnitzer und Freiberger Bestimmungen standen nicht allein im Deutschen Reich. Beispielsweise entwarfen im benachbarten sächsischen Hainichen die Stadtvertreter im »Interesse der Landesverteidigung« noch vor Kriegsbeginn am 1. August 1914 einen Verhaltenskatalog, der für »nicht Deutsche Reichsangehörige und in der Stadt Hainichen nicht [A]nsässig[e]« galt und folglich nicht nur feindliche Ausländer/innen betraf. Ihnen allen wurde – unter Strafandrohung von 14 Tagen Haft – »der Besuch von Gast- und Schankwirtschaften, Konditoreien, Vergnügungen und sonstigen Veranstaltungen, bei denen eine größere Anzahl von Personen beteiligt ist«, verboten. Zugleich zielten die Bestimmungen in die Privatsphäre des Einzelnen. Denn die städtischen Verantwortlichen untersagten ebenso den »Verkehr mit Landsleuten oder anderen Ausländern in den Privatwohnungen und auf den öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen«, überhaupt »anstößiges Betragen«. Feindliche Staatsangehörige durften ferner wie später in Freiberg und Chemnitz ihre Wohnungen »von 9 Uhr abends bis 8 Uhr morgens« nicht verlassen und hatten den »unnötige[n] Aufenthalt am Tage« in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Einzig für die »Erledigung gewerblicher Arbeiten oder im Auftrage der Arbeitgeber« wurde dieses Reglement gelockert.177 Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Blick in die badische Provinz. Für »Ausländer der mit Deutschland im Kriege befindlichen Staaten« hatte Oberamtmann Alexander Schaible in Donaueschingen Vorschriften ausgearbeitet. Diese respektierten ihre Privatwohnungen und zielten auf eine teilweise Ausgrenzung aus Orten des öffentlichen Lebens. Zwar blieben ihnen Spaziergänge im Schlosspark gestattet, aber der »Besuch der vom Publikum allgemein besuchten Räume in den hiesigen Wirtschaften« war verboten. Sie durften lediglich in »Nebenzimmern, wo die Ausländer allein sein können«, verweilen. Ab 9 Uhr abends hatten sie sich in ihren Wohnungen aufzuhalten.178 Obwohl die polizeilichen Sperrstunden und Kontaktgebote über die militärischen Bestimmungen bezüglich der Kontroll- und 176 Stv. Gkdo. XIX. AK an d. Rat d. Stadt Chemnitz, 15.7.1915, in: StA Chemnitz, XXXVI.X.178 (Feindliche Ausländer), Bl. 35 und Verordnung zur Unterschrift an d. Russen, in: Ebd., Bl. 39. 177 Bkm. d. Stadtrates zu Hainichen, 1.8.19114, (Ent.) in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 3. Der Entwurf wurde durch das stv. Gkdo. XIX. AK am 3.8.1914 genehmigt. 178 Vorschriften für Ausländer in Donaueschingen (gez. Schaible), 30.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F38/115.
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Meldepflichten feindlicher Staatsangehöriger hinauswiesen, setzten sie sich im Allgemeinen in vielen Polizeibezirken des Deutschen Reiches durch. Neben der täglich zweimaligen Meldung auf der Polizeiwache galten nächtliche Ausgangssperren nicht nur in Baden oder Sachsen, sondern ebenso in Berlin und im Bereich des Oberkommandos in den Marken.179 In Bad Homburg wurden im August 1914 die ehemaligen russländischen Kurgäste im Hotel Augusta kaserniert. Der Offizier der Wachmannschaft hatte ihnen erklärt, dass er nicht daran zweifele, dass sich unter ihnen Spione befänden. »[V]orläufig sind wir eingesperrt, unsere Sachen werden durchsucht«, hielt der russländische Rechtsanwalt Nikolaj Platonovič Karabčevskij in seinen Erinnerungen fest.180 »Wir haben nicht das Recht, uns mit Fremden zu unterhalten beziehungsweise schriftlich auszutauschen, weder auf den Balkonen noch an den Fenstern.« Wer diesem Befehl zuwider handele, werde als Spion behandelt, verkündete der Garnisonälteste Major Waitz.181 Er befahl einige Tage später den Ausländer/innen, nach acht Uhr Abends nicht mehr ihre Unterkunft zu verlassen, nicht Russisch zu sprechen, sich nicht zu versammeln oder Gruppen zu bilden und nicht mit ›Deutschen‹ zu verkehren.182 Boris Birukov schilderte das daran anschließende Auftreten Karabčevskijs, der sonst »flammende Reden« halten konnte, als äußerst zurückhaltend. »Niedergeschlagen, ganz in sich gekehrt, […] ließ er sich selten auf der Straße blicken, bewegte sich vorsichtig und richtete die Augen nach unten.«183 Eine Unterhaltung auf offener Straße wies er zurück. Wie Karabčevskij erging es nach den Worten Birukovs vielen ehemaligen Kurgästen. »Das Eingeschüchtertsein ergriff alle, die Hilflosigkeit fühlte man im Verhalten eines jeden.« Ob mit den strategischen Argumenten einer gefährdeten militärischen Sicherheit, einer gestörten städtischen Ruhe und Ordnung oder einer herzustellenden nationalen Gegenseitigkeit, meist sahen sich feindliche Ausländer/innen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ihr gesellschaftlicher Ausschluss wurde nicht selten zu einer wünschenswerten Norm erhoben, die fortan den Unterschied zwischen den »Deutschen« und den ›feindlichen‹ Anderen markieren sollte. In unterschiedlicher Weise wirkten staatliche Akteure bei diesen Grenzziehungen mit, und den erlassenen Bestimmungen waren kaum Grenzen gesetzt. Wo Konflikte in Bezug auf feindliche Staatsbürger/innen erkannt wurden, sollten immer neue Regeln Abhilfe schaffen.
179 Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel) an u. a. d. Polizeipräsidium Berlin, 6.11.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 1 u. Bkm. d. Okdo. in d. Marken, in: Kreuz-Zeitung, 7.11.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 427, S. 268. 180 Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 49. 181 Heinz Grosche, Geschichte der Stadt Bad Homburg vor der Höhe, Bd. 3: Die Kaiserzeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 585 u. Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 43. 182 Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 64. 183 Birukov, V germanskom plěnu, S. 86.
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Im Oktober 1914 wurde »im Inlande verbliebene[n] Angehörige[n] feindlicher Staaten« der Gebrauch »ihrer früher erworbenen Jagdberechtigung« untersagt.184 Sie mussten nicht nur im Königreich Sachsen ihre Fahrräder stehen lassen185 und waren fortan ausgeschlossen vom ›nationalen‹ Straßenverkehr. Ebenso hatten deutsche Staatsangehörige nicht zu befürchten, in den mondänen Ostseebädern oder in ihren abgelegenen Sommerfrischen im Schwarzwald ausländischen Urlauber/ innen wie ihrem Dienstpersonal zu begegnen. Der Besuch war feindlichen und neutralen Ausländer/innen untersagt.186 Noch 1918 kritisierte der stellvertretende Generalkommandeur Freiherr von Gayl die großzügige Ausgabe von Reiseerlaubnisscheinen »namentlich an Sonntagen« wiederum mit der »Missstimmung« innerhalb der Bevölkerung. Da die ausländischen Reisenden oftmals als Zweck »Verwandtenbesuch und dergleichen« angaben, schlussfolgerte er, dass es sich »fast ausschließlich um Vergnügungsreisen« handelte. Er ermahnte die Polizeibehörden, diese Reisen zukünftig nicht mehr zu gestatten.187 Mit erteilter Reisegenehmigung war »Angehörigen feindlicher Staaten« im Bereich des III. bayerischen Armeekorps »der Aufenthalt im Speisewagen nicht gestattet« und »ein angemessenes, jede Auffälligkeit vermeidendes Benehmen« aufgetragen.188 Eine verallgemeinernde Charakterisierung oder gar Quantifizierung der Ab- und Ausgrenzungsvorschriften ist schwierig, zumal nach Gesuchen vielerlei Ausnahmegenehmigungen erteilt wurden. So zeigten sich Variationen nicht nur zwischen Bundesstaaten, Armeekorpsbereichen, Städten und Landkreisen, sondern ebenfalls zwischen einzelnen Ausländer/innen vor Ort.189 Dabei standen verantwortlich zeichnende Lokalbeamte unablässig im Licht der Öffentlichkeit. Sie konnten als Kontrolleure und Korrektoren zwischen moralischen Forderungen aus der Bevölkerung und Sicherheits- wie Vergeltungsinteressen der Militärverantwortlichen in Erscheinung treten. Sie hatten die Möglichkeit, zwischen den angetragenen Positionen zu vermitteln oder in ihrem Interesse parteiisch auf Erwartungen zu reagieren. In diesem Zusammenhang erschuf das Nebeneinander von Militär- und Zivilverwaltung mitunter ein System der gegenseitigen staatlichen Kontrolle und des Ausgleichs. 184 Preuß. MdI (gez. Drews) an u. a. d. Oberpräsidenten, 26.10.1914, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 77. 185 Sächs. MdI an d. Sächs. KrhM, 1.5.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 150. 186 Bkm. für d. Verkehr in d. Ostseebädern u. d. an d. Küste gelegenen Ortschaften im Bezirk d. II. AK u. d. Insel Rügen, Stettin, 23.10., 14.11. u. 11.12.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 833, Bl. 14 u. Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Müller), 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 8. 187 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Landräte, d. Polizeipräsidenten u. d. Bürgermeister, 19.4.1918, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 290 u. ebenso: Erlass d. stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Isbert), betr. Inlandsreisen feindlicher Ausländer, an d. Bad. MdI, 15.1.1917, in: GLA Karlsruhe, 236/23199. 188 Stv. Gkdo. III. bay. AK an d. Regierung (KdI), sämtl. Distriktsverwaltungsbehörden u. Inspektion d. Gef.Lager III. bay. AK, 26.6.1915, in: HStA München, MInn 53976. 189 Vgl. ebenso das Kapitel Identifizieren und Überwachen.
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Unabhängig davon wirkten die unterschiedlichen erlassenen und durchgesetzten Überwachungsbestimmungen in die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Aus- und Inländer/innen hinein. Meldebestimmungen und Sperrzeiten, Ortswechsel- und Eintrittsverbote dienten nicht nur einer erleichterten Kontrolle, sondern definierten zuerst feindliche Ausländer/innen und verhinderten anschließend Begegnungen mit ihnen an Orten des sozialen Lebens. Die Betroffenen wiederum sahen sich entlang ihrer sozialen und kulturellen Stellung, ihrer finanziellen Besitzverhältnisse, ihres Geschlechts und ihres Alters sowie ihrer Nationalität unterschieden. Deshalb wurden Gegensätze und Ungleichheiten zwischen Ausländer/ innen nicht zwangsläufig abgeschwächt oder gar aufgehoben.
Gewalttätige Aus den vorangegangenen Betrachtungen geht hervor, dass nicht selten der private Schreibakt oder die bürokratische Papierarbeit in staatlichen Institutionen die erste Praxis der Aus- und Abgrenzung darstellte. Akteure skizzierten in Leserbriefen und Eingaben, in Anfragen und Weisungen eine Vorstellung über das Zusammenleben zwischen In- und Ausländer/innen. Sie waren davon überzeugt zu wissen, wie die Gesellschaft während des Krieges zu sein habe: national-homogen, unzweideutig und klar abgrenzbar. In Geltung gesetzt werden sollte der kriegsgesellschaftliche Alltag durch moralische Normen und soziale Verhaltensregeln. Die eindringlichen bürgerschaftlichen Aufforderungen wurden von nicht weniger konsequenten Richtlinien innerhalb militärischer und ziviler Bekanntmachungen begleitet. Die ab November 1914 angeordnete Internierung wehrpflichtiger und -fähiger britischer und später französischer Staatsbürger kann als letzte Exklusionspraxis gelten. Zuvor aber trieben deutsche Reichsangehörige noch auf eine andere Weise ihre Aus- und Abgrenzung voran. Der ehemalige Bahnhofsvorsteher Friedrich Hermanns hatte Ausländer/innen festgehalten und polizeilich überprüfen lassen. Physische Gewalt wandte er nicht an. Gleichwohl legen vereinzelte Überlieferungen nahe, dass Ausschreitungen unter anderem gegen mutmaßliche Spione und Spioninnen im August 1914 keine Seltenheit darstellten. Heutige Betrachter/innen stehen vor der Herausforderung, der Gewalt zu folgen. Denn deren Dokumentation war lückenhaft. Oftmals verweisen vor allem Appelle, Aufrufe und Warnungen vor »ungehemmten Wutausbrüchen« auf gewalttätige Krawalle.190 Solange aber nicht konkrete Ereignisse und unmittelbare Erfahrungen benannt wurden, bleibt die Möglichkeit offen, dass
190 L. Jägerhuber, Kriegskatechismus für die Zurückgebliebenen. Zur raschen Orientierung über die während der Kriegszeit auftauchenden besonderen Fragen des Wirtschaftslebens, des öffentlichen und des Zivilrechts, sowie zur Raterteilung über öffentliches und privates Verhalten der zurückgebliebenen Bevölkerung während des Krieges, Diessen vor München 1914, S. 16 f.
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die Verfasser lediglich Vorstellungen von erwartetem Verhalten gegenüber ausländischen Staatsangehörigen kommunizierten. In seinem Kriegskatechismus für die Zurückgebliebenen warnte etwa der Jurist Jägerhuber vor »Beschimpfung« und »körperliche[r] Bedrängung von Ausländern«.191 Er gab seinen Leser/innen zu bedenken, dass »wie wir uns empören, wenn Deutsche zur Zeit in Frankreich, England oder Rußland brutalisiert werden, ebenso mögen auch wir uns vor unglimpflicher Behandlung solcher in unseren Grenzen nach der Kriegserklärung zurückgebliebenen Ausländer in Acht nehmen.« Er schloss mit dem Aufruf: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Andern zu!« Seine Warnung verfasste er nach den Erfahrungen der ersten Kriegstage, in denen aufgebrachte und gewalttätige Demonstranten mutmaßliche Spione verfolgten. An Menschenansammlungen im Zuge der Verkündung des Kriegszustandes erinnerte sich ebenfalls der bayerische Regierungsrat Fischer und beklagte »die Spionenfurcht mit ihrer Sucht zu Ausschreitungen«.192 Wie sich die »Sucht« äußern konnte, zeigt ein Vorfall im thüringischen Hermsdorf. Dort wurde nicht die Person, aber das Haus des Leiterfabrikanten Louis Opel (1857–1918), der mit russländischen Offizieren gesehen worden war, Ziel des »Publikums«. Das Jenaer Volksblatt berichtete am 8. August 1914, dass Opel »[l]eider […] schon geflohen« war. Obwohl die Ortspolizei das Haus versiegelt hatte, war die »Verbitterung des Publikums […] so groß, daß es das Opelsche Haus mit Steinen bombardierte, wodurch sämtliche Fenster zertrümmert wurden.«193 Eine ähnliche Szene spielte sich in Bad Homburg am 22. und 23. August 1914 ab, als Demonstranten das Hotel Viktoria belagerten, um die Entlassung der ausländischen Angestellten zu erzwingen. In der Nacht setzte eine »regelrechte Bombardierung« mit Pflastersteinen ein, berichtete ein Augenzeuge.194 »Zwei […] kleine Mädchen schliefen im Zimmer unter den Fenstern zur Straße hin. […] Die Scherben flogen in die Mitte des Zimmers, die schlafenden Kinder wachten auf, tasteten sich in der Dunkelheit in den hinteren Teil des Zimmers, weil Steine ihr Bettgestell trafen.« Steine flogen ferner gegen das Haus der Familie Dröege in Woltershausen, circa 20 Kilometer südlich von Hildesheim. Die Gutsbesitzer waren britische Staatsangehörige, und seit Anfang August 1914 verbreitete sich wohl vornehmlich unter den Arbeitern der nördlichen Kali- und Salzbergwerke das Gerücht, dass sie Spione und Bombenbauer seien. Gleichwohl blieb es bis Anfang September ruhig, als unvermittelt das Haus und seine Bewohner/innen zum Ziel von Steinwürfen wurden. »Come out and we will kill you«, erhielten die Dröeges als Antwort auf 191 Ebd., S. 16. 192 Niederschrift über d. Verhandlungen mit d. Amtsvorständen über d. Verwaltungsaufgaben im Kriege bei d. Regierung von Oberbayern, 5.11.1914, in: StA München, Pol.Dir.München, 4543. 193 Meldung, in: Jenaer Volksblatt, 8.8.1914 (Jg. 25, Nr. 184). 194 Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 102 f.
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die Frage, was die Angreifer beabsichtigten. Diese ließen erst nach Warnschüssen mit dem Revolver von dem Gutshaus ab. Verletzt wurde niemand. »We gathered over sixty stones the next morning and a few had gone through the window into the room where they first attacked«, hielt Annie Dröege in ihrem Tagebuch fest. »The children were terrified and it was a long time before they forgot it. One day they presented us with a piece of poetry they had written about the night.«195 Diese recht ähnlichen Formen der Auseinandersetzung erinnern an antisemitische Krawalle, wie sie zum Beispiel im April 1900 in Westpreußen und im Mai und Juni desselben Jahres in der Kleinstadt Konitz stattfanden. In einer ritualisierten bedrohlichen Machtdemonstration stimmten gewaltbereite Randalierer »Hepp-Hepp-Rufe« an und warfen vor allem Fensterscheiben jüdischer Häuser ein.196 Im August 1914 hatten die Adressaten dieser Ausgrenzungspraktiken gewechselt. Ablehnung und Feindschaft richteten sich nun vor allem gegen Botschaftsgebäude und Häuser ausländischer Eigentümer und ihre Bewohner/innen, die gleichwohl Juden sein konnten. Am Tage der englischen Kriegserklärung hatte sich in Dresden eine »etwa 2000köpfige Menschenmenge […] zu Demonstrationen vor dem englischen Konsulat« versammelt. »Es wurden dabei mehrere Fensterscheiben durch Steinwürfe zertrümmert und das über dem Eingang befindliche Schild heruntergerissen. Die Menge wurde nach Hinzukommen ausreichender Gendarmerie von weiteren Ausschreitungen abgehalten«, hieß es in einem Lagebericht der städtischen Polizei. Später in der Nacht kam es vor der Villa des britischen Diplomaten Arthur Grant Duff (1861–1948) nicht nur »zu Schmährufen«. »[M]ehrere Fensterscheiben der Villa« wurden »beschädigt« und »[d]ie dort anwesenden Polizeibeamten mußten, um weitere Ausschreitungen zu verhüten, blank ziehen und erst mit Unterstützung einer vorbeikommenden Militärpatrouille gelang es, die Menge zu zerstreuen«.197 Die Redakteure der sozialdemokratischen Dresdner Volkszeitung ermahnten daraufhin ihre Leser/innen, keine »Rohheiten gegen Ausländer« zu begehen, und mussten feststellen: »Es sind bedauerliche Ausschreitungen dieser Art auch in Dresden vorgekommen.«198 »Kein Arbeiter darf sich durch Teilnahme an solchen Ausschreitungen beschmutzen«, forderten sie deshalb. »Jeder muß alles tun, was das Wohl des Volkes gebietet. Dazu gehört auch, dem überhitzten Treiben unzurechnungsfähiger Menschen mit Ruhe und Entschiedenheit entgegenzutreten.«199 195 Dröege, Diary of Annie’s War, S. 17 (5./9.9.1914). 196 Christoph Nonn, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen 2002, S. 34–36 u. 43–49. 197 Lagebericht d. Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI, 5.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 45. 198 Phantasieprodukte, in: Dresdner Volkszeitung, 6.8.1914 (Nr. 170), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 154. 199 Ebd.
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Zur gleichen Zeit erlebte Berlin Ausschreitungen gegen Botschaftsangehörige und -gebäude,200 woraufhin die Reichsleitung einen Aufruf in mehreren Zeitungen veröffentlichte. »Berlin, 5. August. Die Erbitterung der Bevölkerung, die gestern in verschiedenen Kundgebungen zum Ausdruck kam, ist verständlich. Es muß aber schon im Interesse der im Ausland lebenden Millionen von Deutschen dringend davor gewarnt werden, dieser Erbitterung in einer Weise Ausdruck zu geben, die weder unserem Ansehen in den neutralen Staaten noch der guten Sache dient, für die wir kämpfen.«201 Die Hauptstadtpolizei verbot daran anschließend unter anderem Unterhaltungsbetrieben wie Theatern oder Kinos Aufführungen, die Proteste gegen die in Berlin lebenden Ausländer/innen provozieren könnten.202 Gewalttätige körperliche Übergriffe auf Ausländer/innen werden allerdings weit weniger thematisiert. Etwa eine Woche nach den Krawallen in Dresden berichtete ein Leser von einer »häßlichen Szene«, deren Zeuge er wurde. »Müßige junge Leute schlugen auf der Prager Straße auf einen still daherkommenden, jungen Mann wie unsinnig los, weil sie der Meinung waren, er sei ein Russe.«203 Der »Pöbel« beschimpfte in Schöppenstedt und Schöningen, die zum Herzogtum Braunschweig gehörten, anwesende russländische Saisonarbeiter »und versuchte sie auch zu mißhandeln«, wie der sozialdemokratische Volksfreund vermerkte.204 Eine »Menschenmasse« packte laut der Bremer Bürger-Zeitung einen Verdächtigten in der Hansestadt, schlug und misshandelte ihn.205 In Leipzig brachen sich vor dem Café Felsche die »wildesten Ausbrüche roher Leidenschaft« bahn, als ein Verdächtiger verhaftet wurde und abgeführt werden sollte. »Das Blut rann ihm vom Gesicht herab, die Kleidung war völlig zerfetzt«, schilderte die Leipziger Volkszeitung die Folgen dieser spontanen Gewalt.206 Schließlich kam es laut den Görlitzer Nachrichten auch in dem niederschlesischen Kurort Bad Salzbrunn (poln. Szczawno-Zdrój) zu Gewalttätigkeiten gegen einen russländischen Staatsangehörigen, der »das 200 Bericht d. Polizei-Reviers Berlin (gez. Höpfner), 4.8.1914, (Abs.) in: PA AA, R 20327, Bl. 23 f. u. Bericht d. II. Polizeibrigade (gez. Feist), 5.8.1914, in: Ebd., Bl. 26 f. 201 Das Kleine Journal (Berlin), 5.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 229, S. 146. 202 Martin Baumeister, Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914–1918, Essen 2005, S. 31 f. 203 Anständiges Verhalten auch gegen Ausländer! in: Dresdner Neueste Nachrichten, 11.8.1914 (Nr. 216), S. 4. 204 Karl Liedke, »… aber politisch unerwünscht.« Arbeitskräfte aus Osteuropa im Land Braunschweig 1880 bis 1939, Braunschweig 1993, S. 82. 205 Spion und Pöbel, in: Bremer Bürger-Zeitung, 4.8.1914 (Nr. 179), zit. nach: Verhey, Der »Geist von 1914«, S. 146 f. 206 Der »russische Spion« im Café Felsche, in: Leipziger Volkszeitung, 5.8.1914 (Nr. 178), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3312, Bl. 118.
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Ansinnen an die Kurkapelle stellte, die russische Nationalhymne zu spielen. In großer berechtigter Entrüstung fiel das Publikum über den Frechling her, ihn gehörig verprügelnd.« Erst die Verhaftung durch die Gendarmerie schützte ihn vor den ›Wutbürgern‹.207 Der stellvertretende Generalkommandeur des I. bayerischen Armeekorps wandte sich ebenfalls in den ersten Augusttagen an die Bevölkerung. »Lasset uns nicht vergessen, daß wir mit Gewalt nur dem Feinde gegenübertreten, daß es aber eine der schönsten Seiten des deutschen Gemütes ist und bleiben muß, die Wehrlosen und jene, die keine feindliche Handlung gegen uns begehen, zu schonen.«208 Deshalb rief er seine Mitbürger/innen dazu auf, »nicht die Fassung und Haltung zu verlieren«. Den Anlass für diesen Aufruf gaben wohl Ausschreitungen gegen italienische Staatsangehörige in Nürnberg. »Es ist auch bedauerlicherweise vorgekommen«, informierte das Bayerische Innenministerium die Landesregierungen und Polizeibehörden, »daß fremde Staatsangehörige, die gänzlich unverdächtig sind, schon wegen ihrer Ausländereigenschaft Gewalttätigkeiten durch die Bevölkerung ausgesetzt sind.«209 Dementsprechend wurden die Polizeibehörden und Gendarmen angewiesen, »[s]olchen Ausschreitungen […] entgegenzutreten« und die »Fremden« zu schützen. Der Kasseler Generalkommandeur trat wenige Tage später den Appellen bei. »Die Bevölkerung wird aufgefordert, Ruhe und Würde zu bewahren«, ließ er bekanntgeben und bat, »jede Nervosität zu vermeiden«.210 Der Staatssekretär des Reichsmarineamtes zweifelte an der Bedachtsamkeit der Bevölkerung und wohl auch an der Wirksamkeit der Aufrufe. Nach den Erfahrungen der ersten Kriegstage empfahl er im Zuge des japanischen Ultimatums an das Deutsche Reich Mitte August 1914, »die hier befindlichen Japaner zunächst in Schutzhaft zu nehmen, und sie alsdann unter sicherem Geleit über die Grenze abzuschieben, um sie gegen eventuelle Ausschreitungen zu schützen«.211 So verdichtet Überlieferungen auf Akte der Selbstjustiz für die Mobilmachungstage hinweisen, so wenig finden sich Belege, die zeigen, dass es sich bei den Krawallen um dauerhafte Praktiken des Krieges handelte. Neben den Angriffen auf Botschaftsgebäude nach den Kriegserklärungen wandten sich Teile der Bevölkerung vor allem gegen mutmaßliche Spione, die sie auch in anwesenden Ausländer/innen erkannten. Ob es darüber hinaus längerfristige Auslöser für die lokalen Gewaltausbrüche gab, bleibt ungewiss. Die Polizei- wie die Militärverantwortlichen dul207 Görlitzer Nachrichten, 12.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 371, S. 242 f. 208 Ritterlichkeit gegenüber Ausländern, in: Coburger Zeitung, 9.8.1914 (Nr. 185; Herv. im Org.). Ebenso Bkm. durch Maueranschlag v. 4.8.1914, durch d. kommandierenden General d. I. bay. AK (gez. Xylander), in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 209 Bay. SMdI an d. Regierungen u. Distriktspolizeibehörden, 9.8.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976. 210 Bkm. d. Generalkommandos d. XI. AK, in: Coburger Zeitung, 13.8.1914 (Nr. 188). 211 Staatssekretär d. Reichsmarineamtes (gez. i.V. v. Capelle) an d. Okdo. in d. Marken, 19.8.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 43.
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deten die Ausschreitungen nicht und unterbanden diese mit physischer Gewalt. Aufrufe an die Bevölkerung mahnten zur Zurückhaltung und wiesen auf das Gewaltmonopol des Staates hin. Die gleichzeitigen Verhaftungen ausländischer Staatsbürger/innen, die Durchsetzung von Meldepflichten und Ausgehverboten, die Überwachung und zwangsweise Verwaltung ausländischer Unternehmungen und die Internierungen in Lagern könnten den Vorstellungen und Absichten der potenziell Gewalttätigen entgegengekommen sein und diese von weiteren Taten abgehalten haben.
Konkurrenzlosigkeit nationaler Bildungsprivilegien Heftige Diskussionen über feindliche Ausländer/innen, die den Krieg über andauerten, entbrannten in der Bildungspolitik und in dem Zugang ausländischer Studierender zu den Universitäten.212 Eine frühe, öffentlichkeitswirksame Stellungnahme verantwortete der Direktor der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Er informierte in einem Merkblatt, das in den »friedlichen Sälen« auslag, die Nutzer/innen darüber, dass »Russen, Franzosen, Engländer und Serben […] keinen Zutritt« haben.213 Lesen, Informationen sammeln, ordnen und sich bilden sollten ihm zufolge in Zeiten des Krieges ein nationales Privileg darstellen. Wie national konnte und musste Bildung in einem Zeitalter grenzüberschreitender Wissenschaftskommunikation und Ausbildungen sein? Durften feindliche Staatsangehörige weiterhin Bibliotheken benutzen, an den Universitäten und Hochschulen des Landes studieren oder arbeiten? Sollten ihre Kinder weiterhin mit ›deutschen‹ Schüler/innen unterrichtet werden? Antworten, die wie in Berlin in vielen Hochschulstädten symbolische und praktische Grenzen zwischen In- und 212 Zu Universitäten in Deutschland im Ersten Weltkrieg siehe: Trude Maurer, »… und wir gehören auch dazu«: Universität und Volksgemeinschaft im Ersten Weltkrieg, Bd. 1 u. 2, Göttingen 2015. Forschungsbeiträge mit Fokus auf dem Ersten Weltkrieg: Busse, Engagement oder Rückzug?; Trude Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen. »Feindliche Ausländer« in einer deutschen Universitätsstadt während des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Bd. 8 (2005), S. 185–210; Peter Drewek, »Die ungastliche deutsche Universität«. Ausländische Studenten an deutschen Hochschulen 1890–1930, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung, Bd. 5 (1999), S. 197–224; Daniela Siebe, »Nattern am Busen der Alma mater«. Ausländische Studierende an deutschen Universitäten 1914–1918, in: Trude Maurer (Hg.), Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2006, S. 39–55 u. Dies., Von »einer gewissen Beengung des wissenschaftlichen Betriebs« – Ausländische Studenten 1914–1918, in: Marc Zirlewagen (Hg.), »Wir siegen oder fallen«: Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg, Köln 2008, S. 93–106. 213 Der Krieg und die Königliche Bibliothek, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 13.8.1914 (Nr. 189, Zweite Ausgabe) u. B. Z. am Mittag, 12.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 370, S. 242.
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Ausländer/innen nachhaltig verschoben, fanden Hochschulangehörige, Leserbriefautoren, zivile und militärische Beamte wie auch Betroffene selbst. Die Akteure der Bildungskontroversen und -politik debattierten und handelten vor dem Hintergrund eines kriegsbedingten Einbruchs der Studierendenzahlen. Zählten die Universitäten im Deutschen Reich im Sommersemester 1914 insgesamt 60.234 Immatrikulierte, sank dieser Höchststand innerhalb von zwei Kriegsjahren auf nur noch 17.549.214 Die Zahl der ausländischen Studierenden ging von 4750 auf 1444 zurück.215 Bildungspolitiker und Diskutanten knüpften zugleich an Debatten der Vorkriegszeit an. Einen zentralen Streitpunkt hatten die höchst unterschiedlich geregelten Zulassungsvoraussetzungen für Ausländer/ innen dargestellt, die den Rektoraten größere Ermessensspielräume gewährten. Viele inländische Studierende empfanden dies als ungerecht.216 Daneben stieg die Zahl der russländischen Student/innen überdurchschnittlich stark an. Kamen im Wintersemester 1899/00 571 Studierende aus dem Russischen Reich, waren es 1905/06 1140 und 1911/12 1999. Zweidrittel von ihnen schrieben sich an den medizinischen Fakultäten ein.217 Dieser Anstieg war einerseits auf die Russische Revolution von 1905 und die Studentenunruhen von 1911/12, die den Universitätsbetrieb lahmlegten, zurückzuführen. Andererseits galt an den Universitäten Russlands ein strikter Numerus Clausus für Juden, der für viele von ihnen ein Auslandsstudium erzwang.218 Um den fortwährenden Zuzug russländischer Studierender zu reglementieren, legten die Kultus- und Unterrichtsminister der deutschen Bundesstaaten Immatrikulationsobergrenzen fest. Nach anfänglichen rechtlichen Bedenken seitens des Auswärtigen Amtes wurde in Preußen ein Numerus Clausus von 900 ausländischen Immatrikulierten beschlossen, dem jeder Staat unterworfen war, den aber allein Russland überschritt. Dies hatte zur Folge, dass ab 1913 zunächst keine Neueinschreibungen russländischer Kommiliton/innen möglich waren.219 214 Bernhard vom Brocke u. Peter Krüger (Hg.), Hochschulpolitik im Föderalismus. Die Protokolle der Hochschulkonferenzen der deutschen Bundesstaaten und Österreichs 1898 bis 1918, Berlin 1994, Anlage VI, Statistische Übersichten, Tabelle 3, S. 424. 215 Hochschulpolitik im Föderalismus. Die Protokolle der Hochschulkonferenzen der deutschen Bundesstaaten und Österreichs 1898 bis 1918, hg. von Bernhard vom Brocke u. Peter Krüger, Berlin 1994, Anlage VI, Statistische Übersichten, Tabelle 9b, S. 433. 216 Trude Maurer, »Der historische Zug der Deutsch-Russen nach Göttingen« oder: Auslese und Abschreckung. Die Zulassung zaristischer Untertanen an einer deutschen Universität, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, Jg. 53 (2004), Heft 2, S. 219–256, hier S. 222– 226. 217 Von 1999 russländischen Staatsangehörigen im Wintersemester 1911/12 waren 1.338 an den medizinischen Fakultäten eingeschrieben. Siehe: Hochschulpolitik im Föderalismus, Anlage VI, Statistische Übersichten, Tabelle 9c, S. 433. 218 Maurer, Auslese und Abschreckung, S. 222–226. 219 Protokoll der Hochschulkonferenz in Linz a. d. Donau, 19./20.9.1913, in: Die Protokolle der Hochschulkonferenzen, Protokoll 14, S. 251–263, hier S. 252 f.
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Zugleich hatten die Technischen Hochschulen begonnen, Studiengebühren zu erheben und die Zulassungsvoraussetzungen anzupassen. Tabelle 5: Ausländische Studierende an Universitäten im Deutschen Reich, 1914 und 1916 Herkunftsland
1914
1916
Kriegsgegner Russland
2.206
95
Großbritannien u. Irland
25
4
Frankreich
25
2
Verbündete oder neutrale Staaten Österreich-Ungarn
814
553
Schweiz
314
220
USA
298
119
Quelle: Die Protokolle der Hochschulkonferenzen, Anlage VI, Statistische Übersichten, Tabelle 9b, S. 433.
Minister »Ein strenges Vorgehen ist veranlaßt gegenüber russischen und serbischen Studierenden beiderlei Geschlechts«,220 vergegenwärtigte der bayerische Innenminister den Distriktspolizeibeamten des Königreiches. Zugleich schloss er russländische, serbische und montenegrinische Staatsangehörige vom Studium in Bayern aus.221 Ähnliche Verordnungen, nach denen feindliche Ausländer/innen ihre Studien an den dortigen Universitäten und Hochschulen abbrechen mussten, ergingen in Baden am 4. August und in Preußen am 30. August 1914.222 Davon betroffen waren gleichfalls die ausländischen Mitarbeiter. Diese »Assistenten […] sind zu entlassen«, legte der preußische Minister für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten fest.223 Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg knüpfte an diese Initiativen Ende Oktober 1914 an und erbat von den Bundesregierungen eine gleichmäßige Umsetzung der ausgrenzenden Hochschulpolitik.224 Über mögliche Ausnahme220 Bay. SMdI (v. Soden) an d. Regierungen (KdI) u. d. Distriktspolizeibehörden, 9.8.1914, (Abs.) in: HStA München, MJu 10779. 221 Fremde an bayerischen Universitäten, in: Badischer Beobachter, 13.8.1914 (Nr. 221). 222 Bad. Min. d. Kultus u. Unterrichts (gez. Böhm) an d. Senate d. Universitäten Heidelberg u. Freiburg sowie d. Technische Hochschule Karlsruhe, 4.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23189 u. Siebe, Ausländische Studenten 1914–1918, S. 94. 223 Preuß. Min. d. geistlichen u. Unterrichtsangelegenheiten (gez. v. Trott zu Solz) an u. a. d. Universitätskuratoren, 30.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23189. 224 Reichskanzler (RAdI, gez. Lewald) an Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 21.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23189. Siehe auch: Antwort d. Direktors d. RAdI, Lewald, auf eine Anfrage d. Abgeordneten Bassermann, Verhandlungen des Reichstages, XIII. LP, II. Session, Bd. 308, 71. Sitzung, 31.10.1916, S. 1939.
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entscheidungen erklärte der Direktor des Reichsamtes des Innern im Reichstagsplenum, dass maßgebend sei, ob die Zulassung »im deutschen Interesse« läge. »Dieses deutsch-nationale Interesse ist bejaht worden bei den Balten und solchen Angehörigen feindlicher Staaten, deren Familien schon lange Zeit in Deutschland wohnen und die in Sprache, Sitte, Gewohnheit und Gesinnung als Deutsche anzusprechen sind, wenn sie auch die Reichsangehörigkeit noch nicht erworben haben.«225 Die nationale Schließung des Bildungszugangs blieb nicht auf ausländische Studierende beschränkt, sondern wurde zugleich auf Schüler/innen, deren »Erziehungspflichtige Angehörige der im Kriegszustande mit dem Deutschen Reiche befindlichen Staaten sind«, ausgedehnt.226 Während der badische Kultusminister Franz Böhm (1861–1915) am 14. September 1914 eben diesen »[j]unge[n] Leute[n]« den Besuch Höherer Schulen untersagte,227 zögerten die Beamten des Sächsischen Kultusministeriums mit einer Entscheidung über den Schulausschluss. Diesen verkündeten sie erst Mitte November 1914. Sie begründeten ihr Vorgehen unter anderem mit »allgemeinen Unzuträglichkeiten, die sich aus der Anwesenheit solcher Schüler in der Schule jetzt überhaupt und insbesondere in verschiedenen Fächern des Unterrichts sowie bei weiteren Siegen unseres Heeres und bei vaterländischen Feiern ergeben«, und mit der »unwürdige[n] und grausame[n] Behandlung der in den bezeichneten Staaten lebenden Angehörigen des Deutschen Reiches«.228 Mit Rücksicht auf die »berechtigte Selbstachtung« könnten deshalb ausländische Schüler/innen »die Vorteile der Ausbildung in unseren inländischen Lehranstalten« nicht mehr genießen. Dass die bundesstaatlichen Regelungen lokale Ausnahmen erfuhren, verdeutlicht ein mahnender Erlass des württembergischen Kultusministers Hermann von Habermaas (1856–1938). Er unterstrich Ende 1915 erneut die eingeforderte Praxis, dass nur solche »Kinder« auf öffentliche Schulen gehen dürften, »für welche
225 Ebd. 226 Sächs. Min. d. Kultus u. öffentlichen Unterrichts an d. Kommissionen d. höheren städtischen Schulen, d. Inspektionen d. Fürsten- u. Landesschulen, d. Direktionen d. staatlichen höheren Lehranstalten u. d. Kommissionen für d. höheren Privatlehranstalten, 14.11.1914 u. 17.11.1914, in: HStA Dresden, 10736/3351, Bl. 10 u. 15. 227 Für das Großherzogtum Baden: Bad. Min. d. Kultus u. Unterrichts (gez. Böhm) an d. Direktionen d. Höheren Lehranstalten, 14.9.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23189. Für das Königreich Württemberg: Württ. Min. d. Kirchen- u. Schulwesens (gez. Hermann von Habermaas [1856–1938]) an sämtl. Behörden u. Anstalten d. Dept., 29.9.1914, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826, Bl. 1. 228 Sächs. Min. d. Kultus u. öffentlichen Unterrichts an u. a. d. Kommissionen d. höheren städtischen Schulen, 14.11.1914, in: HStA Dresden, 10736/3351, Bl. 10.
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wenigstens die einleitenden Schritte zur Einbürgerung getan wurden«. Ansonsten seien sie bis zum 15. Februar 1916 aus den Schulen »auszuweisen«.229 Während im ersten Kriegswinter den Kindern russländischer Juden weiterhin der Schulbesuch in Berlin untersagt blieb,230 konnte der 1914 zehnjährige Sefton Delmer (1904–1979) täglich seinen Ranzen schnüren.231 Sein australischer Vater, Frederick Sefton Delmer (1864–1931), hatte vor dem Krieg Englische Literatur an der Friedrich-Wilhelms-Universität gelehrt. Er wurde im November 1914 im Ruhlebener Zivilgefangenenlager interniert.232 Sein Sohn hingegen erlebte den Berliner Alltag zwischen Anfeindungen und Solidarität.233 Sefton Delmer erinnerte sich in seiner Autobiografie, wie er durch die Fürsprache des Direktors des Friedrichswerderschen Gymnasiums, Rudolf Lange (1858–1917), weiterhin den Unterricht besuchen durfte.234 Mit einigen Schülern, die ihn als »dreckigen Engländer« beschimpft hatten, prügelte er sich vor Publikum auf der Straße, und von einigen Lehrern wurde er als »Verräter« denunziert und offen vor seiner Klasse beschimpft. »[L]ittle Delmer had already learned the necessity of diplomacy, when you are in a minority of one and wish to survive.«235 Gleichwohl standen ihm andere Lehrer und seine Mitschüler ebenso bei. »Whatever the reason, most of the masters did their best to let me feel as little like an enemy as possible,« blickte Delmer fast ein halbes Jahrhundert später zurück.236 Und spätestens nachdem er aus einem Ringkampf als Sieger hervorgegangen war, sei seine Zugehörigkeit zum Klassenverband auch von Einzelnen nicht mehr in Frage gestellt worden. Zwischen Distanzierungen und Annäherungen erlebte er offenbar keine umfassende Ausgrenzung. »Looking back now on my wartime schooldays,« empfand Delmer, »it seems to me that in some ways I had a better time as an English boy at my Berlin school in those first
229 Erlass d. Württ. Min. für Kirchen- u. Schulwesen (gez. v. Habermaas), 13.12.1915, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826, Bl. 2. 230 Russische Kinder in Berliner Gemeindeschulen, in: Vossische Zeitung, 19.12.1914 (Nr. 645, Abendausgabe). 231 Sefton Delmer verband eine wechselvolle Beziehung mit Deutschland. 1917 konnte seine Familie nach England ausreisen. In den 1920er Jahren kehre er als Reporter des Daily Express zurück und war der erste britische Journalist, der Adolf Hitler interviewte. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges arbeitete er zunächst für die British Broadcasting Corporation, bevor er anschließend verschiedene Propagandasender leitete. Nach dem Krieg schrieb er erneut für den Daily Express und warnte in seiner Kolumne »How dead is Hitler?« vor nationalsozialistischen Verflechtungen in der Bundesrepublik. 232 Der Abgeordnete Oskar Cohn kritisierte die Internierung Frederick Sefton Delmers im Reichstag Ende 1916 öffentlich: Oskar Cohn (SAG), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1999. 233 Sefton Delmer, Trail Sinister. An Autobiography, Volume One, London 1961, S. 22–50. 234 Ebd., S. 35. 235 Ebd., S. 38. 236 Ebd., S. 37.
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years of the war than for the last two at St. Paul’s in London where I was treated as a bit of an outsider because I had come from Germany.«237 Der staatlich verordneten Aussperrung der Schüler/innen, die auf eine Kollektivhaftung feindlicher Ausländer/innen zielte und nicht mit ihrer militärischen Dienstpflicht begründet werden konnte, standen im Schulalltag Sefton Delmers widersprüchliche und verschiedenartige Erfahrungen gegenüber. Das von Ministern vorgebrachte Argument, einen störungs- und irritationsfreien Unterricht im Krieg zu gewährleisten, entkräfteten Delmers Lehrer mehrmals pragmatisch, indem sie den Schuljungen von Siegesfeiern freistellten. Gleichwohl mussten sie zwischen ihrer persönlichen Haltung und den öffentlichen Erwartungen taktieren. Rudolf Lange sprach wenige Tage nach seinem wohlwollenden Einsatz vor der versammelten Schülerschaft. »I could hardly believe that I was hearing right«, erinnerte sich Delmer an die Konfrontation mit der Widersprüchlichkeit des Direktors. »For here was the kindly, liberal-minded Dr. Lange, his face contorted in a paroxysm of Wilhelminian death-or-glory chauvinism, his voice vibrant with fake feeling, launched on a violent tirade against the British. […] And he commiserated with the top form boys who might not be able to get to the front before it was all over.«238
Professoren Der Heidelberger Professor Karl Hampe, ein Spezialist für mittelalterliche Geschichte, notierte am 3. August 1914 in seinem Tagebuch: »Heute Morgen noch ein Doktorexamen, was einem wunderlich genug vorkam. Was gehen einen jetzt die alten Germanen der Völkerwanderungszeit an! Eine andre furchtbarere Völkerwanderung hat begonnen. Der Kandidat [Josef Clay Walker] war Amerikaner, der eigentlich nur bestand, weil er einer befreundeten Nation angehörte. Als Russe wäre er kaum durchgekommen.«239 Ganz unumwunden gab der Professor Einblicke in seine Gedankenwelt. Aus seiner Sicht änderte der Krieg die wissenschaftlichen Maßstäbe und universitären Bewertungskriterien. Nicht die inhaltlichen Darlegungen des Prüfungsteilnehmers waren entscheidend, sondern dessen nationale Zugehörigkeit. Einige seiner Göttinger Kollegen argumentierten dem entgegengesetzt. Vier Professoren nahmen dort kurz nach Kriegsbeginn Winthrop P. Bell (1884–1965)240 noch im Haftlokal der Polizeidirektion das Rigorosum ab.241 Der Vorsteher der Historisch-Philologischen 237 Ebd. 238 Ebd., S. 36. 239 Karl Hampe, Kriegstagebuch 1914–1919, hg. von Folker Reichert u. Eike Wolgast, München 20072, S. 99 (3.8.1914). 240 Index card, Winthrop P. Bell (geb. 1884), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 241 Meldung, in: Coburger Zeitung, 13.9.1914 (Nr. 215).
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Abteilung der Philosophischen Fakultät musste daraufhin die Prüfung rechtfertigen. Er schrieb an den Prorektor der Universität, dass »es nicht am Platz sei, was England an uns getan hat, einen einzelnen in deutscher Gewalt befindlichen Briten entgelten zu lassen, in einer Angelegenheit, die mit den kriegerischen Ereignissen schlechterdings nichts zu tun hatte, und jenem eine Behandlung zu versagen, die dem ausgezeichneten Göttinger Studenten, unserem Schüler, gebührte.«242 Die Beteiligten am Rigorosum verwahrten sich gegen den Einbruch nationaler Grenzziehungen in universitäre Verfahren wie persönliche Verhältnisse. Allerdings überzeugte ihr ehrenhafter Standpunkt den Prorektor nicht. Er verhinderte das »würdelose Entgegenkommen« nachträglich.243 Die öffentliche Resonanz auf das Rigorosum hatte er damit nicht abgewandt. Pressemeldungen kritisierten noch Wochen später die Hochschule für ihre internationale Ausrichtung und ihr transnationales Wissenschaftsverständnis.244 Allein, diese Anklagen blieben nicht unwidersprochen. Der angesehene Professor Albert Neisser (1855–1916), der die Dermatologische Klinik der Universität Breslau leitete, wehrte sich in der Frankfurter Zeitung gegen die Vorwürfe. Er bot anklagenden Zeitungsredakteuren und Kollegen, die dem »Internationalismus« der Universitäten kritisch gegenüberstanden, die Stirn. »[V]on einer tadelnswerten Sucht nach ›Ausländerei‹ in unseren UniversitätsInstituten kann nur der sprechen, der weder unsere eigenen Institute genau kennt, noch sich klar gemacht hat, wie sich auch die Ausländer zu uns Deutschen verhalten haben! Aus eigener, sehr reichlicher Erfahrung und aus den Berichten sehr vieler deutscher Gelehrter, […] weiß ich, mit welcher Herzlichkeit (selbst in Frankreich […]), wir dort aufgenommen und unsere Arbeiten unterstützt wurden.«245 Albert Neisser widersprach zum einen explizit der außeruniversitären Meinungsbildung im Namen nationaler Interessen. Zum anderen wandte er sich gegen Kollegen, die ein fehlendes Nationalbewusstsein der Forschung beklagt hatten. Er fragte: »Waren Pasteurs, Listers, Metschnikoffs, Robert Kochs, Schaudinns, Wassermanns, 242 H. Oldenburg an d. Prorektor d. Georg-August-Universität, 12.8.1914, zit. nach: Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen, S. 203 f. 243 Busse, Engagement oder Rückzug?, S. 229 f. u. Meldung, in: Coburger Zeitung, 13.9.1914 (Nr. 215). 244 Ausländer an deutschen Hochschulen, in: Badischer Beobachter, 1.10.1914 (Nr. 269). 245 Albert Neisser, Ausländerei und internationale Wissenschaft, in: Frankfurter Zeitung, 18.11.1914 (Nr. 320, Erstes Morgenblatt) u. Ders., Ausländerei und internationale Wissenschaft, in: Ders., Drei kleine Kriegsaufsätze, Breslau 1914, S. 12–23, hier S. 15 f.
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Ehrlichs Entdeckungen nationale, politische Angelegenheiten, oder vielmehr solche der ganzen Welt?«246 Er verband damit einen Blick über den Krieg hinaus. Von den Wissenschaftlern forderte er, »die schwere, freilich wenig dankbare und sicherlich vielen Anfeindungen ausgesetzte Aufgabe [zu] übernehmen, das Volk nicht nur auf die Möglichkeit, sondern sogar auf die Notwendigkeit hinzuweisen, […] nach dem Kriege mit diesen Feinden zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten.«247 Aus den vehementen Ausführungen Neissers ging gleichzeitig hervor, dass er sich gegen Eingriffe in seine beruflichen Zuständigkeitsbereiche, zu der die Anstellung von Assistenten gehörte, verwahrte. Denn die öffentlichen Pressedebatten hatten nicht nur eine politische Deutungshoheit, sondern auch universitäre Konsequenzen eingefordert. Seine selbstbewusste Haltung für die internationale Wissenschaft kann hierbei nur bedingt als Gegenrede zu patriotischen Erklärungen gelesen werden. Neisser hatte zu den 93 Unterzeichnern des Aufrufs an die Kulturwelt vom 4. Oktober 1914 gehört,248 in dem, befreit von Selbstzweifeln, die alliierten Vorwürfe deutscher Kriegsrechtsverletzungen in Belgien zurückgewiesen wurden. Er signierte ebenso die anschließende Erklärung der Hochschullehrer, die »deutsche Wissenschaft« und »preußischen Militarismus« als untrennbar verteidigte.249 Hochschulübergreifende einheitliche Standpunkte der Professorenschaft und daran anschließende Verhaltensweisen gegenüber den verbliebenen ausländischen Staatsangehörigen lassen sich somit kaum verallgemeinern. Differenzen über das Ausländerstudium durchzogen die Rektorate und Professorenkollegien sowie bisweilen das Handeln des Einzelnen. Verteidigte der Gießener Klinikdirektor Sommer ›deutschbaltische‹ Mitarbeiter noch im August 1914, verwehrte er später als Rektor der »Kurländerin« Cäcilie Katzenelsohn, die beteuert hatte in »Sprache, Erziehung und Gesinnung – nach Deutsche« zu sein, die Promotion.250 Seine Kollegen an der Medizinischen Fakultät der Universität München promovierten indes noch Monate nach der Kriegserklärung Japans an das Deutsche Reich japanische Staatsangehörige.251 Aus der Perspektive der ausländischen Studierenden musste diese Meinungs- und Verfahrensvielfalt letztlich willkürlich wirken. 246 Ebd., S. 20. 247 Neisser, Ausländerei und internationale Wissenschaft, S. 23. 248 Zur Genese des Aufrufes: Jürgen von Ungern-Sternberg u. Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996, S. 156–160. Zeitgenössisch abgedruckt u. a.: Aufruf »An die Kulturwelt«, in: Frankfurter Zeitung, 4.10.1914 (Nr. 275). 249 Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches (23.10.1914), Sonderdruck, Berlin 1914, S. 1. 250 Cäcilie Katzenelsohn an d. Phil. Fak. d. Universität Gießen, Nov. 1914, zit. nach: Maurer, Universitäten und ›Volksgemeinschaft‹, (Bd. 2) S. 785 u. vgl. ebd., S. 785 ff. u. 800–804. 251 Rudolf Hartmann, Japanische Studenten an deutschen Universitäten und Hochschulen 1868–1914, Berlin 2005, S. 13 f. u. 271 f.
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Studierende und Bürger/innen Nicht nur Kultus- und Unterrichtsminister sowie Professoren spielten im ersten Kriegshalbjahr in der Universitäts- und Schulpolitik eine wichtige Rolle. Ebenso nahmen außeruniversitäre Bürger/innen und inländische Studierende Einfluss auf die Debatten über das Ausländerstudium. Ihre national exklusive Anschauung führte beispielsweise Göttinger Studenten in das Rektoratszimmer. Ihr Protest gegen die Beteiligung russländischer Staatsangehöriger an einer Universitätsveranstaltung landete anschließend auf dem Tisch des preußischen Kultusministers, wurde dem Landtagsabgeordneten des Göttinger Wahlkreises vorgelegt und fand Eingang in die Zeitungsberichterstattung.252 Im Gegensatz zu den Wortführern der Göttinger Studentenschaft sorgten sich zur selben Zeit die im badischen Villingen internierten ausländischen Studenten, die der Technischen Hochschule in Karlsruhe angehört hatten, um ihre Gesundheit und die Fortsetzung ihres Studiums. Viele von ihnen hatten bereits mehrere Jahre in der badischen Hauptstadt gelebt und fanden sich nun herausgerissen aus ihrem Alltag in Sälen mit 40 Schlafstätten wieder. Sie richteten deshalb Eingaben an das Badische Innenministerium. Darin versicherten sie, genügend Geld zu besitzen und sich allen polizeilichen Vorschriften zu unterwerfen.253 Als ihnen diese Bitte Anfang Oktober 1914 erfüllt wurde, durften sie nach Karlsruhe zurückkehren. Doch dies sollte nicht unbemerkt bleiben. Ein aufgebrachter Einwohner Karlsruhes schickte sogleich seine Gedanken an die Lokalzeitung, die den Leserbrief abdruckte. »Allgemein ist die Erregung darüber, daß Anfang Oktober eine ansehnliche Zahl weiterer russischer, früher schon hier wohnhafter Studenten, also Angehörige der uns überfallen[d]en und unsere Ostprovinzen verwüstenden Nation hierher zurückkehren durften, frei herumlaufen und ihr Unwesen in sittenverderbender Beziehung fortsetzen dürfen. Die ihnen auferlegte tägliche Meldepflicht bei der Polizei ändert daran gar nichts, denn sie wohnen nach freiem Ermessen, verkehren frei in den Familien ihrer Gastgeber und setzen ihre freien Beziehungen zu den Töchtern unseres Volkes ungestört fort, und mißbrauchen die gewährte Gastfreundschaft.«254
252 Zum Fall Göttingen: Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen, S. 204 f. Zur Zeitungsberichterstattung: Zustände an einer »Deutschen« Universität, in: Freiberger Anzeiger, 17.10.1915 (Nr. 242), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3358, Bl. 89. Zitiert werden hierbei umfangreich die Braunschweiger Neueste Nachrichten. 253 Eingaben der Internierten in Villingen an d. Bad. MdI, 27.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 254 Unangebrachte Großmut gegen Russen, in: Karlsruher Tageblatt, 9.10.1914 (Nr. 280).
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Der Autor dieses Briefes musste mehr als die »drohende Verseuchung deutscher Art und Sittlichkeit durch diese slawischen Eindringlinge« inszenieren.255 Denn seine verächtliche Meinung von den ausländischen Studierenden teilten nicht alle Karlsruher. Einige waren entgegenkommende Gastgeber/innen und Liebhaber/innen. Die Polizeibeamten, so der Verfasser, schritten nicht gegen die Bewegungsfreiheit der Studierenden in der Stadt ein, und sie würden ebenso als Assistenten an der Hochschule beschäftigt. Der Autor des Briefes appellierte deshalb an »Behörden und Mitbürger«, seine Sichtweise zu teilen und die von ihm benannten Probleme zu lösen. Um zu überzeugen, machte er auf die ›dramatische‹ Lage der ›Deutschen‹ in Russland aufmerksam, erklärte die Sittlichkeit der Frauen für gefährdet und sorgte sich um »deutsche Dr.-Ingenieure«, die »stellenlos auf der Straße liegen«. Seine Worte mögen von einer »Erbitterung« und allgemeinen »Erregung« berichten, aber sie sind gleichsam eine kalkulierte Lobbyarbeit. Ihr Ziel war es, dass den ausländischen Studierenden, »Russen«, »keinerlei Bewegungsfreiheit unter unseren deutschen Mitbürgern und Frauen« gewährt werden sollte. Er forderte ihre Internierung. Als erste Reaktion auf den Leserbrief äußerte sich der Rektor der Technischen Hochschule gegenüber der Zeitung.256 Er beeilte sich zu versichern, dass bereits am 4. August 1914 aufgrund einer ministeriellen Weisung alle russländischen, serbischen und französischen, später alle ›feindlichen‹ Studierenden exmatrikuliert worden waren.257 Ausländische Assistenten, die die Staatsangehörigkeit eines feindlichen Staates besaßen, seien entlassen worden. Nur im Falle eines »Polen« hätte das Ministerium eine Ausnahme gewährt. »Ueber die Aufenthaltserlaubnis der früheren fremden Studierenden in Karlsruhe hat die Hochschule nicht zu entscheiden. Das Betreten der Hochschule und ihrer Institute ist ihnen aufs strengste untersagt«,258 endete die Zeitungsmeldung. Zwischen der Hochschulleitung und dem Karlsruher Wutbürger bestand offenbar eine nationale Meinungsübereinstimmung. Der abgedruckte Brief sorgte aber ferner innerhalb der badischen Administration für eine Auseinandersetzung über den Umgang mit ausländischen Studierenden. Hierbei berichtete der Karlsruher Oberamtmann Otto Weitzel (1876–?) dem Badischen Innenministerium über die Situation der russländischen Bürger/innen vor Ort.259 In Karlsruhe hielten sich zu dieser Zeit 99 von ihnen auf. Die meisten seien verheiratet, seit Langem in der Stadt wohnhaft und gingen einer regelmäßigen Beschäftigung nach. 32 von ihnen waren Studierende gewesen und besaßen die 255 Ebd. 256 Fremde Studenten in Karlsruhe, in: Karlsruher Tageblatt, 10.10.1914 (Nr. 281). 257 Laut Zeitungsmeldung waren im Sommersemester 1915 noch 102 und im Sommersemester 1917 83 »Reichsausländer« in Karlsruhe immatrikuliert. Siehe: Hochschulen, in: Badischer Beobachter, 26.7.1915 (Nr. 339) u. Hochschulen, in: Badischer Beobachter, 15.1.1918 (Nr. 24). 258 Fremde Studenten in Karlsruhe, in: Karlsruher Tageblatt, 10.10.1914 (Nr. 281). 259 Bad. BzA Karlsruhe (Polizeidirektion, gez. Otto Weitzel) an d. Bad. MdI, 10.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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»zum Unterhalt nötigen Geldmittel, die sie von Angehörigen aus Russland über das neutrale Ausland erhalten« hatten. Aus Sicht Weitzels seien sie »politisch nicht verdächtig«. »Sie treiben sich allerdings namentlich in den Abendstunden viel auf der Strasse und in Kaffees [sic] herum; doch wurde bis jetzt nicht beobachtet, dass ihr Verhalten in der Öffentlichkeit irgendwie anstössig war.« Wegen ihres »nicht völlig einwandfreien« Lebens unterlagen sie der Meldepflicht. Ihre Wohnungen wurden zweimal wöchentlich von Fahndern inspiziert. Diese Kontrollen hätten allerdings nichts Belastendes ergeben. So ausschweifend das Leben der Studenten sein mochte, so wenig bestanden Sorgen um die öffentliche Ordnung in Karlsruhe. Der Berichterstatter Weitzel antizipierte gleichwohl die kriegsbedingte Argumentation und den Gegenseitigkeitsduktus des Leserbriefes. »Immerhin scheint, wie aus dem erwähnten Artikel zu entnehmen ist, das Wiedererscheinen gerade der russischen Studenten in hiesiger Stadt in manchen Kreisen der Bevölkerung eine Misstimmung hervorgerufen zu haben, der eine gewisse Berechtigung insofern nicht abgesprochen werden kann, als bei uns eben die Ausländer, im Gegensatz zu den deutschen Staatsangehörigen im feindlichen Ausland, sich trotz strenger polizeilicher Kontrolle der grössten Bewegungsfreiheit erfreuen. Die Internierung der wehrfähigen Ausländer als Kriegsgefangene wäre das einzig Richtige und es wäre erwünscht, wenn die Militärbehörde die Unterbringung der Ausländer in einer Festung oder einem Lager nunmehr veranlassen würde.«260 Ohne das Vorhandensein eines akuten Konflikts und im sprachlichen Raum vieler Leserbriefkommentatoren erhob Weitzel die Forderung nach einer militärischen Internierung ausländischer Zivilisten. Bis dies geschehen würde, erfolgten innerhalb der Handlungsspielräume des Bezirksamtes Verbote. Die Polizeidirektion untersagte den ausländischen Studenten den Aufenthalt auf belebteren Plätzen und Straßen, ebenso wie den Besuch von Cafés und Vergnügungslokalen. Sie hatten zwischen acht Uhr Abends und sieben Uhr Morgens in ihren Wohnungen zu verbleiben und durften die Technische Hochschule weiterhin nicht betreten.261 »Bei den übrigen Ausländern, die tagsüber beruflich tätig sind, erscheint eine derartige Massnahme zunächst nicht geboten«,262 erläuterte Otto Weitzel. Die 260 Ebd. 261 Das Bad. Innenministerium bestätigte die getroffenen Maßnahmen und sah von einer Ausweisung der russländischen Staatsangehörigen aus Karlsruhe ab. Siehe: Bad. MdI (gez. v. Bodman) an d. Bad. Min. d. Kultus u. Unterrichts, 18.10.1914, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175 u. abschriftlich in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 57 f. u. Bad. MdI an d. Bad. BzA Karlsruhe, 18.10.1914, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 262 Bad. BzA Karlsruhe (Polizeidirektion, gez. Weitzel) an d. Bad. MdI, 10.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175.
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Studierenden und insbesondere die russländischen Staatsangehörigen erfuhren demnach eine Sonderbehandlung, wie sie der Karlsruher Leserbriefverfasser gefordert hatte. Im Bezirksamt wie im Rektorat der Hochschule hatte er Verbündete gefunden, und da keine generelle Internierung Wehrpflichtiger und -fähiger aus dem Russischen Reich seitens der Militärbehörden veranlasst wurde, waren die Maßnahmen in Karlsruhe auch 1916 noch in Kraft.263 Die Intervention in der Lokalpresse hatte letztlich Erfolg, weil sie innerhalb der Bezirksverwaltung auf eine positive Resonanz stieß. Die Argumente der einzelnen Akteure unterschieden sich. Sie verfolgten aber zwischen der Verteidigung der nationalen Ehre und Vergeltungsgedanken die gleichen Ziele. Feindliche Ausländer/innen sollten mithilfe von Freiheitsbeschränkungen aus der ›deutschen‹ Gesellschaft ausgeschlossen werden. Im Ergebnis wurde den russländischen Studierenden der Zugang zum öffentlichen und kulturellen Leben der Stadt und den universitären Bildungskreisen verwehrt. Die Diskussionen über das Verhalten russländischer Staatsbürger/innen in Karlsruhe fanden trotz der behördlichen Maßnahmen kein Ende. Ein Kaufmann beschwerte sich Anfang 1915 in der Badischen Landes-Zeitung über das selbstbewusste Auftreten eines »Russen«. Nach dem Einkauf in seinem Zigarrengeschäft hatte der ausländische Käufer vermutet, Falschgeld erhalten zu haben und rief daraufhin die Polizei. Der herbeigeeilte Beamte überprüfte gegen den Willen des Ladenbesitzers die Kasse. Der Betrugsverdacht bestätigte sich nicht, aber der Polizist hatte damit neue Auseinandersetzungen in der Lokalpresse über eine Russenfrechheit in Karlsruhe provoziert.264 Diesmal forderte ein redaktioneller Kommentar ein Ende »der Gutmütigkeit des deutschen Volkes und der Langmut seiner Behörden«. Es sei nicht länger zu dulden, »daß mitten unter uns Angehörige dieser feindlichen Staaten, Russen, Belgier, Engländerinnen und Französinnen frei und fast unbehelligt herumlaufen«.265 Die rhetorische Frage der Zeitungsmacher, wer in Karlsruhe noch daran denke, dass »Russen und Franzosen frei herumlaufen«, beantwortete der abgedruckte Leserbrief des Kaufmanns selbst. Erneut rief eine Auseinanderzeitung in der Zeitung den Leser/innen ins Gedächtnis, dass die Anwesenheit der Ausländer/innen im Krieg in Karlsruhe nicht selbstverständlich sein sollte. Die Grenzziehungen zwischen In- und Ausländer/innen mussten offenbar beständig aktualisiert und in Erinnerung gerufen werden. Die nationalen Forderungen nach alltäglichen und rechtlichen Unterscheidungen sprachen den ausländischen Staatsbürger/innen diesmal das Recht ab, die staatlichen Polizeiorgane anzurufen. Dies bedeutete wiederum nicht das Ende des Aushandlungsprozesses über den Umgang mit ihnen. 263 Bad. BzA Karlsruhe (gez. Weitzel) an d. Bad. MdI, 24.2.1916, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 264 Russenfrechheit in Karlsruhe, in: Badische Landes-Zeitung, 20.4.1915 (Nr. 181), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 265 Ebd.
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Bis Februar 1916 hatte sich die Zahl der ausländischen Studenten, die in Karlsruhe wohnten, nicht verringert, und die Bedenken des badischen Beamten Otto Weitzel bestanden fort. Er befürchtete noch immer »Unwillen« und »Erregung« seitens der Bevölkerung, sollten die Ausgegrenzten wieder am sozio-kulturellen Leben der Stadt teilnehmen.266 Deren Situation hatte sich aber entscheidend geändert. Viele von ihnen waren von Zahlungen ihrer Familien im Ausland abhängig. Reichte ihr Geld nicht aus, um sich selbst zu versorgen, drängte sie die Bezirksverwaltung zur Aufnahme einer Beschäftigung. »Soweit sie nicht über eigene Mittel verfügten, haben wir ihnen, wenn sie es freiwillig nicht taten, unter Androhung ihrer Abschiebung in ein Gefangenenlager die Auflage gemacht, in eine geeignete Arbeitsstelle einzutreten«, erklärte Weitzel seinen Vorgesetzten.267 Um der beruflichen Tätigkeit ohne Einschränkungen nachgehen zu können, wurden nun »regelmäßig Erleichterungen« gewährt. Der Ausgrenzung aus den öffentlichen Räumen der Stadt stand somit ihre zumindest teilweise Integration als »Techniker, Zeichner, Bürogehilfen und Arbeiter« in die Räume der Arbeit gegenüber. Damit endete ihr Status als Studenten. Im Gegensatz zu ihren Karlsruher Kommilitonen, von denen nur wenige im Barackenlager im badischen Villingen interniert worden waren, befanden sich alle ausländischen Studierenden und einige Hochschulmitarbeiter der Technischen Hochschule Mittweida268 bis Mitte September 1914 in den sächsischen Gefängnisanstalten Sachsenburg und Hohenheim.269 Im Zuge dessen kam es in der sächsischen Hochschulstadt mehrmals zu Festnahmen und anschließenden Entlassungen der Betroffenen,270 die eine Fortsetzung ihres Studiums wieder möglich erscheinen ließen. Am 3. August hatte der Direktor des Technikums, Alfred Holzt (1859–1945), sie noch zu einem unauffälligen Verhalten ermahnt. »Jede Parteinahme, lautes Sprechen in fremden Sprachen, Lachen oder Singen auf den Straßen, sowie der Aufenthalt und das Herumziehen in grösserer Zahl werden von dem Publikum leicht als Demonstration aufgefasst und sind deshalb in so
266 Bad. BzA Karlsruhe (gez. Weitzel) an d. Bad. MdI, 24.2.1916, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 267 Ebd. 268 1900 besuchten mehr als 1700 Studierende das Mittweidaer Technikum, wovon fast 40 Prozent aus dem Ausland kamen. Zur Geschichte der Stadt und des Technikums: Marion Stascheit u. Werner Stascheit, Die Technikum- und Hochschulstadt Mittweida, in: Stadtverwaltung Mittweida (Hg.), Heimatbuch Mittweida, Neumark 1999, S. 42–77, hier S. 48. Unter den Internierten befand sich ebenfalls der stadtbekannte russländische Optiker und Hochschullehrer Bernhard Schmidt (1879–1935). Zu Bernhard Schmidts Leben in Mittweida während des Krieges siehe: Barbara Dufner, Den Himmel fest im Blick. Eine wissenschaftliche Biografie über den Astro-Optiker Bernhard Schmidt, Stuttgart 2002, S. 74–81. 269 Sächs. KM an d. Sächs. MdI, 2.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 6 u. StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 270 Stadtrat Mittweida an d. Sächs. MdI, 19.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 189 f.
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schwierigen Zeiten zu unterlassen.«271 Eingeschrieben in den Matrikeln waren zu dieser Zeit 255 russländische, sechs britische, fünf belgische, fünf serbische und zwei französische Staatsangehörige.272 Die Lehrveranstaltungen sollten weiterhin für sie geöffnet bleiben. Allerdings führte dies bei inländischen Studenten zu erheblichem Unmut. Daraufhin entschied Ende August die Hochschulleitung zusammen mit Bürgermeister Hektor Freyer (1865–1948), einen separaten Unterricht für Ausländer anzubieten. Ein ›deutscher‹ Student berichtete hiervon der Chemnitzer Allgemeinen Zeitung. »Ins Arbeitshaus mit dieser Gesellschaft, aber nicht ins Technikum, wo deutsche Männer herangebildet werden«,273 teilte er voller Zorn mit und erreichte sein Ziel. Allein die öffentliche Resonanz auf die Zeitungsmeldung war erheblich. Denn nicht nur die Vertreter des Sächsischen Kriegsministeriums und der Kreishauptmannschaft Leipzig verlangten Aufklärung.274 Ebenso thematisierte die reichsweite wie regionale Presse die Entscheidung zugunsten der ausländischen Studenten.275 Dieses Vorgehen missbilligend, vermuteten die Redakteure des Freiberger Anzeigers darin vor allem den Wunsch des Bürgermeisters auf Einnahmen, »die aus dem längeren Aufenthalt der Fremdlinge erwachsen könnten«.276 Darüber hinaus forderten ein Leser des Artikels und die Landwehr-Inspektion Chemnitz den Mittweidaer Stadtrat auf, sich zu rechtfertigen. An ihrer Ablehnung des umsichtigen Vorgehens des Bürgermeisters und des Rektors ließen sie keine Zweifel.277 Aufgrund der studentischen wie öffentlichen Proteste stellte die Hochschulleitung den Unterricht für Ausländer bereits am 1. September ein,278 und zwei Tage später untersagte die zuständige Kreishauptmannschaft mit Sitz in Leipzig ebenfalls das Ausländerstudium.279 Dies entsprach dem Vorgehen an anderen Universitäten im Deutschen Reich. Bereits am 5. August 1914 wurden ausländische 271 Bkm. d. Direktion d. Technikums Mittweida, 3.8.1914, in: Hochschule Mittweida – Historisches Archiv, 14.9./Bekanntmachungen 1915–1925. 272 Stadtrat Mittweida (gez. Freyer) an d. Sächs. MdI, 1.9.1914, (Ent.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 273 Die Russen in Mittweida, in: Chemnitzer Allgemeine Zeitung, 2.9.1914 (Nr. 203), Ztga. in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 274 Sächs. KM an d. Sächs. MdI, 2.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 6. 275 Die Russen in Mittweida, in: Deutsche Tageszeitung, 5.9.1914 (Nr. 450), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 235 (Zusammenfassung mehrerer Meldungen regionaler Zeitungen) u. Die Russen in Mittweida, in: Chemnitzer Allgemeine Zeitung, 2.9.1914, Ztga. in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 276 Die Russen in Mittweida, in: Deutsche Tageszeitung, 5.9.1914 (Nr. 450), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 235 (hier zitiert Freiberger Anzeiger). 277 Conradi an d. Stadtverordnetencollegium Mittweida, 2.9.1914, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29 u. Landwehr-Inspektion Chemnitz an d. Stadtrat Mittweida, 2.9.1914, in: Ebd. 278 Bkm. d. Direktion d. Technikums Mittweida, 1.9.1914, in: Hochschule Mittweida – Historisches Archiv, 14.8./Bekanntmachungen 1906–1914. 279 Beschluss d. Sächs. KrhM Leipzig (gez. Burgsdorff) an d. Stadtrat Mittweida, 3.9.1914, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29.
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Studenten der Universität Heidelberg zwangsexmatrikuliert, bis Anfang September betraf dies beispielsweise auch ihre Kommilitonen in Jena, Gießen und Göttingen.280 Die zeitgleich in Mittweida stattgefundene Internierung hatte aber nichts mit der öffentlichen Empörung oder dem Verhalten der Ausländer zu tun. Die städtische Polizeidirektion setzte lediglich eine Anordnung des Großen Generalstabs der Armee vom 28. August 1914 um, die nur wenige Tage gültig blieb.281 Die Proteste und die abwehrenden Reaktionen innerhalb der Bürgerschaft prägten aber offenbar die weitere Haltung der Stadtvertreter nachhaltig. Sie reagierten auf das Ansinnen des Sächsischen Innenministeriums, die Rückführung der ehemaligen Studenten zu veranlassen, äußerst zurückhaltend. Hierbei argumentierten sie mit der »frühere[n] Erregung der Einwohnerschaft« und stuften die Sicherheit der Ausländer als gefährdet ein.282 Als Anfang 1915 seitens des stellvertretenden Generalkommandos abermals eine Entlassung der Internierten zur Sprache gebracht wurde,283 lehnte der Stadtrat dies erneut ab. In ihrem Beschluss hielten die Stadtvertreter unter anderem fest, dass »bei der nervösen Gereiztheit unserer Bevölkerung« fortwährend mit Klagen wegen »Spionage und dergl.« zu rechnen sei.284 »Dazu kommt als Hauptbedenken, dass trotz aller genauen Erörterungen unter den etwa Freizulassenden doch Elemente sind, die ihre Freiheit zu benutzen versuchen werden, um entweder in der extremen Arbeiterschaft zu agitieren, oder auch Spionage selbst zu betreiben oder solcher gewerbsmässiger Spione Vorschub zu leisten.« Eine Überwachung sei durch das reduzierte Polizeipersonal »kaum durchführbar«. Die Stadtverordneten gaben zudem zu bedenken, dass die ehemaligen Studierenden aufgrund einer ministeriellen Bekanntmachung das Technikum nicht besuchen könnten und demzufolge arbeitslos wären. Der Widerstand des Stadtrates wurde vom zuständigen stellvertretenden Generalkommandeur, Hermann von Broizem, und dem sächsischen Innenminister, Christoph Vitzthum von Eckstädt, zurückgewiesen. Ersterer stellte eine gute Führung, Mittel zum Lebensunterhalt, Bezahlung etwaiger Schulden und politische Unverdächtigkeit als Kriterien für eine Rückkehr auf.285 Letzterer teilte den Vertretern der Stadt mit, dass sie »sich der Wiederaufnahme der Studenten umsoweniger [sic] entziehen können, als diese vor Ausbruch des Krieges in Mittweida gewünscht und wohlgelitten waren und eine nicht zu unterschätzende Bedeutung
280 Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen, S. 201 f. 281 Großer Generalstab an d. Sächs. KM, 28.8.1914, (Telegramm, Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 123 u. darauf bezugnehmend: Sächs. KM an d. Sächs. MdI, 2.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 6. 282 Stadtrat Mittweida an d. Sächs. MdI, 19.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 189 f. 283 Stv. Gkdo. XII. AK (gez. v. Broizem) an d. KrhM Leipzig, 5.1.1915, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 30. 284 Beschluss d. Stadtrates Mittweida, 14.1.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2818, Bl. 39 f. 285 Stv. Gkdo. XII. AK an d. Sächs. MdI, 17.2.1915, in: HStA Dresden, 10736/3349, Bl. 186.
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für das wirtschaftliche Leben der Stadt hatten«.286 Neben diesen beiden institutionellen Akteuren engagierten sich weitere Personen für die Rückkehr der ausländischen Studenten und Technikumsmitarbeiter. Sie wirkten außerhalb öffentlicher Foren und skizzierten ein ›leises‹ Bild der Solidarität mit den Internierten. Der Vertrauensmann der Spanischen Botschaft in Dresden, Victor Rubin, trat Befürchtungen der Stadtvertreter entgegen, die Ausländer könnten der städtischen Armenkasse zur Last fallen. Er versicherte, dass sie nicht nur genügend Barmittel hätten, sondern ferner durch das eingerichtete Hilfskomitee in Dresden unterstützt würden.287 Weiterhin verfassten Väter und die in Mittweida wohnenden Ehefrauen einiger Internierter Eingaben, die auf ihre soziale und emotionale Bindung zur Stadt aufmerksam machten.288 Freunde, Gehilfen und Hauswirte warben gleichermaßen um eine baldige Entlassung.289 Schließlich sprach sich die Einwohnerin Lina Oehme im »Namen vieler Mittweidaer Einwohner« gegenüber dem Sächsischen Innenministerium für eine Rückkehr der ausländischen Staatsangehörigen aus. Sie erbat außerdem die erneute Öffnung der Hochschule für ausländische Studierende. Im Blick hatte sie dabei vor allem deren wirtschaftliche Bedeutung für das Mittweidaer Gastgewerbe.290 Die Ausländer erhoben nicht zuletzt selbst ihre Stimme gegen die Internierung. Sie verfassten Eingaben an militärische und zivile Verwaltungsbehörden, Gesandtschaften und Konsulate.291 Exemplarisch sei aus Simon Dubrowinskys (1894–?) Schilderung zitiert, der bei der Moskauer Zweigfiliale der Siemens-SchuckertWerke GmbH angestellt war und zur technischen Ausbildung seit dem Wintersemester 1913/14 am Technikum studiert hatte. »In den Sommerferien unternahm ich mit meiner Frau und meiner Tochter […] eine Erholungsreise ins Erzgebirge, wo in Annaberg mich der Ausbruch des Krieges traf. Am Tage des Kriegsausbruches wurde ich, sowie meine Frau in Untersuchungshaft genommen, wo ich zwei Wochen den Bescheid der Mittweidaer Behörden über mich abwarten mußte. Auf Grund dieses Bescheides und auf Anordnung des Generalkommandos des XIX. Armeekorps wurde ich freigelassen und es wurde mir der beigelegene Schein ausgehändigt. Nach 286 Stv. Gkdo. XII. AK (gez. v. Broizem) an d. Sächs. MdI, 17.2.1915, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 30 u. Sächs. MdI (gez. Vitzthum) an d. Sächs. KrhM Leipzig, 19.2.1915, (Abs.) in: Ebd. 287 Victor Rubin an d. Stadtrat Mittweida, 12.2.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 30 u. Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 16.3.1915, in: HStA Dresden, 11348/2818, Bl. 198 f. 288 Z. B.: Wicklandt an d. Sächs. MdI, 3.10.1914, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29 u. Marie Ackerberg an d. Sächs. KM, 1.10.1914, (Abs.) in: Ebd. 289 Z. B.: Gotthilf Profe an d. Sächs. KM, 16.9.1914, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29 u. Curt Steinbach an d. Direktion d. Gefangenen-Anstalt Sachsenburg, 25.9.1914, (Abs.) in: Ebd. 290 Lina verw. Oehme an. d. Sächs. MdI, 18.6.1915, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 35a. 291 Eine Vielzahl an Gesuchen findet sich in: HStA Dresden, 11348/2841.
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Durchsicht dieses Scheines wurde mir auf der Polizeiwache Mittweida gesagt, daß ich ›ganz ruhig in Mittweida wohnen‹ kann. Kurz darauf wurde mir vom Mittweidaer Stadtrat ein Erlaubnisschein betreffend der Heimreise meiner Frau ausgeliefert. Am folgenden Tage nach der Abreise meiner Frau [5. September 1914] wurde ich, samt übrigen, wieder in Haft genommen.«292 Dubrowinsky kehrte nicht in die Hochschulstadt zurück, sondern verzog nach seiner Entlassung in das sächsische Zwickau.293 Ebenfalls am 5. September wurde Jaan [auch Johann] Ackerberg (1884–?), Vater zweier Kinder, in der Landesanstalt Sachsenburg interniert.294 Er hatte zuvor bereits seine Untersuchungshaft im Gefängnis in Waldheim verbracht. Den Mittweidaer Bürgern war er durch seinen Fotoapparat aufgefallen.295 Nach seiner Rückkehr in die Stadt hielt es ihn dort nicht lange. Er fand im Oktober 1915 bei den Elektrizitätswerken in Eschwege eine neue Anstellung.296 Er war nicht der Einzige der Zurückgekehrten, die während des Krieges eine Arbeit aufnahmen.297 Mindestens fünf Mittweidaer Studierende russländischer Staatsangehörigkeit fanden darüber hinaus einen Weg ihr Studium im Deutschen Reich fortzusetzen. Am 6. Mai 1915 richtete Jahn Wicklandt folgende Bitte an die Militärbehörde. »Ich bin ein Balte aus Livland, 29 Jahre alt, Evang.-Luth., verheiratet und seit 1913 in Mittweida, woselbst ich das Technikum besuchte. Nun wünsche ich aber meine Studien auf der Ingenieur-Akademie zu Wismar zu beendigen. Zu diesem Zwecke bitte ich meiner Frau und meinem 8-monatlichen Sohn die Erlaubnis zur Übersiedlung nach Wismar gütigst erteilen zu wollen, da in diesem Falle meine[r] Aufnahme an der Ingenieur-Akademie nichts entgegenstehen wird.«298 Das für Wismar zuständige stellvertretende Generalkommando des IX. Armeekorps beschied, keine Bedenken gegen die Übersiedlung zu haben.299 Dieser Handlungsspielraum öffnete sich für die Studierenden, weil an der Ingenieur-Akade292 Simon Dubrowinsky (Sachsenburg) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 18.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2822, Bl. 45 f. 293 Verzeichnis der in der Landesanstalt Sachsenburg untergebrachten ehemaligen Studierenden des Technikums Mittweida, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 30. 294 Jaan Ackerberg (Sachsenburg) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 17.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2822, Bl. 22. u. Marie Ackerberg an d. Sächs. KM, 1.10.1914, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 295 Bericht d. Pol.-Insp. Lehrmann, 3.10.1914, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 29. 296 Jaan Ackerberg an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 1.11.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 41. 297 Roman Juschkewitsch an stv. Gkdo. XIX. AK, 19.10.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 41. 298 Jahn Wicklandt an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 6.5.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 37. 299 Vorgang Anfrage Jahn Wicklandt an d. stv. Gkdo. IX. AK, 4.5.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 37.
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mie mit militärischer Zustimmung eine nationale Unterscheidung der Bürger des Russischen Reiches vorgenommen wurde. Das Sekretariat der Hochschule hatte auf eine Anfrage Leonid Simonoffs geantwortet, dass »Juden, Finnländer, Polen, Deutschrussen etc. hier studieren« könnten und »vorläufig nur sogenannte Stockrussen oder Nationalrussen« ausgeschlossen seien.300 Der Stadtrat wie die Technikumsdirektion mussten diesen Umstand zähneknirschend akzeptieren.301 In Wismar existierte folglich eine andere Grenzziehung zwischen den Ausländer/innen als in Mittweida. Die russländische Staatsangehörigkeit zeitigte nicht für alle ihre Passinhaber/innen die gleichen Konsequenzen. In der Hansestadt wurde die rechtliche Staatsbürgerschaft an ihren nationalen Rändern verhandelbar. Solche Differenzierungen fanden sich in Gestalt von Ausnahmeregelungen ebenso in anderen Armeekorpsbereichen und Bundesstaaten wieder. Diese konturierten das von Ministerialdirektor Theodor Lewald zum Prinzip erhobene »deutsche Interesse« und setzten es um. Davon profitieren konnten besonders Akteursgruppen, denen Sympathien und Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich unterstellt wurden. Ausnahmen von der restriktiv-nationalen Bildungspolitik galten im Königreich Sachsen »im allgemeinen für Kinder von Balten […], die nicht durch Zugehörigkeit zur russisch-orthodoxen Kirche dem russischen Staate enger verbunden sind und im russischen Staats- oder Heeresdienste weder stehen noch gestanden haben«.302 Ebenso empfahl das Auswärtige Amt »tunlichste Berücksichtigung« der politischen Position der Deutsch-Armenischen Gesellschaft.303 Da die »in Deutschland lebenden Armenier« »mit ihren Sympathien keineswegs auf Seiten Rußlands stehen«, sollten nach den Worten des Vorstandes der Gesellschaft die »russischen Armenier nicht nach demselben Maßstabe wie die Russen behandelt werden«. Er forderte deshalb, »[d]aß die an deutschen Universitäten studierenden Armenier zur Immatrikulation zugelassen werden«.304 Im Rahmen eines investigativen Artikels im Berliner Tageblatt wurde allerdings im Frühjahr 1915 öffentlich beklagt, dass »Zwangsrussen« wie »die Deutschen der Ostseeprovinzen und des Reiches, die Finnen, die Polen, die Juden; die Armenier und Mohammedaner des Südens« bei Einzelfallentscheidungen durch 300 Sekretariat d. Ingenieur-Akademie Wismar (gez. i. A. Butow) an Leonid Simonoff, 3.6.1915, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 35a. 301 Stadtrat Mittweida an d. Sächs. KrhM Leipzig, 29.11.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 35a. 302 Sächs. Min. d. Kultus u. öffentlichen Unterrichts an d. Kommissionen d. höheren städtischen Schulen, d. Inspektionen d. Fürsten- u. Landesschulen, d. Direktionen d. staatlichen höheren Lehranstalten u. d. Kommissionen für d. höheren Privatlehranstalten, 14.11.1914 u. 17.11.1914, in: HStA Dresden, 10736/3351, Bl. 10 u. 15. 303 AA (gez. Kriege) an d. Sächs. Min. d. Auswärtigen Angelegenheiten, 7.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 19. 304 Deutsch-Armenische Gesellschaft an d. AA, 2.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 20.
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das Preußische Kultusministerium kaum berücksichtigt würden.305 Während Studierende, deren Eltern sich im Deutschen Reich niedergelassen hatten und die kurz vor ihrer Einbürgerung standen, ihr Studium wiederaufnehmen könnten, lasse es der preußische Kultusminister, August von Trott zu Solz (1855–1938), an »politischer Klugheit« vermissen. Die Kriegsräson sollte sich des Wohlwollens jener sichern, »die durch ihre engen Beziehungen zum Zarenreich in der Lage sind, dort eine für Deutschland günstige Stimmung wenigstens in engeren Kreisen hervorzurufen«. Die Journalisten zitierten aus einer Stellungnahme, die der Kultusminister gegenüber dem Auswärtigen Amt abgegeben hatte. »Angehörige der Staaten, die Krieg gegen uns führen,« hieß es darin, »[sind] vom Besuch der Universitäten ausgeschlossen worden […]. Dabei ist vorbehalten worden, Ausnahmen zu machen. Solche Ausnahmen können aber nicht allgemein, sondern nur dann zugestanden werden, wenn die Prüfung des einzelnen Falles sie angezeigt erscheinen läßt, was auch wiederholt schon zu Ausnahmen geführt hat.« Die Einzelfallentscheidungen hatten einen weiten Ermessensspielraum eröffnet, der in hohem Maße für politische Interventionen empfänglich war. Im Zeitungsartikel wurde eine Zulassungspraxis eingefordert, die August von Trott zu Solz zuvor gegenüber dem Auswärtigen Amt zurückgewiesen hatte. Seine Bildungspolitik in Bezug auf feindliche Ausländer/innen hatte demnach nicht nur eine nationale Schließung des Bildungszugangs zur Folge, sondern führte ebenfalls die öffentliche Diskussion über die Studienzulassungen ausländischer Staatsangehöriger mit nationalen Argumenten fort. Neben den von Trott zu Solz nicht offengelegten Gründen verteidigte er indes seine institutionelle und politische Deutungshoheit über einzelne (un-)erwünschte Studierende. Allgemeinere Ausnahmen galten allerdings für US-amerikanische Staatsangehörige, die sich nach der Kriegserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika in Deutschland aufhielten. »[M]it Rücksicht auf die zahlreichen, in Amerika befindlichen Deutschen« ermahnte der badische Innenminister die Großherzoglichen Bezirksämter, die Bestimmungen für die feindliche Staatsbürger/innen »nicht zu streng« anzuwenden. Neben allgemeinen Erleichterungen bei der Meldepflicht sollten besonders Personen Berücksichtigung finden, »die von deutschen Eltern stammen, einen deutschen Namen tragen und seit längerer Zeit wieder in Deutschland wohnen«.306 Im benachbarten Württemberg wurde der peruanische Staatsangehörige César Vijil nach der Kriegserklärung seines Landes nicht exmatrikuliert, weil es »vom politischen Standpunkt« nicht »erwünscht« schien.307 Für Preußen war diese Ausnahmeregelung zur gleichen Zeit auf die Staatsbürger/innen Bra305 Das preußische Kultusministerium und die »Zwangsrussen«, in: Berliner Tageblatt, 19.12.1914 (Nr. 645, Abendausgabe). 306 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzÄ, 12.5.1917, in: GLA Karlsruhe, 236/23189. 307 Württ. Min. d. Kirchen- u. Schulwesens (gez. Habermaas) an d. akademische Rektoramt Tübingen, 15.11.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826, Bl. 6.
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siliens, Ecuadors und Uruguays ausgedehnt worden.308 An der Universität Göttingen konnten ebenso Buren und Inder, die einen britischen Pass besaßen, ihr Studium fortsetzen.309 Diese vielfältigen bundesstaatlichen Ausnahmeregelungen zeitigten indes weitreichende Folgen. Denn sie schränkten die Entscheidungsund Handlungsspielräume der Universitätsrektorate ein. Im Zuge dessen teilte der württembergische Kultusminister im Sommer 1918 den Rektoren mit, dass Immatrikulationsgesuche von Ausländer/innen fortan dem Ministerium zur Entscheidung vorgelegt werden müssten.310 Russländische Staatsangehörige polnischer Nationalität sahen sich meist bei der Genehmigung von Ausnahmen übergangen. Ministerialdirektor Theodor Lewald wies im Oktober 1914 explizit darauf hin, dass es keine Unterschiede »in der Behandlung von Russen und Polen russischer Staatsangehörigkeit« geben solle.311 1916 fand diese Leitlinie nochmals Bestätigung. Gleichwohl wurde sie durch politische Zugeständnisse eingeschränkt. Denn die Reichsleitung erlaubte »in weitem Umfang« Kindern, deren Eltern »in Russisch-Polen staatsangehörig« waren und die mit polizeilicher Erlaubnis im Inland arbeiteten, den Besuch der Volksschulen. Im Oktober 1917 folgte die gleichmäßige Umsetzung dieser Regelung im ganzen Deutschen Reich und war fortan ebenso in Württemberg nicht mehr von einer zumindest beantragten Einbürgerung abhängig.312 Studierende, die vor 1918 Angehörige des Russischen Reiches waren, hatten es ungleich schwerer. Neben Esten, Litauern und Polen betraf dies ebenso jüdische Osteuropäer/innen. Eine Immatrikulationsgenehmigung sollte nur »ausnahmsweise« erteilt werden, wenn die Verwaltungsbehörden in den besetzten Gebieten »besonderen Wert« darauflegten. Zudem mussten die Antragssteller/innen ihren Gesuchen Stellungnahmen beziehungsweise Führungszeugnisse der dortigen Verwaltungschefs vorlegen.313 Trotzdem zählte die Humboldt-Universität Berlin im Sommer 1918 28 immatrikulierte ›Polen‹.314 308 Preuß. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten (gez. Bussche) an d. Minister d. geistlichen u. Unterrichts-Angelegenheiten, 22.10.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826, Bl. 7. 309 Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen, S. 215. 310 Württ. Min. d. Kirchen- u. Schulwesens (gez. Karl v. Fleischhauer [1852–1921]) an d. Rektoren d. Universitäten Tübingen u. Stuttgart u. d. Direktor d. Anstalt Hohenheim, 28.5.1918, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826. 311 Reichskanzler, (RAdI, gez. Lewald) hier an d. Bad. Min. d. Großhzgl. Hauses, d. Justiz u. d. Auswärtigen, 21.10.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23189. 312 Reichskanzler (RAdI, gez. Lewald) an u. a. sämtl. Bundesregierungen, 1.6.1916, in: GLA Karlsruhe, 236/23189 u. Württ. Min. d. Kirchen- u. Schulwesens (gez. Habermaas) an d. Evangelischen u. d. Katholischen Oberschulrat, 19.10.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826, Bl. 5. 313 Württ. Min. d. Kirchen- u. Schulwesens (gez. v. Fleischhauer) an d. Rektoren d. Universitäten Tübingen u. Stuttgart u. d. Direktor d. Anstalt Hohenheim, 28.5.1918, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826. 314 Maurer, Universität und ›Volksgemeinschaft‹, (Bd. 2) S. 782.
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Waren bereits nach der Entlassung aus den Gefängnissen nicht alle russländischen Staatsangehörigen nach Mittweida zurückgekehrt,315 so zogen in den folgenden Monaten viele aus der Stadt weg. Ende 1915 hielten sich noch circa 40 von ihnen in Mittweida auf.316 Ein Kommentator in der Chemnitzer Allgemeine Zeitung begrüßte diesen Zustand und warnte davor, nach Kriegsende die Hochschulen wieder für Ausländer zu öffnen.317 Für den Mittweidaer Stadtrat bedeuteten die anwesenden ausländischen Staatsangehörigen dennoch weiterhin einen Konfliktherd. Das ›Publikum‹ beobachtete einerseits ununterbrochen und aufmerksam die nationalisierte Hochschulpolitik. Anderseits stellte sich der von Bürgermeister Freyer stets betonte Wirtschaftsfaktor, den die Ausländer gebildet hatten,318 im Krieg als durchaus ambivalent heraus. Denn die »bitterste Not« der Vermieter linderten sie nur, solange sie selbst über ausreichende Barmittel verfügten. Als Ende 1916 die in Mittweida wohnhaften rumänischen Staatsangehörigen keine Unterhaltszahlungen ihrer Regierung mehr empfangen hatten, sie Schulden machen mussten und gezwungen waren, Kredite aufzunehmen, empfahl der Stadtrat deshalb, sie durch die Militärbehörde internieren zu lassen.319 Die umfängliche Exmatrikulation ausländischer Studierender und ihr kriegsbedingter Auszug aus den Universitäten führten keineswegs zu einer Relativierung ihres Gefährdungspotenzials. Der Chef des stellvertretenden Generalstabes der Armee warnte im Oktober 1917 davor, dass der »feindliche Nachrichtendienst den Besuch deutscher Hochschulen (Universitäten, technischen Hochschulen, Technika usw.) durch Ausländer für seine Zwecke ausnützt, indem er Studenten für sich gewinnt, durch diese sich Nachrichten aus Deutschland verschafft oder seine eigenen Agenten unter dem Decknamen von Studierenden nach Deutschland
315 Victor Rubin an d. Stadtrat Mittweida, 14.4.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 37. 316 Bericht d. Kriminal-Wachtmeisters Max Langer, Polizeiamt Chemnitz, 28.12.1915, (Abs.) in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 35a. 317 Zur Ausländerfrage, in: Chemnitzer Allgemeine Zeitung, 12.2.1916 (Nr. 35), Ztga. in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 41. 318 Stadtrat Mittweida an d. Sächs. KrhM Leipzig, 3.7.1915, in: StdA Mittweida, A2 IV. I. Nr. 35a. 319 Stadtrat Mittweida (gez. Freyer) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 21.11.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3353, Bl. 131. Der Kriegseintritt Rumäniens gegen Österreich-Ungarn datierte auf den 27. August 1916. Eine Internierung wehrpflichtiger oder -fähiger rumänischer Staatsbürger erfolgte mit Bekanntmachung des Preußischen Kriegsministeriums am 10. Oktober 1916 beschränkt auf den Bereich des Oberkommandos in den Marken. Siehe: Preuß. KM, betr. Rumänen in Dtl., an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., 10.10.1916, in: HStA Dresden, 10736/3353, Bl. 86. Am 18. Januar wurde diese Bkm. auf das Deutsche Reich ausgedehnt. Siehe: Preuß. KM, betr. Rumänen, 18.1.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3353, Bl. 138 f. Am 1. Dezember 1916 registrierte das Preuß. Kriegsministerium 463 rumänische Staatsangehörige im Zivilinternierungslager Holzminden. Siehe: Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Bestandsnachweisung d. Zivilgefangenenlager, an d. Reichskanzler, RAdI, 6.9.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112370, Bl. 325 ff.
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hereinbringt«.320 Militärische Akteure nahmen die höheren Bildungseinrichtungen fortwährend als zivile Kriegsschauplätze wahr, in denen nicht nur nationales Selbstwertgefühl verhandelt wurde, sondern ebenso nachrichtendienstliche Siege über die Gegner errungen werden konnten. Ihr Misstrauen gegenüber nicht-deutschen Studierenden blieb erhalten. Der Status des Studenten hatte für feindliche Ausländer/innen folglich eine weitreichende Bedeutung. Zum einen sahen sie sich systematisch aus dem Universitätsalltag ausgeschlossen. Zum anderen wurden sie durch die städtische Bevölkerung argwöhnisch beobachtet. Viele Studierende versuchten, der umfassenden Ausgrenzung vor allem mit Eingaben an staatliche Behörden zu begegnen. Aber ebenso wie Presseproteste im Russischen Reich gegen den Umgang mit ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten zeitigten diese keinen Einfluss auf die Hochschulpolitik.321 Erst ihre Zugehörigkeit zu besonders hofierten Akteursgruppen wie den Deutsch-Balten oder den Armeniern konnte ihnen während des Krieges durch Einzelfallentscheidungen eine Rückkehr zum Studium ermöglichen. Indes zog meist nur der Studienabbruch und der Wechsel in die Arbeitswelt eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nach sich. Der Krieg bedeutete für das Ausländerstudium im Deutschen Reich somit eine Zäsur. Nach den Vorstellungen der Vertreter der deutschen Bundesstaaten und Österreichs auf den Hochschulkonferenzen 1916 und 1918 sollten deren Folgen über das Kriegsende hinaus Bestand haben. Die Bildungs- und Kulturpolitiker diskutierten seit September 1916 über die Fragen und Probleme der Immatrikulation ausländischer Student/innen in der Nachkriegszeit. Der Abgesandte des Großherzogtums Baden gab dabei zu Protokoll, dass »Baden befürwortet, die Angehörigen des jetzt feindlichen Auslands bis auf weiteres grundsätzlich – vorbehaltlich von Einzelausnahmen – von den Hochschulen auszuschließen«.322 Seine bayerischen und preußischen Kollegen zögerten vor einer derartigen Positionierung. Letztere hielten den »völligen Ausschluß ausländischer Studierender […] aus politischen Gründen [für] nicht durchführbar und auch nicht angemessen«. Der Uneinigkeit folgte zwei Jahre später, im September 1918, die nüchterne Abwägung einer möglichen zivilen Nachkriegspolitik. Die weitergehenden Forderungen des Chefs des Generalstabes des Feldheeres, der eine hermetische Abschottung der Universitäten favorisierte, wiesen die Bildungsverantwortlichen zurück.323 Im Kern lautete der Konsens: 320 Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen u. d. Statthalter Elsaß-Lothringens, 29.10.1917, in: StA Hamburg, 111–2, L z 40. 321 Bericht d. Auswärtigen Auslandsnachrichtenstelle, 23.7.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 1 u. Maurer, Weder Kombattanten noch Kommilitonen, S. 192. 322 Protokoll d. Hochschulkonferenz in Rothenburg o.T., 22./23.9.1916, in: Hochschulpolitik im Föderalismus, Protokoll 16, S. 299–314, hier S. 304. 323 Minister d. geistlichen u. Unterrichts-Angelegenheiten (gez. Schmidt) an d. Chef d. Generalstabes d. Feldheeres, 23.7.1918, in: BArch Berlin, R 901/81091, Bl. 12 f.
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»Den Ausländern soll durch ihre Ausbildung an deutschen Universitäten keine Waffe im Wirtschaftskampf gegen Deutschland geliefert werden. Die Universitätsausbildung auf Deutsche zu beschränken, ist nicht möglich, da die Ergebnisse des Studiums dem Auslande doch bekannt werden.«324 Aus diesen politischen Rahmenbedingungen gingen noch während des Krieges Bestimmungen hervor, in denen die Bildungsminister einen »Mittelweg« formulierten.325 Demgemäß erfolgte »die Zulassung als Ausnahme, soweit die berechtigten Ansprüche der deutschen Studentenschaft und sonstige deutsche Interessen dadurch nicht beeinträchtigt werden«. Vorgesehen wurde ein Numerus Clausus für Gruppen von Ausländer/innen und für einzelne Unterrichtsfächer. Jene, die diese Hürden überwänden, sollten anschließend in besonderem Maße »zur Tragung der Hochschulkosten herangezogen« werden. Die vorgesehenen Regelungen skizzierten darüber hinaus einen an politischen und nachrichtendienstlichen Interessen orientierten Universitätsalltag. Sie hätten tiefgreifende Unterschiede zwischen in- und ausländischen Studierenden bei ihrer Ausbildung zur Folge gehabt. Erstens sollten Aussperrungen der Ausländer/innen »von Vorlesungen, Übungen und Besichtigungen« »unbedingt« erfolgen, wenn »ihre Teilnahme Interessen der Reichssicherheit und der Landesverteidigung gefährden könnte«. Zweitens seien sie »zu den einzelnen Vorlesungen oder praktischen Übungen« erst zuzulassen, »wenn die Plätze von inländischen Studierenden nicht voll in Anspruch genommen« werden würden. Dieser ausschließenden Praxis stellten die Bildungsminister eine nationale Kulturpolitik zur Seite, die ausländische Studierende zum Objekt »deutscher Interessen« machte. Der preußische Kultusminister Friedrich Schmidt (1860–1956) erhoffte sich von ihnen unter außenpolitischen Gesichtspunkten weitreichende Vorteile, weil sie durch ihren Aufenthalt an deutschen Universitäten zu Botschaftern des »deutschen Gedankens« würden.326 Unter anderen Rahmenbedingungen als im September 1918 von den Kultusministern erahnt, setzten sich die Diskussionen über ausländische Studierende im Deutschen Reich nach der Kriegsniederlage 1918 fort und schlossen zugleich an die Vorkriegszeit an. Die Vergleichbarkeit ausländischer Schulzeugnisse sowie die Zugangsbeschränkungen rückten erneut in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Zugleich war die Skepsis vieler Inländer ihren Kommilitonen aus dem Ausland gegenüber nach wie vor hoch. In den ersten Jahren der Nachkriegszeit entschieden die Kultusminister der Länder und das Auswärtige Amt über eine 324 Protokoll d. Hochschulkonferenz in Berlin, 26.–28.9.1918, in: Hochschulpolitik im Föderalismus, Protokoll 17, S. 315–354, hier S. 344 f. 325 Anlage B zum Protokoll d. Hochschulkonferenz in Berlin, 26.–28.9.1918, in: Hochschulpolitik im Föderalismus, Protokoll 17, S. 356–358. 326 Preuß. Minister d. geistlichen u. Unterrichts-Angelegenheiten (gez. Schmidt) an d. Chef d. Generalstabes d. Feldheeres, 23.7.1918, in: BArch Berlin, R 901/81091, Bl. 12 f.
Ermöglichungsmomente nationaler Positionierungen
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Zulassung ausländischer Staatsangehöriger zum Studium. Diese Studierenden aus anderen Ländern mussten Sondergebühren entrichten und sich bei deutschen Auslandsmissionen ihre ›deutschfreundliche‹ Gesinnung bestätigen lassen.327 Neben Unterschieden aufgrund der föderalen Hochschulverwaltung existierten verschiedene Zugangsbestimmungen zwischen den Universitäten. In Tübingen zum Beispiel entschied der Kleine Senat über das Jahr 1923 hinaus, ehemalige feindliche Ausländer/innen nicht zu immatrikulieren. Britische und US-amerikanische Staatsangehörige wurden wie »Ostjuden« nur ausnahmsweise zum Studium zugelassen.328 Eine breitere Diskussion erfuhr die Zulassung von Ausländer/innen auf der ersten Tagung des Verbandes der Deutschen Hochschulen im Januar 1920, auf der Vertreter von 23 Universitäten und elf Technischen Hochschulen zusammenkamen. Mit dem Ansinnen, die Hochschulautonomie in Immatrikulationsfragen wiederherzustellen, erarbeitete ein Ausschuss Richtlinien. Demnach sollten ausländische Studieninteressierte, »die unzweifelhaft von deutscher Abstammung und deutscher Muttersprache sind«, den inländischen Studierenden gleichgestellt sein. Die Immatrikulation aller übrigen Ausländer/innen machten die Ausschussmitglieder dagegen weiterhin von der Genehmigung der jeweiligen Kultusministerien abhängig, sofern nicht einzelne Herkunftsländer wie »die Schweiz, neutrale Staaten usw.« davon ausgenommen würden.329 Die Restriktionen des Krieges sollten folglich in weitem Maße auf den Frieden übertragen werden. Institutionalisierte Unterschiede zwischen aus- und inländischen Studierenden wurden fortgeschrieben.
Ermöglichungsmomente nationaler Positionierungen Die vorangegangenen Betrachtungen der In- und feindlichen Ausländer/innen an Hochschulen warfen ein Licht auf die Verschiebungen von Möglichkeits- und Interventionsgrenzen. Auf der einen Seite war es für deutsche Staatsangehörige möglich geworden, ihre ausländischen Kommiliton/innen, Nachbar/innen und Konkurrent/innen mit nationalen Argumenten zu denunzieren und aus sozialen Räumen auszuschließen. Auf der anderen Seite begegneten Ausländer/innen diesen Kampagnen auf vielfältige Weise. Sie wandten sich an Vertreter neutraler Staaten, schrieben Eingaben an die Verwaltungsbehörden, veränderten die nationale Perspektive auf ihre Staatsangehörigkeit, wechselten ihre Arbeitsorte oder nahmen eine Beschäftigung auf. Während Reaktionen der Betroffenen sich auf facetten327 Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt a. M. 2004, S. 74–76. 328 Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 105. 329 Otto Schulz, Richtlinien für die Zulassung von Ausländern an deutschen Hochschulen, in: Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen, II. Sonderheft (1921), S. 24–26.
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reiche Weise in den Archiven überliefert finden, gewähren nur wenige Einzelfälle einen Blick hinter die nationalen, Erfolg versprechenden Argumente deutscher Reichsangehöriger, die versuchten feindliche Staatsbürger/innen auszugrenzen.
Arbeiter Die Beschwerde eines »deutschen Arbeiter[s]« aus Düsseldorf-Heerdt legt zumindest einen sozialen Konflikt zwischen dem Inhaber einer dortigen Lederfabrik und seinen ehemaligen Arbeitern nahe. Der Beschwerdeführer wusste zu berichten, dass die Fabrik, »eine ganze Belgische Gesellschaft«, von einem »Franzosen« geleitet werde und hauptsächlich mit ausländischem Kapital arbeite. Dieser hätte große Bestände Leder angehäuft, um sie im Krieg an die Militärbehörden zu verkaufen.330 Laut dem Düsseldorfer Oberbürgermeister Adalbert Oehler war dies nicht die einzige Denunziation gewesen, die sich »sowohl mündlich, wie auch schriftlich« gegen den Fabrikbesitzer Leon Grosjean richtete.331 »Soweit ermittelt werden konnte, rühren die Anzeigen her von Arbeitern und Angestellten, die er in den vergangenen Jahren aus der Fabrik entlassen hatte und von den Angehörigen und Freunden dieser […], die zum großen Teile noch in Düsseldorf-Heerdt wohnen«, stellte er fest. Der Krieg bot die Möglichkeit, die sozialen Auseinandersetzungen zwischen dem Fabrikbesitzer und den Entlassenen unter nationalen Vorzeichen zu aktualisieren und das Kräfteverhältnis zwischen den Akteuren zu verschieben. Allerdings halten die Ausführungen Oehlers gegenüber dem Regierungspräsidenten Francis Kruse einen Stolperstein bereit. Denn die durch den Oberbürgermeister vorgegebene Perspektive kann zugleich gegen den Strich gelesen werden. Oehler führte unverhohlen aus, dass ihn mit Grosjean eine »dreizehnjährige persönliche nähere Bekanntschaft« verband. Demnach hätte er die nationalen Vorwürfe auf soziale Proteste zurückführen können, um den ihm vertrauten Fabrikbesitzer zu entlasten. Ungeachtet dessen findet sich in dem Vorgang der Versuch einer Neukonfigu ration eines Abhängigkeitsverhältnisses wieder, weil es seit dem Spätsommer 1914 einen bedeutenden Unterschied zwischen ›deutschen‹ und ›feindlichen‹ ›Kapitalisten‹ gab. Die Intervention Oehlers berichtet wiederum von dem Versuch des Beschuldigten, über private Beziehungen die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu entkräften. Feindliche Ausländer/innen mussten nicht wehrlos gegen die Denunziationen und Ausgrenzungen bleiben. Abhängig von ihrem sozialen Status und ihrer Integration in lokale Gemeinschaften öffneten sich ihnen Handlungsspielräume. 330 Anonymus (Düsseldorf-Heerdt) an d. Regierung Düsseldorf, 16.8.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 99. 331 Oberbürgermeister Düsseldorf (Adalbert Oehler) an d. Reg.-Präs. (Francis Kruse), aufgrund verlangter Stellungnahme, 28.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 100 f.
Ermöglichungsmomente nationaler Positionierungen
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Orchestermitglieder In der Stadt Baden versuchten Musiker im Sommer 1915, mit nationalen Argumenten gegen soziale Hierarchien zu rebellieren, als der Oberbürgermeister Reinhard Fieser (1867–1960) den belgischen Staatsangehörigen Alfons Stennebrüggen für die Dauer des Krieges zum stellvertretenden Konzertmeister und Dirigenten ernannte. Stennebrüggen galt als ein über die Stadtgrenzen hinaus angesehener Violinist. Er hatte mehrmals kurz vor der Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit gestanden. Gleichwohl wurde während des Krieges die Einbürgerung verschoben, zuletzt am 18. Mai 1915. Ausschlaggebend dafür waren allerdings keine politischen Gründe gewesen. »[D]ie Weiterbearbeitung des Einbürgerungsgesuchs [wurde] neuerdings ausgesetzt[,] […] weil Stennebrüggen im Orchester nicht ersetzt werden könne und im Fall der Einbürgerung sofort für unabkömmlich erklärt werden müsse«, da sonst mit seiner Einberufung zu rechnen sei, erklärte der Bürgermeister.332 Er bestand nachdrücklich darauf, dass ein Auftreten des Konzertmeisters kein »Ärgernis erregen« werde. Eine Eingabe von vier Orchestermitgliedern an den stellvertretenden Generalkommandeur Kurt von Manteuffel sollte jedoch zu Diskussionen über die Berufung führen,333 die sich vor dem Hintergrund eines ähnlichen Falles im badischen Triberg entfalteten.334 Dort hatte die Kurverwaltung nach Kriegsbeginn das belgische Ehepaar Haeck, das zuvor interniert gewesen war, angestellt, um Kosten zu sparen. Im Zuge dessen protestierten die Präsidiumsmitglieder des Allgemeinen deutschen Musikverbandes und forderten, das öffentliche Auftreten aller Musiker ›feindlicher‹ Staatsangehörigkeit umgehend zu verbieten.335 Der Eingabe der Orchestermitglieder im Falle Badens lagen zwei Erzählstränge zu Grunde. Einerseits ging es um die Wirkung eines belgischen Dirigenten auf die Bevölkerung. Die »Verwundeten«, »Frauen und Kinder« würden leiden und trauern, während »oben auf dem Katheder […] einer von dem Stamme der Franktireurs [steht] und […] ihnen den Takt zur Nationalhymne« schlage. Andererseits wurde die Autorität Stennebrüggens innerhalb des Orchesters in Frage gestellt. Herr Gollek, der zu dieser Zeit sieben Jahre im Orchester gespielt hatte, beschwerte sich angeblich über unbezahlten Theaterdienst. Die Kurverwaltung erblickte darin eine unzulässige »Aufwiegelung« und lud den Musiker vor. Die in der Eingabe nun geschilderte Szene hätte in der Vorkriegszeit wohl keinerlei Empörung nach sich gezogen. Zumindest wäre eine Beschwerde gegen den stellvertretenden Konzertmeister wohl ohne Aussicht auf Erfolg gewesen. Die vier schrieben: »[B]ei der Verhandlung darf sich der Belgier (!) setzen, wohingegen der Deutsche (!) Gollek 332 Bad. BzA Baden (gez. Häußner) an d. Bad. MdI, 9.8.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23187. 333 Orchestermitglieder an Frhr. v. Manteuffel, o.D., (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23187. 334 Bad. BzA Triberg an d. Bad. MdI, 3.8.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23187. 335 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. v. Manteuffel) an d. Bad. MdI, 18.7.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23187 u. Internationales Kurkonzert, in: Volkswacht (Oberbaden), 14.7.1915 (Nr. 161), Ztga. in: Ebd.
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die Prozedur stehend über sich ergehen lassen muss!! […] Herr Gollek bestreitet entschieden diese Aeusserung jemals getan zu haben, der Belgier bietet hiergegen seinen belgischen Eid an«. Herr Gollek wurde daraufhin entlassen. »So haben wir den unerhörten Fall erlebt, dass es bei einer deutschen Kurverwaltung mit einem deutschen Oberbürgermeister an der Spitze möglich ist, dass ein Deutscher (!) von einem Belgier! auf die Straße geschmissen und dem Hunger preisgegeben wird«.336 Überdeutlich wurden die sozialen Unterschiede zwischen dem einfachen Orchestermitglied und dem stellvertretenden Konzertmeister mit nationalen Zuschreibungen aufgeladen. Das widerständige Verhalten des Ersteren und die in Frage gestellte Autorität des Letzteren spielten keine Rolle mehr. »Und nun kommt eine Siegesnachricht«, aber »Furcht und Ehrfurcht vor unseren Helden da draussen« würden in »Zorn und Wut« erstickt, »weil ein Belgier davorne steht und schlägt den Takt zur Hymne«. Die Konstruktion einer umfassenden nationalen Demütigung innerhalb des Orchesters und in der Öffentlichkeit durch den belgischen Dirigenten sollte gegenüber der Haltung des Oberbürgermeisters Erfolg haben. Von Manteuffel verbot öffentliche Auftritte des Konzertmeisters und behielt sich seine Ausweisung vor. »Während des jetzigen Krieges«, begründete er seine Entscheidung, »dürfen Angehörige feindlicher Staaten unter keinen Umständen in irgendwelchem Vorgesetztenverhältnis gegenüber deutschen Staatsangehörigen stehen.«337 Alfons Stennebrüggen blieb allerdings in Baden-Baden und feierte am 5. Juni 1930 sein 25jähriges Dienstjubiläum.338
Waschpulverfabrikant Unabhängig von ihren sozialen Netzwerken hatten nicht-deutsche Staatsangehörige die Möglichkeit, den Rechtsweg einzuschlagen. Auf diese Weise wehrten sie sich beständig gegen ausländer/innenfeindliche Vorgänge, die mit dem Krieg begründet wurden. »Deutsche Hausfrauen, kauft Waschpulver Reform genannt Lessive Reform«, warb im Herbst 1914 das Kölner Waschmittelunternehmen Reform. »Ein deutsches Erzeugnis von anerkannter Güte und Billigkeit«, hätten die Besitzer im Angebot.339 Sie verbreiteten ihre Botschaft in Zeitungen und Zeitschriften sowie als Flugblätter. Doch beschränkten sie sich nicht auf die Qualität und Vorteile ihres eigenen Produktes. Der Krieg hatte ihnen ebenso wie anderen inländischen 336 Ebd. (Satzzeichen im Org.). 337 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. v. Manteuffel) an d. Bad. MdI, 11.9.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23187. 338 Badische Presse, 5.6.1930 (Nr. 258, Abendausgabe). 339 Urteil d. II. Zivilsenats d. Reichsgerichts, 14.12.1915, Az. II 338/15, betr. Unlauteren Wettbewerb, in: Die Rechtsprechung des Reichsgerichts auf dem Gebiete des Zivilrechts soweit sie nicht in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts abgedruckt ist, Jg. 9, hg. von Otto Warneyer, Leipzig 1916, Nr. 66, S. 110–112 u. leicht gekürzt in: Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, Jg. 60 (1916), Nr. 41, S. 498–500.
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Unternehmern die Versuchung nahegelegt, auf einer Welle patriotischer Stimmung ›feindliche‹ Firmeninhaber zu demaskieren und herabzuwürdigen. Sie propagierten eine Kaufentscheidung als nationales Bekenntnis unabhängig von materiellen oder finanziellen Kriterien. Weiter hieß es in der Anzeige des Kölner Waschmittelunternehmens: »SunlightSeife und Minlosches Waschpulver (früher Lessive Phénix genannt) sind Erzeugnisse von Firmen, deren Inhaber Staatsangehörige unserer Feinde sind.« Die Seife stelle ein Zweigunternehmen einer britischen Firma her. Der Gesellschafter der Waschpulverfabrikation, Ludwig M., habe 1885 die russländische Staatsbürgerschaft erworben, und deren Kommanditist sei »ein Franzose«. Die Annonce reihte sich in weitere Schmähungen ein. ›Deutsche‹ Gummihersteller prangerten in einer halbseitigen Anzeige in der Vossischen Zeitung unter dem Titel »Erklärung gegen englische Maßnahmen« die Deutsche Dunlop-Gummi-Compagnie A. G. in Hanau a. M. an. Sie sei eine »von Stock-Engländern geleitete Gesellschaft«, »deren Gewinn nach England fließt«. Deshalb stellten die deutschen Unternehmer klar: »Wer einen Dunlop-Reifen kauft, gibt sein Geld in Feindeshände!«340 Kaufaufrufe für deutsche Produkte stellten demgegenüber noch eine mildere Form des Wettbewerbs dar. Der Autor (A.N.) einer Zuschrift im General-Anzeiger für Hamburg-Altona hatte zum Beispiel seinen Appell für deutsche Konzertflügel mit dem nationalen Generalargument untermauert, dass es einen Unterschied darstelle, »ob wir unser Geld für in Deutschland gefertigte Waren oder für solche amerikanischen Ursprungs anlegen«. Auch im Wirtschaftsleben gelte: »Wir Deutschen können nicht deutsch genug sein!«341 Im Falle der Waschpulverwerbung klagten allerdings die an den Pranger Gestellten. Sie verteidigten sich gegen das nationale Geschäftsgebaren, in dem sie einen unlauteren Wettbewerb erkannten, der gegen die guten Sitten verstieße. Besonders erwähne die Anzeige nicht, dass Ludwig M. seit 18 Jahren wieder in Deutschland lebe. Ihre Klage wurde zunächst abgewiesen. In der Berufung erkannte der Richter des Oberlandesgerichtes in Köln ihnen allerdings Recht zu. Daraufhin gingen die verurteilten Reformpulver-Verkäufer in Revision. Das zuständige Reichsgericht entschied für sie und verdeutlichte mit seinem Urteil, welche Auswirkungen der Krieg auf den Wettbewerb zwischen in- und ausländischen Unternehmern hatte. Die Richter des zweiten Zivilsenates erkannten in der Werbung eine »unmittelbare Wahrheit«. Die russländische und die französische Staatsangehörigkeit der Betroffenen sei nicht zu leugnen. Dagegen erschien ihnen die Nichterwähnung des langen Aufenthaltes von Ludwig M. in Deutschland als »nebensächlich«. Sie beließen es aber nicht bei diesem Urteilsspruch. Die Richter skizzierten des Weiteren einen Handlungsspielraum für Werbende, der sich am 340 Anzeige, in: Vossische Zeitung, 6.9.1914 (Nr. 452, Morgenausgabe). 341 General-Anzeiger für Hamburg-Altona, 26.2.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 7, Dok.Nr. 55a, S. 35.
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vorherrschenden Zeitgeist ausrichtete, und legitimierten so die wirtschaftliche Ausgrenzung ausländischer Geschäftsinhaber. »Es ist nicht anerkennenswert und es entspricht nicht den Anschauungen eines vornehmen Kaufmanns, zu Zwecken des Wettbewerbes die nationalen Leidenschaften zu erregen und auszunutzen, um das Geschäft des Konkurrenten, der vielleicht nur rein formell, aber wie nicht von Geburt, so nicht seiner Gesinnung und seinem Fühlen nach Staatsangehöriger eines unserer Feinde ist, auf das erheblichste zu schädigen und zu untergraben. Aber es ist bei den jetzigen Zeitläufen, bei dem Verhalten der feindlichen Staaten uns gegenüber, bei dem auch wirtschaftlichen Kriege, wie er in weitestem Umfange und in schärfster Weise gegen uns ausgebrochen ist und betrieben wird, nicht zu sagen, daß die Veröffentlichungen […] nicht demjenigen entsprechen, was heutzutage nach dem Anstandsgefühl und der allgemeinen Anschauung und der, wenn auch nicht vornehm, so doch billig und gerecht denkenden Gewerbetreibenden für zulässig erachtet wird.«342 Die Richter des Zivilsenats betonten, dass vor diesem Hintergrund ein »Nichtüberschreiten der sich hieraus ergebenden Grenzen« vorliege. Nicht der Verfälschung der Lebensumstände des Ludwig M. und seiner Diffamierung wie der damit einhergehenden Unverhältnismäßigkeit der Werbung maßen die Richter Gewicht bei. Sie erhoben vielmehr die Umstände des Krieges, aus denen ein besonderes Gerechtigkeitsgefühl erwachse, zu den Entscheidungsfaktoren ihres Urteils. Der Krieg rechtfertige auch die Nationalisierung des Wettbewerbs um die ›deutschen‹ Kund/innen. Er hätte eine »allgemeine Anschauung« zur Folge, die zu wirtschaftlichen Ausgrenzungen ermächtige. Unabhängig von zweckgerichteten militärischen oder außenpolitischen Vergeltungsmaßnahmen unterstützten die Richter auf diese Weise den Leitgedanken einer Desintegration ausländischer Unternehmen, ihrer Erzeugnisse und schließlich ihrer Eigentümer. Im Falle Ludwig M. spielte seine lange Anwesenheit oder seine Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich keine Rolle. Welche gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesse waren im Anschluss an dieses Urteil nicht zulässig? Indes stellte die Klage gegen M. keine Ausnahme dar.
Kapellmeister Wie Rechtsstreitigkeiten ausgingen, hing stark von den Richtern ab. Die Prämissen ihrer Urteile widersprachen sich nicht selten. Dementsprechend konnten selbst in der Hochphase der Mobilmachung Entscheidungen zugunsten von Ausländer/ innen gefällt werden. Der Kapellmeister des Berliner Cafés Picadilly, der einen 342 Urteil d. II. Zivilsenats d. Reichsgerichts, 14.12.1915, Az. II 338/15, betr. Unlauteren Wettbewerb, in: Die Rechtsprechung des Reichsgerichts auf dem Gebiete des Zivilrechts, Jg. 9, Nr. 66, S. 110–112.
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russländischen Pass besaß, bewies dies eindringlich. Er hatte vor dem Berliner Gewerbe- und Kaufmannsgericht kurz nach Kriegsbeginn eine Klage eingereicht, weil ihm entgegen seinem Arbeitsvertrag gekündigt und ein Hausverbot erteilt worden war. Der Eigentümer des Cafés hatte die Maßnahme mit dem bestehenden Kriegszustand begründet. Aber die Richter der 6. Kammer des Berliner Gewerbeund Kaufmannsgerichts entschieden am 19. August 1914 gegen ihn und für den entlassenen Violinisten. Der Krieg, so ihr Urteilsspruch, böte allein keinen Rechtfertigungsgrund für die Kündigung. »Dafür, daß der Kl[äger] russischer Nationalität ist, kann er nichts. Wenn auch zugegeben werden muß, daß augenblicklich mit Recht eine sehr erbitterte Stimmung gegen das russische Reich besteht, so kann dies doch nicht dahin führen, daß gegen Russen besondere Rechtssätze zur Anwendung zu bringen sind.«343 Ob mit dem Erfolg vor Gericht eine willkommene und konfliktfreie Rückkehr des Kapellmeisters verbunden war, ist nicht bekannt. Aber anders, als die von dem Oberbefehlshaber in den Marken erzwungenen Entlassungen ausländischer Facharbeiter und die mahnenden Pressestimmen suggerierten, bestand kein Konsens darüber, Urteile entlang nationaler Grenzziehungen zu treffen. Staatliche Verwaltungs- und Militärbehörden ebenso wie Gerichte kamen teilweise zu anderen Schlüssen und handelten entlang anderer Prämissen als ihre ebenso im Staatsdienst stehenden (juristischen) Kollegen. Ob Grenzverschiebungen demzufolge möglich waren, mussten In- wie feindliche Ausländer/innen austesten und aushandeln.
Violinenvirtuose Mannigfache Versuche ganz anderer Art und Weise, ihre Lebenssituation und ihre Handlungsspielräume während der vier Kriegsjahre zu beeinflussen, unternahmen der Violinist und Komponist Henri Marteau (1874–1934) und seine Frau Blanche (1887–1977).344 Die Umstände ihrer Kriegserlebnisse können keineswegs als exemplarisch angesehen werden. Denn der französische Staatsbürger Marteau, Professor für Violine an der Hochschule für Musik zu Berlin, stand mit seiner auf hochschulinterne Widerstände stoßenden Berufung 1908 im preußischen Staatsdienst
343 Urteil d. Gewerbegerichts Berlin, 19.8.1914 (in: Monatsschrift des Verbandes Deutscher Gewerbe- und Kaufmannsgerichte 20, 1914, Sp. 22 f.), in: Lebenswelten im Ausnahmezustand. Die Deutschen, der Alltag und der Krieg, 1914–1918, hg. von Jens Flemming, Klaus Saul u. Peter Christian Witt, Frankfurt a. M. 2011, S. 108. 344 Umfassend zum Leben Henri Marteaus siehe: Günther Weiß, Der große Geiger Henri Marteau (1874–1934). Ein Künstlerschicksal in Europa, Tutzingen 2002 u. Marteau, Henri Marteau. Verglichen mit den Überlieferungen im Hauptstaatsarchiv München ergeben sich in Details Abweichungen von den in beiden Monographien geschilderten Ereignissen.
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wie im kritisch-kulturellen Scheinwerferlicht der Hauptstadtpresse.345 Zugleich war er allerdings französischer Reserveoffizier. Diese Komposition sicherte ihm während des Krieges eine rege Aufmerksamkeit. Die patriotischen Blätter waren ihm dabei nicht freundlich gesinnt.346 Noch am 1. August 1914 hatte Marteau ein wohltätiges Kammermusikfest im bayerischen Lichtenberg, der Stadt seines Landsitzes, organisiert.347 Das Konzert war ausverkauft, als der Trommelwirbel der Mobilmachung in die Klänge der Violine einfiel.348 Die anschließenden Wochen können als Geschichte von Verdächtigungen und Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Freilassungen, helfenden und sich abwendenden Bürger/innen erzählt werden. In den umliegenden Gemeinden verbreiteten sich Gerüchte über eine Spionagezentrale in der Villa Marteaus. In den benachbarten Landgütern konnte das Ehepaar keine Milch mehr kaufen. Ein Bauunternehmer verklagte sie wegen angeblich ausstehender Rechnungen. Und an der Berliner Hochschule entschlossen sich Violinenlehrer, die der Berufung Marteaus ablehnend gegenübergestanden hatten, gegen Marteau als französischen Staatsbürger aufzubegehren. Da es ebenso zu Konflikten innerhalb der preußischen Verwaltung über Marteaus Status kam, der als französischer Staatsbürger weiterhin sein Hochschulgehalt bezog, drängte der Kultusminister ihn zum Verzicht seiner Professur. Henri Marteau willigte ein.349 Innerhalb weniger Monate hatte er seine gesellschaftliche Anerkennung und seinen sozio-kulturellen Status verloren. Nachdem Zeitungsberichte eine »freiwillige« Gefangennahme Henri Marteaus Mitte August 1914 vermeldet hatten,350 erfolgte seine endgültige Festnahme und Internierung durch einen Erlass des Bayerischen Kriegsministeriums vom 19. August 1914. Demzufolge sollten »Offiziere und in deren Rang befindliche militärische Beamte, gleichviel ob aktiv, inaktiv, oder dem Beurlaubtenstand angehörend, […] von den stellv. Generalkommandos unter Mitwirkung der
345 Zu den Umständen der Berufung: Dietmar Schenk, Die Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik, 1869– 1932/33, Stuttgart 2004, S. 112 f. 346 Ausführliche Abschriften von Zeitungsmeldungen siehe: Weiß, Der große Geiger, S. 142– 147. 347 Plakat d. Deutschen Kammermusikfestes zu Gunsten der Lichtenberger Wohlfahrts-Einrichtungen, 1./2.8.1914, in: HStA München, MInn 53992. 348 Marteau, Henri Marteau, S. 397. 349 Weiß, Der große Geiger, S. 135–146 u. Marteau, Henri Marteau, S. 397 f. Zu einzelnen Vorgängen auch: Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Chef d. Kabinetts Seiner Majestät d. Königs von Bayern (Staatsrat v. Dandl), 15.9.1914, in: HStA München, MInn 53992. 350 Henri Marteau freiwilliger Gefangener, in: Berliner Tageblatt, 14.8.1914 (Nr. 410, Abendausgabe) u. Königsberger Hartungsche Zeitung, 15.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 469, S. 303.
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einschl. Polizeibehörden unverzüglich kriegsgefangen« genommen werden.351 Über das westlich von Berlin gelegene Internierungslager Döberitz und das Offiziersgefangenenlager Burg bei Magdeburg kam er in das Offiziersgefangenenlager Blankenburg bei Berlin.352 Nach seiner Freilassung Anfang 1915 lebten die Eheleute Marteau in Berlin. Wohl auf eine Denunziation hin wurden beide ein Jahr später erneut interniert. Im Anschluss an seine Unterbringung im Berliner Stadtvogteigefängnis und ihre im Frauengefängnis an der Barnimstraße bestimmte das Oberkommando in den Marken die Kleinstadt Reetz als Aufenthaltsort. Ihre erneute Übersiedlung nach Lichtenberg erfolgte Anfang 1917, wo sie bis zum Ende des Krieges lebten. Die Erlebnisse Henri und Blanche Marteaus können aber nicht nur als Geschichte einer erfolgreichen Denunziation, Ächtung und Ausgrenzung erzählt werden. Es ist ebenso die Geschichte eines beständigen Widerstandes gegen die Entscheidungen staatlicher Behörden und die Erzählung des Ringens um ein angemessenes Leben im Krieg. Behilflich dabei war den Marteaus ein Netz aus persönlichen Kontakten und wohlwollenden Beziehungen. Henri Marteau trat im August 1914 an den Direktor der Hochschule für Musik, Hermann Kretzschmar (1848–1924), und den preußischen Kultusminister, August von Trott zu Solz, heran.353 Letzterer befürwortete ein Naturalisationsgesuch des Komponisten,354 das aber zu keinem Ergebnis führte. Ebenso intervenierte der Dirigent Hans Richter (1843–1916) bei der bayerischen Staatsregierung.355 Er konnte aber gleichfalls keine Freilassung erreichen. Nach der kriegsministeriellen Internierungsentscheidung wandte sich Marteaus Frau mit einem Throngesuch an den König von Bayern, Ludwig III.,356 erneut ohne Erfolg.357 Eine Immediateingabe an den Deutschen Kaiser, Wilhelm II., im November 1914 blieb zunächst unbeantwortet.358 Nachdem Marteau im September nach Döberitz überführt worden war, knüpfte Blanche Marteau an ihre Vorkriegskontakte zum Bulgarischen Zaren, Ferdinand 351 Bay. KM, betr. Behandlung ausländischer Staatsangehöriger, an d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK u. d. stv. Intendanturen I. II. III. bay. AK, 19.8.1914, in: HStA München, MInn 53976 (Herv. im Org.). Eine ähnliche Bekanntmachung erfolgte für Bayern bereits am 6. August 1914, in der die Möglichkeit einer Internierung unterstrichen wurde: Bay. KM, betr. Behandlung ausländischer Staatsangehöriger, an d. Gkdo. I., II., III. AK u. an d. stv. Gkdo. I., II., III. bay. AK, 6.8.1914, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 817, Bl. 6. 352 Marteau, Henri Marteau, S. 398 f. 353 Weiß, Der große Geiger, S. 135 u. Denkschrift d. preuß. Kultusministers v. Trott zu Solz an d. Kaiser Wilhelm II., 29.1.1915, (Abs.) in: Ebd., Anhang 3, S. 236 f. 354 Blanche Marteau an den König von Bayern, 3.9.1914, in: HStA München, MInn 53992. 355 Marteau, Henri Marteau, S. 397 f. 356 Blanche Marteau an d. König von Bayern, 3.9.1914, in: HStA München, MInn 53992. 357 König von Bayern an d. bay. Staatsminister d. Innern, 18.9.1914, in: HStA München, MInn 53992. 358 Weiß, Der große Geiger, S. 146.
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I. (1861–1948), und seiner Regierung an und reiste nach Sofia. Mit dem Ziel, ein Asyl für ihren Ehemann zu finden, verkehrte sie dort in den höchsten diplomatischen Kreisen. Sie scheiterte allerdings wiederum am Einspruch der deutschen Militärbehörden, und ihre Rückreise nach Berlin wurde zu einem politischen Kunststück, an dem der osmanische Militärattaché Mustafa Kemal Atatürk (1881– 1938) und der osmanische Botschafter in Sofia Ali Fethi Bey (1880–1943) sowie der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes Arthur Zimmermann beteiligt waren.359 Die Niederlage in Bulgarien hinderte Marteaus Ehefrau aber nicht an weiteren Interventionen. Über ihre nächsten Schritte schrieb sie: »Durch Mithilfe des Generalintendanten Graf Hülsen, des Generalobersten von Kessel und des Chefs des Zivilkabinetts von Valentini erreichte Blanche die geradezu unfaßbare Vergünstigung einer Audienz beim Kaiser, die eines Morgens im Kgl. Schloß zu Berlin stattfand.«360 Diesmal konnte sie sich durchsetzen. Auf Befehl des Kaisers wurde Marteau die Rückkehr in seine Berliner Wohnung gestattet. Im Anschluss an seine erneute Verhaftung im Februar 1916 verging ein halbes Jahr, bis die Marteaus ihre Situation in der märkischen Kleinstadt Reetz zu verändern suchten. Auslöser für mehrere Initiativen, dem bekannten Paar eine Übersiedlung nach ihrem Landhaus in Lichtenberg zu ermöglichen, waren offenbar Artikel in der ausländischen Tagespresse gewesen.361 Am 2. November 1916 führte Oskar Cohn, der als Reichstagsabgeordneter der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft angehörte, die Marteaus in die nationalen Zeitungsspalten zurück. Er prangerte in einer Rede vor dem Berliner Plenum Widersprüche in der Vergeltungspolitik des Militärs an, die den Anschein von Willkür erweckten. Der Umgang mit dem einst hofierten Komponisten diente ihm als Beispiel. Seine Ausführungen schlossen mit gegensätzlichen Informationen über den Verbleib der Marteaus. »Nach zahlreichen Aufenthaltswechseln sollten sie schließlich in einem Dorf oder einer kleinen Stadt in der Mark angelangt sein; nach einer anderen Nachricht freilich sollen sie nicht mehr leben, sondern erschossen worden sein.«362 Der unvorbereitete Direktor des Unterkunfts-Departements im Preußischen Kriegsministerium, Generalmajor Emil Friedrich, antwortete, dass »der Heeresverwaltung davon nichts bekannt ist, daß er und seine Frau sogar zusammen erschossen sein sollen. […] Ich glaube es auch nicht.« Anschließend wies er auf den militärischen Status des Komponisten hin, der als Reserveoffizier »eigentlich schon längst im Gefangenenlager Celle sitzen« müsste.363 Cohn entgegnete wiederum beharrlich: »Meine Herren, ich meine, es ist immerhin eine Härte, wenn auch 359 360 361 362
Marteau, Henri Marteau, S. 399. Ebd., S. 401. Weiß, Der große Geiger, S. 142 f. Oskar Cohn (SAG), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1996. 363 Emil Friedrich (Departementsdirektor, Preuß. KM), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1998.
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leider nicht eine unerhörte Härte, daß man die vier- und fünfjährigen Töchter des Ehepaars trotz aller Bittgesuche nicht zu ihm läßt.«364 Friedrich versprach schließlich, die Lebenssituation der Marteaus zu überprüfen, und bat den Abgeordneten, »überzeugt zu sein, daß im Kriegsministerium ein warmes, menschliches Empfinden herrscht«.365 Unter anderem die Vossische Zeitung, die Frankfurter Zeitung und die Münchner Neueste Nachrichten nutzten die Reichstagsdebatte seit dem 8. November 1916 für Schlagzeilen über den Fall Marteau.366 Zwei Tage zuvor hatte sich Blanche Marteau, nachdem eine Eingabe an das stellvertretende Generalkommando in Nürnberg abgelehnt worden war, zum zweiten Mal an den Bayerischen König gewandt. Sie erbat eine Rückkehr nach Lichtenberg, wo ihre Kinder wohnten. Sie bekundete zudem die Absicht, die bayerische Staatsangehörigkeit zu erwerben.367 Vor dem Hintergrund, dass in der Presse besonders Blanche Marteau »Spionage und Landesverrat« während ihres Bulgarienaufenthaltes sowie »deutschfeindliche« Äußerungen vorgeworfen wurden,368 entschied das Oberkommando in den Marken zugunsten der Marteaus.369 Zur gleichen Zeit ersuchte die Verwandte Sophie Marel gegenüber dem Lichtenberger Stadtmagistrat ebenfalls die Rückkehr der Eheleute. Sie hatte für die beiden Kinder der Marteaus gesorgt und war nun vor allem wegen der schlechten Gesundheit des Komponisten beunruhigt.370 Ihr Anliegen fand Unterstützung bei den Lichtenberger Stadtverordneten. Sie hielten im Magistratsprotokoll fest, dass die Marteaus sich als »Wohltäter der Gemeinde« bewiesen hätten und die »gesamte Einwohnerschaft« keine Bedenken gegen sie hege. »Deutschfeindliche Betätigung oder auch nur Gesinnung hat Professor Marteau hier nie an den Tag gelegt, sondern als mit der deutschen Kultur verwachsen sich gezeigt.«371 Ebenso justierte der Bezirksamtmann von Naila, Regierungsrat Keßler, seine Position zu Marteau. »Ich hatte nur früher Bedenken, dass die Eheleute Marteau nach Lichtenberg übersiedeln wegen der Stimmung der Bevölkerung«, teilte er dem Bayerischen Innenministerium mit. Dies habe sich geändert. »Eine feindliche Stimmung ist zur Zeit nicht mehr vorhanden. Ausserdem übernimmt die Ortspolizei Lichtenberg Gewähr 364 Oskar Cohn (SAG), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1999. 365 Emil Friedrich (Departementsdirektor, Preuß. KM), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1999. 366 Weiß, Der große Geiger, S. 142 f.; Das Schicksal Professor Marteaus, in: Frankfurter Zeitung, 9.11.1916 (Nr. 311, Zweites Morgenblatt) u. Der Fall Marteau, in: Münchner Neueste Nachrichten, 9.11.1916 (Nr. 571), Ztga. in: HStA München, MInn 53992. 367 Blanche Marteau an d. König von Bayern, Reetz, 6.11.1916, in: HStA München, MInn 53992 u. Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Bay. BzA Naila, 23.11.1916, in: Ebd. 368 Der Fall Marteau, in: Münchner Neueste Nachrichten, 9.11.1916 (Nr. 571), Ztga. in: Ebd. 369 Okdo. in d. Marken an d. stv. Gkdo. III. bay. AK, 17.11.1916, in: Ebd. 370 Sophie Marel an d. Stadtmagistrat Lichtenberg, 28.11.1916, in: Ebd. 371 Magistratsprotokoll Lichtenberg, 30.11.1916, (Abs.) in: Ebd. u. Protokoll d. Gemeindebevollmächtigten Lichtenberg, 30.11.1916, (Abs.) in: Ebd.
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für Sicherheit der Marteau’schen Eheleute und deren Eigentum.«372 Dieser Haltung schloss sich sogar der stellvertretende Generalkommandeur in Nürnberg an.373 Erst innerhalb des bayerischen Staatsministeriums des Innern kamen »erhebliche Bedenken« auf, weil neue »Verdachtsmomente« gegen Blanche Marteau vorlägen. In einer geheimen Aktennotiz hieß es: »Frau Professor Marteau [ist] trotz ihrer deutschen (elsässischen) Herkunft keineswegs deutschfreundlich und auch keineswegs harmlos, vielmehr eine in politischer und sonstiger Beziehung sehr zweifelhafte, äußerst raffinierte Person […], der gegenüber im Interesse der militärischen und politischen Sicherheit des Reichs die größte Vorsicht geboten ist.«374 Dennoch bestand für den Innenminister »kein genügender Anlaß«, sich der Übersiedlung gänzlich zu verwehren.375 Schließlich war dem bayerischen Kriegsminister, Philipp von Hellingrath, »sehr daran gelegen, wenn mit der Übersiedlung wenigstens ein Versuch gemacht werden könnte«.376 Er erachtete nur gewisse Auflagen als notwendig. Zu diesen gehörte eine Postsperre und das Besuchsverbot »der Familie durch dritte, vor allem Ausländer, sowie […] bei Bewohnern von Lichtenberg und Umgebung«. »Die Niederlassung von Schülern daselbst wäre deshalb ebenfalls zu untersagen.« Trotz der strengen Auflagen hatten die Marteaus zum einen Kontakt zu Lichtenberger Bürger/innen. Blanche Marteau berichtet in ihren Erinnerungen lebhaft von Besuchen Hans Dannhorns, dem Hauptlehrer der Lichtenberger Volksschule, Dr. Hofmanns, dem Nailaer Bezirksarzt, oder Johanne Dietzels, einer Bäuerin.377 Zum anderen erfreute sich die Familie eines überregionalen Freundeskreises: »Unterbrochen wurden diese Jahre beschaulichen Lebens durch Besuche unerschrockener Freunde, die entgegen den behördlichen Anordnungen und dank ihrer diplomatischen Pässe alle Hindernisse, die einem solchen Vorhaben im Wege standen, überwinden konnten.«378 Zu ihnen gehörte Dimitri Rizoff (1862–1918), der bulgarische Botschafter in Berlin, Julius Griesinger (1863–1939), der frühere Gesandte in Serbien, und Sidónio da Silva Pais (1872–1918), der portugiesische Gesandte und spätere Präsident.379
372 Bay. BzA Naila (gez. Keßler) an d. Bay. SMdI, 29.11.1916, in: Ebd. u. Bay. SMdI an d. stv. Gkdo. III. bay. AK, 4.12.1916, in: Ebd. 373 Stv. Gkdo. III. bay. AK an d. Bay. SMdI, 9.12.1916, in: Ebd. 374 Bay. SMdI an d. Bay. KM, 2.1.1917, (Ent.) in: Ebd. 375 Ebd. 376 Bay. KM (gez. v. Hellingrath) an d. stv. Gkdo. III. bay. AK, 7.1.1917, in: Ebd. 377 Marteau, Henri Marteau, S. 409 f. 378 Ebd., S. 410. 379 Ebd., S. 410 ff.
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Die Marteaus hatten darüber hinaus neue Fürsprecher gewonnen. Einer von ihnen war der Bezirksamtmann, Regierungsrat Keßler. Um den Komponisten zu unterstützen, engagierte er sich für ein Besuchsrecht des Marteauschen Klavierbegleiters, der zu dieser Zeit in Straßburg wohnte. Nachdem das Nürnberger stellvertretende Generalkommando dieses nicht gewährt hatte, ersuchte er den bulgarischen Botschafter in Berlin entgegen dem Dienstweg innerhalb der Verwaltungshierarchie um Vermittlung.380 Zwar scheiterte der Versuch, Erleichterungen zu erwirken, aber die Initiative Keßlers zeigt, dass situative Entscheidungen während der ersten Kriegstage kein dauerhaftes Meinungsbild bei lokalen Beamten zur Folge haben mussten. Entgegen der Behandlung anderer ›feindlicher‹ Reserveoffiziere gelang Henri Marteau die Rückkehr zu seinem Landsitz in den Kreis seiner Familie. Durch Beharrlichkeit und bedeutsame soziale Kontakte schafften es die Marteaus, ihre Lebenssituation zu verbessern. Entscheidend neben diesem persönlichen Engagement war aber das Vorhandensein vielfältiger ziviler und militärischer Verwaltungsinstanzen, die ihr Handeln aufeinander abstimmen konnten, aber nicht mussten. Zwischen ihnen zirkulierten verschiedene Ansichten über die ›richtige‹ Behandlung des Ehepaars. Die letztendlichen Beschlüsse waren das Ergebnis eines vielstimmigen, dennoch hierarchischen Prozesses. Hinzu trat ein weiteres Merkmal der Verwaltungspraxis, auch zu Kriegszeiten. Vor und nach den entpersonalisierten Internierungserlassen würdigten staatliche Akteure den Einzelfall als maßgeblichen Entscheidungsgegenstand. Zwar wurde innerhalb der bayerischen Administration fortwährend auf den Spionageverdacht hingewiesen, aber der Kriegs- und der Innenminister durchbrachen die innerhalb der Presse forcierte Verdachtsspirale gegen die Marteaus und wagten einen »Versuch«, der nicht scheiterte. Nach dem Krieg unter den Vorzeichen der Republik erfolgte keine Rehabilitation des ehemaligen Arrestanten in der fränkischen Provinz. Henri Marteau gelangte nicht wieder in den preußischen Staatsdienst. Die Aufhebung des Dienstverhältnisses war keine wie noch 1915 vom preußischen Kultusminister von Trott zu Solz versprochene, zeitlich befristete Maßnahme. Der Violinenvirtuose traf erneut auf nationale Ressentiments. Denn nun besaß er die Staatsbürgerschaft eines Siegers des Weltkrieges.381 Mehr als ein Jahrzehnt nach dessen Ende genehmigte der bayerische Innenminister der Stadt Lichtenberg, den zu dieser Zeit schwedischen
380 Zum Vorgang: Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußeren (gez. v. Dandl) an d. SMdI, 12.3.1918, in: HStA München, MInn 53992; Bay. SMdI (gez. v. Brettreich) an d. Regierung von Oberfranken (KdI), 21.3.1918, in: Ebd.; Bay. Gesandtschaft Berlin (gez. Lerchenfeld) an d. Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußeren, 18.3.1918, in: Ebd.; Bay. KM (gez. v. Speidel) an d. Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußeren, 25.4.1918, in: Ebd. u. Bay. SMin d. Kgl. Hauses u. d. Äußeren (gez. v. Dandl) an d. Gesandtschaft Berlin, 29.4.1918, (Abs.) in: Ebd. 381 Weiß, Der große Geiger, S. 154 f.
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Staatsbürger Henri Marteau zum Ehrenbürger zu ernennen.382 Bis heute erinnert eine Gedenktafel an ihn, und in der Ortsmitte trägt ein Platz seinen Namen.
Justizrat Nicht nur in öffentlich-ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen wurde versucht, soziale Grenzen zu verschieben beziehungsweise nationale Grenzen zu Gunsten deutscher Staatsangehöriger zu ziehen. Die Tragödie des Justiz- und Kriegsgerichtsrates Dr. Franz Ivers (1855–1919) führt in die privaten Abgründe des Krieges und die semantische Verschiebung einer Geliebten zur russischen Jüdin. Ihre ›ausländischen‹ Eigenschaften wurden zu Argumenten, die in dem Versuch mündeten, einen zwischenmenschlichen Konflikt zugunsten eines deutschen Staatsbürgers zu entscheiden. Als Franz Ivers die 23-Jährige Vera Soskin383 kennenlernte und sich mit ihr auf eine Affäre einließ, von der seine Frau nichts wissen durfte, ahnte er wohl noch nichts von dem Chaos der folgenden Jahre und von der Hartnäckigkeit wie dem ungestümen Temperament der von ihm Geliebten. Womöglich suchte er ein Glück, das er nicht finden sollte. Jedenfalls geriet er in ein Unglück, aus dem er auszubrechen hoffte. Der Krieg und die Staatsangehörigkeit eröffneten ihm dabei neue Möglichkeiten. Franz Ivers war aus seiner Sicht der Dinge ein malträtierter Mann. Kaum hatte er sich im Sommer 1912 von Vera getrennt, »erschien [diese] in meinem Büro, beschimpfte mich in der gemeinsten Weise, zog einen geladenen Revolver mit gespanntem Hahn aus ihrer Handtasche und legte auf mich an. […] Das Fräulein benahm sich wie eine Wahnsinnige und erklärte, sie würde mich und meinen Knaben, den sie auflauern würde, erschiessen.« So nahm das Drama seinen 382 Bay. SMdI an d. Vorstand d. Bay. BzA Naila, 29.3.1934, (Abd.) in: HStA München, MInn 53992. 383 Wera Nadeschda Julie Soskin wurde am 16. Juni 1888 geboren. Ihr Vater, Gregor Wasiliewitsch Soskin (1849–1919) hatte 1884 Charlotte Elise Tietzer (1864–?) geheiratet und besaß ein Haus in der Von-Heydt-Straße 11 in Berlin. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie ebenfalls dort gemeldet. Zuvor hatte sie unter anderem 1921 in der Berliner Wrangelstraße 53 gewohnt. 1931 fand ihr Name Eingang in das Jüdische Adressbuch für Groß-Berlin (S. 392). 1938 wurde sie in die Passagierliste der General von Steuben für eine Reise nach Südamerika eingetragen. Ihr Name wurde allerdings wieder gestrichen. Unter der Kategorie Nationalität hatte sie staatenlos und bei ihrem Beruf Hauseigentümerin angegeben. Im Berliner Adressbuch des Jahres 1939 wurde eine Vera Stein als Eigentümerin geführt, die in der Von-Heydt-Straße 11 wohnte (S. 2871). Womöglich hatte sie den Kaufmann Joseph Stein, der im selben Haus lebte, geheiratet. 1941 verlor sich ihre Spur im Adressbuch der Stadt. Über ihren weiteren Lebenslauf liegen keine gesicherten Informationen vor. Ihre Schwester Desirée Marie Blanche Soskin war am 28. Juni 1886 geboren worden. Sie wurde 1941 aus Berlin deportiert und am 13. April 1941 ermordet. Siehe: Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, hg. von d. Freien Universität Berlin, Zentralinstitut für Sozialwissenschaftliche Forschung, Berlin 1995, S. 1225.
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Lauf. Er schaltete einen Rechtsanwalt ein, kontaktierte die Polizei und rief ihren Vater zu Hilfe. Sie erstattete Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft, schrieb Briefe an seine Klienten und seine »damalige Ehefrau«.384 Dennoch trat das Unerwartete ein. Der Streit um Trennung, Enttäuschung und Verrat kam zur Ruhe. Eineinhalb Jahre hörten die Ex-Geliebten nichts voneinander, bis der Krieg in seinem ersten Winter ankam. Franz Ivers war Anfang September 1914 als offizieller Untersuchungsrichter nach dem belgischen Leuven gereist, um die Umstände der Exekution von Zivilisten und die Zerstörung der Stadt und seiner berühmten Universitätsbibliothek durch deutsche Truppen aufzuklären. Nachdem er sich in »großer Lebensgefahr« gewähnt und erlebt hatte, wie »Mauern dicht vor mir« einstürzten, kehrte er unversehrt nach Deutschland zurück.385 Da musste er erfahren, dass Vera Soskin das Detektivbüro Richard Rucks aufgesucht hatte, um – wie der Privatermittler zu Protokoll gab – »ihn völlig [zu] ruinieren und [zu] verderben«.386 In seinem »körperliche[n] und seelische[n] Zustand […] bis zur Arbeitsunfähigkeit herabgemindert«,387 suchte er nun nach einer dauerhaften Lösung des emotionalen Konfliktes. Ivers engagierte deshalb seinerseits den Rechtsanwalt Dr. Hans Jonas. Von diesem sind im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz vier abschriftliche Briefe überliefert, die nicht nur das langsam-leidvolle Ende einer Beziehung dokumentieren, sondern einen narrativen wie praktischen Möglichkeitsraum beschreiben, in dem die feindliche Ausländerin Vera Soskin sprachlich »modelliert« wird. Wie ihr Vater Gregor Soskin, der seit 1884 in Berlin wohnte, besaß sie die russländische Staatsangehörigkeit. Und obwohl sie Russland niemals besucht hatte,388 rückte gleich im ersten Brief Jonas’ an den Berliner Polizeipräsidenten diese rechtliche Eigenschaft in den Mittelpunkt. Denn mit ihr verbunden war die Möglichkeit, sie als »lästige Ausländerin« auszuweisen. Wich der Justizrat 1912 noch von einem diesbezüglich bereits aufgesetzten Antrag zurück, so sah er im Dezember 1914 die Forderung als unumgänglich an. Innerhalb der Iversschen und Jonasschen Erzählung einer von Vera Soskin betriebenen Eskalation verfolgte und belästigte sie dabei nicht nur den »erfahrenen und angesehenen Anwalt«, sondern beleidigte ebenso die Staatsanwälte im Allgemeinen. Die Ausweisung wurde dementsprechend als 384 Eidesstattliche Versicherung d. Franz Ivers, 23.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 72 ff. 385 Peter Schöller, Der Fall Löwen und das Weißbuch. Eine kritische Untersuchung der deutschen Dokumentation über die Vorgänge in Löwen vom 25. bis 28. August 1914, Köln 1958, S. 48–50. 386 Eidesstattliche Versicherung d. Richard Rucks, 22.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 74. 387 Rechtsanwalt Jonas an d. Polizeipräsidenten von Berlin, 22.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 70 ff. 388 Polizeipräsident Berlin an d. preuß. Minister d. Innern, 19.2.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 63 ff.
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»zwingende Notwendigkeit« beschrieben389 und letztlich dennoch vom Berliner Polizeipräsidenten abgelehnt. Aber Hans Jonas und sein Mandant gaben sich nicht geschlagen. Gleich nach dem Neujahrstag 1915 wandte sich der Rechtsanwalt erneut an den Polizeipräsidenten. Er legte seinem Schreiben diesmal eine eidesstattliche Erklärung des Franz Ivers bei, durch die er die »Staatsfeindlichkeit des Fräuleins« bewiesen sah.390 Ivers zitierte darin Vera Soskin mit den Worten: »Wenn die Sozialdemokratie nur einigermassen Schneid hätte, könnte sie das ganze Kaiserhaus mit einem Mal wegfegen. Es steht ja doch fest, dass Deutschland in kurzer Zeit Republik werden müsste.«391 Aus der privaten Fehde wurde infolgedessen eine öffentliche Angelegenheit gesponnen, und durch die getroffenen Entscheidungen innerhalb des Krieges konnte Jonas »die sofortige Ausweisung bezw. Internierung« fordern.392 Er sah sein Repertoire an Möglichkeiten durch den Krieg erweitert und versuchte dies auszuspielen. Demgemäß setzte er fünf Tage später einen weiteren Akteur auf das Spielfeld, indem er sich an den militärischen Oberbefehlshaber in den Marken wandte. Hierbei bestand er ausdrücklich auf die »sofortige Internierung der russischen (jüdischen) Staatsangehörigen«.393 Außer dem subtilen Verweis auf ihre jüdische Abstammung konnte oder wollte er jedoch keine weiteren Gründe für sein Anliegen mobilisieren. Das Gesuch wurde nicht beantwortet. Erst in seinem letzten Brief vom 26. Januar 1915 an den preußischen Innenminister verdichtete Hans Jonas sein Wissen über die Kriegsereignisse zu einer eigenständigen Argumentation.394 Er stellte Vera Soskin als eine »russische excentrische und zweifellos hysterische Jüdin« dar, »die einen Mordversuch unternimmt« und »mit der Ermordung des Sohnes droht«. Der labile, ehemals geliebte Justizrat Franz Ivers mimt aber nur einen sekundären Referenzpunkt in den Ausführungen. Denn Jonas bezieht sich überwiegend auf die Lage »unsere[r] armen Landsleute in Russland […], die jeder Beschreibung spottet«. Sie würden nach Sibirien verschleppt und unter Androhung von lebenslänglichen Gefängnisstrafen aus den ostpreußischen Provinzen und Finnland ausgewiesen. Deshalb, so der Rechtsanwalt, »wäre die Ausweisung und Internierung der Soskin schon ein billiges Verlangen der Vergeltung«. Unvorstellbar sei ein ähnlich vorgetragenes Verhalten 389 Rechtsanwalt Jonas an d. Polizeipräsidenten von Berlin, 22.12.1914, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 70 ff. 390 Rechtsanwalt Jonas an d. Polizeipräsidenten von Berlin, 2.1.1915, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 75 f. 391 Eidesstattliche Versicherung d. Franz Ivers, 2.1.1915, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 76. 392 Rechtsanwalt Jonas an d. Polizeipräsidenten von Berlin, 2.1.1915, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 75 f. (Herv. im Org.). 393 Rechtsanwalt Jonas an d. Oberbefehlshaber in d. Marken, 7.1.1915, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 77 ff. 394 Rechtsanwalt Jonas an d. preuß. Minister d. Innern, 26.1.1915, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 66 ff. (Herv. im Org.).
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einer deutschen Staatsangehörigen im Russischen Reich. Er ist sich sicher, dass sie »ohne besonderen Antrag schon den ersten Tag längst nach Sibirien verbracht worden« wäre. Und ebenso glaubt er sich im Einklang mit der »öffentliche[n] Meinung, vertreten durch die Presse«. Trotz des formulierten Konjunktivs könnte der preußische Innenminister darin den Versuch einer zumindest indirekten Drohung erkannt haben. Aber es half alles nichts. Trotz der vielseitigen Eingaben des Rechtsanwalts hatte Franz Ivers keinen Erfolg. Der Krieg und die Staatsangehörigkeit standen nicht über dem Urteil der Polizeibeamten und der Gegenaussage der feindlichen Ausländerin Vera Soskin.395 Die von Jonas und Ivers erzählte Geschichte einer zerrütteten Familie, die ihre staatsfeindliche und unverheiratete Tochter nicht unter Kontrolle bringen konnte, setzte sich nicht durch. Der Polizeipräsident wie der Oberbefehlshaber lehnten ihre Ausweisung oder Internierung ab, da kein »öffentliches Interesse« bestand. Die Anschuldigungen gegen die junge Frau und die Diffamierung ihrer Familie wollte der Polizeiassessor Otto Friese keineswegs bestätigt wissen. Er schrieb an den Innenminister, dass sie »politisch nicht hervorgetreten [ist] und sie sowie ihre ganze Familie […] sonst gut beleumundet« seien.396 Ob Friese bei seiner Einschätzung eine kritische Haltung gegenüber Ivers leitete, ist nicht bekannt. Der Justizrat musste sich allerdings zwei Jahre später selbst vor Gericht wegen »Nötigung und Erpressung in Ausübung seines Anwaltsberufes« verantworten. Ein im Verfahren hinzugezogener medizinischer Gutachter bescheinigte ihm, »ein chronischer Alkoholist und Morphinist mit moralischen Defekten« zu sein. Daraufhin beantragte sein Verteidiger einen Freispruch, weil Ivers »nicht das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit aus Mangel an sittlichem Empfinden« hätte.397 Die verzweifelten Bemühungen waren allerdings zwecklos. Der Richter verurteilte ihn zu neun Monaten Gefängnis. Dessen ungeachtet ist die kurze Episode um die Jahreswende 1914/15 nicht nur ein Beispiel für die Ausweitung narrativer Möglichkeiten wie einforderbarer Maßnahmen seitens deutscher Staatsangehöriger gegenüber feindlichen Ausländer/ innen. Vielmehr werden erstens die Handlungsspielräume der Vera Soskin deutlich, die als Anklägerin Detektivbüros aufsuchte und als Beschuldigte bei der Polizei Gehör fand. Zweitens wird erneut die bedeutende Kontrollfunktion staatlicher Akteure sichtbar. Sie hörten trotz des Krieges die streitenden Parteien an, trafen ihre Urteile nicht entlang nationaler Grenzen oder antisemitischer Vorurteile und achteten auf die Verhältnismäßigkeit ihrer Entscheidungen. Demzufolge mussten die Verleumdungen und die versuchten gesellschaftlichen Desintegrationen feindlicher Staatsangehöriger keinen Erfolg zeitigen. 395 Ebd. 396 Polizeipräsident Berlin (Berichterstatter Polizeiassessor Friese) an d. preuß. Minister d. Innern, 19.2.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 63 ff. 397 Gutachter u. Rechtsanwalt zit. nach: Schöller, Der Fall Löwen und das Weißbuch, S. 49.
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Möglichkeitsgrenzen wurden nicht von einzelnen empörten, klagenden, sich im nationalen Recht fühlenden Bürger/innen verschoben. Viele Akteure waren involviert oder beteiligten sich. Aber auch viele wehrten sich dagegen, weil Denunziationen und Ausgrenzungen feindlicher Ausländer/innen keinen – öffentlich oft behaupteten – gesellschaftlichen Konsens darstellten. Dies bedeutet nicht, dass nationale Abgrenzungsstrategien nicht schwer wogen und mit dem Krieg für viele Akteure plausibel und überzeugend waren. Gerade das Paradigma der gegenseitig herzustellenden Gerechtigkeit durchtränkte Überlegungen und Handlungen. Aber all das musste nicht überwiegen. Es war innerhalb des Deutschen Reiches vorstellbar, dass Krieg war, aber der ›zivile Feind‹ nach Maßstäben jenseits nationaler Ressentiments behandelt wurde. Gelegentlich stand der Krieg nicht über Vertragsverhältnissen, der Unschuldsvermutung und der Verhältnismäßigkeit.
Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit sozialer Beziehungen Tabuisierte Kontakte Im Rahmen der öffentlichen und privaten Zurschaustellung nationaler Gemütslagen während des Krieges sollten sich ausländische Staatsangehörige um ein zurückhaltendes Auftreten bemühen. Aber sie waren nicht die einzigen Adressaten warnender Stimmen. Denn militärische und zivile Akteure forderten ebenso von deutschen Staatsbürger/innen einen grundlegenden Verhaltenswandel ein. Die Verfechter der Sprachkritik appellierten bereits in der Vorkriegszeit an die Bürgerinnen und Bürger des Kaiserreiches, ihren Umgang mit Fremdwörtern zu überdenken und diese zu vermeiden. Richard Günther fragte in seiner Kriegsschrift Wir und die anderen provokant: »Wenn uns selbst die Achtung vor unserer Sprache mangelt, können wir dann erwarten, daß andere ihr solche entgegenbringen?«398 Bei seinen weiterführenden Überlegungen erkannte er aber, dass er sich an einen ausgewählten Adressatenkreis wenden musste. Nicht der »kleine« oder »gewöhnliche« Mann, sondern der »Bessergestellte, der gebildete Kaufmann«, die »Gebildeten«, mussten ihm zufolge eine Vorbildfunktion ausüben. Denn insbesondere sie waren in der Lage, das ›Ausländische‹ zu identifizieren.399 Die Verknüpfung der Klassenzugehörigkeit mit einer Intuition für nationale Besonderheiten, welche die Grundlage für einen angemessenen Umgang mit dem ›Ausländischen‹ bildete, hätte Günther in einem Vorfall in der sächsischen Stadt Glauchau bestätigt gefunden. Dort kollidierte in der Kriegszeit das Nicht-Wissen um national konnotierte Symbole mit einer vorgestellten Grenze im Hören der französischen Nationalhymne. Dies erfuhr die Gasanstaltsarbeiters-Witwe Minna Ida Vogel am eigenen Leibe. Ihre Tochter spielte und begleitete bedenkenlos bei 398 Günther, Wir und die Anderen, S. 50 (Herv. im Org.). 399 Ebd., S. 46.
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geöffnetem Fenster die Marseillaise. Sie kam mit ihrer Gesangeinlage erzwungenermaßen durch einen erbosten Leserbriefkommentator in die Zeitung und stand schließlich im Zentrum polizeilicher Ermittlungen.400 Nach Abschluss dieser hieß es im Bericht des Stadtrates schlussendlich: »Die Bildung und Erziehung der Vogel rechtfertigen ohne weiteres die Annahme, daß sie beim Spielenlassen des Stückes sich keineswegs bewußt gewesen ist, daß es sich um das französische Nationallied handelte, und daß sie keineswegs etwa die Absicht verfolgt hat, beim Publikum Ärgernis zu erregen.«401 Ihre soziale Zugehörigkeit schützte sie offenbar vor ihrem im Krieg problematischen Nicht-Wissen. Dennoch hatte die Tochter der Witwe Vogel mit der Leichtigkeit ihrer Stimme eine eingeforderte Grenze überschritten. Der Briefschreiber und die Zeitungsredakteure zogen ihre Musikauswahl in eine begrenzte Öffentlichkeit. Innerhalb dieser sollte sich eine klassenübergreifende nationale Selbstbeherrschung durchsetzen. Das In-Beziehung-stehen mit ›Ausländischem‹ wurde im Zuge dessen umfassend problematisiert. Das Verhältnis zwischen In- und feindlichen Ausländer/innen erlebte eine Verunsicherung und ihre alltäglichen Kontakte miteinander standen infrage. Das Wechselspiel zwischen nationalen Forderungen und ihren Übertretungen verdeutlicht ein weiteres Beispiel aus dem sächsischen Freiberg. Dort hatten bereits vor dem Krieg russländische Staatsangehörige gelebt, die meist an der Bergakademie studierten. Ein anonym gebliebener Bürger hinterfragte im November 1915 grundlegend den Kontakt zu ihnen und den übrigen in der Stadt gebliebenen Ausländer/innen. »Leider finden sich immer noch Leute, die sich in der jetzigen Zeit ihrer nationalen Würde nicht bewußt sind und mit feindlichen Ausländern freundschaftlichen Verkehr pflegen«, bedauerte er im Freiberger Anzeiger.402 Er war in einem Gasthof Zeuge eines geselligen Umtrunkes zwischen »Russen«, einer »Dame« und einem deutschen Soldaten geworden. »Und ich traute meinen Augen nicht, bereitwillig nahmen es die Leute an, prosteten sich zu und auch der tapfere Feldgraue trank mit!« Der Kommentator empfand diese Szene besonders anstößig, weil Berichte über die Besetzung Ostpreußens durch die russländische Armee und Kriegsrechtsverletzungen durch sie noch nicht lange zurücklagen. »Und hier finden sich noch Deutsche, die mit unseren Feinden abends gemütlich am Biertisch sitzen und Verkehr pflegen!« Aus der Perspektive des Anklagenden hatte ein unerhörter Tabubruch stattgefunden. Der ausländische Bürger wurde nicht für die Taten des Heeres seines Landes sozial geächtet, sondern trotzdem in die zeitlich begrenzte gesellige Gasthausgemeinschaft aufgenommen. Mit seinen Worten for-
400 Zum Folgenden siehe den Vorgang in: HStA Dresden, 10736/11086, Bl. 49 f. 401 Stadtrat Glauchau an d. Sächs. KrhM Chemnitz, 13.2.1915, in: HStA Dresden, 10736/11086, Bl. 51. 402 Verkehr mit Ausländern, in: Freiberger Anzeiger, 23.11.1915 (Nr. 272), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3359, Bl. 64.
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derte der anonym gebliebene Bürger nichts weniger als die Beendigung jeglichen sozialen Kontaktes zu feindlichen Ausländer/innen. Entsprechung fanden solche national-moralischen Bedenken und Forderungen in Beobachtungen der militärischen Führung. »Es sind hier zwei Fälle bekannt geworden, in denen junge Damen, anscheinend Französinnen, auf den Bahnhöfen und während der Eisenbahnfahrt die durchfahrenden Soldaten über Ziel und Zweck ihrer Reise sowie über sonstige militärische Nachrichten ausfragten und sich hierüber Notizen machten. […] Beide traten sicher auf und sprachen gut deutsch. […] Durch liebenswürdiges Entgegenkommen verstehen sie es, sich die Soldaten sehr bald gefügig zu machen und aus ihnen alles Wissenswerte herauszuholen.«403 Die daraus hervorgehende Schlussfolgerung, »daß man sich sowohl im Publikum wie beim Militär noch immer nicht über das persönliche Verhalten in solchen Fällen klar« sei, beschränkte sich aufgrund der unklaren Identifizierbarkeit der Täterinnen nicht nur auf feindliche Staatsbürger/innen. Die Ausspionierten hätten »nicht die erforderliche Zurückhaltung in ihren Gesprächen unter sich und besonders gegenüber Fremden« gezeigt. Deshalb mahnte Kurt von Manteuffel, der Chef des Stellvertretenden Generalstabes, eine allgemeine Mäßigung im Kontakt zu Anderen an. Den vor Ort verantwortlichen Offizieren schärfte er ein, die Bevölkerung entsprechend zu sensibilisieren. In einer kurz zuvor veröffentlichten nichtamtlichen Mitteilung des Wolffschen Telegraphischen Bureaus, die in mehreren Tageszeitungen zum Druck kam, wurde ähnlich lautend ein mäßigendes, achtsames, misstrauisches Verhalten in »Eisenbahn, Straßenbahn, Wirtshaus […] als auch im eigenen Kreise« eingefordert.404 »Jedes unvorsichtige Wort kann dem Feinde nützen, uns aber unzählige Opfer kosten und dadurch zu einer schweren Versündigung am Vaterlande werden. Darum nochmals: Aufmerksamkeit gegen Verdächtige und Zurückhaltung im Verkehr mit anderen.«405 »Denn darüber darf man sich nicht täuschen«, klärte die Frankfurter Zeitung ihre Leser/innen auf: »Es leben bei uns nicht nur viele Ausländer, sondern ganz sicher – auch nach amtlicher Auffassung – zahlreiche Spione und Agenten.«406 Deshalb sei Vorsicht geboten vor leichtsinnigen Gesprächen. Legten Zeitungsmeldungen, Bekanntmachungen und Dienstanweisungen noch zu Kriegs403 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an u. a. d. Sächs. KM, 24.10.1914, in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 128 f. u. (Abs.) in: HStA Weimar, Thüringisches Oberlandesgericht Jena, Nr. 903, Bl. 29 f. 404 Kampf den Spionen, in: Berliner Tageblatt, 10.10.1914 (Nr. 515, Morgenausgabe) u. in: Karlsruher Tageblatt, 10.10.1914 (Nr. 281). Ferner in: Magdeburgische Zeitung, 10.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 3, Dok.-Nr. 385a, S. 279. 405 Ebd. 406 Nicht schwätzen!, in: Frankfurter Zeitung, 4.11.1914 (Nr. 306, Zweites Morgenblatt).
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beginn auf die wachsame Beobachtung der Mitmenschen, auf das Erkennen von verräterischen Widersprüchen Wert, so trat nun eine Disziplinierung des Verhaltens der Bevölkerung hinzu. Warnungen vor ausländischen Agent/innen ergingen während des gesamten Krieges mit ähnlichen dualistischen Forderungen.407 Im Februar 1915 beispielsweise hatte ein »deutsche[r] Militär-Attaché bei einer neutralen Macht« die Information erhalten, dass »Spione und vor allem Spioninnen an öffentlichen Orten, insbesondere in den Tee- und Restaurationsräumen der großen Berliner Hotels, begünstigt durch laute oder unvorsichtige Unterhaltung von Offizieren, Informationen sammeln«.408 Vor allem Offiziere sollten sich daher »der allergrößten Zurückhaltung« befleißigen. Dagegen erhielt der Regierungspräsident in Danzig vom Quartiermeister des Oberbefehlshabers Ost einen Maueranschlag übersandt, der sich allgemein an die Bevölkerung wandte. »Es ist bekannt, daß Spione und Spioninnen an öffentlichen Orten, insbesondere auch in den Eisenbahnen, Gastwirtschaften, Zigarren- und Friseurgeschäften usw. Informationen zu sammeln versuchen«, hieß es darin. »Vor lauten und unvorsichtigen Unterhaltungen über militärische Dinge jeder Art an allen öffentlichen Orten wird gewarnt!«409 Die Warnungen des Chefs des stellvertretenden Generalstabes bezogen sich Anfang 1917 auf die Gasthofbetriebe, in denen »insbesondere in den größeren Städten […] in erheblichem Umfange Ausländer und Ausländerinnen als Direktoren, Büroangestellte, Kellner, Pförtner, Zimmermädchen, Hausburschen usw.« arbeiteten.410 Sie hätten »vielfach Gelegenheit, absichtlich oder unabsichtlich aus unvorsichtigen Gesprächen, offen liegen gebliebenen Schriftstücken oder Karten, ihnen für die Nachsendung von Postsachen angegebenen Adressen oder durch geschicktes Ausfragen« militärisch relevante Informationen zu erhalten. »Soweit die Gasthofangestellten aus dem feindlichen Ausland oder aus dem französischen oder italienischen Sprachgebiete der Schweiz stammen, besteht von vornherein die Gefahr, daß sie derartige Kenntnis von militärisch wichtigen Tatsachen […] zum Nachteil Deutschlands und seiner Verbündeten verwerten. Aber auch gegenüber den sonstigen ausländischen Gasthofangestellten, unter Umständen auch gegenüber Inländern, ist in dieser Hinsicht größte Vorsicht geboten.«411 407 Preuß. KM (gez. v. Wandel), betr. Spionagetätigkeit unserer Feinde, an sämtl. stv. Gkdos., 30.10.1914, in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 135. 408 Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel) hier a. d. Reichskanzler (Reichskanzlei), 9.2.1915, in: BArch Berlin, R 43/2403.d, Bl. 30. 409 Oberbefehlshaber Ost (gez. Quartiermeister v. Eisenhart) hier an d. Reg.-Präs. in Danzig, 9.6.1915, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 15796. 410 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. i. A. Brose) an d. Preuß. KM, 8.2.1917, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1364. 411 Ebd.
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Waren zu Kriegsbeginn die Bahnhöfe zentrale Knoten geheimer militärischer Informationen gewesen, so firmierten nun die Gasthöfe als Orte der Spionage. Die Schwierigkeiten bei der Enttarnung verdächtiger Personen blieben hingegen bestehen. Die Gasthofbesitzer sollten deshalb ihre ausländischen Angestellten überwachen und Polizeibeamte Vertrauensleute unter den Beschäftigten gewinnen. Denn diese könnten ebenso »bei der Beobachtung der zureisenden Fremden gute Dienste leisten«. Das Misstrauen gegenüber feindlichen Ausländer/innen musste in den Augen der Militärführung aufrechterhalten werden. Neben dem Hotel- und Gastgewerbe galten Industriebetriebe den Krieg hindurch als besonders anfällig für Spionage- und Sabotageakte. Noch dreieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn sollte aus diesem Grund im Bezirk des III. Armeekorps ein Merkzettel an das Sicherheits- und Aufsichtspersonal in der Kriegsindustrie verteilt werden, der ebenso als Plakat Verwendung finden konnte.412 Die militärische Warnung verdeutlichte zunächst eine existenzielle Bedrohung der »Soldaten an der Front, Eure[r] Arbeitsstätten und Eure[r] Existenz« durch »Spione und Brandstifter«, die »an der Arbeit« seien und Anschläge vorbereiteten.413 Als allgemeine Vorbeugung sprachen die Militärverantwortlichen sodann die Mahnung aus, »Vorsicht bei Gesprächen« zu üben, denn den »Feind interessieren alle kriegswirtschaftlichen Zustände und Maßnahmen«. Die Firmeninhaber und Angestellten sollten zudem Wert auf den achtsamen und vorsichtigen Umgang mit Ausländer/innen legen. Ihre ausländischen Kollegen »dürfen nicht mehr Einblick in Fabrikationsgeheimnisse erhalten als unumgänglich«, und »Obacht« solle »bei Entsendung ausländischer Angestellter auf Auslandsreisen« walten. Eine öffentliche Kritik an diesen vielfältigen Warnungen hatte der Vorstand des Verbandes Pharmazeutischer Fabriken e. V. geäußert. Er warnte im Frühjahr 1916 nachdrücklich vor den Folgen. »Die einheimischen Arbeiter sehen sowieso schon die in Betrieben etwa mitbeschäftigten Arbeiter, die ihrer Nationalität nach zu den feindlichen Ausländern zählen, mit missgünstigen Augen an.«414 Im Übergang von öffentlich-anonymen zu privat-individuellen Räumen sah der Verbandsvorstand folglich eine weitreichende Veränderung im alltäglichen Zusammenleben mit Ausländer/innen. »Es ist tatsächlich auch etwas anderes, ob in Eisenbahnzügen, öffentlichen Lokalen usw., wo jedermann verkehrt, solche Tafeln hängen, als wenn sie jetzt plötzlich in Arbeitsräumen, wo die Einzelnen sich kennen, aufgehängt werden.«415 Im persönlichen Kontakt zeigten sich gleichzeitig vielfältige eigensinnige Gesten, die als Widersprüche zu den Forderungen Militärverantwortlicher wie empör412 Stv. Gkdo. III. AK an d. Reg.-Präs. in Potsdam, 18.5.1918, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2833. 413 Ein Wort an d. Kriegsindustrie u. ihre Arbeiter, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2833. 414 Eingabe d. Verbandes Pharmazeutischer Fabriken e. V. an d. Hamburgische Gewerbekammer, 27.5.1916, in: Lebenswelten im Ausnahmezustand, S. 109 f. 415 Ebd.
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ter Bürger/innen gelesen werden können. Nur wurden diese selten dokumentiert. In den Erinnerungen des Petrograder Literaten und Rechtsanwalts Nikolaj Platonovič Karabčevskij an seinen Aufenthalt in Bad Homburg im August und September 1914 finden sich aber exemplarisch fortwährend Anspielungen, die die Offenheit Einzelner verdeutlichen. Zuerst war es der Hoteldirektor Konrad Ritter (1838–1921), der ihm wohlwollend einen Kredit gewährte und ihn nicht seines Hauses verwies. Sodann wollte der Arzt Hobert für seine Dienste keine Bezahlung annehmen, und Hotelangestellte zeigten sich hilfsbereit und erledigten vertrauliche Botengänge. Die Familie Baehl, die das Hotel Viktoria besaß, verstand die Lage der russländischen Kurgäste und kam ihnen entgegen. Schließlich griff bei seiner Abreise aus dem Deutschen Reich ein »älterer Deutscher« in seine Manteltasche und steckte den wartenden Ausländer/innen Geld für Süßigkeiten für ihre Kinder zu.416 Bei den Reichstagsabgeordneten Oskar Cohn und Karl Liebknecht (1871–1919) stellte der Kontakt mit ausländischen Staatsbürger/innen dagegen eine politische Haltung dar. Sie verkehrten offen mit der britischen Familie Delmer, und ihre Kinder spielten zusammen.417 Vor dem Reichstagsplenum verteidigte Cohn nachdrücklich Frederick Sefton Delmer, der vor dem Krieg 14 Jahre lang Englische Literatur an den Universitäten in Berlin und Königsberg gelehrt hatte. Denn es sei eine Frage des Anstandes, ausländische Staatsangehörige wie Delmer angemessen zu behandeln und sie nicht in Ruhleben zu internieren.418 Das Observieren ausländischer Staatsangehöriger und ein stetiges Misstrauen ihnen gegenüber wurden trotzdem von militärischen wie zivilen Akteuren gefordert. Während des Krieges verstummten solche Appelle nicht. Sie traten zumeist an die Seite der Warnungen vor »unerlaubte[m] Verkehr mit Kriegsgefangenen«.419 Wenn die vorangegangenen Beispiele daher eine Stigmatisierung des Kontaktes zu feindlichen Ausländer/innen beleuchteten, so darf ein anderes Charakteristikum der Kriegsgesellschaft nicht unerwähnt bleiben: die Konfrontation mit über 2,5 Millionen Kriegsgefangenen im Laufe des Krieges.420 Die Warnungen, Verbote und Strafen in Bezug auf den tabuisierten Kontakt zu »gefangenen Feinden«421 verweisen dabei nicht nur auf ein administratives Wollen, sondern ebenso auf ein alltägliches Sein.
416 Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 32 f., 50 ff. u. 61 f. 417 Delmer, Trail Sinister, S. 46. 418 Oskar Cohn (SAG), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1999. 419 Ein Wort an d. Kriegsindustrie u. ihre Arbeiter, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2833. 420 Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 28f, Tab. G. 421 Ein Wort an d. Kriegsindustrie u. ihre Arbeiter, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2833.
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Gesuchte Begegnungen Unter Arbeitszwang stehend, befanden sich im August 1916 von 1.625.000 Kriegsgefangenen 735.000 auf Arbeitsstellen in der Landwirtschaft und 331.000 in Industriebetrieben; 39.000 arbeiteten auf »gemeinnützigen« Arbeitskommandos.422 Diese Integration in die Kriegswirtschaft stellte das Ergebnis eines zwei Jahre zuvor begonnenen Prozesses der Mobilisierung von kriegsgefangenen Arbeitskräften und ihrer »Ökonomisierung« als Ressource dar.423 Im ersten Kriegshalbjahr waren sie ohne wirtschaftliche Motive in größeren Verbänden zur Kultivierung unerschlossener Naturflächen abkommandiert worden. Vor dem Hintergrund eines latenten Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft und der Nachfragen einzelner Unternehmer wurden in der Folgezeit die Größe der Gruppen und ihr Bewachungspersonal reduziert, zugleich aber ihre Arbeitsorte vermehrt. Sie traten in der Landwirtschaft, in Industriebetrieben und in Zechen an die Stelle der rekrutierten deutschen Männer. Ihr Arbeitseinsatz stand seit 1916 unter der Prämisse kriegswirtschaftlicher Optimierungen. Die Militärbehörden systematisierten ihre Verteilung und forcierten unter zunehmenden Repressionen ihren Einsatz in der Rüstungsindustrie und im Bergbau. Dabei spielten militärische Sicherheitsbedürfnisse wie die berufliche Qualifikation des einzelnen Gefangenen eine immer geringere Rolle. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kriegsgefangenen unterschieden sich stark in Abhängigkeit von ihren Einsatzorten. Während sie in der Industrie und im Bergbau unter mangelnder Ernährung zu schweren körperlichen Arbeiten herangezogen wurden und meist in Arbeitslagern interniert waren, gestanden ihnen landwirtschaftliche Arbeitgeber unabhängigere und unbewachte Arbeitsaufgaben zu. Allein im Königreich Sachsen lag am 1. Juni 1918 die Zahl der Arbeitskommandos ohne Wachpersonal bei 14.474.424 Die Landwirte konnten ferner die Nahrungsmittelknappheit besser ausgleichen.425 In kleineren Wirtschaften fand darüber hinaus nicht selten ein Funktionswandel der gefangenen Aushilfs- und Erntearbeiter zu Knechten und selbstständig agierendem Wirtschaftspersonal statt. Folglich drangen die Kriegsgefangenen zum Teil tief in den Alltag des Landund Stadtlebens ein.
422 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 333. 423 Umfassend zur Beschäftigung von Kriegsgefangenen: Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit; Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 248–318 u. Jochen Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte. Kriegsgefangene in Deutschland 1914–1918, in: Ders. (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, S. 67–96. Zum Begriff der Ökonomisierung siehe: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 246 f. u. im Hinblick auf die Arbeitskräfteverwaltung S. 248–252 u. 316 f. 424 Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 192. 425 Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte, S. 81.
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Die mögliche Integration in die lokale Kriegsgesellschaft illustrieren konflikthafte Wahrnehmungen aus dem Straßenverkehr der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Beamte der Dresdner Polizeidirektion beobachteten 1917, dass zunehmend Pferdefuhrwerke von Kriegsgefangenen ohne Begleitpersonen gesteuert wurden. Sie äußerten gegenüber dem stellvertretenden Generalkommando daraufhin ihre Bedenken »vor allem vom verkehrspolizeilichen Standpunkte aus […], weil die Gefangenen die Verkehrsvorschriften nicht kennen und überhaupt nicht deutsch verstehen, sodaß sie Verbotstafeln nicht lesen, Zurufe und Weisungen nicht verstehen können usw.« Damit seien sie nach »§ 19 Absatz 3 der Verkehrsordnung für die Stadt« nicht zur »selbständigen Leitung von Fuhrwerken […] geeignet«.426 Der Generalkommandeur hielt diese Position zwar für gerechtfertigt, gleichwohl lehnte er ein generelles Verbot kriegsgefangener Pferdefuhrwerkfahrer aus »volkswirtschaftlichen Gründen« ab. Zwar wären dadurch die »Übelstände polizeilicher Art vermindert«, jedoch müssten bei dem »allgemeinen Leutemangel alsdann eine Menge notwendiger Fuhren unterbleiben«.427 Der Militärverantwortliche nahm die Präsenz der ausländischen Militärpersonen hin und empfahl diese Haltung ebenfalls den Zivilbeamten. Während militärische Sicherheitsinteressen umfassende Überwachungsmaßnahmen nahegelegt hatten, förderte die kriegswirtschaftliche Räson ein Zusammenarbeiten von Kriegsgefangenen und Zivilisten. Rückblickend verstärkte Richard Laube 1923 seine Erfahrungen über die Kriegsjahre in Sachsen mit der Frage, ob es »Frauen und Männer« gab, »die nicht einen Kriegsgefangenen gesehen hätten«. Er antwortete selbst. »Kaum, denn ob man besonders in den Jahren 1916–18 still durch die Wälder zog, auf staubiger Landstraße marschierte, durch Wiesen und Felder wanderte, mit der Eisenbahn fuhr, in der Großstadt zu Hause war oder auf dem einsamsten Dorfe wohnte, überall traf man auf diese Fremdlinge in unseren Gauen.«428 Die Lage der im Deutschen Reich arbeitenden Kriegsgefangenen unterschied sich wiederum dramatisch von jenen (im August 1916 235.000 Kriegsgefangenen), die zum Einsatz in Arbeitsbataillonen in den militärischen Front- und Etappengebieten gezwungen wurden. Sie erlebten eine physische und psychische Erniedrigung und
426 Polizeidirektion Dresden an d. stv. Gkdo. XII. AK, 27.1.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 26. 427 Stv. Gkdo. XII. AK an d. Polizeidirektion Dresden, 30.1.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 26. 428 Richard Laube, Aus dem Leben der Kriegsgefangenen in Sachsen, in: Johann Edmund Hottenroth (Hg.), Sachsen in großer Zeit. Gemeinverständliche, sächsische Kriegsgeschichte und vaterländisches Gedenkwerk des Weltkrieges, Bd. 3, Leipzig 1923, S. 348–367, hier S. 348.
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Gewalt jenseits völkerrechtlicher und humanitärer Prinzipien.429 Insbesondere die russländischen Kriegsgefangenen wurden, wie es im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Deutschen Reichstages hieß, »je nach Bedarf in rücksichtsloser Weise zu den nötigen Arbeiten herangezogen«.430 Der geflüchtete Kriegsgefangene Arthur Leggett suchte im Mai 1918 nach Worten über seine Eindrücke von Gefangenen, die in einem Arbeitskommando hinter der Front eingesetzt gewesen waren. »At the end of January or early in February 1918, 1,400 men came into Fried richsfeld from working behind the German lines. […] Some had been there 14 or 15 months and had never had a parcel or letter. They were in terrible state. The German doctor himself admitted he had never seen men in such a condition. You could not recognise some of them as human beings. As soon as they arrived some of them had to be carried into the hospital and some had collapsed before they reached the camp. […] A lot of them had dysentery when they came in, and a few died. These men were like skeletons and were very depressed. They said many of them had died.«431 Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen Lebensumstände und Erfahrungen stehen die folgenden kurzen Betrachtungen über missbilligte und untersagte Begegnungen zwischen der Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen im Deutschen Reich.432 Denn die Militärbefehlshaber forderten nicht nur eine Verschiebung alltäglicher Interaktionsgrenzen gegenüber feindlichen Ausländer/ innen ein, sondern ebenso eine Verweigerung sozialer Beziehungen bezüglich der gefangenen Soldaten. Als Akteure der Empörung über mutmaßliches Fehlverhalten traten erneut die Tageszeitungen auf. Bereits mit der Ankunft der ersten Kriegsgefangenentransporte im Deutschen Reich berichteten die Redakteure über eine Vielzahl unerwünschter Kontakte. Am 17. August 1914 beklagte eine Meldung im Hannoverschen Kurier: »Die Kriegsgefangenen sind von Männern und Frauen – namentlich aber von Frauen! – in einer Weise freundlich behandelt, mit Leckereien gefüttert und sonst429 Zur Lage der Kriegsgefangenen in diesen Einsatzgebieten siehe die Forschungen von: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 296–304 u. Jones, Violence against Prisoners of War, S. 167– 222. 430 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 128–165, insb. zu russländischen Kriegsgefangenen S. 148– 152, hier S. 148. 431 Interview mit Arthur Leggett, 8th Durham Light Infantry, beim British Government Committee on the Treatment by the Enemy of British Prisoners of War, 6.5.1918, zit. nach: Jones, Violence against Prisoners of War, S. 175. 432 Zu Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung ebenso: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 185–203 u. Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 146–154.
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wie verhätschelt worden, daß es einfach eine Schmach ist.«433 Ähnlich titelte das Westfälische Volksblatt und prangerte das Verhalten der »Bonbons-Mädchen in Paderborn« an.434 Weitere Meldungen im Berliner Lokal-Anzeiger, in den Münchner Neueste Nachrichten und in vielen kleineren Regionalzeitungen thematisierten einen zu »weichherzigen« Umgang mit den Kriegsgefangenen und rückten vor allem weibliche Akteure in den Mittelpunkt.435 Die Artikel suggerierten ihr »würdeloses Verhalten« gegenüber den französischen Besiegten, während deutsche Männer weiterhin an der Front die Existenz des Deutschen Reiches verteidigten. Die Reporter der Tägliche Rundschau lobten alsdann die Reaktion eines Arztes auf die geschilderten Vorfälle. »Eine wahre Wohltat ist es, da zu lesen, […], daß nämlich in Stuttgart ein Stabsarzt, als er sah, in welch schamloser Weise Damen sich an die Gefangenen heranmachten, einer solchen Dame ein paar gehörige Ohrfeigen versetzte. – Ausgezeichnet so, und so immer wieder!«436 Französische Erfahrungsberichte und erste historische Betrachtungen des Krieges legten gleichwohl ein vielschichtiges Bild der Geschehnisse auf den Gefangenentransporten offen. Der Gutachter für den Untersuchungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung über die Verletzung des Völkerrechts im Krieg musste schließlich den Presseartikeln eine voreingenommene Einseitigkeit bescheinigen. Sein Bericht bestätigte verschiedene Vorwürfe der französischen Anklageschrift Le régime des prisonniers de guerre en France et en Allemagne au regard des conventions internationales, 1914–1916,437 wonach die Zivilbevölkerung Kriegsgefangene auf deutschen Bahnhöfen angespuckt und beschimpft, geschlagen und getreten hatte. »Wir werden aber anzunehmen haben,« stellte der Sachverständige schlussfolgernd fest, »daß es die deutsche Bevölkerung in der Tat öfters an der richtigen Haltung fehlen ließ.«438 Gründe für ein solches Verhalten fand er gleichwohl im Ausland. Denn die Bevölkerung sei erbost gewesen über die Behandlung deutscher Gefangener bei den Kriegsgegnern. Für die Militärbefehlshaber und ihre Stäbe stellten beide Reaktionen auf die Ankunft der Kriegsgefangenen unerwünschte Grenzüberschreitungen dar und 433 Hannoverscher Kurier, 17.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 500, S. 319. 434 Westfälisches Volksblatt (Paderborn), 15.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.Nr. 500a, S. 319 f. 435 Berliner Lokal-Anzeiger, 20.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 500c, S. 320; Münchner Neueste Nachrichten, 20.8.1914, Azg. in: Ebd., Dok.-Nr. 500d, S. 320 f.; Unangebrachte Weichherzigkeit, in: Karlsruher Tageblatt, 17.8.1914 (Nr. 227). 436 Tägliche Rundschau, 17.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 500b, S. 320. 437 Louis Renault, Le régime des prisonniers de guerre en France et en Allemagne au regard des conventions internationales, 1914–1916, Paris 1916, S. 14 f. 438 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 171. Über die Ankunft der Gefangenentransporte: Ebd., S. 165–172. Eine die Erfahrungsperspektive der Kriegsgefangenen integrierende Interpretation der Ereignisse unternimmt: Jones, Violence against Prisoners of War, S. 51–62.
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wurden durch Verfügungen untersagt.439 Mit der Einrichtung großer Kriegsgefangenenlager in allen Teilen des Deutschen Reiches setzten sich aber vielfältige Kontaktaufnahmen mit den Kriegsgefangenen fort. In der Gartenlaube schilderte Lisbeth Dill (1877–1962) ihre Wochenendeindrücke aus Merseburg. »Als ob es sich um ein Rennen, einen Zirkus handle,« vergegenwärtigte sie ihren Leser/innen, »bewegt sich die Menge der Schaulustigen um den Zaun, Radfahrer und Autos kommen vorbei und halten vor dem Gitter; Schulen, Kinder aus allen Städten der Umgegend führen des Sonntags die Züge die Menschen her; die Wege, das Gras ist schon vertreten, die Pfade gebahnt.«440 Erneut reagierten die Militärverantwortlichen mit Verboten und Zivilbeamte mussten deren Einhaltung kontrollieren. Innerhalb der Berliner Kriminalpolizei wurde eigens ein Kriegsdezernat eingerichtet, das ausschließlich den »vorschriftswidrigen Verkehr« mit Kriegsgefangenen unterbinden sollte.441 Im Befehlsbereich Freiherr von Bissings umfasste dieser jeden »mündliche[n] oder schriftliche[n], mittelbare[n] oder unmittelbare[n]« Austausch »nicht berechtigter Militär- oder Zivilpersonen mit Kriegsgefangenen«.442 Im Sommer 1915, als die ersten Arbeitskommandos aus den Lagern in die Arbeitswelten der Bevölkerung eintraten, ergänzte sein Nachfolger Egon Freiherr von Gayl: »Wenngleich ich bei dem patriotischen Sinn der deutschen Arbeiterschaft annehme, daß es für sie keiner Strafbestimmungen bedarf, um sie davon abzuhalten, sich den gefangenen Feinden gegenüber etwas zu vergeben, so nehme ich doch im eigenen Interesse der Arbeiter, die auf Arbeitsstätten mit Gefangenen in Berührung kommen, Anlaß, darauf hinzuweisen, daß obiges Verbot auch für die Arbeitsstätten Geltung hat.«443 Aber nicht nur die Arbeiterschaft stand unter einer besonderen Beobachtung. In Bezug auf die »ländlichen Arbeitgeber« beklagte die Regierung Oberbayerns bereits 1915 Missstände. Sie würden »den Kriegsgefangenen weit mehr als den zugelassenen halben Liter Bier täglich« zugestehen, ihnen zusätzliche Brotmengen zuteilen und sie »sogar ins Wirtshaus« führen. »Wirte und Krämer« hätten den Gefangenen Schnaps verkauft und »Frauenpersonen […] in würdelosester Weise 439 Erlass d. stv. Gkdo. XI. AK (gez. Haugwitz), 18.8.1914, (Abs.) in: HStA Weimar, Thüringisches Oberlandesgericht Jena, Nr. 903, Bl. 28 u. Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 171. 440 Lisbeth Dill, Die Gefangenenlager bei Merseburg, in: Die Gartenlaube, 1915/1, S. 7, zit. nach: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 188. Vgl. ebd. die Abbildungen Nr. 9 u. 10. 441 Glorius, Im Kampf mit dem Verbrechertum, S. 381, Fn. 169. 442 Bkm. d. stv. Gkdo. VII. AK (Moritz v. Bissing), 27.11.1914, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Erste Ausgabe, S. 5. 443 Bkm. d. stv. Gkdo. VII. AK (v. Gayl), 26.7.1915, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Zweiter Nachtrag, S. 68 f. (Herv. im Org.).
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Verhältnisse« zu ihnen geknüpft.444 Mit der Intensivierung des Arbeitskräfteeinsatzes in der Landwirtschaft im Sommer 1916 intensivierten sich diese unerlaubten Kontakte. Gleichzeitig nahmen die Reglementierungen, die den sozialen Umgang unter Strafe stellten, zu. Die Badische Landes-Zeitung berichtete aus der Gemeinde Hirschberg, dass der Landrat einen »bedauerlichen Mangel an Nationalgefühl« feststellen musste und die Einwohner/innen ermahnte, den »freundschaftliche[n] Verkehr zu Kriegsgefangenen« zu beenden.445 Ebenso zirkulierte eine lange Liste mit Vorfällen zwischen den Amtszimmern des Sächsischen Kriegsministeriums, die als Ausgangspunkt für eine Ermahnung der Zivilbehörden diente. In dieser hieß es aufzählend: »So ist es beispielsweise vorgekommen, daß Arbeitgeber mit ihren Kriegsgefangenen spazieren gegangen sind oder zugelassen haben, daß der Kriegsgefangene ohne jede Begleitung frei in der Stadt herumlaufen konnte, daß ein Arbeitgeber mit dem ihm zugestellten Kriegsgefangenen Theater und Lichtspiele besucht hat, daß Arbeitgeber Kriegsgefangene in ihrer Wohnung zum Nachmittagskaffee eingeladen oder sie mit in die Wirtshäuser genommen haben, daß sogar Kriegsgefangene mit Mädchen spazierengehend angetroffen worden sind[.]«446 Ein Jahr später, nach einer Vielzahl an Warnungen und Verboten, berichtete der Abgeordnete Theodor Held (1859–1947) dem Reichstagsplenum über die Gutmütigkeit der ländlichen Bevölkerung, um eine »teilweise zu gut[e]« Behandlung der Gefangenen nachzuweisen: »Es bildet sich da leicht ein gewisses Familienverhältnis heraus, da es doch gute und ordentliche Leute darunter gibt[.] […] In Verden liegt zum Beispiel ein Gefangener im Lazarett, und da kommen Mutter und Tochter des Landwirts mit großen Paketen an und sagen: wir wollen doch unseren Gefangenen einmal besuchen. […] Ein Gutsbesitzer sagte mir, dass seine Gefangenen, die in einem Sammellager untergebracht sind und dort angemessene Lagerstätten und Decken haben, von den Leuten aus dem Dorfe noch mit Betten bedacht werden, die sie dahin schleppen, damit die Gefangenen recht weich liegen.«447
444 Regierung von Oberbayern (KdI) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden d. Regierungsbezirks, 19.11.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3. 445 Ausflüge mit Kriegsgefangenen, in: Badische Landes-Zeitung, 11.8.1916 (Nr. 371, Abendblatt). 446 Sächs. KM an d. Sächs. MdI, 5.8.1916, in: HStA Dresden, 10736/3364, Bl. 2 u. Verordnung d. Sächs. MdI, 8.8.1916, in: StdA Chemnitz, Gemeinde Ebersdorf, Nr 615, Bl. 82. 447 Theodor Held (Hospitant d. Nationalliberalen), 101. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 5.5.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 309, S. 3075.
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Für das Entsetzen des Abgeordneten gibt es mindestens zwei Lesarten. Einerseits legt seine Wortwahl eine argumentative Übertreibung von Mutmaßungen und Hörensagen nahe. Mit kontrastreichen Bildern unterstützte er seine Forderung nach Repressalien, die die Lage deutscher Gefangener im Ausland verbessern sollten. Andererseits enthalten seine Schilderungen das Aufeinanderprallen zweier Vorstellungen über die Gesellschaft im Krieg. Die Landwirte integrierten die Kriegsgefangenen in ihre soziale Lebenswelt und sorgten für sie. Der Abgeordnete wollte dies verhindert und die Gefangenen ausgeschlossen vom Alltag der Bevölkerung und in den Sammellagern eingeschlossen wissen. In seinen Augen waren die Grenzüberschreitungen nicht statthaft, und damit befand er sich im Einklang mit vielen Militärvertretern. Der stellvertretende Generalkommandeur in Danzig sah sich im Sommer 1916 veranlasst, »jede nicht durch die Arbeitsbeschäftigung bedingte Annäherung an Kriegsgefangene während und außerhalb der Arbeitszeit, besonders auch an Sonnund Feiertagen«, zu verbieten.448 Um die Begegnungsorte mit der Zivilbevölkerung zu minimieren, durften Kriegsgefangene in seinem Armeekorpsbereich »Schanklokale« nicht betreten. Der Bevölkerung wurde ebenso die Fürsorge durch Übergabe von Lebensmitteln, Verbrauchsgütern oder Kleidungsstücken untersagt. Um der Bekanntmachung Nachdruck zu verleihen, stellte der Militärbefehlshaber Verstöße dagegen unter Strafe mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder Zahlungen bis zu 1500 Mark. Darüber hinaus sollten die Grenzüberschreitenden an den Pranger gestellt werden, indem ihre Namen öffentlich bekanntgemacht würden. Verboten war der »Verkehr des Publikums mit Kriegsgefangenen« ebenfalls in Sachsen, aber die Strafen fielen milder aus. »Zuwiderhandlungen werden, falls nicht härtere Strafe verwirkt ist, mit Haft bis zu 6 Wochen oder Geldstrafe bis M 150,– bestraft«, verkündete die Sächsische Staatszeitung den Einwohner/innen.449 Zeitgleich erfolgte eine flächendeckende Veröffentlichung der Namen der Täter/innen und des Deliktes in den Zeitungen des Königreiches.450 Die Offiziere des Leipziger Generalkommandos bestraften unter anderem im Mai 1917 den »verbotswidrigen 448 Bkm. betr. Verbot d. Annäherung an Kriegsgefangene d. stv. Gkdo. XVII. AK, 25.8.1916, in: Werk d. UA, Reihe, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 167 f. 449 Verkehr des Publikums mit Kriegsgefangenen, in: Sächsische Staatszeitung, 8.1.1916, Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3369, Bl. 126. Für die bayerischen Armeekorps: Bkm. d. stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann), 4.3.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 u. Verkehr mit Kriegsgefangenen, in: Beilage zum Traunsteiner Wochenblatt, 5.5.1917, Ztga. in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 450 Bestrafungen wegen Verstößen gegen die Befehle über den Verkehr des Publikums mit Kriegsgefangenen, in: Erste Beilage zur Chemnitzer Zeitung, 6.6.1917 u. Beilage zum Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger, 7.6.1917 u. Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt, 7.6.1917, Ztga. in: HStA Dresden, 11352/580, Bl. 96. Weitere Listen erschienen in der Leipziger Zeitung und dem Leipziger Tageblatt, dem Chemnitzer Tageblatt, der Zwickauer Zeitung, dem Burgstätter Anzeiger und Tageblatt, dem Vogtländischen Anzeiger, der Glauchauer Zeitung und dem Zwönitztaler Anzeiger, Ztga. in: Ebd.
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Verkehr« mit Kriegsgefangenen, die Abgabe von Bier, Branntwein, Kaffee und anderen Genussmitteln an sie, den Geschlechtsverkehr mit ihnen, das Fotografieren von Kriegsgefangenen und den Verkauf der Fotos an dieselben, ihre Mitnahme zu einer Schlittenpartie, den unerlaubten mündlichen Verkehr mit gefangenen Soldaten, die versuchte Annäherung »in Ärgernis erregt. Weise« und die Mitnahme Kriegsgefangener in die eigene Wohnung.451 Die vielen verurteilten Fälle zeigen, dass der intensive Kontakt zwischen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung nicht nur den Vorstellungen einiger Militärvertreter entsprang. Zugleich verweist die Aufzählung auf ein weites Spektrum an möglichen Vergehen. Der V. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig bestätigte im Mai 1918 die Rechtmäßigkeit dieser Bestrafungen im Interesse der öffentlichen Sicherheit. Kontaktverbote, soweit sie sich nicht auf den »Zweck der angeordneten oder zugelassenen Beschäftigung« der Kriegsgefangenen erstreckten, seien durchaus zulässig. Die Richter sahen im Falle eines belgischen Gefangenen und zweier Angeklagter diese Grenze überschritten. Zwischen ihnen hätte sich ein »freundschaftliches Verhältnis herausgebildet«. Sie seien zusammen in Wirtschaften eingekehrt, scherzhaft miteinander umgegangen und hätten »im Angesicht der Vorübergehenden öfters […] im Garten auf dem Rasen« gelegen und sich unterhalten. Daran anschließend urteilten die Richter: »Daß die Zuwiderhandlungen gegen das Verbot die Sicherheit des Deutschen Reiches, wenn auch nur entfernt, zu gefährden geneigt waren, brauchte im Einzelfall nicht nachgewiesen zu werden. Es genügt, daß das Verbot […] erlassen worden ist und daß […] eine Zuwiderhandlung vorliegt.«452 Trotz alledem musste der Kommandant des Kriegs- und Zivilgefangenenlagers in Traunstein im Sommer 1918 resignierend feststellen, dass sich aus der Einzelunterbringung von Gefangenen ein »schwerer Misstand« ergeben hatte. »Sehr viele Gefangene traten in geschlechtlichen Verkehr mit Familienangehörigen oder Dienstboten der Arbeitergeber. Trotz der strengen Strafen, die über die Gefangenen und auf Grund des Kriegszustandsgesetzes im gerichtlichen Verfahren über die mitschuldigen Frauen und Mädchen verhängt wurden, trotz der fortgesetzten Warnungen in öffentlichen Blättern und der Einwirkung der Verwaltungsbehörden und der Geistlichkeit kommen solche Verfehlungen immer wieder vor.«453
451 Bestrafungen wegen Verstößen gegen d. Befehle über d. Verkehr mit Kriegsgefangenen d. stv. Gkdos. XIX. AK, 24.5.1917, in: HStA Dresden, 10736/3369, Bl. 127. 452 Urteil d. V. Strafsenats d. Reichsgerichts, 4.5.1918, Az. V 221/18, betr. Verbot d. Verkehrs mit Kriegsgefangenen, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen 1880–1944, Bd. 52, Leipzig 1916, S. 16 f. 453 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten an d. Bay. KM, ca. Mitte 1918, Kap. ArbeitsAbstellung, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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Vor allem Frauen standen fortwährend unter einem Generalverdacht der Überschreitung nationaler Grenzen. Die Militärbeamten des Preußischen Kriegsministeriums sahen sich in ihren Befürchtungen bestätigt, als aus »einigen Landesteilen […] Fälle über vorgekommenen Geschlechtsverkehr zwischen deutschen Frauen oder Mädchen und Kriegsgefangenen« zu ihrer Kenntnis gelangten. Die daran »anschließenden Folgen« hätten »einen so bedauerlichen großen Umfang angenommen, daß unbedingt Abhilfe angestrebt werden muß«, teilten sie den stellvertretenden Generalkommandos mit.454 Daraufhin angestellte Ermittlungen im Bereich des Magdeburger Generalkommandos ergaben 829 Bestrafungen wegen verbotenen Verkehrs mit Kriegsgefangenen.455 Der Chef des Stabes der dortigen Militärbehörde sah den Grund dafür in zu milden Strafen. Er mahnte eine ausreichende Sühne durch richterliche Strenge an und forderte, seelsorgerisch auf die Täterinnen einzuwirken. Dennoch wurden ihm innerhalb von drei Monaten circa 250 neue Fälle durch die Amtsgerichte gemeldet.456 An die beobachteten und berichteten Vorfälle der ersten Kriegstage anknüpfend, entwickelte sich aus den angenommenen und nachgewiesenen sexuellen Kontakten eine eigene Debatte über die Würde der ›deutschen‹ Frau, die bis in die Nachkriegszeit anhielt.457 Gewünscht wurde diese Entwicklung gewiss nicht. Denn es war erstens, so die Offiziere des Berliner Kriegsministeriums, »nicht im Interesse der im Felde stehenden deutschen Männer« und zweitens »dem Ansehen der deutschen Frau im Ausland« schädlich. Aus diesen Gründen sollte von einer Veröffentlichung etwaiger »Befehle und Strafandrohungen« abgesehen werden.458 Allerdings hatte der Kontakt zu den Kriegsgefangenen bis 1918 einen solchen Umfang angenommen, dass im Zuge des Friedensschlusses zwischen dem Deutschen Reich und der Russisch Föderativen Sowjet-Republik die Militärbehörden vom Preußischen Kriegsministerium ein Zirkular über die Alimentation unehelicher Kinder erhielten. In diesem, das später auf alle Kriegsgefangenen ausgedehnt wurde,
454 Preuß. KM, betr. Verhalten d. Kriegsgefangenen gegenüber Frauen u. Mädchen, hier an sämtl. stv. Gkdos. u. KM, 25.6.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751 u. in: HStA Dresden, 10736/3368, Bl. 78. 455 Stv. Gkdo. IV. AK an. d. Preuß. KM, 10.11.1917, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751 u. Stv. Gkdo. IV. AK an. d. Oberstaatsanwalt Naumburg/Saale, 4.7.1917, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. Darin ebenso: Bestrafung von Verstößen gegen die Befehle über den Verkehr der Bevölkerung mit den Kriegsgefangenen. 456 Stv. Gkdo. IV. AK an. d. Preuß. KM, 13.1.1918, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1752. 457 Christoph Beck, Die Frau und die Kriegsgefangenen, Hlbd. 1: Die deutsche Frau und die fremden Kriegsgefangenen, Nürnberg 1919 u. Hans Dolsenhain (Hg.), Das Liebesleben im Weltkriege, Hlbd. 3 u. 4: Das Liebesleben in Deutschland, Nürnberg 1920. 458 Preuß. KM, betr. Verhalten d. Kriegsgefangenen gegenüber Frauen u. Mädchen, an u. a. sämtl. stv. Gkdos. u. KM, 25.6.1917, in: HStA Dresden, 10736/3368, Bl. 78.
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erhielten die Behörden die Empfehlung, mit einem beiliegenden Formular auf die Anerkennung der Vaterschaft seitens der kriegsgefangenen Väter hinzuwirken.459 Grenzen erfuhren die Verbote, wenn durch diese der ökonomische Nutzen der Arbeitseinsätze beeinträchtigt werden konnte. So duldeten die Militärbehörden in Sachsen durchaus einen wirtschaftlichen Kontakt zu den Kriegsgefangenen. Rückblickend hieß es im Tätigkeitsbericht der dortigen Inspektion der Gefangenenlager: »Ein buchstäbliches Verbot z. B. jedes gesprochenen, dienstlich vielleicht nicht unbedingt nötigen Wortes zwischen Kriegsgefangenen und ihren Mitarbeitern müsste jede Arbeitsfreudigkeit untergraben und damit dem volkswirtschaftlichen Interesse zuwider sein. Die Hebung der Arbeitsfreudigkeit macht eine nicht zu scharfe Handhabung ebenso sehr nötig, wie die Praxis die absolute Durchführung des strikten Verbotes als unmöglich erwiesen hat.«460 Die Betrachtung der militärischerseits eingeforderten Interaktionsgrenzen gegenüber feindlichen Staatsbürger/innen und Kriegsgefangenen offenbart Verhaltensvorstellungen und -normen, die im Krieg gelten sollten. Das oberste Gebot beiden Gruppen gegenüber sollte in einer unbedingten Zurückhaltung bestehen. Während der Kontakt zu ausländischen Staatsangehörigen allerdings nur appellativ kritisiert wurde, standen soziale Beziehungen zu Kriegsgefangenen unter Strafe. Die vorangegangenen Beispiele verdeutlichen, dass es zu einer fortwährenden Sensibilisierung und teilweisen Stigmatisierung selbst im alltäglichen im Umgang mit ihnen kommen konnte. Die dennoch gelebte Praxis im Kontakt mit ihnen verweist daran anschließend auf tabuisierte Grenzüberschreitungen. Sie können als ein Gegenentwurf zu den militärstaatlichen Verordnungen interpretiert werden. Innerhalb dieses wurde das Zusammenleben von In- und feindlichen Ausländer/ innen nicht hierarchisiert und streng voneinander getrennt, sondern ging in einem gemeinsamen Kriegsalltag auf.
459 Preuß. KM hier an d. Sächs. KM, 7.3.1918, in: HStA Dresden, 11348/165, Bl. 265 u. Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 201, Fn. 277. 460 Tätigkeitsbericht d. Insp. d. KGL XII. u. XIX. AK, Juli 1918, S. 94, in: HStA Dresden, 10736/727. Wilhelm Doegen schrieb in seiner Darstellung über das Kriegsgefangenenwesen im Deutschen Reich pathetisch: »Kluge und menschenfreundliche Bauern sahen in den Kriegsgefangenen keineswegs nur Knechte und Tagelöhner, sondern ihre lieben Mitmenschen, die für geleistete Arbeit ihres Lohnes wert waren, ja – wie es hier und dort vorgekommen ist – nicht selten fast ihre Söhne.« Siehe: Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 190.
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Resümee: Die Projektionen gesellschaftlicher Konflikte Die Anderen Am 15. Januar 1915 erschien im sozialdemokratischen Vorwärts ein nachdenklicher Artikel über die stillen und unbemerkten Grenzziehungen des Krieges. »Wenn ich nach Hause gehe, muß ich über einen Steg, der die Spree überspannt. Des öfteren schon hatte ich auf der einen Seite der Spree eine Frau gesehen, eine alte Frau mit runzeligem Gesicht, spitz vorstehender Nase, die mit den Armen über das Wasser hinüberwinkte und Zeichen machte. Auf der anderen Seite der Spree stand eine jüngere Frau mit einem Knaben von etwa elf Jahren. Die beiden grüßten zurück. Da ich Zeit hatte, habe ich dieses stumme Ferngespräch oft lange Zeit beobachtet, ohne eine Erklärung zu finden. Dieser Tage wurde sie mir. [sic] Ich muß bemerken, daß die Spree an dieser Stelle die Grenze von den Kreisen Niederbarnim und Teltow ist. Der Ort über der Spree liegt im Kreise Teltow, der andere in Niederbarnim. Die Frau mit dem Knaben war durch Heirat eine Russin geworden, geboren ist sie in Österreich. Der Knabe ist in Berlin geboren. Der Gatte und Vater ist gestorben und liegt auf dem Friedhof im Orte diesseits der Spree begraben. Seine alte Mutter wohnt über der Spree in dem anderen Orte. Als Russen dürfen nun beide Frauen ihren Wohnort und Kreis nicht verlassen, und alle Tage wollen sie nicht um Erlaubnis einkommen. Und so kommen die Frauen jede an ihr Ufer und begrüßen und unterhalten sich aus der Ferne. Zwei Minuten Weges ist über die Brücke. Doch sie können zusammen nicht kommen.«461 Als am Abend des 1. August 1914 die Mobilmachung verkündet wurde, gab es keine feindlichen Ausländer/innen. Der Akt der Kriegserklärung allein brachte sie nicht hervor. Erst durch Bekanntmachungen, Einschränkungen und Verbote der Militärbefehlshaber, Äußerungen aus der Bürgerschaft und Zeitungsartikel, durch das Handeln staatlicher Zivil- und Militärvertreter und durch die Interventionen vieler Zivilisten wurden alltägliche narrative und praktische Grenzen entworfen und formuliert, hergestellt, reproduziert und tradiert. Im Zuge dessen wurden verflochtene und mehrdeutige Situationen erschaffen, die, wie das Winken und Rufen an der Spree, feindliche Ausländerinnen und Ausländer als erfahrbare Momente der historischen Wirklichkeiten in Erscheinung treten ließen. In dieser Bedingtheit ihres Seins wurden ausländische Staatsangehörige zu einer verhandelbaren Figuration und stifteten nicht selten kriegsgesellschaftliche Unordnungen. Kennzeichnend für diesen Prozess war die Heterogenität der involvierten Akteure, ihre übereinstimmenden ebenso wie ihre widersprüchlichen Vorstellungen und die Situationsbezogenheit ihres Handelns in den ersten Monaten des Krieges. Eine 461 Ein stummes Ferngespräch, in: Unterhaltungsblatt des Vorwärts, Beilage, 15.1.1915 (Nr. 12).
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Vielzahl an Akteuren überdachte, verhandelte und gestaltete die innere Ordnung der Gesellschaft. Während es für den Betrachter auf dem Steg ein leichtes war, einen Fluss zu überqueren und von einem Ufer zum anderen zu gelangen, teilte für die am Ufer stehenden Ausländerinnen eine polizeiliche Grenze ihre Familie. Ein alltäglicher Gang, eine zuvor unhinterfragte Freiheit, bedeutete nun für sie ein staatliches Abhängigkeitsverhältnis und eine Unterwerfung unter die Entscheidungshoheit eines verantwortlichen Offiziers und eines zuständigen Beamten vor Ort. Für die Familie änderte sich zugleich die Topographie ihres Lebens. Sichtbare und unsichtbare Kreis- und Polizeibezirksgrenzen bäumten sich auf zu Mauern, deren recht- und unrechtmäßige Überwindung zu einem Wagnis wurde. Gemeinsame soziale Räume teilten sich und neue Bezugspunkte des alltäglichen Arbeitens und Lebens entstanden. Zu den militärischen und polizeilichen Grenzlinien traten gesellschaftliche Grenzziehungen hinzu, die fortan die Bevölkerung des Deutschen Reiches durchzogen. Einhergehend mit dem Krieg beanspruchten nationalstaatsbezogene und nationalistische Unterscheidungen eine Privilegierung gegenüber ausländischen Mitbürger/innen. Ehemalige Chancengleichheiten in verschiedenartigsten sozialen, kulturellen und ökonomischen Räumen sollten aufgehoben werden. Sprechkonventionen und Umgangsgebote, Ausgeh- und Ortswechselverbote, Auszahlungseinschränkungen und Anstellungsunterschiede,462 Meldepflichten und öffentliche Bekanntmachungen, Berichte in Zeitungen und Studierverbote sowie nicht zuletzt Publikationen über Erlebnisse ›Deutscher‹ im Ausland463 stellten dabei den Wissens- und Erfahrungsrahmen des Handelns für In- und feindliche Ausländer/innen dar. Der sozialdemokratische Spreeflaneur verschwieg oder verweigerte sich einer kriegsimmanenten Kontextualisierung der Szene, wohl wissend, dass zeitgenössische Leser/innen die sozialromantische Schilderung im Krieg verorten konnten. Sie stellten sich womöglich die Frage, ob den Frauen zu vertrauen sei, ob sie mit den Kontaktaufnahmen nicht Verbote missachteten oder wie es deutschen Staatsangehörigen im Russischen Reich erginge. Dementsprechend ›kopierte‹ der 462 Siehe das folgende Kapitel Einschränken und Entrechten. 463 Unter anderem für die erste Kriegshälfte: Fanny Hoeßl, Hundert Tage Gefangene in Frankreich nebst Briefen von deutschen Zivilgefangenen in Frankreich, München 1915; Stefanie Steinmetz, Meine Kriegsgefangenschaft. Erlebnisse einer Mannheimerin in Frankreich, Freiburg 1915; Helene Schaarschmidt, Erlebnisse einer Deutschen in Frankreich nach Ausbruch des Krieges, Chemnitz 1915; Carl von Maixdorff, In russischer Gewalt. Selbsterlebtes aus dem Beginn des Weltkrieges, Leipzig 1915; Wilhelm Westedt, Zur Kriegszeit um die Welt. Zehn Monate im feindlichen und neutralen Auslande, Leipzig 1916; Géza Baracs-Deltour, Pariser Selbsterlebnisse während des Krieges, München 1917; F. Hede, Als »deutscher Spion« kriegsgefangen in Russland. Erlebnisse eines Mitgliedes des Deutschen Flottenvereins, Berlin 1917.
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Journalist mit der Niederschrift seiner Beobachtungen die alltägliche Begegnung der Frauen im Krieg für ein größeres Publikum. Er unterstellte dem verhinderten und dem alternativen Zusammenkommen eine gewisse Relevanz. Er öffnete es für Fragen und schrieb es in einen Diskurs über den Umgang mit ›feindlichen‹ Zivilisten ein. Auch durch seine Worte hindurch fällte er ein Urteil, das den Krieg als eine Trennungsgeschichte erzählte, ohne diese mit moralischen Wertungen aufzuladen. Und über seine eigenen Motive hinausgehend, machte er die Frauen durch seine Verortung nachverfolgbar. Im selben Moment formierten sich demzufolge Deutungsansprüche und Machtverhältnisse. Deutsche Reichsangehörige konnten mit nationalen Argumenten soziale und ökonomische Hierarchien überwinden und ihren Forderungen Nachdruck verleihen oder diese gar durchsetzen, wenn es ihnen gelang eine Übereinstimmung mit den Interessen oder Zielen staatlicher Entscheidungsträger herzustellen. Staatliche Akteure der Einzelfallentscheidung hatten gleichzeitig weite Ermessens- und Handlungsspielräume im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen hinzugewonnen. Gleichwohl vollzogen sie keineswegs eine »Politik der Feindschaft« oder führten einen Krieg gegen einzelne ausländische Staatsangehörige. Sie orientierten ihr Handeln oftmals an den von ihnen anerkannten sozialen und klassenbezogenen Schranken ebenso wie an den wahrgenommenen wirtschaftlichen oder politischen ›Notwendigkeiten‹ des Krieges. Sie handelten mehrheitlich zweck- und ressourcenorientiert, rechtsförmig und verhältnismäßig. Ihr Ziel waren eine allgemeine öffentliche »Ruhe und Ordnung« und der militärische Sieg. Eine konsequente nationale Umgestaltung der Gesellschaft in Kriegszeiten lag ihnen fern. Im Zuge dessen differenzierten Zivilbeamte vor Ort die Gruppe der feindlichen Ausländer/innen weiter aus. Sie ermöglichten ihnen zugleich an den Rändern der Grenzziehungen Statuswechsel. So konnten beispielsweise Studierende eine Beschäftigung aufnehmen und wurden fortan als Angestellte behandelt. Russländisch-polnische Arbeiter/innen konnten wenige Worte Deutsch lernen und hatten anschließend die Möglichkeit, Bahn zu fahren. Schließlich behielten ausländische Staatsbürger/innen ihre bürgerlichen Rechte, Eingaben zu schreiben, Beschwerden vorzubringen oder vor Gerichten zu klagen und sich zu verteidigen. Aber nicht nur Akteure, die Anordnungen formulierten und umsetzten, sondern auch jene, die dagegen verstießen, gestalteten den gesellschaftlichen Alltag. Obwohl Krieg war, wurden nationale Grenzen nicht selbstverständlich antizipiert. Die Göttinger Professoren, der Badener Oberbürgermeister Fieser oder der Düsseldorfer Oberbürgermeister Oehler waren nicht bereit, nationale Argumentationen über soziale oder persönliche Dispositionen zu stellen. Die praktizierte Kultur des Krieges war vielschichtiger als eine singuläre Aneignung von ›Feindbildern‹. Und doch formten alltägliche Verhaltensweisen, die sich dem rückblickenden Betrachter oftmals entziehen, einen Alltag, der sich im Stimmungsbericht des Berliner Polizeipräsidenten im Falle der US-amerikanischen Staatsangehörigen
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folgendermaßen niederschlug: »Die in den ersten Kriegsmonaten den Nordamerikanern recht günstige Stimmung ist allmählich in das Gegenteil umgeschlagen. Die hier weilenden Amerikaner beginnen bereits, sich ungemütlich zu fühlen.«464 Die staatlichen Akteure des Krieges, die ausländerfeindlichen Nationalisten und die Lobbyisten national codierter Forderungen schufen zeitgleich in ihren Konkretisierungen der Unterschiede eine erfahrbare Distanz zwischen In- und feindlichen Ausländer/innen. In ihrem Reden und Handeln setzten sie zuerst bürokratische, dann sprachliche, soziale, kulturelle und nicht zuletzt wirtschaftliche Grenzziehungen in Geltung. Sie brachten einen symbolischen Dritten hervor, vor dem sich die Kriegsgesellschaft umfänglich schützen sollte. Der Krieg bedeutete für viele feindliche Staatsbürger/innen trotz gemäßigter Stimmen eine tägliche Diskriminierung und führte zu einer Desintegration aus dem Alltagsleben.
Die Eigenen Die Bemühungen, sich von feindlichen Ausländer/innen zu distanzieren, zeitigten indes eine nachdrückliche Konturierung des Eigenen. Kritische Beobachter der deutschen Nation verfolgten hierbei das Ziel, das Verhalten der ›Deutschen‹ zu normieren und zu disziplinieren. Ihr Vorwurf der Ausländerei war weniger eine Rede über ›den‹ Ausländer, als eine Ermahnung an ›den‹ Deutschen.465 Der Kolonialist und Publizist Carl Peters (1856–1918) hatte bereits 1907 eine »Entnationalisierungssucht bei Deutschen« konstatiert.466 Diese läge in einer »Überschätzung des Ausländertums« begründet.467 »Im allgemeinen kann ich als meine Beobachtung über ein Menschenalter hin, mit einzelnen Ausnahmen, feststellen, daß eine Deutsche, die einen Ausländer heiratet, mit Pauken und Trompeten in dessen nationales Lager übergeht; eine Ausländerin, die einen Deutschen heiratet, aber eher diesen in ihr Lager zieht. Man darf sagen, daß bei nationalen Mischehen die Kinder durchweg die Tendenz haben, dem nichtdeutschen Teil zu folgen.«468 Peters ging es nicht um Ausländer/innen, sondern um Deutsche, deren Haltung in seinen Augen mangelhaft war. Entgegengewirkt werden könne dem nur durch einen »Heilungsprozeß«. Dieser ruhe einerseits in einer »Kulturentwicklung«. Andererseits sei der Staat verantwortlich, es zu einem »Privileg« werden zu las464 29. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 13.2.1915, (Ent.) in: Berichte d. Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 42, S. 42. 465 Vgl. Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 318–334. 466 Carl Peters, Entnationalisierungssucht bei Deutschen, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, Jg. 6 (1907), Heft 10, S. 451–459. 467 Ebd., S. 455. 468 Ebd., S. 453.
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sen, ein Deutscher zu sein.469 Der Krieg hatte diese Privilegierung im vielfältigen Ausschluss feindlicher Ausländer/innen ermöglicht. Nicht zuletzt verschlossen staatliche Akteure den Zugang zu dem nationalen und gesellschaftlichen Ort des Bürgertums schlechthin, dem Kaffeehaus.470 Im Krieg fanden Carl Peters’ Vorstellungen aber nicht nur politisch-rechtliche und polizeiliche Umsetzungen. Sie gipfelten im Bereich sozialer Beziehungen in einer öffentlichen Stigmatisierung des Kontaktes zu feindlichen Staatsbürger/innen durch die Militärbehörden, der hinsichtlich Kriegsgefangener unter Strafe stand. Deshalb sahen sich nicht nur ausländische Staatsangehörige einer in unterschiedlichem Maße erfahrbaren staatlichen Disziplinierung gegenüber. Damit einher ging die fortwährende Selbstvergewisserung über die »Ritterlichkeit« und die Angemessenheit des eigenen Handelns. Im Verweis auf den Umgang mit deutschen Staatsangehörigen im Ausland lag aus dieser Perspektive Empörung und Bestätigung zugleich. Leo Colze veröffentlichte 1916 Briefe und Berichte von Ausländer/innen, die während des Krieges in Deutschland gelebt hatten, um kritischen Meldungen aus den feindlichen Staaten entgegenzutreten.471 Er hatte hierbei gerade nicht die Betroffenen im Sinn, sondern er inszenierte eine Darstellung, wie »überall Kultur, Selbsterziehung, Achtung vor der Persönlichkeit und das Allgemein-Menschliche« im Deutschen Reich siegten. »Man wurde deutsch und empfand jeden Fremden als Feind, wurde mißtrauisch aus Liebe zum Lande und ließ den Fremdling fühlen, daß man sich auf die eigene Kraft und das große Wollen besonnen.« Gleichwohl hätte im Laufe des Krieges eine Veränderung stattgefunden. An deren Ende sei das »achtsam[e] und mißtrauisch[e]« Verhalten einem »duldsam[en] und sogar teilnehmend[en]« gewichen. Colze interpretierte diesen Übergang als charakteristisches Merkmal einer deutschen »Volkskultur und Volkswürde«. Feindliche Ausländer/innen waren für Leo Colze Figurationen des Dritten, die das Nachdenken über die ›deutsche‹ Gesellschaft, ein Bewusstwerden und Lob des Eigenen erst ermöglichten. In Anbetracht der vorangegangenen Beispiele können demnach gleichsam Leserbriefe und Eingaben als breitere Interventionen gelesen werden, in denen das Ausländische und die Ausländer/innen lediglich Projektionsflächen für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Konflikte waren. Denn der Krieg erschuf Situationen, in denen Unklarheit darüber herrschte, welches Verhalten angemessen sein sollte. Durfte getanzt, musiziert und gesungen werden? War der Besuch von Kaffeehäusern im Krieg statthaft? Im Angesicht feindlicher Ausländer/innen konnten auf solche Fragen Antworten gefunden werden. 469 Ebd., S. 459. 470 Étienne François, Das Kaffeehaus, in: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Orte des Alltags. Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte, München 1994, S. 111–118, hier S. 115. 471 Leo Colze, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Die Ausländer in Deutschland. Kritiken des Auslandes zur deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik, sowie zur Fremdenbehandlung während der Kriegszeit, Leipzig 1916, S. 3 f.
7. Einschränken und Entrechten
Stärker als die nationalistischen Reden Einzelner beeinflussten in den Jahren 1914 bis 1918 die gegebenen und praktizierten Antworten auf zwei zentrale Fragen den Lebens- und Arbeitsalltag feindlicher Staatsangehöriger: Was ist nötig, um den Krieg siegreich zu beenden, und welchen Stellenwert sollen feindliche Ausländer/ innen im Kriegswirtschaftsleben besitzen? Beide Fragen hingen eng miteinander zusammen. Denn neben einer hoch mobilen Bevölkerung hatte im beginnenden 20. Jahrhundert die (zeitlich begrenzte) Einwanderung die Gesellschaft des Deutschen Reiches geprägt. Hunderttausende Menschen aus Schweden, Dänemark, Belgien, Großbritannien, Italien, ÖsterreichUngarn und Russland suchten Arbeit in Hafenstädten und Industriezentren, auf Ziegeleien und Großbaustellen, in Gutshöfen und Agrarbetrieben. Als Hafen-, Berg- und Bauarbeiter, als Textil- und Landarbeiter/innen, aber ebenso als Ingenieure, Gouvernanten, Prokuristen, Kaufleute, Bankangestellte, Lehrer/innen und Wissenschaftler/innen zog es sie in das wirtschaftlich prosperierende Land. Viele von ihnen durften sich über die Wintermonate nicht in Deutschland aufhalten. Einige ließen sich nieder, kauften Grundstücke und gründeten Geschäfte. Andere eröffneten Zweigniederlassungen ausländischer Firmen und Gesellschaften. Trotz vielfältiger und tiefgehender kultureller, politischer und sozialer Brüche, die sie voneinander trennten, verband der Krieg diejenigen von ihnen, die freiwillig geblieben waren oder zwangsweise verbleiben mussten. Sie teilten die Erfahrung restriktiver Einschränkungen ihrer ökonomischen Freiheiten und Handlungsspielräume. Kontrollverluste über abgeschlossene Arbeitsverträge oder das private wie geschäftliche Eigentum durchzogen ihren Arbeitsalltag. Arbeiter/innen durften ihre Kontrakte nicht kündigen und ihre Arbeitsstellen nicht verlassen, Angestellte nicht mehr frei über ihre Bankguthaben verfügen, und Firmeninhaber verloren ihre unternehmerischen Freiheiten. Diesen Gemeinsamkeiten aufgebürdeter Zwänge und Rechtsbeschränkungen standen höchst unterschiedliche Handlungsmotive und Entscheidungen staatlicher Akteure gegenüber. Im Folgenden soll entlang des staatlichen Umgangs mit Angehörigen verschiedener sozialer Klassen – Unternehmer, Angestellte und Arbeiter/innen – ihre Ausgrenzung aus dem Wirtschaftsleben beziehungsweise ihre Einbeziehung in dieses während des Krieges nachgezeichnet werden. Dabei wird dargelegt, wie Bestimmungen und Sanktionen Handlungsspielräume der Ausländer/innen einengten und sie in der Folge kriminalisierten. Wie wurden aus internationalen Investoren, hochspezialisierten Facharbeitern und Saisonarbeiter/
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Einschränken und Entrechten
innen, die einzelne Produktionszweige stützten, vielfach Spionageverdächtige, »Schmarotzer«, Gefährder ›deutscher‹ Interessen, Kontraktbrüchige und Flüchtige?
Wirtschaftliche Vergeltungen als Kalkül und Reaktion »Repressalien, im Kriege Zwangsmaßregeln von Staaten gegen Staaten zur Geltendmachung zustehender Rechte und zur Verhütung oder Vergeltung (Retorsion) von völkerrechtswidrigen Maßnahmen.«1 In seinem Nachkriegsversuch über die Stellung des privaten Eigentums im Weltkrieg, in dem der Kammergerichtsrat Franz Scholz nachweisen wollte, dass »von Anfang an ein völkerrechtswidriger Krieg gegen das deutsche Privateigentum von Deutschlands Gegnern entfesselt worden ist«, blickte er auch auf die Jahre vor 1914 zurück.2 »In den Rechten aller Kulturstaaten«, resümierte er, »gilt der Satz, daß zwar die politischen Rechte (z. B. Wahlrecht) und Pflichten (z. B. Wehrpflicht) dem Ausländer nicht zustehen, daß er aber privatrechtlich dem Inländer grundsätzlich gleichsteht.«3 Diese privatrechtliche Stellung ausländischer Staatsangehöriger war im Deutschen Reich aber keineswegs kodifiziert worden. Die Rechtsprechung erfolgte vielmehr »nach festem deutschem Gewohnheitsrecht«. Ausländer wurden so behandelt, »als wären die Grundrechte nicht Ausfluß der Staatsangehörigkeit, sondern der Persönlichkeit«. Der Kammergerichtsrat sah daran anschließend keine legitime rechtshistorische Herleitung der Einziehung ausländischen Privateigentums. Im Gegenteil, da Kriege nur gegen Staaten und nicht gegen Bürger geführt würden, galten Beschlagnahmungen oder gar Enteignungen für ihn als unzulässig.4 In der Haager Landkriegsordnung von 1899 und in ihrer Bestätigung von 1907, die beide die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges in völkerrechtlichem Rahmen bestimmten, formulierten die Unterzeichner keine Regelungen über feindliche Staatsangehörige in militärisch unbesetzten Territorien. Sie bekräftigten in Artikel 46 des Abkommens aber grundlegend, dass die »Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger, das Privateigenthum, die religiösen Ueberzeugun-
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Art. Repressalien, in: Kriegstaschenbuch, S. 259. Franz Scholz, Privateigentum im besetzten und unbesetzten Feindesland, unter besonderer Berücksichtigung der Praxis des Weltkrieges, Berlin 1919, S. IV. Ebd., S. 188. Ebd., S. 188–196. Zu den Privatrechten in einzelnen kriegführenden Staaten: Ebd., S. 229– 304.
Wirtschaftliche Vergeltungen als Kalkül und Reaktion
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gen und die gottesdienstlichen Handlungen« in Okkupationsgebieten zu achten seien. »Das Privateigenthum darf nicht eingezogen werden.«5 Die Richter des Zivilsenates des Reichsgerichts entschieden noch im Oktober 1914 in gleichem Sinne. In einem Urteil über die Gültigkeit der Pariser Konvention zum Schutz des gewerblichen Eigentums6 verteidigten sie die Rechte ausländischer Staatsbürger/innen. »Dem deutschen Völkerrechte liegt die Anschauung gewisser ausländischer Rechte fern,« führten sie aus, »daß der Krieg unter möglichster wirtschaftlicher Schädigung der Angehörigen feindlicher Staaten zu führen ist und daß diese daher im weiten Umfange der Wohltaten des gemeinen bürgerlichen Rechtes zu berauben sind.«7 Dementsprechend sollten »die Angehörigen der feindlichen Staaten in bezug auf das bürgerliche Recht den Inländern in demselben Maße gleichgestellt« sein, »wie dies vor dem Kriege der Fall war, mithin, soweit nicht gesetzliche Ausnahmen bestehen, in allen Beziehungen«. Dies schränke nicht die Möglichkeit der Vergeltung ein, aber knüpfe sie an hierfür erlassene Gesetze.8 An solchen mangelte es im Laufe des Krieges nicht. Den liberalen Rechtsmeinungen entgegen entwickelten sich prozesshaft die Zwangsverwaltung ausländischer Firmen und die Enteignung ausländischer Unternehmer zu einem festen Bestandteil des Wirtschaftskrieges und der Vergeltungsmaßnahmen in den kriegführenden Staaten.9 Die deutsche Reichsleitung argumen5 6 7
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Abkommen betr. d. Gesetze u. Gebräuche d. Landkriegs, 29.7.1899, in: RGBl. 1901, S. 423– 454, hier S. 450 u. Abkommen betr. d. Gesetze u. Gebräuche d. Landkriegs, 18.10.1907, in: RGBl. 1910, S. 107–151, hier S. 147 f. Bkm. betr. d. Beitritt d. Reichs zu d. internationalen Verbande zum Schutze d. gewerblichen Eigentums, 9.4.1903, in: RGBl. 1903, S. 147 u. d. Übereinkunft u. Schlussprotokoll v. 20.3.1883, in: Ebd., S. 148–163. Urteil d. Zivilsenats d. Reichsgerichts, 26.10.1914, Az. I 83/14, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 1880–1945, Bd. 85, Leipzig 1915, S. 374–380, hier S. 376. Auszugsweise zitiert bei: Arthur Curti, Handelsverbot und Vermögen in Feindesland. Gesetzgebung und Praxis von England, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und Rußland während des Krieges 1914/15. Eine neutrale Darstellung, Berlin 1916, S. 81 f. u. bei Scholz, Privateigentum im Feindesland, S. 195 f. Zur Rezeption des Urteils im In- wie Ausland und zu konträren Entscheidungen anderer Gerichte siehe: Florian Mächtel, Das Patentrecht im Krieg, Tübingen 2009, S. 186–201. Zur Diskussion über die Privatrechte feindlicher Staatsangehöriger siehe auch: Wilhelm Kaufmann, Kriegführende Staaten als Schuldner und Gläubiger feindlicher Staatsangehöriger, Berlin 1915. Vgl. die Nachkriegsbetrachtung: Sachverständigengutachten Ebers (Wirtschaftskrieg), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 4, S. 375–474. Für das Deutsche Reich: Friedrich Lenz u. Eberhard Schmidt (Hg.), Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg. Nebst einer Gesamtbilanz des Wirtschaftskrieges 1914–1918, Bonn 1924; Hermann J. Held, Wirtschaftskrieg, in: Strupp (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 576–634 u. d. Zusammenfassung: Emil Petri, Zwangsverwaltung und Liquidation des feindlichen Vermögens im Inlande, Straßburg 1917. Für England, Frankreich, Russland, die USA und Japan: Der Wirtschaftskrieg. Die Maßnahmen und Bestrebungen des feindlichen Auslandes zur Bekämpfung des deutschen Handels und zur Förderung des eigenen Wirtschaftslebens, hg.
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Einschränken und Entrechten
tierte im Zuge dessen, bei ihren weitreichenden Entscheidungen stets reagierend gehandelt zu haben. In einer veröffentlichten Denkschrift des Reichsamtes des Innern über die wirtschaftlichen Maßnahmen wurde betont, dass die Regierung »in allen Fragen, die aus der Verletzung von deutschen Privatrechten durch die feindlichen Regierungen erwachsen, dem Grundsatz gefolgt [ist], daß Gegenmaßnahmen im Wege der Vergeltung – aber auch nur Vergeltungsmaßnahmen – zulässig und geboten erscheinen. Es soll dem feindlichen Ausland zum Bewußtsein gebracht werden, daß das in deutscher Hand befindliche englische, französische, russische Vermögen in dem Maße gefährdet und bedroht ist, als die Regierungen dieser Staaten gegen das in ihrer Gewalt befindliche deutsche Vermögen vorgehen.«10 Ökonomische Motive wies die Reichsleitung hierbei entschieden zurück. »Die deutsche Volkswirtschaft ist stark genug, um die freie Betätigung ausländischen Unternehmungsgeistes im Inland zu ertragen«, hieß es in einem späteren Nachtrag zur Denkschrift.11 In internen Schriftwechseln begründeten Regierungsvertreter ihre Sanktionsbeschlüsse in ähnlicher Weise. Nachdem die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg eingetreten waren, erläuterte Karl Helfferich, der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, gegenüber Carl von Lumm (1864–1930), dem Generalkommissar für die Banken in Belgien, den grundsätzlichen Regierungsstandpunkt in Fragen der Repressionspolitik. Er beharrte auf einer abwartenden Entscheidungsfindung, die das Vorgehen der US-amerikanischen Administration beobachte. Die bisherige Praxis, »im Handelskriege lediglich zu folgen und von Eingriffen in das Privatvermögen feindlicher Staaten so lange abzusehen, bis wir zu Vergeltungsmaßregeln gezwungen werden«, würde somit keine Veränderung erfahren.12 Vorausplanend verlangte Helfferich deshalb vom Generalkommissar 1917 eine Gesamtübersicht der Guthaben und Wertpapiere amerikanischer Provenienz. Er begründete diese Zurückhaltung in seiner autobiografischen Retrospektive mit Blick auf die im Vergleich geringen im Deutschen Reich sich befindenden ausländischen Vermögenswerte. »[W]as an feindlichem Privatvervom Königlichen Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel, KaiserWilhelm-Stiftung, Jena 1917–1919. Neben der Monographie Franz Scholzes für die Jahre 1914/15 siehe auch: Arthur Curti, Handelsverbot und Vermögen in Feindesland. 10 Denkschrift über wirtschaftliche Maßnahmen aus Anlaß d. Krieges, 8. Nachtrag, 26.11.1915, S. 104, in: Sten.Ber.RT, Bd. 316 (Anlagen Nr. 106–165), Nr. 147. 11 Denkschrift über wirtschaftliche Maßnahmen aus Anlaß d. Krieges, 9. Nachtrag, 26.9.1916, S. 217 f., in: Sten.Ber.RT, Bd. 319 (Anlagen Nr. 403–507), Nr. 403. 12 Staatssekretär d. Innern an d. Generalkommissar für d. Banken in Belgien in Brüssel, 22.8.1917 (Abs.) u. Kenntnisnahme durch d. AA (gez. Kriege), 15.8.1917, in: BArch Berlin, R 901/85491.
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mögen und Privatrechten unserem Zugriff unterlag, war dem Werte nach nur ein Bruchteil dessen, was bei der weitverzweigten deutschen Betätigung in den Machtbereich unserer Feinde der Willkür von Engländern, Franzosen und Russen ausgesetzt war.«13 Insbesondere aus diesem Grund beurteilte der Staatssekretär die deutschen »Aussichten einer reinen Vergeltungspolitik« als »schlecht«. Oberst Rudolf von Fransecky (1870–1930) empfahl im Namen des Preußischen Kriegsministeriums schließlich im Sinne des Vergeltungsparadigmas konsequenterweise die Förderung des »Erwerb[s] von Grundeigentum durch feindliche Ausländer«, sofern sie politisch unverdächtig seien. Zum einen würden »Gegenmaßnahmen erleichtert, wenn in den betr. feindlichen Staaten irgendwelche Maßnahmen gegen dortbefindlichen deutschen Grundbesitz ergriffen werden«. Zum anderen könnte das »Geld feindlicher Ausländer« »bei Friedensschluß nicht ohne weiteres ins Ausland abfließen«.14 Mit diesen öffentlichen Bekundungen und vertraulichen Erwägungen stifteten die Akteure eine wiederkehrende plausible Argumentation für die moralische Legitimität des eigenen Handelns. Das Paradigma der abwartenden Reaktion hinterließ seine Spuren in publikumswirksamen Kriegsschriften wie Das Geld im Kriege von Joseph Eßlen15 und fand ebenso Eingang in analytische Aufsätze des Pazifisten und Völkerrechtlers Walther Schücking (1875–1935). Er schrieb im Angesicht des Friedensvertrags von Versailles über die Zielsetzungen der Reichsleitung, dass »man sich nur gezwungenermassen und ganz allmählich zu den dem feindlichen Vorgehen entsprechenden Massnahmen« entschlossen hatte. Einzig die »Aufhebung« beziehungsweise »Milderung« der Vorgehensweise der Kriegsgegner sei bestimmend gewesen.16 Gleichlautend argumentierte 1924 der Staatsrechtslehrer Eberhard Schmidt (1891–1977). Seiner Meinung nach konnte das Festhalten am Grundsatz der Unverletzlichkeit des Privatrechtes nicht dazu führen, »daß Deutschland darauf verzichtete, dann zu wirtschaftskriegerischen Maßnahmen zu greifen, wenn es feststand, daß die Gegner mit derartigen Maßnahmen […] vorgegangen waren«. Denn in seinen Augen hätte ein Verzicht »der nationalen Würde des Reiches« und »seinen wirtschaftlichen Interessen« geschadet.17 13 Karl Helfferich, Der Weltkrieg, (Ausgabe in einem Band) Berlin 1919, S. 156. 14 Preuß. KM (gez. v. Fransecky) an d. Württ. KM, 16.10.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2853, Bl. 212. 15 Joseph Eßlen, Das Geld im Kriege, Berlin 1916, S. 26 (Reihe: Schützengraben-Bücher für das deutsche Volk, 1.–110. Tausendste Auflage). 16 Walther Schücking, Die Entschädigung der deutschen Reichsangehörigen hinsichtlich der Liquidation oder Zurückbehaltung ihres Eigentums, ihrer Rechte oder Interessen in den feindlichen Ländern, in: Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. 11 (1920), S. 548–572, hier S. 549. 17 Eberhard Schmidt, Die Völkerrechtlichen Grundlagen des von Deutschland geführten Wirtschaftskrieges, in: Friedrich Lenz u. Eberhard Schmidt (Hg.), Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg. Nebst einer Gesamtbilanz des Wirtschaftskrieges 1914– 1918, Bonn 1924, S. 1–21, hier S. 16.
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Der Sachverständige des dritten parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die Verletzungen des Völkerrechts im Weltkrieg, Godehard Ebers (1880– 1958), Professor der Rechte an der Universität Köln, kam schließlich zu denselben Ergebnissen.18 Aufbauend auf seinem Gutachten konstatierten die Mitglieder des Ausschusses, dass die deutschen Wirtschaftsmaßnahmen »nur reine Vergeltungsmaßregeln« gewesen seien, die »erst getroffen [wurden], nachdem das schädigende Verhalten des einzelnen Gegners einwandfrei festgestellt« worden war. Sie seien hierbei inhaltlich hinter den ›feindlichen‹ Maßnahmen zurückgeblieben. Die Ausschussmitglieder skizzierten darüber hinaus eine kühne Interpretation des Vorgehens der deutschen Reichsleitung. »Dadurch aber, daß die Mittelmächte ihre Wirtschaftsmaßnahmen stets nur als Vergeltungsmaßnahmen ergriffen […], wurde an jenen Grundsatz [der Unverletzlichkeit des Privateigentums, d. Verf.] erinnert und gleichzeitig verhindert, daß durch die Praxis der Gegner […] der Kriegsbegriff des Common Law [demzufolge nicht Staaten, sondern Völker gegeneinander kämpfen, d. Verf.] völkerrechtlich sanktioniert und das Prinzip der Unverletzlichkeit des Privateigentums durch neues Gewohnheits- und Vertragsrecht der Völkergemeinschaft aufgehoben wurde.«19 In diesem Sinne stellten die Ausschussmitglieder das ›deutsche‹ Handeln, welches sie als »objektive Rechtswidrigkeit« anerkannten, nicht nur als Vergeltung dar, sondern legitimierten es ebenso als Verteidigung traditioneller Grundrechte und Freiheiten der Zivilpersonen. Kriegswirtschaftliche Einschränkungen und Repressionen folgten auf nationalstaatlicher Ebene einem Denkmuster der gleichrangigen Vergeltung. Staatliche und nicht-staatliche Akteure überwachten akribisch ausländische Gesetze und Verordnungen. Diese waren Gegenstand einer Denkschrift des Auswärtigen Amtes20 und fanden Abdruck in zahlreichen Publikationen.21 Die Verantwortungsträger 18 Sachverständigengutachten Ebers (Wirtschaftskrieg), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 4, S. 375– 474. 19 Entschließung d. Dritten Unterausschusses, 8.3.1924, in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 4, S. 367– 374, hier S. 373. 20 Ausnahmegesetze gegen deutsche Privatrechte in England, Frankreich und Rußland, hg. vom Auswärtigen Amt, Berlin 1915. 21 Neben den bereits angeführten Schriften: Hermann Klibanski, Russlands Kriegsgesetze gegen feindliche Ausländer, in: Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. 10 (1917/18), S. 329–349 u. Sonderdruck, Breslau 1916; A. v. Vogel, Rußlands Kampfgesetze gegen den Aktienbesitz feindlicher Ausländer, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 10 (1917/II.), S. 227–243; Ders., Die Zwangsauflösung feindlicher Handels- und Industrieunternehmungen in Rußland, in: Ebd., Bd. 11 (1917/III.), S. 279–313; Der Wirtschaftskrieg. Sammlung der in den kriegführenden Staaten verfügten Maßnahmen des wirtschaftlichen Kampfrechtes, hg. vom Bureau der Handels- und Gewerbekammer für d. Erzherzogtum Österreich unter der Ems,
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innerhalb der wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse der Regierung warteten allerdings keineswegs die Auswertungen von Wirtschaftsexperten oder Neuerscheinungen des Buchhandels ab. Sie hatten sich entschlossen, zügig zu reagieren und sahen sich deshalb mit unsicheren und unbestätigten Informationen über die Maßnahmen anderer Staaten konfrontiert, wie ein Zirkular des Reichskanzlers an die Bundesregierungen nahelegt. Es konkretisierte den Umgang mit ›australischen‹ Unternehmen, und ihm lag eine abschriftliche Meldung der englischen Boulevardzeitung Daily Mail über die Zwangsverwaltung deutscher Firmen in Australien als Begründung und Nachweis bei. »Es dürfte danach kein Anlaß mehr bestehen«, teilte der Reichskanzler mit, »von der Anordnung einer Staatsaufsicht oder Zwangsverwaltung über australische Unternehmungen in Deutschland Abstand zu nehmen.«22 Neutrale Gesandtschaften stellten neben ausländischen Tageszeitungen eine weitere wichtige Informationsquelle dar. Im Falle der Wirtschaftssanktionen gegen US-amerikanische Staatsangehörige übermittelte die Schweizerische Gesandtschaft in Berlin die Nachricht, dass der Präsident der Vereinigten Staaten am 7. Oktober 1917 den Trading with the Enemy Act unterzeichnet hatte. Das Gesetz regelte Handelsverbote mit Kriegsgegnern.23 Daraufhin mussten im Deutschen Reich ab dem 10. November alle Staatsbürger/innen der USA ihr Vermögen bei den zuständigen Behörden registrieren lassen,24 und US-amerikanische Unternehmen konnten mit der Zustimmung des Reichskanzlers ebenso unter Aufsicht gestellt werden.25 In abwartender Haltung hatten gleichfalls Politiker und Ministerialbeamte genaue Vorstellungen von den möglichen Eingriffen in das Privateigentum ausländischer Staatsangehöriger entwickelt. Ihre rechtlichen und politischen Abwägungen wurden in einer Verständigung zwischen dem Deutschen Reich und dem Königreich Italien vom 21. Mai 1915 offengelegt.26 Die Unterhändler der beiden Staaten hatten sich zwei Tage vor dem Kriegseintritt Italiens gegen die österreich-ungarische Doppelmonarchie auf Eckpunkte eines Rechtsschutzes für
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Wien 19152; Die Sequestrationen deutschen und österreichisch-ungarischen Eigentums in Frankreich, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 11 (1917/III.), S. 228 f.; Hans Wehberg, Der französische Gesetzentwurf über den Handel mit Feinden, in: Ebd., S. 364–374; Ernst Müller-Meiningen, Der Weltkrieg 1914–1917 und der »Zusammenbruch des Völkerrechts«. Eine Abwehr und Anklage, Bd. 1 u. 2, Berlin 19174. Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 17.4.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10717/2290. Schweizerische Gesandtschaft in Berlin an d. AA, 22.10.1917, in: BArch Berlin, R 901/85491. Bkm. betr. wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen gegen d. USA, 10.11.1917, in: RGBl. 1917, S. 1050. Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 18.10.1917, in: HStA Dresden, 10717/2290. Übersetzung »Verständigung zwischen Deutschland und Italien wegen der Behandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen und ihres Eigentums während des Kriegszustandes« (gez. v. Jagow u. R. Bollati), Berlin 21.5.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 7–10; ebenso in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835.
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ihre Bürger/innen im Krieg geeinigt. Sie garantierten den »Deutschen in Italien und den Italienern in Deutschland« den »Schutz ihrer Person und ihres Eigentums nach Maßgabe der […] bestehenden Gesetze und Rechtsgrundsätze«. Die ungehinderte Abreise der beiderseitigen Staatsangehörigen war ebenso vereinbart worden wie ihr freier Aufenthalt und ihr selbstbestimmter Ortswechsel. Lediglich in militärischen Sperrbezirken und durch Polizeimaßnahmen »im Interesse der Staatssicherheit und der öffentlichen Ordnung« sowie »ihrer persönlichen Sicherheit« sollten diese Freiheiten eingeschränkt werden dürfen. Die Unterzeichner bekannten in Bezug auf die Rechtssicherheiten, dass die »Deutschen in Italien und die Italiener in Deutschland […] weiterhin im Genuß ihrer privaten Rechte sowie in der Befugnis, ihre Rechte gerichtlich geltend zu machen, keinen anderen Beschränkungen als die sich dort aufhaltenden Neutralen« unterliegen. Privatvermögen würden »keiner Art von Sequestration oder Liquidation« unterworfen werden und es bestehe kein Zwang zur Veräußerung von Grundeigentum. Trotz der eindeutig erscheinenden Bestimmungen unterzogen beide Vertragsparteien einzelne Punkte einer weitreichenden Deutung. Während die Regierungsvertreter in Deutschland von Zahlungsverboten gegen Italien vor einer Kriegserklärung aufgrund »der großen deutschen Guthaben« Abstand nahmen,27 forcierten Militärvertreter Verfügungsspielräume. So äußerte der Direktor des Unterkunfts-Departements im Preußischen Kriegsministerium, Emil Friedrich, im September 1915 Bedenken wegen der erheblichen Spionagegefahr, die von den italienischen Staatsangehörigen ausgehe. Sie sollten deshalb »zwar vor der amtlichen Kriegserklärung nicht als feindliche Ausländer« behandelt, aber »im Interesse der Sicherheit des Landes« den für diese geltenden Meldepflichten und Ortswechseleinschränkungen unterworfen werden. Jedenfalls könnten sie nicht länger »als neutrale Ausländer angesehen werden«, verlangte Friedrich.28 Er stellte gleichfalls die generelle Ausreisegenehmigung in Frage und verfügte, verdächtige Einzelpersonen einer »zeitlich beschränkte[n] Zurückbehaltung« zu unterstellen. Erst nach dieser »Wartezeit würden sie zu entlassen sein«. Des Weiteren sollten ›italienische‹ Arbeiter/innen mit langfristigen Verträgen an Arbeitsstellen gebunden werden.29 Dadurch hätten die Militärbehörden die Möglichkeit »[v]or Ablauf der Vertragszeit […] die Ausreise zu versagen«. Die italienische Regierung beklagte diese »vertragswidrige« Praxis des deutschen Militärs ebenso wie die übermäßigen Fristen und Briefsperren in den okku-
27 Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 26.1.1916, in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 35. 28 Rundschreiben d. Preuß. KM, 29.9.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 21. 29 Preuß. KM (gez. Friedrich), betr. Heranziehung italienischer Arbeiter nach Deutschland, an d. AA, 7.3.1916; abs. an sämtl. stv. Gkdos. u. d. RAdI, in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 44.
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pierten Gebieten.30 Sogleich wehrten sich deutsche Regierungsvertreter gegen italienische Vertragsverletzungen. Sie forderten Ersatz für requirierte Schiffe und zwangsversteigerte Ladungen. Gleichzeitig prangerten sie italienische Verbote an, die den Handel und die kaufmännische Korrespondenz mit Deutschland untersagten.31 Das Abkommen scheiterte somit in Teilen bereits vor der Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich am 28. August 1916. In einem ungewissen Zustand zwischen Nicht-Frieden und Nicht-Krieg waren militärische und zivilstaatliche Akteure bereit gewesen, die von ihnen selbst formulierten Mindeststandards zu übergehen. Während innerhalb des deutschen Territoriums an erster Stelle Maßnahmen gegen die Freiheitsrechte der italienischen Staatsangehörigen standen, schränkte das Vorgehen in Italien unter den Vorzeichen eines ›ökonomischen Nationalismus‹32 vorrangig die Eigentumsrechte ›Deutscher‹ ein. Der deutsche Reichskanzler konstatierte am 6. Juli 1916, dass sich die italienische Regierung nicht mehr an die Verständigung gebunden fühle. Er schlug deshalb »analoge Beschränkungen« vor, »wie sie hinsichtlich deutscher Privatrechte in Italien bestehen«. Diese gegen Italien gerichteten Vergeltungen sollten gleichwohl »aus politischen Gründen« nicht als solche gekennzeichnet werden.33 Der Präsident des Kriegsernährungsamtes forderte zweieinhalb Monate später aufgrund einer Eingabe des Oberbürgermeisters von Mainz eine strenge Überwachung der italienischen Lebensmittelhändler mit Hilfe einer Verordnung über den Handel mit entsprechenden Gütern.34 Einen Monat später erklärte sich der Reichskanzler mit der Überwachung italienischer Unternehmen einverstanden.35 Seit Ende November 1916 war schließlich ihre Zwangsverwaltung möglich.36
30 Bay. SMdI an u. a. d. bay. Regierungen, KdI, 30.6.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870– 1972, 160/1 u. vgl. zur italienischen Sicht der Vertragsverletzungen: Caglioti, Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem, S. 159 f. 31 Erwiderung d. deutschen Regierung auf d. Note d. italienischen Regierung vom 2. Mai 1916 über d. deutsch-italienische Verständigung vom 21. Mai 1915, 20.5.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 47–51. 32 Vgl. Caglioti, Germanophobia and Economic Nationalism, S. 147–170. 33 Reichskanzler an d. AA, wtgl. an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 6.7.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 46. 34 Präsident d. Kriegsernährungsamtes an u. a. d. Bundesregierungen, 23.9.1916, in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 53; Verordnung über d. Handel mit Lebens- u. Futtermitteln u. zur Bekämpfung d. Kettenhandels, 24.6.1916, in: RGBl. 1916, S. 581–584. 35 Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 24.10.1916, in: HStA Dresden, 10717/2290. 36 Bkm. betr. wirtschaftliche Vergeltungsmaßregeln gegen Italien, 24.11.1916, in: RGBl. 1916, S. 1289.
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Unternehmerische Unselbstständigkeit zwischen Kontrolle und Enteignung Überwachen – Verwalten – Enteignen »Es ist mir ganz unverständlich, dass Hamburger Kaufleute nach wie vor mit Engländern geschäftlich verkehren, und Engländer noch zur Börse zugelassen werden.«37 Mit diesen Worten drückte der stellvertretende kommandierende General Maximilian von Roehl seinen Unmut über verweigerte Abgrenzungen zwischen in- und ausländischen Geschäftsleuten aus. Er forderte aus diesem Grund den Senat der Hansestadt im Oktober 1914 auf, »hiergegen mit allen Mitteln vorzugehen«. Zugleich verband er dies mit einer Drohung. Sollten keine »wirksamen Mittel« zur Behebung dieses Missstandes verfügbar sein, würde er sich »gezwungen sehen, die in Hamburg sich aufhaltenden Engländer, die bis heute Bewegungsfreiheit geniessen, verhaften zu lassen«. Innerhalb der staatlichen Administration sollte sich die Sichtweise von Roehls durchsetzen. Die Argumente und Instrumente aber waren andere. ›Feindliche‹ Unternehmer und ihre Betriebe, Warenlager und Geschäftsguthaben wurden vom alltäglichen Wirtschaftsleben größtenteils ausgeschlossen. Bis zum 31. Juli 1916 hatten sich hierfür drei Verfahrensweisen etabliert: die Unternehmensaufsicht,38 die Zwangsverwaltung39 und die Liquidation.40 Diese Interventionsmöglichkeiten beinhalteten gleichfalls Handlungsspielräume, die wiederum einen unterschiedlichen Umgang mit den ausländischen Unternehmern und ihrem Eigentum zeitigten.
37 Stv. Gkdo. IX. AK (gez. v. Roehl) an d. Hohen Senat d. freien u. Hansestadt Hamburg, 24.10.1914, in: StA Hamburg, 111–2, L e, Bl. 2. 38 Geschäftsanweisung für d. zur Überwachung ausländischer Unternehmungen bestellten Aufsichtspersonen, in: HStA Dresden, 10717/2290, Bl. 14 f. 39 Allgemeine Grundsätze für d. Durchführung d. zwangsweisen Verwaltung von Unternehmungen feindlicher Staatsangehöriger, 12.1.1915 (hier: durch d. Württ. MdI an d. Württ. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten wtgl., 12.1.1915), in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 660. Grundsätze zur zwangsweisen Verwaltung in Baden werden umfänglich zitiert in: Stehberger, Die Durchführung der Vergeltungsmaßnahmen in Baden, in: Friedrich Lenz u. Eberhard Schmidt (Hg.), Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg. Nebst einer Gesamtbilanz des Wirtschaftskrieges 1914–1918, Bonn 1924, S. 273–282, hier S. 276 ff. 40 Grundsätze für d. Durchführung d. Liquidation britischer Unternehmungen (gez. Neuhaus, Reichskommissar für d. Liquidation ausländischer Unternehmungen), (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16106, Bl. 28 ff. Zur institutionell-rechtlichen Ausgestaltung des Reichskommissars für die Liquidation ausländischer Unternehmungen siehe ebenfalls: Dirk Hainbuch, Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919–1924. Die Abwicklung des Ersten Weltkrieges: Reparationen, Kriegsschäden-Beseitigung, Opferentschädigung und der Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte, Frankfurt a. M. 2016, S. 122–127.
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Tabelle 6: Ausgewählte Verordnungen über die Behandlung ausländischer Privatpersonen und Unternehmen Überwachung Bkm. betr. Überwachung feindlicher Unternehmungen, 4.9.1914 (RGBl. 1914, S. 397 f.) Bkm. betr. Bestellung eines Vertreters für überwachte Unternehmen, 22.10.1914 (RGBl. 1914, S. 447) Zwangsverwaltung Bkm. betr. Zwangsverwaltung französischer Unternehmungen, 26.11.1914 (RGBl. 1914, S. 487) Ausdehnung auf: England, 22.12.1914 (RGBl. 1914, S. 556); Russland, 4.3.1915 (RGBl. 1915, S. 133); Portugal, 14.5.1916 (RGBl. 1916, S. 375); Rumänien, 28.9.1916 (RGBl. 1916, S. 1099); Italien, 24.11.1916 (RGBl. 1916, S. 1289); Siam u. China, 12.9.1917 (RGBl. 1917, S. 831) u. d. USA, 13.12.1917 (RGBl. 1917, S. 1165) Liquidation Bkm. betr. Liquidation englischer Unternehmungen (außer Kanada u. Südafrika), 31.7.1916 (RGBl. 1916, S. 871) Ausdehnung auf: Frankreich, 14.3.1917 (RGBl. 1917, S. 227); Russland, 22.9.1917 (RGBl. 1917, S. 876) u. d. USA, 4.3.1918 (RGBl. 1918, S. 111) Einzelvermögen und Verträge Bkm. betr. Anmeldepflicht feindlichen Vermögens, 7.10.1915 (RGBl. 1915, S. 633–635), Ausführungsverordnung (RGBl. 1915, S. 653–655) Ausdehnung auf: USA, 10.11.1917 (RGBl. 1917, S. 1050) Bkm. betr. Verträge mit feindlichen Staatsangehörigen, 16.12.1916 (RGBl. 1916, S. 1396–1400) Bkm. betr. Treuhänder für d. feindliche Vermögen, 19.4.1917 (RGBl. 1917, S. 363–366) Quelle: RGBl. 1914–1918, Zusammenstellung R. M.
Aus Sicht der Vertreter des Sächsischen Innenministeriums galten die Aufsichtsund Zwangsverwaltungsanordnungen als »rein politische Vergeltungsmaßnahmen«. Diese konnten demzufolge auf alle ausländischen Unternehmen der Kriegsgegner angewandt werden, bei denen die rechtlichen Voraussetzungen – »Leitung vom feindlichen Auslande aus, Abführung von Geldern dorthin nach Friedensbrauch oder überwiegend feindlicher Geschäftsanteil« – vorlagen. »Von der Person des feindlichen Unternehmers und ihrem Ruf ist die Verhängung der Vergeltungsmaßnahmen nicht abhängig«, erklärten die Vertreter des Dresdner Innenministeriums dem dortigen stellvertretenden Generalkommando nachdrücklich.41 Obwohl demnach »alle feindlichen Unternehmungen usw., bei denen die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen« und die eine wirtschaftlich relevante Bedeutung besaßen, von den Wirtschaftssanktionen betroffen sein sollten, räumten die Ministerialbeamten Ausnahmefälle ein. »[W]enn der feindliche Unternehmer 41 Sächs. MdI, betr. Staatsaufsicht oder Zwangsverwaltung feindlicher Unternehmungen, an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 8.2.1918, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 104 f.
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schon vor dem Kriege sich als Mann mit deutschem Empfinden erwiesen hatte oder, wenn er nahe Angehörige im deutschen Heere hatte und sonst einwandfrei war usw.«, konnte durchaus von der staatlichen Aufsicht abgesehen werden.42 In Sachsen stellte dies keineswegs eine Seltenheit dar.43 Und gleichfalls in Württemberg war »sämtlichen Ausländern, die feindlichen eingeschlossen, grundsätzlich der Betrieb eines selbständigen Gewerbes« weiterhin gestattet.44 Dass bei den wirtschaftlichen Sanktionen erneut abwägende Einzelfallentscheidungen zu treffen waren, illustriert ein Beispiel aus dem westlich von Wuppertal gelegenen Haan. Der dortige Landrat beantragte beim Regierungspräsidenten von Düsseldorf die zwangsweise Verwaltung der Immobilien des britischen Staatsangehörigen William Bayly. Er rechtfertigte sein Ansinnen mit deutschen Sparkassenkrediten Baylys und den Ansprüchen eines Kaufmanns gegen ihn. Der Landrat schloss sein Ersuchen allerdings mit folgenden Worten: »Zufolge Bericht der Polizeibehörden zu Haan hat Bayly, wie ich beiläufig bemerke, sich kürzlich in Holland im Beisein von Haaner Bürgern in sehr verächtlichem Tone über Deutschland ausgesprochen.«45 Da Bayly ebenso in Düsseldorf Grundbesitz besaß, erstattete im Anschluss daran die Politische Abteilung der dortigen Polizei Bericht.46 Die Düsseldorfer Beamten gelangten jedoch zu einem komplexeren Bild über den britischen Staatsbürger als ihre Haaner Kollegen. Bayly, der seit 32 Jahren in Deutschland wohne, habe ein »nicht unbedeutendes Vermögen«, aber auch »eine Reihe kleinerer Hypotheken« und zeige sich »sehr wohltätig«. »Trotz seines langen Aufenthaltes in Deutschland soll Bayly jedoch noch bis zuletzt durch und durch Engländer gewesen sein«.47 Gleichwohl beteuerten mehrere Zeugen, dass er »zu keiner Deutschland schädigenden Handlung fähig sei«. Die Herabwürdigung in Holland könne auf ein Missverständnis durch Äußerungen Baylys in indirekter Rede zurückgeführt werden. Weder in »politischer noch strafrechtlicher Hinsicht« war etwas über den zu dieser Zeit in Holland oder England Weilenden bekannt. Die polizeiintern dokumentierte Entscheidungsfindung über die Person Bayly berücksichtigte demzufolge wirtschaftliche und national-politische Aspekte. Aufgrund des zusammengetragenen Wissens hielt der Regierungspräsident Francis Kruse
42 Ebd. 43 Stv. Gkdo. XIX. AK an d. Sächs. MdI, 18.2.1918, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 106–110. 44 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 3 f. 45 Landrat d. Kreises Mettmann an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 3.4.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15003, Bl. 33. 46 Bericht d. Politischen Abt. d. Polizeidirektion Düsseldorf, 30.5.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15003, Bl. 34. 47 Ebd. (Herv. im Org.).
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eine Zwangsverwaltung des Besitzes für »vorerst nicht angezeigt«.48 Begründen musste er seine Entscheidung nicht. Die Urteilsbildung in den Fragen wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen wurde darüber hinaus wie im Falle polizeilicher Maßregeln von außenpolitischen Kriegsinteressen beeinflusst. So hielt die Reichsleitung im Laufe des Krieges die Zivilbehörden zu einer Unterscheidung der Personen russländischer Staatszugehörigkeit an. Während für die Bewohner/innen des Generalgouvernements Warschau keine rechtlichen Veränderungen vorgesehen waren, forderte der Reichskanzler nach der Proklamation des Königreiches Polen am 5. November 1916 eine wirtschaftliche Berücksichtigung der polnischen Nationalität ein. »Indessen kann praktisch ein Volk, das wir zum Kampf gegen Rußland an unserer Seite aufgefordert haben, und das wir zu einem uns verbündeten Staatswesen zu organisieren im Begriff sind, nicht als Feind betrachtet und behandelt werden. Die […] Maßnahmen des Wirtschaftskrieges werden daher […] Polen gegenüber aufzuheben sein.«49 Im Zuge dessen sollten Anordnungen über Staatsaufsicht und Zwangsverwaltung »gegen Personen polnischer Nationalität oder deren Unternehmungen« aufgehoben werden.50 Die Reichsleitung unterstrich diese Position nochmals im Sommer des Jahres 1917. Die »künftigen Staatsangehörigen dieses zu errichtenden Königreiches Polen« würden »schon jetzt nicht mehr als Feinde« zu behandeln sein. Von Vergeltungsmaßnahmen sei deshalb abzusehen. Jedoch konnten sich nur Personen zu den zukünftigen polnischen Staatsangehörigen zählen, »die innerhalb gewisser Gebiete Russisch-Polens vor dem Kriege ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt hatten«. Für jene, die »im Reichsgebiet wohnen oder dauernd sich aufhalten«, konnten die Zwangsmaßnahmen fortbestehen.51 Erst mit der Veröffentlichung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk am 11. Juni 1918 im Reichsgesetzblatt52 hörte formal die Überwachung und Zwangsverwaltung ›russischer‹ Unternehmungen auf. Die Rückgabe an die ehemaligen Inhaber und die Gewährung unternehmerischer Selbstständigkeit erfolgten aber erneut in Abhängigkeit von den Interessen des Deutschen Reiches und ausgeloteter Handlungsspielräume. Denn der Reichskanzler bestimmte, dass »[d]ie Pflicht zur Freigabe […] erst ein[tritt], wenn der Berechtigte das Ver48 Reg.-Präs. in Düsseldorf (gez. Kruse) an d. Landrat in Vohwinkel, 19.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15003, Bl. 35. 49 Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 4.1.1917, in: HStA Dresden, 10717/2290. 50 Ebd. 51 Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, hier wtgl. an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 4.6.1917, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2093. 52 Friedensvertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien u. d. Türkei einerseits u. Rußland andererseits, 11.6.1918, in: RGBl. 1918, S. 479–621.
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langen stellt. Es erscheint angezeigt, mit der Freigabe nicht schneller vorzugehen, als notwendig.«53 Die Zwangsverwaltung eines Unternehmens musste aber nicht in jedem Falle den Interessen des ausländischen Inhabers zuwiderlaufen, und der unbeaufsichtigte Unternehmer war keineswegs stets bessergestellt. Erstens waren die zugewiesenen Verwalter den zuständigen Landesbehörden, im Falle Württembergs beispielsweise der Zentralstelle für Gewerbe und Handel, umfassend verantwortlich.54 Zweitens schuldeten sie den Inhabern eine gewissenhafte und sorgfältige Geschäftsführung. Die ausländischen Besitzer konnten die Verwalter nicht zuletzt bei vorsätzlichem Fehlverhalten unter Zustimmung der Landesbehörden auf Schadensersatz verklagen.55 Drittens bedeuteten weitreichende Verfügungsrechte der Verwalter nicht selten einen Vorteil für die Unternehmensführung. So war es im Königreich Sachsen durchaus umstritten, ob Zwangsverwalter zum »Schutz deutscher Interessen« den umfassenden Zugriff auf die Vermögen der Zwangsverwalteten erhalten durften.56 Denn die Unternehmen unter Staatskontrolle erhielten dadurch eine wirtschaftliche Handlungsfreiheit, die den Unbeaufsichtigten durch die gleichzeitige Sperrung ihrer Bankguthaben verwehrt war. Eine ausgeprägte Investitionspraxis zwangsverwalteter Unternehmen prangerte der Leipziger stellvertretende Generalkommandeur, Georg Hermann von Schweinitz (1851–1928), Ende 1917 vehement an. Er erließ aus diesem Grund Bestimmungen, die den staatlich bestellten Verwaltern den Erhalt der Vorkriegsvermögen zur Pflicht machten. Zum einen wollte er im Sinne der Vergeltungsmaßnahmen das Drohpotenzial durch etwaige Vermögensverluste aufrechterhalten.57 Zum anderen plädierte er für eine »gleichmäßige und gerechte Behandlung aller Ausländer«. Von Schweinitz befürchtete, wenn »diejenigen Betriebe, die unter Staatsaufsicht oder Zwangsverwaltung stehen, ihr Bankguthaben voll ausnützen dürfen, andere dagegen nicht«, könne das »Verbitterung hervorrufen und das Gefühl ungerechter Behandlung auslösen«. Denn auch wenn die Geschäfte durch den Verwalter geführt würden, »der Gewinn kommt doch letzten Endes dem Ausländer zu Gute«.58 Ebenso der gelegentliche Eigensinn der Aufsichts- und Verwaltungspersonen rief Unmut »in der Geschäftswelt« hervor. »Es ist gerügt worden,« führte der 53 Reichskanzler (Reichswirtschaftsamt) an d. Bundesregierungen, 9.5.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 10717/2290 u. in: HStA Dresden, 11352/1403. 54 Allgemeine Grundsätze für d. Durchführung d. zwangsweisen Verwaltung von Unternehmungen feindlicher Staatsangehöriger, 12.1.1915, in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 660. 55 Curti, Handelsverbot und Vermögen in Feindesland, S. 87 f. u. Petri, Zwangsverwaltung und Liquidation, S. 6 f. 56 Ebd. 57 Stv. Gkdo XIX. AK an d. Garnison-Kommando Leipzig, 22.11.1917, (Ent.) in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 89 f. 58 Stv. Gkdo. XIX. AK an d. Sächs. MdI, 18.2.1918, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 106–110.
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Reichskanzler gegenüber den bundesstaatlichen Gesandten im Januar 1915 aus, »daß die von solchen feindlichen Firmen während des Krieges betriebene aufdringliche Reklame Anstoß erregt, indem sie die Grenze des im Wettbewerb Üblichen überschreitet. Vor allem sind es die Bemühungen zahlreicher solcher Auslandsfirmen, ihren englischen und französischen Charakter zu verleugnen und das Publikum irre zu führen.«59 Als Verantwortliche dieses Missstandes galten die staatlich bestellten Aufsichtspersonen. Diese hätten den Firmen »meist de[n] weiteste[n] Spielraum gelassen«, und es sei vorgekommen, dass eine »Aufsichtsperson selbst zu wirksamer Reklame solcher Firmen ihren Namen« hergab. Die Redakteure des Berliner Tageblatts wussten sogleich von einer »englische[n] Firma der Spielwarenindustrie« zu berichten, die mit einem Werbeschreiben Aufsehen erregt hatte. Darin hieß es: »Unserer geschätzten Kundschaft beehren wir uns hierdurch ergebenst davon Kenntnis zu geben, dass unsere Gesellschaft […] unter Staatsverwaltung gestellt worden ist. Hierdurch ist die Gesellschaft ihres Charakters als ausländische Firma vollständig entkleidet und als ein reindeutsches [sic] Unternehmen zu betrachten. Wir bitten Sie daher, das uns bisher geschenkte Vertrauen auch weiterhin erhalten zu wollen.«60 Weil der Zwangsverwalter dem Unternehmen per se keine nationalen Attribute zuerkannte und für ihn der Wechsel des Geschäftsführers ausreichend erschien, handelte er aus Sicht des Reichskanzlers wie der Zeitungsmacher gegen »deutsche Interessen«. Denn das Werbeschreiben verfolgte die Strategie, weiterhin im Krieg wettbewerbsfähig zu bleiben und damit in Konkurrenz zu anderen inländischen Firmen zu treten. Der Reichskanzler mahnte dagegen die unbedingte Orientierung an den »deutschen Interessen« an, die seit der ersten Bekanntmachung zur Überwachung französischer Unternehmen als Ziel formuliert worden waren.61 Diesen sei zu genügen durch »eine Anpassung des gesamten Geschäftsbetriebes und Geschäftsgebarens an die allgemeinen Normen der deutschen Gesetzgebung und der deutschen Verkehrssitte«, durch die »Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen der deutschen Konkurrenten« und auf »die der deutschen Schuldner der Firma«.62 Folglich wurde eine grundlegende Abkehr der privatwirtschaftlichen Unternehmen 59 Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 22.1.1915, in: HStA Dresden, 10717/2290, Bl. 122 f. 60 Werbeschreiben zit. nach: Die Zwangsverwaltung feindlicher Unternehmungen. Aus der Praxis, in: Berliner Tageblatt, 8.2.1915 (Nr. 71, Abendausgabe). 61 Vgl. Bkm. betr. d. Überwachung ausländischer Unternehmungen, § 1, 4.9.1914, in: RGBl. 1914, S. 397 f. 62 Reichskanzler (RAdI) an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 22.1.1915, in: HStA Dresden, 10717/2290, Bl. 122 f.
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von kapitalistischen Grundsätzen eingefordert. Die gewinnorientierten Interessen des ausländischen Inhabers mussten fortan zugunsten der deutschen »Beteiligten«, »Gläubiger«, »Schuldner«, »Angestellten« und »überhaupt der deutschen öffentlichen Interessen wie de[r] Interessen des deutschen Wirtschaftslebens« zurücktreten.63 Vor diesem Hintergrund versuchten deutsche Unternehmen und Verbände, Wettbewerbssituationen zu ihren eigenen Gunsten zu verschieben. Beispielsweise ließ die Stahlwerks-Verband AG nichts unversucht, um »sich eines mächtigen Konkurrenten zu entledigen«, wie der Abgeordnete Oskar Cohn 1918 zusammenfasste. Die Verbandsmitglieder versuchten sukzessive, die elsaß-lothringischen Berg- und Hüttenwerke de Wendel aus dem Markt zu drängen.64 Unterstützung erfuhren sie hierbei von der Militärkommandantur in Diedenhofen (franz. Thionville), die unter anderem den Verkauf von Rohstahl verhinderte. Der Zwangsverwalter des Unternehmens fand sich in einem schwierigen Interessenkonflikt wieder, weil die Interessen der Kriegswirtschaft als übereinstimmend mit den wirtschaftlichen Motiven der deutschen Stahlwerke interpretiert wurden. Diese Konzeption »deutscher Interessen« stand allerdings dem Vorsatz des Leipziger stellvertretenden Generalkommandeurs von Schweinitz entgegen, der lediglich die Vergeltungspotenziale durch die Zwangsverwaltung erhalten wollte. Zivile und militärische Interessen sowie die Konsequenzen aus dem kriegspolitischen Eingriff in die Privatwirtschaft unterschieden sich folglich auch bei gemeinsam befürworteten Vergeltungsmaßnahmen voneinander. Für die ausländischen Geschäftsinhaber ergab sich dadurch eine latente Ungleichbehandlung. Die unternehmerische Entscheidungssouveränität feindlicher Ausländer erfuhr trotz aller Binnendifferenzierungen staatlicherseits erhebliche Eingriffe. Ausländische Unternehmer mussten bereits mit der Überwachung ihrer Betriebe unter Androhung hoher Strafen Einsicht in Rechnungsbücher, Kassenbestände, Wertpapiere und Warenbestände geben.65 Die Zwangsverwaltung bedeutete daran anschließend den Verlust der Zugriffsrechte auf Unternehmensentscheidungen. Die Geschäftsinhaber verloren »die Befugnis, Rechtshandlungen für das Unternehmen vorzunehmen«. Sie gaben »das Verwaltungs- und Verfügungsrecht über das dem Unternehmen gehörige Vermögen« ab.66 Der Zwangsverwalter trat in die Rechte des Unternehmensinhabers ein und übte »alle Geschäftsführungs- und 63 Allgemeine Grundsätze für d. Durchführung d. zwangsweisen Verwaltung von Unternehmungen feindlicher Staatsangehöriger, 12.1.1915 (hier: durch d. Württ. MdI an d. Württ. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten wtgl., 12.1.1915), in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 660. 64 Oskar Cohn, 199. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 16.1.1918, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 4, S. 1883–1889, hier S. 1883 f. 65 Bkm. betr. d. Überwachung ausländischer Unternehmungen, 4.9.1914, in: RGBl. 1914, S. 397 f. 66 Allgemeine Grundsätze für d. Durchführung d. zwangsweisen Verwaltung von Unternehmungen feindlicher Staatsangehöriger, 12.1.1915 (hier: durch d. Württ. MdI an d. Württ. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten wtgl., 12.1.1915), in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 660.
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Vertretungsbefugnisse der Gesellschafter, der Prokuristen und Handelsbevollmächtigten, der Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer juristischer Personen, des Aufsichtsrats und der Gesellschafterversammlungen aus«. Das letzte »deutsche Interesse« konnte in der Liquidation des Firmeneigentums, der Geschäftsbeteiligungen und des Grundbesitzes ausländischer Staatsangehöriger bestehen.67 In den Jahren 1916 bis 1918 waren britische und französische Unternehmen von Zwangsauflösungen oder -verkäufen betroffen.68 Die Anordnung dieser Maßnahmen oblag in jedem Einzelfall dem Reichskanzler beziehungsweise dem Reichskommissar für die Liquidation ausländischer Unternehmungen, Albert Neuhaus (1873–1948). Sie hatten das Recht, aber nicht die Pflicht, die Liquidationsersuche zu genehmigen.69 »Die Liquidation bezweckt die Ausschaltung des britischen Einflusses auf Unternehmungen in Deutschland als Vergeltungsmaßnahme gegen die in Großbritannien ergangenen Verfügungen gegen deutsches Privateigentum«, unterstrich der Reichskommissar am 8. Oktober 1916.70 Er legte Wert darauf, dass eine »Verschleuderung britischen Privateigentums […] nicht beabsichtigt« sei. »Daher werden die Vermögensobjekte zu angemessenen Preisen zu verkaufen sein.« Vermögensschätzungen sollten sich allerdings an den Friedenspreisen orientieren.71 Die Erlöse waren beim Treuhänder für das feindliche Vermögen72 zu hinterlegen und sollten nach Kriegsende entweder als Kompensation für Forderungen deutscher Staatsangehöriger im Ausland dienen oder dem Enteigneten ausgezahlt werden.73 Bei allen Verfahren waren »die beteiligten deutschen Interessen zu schützen«. Zu diesen gehörten nicht nur der Schutz der Angestellten und Arbeiter/innen, sondern ebenso Auflagen für die Käufer. Sie wurden verpflichtet, die Unternehmen »binnen einer Sperrfrist von mindestens 5 Jahren nach Friedensschluß an Ausländer nur mit Zustimmung der Landeszentralbehörde weiter [zu] ver-
67 Zur Enteignung gewerblicher Schutzrechte siehe: Mächtel, Das Patentrecht im Krieg. 68 Zusammenstellung d. im Weltkrieg 1914/1918 über d. Behandlung d. feindlichen Vermögens in Dtl. erlassenen Verordnungen, in: BArch Berlin, R 2/466, Bl. 9. 69 Petri, Zwangsverwaltung und Liquidation, S. 13 u. Denkschrift über wirtschaftliche Maßnahmen aus Anlaß d. Krieges, 9. Nachtrag, 26.9.1916, S. 217 f., in: Sten.Ber.RT, Bd. 319 (Anlagen Nr. 403–507), Nr. 403. 70 Grundsätze für d. Durchführung d. Liquidation britischer Unternehmungen (gez. Neuhaus, Reichskommissar für d. Liquidation ausländischer Unternehmungen), (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16106, Bl. 28 ff. 71 Ebd. 72 Bkm. über d. Treuhänder für d. feindliche Vermögen, 19.4.1917, in: RGBl. 1917, S. 363–366. 73 Petri, Zwangsverwaltung und Liquidation, S. 17 f. u. Denkschrift über wirtschaftliche Maßnahmen aus Anlaß d. Krieges, 9. Nachtrag, 26.9.1916, S. 219, in: Sten.Ber.RT, Bd. 319 (Anlagen Nr. 403–507), Nr. 403.
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äußern«.74 Die Liquidation zielte im Zuge dessen auf die kurzfristige Vergeltung eines wahrgenommenen (britischen) Unrechts und in einem gewissen Umfang auf die Abschirmung der deutschen Wirtschaft in den ersten Nachkriegsjahren. Zwangsauflösungen und -verkäufe »feindlichen Vermögens« wurden aber wenige Wochen vor Kriegsende nicht als ein Instrument zur Gestaltung einer zukünftigen Wirtschaftsordnung herangezogen. Sie sollten bereits am 5. Oktober 1918, dem Tag der deutschen Friedensnote an den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, eingestellt werden.75 Nicht alle angeordneten Liquidationen wurden zugleich vollzogen. Im Königreich Bayern lösten die Beamten von 18 vorgesehenen Unternehmungen lediglich neun auf.76 In Sachsen wurden 22 Liquidationen angeordnet, aber nur 13 durchgeführt. Der Regierungsrat Hast in Dresden rechtfertigte diese »verhältnismäßig geringe Zahl« in seinen Nachkriegsbetrachtungen.77 Die beteiligten Akteure seien demnach mit großer Vorsicht vorgegangen, und das Verfahren hätte viel Zeit in Anspruch genommen. Der Reichskanzler prüfte die Liquidationsersuche eingehend, mit dem Reichskommissar mussten sich die Liquidatoren über die Durchführung einigen, Sachverständige wurden für die Vermögensschätzungen geladen, und die Handelskammern konnten Gutachten abgeben. Anschließend erschienen in den Tageszeitungen Anzeigen über die Liquidationsobjekte unter Wahrung angemessener Fristen. Ein namhaftes Beispiel für die Liquidierung eines großen Unternehmens der Schwerindustrie und für die Verstrickungen bei den Liquidationsverfahren stellten die Berg- und Hüttenwerke de Wendel in Elsaß-Lothringen dar. Obwohl die deutsche Stahlwerks-Verband AG zunächst mit einigem Erfolg versucht hatte, die Geschäfte der Wendelschen Werke zu beeinträchtigen, sollte eine Übernahme des zum Großteil in französischem Besitz befindlichen Unternehmens durch den deutschen Konkurrenten verhindert werden. Insbesondere befürchteten die Abgeordneten des Reichshaushaltsausschusses und Mitglieder der Regierung eine Monopolstellung der deutschen Stahlwerke.78 Über die Liquidation kam es zu größeren Auseinandersetzungen, weil das Reichswirtschaftsamt und der Reichs74 Grundsätze für d. Durchführung d. Liquidation britischer Unternehmungen (gez. Neuhaus, Reichskommissar für die Liquidation ausländischer Unternehmungen), (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16106, Bl. 28 ff. 75 Reichskanzler (Reichswirtschaftsamt, gez. i. A. Göppert) an d. preuß. Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten, 17.10.1918, in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16106, Bl. 131. Auch »schwebende Verhandlungen« sollten ab diesem Zeitpunkt nicht zum Abschluss gebracht werden. 76 O. A., Die Durchführung der Vergeltungsmaßnahmen in Bayern, S. 238. 77 Hast, Die Durchführung der Vergeltungsmaßnahmen in Sachsen, S. 253 f. 78 199. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 16.1.1918, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 4, S. 1883–1889; 213. Sitzung d. RHaushA, 7.3.1918, in: Ebd., S. 2011–2025; 214. Sitzung d. RHaushA, 8.3.1918, in: Ebd., S. 2025–2033, hier S. 2025. u. 266. Sitzung d. RHaushA, 8.7.1918, in: Ebd., S. 2270–2273.
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kanzler die Reichstagsabgeordneten zum Teil vor vollendete Tatsachen gestellt hatten und ihnen Einblicke in das Bieterverfahren verwehrten. Der Zwangsverkauf warf darüber hinaus weitere Kriegs- und Nachkriegsfragen auf wie die Festsetzung von Höchstpreisen auf Erze, den Umgang mit Rohstoffen, die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zu Frankreich und staatliche Vorkaufsrechte bei einem weiteren Besitzerwechsel. Eine Unternehmensliquidation konnte demzufolge mehr als einen nationalen Eigentümerwechsel bedeuten. Dass die Liquidatoren jedoch nicht nur profitable Betriebe abwickelten, zeigt eine Zwangsauflösung in Württemberg. Laut dem Bericht des Regierungsrates Ludwig Möhler war im Falle eines Elektrizitätswerkes der Weiterbetrieb »des schon vor dem Kriege ziemlich unrentabel gewesenen, stark veralteten Werkes ohne Aufwendung weiteren Kapitals nicht möglich«.79 Da solches vom Besitzer, der zwischenzeitlich in Ruhleben interniert war, nicht aufgebracht werden konnte und zusätzlich Schulden auf dem Werk lasteten, genehmigten der Reichskanzler und die Zentralstelle in Württemberg die Abwicklung. Gleichwohl griff die Liquidation britischer und französischer Unternehmen in das Privateigentum und -recht der betroffenen Ausländer/innen ein und war keinesfalls als staatliche Schuldnerfürsorge angelegt. Die staatlichen Regulierungsentscheidungen beeinflussten zur gleichen Zeit oftmals wirtschaftliche Marktverhältnisse. Dies offenbarte besonders die Liquidation der Gramophone Company mit Stammsitz im englischen Hayes.80 Um einen Verkauf in seinem Sinne zu erwirken, trat der Direktor der Leipziger Polyphon-Musikwerke A.-G. persönlich mit dem Sächsischen Innenministerium in Kontakt. »Wir selbst interessieren uns sehr, die Aktien der Grammophon zu erwerben, da, falls die Grammophon durch eine der in Preussen befindlichen Konkurrenz-Unternehmungen erworben wird, die ganze Sprechmaschinen- und Schallplatten-Industrie, die früher in Sachsen nicht unbedeutend gewesen ist, verloren gehen würde.«81 Der Liquidator musste demnach seine Entscheidung in einem ökonomischen Spannungsverhältnis treffen, in welchem die Akteure nicht nur nach nationalen Gesichtspunkten argumentierten. Dennoch erhielten die Leipziger Musikwerke den Zuschlag aufgrund nationaler Überlegungen. Der zuständige Vollstreckungsverwalter glaubte, bei der
79 Möhler, Die Durchführung der Vergeltungsmaßnahmen in Württemberg, in: Friedrich Lenz u. Eberhard Schmidt (Hg.), Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg. Nebst einer Gesamtbilanz des Wirtschaftskrieges 1914–1918, Bonn 1924, S. 260–272, hier S. 268. 80 Dazu die Akte Liquidation der englischen Grammophon-Gesellschaft und Erwerb durch eine sächsische Firma, in: HStA Dresden, 10736/7114. 81 Bruno Borchardt (Direktor d. Polyphon-Musikwerke A.-G.) an d. Sächs. MdI, 16.3.1917, in: HStA Dresden, 10736/7114, Bl. 1.
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Einschränken und Entrechten
sächsischen Firma vor einer »Wiederanknüpfung der englischen Beziehungen« »sicherer« zu sein.82 Die bedeutsame Rolle des Liquidators war recht bald bekannt. Der Reichskanzler erfuhr von Verkaufswettbewerben, in denen »dem Liquidator seitens einzelner Beteiligter für den Fall der Zuschlagserteilung besondere Vorteile in Aussicht gestellt wurden. Insbesondere sind […] dem Liquidator Aufsichtsratsstellen in der zu gründenden neuen Gesellschaft oder in der bisherigen Gesellschaft angeboten worden.«83 Er forderte deshalb die Bundesregierungen auf, die Vollstreckungsverwalter, die meist »Angehörige der freien Erwerbsstände« waren, sorgfältig auszuwählen. Firmen, die Bestechungsversuche unternahmen, seien von den Versteigerungen auszuschließen. Liquidatoren, die den Bestechungsversuchen nachgäben, seien sofort zu entlassen. Demzufolge führten die Vergeltungsmaßnahmen zu Verteilungskämpfen zwischen inländischen Unternehmern. Der Krieg bedeutete für sie nicht nur ein enormes Risiko. In ihm lag die Chance, die Marktverhältnisse neu zu ordnen, gelegentlich mit ehemals ausländischen Firmen. Tabelle 7: Aufsichten, Zwangsverwaltungen und angeordnete Liquidationen in ausgewählten Bundesstaaten Bundesstaat Preußen
Liquidationen
Zwangsverwaltungen
Aufsichten
Insgesamt
211
497
150
858
Bayern
(18) 11
48
—
59
Sachsen
(22) 23
724
49
796
Württemberg
11
7
—
18
Baden
44
59
28
131
Hamburg
56
248
227
531
Mecklenburg-Schwerin
70
1
—
71
… Deutsches Reich
…
…
…
…
[462] 444
[1.744] 1.680
[475] 473
2.597
Quellen: Zusammenstellung d. im Weltkrieg 1914/1918 über d. Behandlung d. feindlichen Vermögens in Dtl. erlassenen Verordnungen, in: BArch Berlin, R 2/466, Bl. 5. In eckigen Klammern: Sachverständigengutachten Ebers (Wirtschaftskrieg), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 4, S. 448. In runden Klammern für Sachsen und Bayern: Hast, Die Durchführung der Vergeltungsmaßnahmen in Sachsen, in: Friedrich Lenz u. Eberhard Schmidt (Hg.), Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg. Nebst einer Gesamtbilanz des Wirtschaftskrieges 1914–1918, Bonn 1924, S. 239–259, hier S. 253 u. O. A., Die Durch führung der Vergeltungsmaßnahmen in Bayern, in: Ebd., S. 234–238, hier S. 238.
82 Geheimrat Dr. Dehne an d. Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 24.4.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/7114, Bl. 20. 83 Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 2.6.1917, in: GStA PK, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 16106, Bl. 131.
Unternehmerische Unselbstständigkeit zwischen Kontrolle und Enteignung
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Unternehmerische Kreativität Von wirtschaftlichen Sanktionen Betroffene versuchten durchaus, sich den Boykotten wie staatlichen Eingriffen zu entziehen. Eine Strategie enthüllte schon bald nach Kriegsbeginn ein aufmerksames Mitglied des sächsischen Landesobstbauvereins. Der Obstbauer hatte beobachtet, dass die »englische Firma« James Keiller and Son, die Marmeladen und Konserven in Tangermünde herstellte, ihre beliebten, »in den besseren Geschäften« zu findenden Produkte einfach umetikettierte. Sie bot fortan »die Waren unter amerikanischer Flagge zum Verkauf« an und beabsichtige wohl ferner, einen »deutschen Namen« anzunehmen.84 Von ähnlichen Kennzeichnungsänderungen berichtete auch die Hamburger Geschäftsinhaberin Johanna Boldt, die auf Druck ihrer Kundschaft selbst von Bonbongläsern »die Streifen einer englischen Firma« entfernen musste.85 Das Verbergen des äußerlich Feindlich-ausländischen sollte Herstellern wie Verkäufer/innen eine Fortführung ihrer Geschäfte ermöglichen. Die Produkte selbst, ihre Zusammensetzung oder ihre Herstellung erfuhren offenbar keine national motivierten Änderungen. Eine Ausnahme von diesen Kaufverweigerungen stellten offenbar Wasserflaschen dar, die im französischen Vichy, einem für seine Quellen bekannten Kurort, abgefüllt wurden. Der Inhaber der Dresdner Mohren-Apotheke erbat im Mai 1915 die Erlaubnis, einen Waggon Vichy-Wasser über eine Schweizer Mineralwasser-Großhandlung zu importieren. »[S]owohl von Seiten der Ärzte als auch des Privatpublikums« sei eine stetige Nachfrage vorhanden gewesen.86 Andere Wege gingen ausländische Geschäftsleute in Bezug auf ihre Unternehmensanteile und Kapitalbeteiligungen, um der Zwangsverwaltung zu entgehen. Nicht nur britische Staatsangehörige erhofften, »durch Verträge mit Deutschen oder Angehörigen anderer Staaten die Beteiligung des englischen Kapitals an dem Unternehmen nach außen als ausgeschaltet und das Unternehmen alsdann als ein rein deutsches oder wenigstens nichtbritisches erscheinen zu lassen«.87 Auch der russländische Staatsangehörige Isaak Pilnik, der vom Obermaschinisten zum Inhaber einer Zigarettenfabrik in Stuttgart aufgestiegen war, versuchte die Kapitalanteile des deutschen Teilhabers höher erscheinen zu lassen. Er gründete hierzu eine GmbH und verbuchte eigene Mehrwerte als Darlehen.88 Ein Nachweis, dass 84 Vorstand d. Landesobstbauvereins Großenhain (gez. Vorsitzender Dr. Uhlemann) an d. Sächs. MdI, 19.10.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/85458 u. Sächs. Gesandtschaft (Berlin) an d. Unterstaatssekretär d. AA, Zimmermann, 26.10.1914, in: Ebd. 85 Johanna Boldt an Julius Boldt, 27.8.1914, in: Hagener, »Es lief sich so sicher an Deinem Arm«, S. 41. 86 H. Ficinus (Mineralwasser-Grosshandlung d. Mohren-Apotheke, Dresden) an d. stv. Gkdo. XII. AK, 21.5.1915, in: HStA Dresden, 11348/2853, Bl. 52. 87 Denkschrift über wirtschaftliche Maßnahmen aus Anlaß d. Krieges, 2. Nachtrag, 8.3.1915, S. 79 f., in: Sten.Ber.RT, Bd. 315 (Anlagen Nr. 1–105), Nr. 44. 88 Vortrag d. Ausländer-Abt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 21.3.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818 u. d. darin enthaltenen Vorgänge.
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Einschränken und Entrechten
es sich in solchen Fällen um Kapitalverschleierungen und Scheinverträge handelte, um die Behörden zu täuschen, war schwierig. Deshalb konnte diese Strategie zwischenzeitlich erfolgreich sein. Die Finanzbeamten achteten aber alsbald auf solche buchhalterischen Tricks und bemühten sich, diese fortan aufzudecken. So konnten Vertreter des Sächsischen Innenministeriums 1918 dem Leipziger Generalkommando stolz über ihre Erfolge berichten. »Ein Teil der feindlichen Unternehmer […] konnte sich früher allerdings diesen Zwangsmaßnahmen entziehen, weil sie nicht überwiegend, sondern nur mit einem geringen Betrage an Unternehmen beteiligt sind oder scheinen, als deutsche verbündete oder neutrale Teilhaber. Dies waren hauptsächlich die Schmarotzer, die es verstanden, sich während des Krieges ungestört zu bereichern. Heute sind auch sie dem Zugriffe verfallen, da ihr Anteil am Unternehmen jetzt selbständig in Zwangsverwaltung genommen werden kann.«89 Widerständige ausländische Unternehmer provozierten folglich staatliche Reaktionen. Zum einen verschärften Finanzbeamte und Militärbefehlshaber die Reglements. Zum anderen verdeutlichen die zitierten Zeilen aus dem Dresdner Innenministerium, dass staatliche Akteure daran anschließend negative Zuschreibungen formulieren konnten, die sogleich als argumentative Grundlage für erweiterte Zugriffe auf ausländisches Eigentum dienten. »So ist mir bezüglich einiger polnischer Zigarettenfabrikanten hier bereits zugetragen worden, dass sie sich in letzter Zeit in auffallender Weise mit Luxusmöbeln, Klavieren ausstatten und mit Juwelen, Teppichen usw. reichlich versehen«, schrieb der Amtmann Karl Mailänder von der Stadtdirektion Stuttgart an das dortige stellvertretende Generalkommando und forderte für diese Unternehmer unter anderem Steuerzuschläge und den Ausschluss von Heereslieferungen.90 Maximilian von Roehl, stellvertretender Generalkommandeur in Altona, eröffnete die hier unternommenen Betrachtungen über Aufsichten, Zwangsverwaltungen und Liquidationen. Er entrüstete sich über den fortdauernden Handelskontakt Hamburger Geschäftsleute zu britischen Staatsangehörigen, denen obendrein der Zutritt zur Börse weiterhin gewährt wurde. Seine drohenden Äußerungen blieben nicht unwidersprochen. Die Mitglieder der Hamburger Handelskammer entgegneten ihm, dass ein Zutrittsverbot mit den Grundsätzen der Börsenordnung unvereinbar sei. Sie ziele auf einen »allgemeinen freien Besuch der Börse« ab.91 Diese liberale Grundhaltung Ende September 1914 entsprach nach Gertrud 89 Sächs. MdI, betr. Staatsaufsicht oder Zwangsverwaltung feindlicher Unternehmungen, an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 8.2.1918, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 104 f. 90 Stadtdirektion Stuttgart (gez. Mailänder) an d. stv. Gkdo. XIII. AK, 7.8.1917, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818. 91 Handelskammer in Hamburg an d. Deputation für Handel, Schiffahrt u. Gewerbe, Hamburg, 26.9.1914 (Vorgetragen im Senat am 30.9.1914), in: StA Hamburg, 111–2, L e, Bl. 1.
Unternehmerische Unselbstständigkeit zwischen Kontrolle und Enteignung
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Bäumer dem Tenor in den Handelszeitungen. In ihnen sei vor einem »unangebrachten und laienhaften wirtschaftlichen Patriotismus« gewarnt worden, fasst sie in ihrer Heimatchronik zusammen. »Ein Land mit so großem Exportbedürfnis wie Deutschland sollte sich auch in der begreiflichen Erregung eines ihm aufgedrungenen Krieges hüten, alle Brücken nach dem Auslande abzubrechen«, zitierte sie aus einem entsprechenden Zeitungskommentar. Deshalb müssten der Staat und die Geschäftswelt »darauf bedacht sein, die nach Beendigung des Krieges unumgänglich notwendige Wiederaufnahme der internationalen Handelsbeziehungen nicht durch unnötige Schärfen zu erschweren«.92 Der Hamburger Bürgermeister Carl August Schröder (1855–1945) konnte schließlich durch ein persönliches Vorsprechen eine Intervention Roehls abwenden.93 Sein Verhandlungserfolg provozierte aber sogleich neue Kritik. Die Mitglieder der Hamburger Vertrauenskommission befürchteten nun, dass Ausländer/innen »ungehindert ›Handelsspionage‹ betreiben könnten«. »Dazu seien nicht nur im Hafen, sondern auch in den Kontoren, an der Börse, in Clubs und Privatgesprächen aller Art Gelegenheiten.«94 Die Stimmen gegen die Ausgrenzungen blieben zu leise, um eine stetige Ausdehnung der wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahmen vor dem Hintergrund gleichartiger Gesetze in anderen kriegführenden Staaten, der militärischen Spionageabwehr und bürgerlicher Ängste zu verhindern. Militärische wie zivile Vertreter des Reiches verschlossen sich dem Gegenseitigkeitsparadigma nicht und grenzten mit ihren Bestimmungen feindliche Ausländer/innen unter den Augen der Zeitungsöffentlichkeit aus dem Wirtschaftsleben aus.95 Deren ökonomische Handlungsspielräume waren gering. Erst die Friedensverträge von Brest-Litowsk, unterzeichnet am 3. März 1918, und Versailles, unterzeichnet am 28. Juni 1919, bedeuteten ein Ende der Sonderbestimmungen. Im Zusatzvertrag zu den Friedensvereinbarungen von Brest-Litowsk beschlossen die Vertreter des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, Bulgariens, der Türkei einerseits und der Russischen Föderativen Sowjet-Republik andererseits, den Fortfall sämtlicher Bestimmungen, die Angehörige des anderen Teils in ihren Privatrechten besonderen Regelungen unterwarfen.96 Urheberrechte und gewerbliche 92 Naumann u. Bäumer, Kriegs- und Heimatchronik, Bd. 1, S. 56 f. (26.9.1914). 93 Stv. Gkdo. IX. AK (gez. v. Roehl, Randnotiz) an d. Hohen Senat d. freien u. Hansestadt Hamburg, 24.10.1914, in: StA Hamburg, 111–2, L e, Bl. 2. 94 Protokoll d. Vertrauenskommission, 17. Sitzung, 29.10.1914, (Azg.) in: StA Hamburg, 111–2, B III z 4 b, Bl. 12. 95 Z. B.: Deutsche Vergeltungsmaßregeln, in: Badische Presse, 30.10.1914 (Nr. 506, Abendausgabe), u. Die Zwangsverwaltung feindlicher Unternehmungen. Aus der Praxis, in: Berliner Tageblatt, 8.2.1915 (Nr. 71, Abendausgabe). 96 Deutsch-Russischer Zusatzvertrag zu d. Friedensvertrage zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien u. d. Türkei einerseits u. Rußland andererseits, Art. 6, in: RGBl. 1918, Nr. 77, S. 622–653, hier S. 626.
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Einschränken und Entrechten
Schutzrechte, Konzessionen und Privilegien sollten wiederhergestellt werden.97 Staatlich bestellte Aufsichtspersonen, Zwangsverwalter und Liquidatoren würden ihre Tätigkeiten einstellen.98 Für die von den Kriegsgesetzen Betroffenen waren Entschädigungszahlungen »in angemessener Weise« vorgesehen, »soweit der Schaden nicht durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ersetzt wird«.99 Daraufhin wurden beispielsweise im Königreich Sachsen bis zum 11. November 1918 254 Zwangsverwaltungen russländischer und rumänischer Unternehmungen aufgehoben.100 Der Versailler Friedensvertrag verpflichtete das Deutsche Reich zu einem umfassenden Verzicht auf Ausnahmegesetze bezüglich feindlicher Ausländer/innen. In Artikel 276 legten die Alliierten fest, dass künftig »die Staatsangehörigen der alliierten und assoziierten Mächte hinsichtlich der Ausübung von Handwerk, Beruf, Handel und Gewerbe keiner Ausschlußmaßregel zu unterwerfen [seien], die nicht in gleicher Weise und ausnahmslos für alle Ausländer gilt«.101 Ebenso wurden die »gewerblichen, literarischen und künstlerischen Eigentumsrechte […] zugunsten der Personen, die bei Beginn des Kriegszustands in ihrem Genuß standen, oder zugunsten ihrer Rechtsnachfolger […] wieder in Kraft gesetzt oder wiederhergestellt«.102 Diese Regelungen wurden am 11. Januar 1920 mit der Verordnung über die Aufhebung von Kriegsmaßnahmen wirksam. Liquidatoren, Zwangsverwalter und Aufsichtspersonen sollten fortan die Interessen der ausländischen Berechtigten wahrnehmen und ihr Eigentum erhalten und schützen. Die vom Treuhänder für das feindliche Vermögen verwalteten Vermögensbestände waren auf Antrag den Berechtigten zurückzugeben.103 Ausländische Privatpersonen, »die durch gewisse Kriegsmassnahmen, insbesondere Liquidation ihres Vermögens […] geschädigt sind«, hatten darüber hinaus durch die Bestimmungen von Versailles die Möglichkeit, am »Vermögen Deutscher im Auslande ein Pfandrecht geltend [zu] machen und Vorausbefriedigung aus dem Erlöse deutschen Vermögens [zu] verlangen«.104
97 98 99 100 101
Ebd., Art. 9, § 1, S. 630. Ebd., Art. 11, S. 632. Ebd., Art. 13, S. 636. Hast, Die Durchführung der Vergeltungsmaßnahmen in Sachsen, S. 252. Gesetz über d. Friedensschluß zwischen Deutschland u. d. alliierten u. assoziierten Mächten, 16.7.1919, Art. 276, in: RGBl. 1919, S. 687–1349, hier S. 1085. 102 Ebd., Art. 306, S. 1185. 103 Verordnung über d. Aufhebung von Kriegsmaßnahmen, 11.1.1920, in: RGBl. 1920, S. 32 f. 104 Schücking, Die Entschädigung der deutschen Reichsangehörigen, S. 553.
Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung
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Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung Gesperrte Bankguthaben Als der Petrograder Literat und Rechtsanwalt Nikolaj Platonovič Karabčevskij am Freitag, den 31. Juli 1914 aus seinem Hotelzimmer im Parkhotel in Bad Homburg trat, hatte sich über Nacht seine Lebenssituation geändert. Er erfuhr von einem Hotelangestellten, dass die Banken die Auszahlung von Kreditbriefen eingestellt hatten. »Ich glaubte ihm das nicht und stürzte in die Filiale der Frankfurter Bank, wo wir noch vor drei Tagen, als wir den wöchentlichen Mietbetrag des Hotels einlösen wollten, den Kreditbrief in beliebiger Summe erhielten«, erinnerte er sich.105 Ebenso waren seine Rubel wertlos geworden. »Wir wechseln kein russisches Geld!«, erklärte ihm der Bankangestellte. Als ein Bekannter in Berlin ihm nicht weiterhelfen konnte, war er auf die Gutmütigkeit des Hoteldirektors Konrad Ritter angewiesen, der ihm bereitwillig einen Kredit gewährte. »Er erinnerte sich noch an den französisch-preußischen Krieg der 70er Jahre. Da hatte er hier im Hotel einige französische Familien. Zufällig vom Krieg überrumpelt, waren sie hier fröhlich versammelt und wollten selbst gar nicht weg; erst dann wenn der Krieg zu Ende ist.«106 Wie ihm erging es vielen weiteren Feriengästen und feindlichen Ausländer/innen. Während des Krieges sahen sich insbesondere ausländische Rentiers und Geschäftsinhaber wie Angestellte und Kaufleute mit einer Reihe von Maßnahmen konfrontiert, die in ihre privaten finanziellen Freiheiten eingriffen. Die Anordnungen der Kommandantur Berlin waren dabei wegweisend. Deren Kommandant informierte am 13. August 1914 die städtischen Banken, »dass es unerwünscht ist, wenn diesen Personen von den Banken auf Kreditbriefe usw. größere Geldsummen ausgehändigt werden. Dagegen liegt es im staatlichen Interesse, entsprechend der bisherigen Praxis der Banken, diesen Ausländern kleinere Summen, die zum Unterhalt für einige Tage ausreichen, auszuzahlen, damit vermieden wird, dass die Ausländer aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden müssen.«107 Die Institute sollten vor der Auszahlung höherer Geldbeträge die Kommandantur kontaktieren. Ein solches Vorgehen entsprach einer Weisung des Preußischen Kriegsministeriums an die stellvertretenden Generalkommandos »mit dem Anheimstellen der gleichmäßigen Veranlassung«. Eine vergleichbare Initiative durch 105 Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 28 f. 106 Ebd., S. 33. 107 Kommandantur Berlin an d. Deutsche Bank, d. Bank für Handel u. Industrie, d. Dresdner Bank, d. Diskonto-Gesellschaft, u. d. Bankhaus Mendelssohn u. Co. Berlin, 13.8.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 2.
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Einschränken und Entrechten
das Reichsamt des Innern aber unterblieb, weil dessen Vertreter »Bedenken« gegen gesetzgeberische Schritte hegten.108 Obwohl sie das grundlegende »Staatsinteresse« in der Sache anerkannten und den indirekten Transfer von hohen Bargeldsummen ins Ausland verhindert wissen wollten, scheuten sie davor zurück, in den Geldumlauf zwischen Zivilisten einzugreifen.109 Lediglich Zahlungsverbote nach England, Frankreich, Russland, später Ägypten, Französisch-Marokko, Rumänien, Italien und die Vereinigten Staaten von Amerika wurden durch den Bundesrat erlassen.110 Einen näheren Blick auf die militärisch-polizeilichen Überlegungen, die den Auszahlungsbeschränkungen zu Grunde lagen, gewähren die ausgedehnten Bestimmungen der Berliner Kommandantur, die im Dezember 1914 erlassen worden waren. In der Begründung hieß es, dass sie eine genauere Kontrolle der feindlichen Ausländer/innen sicherstellen sollten, denn diese könnten sich mit größeren Geldsummen »allzuleicht der Kontrolle entziehen«. »Es würde insbesondere die Abreise der Ausländer ohne die erforderliche Erlaubnis ermöglicht. Mit den nötigen Geldmitteln versehen, können sie die Bahnkontrolle in Automobilen leicht umgehen und sogar im Automobil in Deutschland umherfahren. Auch wird durch die Bereitschaft größerer Geldmittel bei solchen Ausländern der Spionage und etwaigen Bestechung Vorschub geleistet.«111 Der Auszahlungsbetrag sollte zum »standesgemäßen Unterhalt« ausreichen. Die Verantwortung trug hierfür die Direktion der jeweiligen Bank. Sie entschied, was für den einzelnen ausländischen Staatsangehörigen als standesgemäß zu gelten 108 Preuß. KM, betr. Auszahlung von Guthaben an Angehörige feindlicher Staaten, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 15.1.1915, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 1. 109 Kommandantur Berlin an d. Preuß. KM, 16.12.1914, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 2–5. 110 Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen England, 30.9.1914, in: RGBl. 1914, S. 421–423; Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Frankreich, 20.10.1914, in: RGBl. 1914, S. 443; Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Russland, 19.11.1914, in: RGBl. 1914, S. 479; Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Ägypten u. Französisch-Marokko, 14.10.1915, in: RGBl. 1915, S. 673; Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Rumänien, 20.8.1916, in: RGBl. 1916, S. 971 f.; Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Italien, 7.6.1917, in: RGBl. 1917, S. 483; Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen d. Vereinigten Staaten von Amerika, 9.8.1917, in: RGBl. 1917, S. 708. Eine erste Einschränkung dieser Verbote erfolgte bereits am 20. Dezember 1914. Ausnahmen galten demnach in Bezug auf deutsche Inhaber dieser Firmen im Ausland, die dieses aufgrund des Krieges verlassen hatten: Bkm. betr. d. Zahlungsverbote gegen England, Frankreich u. Russland, 20.12.1914, RGBl. 1914, S. 550. Die besetzten Gebiete des Russischen Reiches wurden im Februar 1915 und im April 1916 von dem Verbot ausgenommen: Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Russland, 4.2.1915, in: RGBl. 1915, S. 69 u. Bkm. betr. Zahlungsverbot gegen Russland […], 19.4.1916, in: RGBl. 1916, S. 312 f. Zu ausländischen Finanzforderungen und dem Schutz deutscher Schuldner: Bernhard Mayer, Das Privatrecht des Krieges in materieller und formeller Beziehung, München 1915, S. 85–113 u. 267–271. 111 Kommandantur Berlin an d. Preuß. KM, 16.12.1914, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 2–5.
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hatte. Aus ehemals umworbenen Kunden wurden so Bittsteller/innen, die ebenso ihre Stahlfächer bei den Banken nicht mehr ohne Aufsicht öffnen durften. Die Bankvertreter sollten sich erst in »Zweifelsfällen« an die Kommandantur wenden. Unter kurzfristigen und perspektivischen Gesichtspunkten war diese Regelung bei den Banken in Bezug auf die Kundenbindung durchaus willkommen. »[D]ie Banken sind mit der gedachten Regelung sehr einverstanden, da sie einerseits bei Auszahlungen in den gedachten Grenzen und bei Auskunft der Militärbehörde in Zweifelsfällen ihren Kunden gegenüber nicht ungefällig erscheinen, und deshalb keine Gefahr für die Bank besteht, in späteren Zeiten eine Geschäftseinbuße zu erleiden, andererseits die Kunden nicht in der Lage sind, sich durch Abhebung des ganzen Guthabens von der Bank völlig unabhängig zu machen.«112 Die Verordnung der Berliner Kommandantur und die Umsetzung dieser durch die städtischen Banken stellten erneut eine Blaupause für behördlich angeordnete Auszahlungssperren dar. Der Blick auf die Geldinstitute des Königreiches Sachsen verdeutlicht darüber hinaus die bereitwillige und schnelle Übernahme der Regelungen durch private Akteure. Noch bevor die beiden sächsischen stellvertretenden Generalkommandos ähnlich lautende Bekanntmachungen erließen, hatten viele sächsische Banken bereits die Berliner Praxis übernommen, weil sie der Berliner Banken und Bankiers Vereinigung angehörten.113 Die folgenden militärischen Erlasse aus Dresden im Februar 1915 und aus Leipzig im März des Jahres schufen trotz dieser unternehmerischen Harmonisierung des Umgangs mit feindlichen Ausländer/innen regionale Unterschiede. So waren die Leipziger Regelungen detaillierter und orientierten die Auszahlungshöhe für die Kontoinhaber/ innen an »ihrem standesgemäßen Unterhalt für eine Woche«. In der Dresdner Verfügung hieß es dagegen unbestimmter »für sie und Familie für kurze Zeit«.114 In den weiteren Kriegsjahren sollten die Militärbehörden die Regelungen verdichten, indem sie Aspekte zur Auszahlung von Zinsen und dem Geldtransfer in das neutrale Ausland hinzufügten. Richtgröße blieb allerdings der »notwendige Betrag« zum Lebensunterhalt.115
112 Ebd. 113 Stv. Gkdo. XII. AK (gez. v. Broizem) an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 11.2.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 10. 114 Bkm, betr. Bankguthaben feindlicher Ausländer, d. stv. Gkdo. XII. AK, 11.2.1915, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 10 u. Bkm. betr. Bankguthaben feindlicher Ausländer, d. stv. Gkdo. XIX. AK, 24.3.1915, in: Ebd., Bl. 13 f. 115 Bkm, betr. Guthaben d. Angehörigen feindlicher Staaten, d. stv. Gkdo. XIX. AK, 14.1.1916, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 44 u. Bkm, betr. Verkehr d. feindlichen Ausländer mit d. Banken, d. stv. Gkdo. XIX. AK, 11.2.1916, in: Ebd., Bl. 55.
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Einschränken und Entrechten
Unter diesen Auflagen und mit dem Verfall ihrer Kreditbriefe sahen sich überwiegend im Bürgertum verwurzelte feindliche Ausländer/innen zu abhängigen Bittstellern degradiert. Die damit verbundenen Erfahrungen wurden seit Oktober 1915 nochmals vertieft. Nun mussten sie zusätzlich gegenüber den jeweiligen Landesbehörden ihre sämtlichen Vermögenswerte wie Grundstücke oder Wertpapiere unter Androhung von Geld- und Haftstrafen offenlegen.116 Der Reichskanzler ernannte schließlich im April 1917 Heinrich Albert (1874–1960) zum Treuhänder für das feindliche Vermögen.117 Er war befugt, »im Inland befindliche Vermögensgegenstände von Feinden unter Verwaltung zu nehmen, Unternehmungen, Niederlassungen und Grundstücke jedoch nur mit Zustimmung der Landeszentralbehörde«.118 Diese wirtschaftlichen Grenzziehungen waren in ihrer Wirkung umfassend in dem Sinne, dass feindliche Staatsbürger/innen sich diesen nicht durch einen Statuswechsel entziehen konnten. Vermochten beispielsweise ausländische Studierende noch durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verschiedenen Sanktionen zu entgehen, so standen Kontoinhaber/innen und Unternehmern ähnliche Möglichkeiten nicht zur Verfügung. Sie entwickelten dennoch Strategien, sich Handlungsspielräume zurückzuerobern. Der britische Staatsangehörige Peter J. B., der in Hamburg eine Firma besaß, händigte beispielsweise Ende Oktober 1914 seiner Verlobten 11.343 Mark aus, um das Geld vor einem staatlichen Zugriff zu schützen. Anfang November desselben Jahres wurde er interniert und schließlich die Zwangsverwaltung seines Unternehmens angeordnet. Seine Verlobte weigerte sich daraufhin beharrlich bis vor den Zivilsenat des Reichsgerichts, das Geld dem Verwalter auszuhändigen. Die Richter wiesen schließlich ihre Argumentation, dass sie das Geld für ihren Unterhalt bekommen habe, zurück und verpflichteten sie zur Erstattung.119 Feindliche Ausländer/innen versuchten des Weiteren laut einer Bekanntmachung des Leipziger stellvertretenden Generalkommandos »vielfach«, Kontrolle über ihre Bankguthaben zurückzugewinnen, indem »sie Handelsgeschäfte mit Deutschen eingehen und zur Deckung der daraus entstehenden Forderungen […] ihr Bankguthaben herausziehen. Sie erhalten auf diese Weise die freie Verfügung über 116 Bkm. über d. Anmeldung d. im Inland befindlichen Vermögens von Angehörigen feindlicher Staaten, 7.10.1915, in: RGBl. 1915, S. 633 ff. u. Bkm. betr. d. Vorschriften über d. Anmeldung d. im Inland befindlichen Vermögens von Angehörigen feindlicher Staaten, 10.10.1915, in: RGBl. 1915, S. 653 ff. 117 Zusammenfassend zur Institution des Treuhänders siehe: Eulau, Der Treuhänder für das feindliche Vermögen, in: Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, Jg. 62 (1918), S. 689–705 u. Heinbuch, Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924, S. 127– 136. 118 Bkm. über d. Treuhänder für d. feindliche Vermögen, 19.4.1917, in: RGBl. 1917, S. 363–366. 119 Urteil d. III. Zivilsenats d. Reichsgerichts, 9.2.1917, Az. III 365/16, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 1880–1945, Bd. 89, Leipzig 1917, S. 65–68.
Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung
443
Waren, während auf der anderen Seite das Bankguthaben verringert wird.«120 Die weitere Veräußerung der Waren hätte sie wiederum in den Zustand erhöhter Liquidität versetzt. Dieser Weg wurde ihnen erst seit Oktober 1917 versperrt. Die Bankdirektionen waren angehalten, fortan nur Forderungen deutscher Gläubiger aus der Vorkriegszeit zu bedienen. Zur Deckung ihres Lebensunterhaltes mussten Betroffene zunächst ihre gegenwärtigen Einnahmen verwenden. Erst daran anschließend sollten ihre Bankguthaben herangezogen werden. Als unbeabsichtigte Folge dieser Bestimmungen erkannten Militärvertreter des Leipziger Garnison-Kommandos »bei den Banken und in der Geschäftswelt« eine »erhebliche Unsicherheit«. Denn es herrschte zunehmend Unklarheit darüber, ob feindliche Ausländer/innen »noch als Warenkäufer auftreten« durften und weiterhin geschäftsfähig waren.121 Der zuständige stellvertretende Generalkommandeur bejahte diese Frage. Er unterstrich zugleich die politischen Ziele der Sanktionen. Eben nicht die ökonomische Ausgrenzung sei angestrebt gewesen, sondern die Schaffung der Voraussetzung für Vergeltungsmaßnahmen. Sollten »die Regierungen der feindlichen Staaten die Hand auf das im Auslande befindliche Vermögen deutscher Staatsangehöriger« legen, wäre somit der deutschen Regierung die Möglichkeit zu Gegenmaßnahmen gegeben. Es sei dementsprechend unerlässlich, »dass das Bankguthaben der feindlichen Ausländer auf der Höhe gehalten wird, die es zur Zeit der Beschlagnahme hatte«. An diesem Standpunkt orientierte sich im Leipziger Armeekorpsbereich die Auszahlung der Guthabenszinsen, denn die Ausländer/innen konnten über Mehrbeträge durchaus selbstständig verfügen.122 Die lokalen Militärbehörden genehmigten und die eingesetzten Zwangsverwalter der ›feindlichen‹ Vermögen entschieden seit Oktober 1917 in Sachsen über die Forderungen deutscher Gläubiger wie über die Heranziehung der Bankguthaben für den Lebensunterhalt.123 In Chemnitz führte die militärisch vorgegebene Vergeltungslogik dazu, dass die zivilen Verwalter für Vermögensverluste zur Rechenschaft gezogen wurden. Diese Bedingung diktierte das zuständigen Garnison-Kommando auch dem Bücherrevisor Ernst Dürrschnabel. Er bekam vor der Übernahme einer Zwangsverwaltung einen Brief überreicht, in dem er folgendermaßen belehrt wurde: »Sie haften persönlich dafür, dass das von Ihnen verwaltete Bankguthaben sich auf der beschlagnahmten Höhe hält.«124 Dürr120 Bkm. betr. Bankkonten feindlicher Ausländer, d. stv. Gkdo. XIX. AK, 15.10.1917, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 78. 121 Garnison-Kommando Leipzig an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 8.11.1917, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 87. 122 Stv. Gkdo XIX. AK an d. Garnison-Kommando Leipzig, 22.11.1917, (Ent.) in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 89 f. 123 Garnison-Kommando Leipzig an u. a. d. stv. Gkdo. XII. AK, 29.11.1917, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 91 f. 124 Garnison-Kommando Chemnitz an d. Bücherrevisor Dürrschnabel, 5.12.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 99.
444
Einschränken und Entrechten
schnabel war gleichzeitig dem Sächsischen Innenministerium verantwortlich.125 Seine Entscheidungen unterlagen somit Kontrollen, die Willkür verhindern konnten. Indes änderte diese staatliche Überprüfung nichts am grundlegenden Charakter der wirtschaftlichen Sanktionen. Feindliche Ausländer/innen verfügten während des Krieges nicht frei über ihr Eigentum. Sie waren in ihrem privaten und wirtschaftlichen Handeln erheblich eingeschränkt. Zuletzt sollten die mit ihnen abgeschlossenen Kauf- und Lieferverträge zur Disposition gestellt werden. Seit Dezember 1916 stand dem Reichskanzler im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen oder bei Rechtsstreitigkeiten das Recht zu, diese aufzuheben.126
Gekündigte Arbeitsverhältnisse Eine Menschenmenge versammelte sich am 22. und 23. August 1914 vor dem Hotel Viktoria in Bad Homburg. An zwei Abenden »flogen Steine, Glas wurde zerschlagen«, schilderte der Hotelbewohner Nikolaj Platonovič Karabčevskij die Ereignisse und fuhr fort: »Die Menge strengte sich an, das Tor zu durchbrechen. Man hörte Schreie und Forderungen. Leicht läßt sich der seelische Zustand der Belagerten vorstellen.«127 Indes galten die Demonstrationen nicht den ausländischen Gästen, sondern dem Dienstpersonal. Denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, dass der Hoteldirektor Jean Baehl deutsche Angestellte entlassen hatte, um ausländische anzustellen. Erleichtert wurde dieser Vorwurf durch seine elsässische Abstammung. Trotz der energischen Intervention Baehls ließen sich die Demonstrierenden nur durch Polizeiwachen von einer Erstürmung des Hotels abhalten. Sie ließen sich nicht davon überzeugen, dass französische Köche erst nach der Einberufung ihrer deutschen Kollegen Beschäftigung bei ihm gefunden hatten. Vor diesem Hintergrund forderte der Oberbürgermeister, Walter Lübke (1861–1930), die sofortige Entlassung der Ausländer. Obwohl Baehl damit einverstanden war, versammelten sich am darauffolgenden Abend erneut aufgebrachte Demonstranten vor dem Hotel, und der Besitzer musste eine Militärpatrouille zu Hilfe rufen. In den sich daran anschließenden Verhandlungen mit den nationalistischen Wortführern gaben der Bürgermeister und der Polizeiwachtmeister deren Forderungen nach. Sie ließen alle französischen Staatsangehörigen unverzüglich in das Polizeigefängnis überführen. Jean Baehl schloss infolge dieser Ereignisse sein 125 Sächs. MdI an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 19.12.1917, in: HStA Dresden, 11352/1403, Bl. 98. 126 Bkm. betr. Verträge mit feindlichen Staatsangehörigen, 16.12.1916, in: RGBl. 1916, S. 1396 ff. Siehe ebenso: Julius Sebba, Die Behandlung der vor Kriegsausbruch geschlossenen Verträge mit feindlichen Ausländern, 14. Sonderheft d. Jahrbuchs für Verkehrswissenschaft 1917, Jg. 6 (1918) u. Bernhard Kempen, Die Einwirkung des Krieges auf die Kauf- und Lieferungsverträge mit feindlichen Ausländern mit besonderer Berücksichtigung des Vergeltungsrechts Deutschlands, Köln 1919. 127 Karabčevskij, Mirnye plěnniki, S. 98 f. u. im Folgenden S. 97–107 sowie Birukov, V germanskom plěnu, S. 78 f. u. Grosche, Geschichte der Stadt Bad Homburg vor der Höhe, Bd. 3, S. 594 f.
Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung
445
Hotel, weil er die Sicherheit seiner Bewohner nicht mehr gewährleisten konnte. Er vermutete, dass vor allem seine Konkurrenten im Ort die Gerüchte gestreut hätten. Neben dieser ›wilden‹ Aktion aus Teilen der ansässigen Bürgerschaft Bad Homburgs regulierten und kontrollierten administrative Verbote und Einschränkungen das Arbeitsleben ausländischer Angestellter aus der Mittelschicht. Diese sahen überall ihre Existenzgrundlage in Frage gestellt. Oftmals erhielten sie in den ersten Kriegstagen von ihren Arbeitgebern Kündigungen ausgehändigt. An einer weiteren Berufsausübung hinderten sie darüber hinaus polizeiliche Festnahmen oder spätestens die militärischen Internierungsbeschlüsse für wehrpflichtige britische und französische Staatsangehörige. Im Kriegsverlauf kamen Beschäftigungsverbote für bestimmte Industriezweige hinzu. Dies betraf beispielsweise Pulverund Sprengstofffabriken und Betriebe, die »Erzeugnisse« produzierten, »die im Interesse der Landesverteidigung geheim zu halten« waren.128 Gleichfalls wurden sie aus Unternehmen der Kriegsrohstoffgesellschaften ausgesperrt.129 Nur in Ausnahmefällen duldeten die Militärbehörden ihre Beschäftigung in Firmen, denen zugleich Kriegsgefangene zugewiesen waren. Kontakte zwischen ihnen sollten verhindert werden.130
128 Anweisungen nur für d. Dienstgebrauch d. Okdo. in d. Marken, 21.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 207–210 u. mit ähnlichem Wortlaut: Preuß. KM, betr. ausländische Arbeiter, an u. a. d. stv. Gkdos., 29.9.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 2–5. Ebenso: Merkblatt für Arbeitgeber, d. Ausländer (feindliche u. nichtfeindliche) beschäftigen, Oktober 1917 (wtgl. durch d. stv. Gkdo. I. bay. AK), in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 und HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1364. 129 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Rohstoff-Abt.), betr. Anstellung von Ausländern, an d. Kriegsleder Aktiengesellschaft, 2.5.1917, (Abs.) in: BArch Berlin, R 8736/63. 130 Anweisungen für d. Dienstgebrauch d. Okdo. in d. Marken, 21.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 207–210.
159
405
Lohnarbeit wech selnder Art, häus liche Dienste
Öffentlicher Dienst u. freie Berufe
19.137
5.966
811
4.427
1.730
244
1.813
3.134
1.012
Frankreich
15.319
5.304
619
1.915
2.395
170
3.120
1.671
125
Groß britannien
104.265
36.309
471
2.542
1.137
1.268
3.140
58.851
547
Italien
144.181
74.742
3.705
4.664
1.090
1.965
8.279
36.808
12.928
Niederlande
Quelle: Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches, Bd. 1919 (Jg. 40), S. 14 f.
13.449
6.368
Ohne Hauptberuf
Insgesamt
310
Dienende für häus liche Dienste
1.110
1.099
Ohne Beruf o. Berufsangaben, Rentiers
3.388
Handel, Gast- u. Schankgewerbe, Verkehr
610
Belgien
Industrie u. Bergbau
Forst- u. Landwirtschaft
Beruf
667.076
271.274
14.842
27.283
10.800
11.031
41.823
230.856
59.167
Österreich u. Ungarn
Tabelle 8: Ausländische Staatsangehörige im Deutschen Reich nach ihrem Beruf, 1. Dezember 1910
137.668
26.765
1.591
12.584
1.988
1.973
5.432
17.850
69.485
Russland
17.555
6.391
149
6.312
1.061
84
1.550
1.594
414
USA
141.230
57.364
3.796
17.150
4.856
1.637
12.146
30.165
14.116
übrige Staaten
1.259.880
490.483
26.294
77.987
25.462
18.531
78.402
384.317
158.404
insgesamt
446 Einschränken und Entrechten
Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung
447
Hans von Boehn (1853–1931), Kommandant der Residenz Berlin, stellte trotz dieser verfügten Einschränkungen im März 1915 alarmiert fest, dass »noch zahlreiche Angehörige feindlicher Staaten in den Großbetrieben der Industrie und des Handels im Landespolizeibezirk Berlin beschäftigt« seien.131 Diese Beobachtung beunruhigte die Offiziere der Kommandantur, weil sie befürchteten, dass die Gefahr der Kriegswirtschaftsspionage unterschätzt werde. Sie traten deshalb an Unternehmer heran und forderten durch »energische[s] Drängen« die Entlassung der ausländischen Angestellten. Einige Firmenleitungen versuchten, sich den Forderungen durch Heimarbeit der Betroffenen zu entziehen. Dennoch kam es zu einer Vielzahl weiterer Entlassungen. Beispielsweise hatte die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Ende August 1914 allen ›feindlichen‹ Arbeitern gekündigt.132 Von den zurückgebliebenen 35 ›englischen‹ kaufmännischen Angestellten, die seit Kriegsbeginn dort unbehelligt arbeiteten, konnten durch die militärische Intervention nur vier weiter beschäftigt werden. Sie galten als »unentbehrlich« für die Aufrechterhaltung des Betriebes.133 Daraufhin zog Herbert Schachian, verantwortlich für die Spionageabwehr bei der Kommandantur, im Juni 1915 zufrieden Bilanz. »Viele Grossfirmen, wie nunmehr die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, die Daimler Motoren-Aktiengesellschaft, die Aktiengesellschaft Mix & Genest, Ludwig Löwe & Co., Schwartzkopf Aktiengesellschaft beschäftigen keine Ausländer mehr oder jedenfalls nur solche in untergeordneter Stellung. Die russischen Staatsangehörigen, welche noch beschäftigt sind, kommen hauptsächlich nur als Arbeiter in Frage.«134 Insgesamt seien nur noch 24 britische Staatsangehörige mit einer speziellen Erlaubnis des Oberkommandos in den Marken angestellt. Die Kommandantur in der Reichshauptstadt sollte mit diesem unnachgiebigen Vorgehen eine reichsweite Vorbildfunktion erlangen, denn militärischerseits wurde die »[e]nglische Spionage auf ›kommerziellem Gebiete‹« als große Gefahr eingestuft. Laut dem Chef des Admiralstabes der Marine legte dies zumindest eine »Äußerung des Vorstehers eines englischen Spionagebureaus in Holland« nahe.135 Die Vertreter 131 Vorlage d. Kommandantur d. Residenz Berlin, Abt. III, 9.3.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112368, Bl. 28. 132 3. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 29.8.1914, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 3, S. 5 f. 133 Bericht d. Kommandantur Berlin (gez. Schachian), Juni 1915, in: BArch Berlin, R 1501/112368, Bl. 22–26. 134 Ebd. 135 Protokoll d. Besprechung im RAdI (Vertreter: RAdI, AA, Reichsmarineamt, Preuß. MdI, Preuß. Min. für Handel u. Gewerbe, Preuß. KM, Generalstab (Oberst v. Zimmermann), Admiralstab, Kommandantur), betr. Spionageabwehr, 6.7.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112030, Bl. 219.
448
Einschränken und Entrechten
der höchsten zivilen und militärischen Ämter waren sich bei der Erörterung der zu ergreifenden Gegenmaßnahmen einig, dass gegen die Beschäftigung ›einfacher‹ ausländischer »Arbeiter« keine »erheblichen Bedenken« vorlägen. Aber als »gefährlich« einzustufen seien die »ausländische[n] Angestellten in gehobener Stellung, insbesondere in kaufmännischen und technischen Bureaus«.136 Die fachliche Stellung und die Qualifikation feindlicher Ausländer hatte demzufolge einen bedeuteten Einfluss auf ihre Beschäftigungschancen in der deutschen Kriegswirtschaft. Der mangelnde Kenntnisstand der Behörden über die jeweilige Situation in den Unternehmen hatte oft nur hinauszögernde Wirkung, bis die Anstellung jedes Einzelnen hinterfragt wurde. Da den vollziehenden Beamten keine genaueren Übersichten der Angestelltenverhältnisse zur Verfügung standen, sollten die »mit den gewerblichen Verhältnissen vertrauten Gewerbeaufsichtsbeamten« eingesetzt werden, um die Bedeutung des Arbeitseinsatzes ausländischer Mitarbeiter vor Ort zu beurteilen. Eine deutsche Einbürgerungsurkunde musste hierbei keinen Schutz vor dem weiten Feld der Spionageabwehr bedeuten. Grenzziehungen konnten wie im Falle der Marinebauverwaltung ebenso zwischen deutschen Staatsangehörigen erfolgen. So äußerten auf einer Besprechung im Reichsamt des Innern die Bevollmächtigten des Reichsmarineamtes ihre Bedenken gegenüber »naturalisierte[n] Deutsche[n]« und berichteten von ihren Bemühungen, »in der Marinebauverwaltung solche Elemente tunlichst auszuschalten«.137 Viele durch Militärvertreter vorangetriebenen unternehmerischen Beschränkungen und Kündigungen trafen gleichwohl auf Gegenstimmen. Einige Akteure argumentierten mit der Notwendigkeit zur eigenen Existenzsicherung. Bernhard Breslauer, der Vorsitzende des Unterstützungskomitees für bedürftige Russen, wandte sich beispielsweise im November 1914 im Namen von »etwa 3000« russländischen Staatsangehörigen an den Direktor des Reichsamtes des Innern, um gegen Meldevorschriften, Ortswechselverbote und Sperrzeiten in Berlin zu protestieren. Diese Einschränkungen würden die ihren Berufen nachgehenden »Zigarrenarbeiter, Schneider, Kürschner und Mützenmacher, Schuhmacher, kurz Handwerker«, und Kaufleute, aber ebenso »eine grosse Anzahl von Studenten, Künstlern und Musikern« hindern, ihren Erwerbstätigkeiten nachzukommen.138 In einem ähnlichen Duktus begründeten Vertreter des Leipziger stellvertretenden Generalkommandos ihre fortgesetzte Ablehnung des Handelsverbotes feindlicher Ausländer/innen mit Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs. Der 136 Ebd. (Herv. im Org.). 137 Ebd. (Herv. im Org.). Der Chef des Admiralstabs der Marine unterstrich gegenüber dem Preußischen Kriegsministerium im September 1915 seine Vorurteile gegenüber eingebürgerten deutschen Staatsangehörigen in ähnlicher Weise. »Nach meiner Kenntnis des englischen Volkscharakters bleibt ein Engländer fast immer im Herzen ein Engländer.« Zit. nach: Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 329, Fn. 11. 138 UKbR (gez. Breslauer) an d. Ministerialdirektor RAdI, Theodor Lewald, 9.11.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 206.
Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung
449
Landrichter Dr. Max Schopper aus Chemnitz hatte 1917 eine umfassende Sabotagegefahr innerhalb des Einzelhandels erkannt, die in engem Zusammenhang mit der Abschiebung »zahlreiche[r] russische[r] Juden« in die Industriestadt stehe. Die ausländischen Kaufleute hätten die Möglichkeit, »Lebensmittel verderben [zu] lassen, bei Spediteuren ein[zu]legen und den Verbrauchern [zu] entziehen und uns auch auf andere Weise im Interesse unserer Feinde [zu] schädigen«. Schopper zeigte daraufhin mehrere Händler an, denen er überwiegend Preiswucher vorwarf, und forderte eine generelle Beschränkung ihrer Handels- und Reisefreiheit.139 Unterstützt wurde er vom Sächsischen Kriegswucheramt und dem Dresdner Kriegsministerium.140 Die Leipziger Militärvertreter ließen sich aber davon nicht beeindrucken. Sie äußerten »erhebliche Bedenken […] rein tatsächlicher Art«141 und überzeugten damit das Kriegsministerium.142 In ihrer Stellungnahme legten sie ihr Augenmerk vor allem auf die wirtschaftliche Lage der Betroffenen. »Würde sämtlichen feindlichen Ausländern ohne Ausnahme und ohne Prüfung der Einzelfälle der Handel mit Gegenständen des täglichen Bedarfs oder des Kriegsbedarfs untersagt und darüber hinaus ihnen auch die Zulassung als Reisende, Angestellte oder kaufmännische Agenten unterbunden, so würde mit einem Male eine sehr große Anzahl bisher in derartigen Betrieben selbständig oder als Angestellte tätiger Personen ohne weiteres brotlos.«143 Aus sozial-kulturellen Erwägungen wehrte sich der bayerische Innenministers Maximilian von Soden im Dezember 1914 gegen ein spezifisches Beschäftigungsverbot.144 Er hatte angeregt, dass »Französinnen« während des Krieges in Bayern nicht unterrichten durften. Später war er damit einverstanden, diese Bestimmung auf andere feindliche Staatsangehörige und auf »männliche Lehrkräfte« auszudehnen. Er bat den Minister für Kirchen- und Schulangelegenheiten gleichwohl um eine Ausnahme. »Erzieherinnen« sollten in einer etwaigen Anordnung unerwähnt bleiben. Denn sie sind »in der Regel auf Grund langfristiger Verträge in die Familien ihrer Herrschaft aufgenommen und nehmen dort meistens eine gewisse Vertrauensstellung ein«. Stellten bei vielen Sanktionsmaßnahmen Spionageverdächtig139 Bericht d. Landrichters Schopper aus Chemnitz betr. d. Gefahr d. Sabotage in Lebensmitteln durch feindliche Ausländer in Chemnitz, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 228. 140 Sächs. MdI (Kriegswucheramt) an d. Abt. III. d. MdI, 24.2.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 227 u. Sächs. KM an d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 24.4.1917, in: Ebd. 141 Stv. Gkdo. XIX. AK (Presseabt.) an d. Sächs. KM, 30.4.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 236 f. 142 Sächs. KM an d. Sächs. MdI, 12.5.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 230. 143 Stv. Gkdo. XIX. AK (Presseabt.) an d. Sächs. KM, 30.4.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 236 f. 144 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Bay. SMin für Kirchen u. Schulangelegenheiten, 24.12.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976.
450
Einschränken und Entrechten
ungen und Gegenseitigkeitserwägungen ein wichtiges Entscheidungsmoment dar, so spielten diese nun für von Soden keine Rolle. Obwohl er feststellte, dass ›deutsche‹ Erzieherinnen »insbesondere aus Frankreich jetzt zurückkehren«, und der Verein der Privatlehrerinnen Bayerns ein Privatunterrichtsverbot für feindliche Ausländer/innen forderte,145 wünschte er eine unmissverständliche Klarstellung. »Das Verbot soll sich nicht beziehen auf die in die Familie aufgenommene Erzieherin.«146 Maximilian von Soden fürchtete eine Reglementierung des hierarchisierten, patriarchalischen Raumes der Familie, in deren Folge die Machtposition des Mannes in Frage gestellt würde. »Es wäre doch ein allzu starker Eingriff in die Verfügungsund Erziehungsgewalt eines Familienoberhaupts, wenn es plötzlich gezwungen würde, eine solche Erzieherin zu entlassen«, rechtfertigte er sein Anliegen. Dagegen verstummte die öffentliche Kritik an französischen wie englischen Erzieherinnen nicht. Im Dresdner Anzeiger erschien zwei Monate später der Appell: »Wir brauchen jetzt keine fremden Erzieherinnen im Hause!«147 Andere Unterstützer ausländischer Angestellter begründeten ihre Haltung mit den Positionen und Arbeitsfeldern, die diese in Unternehmen einnahmen und in denen sie als unersetzbar galten. Wie im Falle der vier verbliebenen britischen Staatsangehörigen in der Berliner Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft hatte die Unternehmensführung der Vogtländischen Spitzenweberei Aktien-Gesellschaft die Entlassung von Mitarbeitern aus dem Internierungslager in Ruhleben nach Plauen i. V. beantragt. Sie verteidigte trotz Protesten auf der Sitzung des dortigen Stadtverordnetenkollegiums die Forderung vehement, weil diese Ausländer zur »Aufrechterhaltung des Betriebes sehr notwendig« seien.148 Die Firmenleiter der Zellstofffabrik Waldhof und der Süddeutschen Juteindustrie argumentierten in gleicher Weise, als Karlsruhe zum militärischen Sperrbezirk für feindliche Ausländer/ innen erklärt wurde. Sie unterstrichen in einer Eingabe an das Badische Innenministerium, dass ihre Unternehmen den Betrieb einstellen müssten und die Lieferung bei der Heeresverwaltung nicht abschließen könnten, sollten sie die Ausländer entlassen müssen. Dadurch, so ihre weiterführende Argumentation, würden gleichfalls ›deutsche‹ Arbeiter/innen beschäftigungslos.149 Ähnlich gestaltete sich die Situation in der Düsseldorfer Spiegelglasfabrik Reisholz A.G. und in der Rheinischen Spiegelglasfabrik. Deren Inhaber versuchten zwar auf »Anregung« des Regierungspräsidenten, ›belgische‹ und ›französische‹ Arbeiter sukzessive durch ›deutsche‹ zu ersetzen. Allerdings war dies ein langwieriger Prozess. Die sofor145 Bay. SMin für Kirchen u. Schulangelegenheiten an d. Regierung von Oberbayern, 3.12.1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53976. 146 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Bay. SMin für Kirchen u. Schulangelegenheiten, 24.12.1914, (Ent.) in: HStA München, MInn 53976. 147 Dresdner Anzeiger, 28.2.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 7, Dok.-Nr. 55c, S. 35 f. 148 Meeraner-Zeitung, 17.4.1915 (Nr. 87), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3352. 149 Zellstofffabrik Waldhof u. Süddeutsche Juteindustrie an d. Bad. MdI, 21.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
Finanzielle Abhängigkeit zwischen Limitierung und Entlassung
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tige Entlassung der Ausländer hätte die Stilllegung der Betriebe und ferner die Arbeitslosigkeit von etwa 700 inländischen Arbeiter/innen zur Folge, betonte der Landrat des Kreises Düsseldorf. »Die Schwierigkeiten des so erwünschten nationalen Reinigungsprozesses liegen aber darin, dass die Herstellung von Spiegelglas eine Spezialfabrikation ist, für welche gelernte Arbeiter, insbesondere Betriebsleiter zur Zeit in Deutschland nicht zu gewinnen sind. Die Industrie stammt aus Belgien und Nordfrankreich, und es wird noch einige Zeit dauern, bis so viele deutsche Arbeiter angelernt sind, dass sich die Betriebe vollständig von ausländischen Kräften freimachen können.«150 Die Düsseldorfer Polizeiverantwortlichen betonten des Weiteren für eine »Anzahl von Geschäften und Fabriken« in der Stadt, dass die angestellten Belgier »fleißige ordentliche Leute« seien und sie »nicht ohne weiteres ersetzt werden [können], da es arbeitsfähige und arbeitswillige Leute hier kaum gibt«.151 Ihre Amtskollegen in der rheinischen Stadt Rheydt bekundeten in gleichem Tone gegenüber dem Regierungspräsidenten, dass zwölf ausländische Wehrfähige »zum Teil solche Stellungen in hiesigen Fabriken [bekleiden], dass die Aufrechterhaltung ganzer Betriebszweige von ihrer Mitarbeit abhängt«.152 »Durch Ausweisung ansässiger Ausländer würden unter Umständen auch die bei ihnen beschäftigten Deutschen arbeitslos«, gab in diesem Sinne der stellvertretende Generalkommandeur in Nürnberg zu bedenken.153 Folglich war die Entlassung ausländischer Facharbeiter und Angestellter ein Abwägungsprozess zwischen der daraus folgenden Unterstützungsbedürftigkeit der Betroffenen, dem möglichen Spionagepotenzial innerhalb spezialisierter Betriebsabläufe und dem Wissen wie den Fertigkeiten der Ausländer zur Fortsetzung der Produktion. Politische Entscheidungen konnten zudem maßgebend für Ausnahmeregelungen sein. Beim Eintritt des Kriegszustandes zwischen dem Deutschen Reich und Italien wie Rumänien im Spätsommer 1916 wurden deren Staatsangehörige ebenfalls zu feindlichen Ausländer/innen erklärt. Aber eine Entlassung jener Angestellten, die in »kriegswirtschaftlichen Arbeiten jeglicher Art
150 Landrat d. Kreises Düsseldorf (gez. Koenigs) an d. stv. Gkdo. VII. AK, 24.11.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 71 f. 151 Polizeiverwaltung Düsseldorf (Ober-Bürgermeister) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 24.11.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 39 f. 152 Polizeiverwaltung Rheydt an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 3.9.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 87. 153 Regierung von Mittelfranken (KdI) an d. Bay. SMdI, 4.9.1914, in: HStA München, MInn 53976.
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Einschränken und Entrechten
beschäftigt« waren, sah die Heeresführung nicht vor.154 Für wehrfähige rumänische Männer bedeutete solch ein rüstungsrelevantes Beschäftigungsverhältnis gar die Befreiung von der allgemeinen Internierung im Oktober des Jahres.155 Und schon im Januar 1917 weiteten die Verantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium die Regelung auf alle rumänischen Arbeitskräfte aus, die »kriegsund volkswirtschaftlichen Nutzen« versprachen. Dies betraf auch die landwirtschaftlichen Arbeiter.156 Eine maßgebliche Änderung der restriktiven Aussperrungspolitik seitens militärischer Akteure hatte sich im Laufe des Jahres 1915 vollzogen. Waren die ersten Kriegsmonate von einer hohen Arbeitslosigkeit im Zuge der Umstellung von einer Verbrauchsgüter- zur Rüstungsindustrie geprägt gewesen, fehlten ein Jahr später qualifizierte Arbeitskräfte.157 »An die Stelle des Arbeitsmangels ist demnach allmählich der Arbeitermangel getreten«, fasste der Berliner Polizeipräsident die veränderte Situation im August 1915 zusammen.158 Deshalb hätten »vielfach Arbeiter aus Russisch-Polen und anderen besetzten Gebieten, sowie aus den Konzentrationslagern« eine Anstellung in Berlin gefunden.159 Einen Eindruck vom Ausmaß der Ausländerbeschäftigung in der Hauptstadt vermittelt der Kriegsbericht der Regierungs- und Gewerberäte. Über die insgesamt 7653 eingestellten Ausländer hieß es: »Rumänen und Nordländer wurden als Sattler und Schneider, Schweizer und Polen als Uhrmacher und Feinmechaniker, Chinesen als Schuhmacher und namentlich Russen deutscher Herkunft aus Lodz und Umgebung und jüdisch-polnische Arbeiter in der Schneiderei beschäftigt. Sie fanden ferner Verwendung in Maschinenfabriken, Gasanstalten, Seifenpulverfabriken, Brauereien, Konservenfabriken, Hutfabriken und zahlreichen Kleinbetrieben.«160
154 Preuß. KM an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 29.8.1916, (Telegramm) in: HStA Dresden, 11348/2833, Bl. 55 u. Telegramm d. Reichskanzlers an d. Sächs. Min. d. äußeren Angelegenheiten, 28.8.1916, in: HStA Dresden, 10717/2280, Bl. 63 f. 155 Preuß. KM, betr. Rumänen in Dtl., an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., 10.10.1916, in: HStA Dresden, 10736/3353, Bl. 86. 156 Preuß. KM, betr. Rumänen, 18.1.1917, in: HStA Dresden, 10736/3353, Bl. 138 f. 157 Zum Strukturwandel der Industrie in Württemberg: Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung, S. 61–78. 158 Bericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow) an d. preuß. Minister d. Innern, 18.8.1915, in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 79, S. 77 f. (Herv. im Org.). 159 43. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 10.7.1915, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 73, S. 71 f. 160 Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte und Bergbehörden für 1914– 1918, hg. vom Ministerium für Handel und Gewerbe, Berlin 1919, S. 225 (Landespolizeibezirk Berlin).
Arbeiten zwischen Zurückhaltung und Anwerbung
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Der Wille zur Fortführung des Krieges hatte in Berlin eine liberalere Haltung der Militärvertreter erzwungen. Ihren Maßnahmen am Anfang des Krieges sollten jene an dessen Ende diametral gegenüberstehen. Dennoch hielten sie an ihren Bedenken fest. Sie schärften den Unternehmern fortwährend ein, ihre ausländischen Angestellten zu überwachen und diese nicht als reguläre Arbeitskräfte anzuerkennen, sondern als zeitlich begrenzte Aushilfen.
Arbeiten zwischen Zurückhaltung und Anwerbung Zwänge und Anreize Im August 1916 stellte die neu eingesetzte Oberste Heeresleitung unter Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg gegenüber dem preußischen Kriegsminister, Adolf Wild von Hohenborn, die Überlegenheit der Kriegsgegner heraus. Diesen stünde nicht nur »1. ein unerschöpfliches Menschenmaterial, sondern 2. auch die Industrie fast der gesamten übrigen Staaten zur Verfügung«.161 Um die Rüstungsproduktion weiter zu steigern und »uns zu einem endlichen Siege« zu führen, forderten sie ein »unbedingtes Ausnutzen aller unserer Kräfte und vor allem unserer hochentwickelten Industrie«.162 Eine zentrale Bedeutung kam hierbei der Arbeiterfrage zu. Hochqualifizierte Facharbeiter sollten von der Front in die Rüstungsbetriebe zurückkehren, und ebenso durch »Kriegsbeschädigte, Kriegsgefangene, Frauen und Minderjährige« sei die Zahl der Arbeitskräfte zu erhöhen. In diesem Zusammenhang gewann die »Beschäftigung der feindlichen Ausländer aus den besetzten westlichen und östlichen Gebieten« an Bedeutung. Ernst von Wrisberg, der Leiter des Allgemeinen Kriegs-Departements, erklärte, dass »einer Gewinnung zu freiwilliger Arbeitsübernahme der Vorzug zu geben ist, vor Zwangsmaßregeln«.163 Sollten aber die freiwilligen Mittel ausgeschöpft sein und »brauchbare Leute« weiterhin eine Arbeitsaufnahme verweigern, »dann bleibt kein anderes Mittel übrig, als die Heranziehung im Wege des Zwangs«. Dessen rücksichtslose Anwendung richtete er gleichwohl an der größtmöglichen ökonomischen Effizienz aus. »Etwaige völkerrechtliche Bedenken dürfen uns nicht hindern, sie müssen der unentrinnbaren Notwendigkeit weichen, jede in deutscher Gewalt befindliche Arbeitskraft der kriegswirtschaftlich produktivsten Verwendung zuzuführen.«164 161 Chef d. Generalstabes d. Feldheeres (gez. v. Hindenburg) an d. preuß. Kriegsminister, 31.8.1916, in: Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18, hg. von Erich Ludendorff, Berlin 1920, S. 63 ff. (Kap. II, Abt. 1). 162 Ebd. In gleichem Sinne äußerte sich der bay. Kriegsminister im Oktober 1916. Siehe: Rede d. bay. Kriegsministers, Kreß v. Kressenstein, 9.10.1916, in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 190, S. 492–497. 163 Stellungnahme d. Preuß. KM (gez. v. Wrisberg), 7.10.1916, in: Urkunden der Obersten Heeresleitung, S. 124 ff. (Kap. II, Abt. 22). 164 Ebd.
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Einschränken und Entrechten
Vor diesem kriegswirtschaftlichen Hintergrund handelte es sich bei jenen ausländischen Angestellten und Arbeiter/innen, die entlassen beziehungsweise aus dem Arbeitsleben gedrängt wurden, um eine Minderheit. In der Mehrzahl sahen sich Ausländer/innen,165 die der Industriearbeiterschaft oder dem landwirtschaftlichen Proletariat angehörten, aus ökonomischen Gründen oder aufgrund zivilstaatlicher wie militärisch angeordneter Gewalt gezwungen, eine Beschäftigung in der deutschen Kriegswirtschaft fortzuführen oder aufzunehmen. Anhand ihrer Wege in den Arbeitseinsatz können drei Gruppen voneinander unterschieden werden. Erstens sind jene Arbeiter/innen zu nennen, die sich in Deutschland zu Kriegsbeginn aufhielten und nicht in ihre Heimat zurückreisen durften. Zweitens entschlossen sich viele aus den besetzten Gebieten freiwillig, einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen in Deutschland einzugehen. Drittens wurden während des Krieges belgische und osteuropäische Arbeiter aus ihren Wohnorten deportiert und zur Arbeit gezwungen. Die hierbei entstehenden Übergänge zwischen Freiwilligkeit und Zwang waren fließend und die Erfahrungskontexte der Betroffenen vielschichtig. Beispielsweise hatten die Militärverwalter in den okkupierten polnischen Gebieten Industriebetriebe, insbesondere Textilfabriken in Łódź, stillgelegt, um die frei werdenden Arbeitskräfte nach Deutschland vermitteln zu können.166 Tabelle 9: An ausländische Arbeiter/innen ausgegebene Legitimationskarten für die Landwirtschaft, 1914–1918 Herkunftsland
1913/14
1914/15
1915/16
1916/17
1917/18
Russland
286.413
275.972
311.658
326.683
348.386
Österreich
130.577
49.442
26.371
19.130
14.117
Ungarn
5.291
349
210
174
145
Schweiz
1.534
1.660
1.905
2.013
2.197
45
21
41
49
128
9.633
7.916
6.208
5.533
5.547
Italien Niederlande u. Belgien … Zusammen
…
…
…
…
…
436.736
337.752
348.817
355.483
372.274
Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1916 (Jg. 37), S. 108, Bd. 1918 (Jg. 39), S. 125, Bd. 1919 (Jg. 40), S. 313.
165 Im Folgenden ist eine zweifelsfreie Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen ausländischen Beschäftigten nicht möglich, da in den Überlieferungen meist nur von »Arbeitern« gesprochen wurde. Eine der wenigen Ausnahmen war das »Merkblatt für Arbeitgeber, die durch das Deutsche Industrie-Büro angeworbene Arbeiter beschäftigen«. In einem der letzten Absätze wird darin ausgeführt: »Vorstehende Bestimmungen finden sinngemässe Anwendung auch auf weibliche Arbeitskräfte.« Siehe: Merkblatt für Arbeitgeber, d. durch d. Deutsche Industrie-Büro angeworbene Arbeiter beschäftigen, März 1918, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, Kriegsamtsstelle, Bd. 28. 166 Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 187 f.
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Arbeiten zwischen Zurückhaltung und Anwerbung
Tabelle 10: An ausländische Arbeiter/innen ausgegebene Legitimationskarten für die Industrie, 1914–1918 Herkunftsland
1913/14
1914/15
1915/16
1916/17
1917/18
Russland
35.565
75.938
133.913
147.676
154.073
Österreich
167.756
72.982
56.204
47.897
51.106
21.235
7.816
5.786
4.474
3.582
Ungarn Schweiz
2.608
4.003
5.285
4.404
6.402
Italien
64.992
12.935
11.399
10.591
13.556
Niederlande u. Belgien
46.245
42.349
50.009
88.602
104.630
…
…
…
…
…
346.122
222.762
270.487
313.138
343.496
… Zusammen
Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1916 (Jg. 37), S. 108, Bd. 1918 (Jg. 39), S. 125, Bd. 1919 (Jg. 40), S. 313.
Eine Vielzahl an Akteuren in veränderlichen Konstellationen und mit unterschiedlicher Wirksamkeit beeinflusste den Lebensalltag der Arbeiter/innen. Neben militär- und zivilstaatlichen Verantwortlichen, die Rahmenbedingungen vorgaben, Richtlinien erließen und Einzelfallentscheidungen trafen, kontrollierten Polizeiund Gewerbeaufsichtsbeamte die Arbeitenden. Gutsbesitzer wie Unternehmer forderten ihre Weiterbeschäftigung und Anwerbung während sie untereinander in Konkurrenz standen. Vorarbeiter und Aufsichtspersonal legten die innerbetrieblichen Modalitäten des Zwangs zur Arbeit fest. Seelsorger standen ihnen bei und hielten sie zur Arbeit an. Diplomaten und neutrale Gesandte protestierten gegen die Zwangsarbeit belgischer Arbeiter, während sie der Situation russländischpolnischer Lohnarbeiter/innen weniger Beachtung schenkten und ihre Interessenvertretung durch eine neutrale Schutzmacht »stillschweigend« der Spanischen Botschaft oblag.167 Schließlich wichen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Bergwerken und Fabriken, in Ziegeleien und Forstbetrieben, auf Gutshöfen und Landgütern in hohem Maße voneinander ab.168
167 Preuß. KM (gez. i. A. Meiß) an d. Württ. KM, hier abschr. an d. Sächs. KM, 19.6.1917, in: HStA Dresden, 10736/3368, Bl. 69. 168 Einführend in den Themenkomplex Arbeitszwang und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg: Friedrich Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik des 1. Weltkrieges, in: Gerhard Ritter (Hg.), Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1970, S. 280–311. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter/innen in der deutschen Rüstungsindustrie: Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 85–117; Ders., Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 24 (1984), S. 285–304; Rawe, Ausländereinsatz und Kriegswirtschaft, S. 155–248; Jens Thiel, »Menschenbassin Belgien«.
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Einschränken und Entrechten
Hinsichtlich dieser facettenreichen Rahmenbedingungen erinnert Ulrich Herbert daran, dass staatliche Akteure in ihren Entscheidungen und Handlungen an die Vorkriegszeit anknüpften. »Das von den preußischen Behörden entwickelte In strumentarium zur Regulierung der ›Ausländerzufuhr‹ in Form von Karenzzeit und Legitimationszwang, das gleichermaßen zur Überwachung der Auslandspolen wie zur Stabilisierung ihrer im Vergleich zur deutschen Arbeiterschaft schlechten sozialen Stellung diente, hatte eine Tradition der Diskriminierung insbesondere der Polen begründet«, resümierte er. Diese Ausgangsposition ließ »den Übergang zu Zwangsmaßnahmen bei Kriegsbeginn zwar als kriegsbedingte und dadurch gerechtfertigte Verschärfung, nicht aber als etwas prinzipiell Neues erscheinen«.169 Diesen Standpunkt vertritt ebenso Lothar Elsner, der betont, dass »Deportation und Zwangsarbeit […] zweifellos nur im Kriege möglich« waren.170 Er will jedoch der nationalpolitischen und sozialen Zielsetzung staatlicher Akteure ein weiteres Element hinzugefügt wissen. Ein zentraler Eckpfeiler der Verschärfung der Zwangsmaßnahmen im Krieg sei das »existierende Streben des Imperialismus nach der Gewinnung von Extraprofit, u. a. durch die Ausbeutung möglichst billiger Arbeitskräfte«, gewesen. Wichtige Weichenstellungen der Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg datieren auf den Juli 1914. Die Reichsleitung hatte wenige Tage vor der Mobilmachung eine Unterscheidung zwischen saisonalen russländisch-polnischen Arbeitskräften Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007; Christian Westerhoff, Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918, Paderborn 2012. Mit den landwirtschaftlichen Arbeiter/innen während des Krieges setzten sich auseinander: Lothar Elsner, Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches während des 1. Weltkrieges. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik, Rostock 1961 u. Ders., Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in: Klaus Bade (Hg.), Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, 2. Teilbd., Ostfildern 1984, S. 527–557; Liedke, Arbeitskräfte aus Osteuropa im Land Braunschweig, S. 82–97; Jochen Oltmer, Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg. Beschäftigungsstruktur, Arbeitsverhältnisse und Rekrutierung von Ersatzarbeitskräften in der Landwirtschaft des Emslandes 1914–1918, Sögel 1995. Zu den Kriegsgefangenen siehe: Jochen Oltmer, Zwangsmigration und Zwangsarbeit – Ausländische Arbeitskräfte und bäuerliche Ökonomie im Ersten Weltkrieg, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 27 (1998), S. 135–168; Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 248–318. Allgemein den Saisonarbeitern im Deutschen Reich widmen sich: Klaus J. Bade, »Preußengänger« und »Abwehrpolitik«. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 24 (1984), S. 91–162; René Del Fabbro, Transalpini. Italienische Arbeitswanderung nach Süddeutschland im Kaiserreich 1870–1918, Osnabrück 1996 u. Karl Marten Barfuss, »Gastarbeiter« in Nordwestdeutschland 1884–1918, Bremen 1986. 169 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 115. 170 Elsner, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeitspolitik, S. 527.
Arbeiten zwischen Zurückhaltung und Anwerbung
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und den übrigen ausländischen Erwerbstätigen, die keinen zeitlichen Aufenthaltsbeschränkungen oder Bindungen an bestimmte Wirtschaftszweige unterworfen gewesen waren, beschlossen. Erstere sollten auf ihren Arbeitsstellen verbleiben, um einem Mangel an Arbeitskräften vorzubeugen und circa 200.000 Wehrpflichtige der russländischen Armee zu entziehen.171 Besonders in Preußen bedeutete diese Maßnahme in der Folgezeit einen Bruch mit dem Status quo.172 Unter dem Eindruck des Krieges wandelte sich innerhalb weniger Wochen der nationalpolitische Rückkehrzwang in ein kriegsökonomisches Rückkehrverbot.173 Die westlichen Provinzen wurden für osteuropäische Arbeitskräfte geöffnet und ihre Beschäftigung in der Rüstungsindustrie, im Bergbau, in gewerblichen Kleinbetrieben und bei Handwerksmeistern erlaubt.174 Sie drangen ähnlich den Kriegsgefangenen tief in das Wirtschaftsleben ein. Im Ruhrkohlenbergbau entfaltete diese Entwicklung einen grundlegenden Strukturwandel. Hatten in der Vorkriegszeit russländischpolnische Arbeiter dort keine Rolle gespielt, stellten sie während des Krieges die größte Ausländergruppe,175 und in der Landwirtschaft erlebten einige von ihnen eine maßgebliche Statuserhöhung, als ihnen im September 1914 der Zugang zum sonst verschlossenen Gesindedienst gestattet wurde.176 Die Heeresführung und die Reichsleitung drängten aufgrund von Sicherheitsbedenken darauf, osteuropäische Arbeiter/innen an ihrer Heimreise zu hindern. Die Landwirtschaftsverbände und die Industrievereinigungen mahnten hingegen aus Furcht vor einem Arbeitskräftemangel ihre Weiterbeschäftigung und die strikte Einhaltung ihrer Arbeitsverträge an.177 Als diese Ende 1914 ausliefen und die »sonst übliche Heimbeförderung […] aus militärischen und wirtschaftlichen Gründen 171 Reichskanzler (RAdI) an d. preuß. Kriegsminister, 27.7.1914, (Ent.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 2 f. u. Erlass d. Reichskanzlers (RAdI), betr. Behandlung russischer Saisonarbeiter, an d. Bundesregierungen, 7.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/11086, Bl. 1 f. 172 Ausnahmen vom Rückkehrzwang galten im Großherzogtum Baden für gewerbliche ausländische Arbeiter/innen und im Königreich Sachsen für »ausländische Polen« in Abraumbetrieben und Braunkohlewerken, um »einen großen wirtschaftlichen Schaden« von den Unternehmungen abzuwenden. Siehe: Protokoll d. Besprechung im Bad. MdI mit Major Varrentrapp vom stv. Gkdo. XIV. AK, 15.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176 u. Jahresberichte der Königlich Sächsischen Gewerbe-Aufsichtsbeamten für 1913, Dresden 1914, S. 256 f. 173 Preuß. Minister d. Innern u. Min. für Landwirtschaft, Domänen und Forsten an d. Oberpräsidenten, 28.9.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112380, Bl. 38 u. exemplarisch für die Anordnungen der Militärbehörden: Bkm. über d. Behandlung d. Ausländer im Bezirk d. XVIII. AK (gez. v. Gall), 23.9.1914, in: StA Marburg, 165/517, Bl. 28. 174 Preuß. Minister d. Innern an d. Reg.-Präs. u. d. Polizeipräsidenten von Berlin, 10.11.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 304. 175 Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 158. 176 Erlass d. Preuß. MdI, 28.9.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 8. 177 Landwirtschaftskammer für d. Rheinprovinz an d. Landräte d. Rheinprovinz, 28.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 15004, Bl. 65 f.; Merkblatt für d. Weiterbeschäftigung d. russischpolnischen Wanderarbeiter d. Landwirtschaftskammer für d. Rheinprovinz an d. Landräte d.
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Einschränken und Entrechten
nicht möglich« war, postulierten die Militär- und Zivilbehörden zuerst freiwillige Vertragsverlängerungen. Die Arbeiter/innen sollten im Zuge dessen bei ihren bisherigen Arbeitgebern verbleiben. Der bayerische Innenminister erklärte beispielsweise, dass russländische Arbeiter weiterhin »ihren Arbeitgebern zur Verfügung stehen und in deren eigenstem Interesse auf den Arbeitsstellen auch während der Winterzeit zu verbleiben haben, damit sie bei beginnendem Frühjahre für die Bestellungsarbeiten und später auch für die Erntearbeiten sicher zur Stelle sind«.178 Der Umstand, dass ihre Heimatorte jenseits der östlichen Frontlinien lagen und ihre Heimkehr ohnehin nur über die neutralen nordeuropäischen Staaten möglich gewesen wäre, spielte für ihn keine Rolle. Ihre Zurückhaltung war »im Interesse der Ernährung der Bevölkerung und des im Felde stehenden Heeres« geboten. In diesem Sinne verfügten die stellvertretenden Generalkommandos im Oktober 1914 reichsweit, dass nicht-wehrpflichtige Arbeiter und Arbeiterinnen zwar nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge das Deutsche Reich verlassen könnten. Sie forderten für eine Ausreise aber den Besitz »einer direkten Fahrkarte nach einer Eisenbahnstation eines neutralen Landes« und einen »von der gesandtschaftlichen oder konsularischen Vertretung des neutralen Staates visierten Pass«.179 Unter diesen Bedingungen bedeutete die Visumsregelung für die Betroffenen einen Ausreisestopp.180 Zugleich hatten die »im Alter von 17 bis 45 Jahren stehenden männlichen russischen Arbeiter […] sämtlich den Winter über am Orte ihrer bisherigen Arbeitsstelle zu verbleiben«.181 Den Meldebestimmungen für feindliche Ausländer/innen unterworfen, durften alle Arbeiter/innen die »Grenzen des Ortspolizeibezirks nicht ohne schriftliche Genehmigung der Ortspolizeibehörde überschreiten«. Der württembergische Militärbefehlshaber betonte ausdrücklich, dass diese Regelung ebenfalls für »Frauen und Kinder« gelte.182 Unter anderem in Sachsen sollten zudem in »größeren MenRheinprovinz, 7.11.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 15004, Bl. 163 u. zur Weiterbeschäftigung in der Industrie siehe: Preuß. Minister d. Innern (Loebell) an d. Oberpräsidenten in Magdeburg, 28.8.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 15004, Bl. 213 ff. 178 Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Regierungen (KdI), 15.10.1914, (Abs.) in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 179 Ebd. Als neutrale Länder kamen dabei nur Schweden und die Schweiz in Betracht. 180 Preuß. Minister d. Innern u. d. Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten an d. Reichskanzler, 3.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112380, Bl. 162 f. 181 Bsp.: Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. Deppert) an d. Regierungen von Oberbayern, Niederbayern, Schwaben u. Neuburg, 31.10.1914, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.); Bkm. d. stv. Gkdo. XII. AK, 5.10.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 7; Befehl d. Okdo. in d. Marken, 3.10.1914, in: Jastrow, Im Kriegszustand, S. 182 f. Weisung an die preußischen Zivilbehörden für industrielle und landwirtschaftliche russländisch-polnische Arbeiter/innen: Erlass d. preuß. Minister d. Innern, 26.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3316, Bl. 168 u. Erlass d. preuß. Minister d. Innern, 17.11.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112380, Bl. 151 f. 182 Bkm. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 17.7.1915, in: StA Ludwigsburg, F 160 I, Bü 707.
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gen vereinigte Saisonarbeiter […] in geeigneter Weise durch Organisationen der Zivilbehörden […] (nicht mehr landsturmpflichtige Mitglieder von Krieger- und Schützen-Vereinen oder Mitglieder von zu diesem Zweck durch die Zivilbehörden neugeschaffenen Organisationen)« überwacht werden.183 Obwohl mehrfach gefordert,184 zog die Reichsleitung ihre allgemeine Einweisung in Internierungslager nicht in Betracht. Denn ihre Unterbringung, Bewachung und Verpflegung würde »außerordentlich hohe Kosten verursachen«, hieß es von Seiten des preußischen Innenministers.185 Lediglich Erwerbs- und Mittellose sollten nach den Lagern Havelberg und Holzminden abgeschoben werden dürfen.186 In Bayern fanden sie überwiegend in Haftlokalen der Gendarmerie und in Amtsgerichtsgefängnissen ein Winterquartier.187 Weil Unternehmer und Gutsbesitzer in Industrie und Landwirtschaft um die Arbeitskraft der im Deutschen Reich Zurückgehaltenen erbittert konkurrierten, durften die Arbeiter/innen nicht zwischen den Wirtschaftssektoren wechseln. Sie konnten nach Vertragsende nur innerhalb jener in eine neue Arbeitsstelle eintreten. Die lokalen Polizei- und Militärbehörden überwachten diese Arbeitgeberwechsel und achteten darauf, »Lohntreibereien« zu verhindern.188 Um den weiterhin bestehenden Mangel an Arbeitern in der Rüstungsindustrie ausgleichen zu können, forcierten die Heeresführung und Industrieverbände wie der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Anwerbungen in den westlichen und östlichen Besatzungsgebieten. Die freiwillig wie unter Zwangsbedingungen Angeworbenen standen fortan unter den gleichen Gesetzen und Verfügungen wie die bereits Anwesenden. Für ›belgische‹ Arbeiter galt lediglich das Heimkehrverbot nach Vertragsende nicht.189
183 Sächs. KM (gez. v. Carlowitz), betr. Behandlung feindlicher Ausländer, an u. a. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK u. d. Sächs. MdI, 18.8.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 8. 184 Sächs. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten an d. RAdI, 29.9.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112380, Bl. 30 u. Stadtmagistrat Hof an d. Regierung von Oberfranken (KdI), 17.11.1914, in: Ebd., Bl. 124. 185 Preuß. Minister d. Innern u. d. Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten an d. Reichskanzler, 29.12.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112380, Bl. 159 u. Preuß. Minister d. Innern u. d. Kriegsminister an d. Reichskanzler, 2.2.1915, in: Ebd., Bl. 244. 186 Preuß. KM (gez. v. Wandel), betr. russische Saisonarbeiter, an u. a. sämtl. Gkdos., 7.1.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 31 u. Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich) an d. preuß. Minister d. Innern, 14.1.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 27. 187 Bay. SMdI an d. bay. Regierungen (KdI) u. Distriktsverwaltungsbehörden, 27.1.1915, (Abs.) in: HStA München, MJu 10779. 188 Preuß. KM, betr. polnische Arbeiter, 7.12.1916, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1024, Bl. 306– 309; Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen d. stv. Gkdo. VIII. AK zum Erlass betr. russischer Arbeiter vom 31.1.1917, 15.2.1917, in: LAV NRW R, BR 0007, 15005, Bl. 395 u. Bkm. d. Okdo. in d. Marken, 8.3.1917, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 66–69. 189 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 288–293.
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Einschränken und Entrechten
Nachdem im Januar 1915 der preußische Innenminister und der Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten festgestellt hatten, dass »es an einer rechtlichen Grundlage [fehlt], um sie unmittelbar zu einem Vertragsschluß für den nächsten Sommer zu zwingen«,190 gehörten verordnete Vertragsverlängerungen im darauffolgenden Herbst zur militär-bürokratischen Praxis. Die Militärbefehlshaber erneuerten im Oktober und November 1915 zum einen das Rückkehrverbot, unter das im Frühjahr 1916 400.000 Arbeitskräfte fielen.191 Zum anderen verbanden sie dieses mit einer allgemeinen Arbeitspflicht. Beides wurde praktisch und rechtlich auf Grundlage der abgeschlossenen Arbeitsverträge zementiert. »Allen russischen Arbeitern männlichen und weiblichen Geschlechts ist es bis auf weiteres auch künftighin verboten, rechtswidrig das Inland zu verlassen«, lauteten beispielhaft die Bestimmungen in den preußischen und sächsischen Militärbezirken.192 Eine Rechtswidrigkeit leitete sich aus einem Verlassen der Arbeitsstelle vor Ablauf des Arbeitsvertrages ab. Diese Rechtskonstruktion galt seit 1916 ebenso für italienische Arbeiter, mit denen deshalb langfristige Kontrakte vereinbart werden sollten.193 Für die russländisch-polnische Arbeiterschaft, die es teilweise ablehnte, sich weiterhin an Arbeitgeber im Deutschen Reich zu binden, oktroyierten die Militärbefehlshaber darüber hinaus vielfach Vertragsverlängerungen. Gleichzeitig drängten sie die Arbeiter/innen vor dem Hintergrund umfangreicher Strafkataloge zur Einwilligung und Unterschrift. Während Vertragslose ihrem bisherigen Arbeitgeber lediglich eine Entschädigung für Unterkunft und Verpflegung zahlen mussten, duldeten dies die beiden sächsischen stellvertretenden Generalkommandeure ab Januar 1916 nicht mehr. »Falls es […] nicht gelingt, mit den […] russischen Arbeitern oder Arbeiterinnen neue Verträge abzuschließen, sind die alten Verträge mit einem Lohnzuschlag von 20 Pf. auf die Person und den Tag gerechnet auch für die Wintermonate und das Wirtschaftsjahr 1916 als bindend anzusehen«, verfügten sie für das Königreich.194 Für Oberbayern bestimmte Luitpold von der Tann-Rathsamhausen, dass »Arbeiter, die bis 5. Februar 1916 keine Verträge abgeschlossen haben und sich weigern, unter angemessenen Bedingungen Verträge überhaupt abzuschließen, […] in ein Gefangenenlager des Korpsbezirks zu überführen und von dort aus unter den für Gefangene vorgesehenen Bedingungen zwangsweise zu 190 Preuß. Minister d. Innern u. d. Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten an d. Reichskanzler, 3.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112380, Bl. 162 f. 191 Preuß. Minister d. Innern an d. stv. Kriegsminister, 12.5.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 192 Befehl d. stv. Gkdos. VII. AK, 1.11.1915, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Zweiter Nachtrag, S. 80–83. Gleichlautend die Verordnung des stellvertretenden Generalkommandos XII. AK: Befehl, betr. d. russischen Arbeiter, d. stv. Gkdos. XII. AK, 30.10.1915, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 7 f. 193 Preuß. KM an d. AA, 7.3.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/7112, Bl. 44. 194 Bkm. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 17.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 191.
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Arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben zu verwenden« seien.195 Letztendlich sollten seit 1917 bei Vertragslosigkeit in der Landwirtschaft reichsweit die Vorjahreskontrakte ihre Gültigkeit beibehalten.196 Wiederum auf Grundlage der Arbeitsverträge erließen Militärbefehlshaber schließlich eine Arbeitspflicht. »Nichtmilitärischen Angehörigen feindlicher Staaten wird es verboten, ihnen rechtlich obliegende Arbeitsleistungen ohne hinreichenden Grund zu verweigern«, hieß es Ende 1916 im Stuttgarter Armeekorpsbereich.197 Bereits seit April desselben Jahres war es im Münsteraner Militärbezirk »feindlichen Arbeitern […] verboten, ohne genügenden Grund von der Arbeit fernzubleiben«.198 Der Arbeitszwang sollte durch eine Überwachung der Arbeiter/innen auch am Arbeitsplatz, die Überprüfung ihrer Anwesenheit und die Pflicht zu Abwesenheitsmeldungen durch die Arbeitgeber gewährleistet werden.199 Weitere Verschärfungen der Bestimmungen waren möglich. Freiherr von Gayl stellte im Sommer 1916 für den Münsteraner Militärbezirk klar, »daß die russisch-polnischen Saisonarbeiter zur Ausführung dringender Erntearbeiten an Sonn- und Festtagen auch dann verpflichtet sind, wenn im Dienstvertrag Sonn- und Feiertagsarbeit ausdrücklich ausgeschlossen ist«.200 Aufbegehren dagegen sollte vor allem mit Drohungen und Sanktionen begegnet werden. Solche Richtlinien legten es in die Hand des einzelnen staatlichen Verantwortlichen vor Ort, situativ den Worten Taten folgen zu lassen. Der sächsische Kriegsminister Adolph von Carlowitz hatte bereits Ende August 1914 den beiden Generalkommandos des Königreiches diktiert, dass die Arbeiter/innen darauf hinzuweisen seien, »dass wir uns im Kriegszustande befinden und dass jede Widersetzlichkeit gegen die Organe der Behörden mit sofortigem Erschießen bestraft werden kann«.201 »Jeder Versuch der Überschreitung der bestehenden Bestimmungen, des Kontraktbruches, des Widerstandes usw. muß 195 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 19.2.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.). 196 Preuß. KM, betr. polnische Arbeiter, 7.12.1916, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1024, Bl. 306– 309. Für das Jahr 1918: Bkm. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 21.12.1917, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818 u. Bkm. d. stv. Gkdos. XII. AK, 13.12.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 63. 197 Bkm. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 19.12.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818 (Herv. R. M.). 198 Bkm. d. stv. Gkdos. VII. AK, 11.4.1916, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Dritter Nachtrag, S. 165–167. 199 Verordnung d. stv. Gkdos. VII. AK, 11.4.1916, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 184 u. Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Landräte u. Polizeipräsidenten, 30.5.1917, in: Ebd., Bl. 246 f. 200 Bkm. d. stv. Gkdos. VII. AK, 7.7.1916, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Dritter Nachtrag, S. 200. 201 Sächs. KM (gez. v. Carlowitz), betr. Behandlung feindlicher Ausländer, an u. a. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK u. d. Sächs. MdI, 18.8.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 8. Diese Warnung wurde ebenfalls ausgesprochen in einem Erlass des Braunschweigischen Staats-
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Einschränken und Entrechten
mit größter Strenge im Keime erstickt werden«, forderte der Oberkommandierende in den Marken im Oktober 1915.202 Ebenso war ausländischen Arbeitern im Kölner Festungsbereich »jede Widersetzlichkeit gegen die nach Lage der Sache billigen Anordnungen ihrer Arbeit-, Quartier- oder Kostgeber, ihrer Vertreter oder der ihnen bestellten Aufseher verboten. Soweit die Arbeiter vertragsmäßig zu Arbeitsleistungen verpflichtet sind, ist es ihnen insbesondere nicht gestattet, grundlos die Arbeit niederzulegen, unpünktlich zur Arbeit zu erscheinen oder dieselbe ordnungswidrig auszuführen.«203 Bei Zuwiderhandlungen oder bei Anstiftung zu solchen waren Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr vorgesehen. Als es im Düsseldorfer Armeekorpsbezirk im Laufe des Jahres 1915 vermehrt zu Arbeitsniederlegungen und Kontraktbrüchen kam, eröffnete der stellvertretende kommandierende General den Arbeitern, dass er sie notfalls unter Arbeitszwang setzen werde. Gegenüber dem Regierungspräsidenten in Düsseldorf, Francis Kruse, präzisierte er seine Vorstellungen über die Zwangsmaßnahmen. »Ich ersuche, der Widerspenstigkeit der Arbeiter mit allen Mitteln entgegenzutreten und die Widerspenstigen nötigenfalls in die strengste Sicherheitshaft zu nehmen. Sollten sie auch dann noch bei ihrer Weigerung verharren, stelle ich die Anwendung schärfster Maßnahmen (Kost- und Bettentziehung usw.) auch über die Gefängnisordnung hinaus, anheim.«204 In Fällen, in denen sich Arbeiter auflehnten und die Arbeit verweigerten, gestatteten die Militärbefehlshaber ihre Überweisung in militärische Sicherheitshaft oder ein Internierungslager.205 Die Initiative zu einem solchen Vorgehen ging auf die ersten Kriegstage und -monate zurück.206 Ihr Nutzen wurde allerdings kritisch bewertet. In den Augen Generaloberst Gustav von Kessels, des Oberbefehlshabers in den Marken, stellte das Internierungslager rückblickend einen unzulänglichen Ort ministeriums, siehe: Liedke, Arbeitskräfte aus Osteuropa im Land Braunschweig, S. 82. Weitere Beispiele für die folgenden Zwangsbestimmungen siehe: Elsner, Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft, S. 143 ff. 202 Ausführungsbestimmungen zur Bkm. d. Okdo. in d. Marken, 30.10.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 139–143. 203 Bkm. d. Gouvernements Cöln, 20.8.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 32. Ähnlich lauteten die Bestimmungen im Hannoveraner X. Armeekorpsbereich seit November 1914: Verordnung, betr. polnische Arbeiter, d. stv. Gkdos. X. AK, 3.3.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 63 f. 204 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 11.9.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 15046, Bl. 39. 205 Bsp.: Verordnung d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 20.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/1516, Bl. 66. 206 Garnison-Kommando Leipzig an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 4.8.1914, in: HStA Dresden, 11352/794, Bl. 13 u. Bay. SMdI an d. Regierung von Oberfranken (KdI), 20.1.1915, in: HStA München, MInn 53984.
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des Strafens dar.207 »Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß die Überführung nach dem Lager Havelberg für russische Arbeiter keine Strafe ist,« echauffierte er sich, »da sie meistens schon nach kurzer Zeit von dort aus neuen Arbeitsstellen überwiesen werden.« Sie müssten aufgrund dessen »grundsätzlich mindestens 2 Monate« im Lager verbleiben und »möglichst zu schwerer Arbeit für umsonst oder gegen geringe Vergütung herangezogen werden«. Seien die Bestraften weiterhin nicht »willig und gehorsam […], so kann zeitweise die Beköstigungsportion, insbesondere auch die Brotportion, während der Dauer des strengen Arrestes verringert werden«. Der Arbeitsalltag und die Lebensbedingungen der russländischen Arbeiter befanden sich aus Sicht des Generals auf einem solch niedrigen Niveau, dass sie ihre Internierung nicht als Einschränkung oder Bürde wahrnehmen würden. Erst einkommenslose, erzwungene Arbeit und Hunger unterschritten ihren geringen Lebensstandard. Ein Nachgeben der Verweigerer sollte wohl auch deshalb honoriert werden. Denn sich fügende Arbeiter, führte von Kessel aus, könnten sofort zu ihren alten Arbeitsstellen zurückkehren, sofern ihr Arbeitgeber zustimme.208 Mit diesem Zugeständnis bewegte er sich, trotz der geforderten verschärften Straf- und Internierungspraxis, weiterhin im Rahmen des 1916 im Preußischen Kriegsministerium ausgegebenen Grundsatzes, das die »Verwendung der Arbeitskraft […] vor […] strafrechtlicher Sühne« stehe.209 Der widersprüchliche Umgang mit den ausländischen Arbeiter/innen zwischen Freiwilligkeit und Zwang setzte Diskussionen über ihren rechtlichen Status in Gang. Innerhalb der Ziviladministration erlangte seit den Wintermonaten 1914/15 die Frage nach ihrer Versicherungspflicht an Bedeutung, weil diese in den Armeekorpsbezirken unterschiedlich gehandhabt wurde. Aufgrund der verschiedenartigen Behandlung russländisch-polnischer Arbeiter/innen bestanden Unsicherheiten darüber, ob die Zurückgehaltenen frei oder unfrei seien.210 Auf diese Frage reagierte das Reichsversicherungsamt in einer Stellungnahme, die bestehende Befreiungsmöglichkeiten auslotete.211 Richard Sarrazin (1847–1926), der in der Abteilung für die Kranken-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung arbeitete, schlug vor, dass das Rückkehr- und Ortswechselverbot sowie der Verbleib bei den bisherigen Arbeitgebern und die damit eingeschränkte Aufenthalts- und 207 Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel) an d. stv. Gkdo. III. AK, 20.1.1916, (Abs.) in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2844. 208 Ebd. 209 Preuß. KM (gez. v. Wrisberg) an d. preuß. Minister d. Innern, Oktober 1916, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 52 ff. 210 Reichsversicherungsamt (Abt. für Kranken-, Invaliden- u. Hinterbliebenenversicherung, gez. Sarrazin) an d. Staatssekretär d. Innern, Berlin, 18.1.1915, in: (Abs.) HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 81. 211 Stellungnahme d. Reichsversicherungsamtes (Abt. für Kranken-, Invaliden- u. Hinterbliebenenversicherung, gez. Sarrazin), Berlin 18.1.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 82 f.
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Arbeitsfreiheit sie in den Zustand unfreier Arbeiter versetze. »Angewiesen auf die Arbeit, die ihnen gerade geboten wird, müssen sie unter dem Drucke der durch die behördlichen Anordnungen und den Krieg geschaffenen Verhältnisse arbeiten, um sich ihre Sicherheit und ihre Ersparnisse zu erhalten und um den ihnen während ihres unfreiwilligen Aufenthalts im Inland gewährten Unterhalt abzuverdienen«, begründete er seinen Standpunkt und verneinte eine Versicherungspflicht. Er erkannte gleichwohl die Einseitigkeit seiner rechtlichen Position. »Dass diese Auffassung nicht die einzig mögliche ist, und dass damit dem Gesetze eine strenge Auslegung gegeben wird, soll nicht verkannt werden. Es besteht aber kein Anlass, das Gesetz zu Gunsten der Angehörigen der mit dem Deutschen Reich im Krieg liegenden Staaten, besonders zu Gunsten der russischen Arbeiter im wohlwollendem Sinne anzuwenden; dem allgemeinen Rechtsempfinden würde dies zuwiderlaufen.«212 Dieses »Rechtsempfinden« teilte der Staatssekretär des Innern, Clemens von Delbrück, nicht. Er betonte, dass die russländischen Arbeiter/innen »nicht etwa als Kriegsgefangene anzusehen« seien.213 »Bei der Vielgestaltigkeit mit der sich inzwischen das Verhältnis zwischen diesen Leuten und den Arbeitgebern geregelt hat, […] scheint mir der Erlass eines die Angelegenheiten allgemein regelnden Befehls […], auch mit den Erfordernissen des praktischen Lebens nicht im Einklange zu stehen«, führte er gegenüber dem stellvertretenden Kriegsminister aus und riet von Versicherungsverboten ab.214 Innerhalb des Reichsversicherungsamtes bestand keine einheitliche Meinung über den Status der Arbeiter/innen. Der 14. Rekurssenat gab einer Klage auf Weiterzahlung der Versicherungsansprüche statt und folgte nicht den Argumenten Richard Sarrazins. Der Senatspräsident ging von einer fortbestehenden persönlichen Freiheit des Einzelnen aus, die durch »öffentlichrechtliche Maßnahmen« zwar eingeschränkt, aber nicht aufgehoben werde.215 Dem entgegengesetzt urteilte der Große Senat des Amtes. Dessen Präsident erkannte einen »obrigkeitsstaatlichen Zwang« als vorherrschend an, weil bei Arbeitsverweigerungen Strafen droh212 Ebd. 213 Staatssekretär d. Innern an d. stv. Kriegsminister, Berlin, 19.1.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 84. 214 Ernst von Wrisberg, der Direktor des Allgemeinen Kriegs-Departements im Preußischen Kriegsministerium, empfahl angesichts dessen den stellvertretenden Generalkommandos Zurückhaltung, da die Versicherungsfrage im Spruchverfahren der Versicherungsbehörden entschieden werden müsse. Siehe: Preuß. KM (gez. v. Wrisberg), betr. Gesetzliche Versicherung d. russisch-polnischen Arbeiter, an sämtl. stv. Gkdos. 14.4.1915, in: (Abs.) HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 79. 215 Urteil d. 14. Rekurssenats d. Reichsversicherungsamtes, 3.5.1916, in: BArch Berlin, R 3901/4163, Bl. 163–166 u. ebenso Urteil d. 14. Rekurssenats d. Reichsversicherungsamtes, 15.12.1915, in: Ebd., Bl. 66–69.
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ten und im Einzelfalle »die Überführung in ein militärisches Gefangenenlager mit unmittelbarem militärischen Arbeitszwange in Aussicht genommen war«.216 Diese voneinander abweichenden Positionen erklärte der Regierungsassessor A. von Schelhorn mit der unterschiedlichen Beurteilung der bereits Anwesenden und der Angeworbenen. Während erstere unter den Juristen des Versicherungsamtes als unfrei galten, seien letztere als freie Arbeiter/innen angesehen worden.217 Allerdings ergab sich diese Unterscheidung aus den beiden hier angeführten Urteilen nicht und eine endgültige Statusbestimmung unterblieb. Zwar wurde die Unfallversicherung auf alle ausländischen Arbeiter/innen ausgedehnt,218 dessen ungeachtet beriefen sich Versicherungsträger weiterhin auf die unfreie Situation der Betroffen, um Rentenzahlungen einzustellen.219 Das Reichsmilitärgericht entschied im Sommer 1916 im Sinne der Arbeiter/ innen und stellte fest, dass sie keine Zivilgefangenen nach dem Militärstrafgesetzbuch seien.220 Das Kriegsamt unter seinem Leiter Wilhelm Groener bekräftigte im Jahr darauf diesen Standpunkt, indem nur Personen als Zivilgefangene angesehen werden sollten, die in Internierungslagern lebten oder trotz Arbeitsaufnahme außerhalb dieser militärisch bewacht und in den Lagerlisten weitergeführt wurden.221 Eine große Bedeutung für russländische Staatsangehörige polnischer Nationalität erlangte darüber hinaus die Verweigerung ihrer Staatsbürgerschaft nach der Gründung des Regentschaftskönigreiches Polen im November 1916. Sie blieben infolgedessen als feindliche Ausländer/innen den Sonderbestimmungen über Meldepflicht, Ortswechsel- und Ausreiseverbot unterworfen.222 Diese rechtsförmige Konstruktion war staatlichen Akteuren vielfach bewusst und erschien manchen als »zweifelhaft«. In Württemberg zeigten sich insbesondere die Mitarbeiter 216 Urteil d. Großen Senates d. Reichsversicherungsamtes, 27.4.1918, in: BArch Berlin, R 3901/4163, Bl. 263 f. 217 A. von Schelhorn, Die Versicherung ausländischer Arbeiter während des Krieges, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jg. 1917, S. 175–185. 218 Dersch, Die zivilrechtliche Unternehmerhaftung aus Unfällen von feindlichen Kriegs- und Zivilgefangenen, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 23 (1918), Heft 19/20, Sp. 594–597 u. Schelhorn, Die Versicherung ausländischer Arbeiter während des Krieges. 219 Reichsversicherungsamt an d. Staatssekretär d. Reichsarbeitsamtes, 13.2.1919, in: BArch Berlin, R 3901/4163, Bl. 293 u. Runderlass d. Reichsversicherungsamtes (gez. Kaufmann) an d. unterstellten Berufsgenossenschaften, 18.3.1919, in: Ebd., Bl. 299. 220 Bay. KM (Verwaltungsabt., gez. Hörnle), betr. Angehörige feindlicher Staaten als landwirtschaftliche Zeitarbeiter, an d. stv. Gkdos. I. II. u. III. bay. AK, 13.6.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148. 221 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Versicherungspflicht d. Zivilgefangenen feindlicher Staatsangehörigkeit, an u. a. d. Sächs. KM, 11.7.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 319. 222 Siehe ebenso das Kapitel Identifizieren und Überwachen.
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des Innenministeriums nicht davon überzeugt, dass Einwohner/innen Polens nach der Proklamation des Königreiches weiterhin als feindliche Staatsangehörige zu betrachten waren. Aber durchsetzen konnten sich die Vertreter des Stuttgarter stellvertretenden Generalkommandos. Somit fielen polnische Saisonarbeiter/ innen weiterhin unter die Vorschriften über die Behandlung feindlicher Ausländer/ innen. »Gerade die kritische Lage, welche Ende des Jahres 1917 entstand, als die polnischen-landwirtschaftlichen Arbeiter die Erneuerung der Arbeitsverträge für das Wirtschaftsjahr 1918 verweigerten, hat gezeigt, wie notwendig die Unterstellung der Polen unter das Feindesrecht war und blieb«, resümierte die Ausländerabteilung der Stuttgarter Militärbehörde rückblickend.223 Die skizzierten Rahmenbedingungen des Arbeitseinsatzes blieben bis Kriegsende bestehen. Eine Stellungnahme aus dem Preußischen Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten an den preußischen Kriegsminister verdichtete die kriegswirtschaftliche Lage im Dezember 1917 fatalistisch und verweigerte sich, alternative Möglichkeiten des Arbeitskräfteeinsatzes zu diskutieren. »Bei dem Mangel an anderen Arbeitskräften sind die großen und mittleren landwirtschaftlichen Betriebe, auf denen die Ernährung der städtischen Bevölkerung in erster Linie beruht, jetzt fast ausschließlich auf die Kriegsgefangenen und die polnischen Arbeiter angewiesen. Fällt ein erheblicher Teil dieser Arbeitskräfte aus, ohne daß Ersatz beschafft wird, so ist der Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Erzeugung unausbleiblich.«224 Das Diktat kriegswirtschaftlicher Notwendigkeit hatte bereits in den Herbst- und Wintermonaten 1916/17 zur Zwangsdeportation von circa 60.000 Menschen aus dem besetzten Belgien und etwa 5000 aus dem Generalgouvernement Warschau geführt,225 um den Heeresersatz und die Nachfrage nach Arbeitskräften zu stillen. »Öffnen sie das große Menschenbassin Belgien«, hatte Carl Duisberg (1861– 1935), Chemiker und Generaldirektor der Bayer AG, bei Beratungen im Preußischen Kriegsministerium gefordert.226 Ihm schlossen sich Industrielle wie Walther Rathenau (1867–1922) an, der vor dem Krieg die Zwangsarbeit in den deutschen Kolonien als »Menschenraub und Leibeigenschaft« bezeichnet hatte.227 Im Bündnis mit der Obersten Heeresleitung unter Erich Ludendorff und Paul von Hinden223 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 13–17. 224 Preuß. Min. für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten an d. preuß. Kriegsminister, 11.12.1917, (Abs.) in: BArch Berlin, R 704/50, Bl. 2. 225 Zur Zwangsrekrutierung im Generalgouvernement Warschau und im militärischen Verwaltungsgebiet Ober Ost siehe: Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, S. 197–223. 226 Carl Duisberg im September 1916 bei einer Besprechung im Preuß. KM, zit. nach: Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 104. 227 Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 122.
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burg setzten sie sich gegen den Generalgouverneur von Belgien, Moritz von Bissing, durch, der öffentliche Zwangsmittel vermeiden wollte. Die Befürworter der Zwangsrekrutierungen überzeugten schließlich ebenso Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Sie waren hierbei wie im Falle des erzwungenen Arbeitseinsatzes von Kriegsgefangenen in den Frontgebieten und in der Rüstungsindustrie bereit, die Grenzen des Völkerrechtes zu überschreiten.228 Die Zwangsrekrutierung belgischer Arbeitsloser scheiterte allerdings.229 Die Abschiebungen nach Deutschland waren geprägt von Willkür und organisatorischem Chaos, ausufernder Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit. Ihnen folgte eine Welle internationaler Proteste. Die als Verteilungsstellen vorgesehenen Internierungslager waren nicht auf die Ankunft der eilig Abgeschobenen vorbereitet gewesen und konnten sie nur unzureichend versorgen. Schließlich blieb die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter weit hinter den Erwartungen zurück. Ungewollt legte dieses Fiasko die Grenzen militärischer Gewalt- und Zwangsmittel zum Ziele einer ökonomisch-effizienten Nutzbarmachung ausländischer Arbeiter offen.230 Im besetzten Belgien kehrten die zivilen und militärischen Verantwortungsträger im Frühjahr 1917 zu einer Politik aus Zwängen und Anreizen zurück. Betriebsstilllegungen verschärften die soziale Not. Finanzielle Prämien, weniger strenge Urlaubs- und Postregelungen sowie Versicherungsleistungen begünstigten die Arbeitsaufnahme in Deutschland.231 Letztendlich sollte auch im Deutschen Reich die staatliche Arbeitskräftepolitik diesem prekären Dualismus verhaftet bleiben, bei dem nicht die erzwungene und erschöpfende Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte im Vordergrund stand, sondern ihre höchstmögliche Produktivität. Im Generalgouvernement Warschau dienten Zwangsdeportationen hauptsächlich als Drohkulisse und betrafen in überwiegendem Maße die jüdische Bevölkerung. Die durchgeführten Zwangsaushebungen waren aber so rücksichtslos wie in Belgien und die politischen Folgen bald nach deren Beginn spürbar. Denn sie diskreditierten die Werbung der Zivilverwaltung für einen unter deutscher Besatzungsherrschaft entstehenden polnischen Staat und dessen Armee. Während 228 Weiterführend: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 248–304. 229 Dem Scheitern folgten in kürzester Zeit erste Rechtfertigungen und Interpretationen der Ereignisse wie durch die Militärverantwortlichen des Generalgouvernements Belgien unter dem Generalgouverneur Moritz von Bissing. Siehe: Denkschrift über d. Überführung belgischer Arbeiter aus d. Gebiete d. Generalgouvernements nach Deutschland (Verf. Abt. für Handel u. Gewerbe, Generalgouvernement Belgien), 23.1.1917, in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1154, Qu. 697. Im Reichshaushaltsausschuss rechtfertigten sich Oberst Gottfried Marquard vom Kriegsamt und Staatssekretär Karl Helfferich im März 1917. Siehe: Gottfried Marquard, 122. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 3.3.1917, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 3, S. 1128–1150, hier S. 1143 ff. 230 Zusammenfassend: Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 140–162 u. Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 103–108. Zur juristischen Auseinandersetzung: Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 378–395. 231 Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 244.
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die Zivilbehörden deshalb im Dezember 1916 die Zwangsrekrutierung einstellten, dauerte sie im Gebiet des Oberbefehlshabers Ost an. Zehntausende fanden sich dort in Arbeiterkolonnen und Zivilarbeiterbataillonen wieder. Sie wurden für ihren Einsatz kaum entlohnt und verharrten unter menschenunwürdigen Lebensumständen. Gleichwohl und trotz kritischer Stimmen aus dem Reichstag wie aus der Militärverwaltung selbst hielten deren Verantwortliche an ihren Maßnahmen 1917 fest. Sie führten Klagen und Widerstände innerhalb der Bevölkerung nicht auf das etablierte Gewaltregime zurück, sondern auf die »Unlust« zur Arbeit.232 Zwangsdeportationen, Arbeitskommandos und harte Sanktionen umreißen aber nur eine Seite des erprobten Instrumentariums, um polnische Arbeiter/innen zur Arbeitsaufnahme in Deutschland zu rekrutieren oder, wie es im Duktus der Zeitgenossen hieß, dass »noch zahlreich vorhandene Menschenmaterial der deutschen Kriegswirtschaft« zuzuführen. Dazu wurden seit Frühjahr 1916 mit dem Einverständnis des Reichskanzlers im Preußischen Kriegsministerium Richtlinien ausgearbeitet, die mit dem bisherigen Vorgehen der Militär- und Zivilbehörden sowie der Arbeitgeber hart ins Gericht gingen.233 Diese hätten zahlreiche »Mißstände« zu verantworten, die den mäßigen Erfolg bei den Anwerbungen erklärten, betonten die Verantwortlichen des Berliner Kriegsministeriums. Die Militärvertreter warfen ihnen weiterhin vor, Familienunterstützungen nicht auszuzahlen, Briefkontakte nach der Heimat der Arbeiter zu verhindern, »manchmal rücksichtslosen Gebrauch [von] der Beschränkung der Freizügigkeit« wie der Unterbringung in Internierungslagern zu machen und auf »nur geringe Arbeitslust« mit »harten Strafen« zu reagieren. Die Folgen seien fatal. »Trotz des heimatlichen Elends bleiben die Arbeiter zu Hause, weil sie sich vor der Abwanderung nach Deutschland fürchten und keine Lust und kein Vertrauen dazu haben.« Angesichts dessen sollte zukünftig bei der Arbeiteranwerbung eine genaue Auswahl nach Fähigkeiten und körperlicher Beschaffenheit erfolgen und umfassend über Verdienst, Unterkunft, Lebensunterhalt und allgemeine Arbeitsbedingungen wie über die Einschränkungen bei der Rückkehr und der Freizügigkeit aufgeklärt werden. Versprechen, »die sich späterhin nicht verwirklichen lassen«, seien zu unterlassen. Die Beamten hätten zugleich vor Ort bei den Unternehmern darauf hinzuwirken, »die Arbeitsbedingungen für die Leute möglichst erträglich zu gestalten und für ausreichende Verpflegung, besonders in den ersten Arbeitswochen, Sorge zu tragen, da die Leute zum Teil ziemlich ausgehungert ankommen«. Erneut wurde seitens des Preußischen Kriegsministeriums Wert auf den Status der polnischen Arbeiter gelegt. »Bei allen Maßnahmen ist darauf bedacht zu 232 Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, S. 241–245. 233 Reichskanzler (RAdI, gez. i. A. Lewald) an u. a. d. preuß. Minister d. Innern, 5.4.1916, in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 83 u. Preuß. KM, betr. Heranziehung von Arbeitern aus d. besetzten russischen Gebieten, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, April 1916, (Ent. zur Prüfung) in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 62 ff. u. GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751.
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nehmen, dass es sich bei der polnischen Arbeiterschaft nicht um Gefangene handelt, sondern um Leute, die sich freiwillig als freie Arbeiter haben anwerben lassen, denen also Erleichterungen […] zugebilligt werden müssen.«234 Zu diesen sollten die Wahl von Vertrauenspersonen in den Betrieben, die im Falle von Streitigkeiten mit den Arbeitgebern zu schlichten hätten, die Zahlung von Familienunterstützungen nach den besetzten Gebieten und die Gewährung von Urlaub zählen.235 Im Preußischen Ministerium des Innern stießen diese Richtlinien auf breite Ablehnung.236 Die Militärbehörden, so die dort vorherrschende Meinung, mischten sich in Angelegenheiten der preußischen Staatsverwaltung und des Chefs der Zivilverwaltung beim Generalgouvernement Warschau ein. Die nicht abgestimmten und nicht normierten Anwerbungen seien längst beendet. »Die im Inlande üblichen Arbeitsbedingungen für russische Arbeiter sind unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht nur als erträglich, sondern, insbesondere in industriellen Betrieben, geradezu als glänzend zu bezeichnen«, verteidigte sich der preußische Innenminister. Alle Beschwerden hätten sich als unbegründet herausgestellt. Gegen die Vertrauensleute, »die eine berufliche Organisation der russischen Arbeiter darstellen oder vorbereiten könnte[n]«, wandte er »ernsteste Bedenken« ein, da es »jenen Arbeitern an der sittlichen und kulturellen Reife« fehle. Für Streitschlichtungen sollten weiterhin die Gewerbeaufsichtsbeamten und die Landräte zuständig sein. »Den Krieg zum Ausgangspunkte sozialpolitischer Neuerungen und in ihrer Wirkung unübersehbarer Versuche auf dem Gebiete des Arbeiterrechts zu machen, erachten wir für bedenklich.« Der Innenminister beharrte auf der sozialen Abstufung zwischen deutschen und ausländischen Arbeitern. Vertreter seines Ministeriums sahen vielmehr die Situation in Oberschlesien als ein Vorbild an.237 Dort sei die Arbeiterfrage »glänzend geregelt«. Denn neben den Kriegsgefangenen würden »etwa 25.000 Polen beschäftigt, die eine privilegierte Stellung einnähmen«. Die Militärverantwortlichen bestanden auf ihrer Zuständigkeit. »Die Versorgung der Kriegswirtschaft mit Arbeitskräften, die produktivste Verwendung 234 Preuß. KM, betr. Heranziehung von Arbeitern aus d. besetzten russischen Gebieten, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, April 1916, (Ent. zur Prüfung) in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 62 ff. u. GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 235 Die Gewährung von Urlaub hing laut dem Direktor des Reichsamts des Innern im entscheidenden Maße davon ab, ob die Arbeiter/innen aus dem Generalgouvernement Warschau oder dem Generalgouvernement Lublin, das der österreichisch-ungarischen Armeeverwaltung unterstand, stammten. Ihre Rückkehr in das Deutsche Reich konnte nur im deutschen Besatzungsgebiet sichergestellt werden. Siehe: Theodor Lewald, 95. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 13.10.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 880–884, hier S. 882. 236 Preuß. Minister d. Innern an d. stv. Kriegsminister, 12.5.1916, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 43 ff. u. in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 237 Ergebnisprotokoll, Besprechung im RAdI, 14.4.1916, in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 199–209.
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jedes Einzelnen und die Fernhaltung jeder Störung dieses Zustandes stellen eine Grundlage der Kriegsführung dar«, antworte Ernst von Wrisberg im Namen des Berliner Kriegsministeriums.238 Der Krieg hätte die verantwortlichen Instanzen vor eine »Neuheit der sozialen Verhältnisse« gestellt, für die es keine »Friedenserfahrungen« gebe. Er wich von der normativen Gleichstellung der Arbeiterschaft keineswegs ab. Im Vorentwurf zu den Richtlinien betreffend die Verwendung von Arbeitskräften aus Polen in der deutschen Kriegswirtschaft hieß es in Paragraf 1 unmissverständlich: »Durch eine Erklärung des General-Gouvernements Warschau an diejenigen Polen, die in der deutschen Kriegswirtschaft tätig sind, wird darauf hingewiesen werden, daß sie so zu behandeln sind, als ob sie vaterländischen Hilfsdienst leisteten. Sie sind, sobald das Gesetz über vaterländischen Hilfsdienst in Kraft getreten ist, den deutschen Hilfsdienstpflichtigen gleich zu achten.«239 Obwohl dieser Passus im endgültigen Rundschreiben, dem sogenannten Polenerlass, gestrichen wurde, verweist er auf die umfassenden Anstrengungen des 1916 eingerichteten Kriegsamtes unter dem Leiter Wilhelm Groener.240 Die »Mobilmachung der Arbeit für Kriegszwecke und für die Zwecke der Volksversorgung«241 beseitige in den Kriegsplanungen Unterschiede und Hierarchien innerhalb einer internationalen Arbeiterschaft. Nationale Grenzziehungen sollten in der Kriegswirtschaft nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Die polnischen Arbeiter/ innen waren zu »wichtige[n] Glieder[n]« geworden. Die sozialpolitischen Maßnahmen sollten nun den »berechtigten Wünschen Hunderttausender Rechnung« tragen.242 Überdies gingen die Offiziere davon aus, dass »das Ministerium des Innern seinen Widerstand gegen Einwanderung jüdisch-polnischer Arbeiter aufgibt, da nach Aussage der Verwaltung von Russisch-Polen erhebliche Mengen kräftiger und arbeitswilliger jüdisch-polnischer Arbeiter inländischen Betrieben 238 Preuß. KM (gez. v. Wrisberg) an d. preuß. Minister d. Innern, Oktober 1916, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 52 ff. 239 Vorentwurf Richtlinien d. Preuß. KM (Kriegsamt), betr. Verwendung von Arbeitskräften aus Polen in d. dt. Kriegswirtschaft, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, 11.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84.a, Nr. 1751. 240 Preuß. KM, betr. polnische Arbeiter, 7.12.1916, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1024, Bl. 306– 309. 241 So die Worte des Staatssekretärs des Reichsamtes des Innern vor dem Reichshaushaltsausschuss. Siehe: Karl Helfferich, 113. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 23.11.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 1021–1049, hier S. 1023 (Herv. im Org.). 242 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Erfahrungen mit d. milderen Bestimmungen für polnische Arbeiter, 20.7.1918, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23190.
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verloren gehen«.243 Das Scheitern ihrer Anwerbung und Vermittlung in die Rüstungsindustrie, deren fachliche und körperliche Anforderungen sie vielfach als »ungelernte Arbeiter« nicht erfüllen konnten, verstärkte im Laufe des Krieges allerdings die vorhandenen Vorurteile ihnen gegenüber. Sie hätten nicht nur »die Erwartungen nicht erfüllt«, sondern sich »im allgemeinen als arbeitsunwillig, unsauber, moralisch unzuverlässig« erwiesen, und ihre Arbeitsleistung sei »unzureichend« gewesen, erklärte der preußische Innenminister, Bill Drews, den Landesbehörden.244 Sie würden über die Anwerbung versuchen, ins Deutsche Reich einzuwandern. Nach ihrem Grenzübertritt siedelten sie in die Großstädte über, »wo sie heute ein besonders schwer zu überwachendes und für die Kriegswirtschaft nur im geringen Maße nutzbar zu machendes Ausländer-Element bilden.« Er erblickte in ihnen eine gesundheitliche Bedrohung, die aus ihrer »nicht auszurottenden Unsauberkeit« erwachse. »Zum großen Teil verlaust, sind die jüdischpolnischen Arbeiter besonders geeignete Träger und Verbreiter von Fleckfieber und anderen ansteckenden Krankheiten.« Deshalb verweigerte er ab April 1918 ihre weitere Zulassung in Preußen. »Die bereits im Inlande befindlichen jüdischpolnischen Arbeiter sind, so gut es geht, in ihrer Beschäftigung zu belassen.« Was für Ausländer(/innen) spätestens seit dem Herbst 1915 reichsweit galt, trat für Inländer im darauffolgenden Jahr in Kraft. Unter dem zugrunde gelegten Leitgedanken der Obersten Heeresleitung – »wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«245 – initiiert und von heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Reichsadministration wie der Reichspolitik begleitet,246 verabschiedete die Reichstagsmehrheit am 2. Dezember 1916 das von Kompromissen getragene Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst. Jeder männliche Deutsche zwischen dem 18. und 60. Lebensjahr unterstand infolgedessen einer Arbeits- beziehungsweise Dienstpflicht »bei Behörden, behördlichen Einrichtungen, in der Kriegsindustrie, in der Land243 Stellungnahme d. Preuß. KM (gez. v. Wrisberg), 7.10.1916, in: Urkunden der Obersten Heeresleitung, S. 125 f. (Kap. II, Abt. 22). Umfassend zur Anwerbung und zum Lebensalltag ostjüdischer Arbeiter siehe: Salomon Adler-Rudel, East-European Jewish Workers in Germany, in: Leo Baeck Yearbook, Jg. 2 (1957), Heft 1, S. 136–165; Trude Maurer, Medizinalpolizei und Antisemitismus. Die deutsche Politik der Grenzsperre gegen Ostjuden im Ersten Weltkrieg, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 33 (1985), S. 205–230; Ludger Heid, Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914–1923, Hildesheim 1995. 244 Preuß. Minister d. Innern (gez. Drews) an u. a. d. Reg.-Präs., hier Bay. SMdI (gez. v. Knözinger) an u. a. d. Regierungen (KdI), 23.4.1918, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3. Das Sächsische Innenministerium übernahm die Erklärung und den daran anschließenden Anwerbestopp: Sächs. MdI an u. a. d. Sächs. KrhM u. AmhM u. d. Polizeidirektion Dresden, 23.5.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840. 245 Chef d. Generalstabes d. Feldheeres (gez. v. Hindenburg) an d. Reichskanzler, 13.9.1916, in: Urkunden der Obersten Heeresleitung, S. 67 (Kap. II, Abt. 1). 246 U. a. 113.–117. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 23.11.–28.11.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 1021–1092.
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und Forstwirtschaft, in der Krankenpflege, in kriegswirtschaftlichen Organisationen jeder Art« oder in Anstellungen »zum Zwecke der Kriegsführung oder der Volksversorgung«.247 Die damit verbundene Einschränkung der freien Arbeitsplatzwahl und die Geld-, aber auch Gefängnisstrafen bei Arbeitsverweigerung näherten Erfahrungsmomente der in- und ausländischen Arbeiterschaft weiter aneinander an. Die Gesetzgeber stellten den Pflichten gleichzeitig sozialpolitische Kompensationen zur Seite. Denn »[g]egen die Arbeiter«, so die feste Überzeugung Wilhelm Groeners, »könnten wir diesen Krieg überhaupt nicht gewinnen«.248 In der Folge drangen die Gewerkschaften durch die Einrichtung von Arbeiterausschüssen in Großbetriebe ein. Lohn- und Arbeitsverbesserungen der Arbeiter mussten als Grund für einen Arbeitsplatzwechsel, der von der Zustimmung des Arbeitgebers abhing, akzeptiert werden. Dieser Grundsatz sozialer Gegenleistungen sollte sich mehr und mehr auch für ausländische Arbeiter/innen durchsetzen. Ein öffentlicher Aufruf des Oberkommandos in den Marken an die ausländischen Arbeitskräfte skizzierte im März 1917 beispielhaft eine Kriegswirtschaftspolitik, die die Position der Arbeiter/innen nicht länger ignorieren konnte. »Angesichts der langen Kriegsdauer soll Euch Gelegenheit gegeben werden, wenn Ihr fleißig und gewissenhaft gearbeitet habt, auf Urlaub in die Heimat zu fahren, Eure Angehörigen zu besuchen und Eure häuslichen Angelegenheiten zu besorgen. […] Eine dauernde Rückkehr in die Heimat kann Euch jedoch nicht gewährt werden, […] da Eure Arbeit hier jetzt für die gemeinsame Sache wichtiger ist, und Ihr so Eurem Vaterland am besten dient. Jeder Versuch, die Arbeitsstelle ohne Erlaubnis zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren, sowie jede Überschreitung eines etwa in die Heimat gewährten Urlaubs, wird streng bestraft. Außerdem sind in den von uns besetzten Gebieten Polens Maßnahmen getroffen, dass alle solche Personen sofort auf ihre eigenen Kosten an die alte Arbeitsstätte zurückbefördert werden.«249 In väterlichem Ton anerkennend und drohend, umriss Gustav von Kessel eine Ordnung des Krieges, in welcher der Zwang eine nachgerückte Option darstellte.
247 Gesetz über d. vaterländischen Hilfsdienst, 5.12.1916, in: RGBl. 1916, S. 1333–1339. Umfassend zur Entstehung und Umsetzung des Gesetzes: Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung, S. 167–315 u. zusammenfassend Ders., Das Ende des Kaiserreichs, S. 88–116. 248 Bericht d. Hzgl. Sachsen-Meiningischen stv. Bevollmächtigten zum Bundesrat an d. Hzgl. SMin., betr. Unterrichtung durch Staatssekretär Helfferich u. Generalleutnant Groener, 9.11.1916, in: Militär und Innenpolitik, Bd. 1/I, Dok.-Nr. 198, S. 511–515, hier S. 513. 249 Aufruf d. Okdo. in d. Marken (in polnischer u. deutscher Sprache), 8.3.1917, in: HStA Dresden, 11348/2835, Bl. 70.
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Freiherr von Gayl hatte in diesem Sinne mit Blick auf die Arbeitgeber bereits eineinhalb Jahre zuvor der Regierung in Düsseldorf erklärt, dass es »nicht nur im Interesse der Allgemeinheit, sondern auch der Arbeitgeber selbst« läge, den »ausländischen Arbeitern den Aufenthalt möglichst so zu gestalten, daß ein Anreiz auf Zuzug ausgeübt wird und daß sie sich in den Betrieben wohl fühlten«.250 Ausgehend vom Kriegsamt im preußischen Kriegsministerium ergriffen Militärbefehlshaber unter dem Eindruck, dass diese Prämisse missachtet wurde, oftmals Maßnahmen, um die Arbeitsbedingungen für ausländische Arbeiter zu verbessern, ihre »Arbeitsfreudigkeit«251 zu erhalten wie zu erhöhen und dadurch ihre Produktivität zu steigern. Hierzu zählten Lohnerhöhungen und Deputatsvermehrungen sowie eine Angleichung der Löhne an die inländischer Arbeiter bei gleichen Arbeitsleistungen. Die Kontrolloffiziere der Gefangenenlager im Münsteraner Armeekorpsbezirk erhielten beispielsweise ausdrücklich die Anweisung, die angemessene Entlohnung der zivilen Ausländer/innen fortwährend zu überwachen.252 So sollten systematische Lohnabsenkungen seitens der Unternehmer verhindert werden. Diese ursprünglich von der Generalkommission der deutschen Gewerkschaft erhobene, eigennützige Forderung reichte weit in die Vorkriegszeit zurück,253 um inländische (ungelernte) Arbeiter/innen zu schützen und häufig angeprangerte Arbeitsmarktkonkurrenzen zwischen Aus- und Inländer/innen zu vermindern.254 Indes blieb eine vollständige Lohnangleichung ausländischer Arbeiter/innen während des Krieges bei großen regionalen Unterschieden ein nicht eingelöster Vorsatz, wie der polnische Reichstagsabgeordnete Wojciech Trąmpczyński (1860–1953) betonte.255 Eine finanzielle Gleichstellung galt ebenfalls bei der Anwerbung belgischer Arbeiter nach dem Ende der Zwangsdeportationen. Die Mitarbeiter des Kriegsamtes drängten darauf, angemessene Löhne und Zuschläge für Schwer- und Fach-
250 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 5.11.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15046, Bl. 83 f. 251 Preuß. KM, betr. ausländische Arbeiter, an u. a. d. stv. Gkdos., 29.9.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 2 ff. 252 Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 242. 253 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 304 f. 254 August Ellinger, Die Einwanderung ausländischer Arbeiter und die Gewerkschaften, in: Sozialistische Monatshefte 1917, S. 366–373. In Bayern galt für öffentliche Arbeiten seit 1901 dieses Gleichstellungsgebot. Siehe: Martin Forberg, Ausländerbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und gewerkschaftliche Sozialpolitik. Das Beispiel der Freien Gewerkschaften zwischen 1890 und 1918, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 27 (1987), S. 51–81. Beendet wurde im Zuge dessen ebenfalls die Lohnkonkurrenz ausländischer Arbeiter untereinander. Siehe: Ina Britschgi-Schimmer, Die wirtschaftliche und soziale Lage der italienischen Arbeiter in Deutschland. Ein Beitrag zur ausländischen Arbeiterfrage, Karlsruhe 1916, S. 170–176. 255 Wojciech Trąmpczyński, 200. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 17.1.1918, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 4, S. 1889–1894, hier S. 1889.
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arbeiter zu zahlen.256 Da Arbeitgeber dem Deutschen Industriebüro in Brüssel, das für Anwerbungen und Vertragsabschlüsse zuständig war, ihren Arbeitskräftebedarf und ihre Entlohnungsbedingungen mitteilen mussten, hatte das Büro wiederum Einfluss auf die in den Arbeitsverträgen ausgehandelten Löhne. Im Falle des Münchner Bauunternehmens Leonhard Moll wies Leutnant Wadler vom Industriebüro dessen Angebot schroff zurück, da darin auf eine Lohnmindestgrenze verzichtet wurde. »Wie wir Ihnen bereits wiederholt mitgeteilt haben, ist es ganz undenkbar, dass wir Ihnen für Aschaffenburg Arbeiter zu Frs. 0,75 beschaffen können«, erklärte er. »Damit kann ein verheirateter Arbeiter seine in der Heimat zurückgebliebene Familie unmöglich unterstützen. Wird den Leuten dann womöglich bei weniger guten Leistungen auch dieser Lohn noch gekürzt, so ist es auch nicht zu verwundern, wenn es Streitigkeiten gibt.«257 Die Planer im Kriegsamt und die Militärbefehlshaber richteten daneben ihr Augenmerk auf arbeitsrechtliche Maßnahmen. Ein zentrales Argument bei der Anwerbung im Generalgouvernement Warschau wurde die Gewährung von Urlaub. Dieser sollte seit den Wintermonaten 1917/18 einmal pro Jahr genehmigt werden, »soweit die Verkehrs- und Arbeitsverhältnisse es gestatten«.258 Im Falle einer Ablehnung war der Beschwerdeweg zulässig. »Gibt die erste Instanz der Beschwerde nicht statt, so sind die Akten dem stellvertretenden Generalkommando als Beschwerdeinstanz weiter zu reichen«, bestimmte in diesem Zusammenhang die Dresdner Militärbehörde.259 Ausländer in Industriebetrieben konnten darüber hinaus seit dem Winter 1916 Vertrauensleute wählen und die Schlichtungsausschüsse des Hilfsdienstgesetzes als Schiedsstellen anrufen. In vielen Armeekorpsbereichen war es ihnen erlaubt – gegen den Willen des Preußischen Staatsministeriums260 –, den deutschen Gewerkschaften beizutreten.261 Die Militärverantwortlichen erhofften sich davon eine 256 Preuß. KM (Kriegsamt, gez. Pfauhler) an u. a. d. Kriegsamtsstellen München, Würzburg, Nürnberg, 5.9.1917, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, Kriegsamtsstelle, Bd. 28. 257 Deutsches Industriebüro (Leutnant Wadler) an d. Firma Leonhard Moll, 17.1.1918, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, Kriegsamtsstelle, Bd. 28. 258 Preuß. KM (Kriegsamt), betr. polnische Arbeiter, 21.11.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 59 f. 259 Bkm. d. stv. Gkdos. XII. AK, 16.3.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 21. 260 Protokoll Sitzung d. Staatsministeriums, 10.11.1916, in: Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Bd. 10: 14. Juli 1909 bis 11. November 1918, bearb. von Reinhold Zilch, Hildesheim 1999, Dok.-Nr. 181. 261 Bkm. d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Schaefer), 4.1.1917, (Abs.) in: Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Anl. 8 u. Preuß. KM (Kriegsamt, gez. v. Braun), betr. Beitritt von Ausländern zu d. deutschen Gewerkschaften, an d. Württ. KM, 3.8.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 828. Siehe gleichfalls: Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 304 f.
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leichtere Überwachung der Arbeiter als in Zusammenschlüssen »von Geheimbünden rein polnischer Zusammensetzung«.262 In der Landwirtschaft war es ihnen seit September 1914 gestattet, in den Gesindedienst einzutreten,263 und das über förmlich abgeschlossene Arbeitsverträge durchgesetzte Rückkehrverbot löste in der ersten Kriegshälfte vermehrt lediglich mündlich getroffene Vereinbarungen ab.264 Schließlich sollten reichsweit Eingaben in polnischer Sprache nicht grundlos von den deutschen Behörden abgewiesen werden dürfen.265 Obwohl die Militärbefehlshaber in öffentlichen Bekanntmachungen die bestehenden Ortswechselverbote aufrechterhielten, liberalisierten sie die Durchsetzung derselben. Nachweislich sollte in den Königreichen Sachsen und Württemberg seit 1917 der Gang zum Arzt, Apotheker oder zur Hebamme, ferner zu Postanstalten, Konsumvereinen, Wohlfahrtseinrichtungen und Privatgeschäften über Bezirksgrenzen hinweg geduldet werden, »um unnötige Härten zu vermeiden« und wiederum »im Interesse erhöhter Bereitwilligkeit der Polen zur Annahme von Arbeit in Deutschland«.266 Gleichzeitig seien die Geldstrafen bei leichten Übertretungen des Verbotes so zu bemessen, »dass sie von den Arbeitern auch bezahlt werden können«. Die Richtlinien des Kriegsamtes im Preußischen Kriegsministerium sahen außerdem vor, dass die stellvertretenden Generalkommandos neben reichsweiten Kontrollkommissionen ebenso Fürsorgestellen aufbauten, die die »befohlenen Erleichterungen« kontrollierten. In den Fürsorgestellen sollte ein »Vertreter der polnischen landwirtschaftlichen oder industriellen Arbeiter« mitwirken, und sie seien dafür verantwortlich, »die Unterbringung, Verpflegung, Entlohnung und Behandlung der in der Landwirtschaft und Industrie beschäftigten polnischen Arbeiter« auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen.267 Durch ihre Einrichtung 262 Preuß. KM (gez. v. Wrisberg) an d. preuß. Minister d. Innern, Oktober 1916, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 52 ff. 263 Erlass d. Preuß. MdI, 28.9.1914, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 8. 264 Zu den mündlichen Verträgen in Westpreußen siehe: Ober-Präsident d. Provinz Westpreußen (Berichterstatter: Regierungsrat Dr. Dolle) an d. Minister d. Innern u. Minister für Landwirtschaft, Domänen u. Forsten, 5.12.1914, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1135, 1. Adh. S Beiheft 2. Gleichwohl wurde Ende 1917 durch das Bayerische Kriegsministerium die Tatsache des Weiterarbeitens betont, für die keine förmlichen Verträge notwendig seien. Siehe: Bay. KM (Kriegsamt) an d. stv. Gkdo. III. bay. AK, 18.10.1917, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 155. 265 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Eingaben polnischer Arbeiter in poln. Sprache, an u. a. d. Württ. KM, 31.1.1918, in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 719. 266 Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen zu d. Befehl, betr. d. polnischen Arbeiter, d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 16.4.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 17 ff. u. für d. stv. Gkdo. XIII. AK, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1025, Bl. 19 f. 267 Preuß. KM (Kriegsamt), betr. polnische Arbeiter, 21.11.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 59 f. u. Entwurf d. Grundsätze für d. Behandlung d. polnischen Arbeiter, 15.10.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 262 f.
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wurden zudem polnischen Arbeiterinnen Erleichterungen »unter Berücksichtigung der bedrängten Lage von Mutter und Kind« in Aussicht gestellt.268 Ein Arbeitsamt für die Angelegenheiten der ausländischen Arbeiter, das der Kommandantur der Residenz Berlin angegliedert war, galt der Richtlinie womöglich als Vorbild. Unter dem Vorsatz »streng[,] aber gerecht« hatte es zum einen ihre »geordnete Arbeitsleistung« sicherzustellen. Zum anderen achteten dessen Mitarbeiter auf die »Vorsorge für ihre berechtigten Ansprüche« und gewährten nach ihrem Selbstverständnis »Schutz gegen Willkür«.269 Der Widerspruch gegen die Fürsorgestellen erfolgte unmittelbar. Besonders landwirtschaftliche Interessenverbände protestierten. Sie wollten sich Mitspracherechte und Befugnisse sichern.270 Die Heeresverwaltung hielt aber an ihrer ursprünglichen Konzeption fest und setzte diese durch. Sie sah sich gleichzeitig mit Widerständen aus den eigenen Reihen gegen die Möglichkeit des Gewerkschaftseintritts ausländischer Arbeiter konfrontiert. »Nichtdeutschen mit Ausnahme der Angehörigen neutraler Staaten ist der Zusammenschluß zu Verbänden und Vereinen verboten«, verfügte beispielsweise der Magdeburger stellvertretende Generalkommandeur, Alfred Freiherr von Lyncker, im Juni 1917,271 woraufhin der preußische Kriegsminister Hermann von Stein (1854–1927) ihn persönlich bitten musste, die »im Interesse der deutschen Kriegswirtschaft wünschenswert[en]« Grundsätze zu übernehmen.272 Im Bereich des IX. Armeekorps wurde polnischen Arbeiter/innen jedoch noch 1918 der Beitritt zum Deutschen Landarbeiter-Verband verboten.273 Die Ausführungsbestimmungen der einzelnen Generalkommandos zeitigten ebenfalls Kompromisse, indem sie weitreichende Ausnahmeregelungen beinhalteten. Die Ablehnung von Urlaubsanträgen blieb weiterhin möglich, »wenn begründeter Verdacht besteht, dass der betreffende Arbeiter den Urlaub erheblich überschreiten oder überhaupt nicht zurückkehren würde«.274 Eine »endgültige
268 Preuß. KM (Kriegsamt, gez. v. Marquard) an d. Reichskanzler (RAdI), 12.10.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 261. 269 Kommandantur d. Residenz Berlin (gez. Boehn) an d. Okdo. in d. Marken, 8.3.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 84 f. 270 Landeskulturrat an d. Sächs. MdI (Abt. III), 16.11.1917, in: HStA Dresden, 10736/3369, Bl. 156; Landeskulturrat an d. Sächs. MdI (Abt. für Ackerbau, Gewerbe u. Handel), 10.1.1918, in: HStA Dresden, 10736/3370, Bl. 49 f. u. Kriegsausschuss d. deutschen Landwirtschaft (gez. Mehnert) an d. Reichskanzler, Graf v. Hertling, 25.11.1917, in: BArch Berlin, R 1501/113716, Bl. 42 ff. 271 Bkm. d. stv. Gkdos. IV. AK, 19.6.1917, zit. nach: Geschäftsbericht des Deutschen Landarbeiter-Verbandes für die Jahre 1914–1919, Berlin 1920, S. 33. 272 Preuß. KM an d. stv. kommandierenden General d. IV. AK, 26.7.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 828. 273 Geschäftsbericht des Deutschen Landarbeiter-Verbandes, S. 34. 274 Erläuterungen u. Ausführungsbestimmungen zu d. Befehl, betr. d. polnischen Arbeiter, d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 16.4.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 17 ff.
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Rückkehr« blieb schließlich Arbeitsunfähigen und Arbeitern, die »eine gleichwertige Ersatzkraft« stellen konnten, vorbehalten.275 Als Phase einer liberaleren Politik gegenüber belgischen und polnischen Arbeiter/innen bezeichnet Friedrich Zunkel in seiner historischen Bewertung die Jahre 1917 und 1918.276 Auf den Fluren des Preußischen Kriegsministeriums stand diese im Sommer 1918 nicht in Frage. Im Gegenteil überwog die Wahrnehmung einer erfolgreichen Intervention zugunsten der »Arbeitsfreudigkeit«.277 Vielfach hätte sich eine »verständnisvolle Handhabung der Bestimmungen« gezeigt, die in einem »Erfolg« mündete. Allerdings bestünden in einigen Militärbezirken weiterhin »Vorurteile«, und die Maßnahmen würden nicht entsprechend »gewürdigt«. »Es kommen noch Bestrafungen sogar Freiheitsstrafen zur Erzwingung der Verlängerung abgelaufener Arbeitsverträge vor, ferner Misshandlung und Nahrungsentziehung bei nicht ausreichender Arbeitsleistung.« Die Berliner Ministerialvertreter sahen sich infolgedessen erneut gezwungen, ein Umdenken einzufordern. »Falsche Behandlung und ungenügender Lohn bei angespannter Arbeit verbittern den Polen auf die Dauer, machen ihn unruhig und arbeitsunlustig und treiben den noch politisch unreifen in die Hände der polnischen Agitatoren.« Neben den folglich stark voneinander abweichenden Verfahrensweisen und Ausführungen vor Ort blieb ebenso die Gesamtbilanz durchwachsen. Nach dem Ende der Zwangsrekrutierungen hielten die vermehrten ›freiwilligen‹ Anwerbungen in den besetzten Gebieten an, während zugleich die Zahl der Arbeitsverweigerungen und Kontraktbrüche stieg.278
Eigensinn und Widerstand Heeresführung, Kriegsamt und stellvertretende Generalkommandos griffen mit ihren Interventionen in die rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern ein. Sie begaben sich in eine prekäre Vermittlerposition, an die beide Seiten vielfältigste Klagen herantrugen. Unbotmäßigkeiten, geringe Arbeitslust, zu hohe Entlohnungen und zu häufige Arbeitsplatzwechsel beklagten die einen, während die anderen eine schlechte und unwürdige Behandlung, offene Verachtung, geringe Löhne und nicht ausreichende Kost kritisierten. Kursorische Einblicke eines staatlichen Beobachters in die wahrgenommenen Schwierigkeiten, mit denen sich Unternehmer, die feindliche Ausländer angeworben hatten, konfrontiert sahen, geben die Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte. Sie verschweigen überdies nicht die Einstellungen und Vorurteile ausländischen Arbeitern gegenüber. 275 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden d. Korpssbezirks, 2.5.1918, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/4. 276 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 302–310. 277 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Erfahrungen mit d. milderen Bestimmungen für polnische Arbeiter, 20.7.1918, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23190. 278 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 302–310.
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In der oberschlesischen Industrie bestanden die Belegschaften durchschnittlich aus 10 bis 15 Prozent russländisch-polnischen Arbeitern, die aus dem Gebiet des besetzten Generalgouvernements Warschau stammten.279 »Bei den Mühen und Kosten, welche den Werken durch die Anwerbung […] erwuchsen, war es für die Arbeitgeber von besonderer Wichtigkeit, möglichst brauchbare Arbeitskräfte aus diesen Arbeitern heranzubilden«, gaben die Gewerbebeamten zu bedenken. Als Hürden offenbarten sich die »dürftigen Verhältnisse«, unter denen sie gelebt hatten, und ihre zum Teil fachfremden Berufe. Obgleich Arbeitgeber durch »kräftige und reichliche Verpflegung die Unterernährung zu beheben« versuchten und oftmals inländische Arbeiter und Meister polnische Sprachkenntnisse besaßen, hätten sich weitere Hindernisse aufgetan, die einem »einigermaßen vollwertigen Ersatz für die deutschen Arbeiter« im Wege stünden. Zum einen sei die »wesentlich geringere Kulturstufe« der Arbeiter von Bedeutung gewesen, »die sich besonders in mangelndem Ordnungssinn, gänzlich fehlendem Verantwortungsgefühl und Abneigung gegen regelmäßige Arbeit bemerkbar machte«. Zum anderen »gehörte ein großer Teil der Arbeiter, die meist jüdischer Religion waren, allen jenen Berufen an, die den kulturell tiefstehenden russisch-polnischen Juden eigen« seien. »Diese Leute gaben naturgemäß für eine einigermaßen körperlich anstrengende Tätigkeit die ungeeignetsten Arbeitskräfte ab und waren für Arbeiten, bei denen sie hohen Wärmegraden ausgesetzt waren, für den Transport schwerer Lasten, für staubige und weniger angenehme Arbeit nicht zu haben und nicht zu gebrauchen.«280 Die Schilderungen der schlesischen Gewerbebeamten entwarfen ein desaströses Bild der ausländischen Arbeitskräfte. Ihre wirtschaftliche Eingliederung in die Industrie erschien als ein ressourcenintensives Wagnis, das soziale und kulturelle Konflikte mit sich brachte. Ganz ähnlich schätzten die Beamten die Situation im nordrhein-westfälischen Regierungsbezirk Arnsberg ein. Dort waren Arbeiter aus den russländischen und belgischen Okkupationsgebieten beschäftigt. »Mit den ausgebildeten Facharbeitern war man vielfach zufrieden, insbesondere auch mit den Bauhandwerkern, während die früheren Textilarbeiter und die ungelernten Arbeiter wohl mit Grund wenig beliebt waren. Sie wurden als kraftlos und leicht zum Alkoholgenuß geneigt geschildert, auch wurde über Fehlen nach den Zahltagen und über ihre Vorliebe für häufigen Wechsel der Arbeitsstelle geklagt.«281
279 Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte 1914–1918, S. 470 f. (Regierungsbezirk Oppeln). 280 Ebd. 281 Ebd., S. 814 (Regierungsbezirk Arnsberg).
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In Berlin wurden diese Erfahrungen geteilt. Unternehmer hätten oftmals »über anmaßendes Betragen, Trägheit und Verdacht der Spionage zu klagen gehabt«.282 Viele Arbeiter seien aus Russisch-Polen und Galizien nach Berlin gekommen, und vor allem »zahlreiche Israeliten« hätten überwiegend Handwerksberufe »(Schneider, Tabakarbeiter, Schuhmacher, Sattler, Friseure, Buchdrucker usw.)« ausgeübt. Die Berliner Beamten legten dar, dass die »mit ihnen gemachten Erfahrungen […] nicht immer erfreulich gewesen« seien. »Sie wechselten gern die Arbeitsstätte, waren oft aufsässig und unbescheiden und gingen schließlich vielfach zum Handel über.«283 Die Posener Inspektoren fügten diesem negativen Bild weitere Aspekte hinzu, indem sie berichteten, dass die Arbeiter, neben »anmaßenden« Lohnforderungen, »bei der Anwerbung falsche Angaben über ihre Fähigkeiten [machten], die sich später als falsch oder als stark übertrieben erwiesen«. Bei der Arbeit seien die Ausländer »lässig« aufgetreten, »verlangten oft Heimaturlaub und waren nicht selten unehrlich«. Schließlich beobachteten die Beamten in ihrem Inspektionsbereich vereinzelte Versuche, »Mitarbeiter in bolschewistischem Sinne zu beeinflussen«.284 Das Klagenpanorama verdichtete sich in weiteren Berichten der Gewerbebeamten. Besonders die mangelnde Arbeitsleistung stellte einen wiederkehrenden Topos dar.285 Aufgrund dessen galten ausländische Arbeiter für die Inspektoren nur als ein temporärer Ersatz für Inländer. Sie entsprachen den kriegswirtschaftlichen Erwartungen nicht, weil sie sich als ausländische, fachfremde und (schwer-) industrieferne Arbeitskräfte nicht nur der unternehmerischen Kontrolle zu einem gewissen Grade entzogen, sondern ebenfalls den Argumenten und Logiken des Krieges gegenüber gänzlich unempfänglich waren. Es war nicht ihr Krieg, und die Arbeiter versuchten vor dem Hintergrund einer hohen Mobilitätsbereitschaft gewiss, neben dem alltäglichen Auskommen für sich und ihre Familien, einen finanziellen und persönlichen Gewinn unter den Kriegsumständen zu erzielen. Die Arbeitsleistung fungierte in den Gewerbeberichten als ein bedeutsames Unterscheidungsmerkmal zwischen In- und Ausländer/innen. Die Inspektoren suchten gleichwohl nur selten nach Gründen für die wirtschaftlichen Enttäuschungen und die geringe Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Über die Interpretation einer soziokulturellen Verschiedenartigkeit der Arbeitskräfte hinausgehend, legen einige Berichte die Deutung nahe, dass die Gewerbebeamten eine Mitschuld für die unbefriedigende Situation bei den Arbeitgebern sahen, die einen falschen Umgang mit den ausländischen Staatsangehörigen pflegten. Einzig die Kontrolleure aus dem Bezirk Liegnitz skizzierten darüber hinaus einen weiteren 282 Ebd., S. 225 (Landespolizeibezirk Berlin). 283 Ebd., S. 214 (Landespolizeibezirk Berlin). 284 Ebd., S. 329 (Regierungsbezirk Posen). 285 Ebd., S. 70 (Regierungsbezirk Potsdam), S. 1223 (Oberbergamtsbezirk Breslau), S. 1255 (Oberbergamtsbezirk Halle), S. 1421 (Oberbergamtsbezirk Dortmund).
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Erklärungsmoment für die ungenügenden Leistungen, indem sie die schlechte Ernährungssituation der Arbeiter zu bedenken gaben.286 Das Verhalten und die Handlungsspielräume ausländischer Arbeiter/innen unter den zuvor skizzierten Rahmenbedingungen erschließen sich zu einem großen Teil lediglich aus solchen Berichten und Behördenüberlieferungen. Die gegenwärtigen Betrachter werden hierbei mit Fragmenten konfrontiert, die selektive und akteursabhängige Beschreibungen über die Arbeitskräfte enthalten. Die Überlieferungen geben selten regelhafte und akzeptierte Verhaltensweisen wieder. Stattdessen enthalten sie gebrochene Erwartungen und daran anschließende Vorschläge und Forderungen, um erfahrene Missstände zu beheben. Eingaben, Denkschriften und Berichte sollten demnach weitere Akteure von den gewonnenen Einsichten überzeugen, zurückliegende Handlungen unter Umständen legitimieren und Reaktionen anstoßen. Diese verästelten Zugänge zu vergangenem Handeln illustriert exemplarisch ein im Staatsarchiv zu Hamburg überlieferter Brief des Polizeikommissars Bernhard.287 Der Polizeikommissar unterrichtete am 9. Februar 1916 den stellvertretenden Generalkommandeur in Altona über zurückliegende Geschehnisse auf dem Gute Heinrich Freiherr von Ohlendorffs (1836–1928). Dort weigere sich der 25jährige Tomasz Janiaczyk, der bereits seit mehreren Jahren in den Diensten von Ohlendorffs gestanden hatte, seinen Arbeitsvertrag zu verlängern. Er hätte dem Kommissar gegenüber erklärt, dass er sich Arbeit in einer Pulverfabrik aufgrund des dort höheren Verdienstes suchen wolle. Trotz der daraufhin ausgesprochenen, mehrmaligen Androhung weitreichender Konsequenzen, wie seiner Internierung als lästiger Ausländer, beharrte Janiaczyk auf der Nichtunterzeichnung. »[E]r sei auf alles vorbereitet«, erwiderte er in »ziemlich aufgeregtem Zustande« den drängenden Staatsbeamten und dem Inspektor des Gutsbesitzers Schwarck. Die ablehnende Haltung Janiaczyks äußerte sich keineswegs nur im konfrontativen Gespräch. Der Polizeikommissar konnte weitere Strategien des Saisonarbeiters vermerken, von denen ihm der zuständige Inspektor berichtet hatte. Aus zweiter Hand erläuterte er gegenüber dem Generalkommandeur, dass Janiaczyk »auch die übrigen Russen auf dem Hofe aufwiegeln würde. Er habe des längeren schon in seiner Arbeit sehr nachgelassen, weigert sich, beim Vorarbeiter zu essen, und macht sonst alle möglichen Ausstellungen, die früher auf dem Hofe gar nicht vorgekommen seien.« Der ratlos wirkende Polizeikommissar verfolgte die Absicht, den Generalkommandeur zu unterrichten und von ihm weitere Instruktionen zu erhalten. Das geschilderte Verhalten des Saisonarbeiters diente ihm zunächst als Mittel, die angespannte Situation auf dem Gutshof und die Dringlichkeit einer Entscheidung 286 Ebd., S. 452 (Regierungsbezirk Liegnitz). 287 Polizeikommissar Bernhard/Landherrenschaft d. Geestlande an d. stv. Gkdo. IX. AK, 9.2.1916, in: Lebenswelten im Ausnahmezustand, S. 108 f.
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in einem plausiblen Bericht darzulegen. Letztlich sei eine Weiterbeschäftigung ausgeschlossen, und die Internierung sei dem Arbeiter mehrmals angedroht worden. Die Beschäftigung in einem Rüstungsbetrieb war Ausländern untersagt und somit ein Arbeitsplatzwechsel Janiaczyks in die Industrie im hiesigen Polizeibezirk ausgeschlossen. Ob das Niedergeschriebene des Kommissars dem mündlich Übermittelten des Inspektors entsprach, wird verborgen bleiben. Ebenso ist ungewiss, ob Schwarck alle Strategien Janiaczyks identifizieren konnte. Das Konsultieren eines Dolmetschers verdeutlicht, dass ihm die Gesprächsinhalte innerhalb der Gemeinschaft der Saisonarbeiter verschlossen waren. Ebenso wird der dargelegte Umstand der Verweigerung nur chiffriert ausgeführt. Wie äußerte sich das Aufwiegeln der Anderen oder das Nachlassen beim Arbeiten? Um welche zuvor nicht aufgetretenen »Ausstellungen« handelte es sich? Informiert der Brief auf den ersten Blick über das eigensinnige Verhalten des Arbeiters, so verschiebt sich der Fokus vor diesem Hintergrund auf dessen Absender. Der Polizeikommissar nahm die Weigerung zur Vertragsunterzeichnung und das subtile, abweichende, individuelle Verhalten Janiaczyks als Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahr. Er begegnete der drohenden Unordnung anscheinend mit mehreren Unterredungen, in denen er dem Verweigerer »üble Folgen« androhte. Reden und Drohen waren die primären Instrumente des Kommissars. Als diese Strategie scheiterte und dem Saisonarbeiter eine Weiterbeschäftigung seitens des Gutsinspektors versagt worden war, entzog er ihm seine Arbeiter-Legitimationskarte, den Meldeschein und den Pass. Daraufhin wandte sich der Kommissar hilfesuchend an den stellvertretenden Generalkommandeur. Der Krieg eröffnete allen drei Parteien neue Spielräume. Der landwirtschaftliche Arbeiter hatte die Aussicht, gegen die Bestimmungen eine Tätigkeit in der Industrie aufzunehmen. Der Gutsinspektor konnte ausländische Arbeiter über die Wintermonate beschäftigen und für den kommenden Sommer an sich binden. Dem Kommissar bot sich nun die Möglichkeit, mit der Internierung zu drohen und als weiteren Akteur den Militärbefehlshaber anzurufen. Letzterer erfuhr hierbei nicht nur von dem Verhalten des Arbeiters. Er bekam ebenso dargelegt, welche Folgen ein zugespitztes Gehaltsgefälle zwischen Industrie und Landwirtschaft unter den Saisonarbeitern zeitigen konnte. Trotz dieser Perspektivverschiebung kann das selbstbezogene Handeln Tomasz Janiaczyks als Ausgangspunkt eigensinniger und widerständiger Verhaltensweisen gelesen werden, die nicht in Vergessenheit geraten sollten ob der beängstigenden Drohkulisse. Allein das asymmetrische Machtverhältnis zwischen ihm und dem Arbeitgeber wie dem Polizeibeamten hinderte ihn nicht an seinem Tun. Zwischen den Handlungspolen Arbeiten und Arbeitsniederlegung, Zustimmung und Widerstand versuchte er, seine Interessen durchzusetzen. Er wollte andere Saisonarbeiter von seinen Überlegungen und seinem Verhalten überzeugen. Gegenüber Vorgesetzten und dem Arbeitgeber hoffte er, sich durch langsameres Arbeiten, die
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Verweigerung gemeinsamen Essens und weitere Scharmützel durchzusetzen. Er zeigte sich gegenüber den staatlichen Akteuren impulsiv und unbeeindruckt von deren Mahnungen. Nie konnte er sich gewiss sein, wann er zu viel wagte, sich Handlungsspielräume schlossen oder neue auftaten. Er musste seine Möglichkeiten innerhalb dieser Akteurskonstellation austesten. Nicht anders erging es dem Polizeikommissar. Auch er konnte nicht wissen, welche Drohung zur Vertragsunterzeichnung, welche Maßnahmen zum Ziel führten und welche Konsequenzen ein Scheitern für ihn persönlich bedeutete. Im Polizeibezirk des Kommissars Bernhard war Tomasz Janiaczyk kein Einzelfall. Ein halbes Jahr nach seiner Weigerung entschlossen sich 16 »russische Saisonarbeiter und Arbeiterinnen«, die auf dem Gut Wohldorf beschäftigt waren, die Arbeit niederzulegen. Sie protestierten, so Bernhard in einem Brief an den Altonaer Generalkommandeur, gegen die Arbeit an Sonn- und Feiertagen.288 Der Ausstand der Vielen stellte den Verwalter des Gutes und den Polizeikommissar vor weitreichende Probleme. Denn während der Barometerstand sinke, müsse »bestes Kleeheu« von den Feldern eingebracht und trocken gelagert werden. Die in der Vorkriegszeit angeworbenen ausländischen Arbeiter/innen hätten des Öfteren zum Mittel des Ausstandes gegriffen. Aber stets sei es dem Polizeikommissar gelungen, sie umzustimmen. Er setzte gleichwohl die bisher angewandte, erfolgreiche Strategie der drohenden Rede nicht fort. »Der Un[t]erzeichnete gab den in den Walddörfern stationierten Wachtmeistern den Befehl, gemeinschaftlich nach dem Gute sich zu begeben und die Saisonarbeiter mit Gewalt zur Arbeit anzuhalten.« Am Nachmittag desselben Tages konnte er sich dann vom Erfolg seiner Maßnahme überzeugen. »[D]ie Saisonarbeiter [waren] mit einigen deutschen Soldaten und anderen Arbeitern des Gutes auf dem Felde fleißig beim Einfahren beschäftigt.«289 Mit diesem Resultat gaben sich der Polizeikommissar und der Gutsverwalter allerdings nicht zufrieden. Beide waren der Meinung, dass Strafen für die Verweigerungshaltung notwendig seien. »Nach meiner Ansicht«, führte der Kommissar aus, »müssen der Vorarbeiter Jan Gurka, der vor allen Dingen die Pflicht gehabt hätte, seine Leute zur Arbeit heranzuziehen, diese indes davon abgebracht hat, und die Arbeiter Felix Wiaderny und Marianne Karbownik, die sich besonders renitent zeigten, eine Strafe erfahren.« Bernhard und der Gutsverwalter lehnten gleichwohl eine Internierung in Holzminden aufgrund des bestehenden Arbeitskräftemangels ab. Deshalb schlug der Polizeibeamte vor, »die 3 vorstehend genannten Personen 8 Tage bei Wasser und Brot in Arrest zu nehmen«. Der Polizeikommissar griff nicht nur in einen Arbeitskonflikt ein. Er wollte mit seiner Strafforderung zukünftige Auseinandersetzungen frühzeitig unterbinden. 288 Polizeikommissar Bernhard/Landherrenschaft d. Geestlande, an d. stv. Gkdo. IX. AK, 24.7.1916, in: Lebenswelten im Ausnahmezustand, S. 110 f. 289 Ebd.
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Die Anforderung militärischer Hilfe, um Arbeitsniederlegungen zu beenden, stellte keine Ausnahme dar. Aber die Motive der Arbeiter/innen konnten durchaus unterschiedlich sein. Protestierten die in Wohldorf Arbeitenden gegen Feiertagsarbeit, forderten die auf dem sächsischen Klostergut Nimbschen Beschäftigten im April 1916 höhere Löhne.290 In beiden Fällen argumentierten die Arbeitgeber mit einer drängenden Ackerbestellung gegen den Ausstand. Diesen beendete nicht ein Kompromiss zwischen den beiden Parteien, sondern der Militäreinsatz, der somit soziale Forderungen unterdrückte. Nicht die Vorstellungen und Möglichkeiten der Arbeitgeber und Polizeibeamten, sondern der Mangel an Arbeitskräften verhinderte eine weitgehendere Bestrafung der Streikenden. Die Militärbefehlshaber hatten zur gleichen Zeit ebenfalls die Landwirte und Unternehmer bei Arbeitsniederlegungen im Blick. Der bayerische stellvertretende Generalkommandeur von der Tann ermahnte im April 1917 die Polizeibehörden, darauf zu achten, dass Arbeitgeber die Möglichkeit, widerständige Arbeiter in ein Gefangenenlager zu überweisen, »nicht dazu benützen, sich auf billige Weise Arbeitskräfte zu verschaffen«.291 Er appellierte infolgedessen an die Beamten vor Ort: »Das gute Einvernehmen und Zusammenarbeiten der grundsätzlich freien polnischen Arbeiter und der Arbeitgeber muss die Regel bilden und in jeder Weise gefördert werden. Die Massnahme ist lediglich für den äussersten Notfall vorgesehen, d. h. dann, wenn andere Mittel, den Arbeiter zur Ordnung zu bringen, versagen.« Die Offiziere der oberbayerischen Militärbehörde entwarfen wohl aufgrund von Unstimmigkeiten mit Arbeitgebern ein Merkblatt für sie.292 Es informierte über das angemessene wie erwartete Verhalten gegenüber den ausländischen Beschäftigten und rückte die »Persönlichkeit des Arbeitgebers« in den Mittelpunkt. »Die feindlichen Ausländer, die in Deutschland den Lebensunterhalt für sich und vielfach auch für ihre Angehörigen im besetzten Gebiet verdienen, leisten unserm Vaterlande einen Dienst, da sie seine Landwirtschaft und Industrie fördern.« Um sie »möglichst zufrieden und arbeitsfreudig zu erhalten«, komme es auf den richtigen Umgang mit ihnen an. Deshalb sei es einerseits »durchaus unrichtig, in Leuten, die sich freiwillig zur Arbeit bei uns verpflichtet haben, in erster Linie den feindlichen Ausländer zu sehen, und ihm dies bei jeder Gelegenheit zum Bewußtsein zu bringen«. Andererseits solle bei einer solchen Integration in das Wirtschaftsleben weiterhin die Gewissheit der Arbeiter/innen stehen, »daß Arbeitsscheue und Widersetzlichkeit auf das strengste geahndet werden«. Schließlich sei eine »gebotene Vorsicht« nicht außer Acht zu lassen. 290 Sächs. KrhM Leipzig an d. Sächs. MdI, 5.6.1916, in: HStA Dresden, 10736/3363, Bl. 14 f. 291 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 21.4.1917, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3. 292 Merkblatt für Arbeitgeber, die Ausländer (feindliche und nichtfeindliche) beschäftigen, o.D. [Frühjahr 1918], in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo I. bay. AK, 1364.
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Das prekäre Abwägen zwischen Zwang und Anreiz, das die Reichsleitung und die Heeresverwaltung bei ihren Entscheidungen vollzogen, wurde auf die Arbeitgeber und ihren alltäglichen Umgang mit den Arbeiter/innen übertragen. Das bayerische Merkblatt verdeutlicht zugleich die schwierige Position der Militär- wie Zivilbehörden gegenüber den industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben. Ein Großteil des Arbeitsalltags entzog sich letztlich ihrem Einflussbereich. Erschwerend trat eine mögliche situative Dynamik der Sanktions- und Strafpraktiken hinzu, die sich zeigen konnte, wenn ausländische Beschäftigte sich weigerten, Tätigkeiten auszuführen, oder von den aufgestellten Regeln abwichen. »Die Entrechtung im Großen hatte […] die Unterdrückung auch im Kleinen zur Folge; die ausländischen Arbeiter wurden dann auch vom Aufseher verprügelt, von der Köchin ums Essen und vom Vorarbeiter um den Lohn betrogen«, gibt Ulrich Herbert zu bedenken.293 Militärverantwortliche versuchten, solchen »Entrechtungen« entgegenzutreten. Als Beispiel kann die Küchenordnung für gemeinschaftlich verpflegte ausländische Arbeiter im Münsteraner Armeekorpsbereich vom 22. August 1917 gelten. Da »[v]ielfach Klagen über die Beköstigung der von den Werken in Verpflegung genommenen Arbeitern aus dem Königreich Polen, die durch unangekündigte Besichtigung sich bestätigt haben«, an die Militärbehörde herangetragen worden seien,294 bestimmte der Militärbefehlshaber, dass ein Beamter des Werkes die Verpflegung organisieren müsse. Er versuchte, dem Missstand durch kleinteilige Regelungen zu begegnen. Die Köchin, »die auch wirklich Interesse für die Sache zeigt«, dürfe keine persönlichen Beziehungen zu diesem Beamten haben. Ein Komitee ausländischer Arbeiter solle überprüfen, ob die bestellten Nahrungsmittel für die Mahlzeiten Verwendung fänden, und das Küchenpersonal habe die Vorräte zu dokumentieren. Schließlich müsse es die gleiche Kost wie die Arbeiter/innen bekommen. »Unter keinen Umständen darf geduldet werden, daß für das Personal besonders gekocht wird.«295 Die verantwortlichen Offiziere setzten somit dem Zwang eine Mindestfürsorge entgegen, die eine uneingeschränkte Ausbeutung begrenzen sollte. Individuelle Sanktionen der Arbeitgeber, die das Strafmonopol des Staates in Frage stellten, führten zu weiteren Reglementierungen. Das Kriegsamt, das dem Berliner Kriegsministerium unterstellt war, mahnte im Sommer 1918 eigens an, dass die »Entziehung von Nahrung wegen Arbeitsverweigerung […] unzulässig« sei. Stattdessen sollten jene, »die hartnäckig die ihnen obliegende Arbeit verweigern, […] wegen des schädlichen Einflusses eines solchen Verhaltens auf die übrigen poln. Arbeiter« in Schutzhaft genommen und in ein Gefangenenlager überführt werden. Sie seien dort unter militärischer Aufsicht zu »unbezahlter 293 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 117. 294 Stv. Gkdo. VII. AK an u. a. d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 22.8.1917, in: LAV NRW R, BR 0007, 15005, Bl. 527. 295 Küchenordnung d. stv. Gkdos. VII. AK, 22.8.1917, in: LAV NRW R, BR 0007, 15005, Bl. 528.
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schwerer Arbeit« heranzuziehen. »Dieses Verfahren führt schneller zum Ziel als die Verhängung langfristiger Freiheitsstrafen, durch die ihre Arbeitskraft zu lange der Kriegswirtschaft entzogen wird.«296 Die militärisch vorgegebenen Verhaltensnormen, die Ausbeutungsgrenzen definierten, wurden folglich überschritten. »Zwangsarbeit setzt offenbar eine Art Eigendynamik frei,« interpretiert Ulrich Herbert diesen Prozess, »durch die einmal eingewöhnte Unterdrückungsmechanismen unten fortwähren und sich verschärfen, wenn sie aus der Perspektive der Initiatoren in den Entscheidungsgremien oben längst dysfunktional und administrativ korrigiert worden sind.«297 Obwohl Jochen Oltmer die Abweichungstendenzen zwischen den Vorgaben der Reichs- wie Landesbehörden und der Alltagspraxis bestätigt, kommt er bezüglich der Verschärfung der Zwangselemente im landwirtschaftlichen Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen zu einem gegenteiligen Schluss.298 Ihre Beschäftigung sei nicht durch eine Zunahme an Bewachungspersonal und Sanktionsmaßnahmen geprägt gewesen. Die landwirtschaftlichen Arbeitgeber forderten vielmehr aus ökonomischen Interessen eine Liberalisierung der Internierungspolitik. Mit der Einkehr der Kriegsgefangenen auch in kleinere Höfe beklagten die Militärbefehlshaber häufig zu laxe Überwachungsmaßnahmen und einen zu offenen Umgang mit den Gefangenen. Für die landwirtschaftlichen Saisonarbeiter bestätigte Lothar Elsner dieses Ergebnis.299 Seit 1917 hätten sich ihre Arbeits- und Lebensbedingungen nicht weiter verschlechtert. Wird den Argumenten in den Behördenüberlieferungen gefolgt, lag der hauptsächliche Grund für das Auseinanderdriften von reichsweiten Regelungen und lokalen Verfahrensweisen in der wahrgenommenen Fluchtbewegung zumeist russländisch-polnischer Arbeiter/innen nach ihrer Heimat beziehungsweise in häufigen Kontraktbrüchen im Angesicht eines akuten Arbeitskräftemangels. Mit diesem Verhalten stellten (zivile) Arbeiter/innen einen potenziellen Störfaktor im regulären Betriebsablauf dar. Die von Arbeitgebern eingeforderten Überwachungsmaßnahmen und werksseitige diesbezügliche Schritte sollten die Ausländer/innen kontrollierbarer machen, um die Produktivität der Unternehmungen zu gewährleisten und Gewinne nicht zu schmälern. Die Fluchtmotive waren wiederum vielschichtig. Neben der Hoffnung auf höhere Löhne, den schlechten Arbeitsbedingungen, der schwierigen Ernährungslage und dem privaten Wunsch nach einer Rückkehr in die Heimat galten die
296 Preuß. KM (Kriegsamt), betr. Maßnahmen bei hartnäckiger Arbeitsverweigerung polnischer Arbeiter, an u. a. d. Sächs. KM, 13.7.1918, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 78. 297 Ulrich Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß, S. 301. 298 Oltmer, Zwangsmigration und Zwangsarbeit, S. 135–168. 299 Elsner, Zur Lage und zum Kampf der polnischen Arbeiter, S. 187.
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schlechten Versicherungsleistungen300 und die verfallenden Rentenansprüche301 ebenso wie die »Furcht der Leute vor der zwangsweisen Aushebung zum polnischen Heere« als Grund.302 Mit der Proklamation des Regentschaftskönigreiches Polen im November 1916, der Revolution in Russland im Frühjahr 1917 und dem anschließenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 hatten polnische Arbeiter/innen zudem viele Anreize, in ihre Heimat zurückzukehren. »Wir werden ja darin übereinstimmen, dass man diesen feindlichen ausländischen Elementen gegenüber sehr vorsichtig sein muss, weil ihnen bekanntlich die politischen Aussichten Polens in den Kopf gestiegen sind«, beschwichtigte der Solinger Landrat den Geschäftsführer des Metallarbeiterverbandes nach Beschwerden über eine Firma in seinem Kreis.303 Nach »allgemeinen Beobachtungen« hätten ihre »Arbeitswilligkeit und Verträglichkeit ganz bedeutend« abgenommen. »Die Proklamation […] hat den polnischen Arbeitern zum Bewußtsein gebracht, dass sie nunmehr als feindliche Ausländer nicht länger betrachtet und behandelt werden dürfen und daher gegen ihren Willen an der Rückreise in ihre Heimat nicht gehindert werden könnten, sobald ihre Arbeitsverträge […] abgelaufen sind«, berichteten ebenso die Beamten der Sächsischen Amtshauptmannschaft in Meißen.304 Der daraufhin veröffentlichte Appell des Dresdner Generalkommandos, der an die gleichen Kriegsziele Deutscher und Polen erinnerte, dürfte ohne Weiteres verhallt sein.305 Die Deutsche Arbeiter-Zentrale registrierte vom 1. Oktober 1915 bis 30. November 1916 11.233 kontraktbrüchige, industrielle und landwirtschaftliche Arbeiter/innen. Vom 1. Oktober 1916 bis zum 30. November 1917 erhöhte sich diese Zahl vor dem Hintergrund gestiegener Anwerbungen auf 24.390 Personen, wobei von hohen Dunkelziffern auszugehen ist.306 Die vorgesehene Rückführung der nach dem Generalgouvernement Warschau Geflüchteten scheiterte oftmals. Dem Verwaltungschef wurden im Frühsommer 1917 2628 Kontraktbrüchige namhaft gemacht, von denen nur 394 aufgegriffen und nach Deutschland zurückgeführt werden konnten. 300 Dersch, Die zivilrechtliche Unternehmerhaftung aus Unfällen von feindlichen Kriegs- und Zivilgefangenen, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 23 (1918), Heft 19/20, Sp. 594–597. 301 Verband d. deutschen Berufsgenossenschaften an d. Staatssekretär d. Innern, 2.2.1916, in: BArch Berlin, R 3901/4163, Bl. 80 f. 302 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.) an d. General-Gouvernement Warschau, 21.1.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 819. Zu Arbeitsniederlegungen belgischer Arbeiter siehe: Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 256 ff. Zur Situation im Ruhrkohlenbergbau: Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 236–240. 303 Landrat d. Kreises Solingen (gez. Lucas) an d. Reichstagsabgeordneten Spiegel, 6.11.1917, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 15005, Bl. 521. 304 Sächs. AmhM Meißen an d. stv. Gkdo. XII. AK, 14.11.1916, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 260. 305 Bkm. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 19.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 5. 306 Elsner, Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches während des 1. Weltkrieges, S. 205 f.
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Der Kontraktbruch als arbeitsrechtlicher Schritt hatte für in- wie ausländische Arbeiter/innen eine lange Tradition. Richard Ehrenberg bezeichnete ihn 1907 gar als Massenerscheinung.307 »Daß die im Frühjahr angeworbenen Schnitter ausnahmslos ihre Kontrakte bis zum Herbste halten, gehört heute zu den seltenen Erscheinungen. Damit, daß einzelne Leute resp. Familien kontraktbrüchig werden, rechnet jeder Landwirt«, zitierte er einen von ihnen.308 »Man kann in jedem Jahr wenigstens einmal damit rechnen, daß die ganzen Schnitter sich in der Ernte zusammentun und eine Kraftprobe machen, ob sie nicht durch Streiken einen höheren Lohn als den im Kontrakt vereinbarten herausschlagen können«, gab ein anderer zu Protokoll.309 Die Landwirte und Gutsbesitzer warben sich die Beschäftigten nicht selten in einem steten Wettbewerb untereinander ab. Mit der Zulassung ungelernter Arbeiter aus agrarisch geprägten Lebenswelten für die Industrie kehrte dieses Arbeitskampfinstrument in Fabriken ein und wurde dort vor allem mit Zwangsmaßnahmen beantwortet. Einige Unternehmer erwogen vor dem Hintergrund häufiger Arbeitsplatzwechsel der ausländischen Arbeiter ihre Internierung auf dem Betriebsgelände. Einen Lernprozess stellte diese Überlegung allerdings kaum dar. Denn die zweckmäßige Unterbringung der Ausländer/innen und ihre Bindung an die Unternehmen hatte seit den ersten Kriegsmonaten eine wichtige Rolle gespielt. Mit der Forderung nach ihrer »geschlossenen Unterbringung« hatten Firmeninhaber im November 1914 oftmals auf die Bestimmungen der Militärbehörden reagiert, die eine Ausweisung feindlicher Ausländer/innen aus bestimmten Orten vorsahen. So plädierten die Leiter der Zellstofffabrik Waldhof und der Süddeutschen Juteindustrie für den Verbleib ihrer ausländischen Beschäftigten, um die Produktion aufrechtzuerhalten. »Sollte es erforderlich sein, so sind beide Firmen in der Lage, die betreffenden Leute in den beiden Fabriken zu internieren«, schlugen sie dem Badischen Innenministerium vor.310 »Bei der Zellstofffabrik Waldhof sind die russischen Arbeiter schon jetzt zum allergrössten Teil in geräumigen, eigens zu diesem Zwecke errichteten Schlafsäälen [sic] untergebracht. Bei der Süddeutschen Juteindustrie sind die männlichen Arbeiter in einem Arbeiter-Pavillon, die weiblichen in einem Mädchenheim untergebracht.« Eine polizeiliche Überwachung sei leicht zu organisieren, und die Firmenleiter seien bereit, die entstehenden Kosten zu tragen. Die sofortige Entlassung der Ausländer hätte ebenso die Stilllegung der Spiegelglasfabriken in Düsseldorf und die Entlassung inländischer Arbeiter bedeutet. Um dies zu verhindern, erwog der Landrat gegenüber der Düsseldorfer Militärbehörde 307 Richard Ehrenberg, Der Kontraktbruch der Landarbeiter als Massen-Erscheinung, Berlin 1907. 308 Ebd., S. 11. 309 Ebd., S. 16. 310 Zellstofffabrik Waldhof u. Süddeutsche Juteindustrie an d. Bad. MdI, 21.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23176.
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ebenfalls eine »Internierung der Ausländer an Ort und Stelle«. Wiederum waren die Betriebe bereit, die Kosten dafür zu übernehmen.311 Belgische Arbeiter der Spiegelglasfabrik Reisholz wurden daraufhin »in der Arbeiteransiedlung der Fabrik nach Art von Kriegsgefangenen gehalten«.312 Im Laufe des Jahres 1915, als die Fabriken Arbeiter/innen in polizeilich organisierten Internierungslagern und im besetzten Ausland anwarben, rückte der Faktor der Kontrolle der Beschäftigten in den Mittelpunkt. Der Direktor der Bügeleisenfabrik und Eisengießerei Carl Pack in Erkrath schrieb an den Bürgermeister der Stadt: »Unterzeichnete Firma beantragt hiermit die Erlaubnis zur Kasernierung der bei ihr beschäftigten und für die Dauer des Krieges in Arbeitskontrakt stehenden russisch-polnischen Arbeiter. In der letzten Zeit sind von 9 neuangeworbenen Leuten bereits 5 wieder flüchtig geworden und die andern haben offen erklärt, dass sie sich ihren kontraktlichen Verpflichtungen gleichfalls entziehen wollen.«313 Er versprach sich davon eine bessere Überwachung. Da die Arbeiter aber bereits in einem Gasthof untergebracht waren und ein Wachtmeister für die Überwachung sorgte, lehnte der Bürgermeister das Gesuch ab.314 Am Beispiel der zum Krupp-Konzern gehörenden Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen zeigt Ulrich Herbert, dass seit Juni 1915 der Landrat in Moers und die Betriebsleitung umfängliche Überwachungsmaßnahmen planten, zu denen die Errichtung eines Barackenlagers durch das Unternehmen und die Abstellung von Angestellten zur Bewachung zählten.315 Als sich im Juli 1916 die Kontraktbrüche häuften und von 900 ausländischen Arbeitern 80 flüchtig waren und dies auch seitens der Zivilbehörden auf die Unterbringung in Privatquartieren zurückgeführt wurde, beantragte der zuständige Bürgermeister von Hochemmerich beim Landrat die Einrichtung eines unternehmensinternen Lagers, das nun offenbar genehmigt wurde. Zur selben Zeit, als einzelne Arbeitgeber in Verhandlungen mit den lokalen Administrationen die Überwachung der Arbeiter organisierten, leistete die Nordwestliche Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller Lobbyarbeit. Sie teilte am 3. Oktober 1915 dem Regierungspräsidenten des Bezirks Düsseldorf ihre Erfahrungen mit der Anwerbung russländisch-polnischer Arbeiter mit.316 311 Landrat Düsseldorf (gez. Koenigs) an d. stv. Gkdo. VII. AK, 24.11.1914, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 71 f. 312 Landrat Düsseldorf an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 7.12.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14998, Bl. 80 f. 313 Bügeleisenfabrik und Eisengießerei Carl Pack an. d. Landrat Düsseldorf, 11.10.1916, in: LAV NRW R, BR 0017, 192-Bd.1, Bl. 180. 314 Bürgermeister Erkrath an d. Landrat Düsseldorf, 29.10.1916, in: LAV NRW R, BR 0017, 192-Bd.1, Bl. 180. 315 Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß, S. 294–300. 316 Nordwestliche Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 3.10.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15005, Bl. 12 f.
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Die Unternehmer der Schwerindustrie beklagten vor allem »das Betragen der Leute«. Arbeitsverträge würden nicht erfüllt, zahlreiche Fälle von »Unbotmässigkeit« und »Unverschämtheit« seien aufgetreten, und die Arbeiter hätten wiederholt die Betriebsmahlzeiten verweigert. »Ein solches Betragen der russischen Arbeiter legt uns nahe, die strengsten Massregeln gegen sie zu empfehlen[.]« Sie rechneten zu diesen ausdrücklich den Arbeitszwang. Die Forderung nach einer Einschränkung der Freizügigkeit der Arbeiter stellte hierbei keine Besonderheit gegenüber Ausländern dar. Rheinisch-westfälische, sächsische und schlesische Schwerindustrielle postulierten gerade auch für die deutsche Arbeiterschaft die Einführung der Arbeitspflicht oder des Arbeitszwanges, um Arbeitsplatzwechsel und Lohnsteigerungen zu unterbinden.317 Der Landrat des Kreises Blumenthal, an dessen Grenze die Bremer Vulkan-Werft lag, gelangte 1917 zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen bezüglich der Behandlung der russländischen »Zivilgefangenen«.318 Er nahm nicht die Perspektive eines gewinnorientierten Unternehmers ein, sondern sorgte sich um die öffentliche Sicherheit und die störungsfreie Rüstungsproduktion. Im Angesicht des Berliner Lebensmittelstreiks im April 1917 erkannte er in den ausländischen Arbeitern ein großes Bedrohungspotenzial. »Wenn die Ruhe in einem Industriebezirk von nahezu 35.000 Seelen in einer so gespannten Lage, wie dem gegenwärtigen Augenblick, mit 12 Gendarmen überhaupt aufrecht erhalten werden soll,« fasste er seine Überlegungen zusammen, »müssen vor allem die Zivilgefangenen der feindlichen Staaten zu unbedingtem Gehorsam und unbedingter Gefolgsamkeit gebracht werden.« Für den russländischen Schmied Ludwig Möller, der unter anderem von der Bremer Werft geflüchtet war, bedeutete dies letztendlich die Überführung in ein militärisches Internierungslager, nachdem er bereits durch die Zivilbehörden umfänglich überwacht und in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden war. Solche lokal gebundenen Erfahrungswege erfuhren durch Interessenverbände und im Falle Düsseldorfs durch die Weitergabe innerhalb der Verwaltungshierarchien eine breitere Aufmerksamkeit und wurden zugleich verallgemeinert. Der Landrat und die Betriebsleitung der Friedrich-Alfred-Hütte, die eine Internierung der Arbeiter vorgeschlagen hatten, bewegten sich innerhalb gleichartiger Erfahrungsräume und nicht zuletzt im Rahmen der Bestimmungen des kommandierenden Generals. Hatten die Regierungspräsidenten Ende 1915 im westfälisch-niederrheinischen VII. Armeekorpsbezirk Kasernierungen nicht als notwendig erachtet, weil genügend Privatherbergen, Wohnheime und angemietete Gasthaussäle zur Verfügung gestanden hatten,319 kam es im folgenden Frühjahr innerhalb der Militärbehörde zu einem Meinungsumschwung aufgrund dieser 317 Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung, S. 190–194. 318 Landrat d. Kreises Blumenthal (gez. Berthold) an d. Reg.-Präs. in Stade, in: 7.7.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 237 f. 319 Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 222 f.
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offenen Unterbringung. Freiherr von Gayl rügte im April 1916, dass Arbeiter ihre Aufenthaltsorte verlassen und sich »namentlich auch im Bereiche der Eisenbahnen […] umhertreiben«.320 Er wollte die daraus entstehende erhöhte Spionage- und Sabotagegefahr entschieden minimiert wissen. In seinen Augen hätte sich die »bisher mehrfach bewiesene Milde« nicht immer bewährt. Zwar solle am Grundsatz eines »möglichst angenehm[en]« Aufenthalts festgehalten werden, aber in den Ausführungsbestimmungen schlug er einen rigiden Ton an. »Endlich empfiehlt sich die Kasernierung der feindlichen Arbeiter, wo die Gelegenheit dafür vorhanden ist, im größeren Umfange als bisher durchzuführen, insbesondere bei den russisch-polnischen Arbeitern. Auch bin ich, wie dies schon in einzelnen Fällen geschehen ist, gern bereit, die Polizeiverwaltungen zu ermächtigen, über die Polizeistunde, den Besuch der Wirtschaften, den Besuch bestimmter Straßen usw. eine besondere Verordnung zu erlassen.«321 Inwieweit zeitgenössische kulturelle Vorurteile und national-politische Positionen Forderungen nach einer Internierung begünstigten, geht aus dem hier zugrundeliegenden Quellenkorpus nicht hervor. Die Wahrnehmung einer »geringeren Kulturstufe«322 polnischer Arbeiter stellte für Industrielle, Militär- und Zivilbeamte im Deutschen Reich kein niedergelegtes Argument dar. Um Internierungen zu veranlassen oder Strafmaßnahmen zu begründen, insistierten sie auf die kriegswirtschaftliche Bedeutung ihrer Unternehmen oder wiesen auf eine Gefährdung der Ruhe und Ordnung hin. Über mögliche Stereotype verantwortlicher, staatlicher Akteure gibt der Jahresbericht des Großherzoglichen Badischen Gewerbeaufsichtsamtes von 1911 Auskunft. Darin wurden beobachtete Charaktereigenschaften und wahrgenommene kulturelle Verschiedenheiten auf ethnische Unterschiede zurückgeführt. »In der Verwendbarkeit des Italieners und des Polen besteht ein in der Rasse begründeter wesentlicher Unterschied, der durch Verschiebungen in den letzten Jahren zum Ausdruck kommt. Der Italiener, frühreif und intelligent, zieht sich allmählich aus den Betrieben zurück, in denen nur an seine physische Kraft Ansprüche gestellt werden, und wendet sich den Stellen zu, in denen Handfertigkeit und Tüchtigkeit erforderlich ist; Fleiß und Nüchternheit berechtigen ihn hierzu. Nicht so der Pole; ihm ist Beschäftigung, die ein Mindestmaß von 320 Verordnung d. stv. Gkdos. VII. AK, 11.4.1916, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 184. 321 Erläuterung u. Ausführungsbestimmungen zur Verordnung vom 11.4.1916 d. stv. Gkdos. VII. AK, 11.4.1916, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 185. 322 Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte 1914–1918, S. 470 f. (Regierungsbezirk Oppeln).
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Denkarbeit verlangt, am liebsten. Seiner Kulturstufe entsprechend besitzt er Eigenheiten, die kindlichen Unarten gleichkommen. Er drückt sich gern vor der Arbeit, muß immer geschoben und beaufsichtigt werden. Sobald der Vorgesetzte wegsieht, hält er in der Arbeit inne.«323 Die vorangegangene Perspektive auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der ausländischen Arbeiterschaft offenbart ein komplexes Wechselspiel zwischen den beteiligten Akteuren. Die Entscheidungen, Handlungen und Praktiken staatlicher Verantwortungsträger, Unternehmer und Arbeiter/innen bedingten sich gegenseitig. Besonders letztere erprobten ihre Handlungsspielräume und akzeptierten die repressiven Maßnahmen innerhalb der Kriegswirtschaft nicht. Tomasz Janiaczyk vom Gut Wohldorf agitierte unter den anderen und versuchte seine Kollegen von seinem Standpunkt zu überzeugen. Ebenso lehnten sich die belgischen Meister Edmund Demesmaker und August Gerard gegen die Lebensumstände in der Düsseldorfer Spiegelglasfabrik Reisholz auf, wo sie »nach Art von Kriegsgefangenen« untergebracht waren. »Die beiden verhetzen die Arbeiter, suchen ihnen vorzureden, dass ihnen Lohn einbehalten und die Freiheit geraubt werde und haben auch die Beschwerden veranlasst, welche einzelne Arbeiter an das stellvertretende Generalkommando und die spanische Botschaft gerichtet haben«, berichtete der Landrat, Gustav Adolf von Beckerath (1859–1938).324 Sie offenbarten gegenüber der Fabrikleitung ein widerständiges Verhalten, das sich weder in einer Flucht noch in einem Kontraktbruch äußerte. Dennoch verengten sich die in Betracht gezogenen Gegenstrategien der Arbeitgeber auf die Forderung, die Widerständigen auszuweisen, und auf die Empfehlung, sie in einem Gefangenenlager unterzubringen. Denn im Zuge ihrer Entlassung würde sich ansonsten die Lebenssituation Demesmakers und Gerards außerhalb des Fabriklagers verbessern. Die beiden eigensinnigen Arbeiter hatten mit ihrer Initiative vor Ort einen neuen Handlungsspielraum für die Ausländer eröffnet. Ihr Protest gegen die unerträgliche Situation in der Fabrik stieß eine weitere Aktionsform an. Denn einige ihrer Arbeitskollegen griffen die Beschwerden mit Stift und Papier auf und machten sich mit Eingaben an die Militärbehörde und die Spanische Botschaft ein genuines Instrument der Arbeitgeber zu eigen. Dies zeigt, dass das Spektrum an Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten nicht unterschätzt werden sollte. 323 Jahresbericht des Großherzoglichen Badischen Gewerbeaufsichtsamtes 1911, S. 33, zit. nach: René Del Fabbro, Saisonarbeiter vor 1914, in: Gustavo Corni u. Christof Dipper (Hg.), Italiener in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Kontakte, Wahrnehmungen, Einflüsse, Berlin 2012, S. 97–117, hier S. 113 (Herv. im Org.). 324 Landrat Düsseldorf an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 7.12.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14998, Bl. 80 f. u. Stv. Gkdo. VII. AK an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 21.12.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14998, Bl. 81.
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Arbeiter klagten gegen die von Arbeitgebern einbehaltenen Familienunterstützungen,325 gegen die Verweigerung von Versicherungsansprüchen326 oder gegen Arbeitgeber, denen sie Körperverletzung vorwarfen.327 Sie organisierten sich in polnischen Fürsorgevereinen und der Polnischen Berufsvereinigung.328 Sie trugen schriftlich und mündlich ihre Erfahrungen in ihre Heimat, in der 1916 die Anwerbungen merklich zurückgingen.329 In diesem beständigen und vielfältigen Widersetzen erkennt Lothar Elsner mit Blick auf die Gutsbesitzer einen zentralen Grund dafür, dass die verantwortlichen Akteure die Arbeitsbedingungen nicht weiter absenken konnten und sie den ausländischen Arbeiter/innen Zugeständnisse gewähren mussten.330 Neben den Eigeninitiativen ausländischer Arbeiter äußerten sich seit Ende 1916 vermehrt kritische Stimmen aus der katholischen Kirche, dem Reichstag und den Gewerkschaften. Sie prangerten die Zwangsrekrutierungen, die rechtlose Lage, die zu niedrigen Löhne und die kärglichen Lebensumstände ausländischer Arbeiter an. Unter ihnen fanden sich vor allem polnische und unabhängige sozialdemokratische Abgeordnete. Wojciech Trąmpczyński, der Vorsitzende der polnischen Fraktion und als Jurist ein Streiter für die Rechte polnischer Bürger im Deutschen Reich, Oskar Cohn, der sich als Zionist ebenso für die osteuropäischen Juden einsetzte, und Hugo Haase (1863–1919), der Vorsitzende der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ein entschiedener Kriegsgegner, ergriffen mehrmals das Wort im nicht-öffentlichen Haushaltsausschuss331 wie im Berliner Plenum und erhöhten so den öffentlichen Druck auf die Reichsleitung, die Diskussionen über den Umgang mit ausländischen Arbeiter/innen vermeiden wollte. Die Wortführer gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen prangerten die Verhaftungen und Urlaubsverweigerungen an, mit denen die Arbeiter 325 Urteil Ferdinand Lohse gegen d. Firma Eisen- & Draht-Industrie Düsseldorf, 28.7.1916, in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 342 ff. 326 Urteil Stanislaus Dziuba gegen d. Sächs. Baugewerks-Berufsgenossenschaft, 15.12.1915, in: BArch Berlin, R 3901/4163, Bl. 66; Urteil Reinhold Andrzejewski gegen KnappschaftsBerufsgenossenschaft, 3.5.1916, in: Ebd., Bl. 163–166 u. Urteil Josef Rutka gegen d. Brandenburgische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, 27.4.1918, in: Ebd., Bl. 263 f. 327 Petition, betr. russisch-polnische Arbeiter, 8.12.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 3901/4163, 87 ff. 328 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 303. 329 Ergebnisprotokoll, Besprechung im RAdI, 14.4.1916, in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 199–209. 330 Lothar Elsner, Zur Lage und zum Kampf der polnischen Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft während des ersten Weltkrieges, in: Fritz Klein (Hg.), Politik im Krieg 1914–1918. Studien zur Politik der deutschen herrschenden Klasse im ersten Weltkrieg, Berlin 1964, S. 167–188, hier S. 187 u. Ders., Die ausländischen Arbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches, S. 248–250. 331 Heinrich zu Schoenaich-Carolath (Berichterstatter d. Haushaltsausschusses), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1981.
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an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert wurden, und verurteilten die »unter Zwang« zustande gekommenen Vertragsverlängerungen als »gesetzwidrig«. Um die Arbeitsbedingungen vor Ort zu kontrollieren, forderten sie Schutz- und Kontrollbeamte. Um die rechtliche Stellung der Saisonarbeiter/innen zu verbessern, verlangten sie ein Kündigungsrecht wie es Inländer/innen zustand.332 Hierbei reduzierten sie die ausländische Saisonarbeit keineswegs auf ihre wirtschaftliche Rolle. Der Sozialdemokrat Richard Schmidt bemerkte 1916, dass die Behandlung der polnischen Arbeiter »nicht dazu bei[trägt], die Polen zu überzeugen, daß die Befreiung vom Zarismus wirklich die Freiheit bedeute.«333 Wojciech Trąmpczyński setzte im Januar 1918 durch, dass sich die Mitglieder des Reichshaushaltsausschusses im Zuge einer längeren Debatte mit der Lage der Saisonarbeiter/innen beschäftigten.334 Als Schuldige für ihre Arbeits- und Lebensumstände identifizierte er die stellvertretenden Generalkommandos, die sich beharrlich weigern würden, höhere Löhne, angemessene Urlaubsregelungen und erleichterte Arbeitsplatzwechsel durchzusetzen. In der daran anschließenden Diskussion, bei der der Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums die Vorwürfe zurückwies, traten erneut die politischen Dilemmata und Konfrontationslinien des letzten Kriegsjahres zutage. Der Vorwurf, die Großagrarier würden übermäßig begünstigt, traf auf die Bedeutung der Landwirtschaft im Krieg während einer fortwährenden Ernährungskrise. Die Politik des Kriegsamtes, die die ökonomische und rechtliche Lage der Ausländer/innen verbesserte, sah sich konfrontiert mit den unzureichenden Weisungs- und Sanktionsbefugnissen gegenüber den Militärbefehlshabern, die ihre (politische) Autonomie verteidigten. Die zunehmend selbstbewusste Haltung der Reichstagsabgeordneten, die parlamentarische Kontrollrechte einforderten und Rechenschaft von den Ministern und Staatssekretären verlangten, stieß auf Abwehrreaktionen einer politischen Führungselite, die sich im Angesicht der Friedensverhandlungen mit dem Russischen Reich an einen Siegfrieden in Westeuropa und ihr politisches System klammerte. Schließlich zeigten die Diskussionen im Januar 1918, dass es die grundsätzliche Befürchtung gab, mit rechtlichen und sozialen Zugeständnissen ausländische Arbeiter besser als inländische Hilfsdienstpflichtige zu stellen. 332 U. a. Wojciech Trąmpczyński, 95. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 13.10.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 880–884, hier S. 882; 153. Sitzung d. RHaushA, 5.5.1917, in: Ebd., Bd. 3, S. 1424–1428, hier S. 1428; 154. Sitzung d. RHaushA, 7.5.1917, in: Ebd., S. 1429–1435, hier S. 1434 u. 193. Sitzung d. RHaushA, 5.1.1918, in: Ebd., Bd. 4, S. 1842–1848, hier S. 1847. Eine kurze Entgegnung durch den Direktor des Kriegsamtes: Gottfried Marquard, 154. RHaushA, 7.5.1917, in: Ebd., S. 1429–1435, hier S. 1429. 333 Richard Schmidt, 95. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 13.10.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 880–884, hier S. 882. 334 Wojciech Trąmpczyński, 200. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 17.1.1918, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 4, S. 1889–1894, hier S. 1889.
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Andere Abgeordnete wie Matthias Erzberger (1875–1921) oder Gerhart von Schulze-Gaevernitz (1864–1943) wandten sich mit Denkschriften an die Reichsleitung.335 Jan Brejski (1863–1934), der von 1903 bis 1907 dem Reichstag angehört hatte und als Verleger polnischsprachiger Zeitungen wie als Gründer der Polnischen Berufsvereinigung einen bedeutenden Einfluss auf die polnische Bevölkerung des Reiches besaß, verfasste eine Petition an den Reichstag.336 Er entwarf darin einen Forderungskatalog, der die Entrechtung der Arbeiter geißelte und einzelne Zechen im Ruhrgebiet benannte, gegen die ihm »schwerwiegende Klagen« vorlagen. Die oftmals mit Kriegsnotwendigkeiten gerechtfertigten Strafmaßnahmen blieben nicht unwidersprochen und wurden wie das Rückkehrverbot in das Licht der politischen Öffentlichkeit gerückt. Am 1. März 1918 hielt Trąmpczyński eine engagierte Rede vor dem Reichstag, nachdem er in den nicht-öffentlichen Verhandlungssälen gescheitert war. »Das allerschlimmste an der Behandlung des Königreiches Polen ist ja die Angelegenheit der polnischen Arbeiter. Schätzungsweise sind zirka 700 000 polnische Arbeiter in Deutschland beschäftigt. […] Alle diese Leute werden nicht mehr herausgelassen und leben seit Jahren getrennt von ihrer Familie, getrennt von ihrem Heimatsherde. Alle diese Leute […] sind in völkerrechtswidriger Weise – das muß ich hier konstatieren – um ihre Freiheit betrogen worden. […] Meine Herren, wirkliche feindliche Ausländer haben es besser. Die Belgier und die Nordfranzosen wurden ja hier auch als Zwangsarbeiter beschäftigt; da entstand aber ein solcher Lärm in der Welt, daß man schließlich von der Festhaltung abließ. Indessen wer will die Polen verteidigen?«337 Der Spanische Konsul Otto Helm in Stettin nahm sich ferner der dortigen russländisch-polnischen Arbeiter aus dem Generalgouvernement Warschau an.338 Obwohl er den Zivilbehörden zugeneigt war und ihre »vertraulichen Ratschläge« stets angenommen hatte, löste seine Eingabe Unbehagen aus.339 Indem er Ermittlungen über nicht eingehaltene Vereinbarungen mit den Arbeitern über Arbeitszeit, -dauer und Entlohnung anstellte, deutete er weitere Recherchen und 335 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 302 ff. u. Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, S. 232–237. 336 Petition, betr. russisch-polnische Arbeiter, 8.12.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 3901/4163, 87 ff. 337 Wojciech Trąmpczyński, 137. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 1.3.1918, in: Sten.Ber.RT, Bd. 311, S. 4302. 338 Consulado de Espana en Stettin Alemania an d. Polizeipräsidium Warschau, hier wtgl. an d. Verwaltungschef beim Generalgouvernement Warschau, 5.7.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 300 f. 339 Preuß. Minister d. auswärtigen Angelegenheiten (gez. Matthieu) an d. Preuß. KM, 12.8.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 323.
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mögliche Interventionen seinerseits an. Im Zuge dessen mussten die Militär- und Zivilbehörden seine Zuständigkeit anerkennen. Das Stettiner stellvertretende Generalkommando konnte seine Vorwürfe zwar als unbegründet zurückweisen, und das Auswärtige Amt verwies ihn auf den diplomatischen Weg, um in Verhandlungen mit dem Generalgouvernement außerhalb seines Amtsbezirkes zu treten,340 dennoch verdeutlichte der Konsul mit seinem Vorgehen die mögliche Rolle konsularischer Vertreter als Kontroll- und Beschwerdeinstanz für angeworbene Arbeiter/innen. »Lärm« verursachten die Kritiker und Bedenkenträger nicht. Sie blieben dennoch hörbar. In öffentlichen Debatten, die von der Zensur bedroht waren, fanden ihre Klagen zumeist wenig Resonanz. Stattdessen versuchten sie, innerhalb der militärischen und zivilen Verwaltungshierarchien Veränderungen zu erwirken. Eingaben an den Reichskanzler wie jene Otto Hues (1868–1922), der im Preußischen Abgeordnetenhaus vehement die Forderungen der Bergarbeitergewerkschaften vertrat, verknüpften die schlechten Lebensbedingungen ausländischer Bergarbeiter mit der Entlohnung der inländischen Belegschaften und sahen darüber hinaus deren Sicherheit durch eine ungenügende Gefahrenaufklärung der Ausländer aufs Spiel gesetzt.341 Andere Berichte wie die des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Geschäftsführers des Metallarbeiterverbandes, Karl Spiegel (1868–1932), der eine Firma beschuldigte, ihre ausländischen Arbeiter zu misshandeln, lösten Untersuchungen vor Ort aus.342 Landräte und Polizeibeamte befragten in der Folge die Unternehmer und Geschäftsführer, die ihre Sichtweise auf die Vorkommnisse darlegen mussten. Obwohl die Schuld zumeist bei den Arbeitern gefunden wurde und Beschwerden wie die der Polnischen Berufsvereinigung über die Rheinischen Stahlwerke eine Verschärfung des Arbeitszwangs im VII. Armeekorps nicht verhindern konnten,343 hielten sie ein stetiges Grundrauschen in Gang. Der stellvertretende Generalkommandeur Freiherr von Gayl verwies auf die »zahlreichen hier eingegangenen Klagen, [die,] mögen sie im einzelnen übertrieben oder zum Teil auch unbegründet sein«, ihn veranlassten, die Arbeitgeber zu ermahnen, die Beschäftigten angemessen zu behandeln.344 340 Stv. Gkdo. II. AK (gez. v. Wiezelsky) an d. Spanische Konsulat Stettin, 26.7.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/113714, Bl. 323 ff. u. AA an d. Staatssekretär d. Innern, 8.9.1916, in: Ebd. 341 Rawe, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit, S. 240 f. 342 Landrat d. Landkreises Solingen (gez. Lucas) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 27.10.1918, in: LAV NRW R, BR 0007, 15005, Bl. 519 u. Landrat d. Landkreises Solingen (gez. Lucas) an d. Reichstagsabgeordneten Spiegel, 6.11.1917, (Abs.) in: Ebd., Bl. 521 u. Karl Spiegel an d. Landrat Geheimer Regierungsrat Dr. Lucas, 16.11.1917, (Abs.) in: Ebd., Bl. 518. 343 Polnische Berufsvereinigung an d. Polizeiverwaltung in Duisburg, 6.9.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15046, Bl. 34 u. Stv. Gkdos. VII. AK (gez. v. Gayl) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 11.9.1915, in: Ebd., Bl. 39. 344 Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an d. Reg.-Präs. im AK, 5.11.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 15046, Bl. 83 f.
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Einschränken und Entrechten
Beschwerden und Eingaben bildeten ebenso die Grundlage für die Richtlinien der Arbeiteranwerbung 1916, die falsche Anwerbeversprechen zu unterbinden versuchten.345 Überdies wies der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Carl Legien (1861–1920), am 1. September 1917 gegenüber dem Reichsamt des Innern auf die »eigenartige Behandlung polnischer Arbeiter« hin.346 Er griff im Namen der Kommission in seiner »Beschwerde« konkrete Klagen auf. Diese deckten ein weites Spektrum der Lebensbedingungen der Ausländer ab – von den uneinheitlichen und restriktiven Meldepflichten über unnachsichtig kontrollierte Ausgehverbote bis hin zu nicht genehmigtem Urlaub und Verweigerung von Lohnzuschlägen, die Inländern gewährt wurden. Obwohl der Direktor des Kriegsamtes die Vorwürfe als »teils vollständig erfunden, teils übermäßig übertrieben« bestritt,347 markierte die Eingabe einen wichtigen Eckpunkt der Auseinandersetzungen über den Umgang mit polnischen Saisonarbeitern. Die Generalkommission war in der Kriegszeit bereit, die rechtlichen und sozialen Zusicherungen, die ausländischen Arbeiter/innen gewährt wurden, anzumahnen. Es entsprach keineswegs den Vorkriegserfahrungen, dass freie Gewerkschaften wie der Metallarbeiterverband sich für die Verbesserung der rechtlichen Situation der Ausländer einsetzten.348 Bei inländischen Arbeitern galten sie häufig als Streikbrecher und Lohndrücker. Arbeitgeber bevorzugten die Osteuropäer zugleich als anspruchslose Arbeitskräfte, die auch kräftezehrende und gesundheitsschädigende Erd- und Akkordarbeiten übernahmen. Daraus erwuchs eine angenommene, kolportierte oder selbst erfahrene Konkurrenzsituation. Infolgedessen erhoben besonders in Phasen hoher Arbeitslosigkeit Gewerkschaften, Interessenverbände und Gewerbeaufsichtsbeamte Klagen über ausländische Arbeiter.349 Ihre Bereitschaft, gewerkschaftlichen Organisationen beizutreten, war zudem gering gewesen. Aus diesen Gründen forderten inländische Arbeiter mehrfach eine Begünstigung ›deutscher‹ oder lokal ansässiger Beschäftigter. Über ihre sozialen Kontakte in der Hansestadt Hamburg berichtet Armin Owzar auf Grundlage von Stimmungsberichten der dortigen Kriminalpolizei. »Matrosen entrüsteten sich über das ›Anmustern von farbigem Personal auf Schiffen der Norddeutschen Lloyd‹, andere klagten über die ›Beschäftigung 345 Preuß. KM, betr. polnische Arbeiter, 7.12.1916, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1024, Bl. 306– 309. 346 Generalkommission d. Gewerkschaften Deutschlands (gez. Carl Legien) an d. RAdI, 1.9.1917, in: BArch Berlin, R 1501/113716. 347 Preuß. KM (Kriegsamt, gez. i. A. Marquard) an d. Generalkommission d. Gewerkschaften Deutschlands, 19.10.1917, in: BArch Berlin, R 1501/113716. 348 Zunkel, Die ausländischen Arbeiter in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik, S. 304 f. 349 Bade, »Preußengänger« und »Abwehrpolitik«, S. 100–107 u. zeitgenössisch: Anton Knoke, Ausländische Wanderarbeiter in Deutschland, Leipzig 1911, S. 57–65.
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von Ausländern bei den Bauten der Untergrundbahn‹ durch den Senat. Insbesondere, wenn im Rahmen größerer Arbeitskämpfe ausländische Arbeiter, etwa aus England, angeworben und als Streikbrecher eingesetzt wurden, war die Verbitterung so groß, daß solche Ereignisse im kollektiven Gedächtnis gespeichert wurden.«350 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Simon Constantine bei seiner Betrachtung des agrarisch geprägten Mecklenburgs. Dort grenzten sich einheimische Landarbeiter von ausländischen ab, indem sie diesen meist mit Verachtung begegneten und sich sozial distanzierten. Die Unterbringung der Wanderarbeiter/innen in Schnitterkasernen und Holzbaracken, ihr Alltag in vertrauten Kleingruppen sowie Sprachbarrieren erschwerten darüber hinaus eine Annäherung. Zusätzlich fehlten Integrationsanreize auf Seiten der russländisch-polnischen Arbeiter/innen, die über die Wintermonate in ihre Heimat zurückreisen mussten. Gleichwohl gibt Constantine zu bedenken, dass die vielfach vorgebrachten Klagen über sexuelle Kontakte auch eine andere Seite der Arbeitswanderung beschreiben, die sich ebenfalls in einer steigenden Zahl an Trauungen zeigte.351 Aber in der Mehrzahl verließen die ansässige Arbeiterschaft und die Zugereisten ihre auch räumlich abgeschlossenen Kommunikationsgemeinschaften kaum. Begegnungen hatten viele Barrieren zu überschreiten.352 »Große Liebe für die Theorie der schrankenlosen Einwanderung ausländischer Arbeiter hat bei den deutschen Arbeitern niemals bestanden, wenigstens nicht bei denen, die unter der Einwanderung unmittelbar selbst zu leiden hatten«, fasste der Sozialdemokrat August Ellinger (1880–1933) während des Krieges seine Erfahrungen zusammen.353 Noch in den ersten Kriegsmonaten »begann im Verbandsblatt der Bauarbeiter eine monatelang andauernde Diskussion, in der der lange zurückgehaltene Groll gegen die alte und unfruchtbare Methode der Ausländer-, insbesondere der Italienerbehandlung zum Ausdruck kam«, schrieb August Ellinger weiter.354 »Es wurde gefordert, daß man […] den unorganisierten Ausländern rücksichtslos entgegentrete. Im übrigen wurde den Gewerkschaften eine rein deutsche Arbeiterpolitik empfohlen.« Unter dem Eindruck einer hohen Arbeitslosigkeit während des Übergangs von der Friedens- zur Kriegswirtschaft trugen Reichsleitung und Heeresführung dieser Stimmung Rechnung. Ausländische Textilarbeiter/innen 350 Armin Owzar, »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«. Konfliktmanagement im Alltag des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, Konstanz 2006, S. 211. 351 Constantine, Social Relations in the Estate Villages of Mecklenburg, S. 121–127. 352 Siehe auch: Del Fabbro, Transalpini, S. 233–255 u. Karl Gattinger, »Sie kamen scharenweise Sommer für Sommer …« Italienische Wanderarbeiter in Bayern vor dem Ersten Weltkrieg, in: Gustavo Corni u. Christof Dipper (Hg.), Italiener in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Kontakte, Wahrnehmungen, Einflüsse, Berlin 2012, S. 81–96, hier S. 89 f. 353 Ellinger, Die Einwanderung ausländischer Arbeiter, S. 371. 354 Ebd., S. 372.
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Einschränken und Entrechten
sollten erst angeworben werden, wenn Inländer/innen vermittelt waren,355 und die Gestellung von Kriegsgefangenen erst erfolgen, wenn keine Arbeitslosen zur Verfügung stünden.356 Die Berliner Gewerbeaufsichtsbeamten räumten ferner kriegsbeschädigten Arbeitern und inländischen Arbeiterinnen einen Beschäftigungsvorrang ein.357 Dennoch verstummte die Debatte über den Schutz der Inländer, in der mäßigende Wortmeldungen seitens der Gewerkschafter präsent blieben, nicht. Mehr noch wurde außerhalb der Arbeiterorganisationen über eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Ausländer/innen diskutiert. Die Festsetzung der (landwirtschaftlichen) Vorkriegslöhne für die Vertragsverlängerungen und die gleichbleibenden beziehungsweise anzugleichenden Deputate, die das Berliner Tageblatt Ende Januar 1917 aufgegriffen hatte, veranlassten den Reichstagsabgeordneten Hermann Paasche (1851–1925) zu einer Anfrage an die Regierung.358 Der Gutsbesitzer befürchtete die Benachteiligung der Inländer. Der Kriegsausschuss der deutschen Landwirtschaft instrumentalisierte wiederum diese Sorge, um gegen die Einrichtung von Fürsorgestellen für polnische Arbeiter zu agitieren. Der Ausschussvorsitzende Paul Mehnert (1852–1922) warnte den Reichskanzler vor Zugeständnissen an die ausländischen Landarbeiter und verlangte den Verzicht auf Fürsorgeeinrichtungen und Kontrollkommissionen. Er sah durch solche Instanzen »die gesamte landwirtschaftliche Arbeiterbevölkerung deutschen Stammes beunruhigt und unzufrieden gemacht. Der deutsche Arbeiter wird in der dem polnischen Arbeiter gewidmeten Fürsorge eine außerordentliche Zurücksetzung erblicken«, führte er aus und beschwor den Zusammenbruch der Landwirtschaft.359 Unangemessen hohe Löhne der nicht-deutschen Industriearbeiter wurden in den süddeutschen Bundesstaaten seit 1916 intensiv diskutiert. Der stellvertretende kommandierende General des oberbayerischen Armeekorpsbezirks strengte im Oktober desselben Jahres Erhebungen an, ob Ausländer/innen Lohnsteigerungen erzwangen. Denn es seien »Klagen darüber eingelaufen, dass die Italiener den bestehenden Arbeitermangel ausnützen und Löhne verlangen und auch erhalten, die bis zum Doppelten der den einheimischen Arbeitern gezahlten Löhne betragen«. Deshalb »sollen sie öfters versuchen, ihre Stelle mit der Begründung zu wechseln, dass sie zu wenig verdienen«. Bevor er eine Lohnminderung verfügte, wollte er von den Lokalbehörden wissen, »ob zu befürchten ist, dass die Italiener 355 Reichskanzler (RAdI) an d. Württ. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 3.5.1915, in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 719. 356 Forberg, Ausländerbeschäftigung, S. 75–81. 357 Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte 1914–1918, S. 225 (Landespolizeibezirk Berlin). 358 Preuß. KM (Kriegsamt, gez. v. Kühlwetter) an d. RAdI, 25.7.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 239 u. Anfrage Dr. Paasche, Nr. 204, 19.7.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 321, S. 1759 u. Antwort d. stv. Reichskanzlers, 3.9.1917, in: Ebd., S. 1770 f. 359 Kriegsausschuss d. deutschen Landwirtschaft (gez. Mehnert) an d. Reichskanzler, Graf v. Hertling, 25.11.1917, in: BArch Berlin, R 1501/113716, Bl. 42 ff.
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sich lieber internieren lassen als zu den niedrigeren Löhnen weiter zu arbeiten« und ob ihnen der Aufenthaltswechsel verboten werden solle.360 Zu Klagen sei es ebenso in Württemberg gekommen, berichtete der dortige Innenminister seinem badischen Kollegen. »Wie zu meiner Kenntnis gelangt ist, erregt es unter der Bevölkerung viel Unwillen, dass feindliche Ausländer während der Kriegszeit und unter Ausnutzung der durch den Kriegszustand geschaffenen besonderen Verhältnisse einen gegenüber der Friedenszeit stark erhöhten, oft zur tatsächlichen Arbeitsleistung in keinen angemessenen Verhältnissen stehenden und die Einnahmen der inländischen Berufsgenossen erheblich übersteigenden Verdienst erzielen.«361 Während ›deutsche‹ Arbeiter durch das Hilfsdienstgesetz gebunden seien, machten Ausländer von ihrem Recht, die Arbeitsstelle zu wechseln, Gebrauch und setzten so höhere Lohnforderungen durch. Der württembergische Innenminister zog deshalb Höchstlöhne für ausländische Arbeiter, ein Verbot der Bezahlung höherer Löhne als der Tariflöhne, Sparzwang, die Entziehung von Heereslieferungen bei Arbeitgebern, die den Lohnkampf forcierten, ein Verbot der Stellenanzeigen in Zeitungen und ein Verbot privater Stellenvermittler beziehungsweise Agenten im Dienste der Arbeitgeber in Betracht. Zur selben Zeit analysierte die Ausländerabteilung des württembergischen Generalkommandos die »übermäßigen Arbeitslöhne« und »Kriegsgewinne« ausländischer Staatsbürger.362 Ausgehend von Beobachtungen der Stadtdirektion Stuttgart hatte Hauptmann d. L. a. D. Müller neben den Arbeitern die Unternehmer im Blick. Nach vielen Schriftwechseln, Besprechungen und eingeholten Berichten zeitigten die Forderungen der Zivilbehörden allerdings keine Folgen. Die Verantwortlichen befürchteten neben unbeantworteten Zuständigkeitsfragen zum einen, dass die Arbeiter aus dem Königreich abwanderten, falls in Württemberg Sonderregelungen gelten würden. Zum anderen wähnten sie sich mit einer sinkenden Arbeitsfreudigkeit konfrontiert. Nicht zuletzt stellten sich landwirtschaftliche Interessengruppen einer zentralen Arbeitsvermittlung entgegen. Ein Konsens unter den Beteiligten war nicht in Sicht. Einen Anteil am Scheitern der Bemühungen, den Einsatz der ausländischen Arbeiter einer strikten Kontrolle und Steuerung zu unterwerfen, hatten unter anderem entgegengesetzte Wahrnehmungen. Der Stadtmagistrat zu Traunstein erkannte beispielsweise, anders als der oberbayerische Militärbefehlshaber, keinen Handlungsbedarf, um Lohnsteigerungen durch Ausländer zu unterbinden. Die städtische Schutzmannschaft erblickte in den Italienern lediglich »bescheidene und zufriedene Menschen«.363 Und das Badische Gewerbeaufsichtsamt konnte die 360 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 12.10.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3. 361 Württ. MdI an d. Bad. MdI, 17.7.1918, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 362 Vortrag d. Ausländer-Abt. d. stv. Gkdos. XIII. AK, 21.3.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818. 363 Notiz, Schutzmannschaft Traunstein, 19.10.1916 u. Vermerk, Stadtmagistrat Traunstein, 21.10.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3.
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Einschränken und Entrechten
württembergischen Beobachtungen nicht bestätigen. In Baden würden vor allem die Schweizer ihre Lohnforderungen erheblich steigern. »Neuerdings wird darüber geklagt, dass italienische Steinarbeiter in Mittelbaden die deutschen Betriebe verlassen und in solche abwandern, die in den Händen von meist naturalisierten Landsleuten sind«, stellten die Beamten fest. Allerdings sei dies »schon in Friedenszeiten Anlass zu dauernden Beschwerden« gewesen.364 Grundsätzlich gingen ihnen die Forderungen zu weit. Nur »eine Anweisung der Bezirksämter, den Aufenthaltswechsel einzuschränken,« sei wünschenswert. In diesem Sinne äußerte sich auch das Badische gegenüber dem Württembergischen Innenministerium. Eine Notwendigkeit für solche Maßnahmen bestünde nicht, weil in Baden nur eine geringe Anzahl an feindlichen Ausländern beschäftigt werde.365 Die Wirkmächtigkeit dieser (subjektiven) Eindrücke der zitierten staatlichen Akteure sollte gleichwohl nicht unterschätzt werden. Angesichts dessen, dass auch Vorurteile gegenüber Rüstungsindustriearbeitern wegen »außergewöhnlich hohen Einnahmen« innerhalb der Mittelschicht zirkulierten,366 fragte Karl Mailänder, Amtmann der Stadtdirektion Stuttgart: »Welche Empfindungen muss es z. B. bei Angehörigen des Mittelstandes, welche trotz der verteuerten Lebenshaltung in der Kriegszeit mit gleichem oder gar verringertem Verdienst wie im Frieden sich begnügen […] müssen, […] auslösen, wenn sie hören, dass feindliche Ausländer zur Zeit derart ungeheuerlich hohe Löhne beziehen?«367 Rückblickend resümierten die Preußischen Regierungs- und Gewerberäte für den Bezirk Oppeln, zu dem das oberschlesische Kohlerevier gehörte, dass es zu keiner »Schädigung der deutschen einheimischen Arbeiter« durch die Beschäftigung der russländisch-polnischen Arbeiter gekommen sei.368 »Die Löhne der ausländischen Arbeiter«, schrieben sie weiter, »waren die gleichen wie die der einheimischen, so daß die Ausländer nicht zu Lohndrückern wurden. Daß die Ausländer nicht die gleichen Verdienste wie die einheimischen Arbeiter erzielten, lag an ihrer geringeren Leistungsfähigkeit.« Die Ausführungen der Beamten verdeutlichen die regionale und soziale Verschiedenartigkeit der Wahrnehmung ausländischer Arbeiter. Die süddeutschen Konflikte spielten in anderen Teilen des Reiches offenbar keine Rolle. 364 Bad. Gewerbeaufsichtsamt an d. Bad. MdI, 26.8.1918, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. 365 Bad. MdI an d. Württ. MdI, 17.9.1918, (Ent.) in: GLA Karlsruhe, 236/23177 u. Bad. MdI an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 17.9.19, in: Ebd. 366 Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung, S. 406. 367 Stadtdirektion Stuttgart (gez. Mailänder) an d. stv. Gkdo. XIII. AK, 2.6.1917, (Abs.) in: StA Ludwigsburg, E 170, Bü 1767. 368 Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte 1914–1918, S. 472 (Regierungsbezirk Oppeln).
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Inwieweit Konkurrenzen und Begünstigungen in den alltäglichen Umgang mit ausländischen Arbeiter/innen eindrangen und Auseinandersetzungen unter den Arbeitern zunahmen, muss offenbleiben. Im recherchierten Quellenkorpus finden sich keine staatlichen Bekanntmachungen, die vor Unruhen oder Missstimmungen zwischen in- und ausländischen Beschäftigten warnten oder über solche berichteten. In dieses Bild passt ebenso die vom preußischen Minister für Handel und Gewerbe vorangetriebene Anwerbung türkischer Lehrlinge, die »aus den ärmeren Schichten Anatoliens« stammten.369 Bis 1916 hatte die türkische Regierung 2000 Jugendliche nach Deutschland entsandt, die auf technischen Schulen und in Industriebetrieben ausgebildet wurden. »Die […] Handwerkskammern versprechen sich von der Unterbringung junger Türken in Handwerksbetrieben einen Nutzen für das einheimische Handwerk, weil sie befürchten, dass die Handwerker in den nächsten Jahren unter einem sehr grossen Mangel an Lehrlingen, in denen sie billige Arbeitskräfte erblicken, leiden werden.« Auseinandersetzungen zwischen in- und ausländischen Arbeitern befürchteten sie nicht. Lediglich die Stuttgarter Handwerkskammer hatte Bedenken, dass bei der Unterbringung und Verpflegung der Jugendlichen Schwierigkeiten auftreten könnten. Aber auch für sie überwogen die angeführten Vorteile.370 Konflikthafte Momente in- und ausländischer Zusammenarbeit verdeutlichte hingegen der Verband Pharmazeutischer Fabriken. Er protestierte gegen vorgesehene Spionagewarnschilder in den Betrieben. »Hütet Euch vor Gesprächen – Spionagegefahr« oder ähnliche Slogans träfen dort auf eine angespannte Stimmung zwischen den Arbeitern. Eines seiner Mitglieder schrieb daraufhin der Hamburgischen Gewerbekammer. »Die einheimischen Arbeiter sehen sowieso schon die in Betrieben etwa mitbeschäftigten Arbeiter, die ihrer Nationalität nach zu den feindlichen Ausländern zählen, mit missgünstigen Augen an. Wenn nun plötzlich die genannte Warnungstafel […] angebracht wird, so hat man damit zu rechnen, dass […] dadurch leicht Hänseleien und Reibereien heraufbeschworen werden, die darauf abzielen, die betreffenden Arbeitskollegen (feindliche Ausländer) zu veranlassen, ihre Stelle aufzugeben[.]«371
369 Preuß. Min. für Handel u. Gewerbe an d. Deutschen Handwerks- u. Gewerbetag in Hannover, 29.12.1916, in: StA Ludwigsburg, E 170, Bü 1768 u. Reichskanzler (RAdI, gez. Casper) an u. a. d. Regierung von Bayern u. Württemberg, 17.4.1917, in: Ebd. 370 Württ. MdI (gez. Fleischhauer) an d. Württ. Min. d. auswärtigen Angelegenheiten, 31.3.1917, (Abs.) in: StA Ludwigsburg, E 170, Bü 1768 u. Preuß. Min. für Handel und Gewerbe an d. Preuß. Min. für auswärtige Angelegenheiten, 27.2.1917, (Abs.) in: Ebd. 371 Eingabe d. Verbandes Pharmazeutischer Fabriken e. V. an d. Hamburgische Gewerbekammer, 27.5.1916, in: Lebenswelten im Ausnahmezustand, S. 109 f.
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Einschränken und Entrechten
Dies bedeutete keineswegs, dass inländische Arbeiter die auf Zwang aufbauende Arbeitskräftepolitik duldeten und selbst halfen, diese in den Betrieben umzusetzen. Wird der Argumentation Ulrich Herberts gefolgt, stand gerade ihre, für die Militär- und Zivilverantwortlichen »unsichere Haltung« einer »Effektivierung des Zwangsarbeitseinsatzes« im Wege.372 Die Vorkommnisse im Lager Untertürkheim der Stahlhandelsfirma Wilhelm Hertsch deuten die gemeinsamen Interessen der Arbeiter an. Am Anfang seien es italienische Beschäftigte gewesen, welche vehement höhere Löhne forderten, schrieb der Geschäftsführer an das Stuttgarter Generalkommando.373 Letztendlich traten die Beschäftigten geschlossen gegenüber der Firmenleitung auf »und so kam es, dass gestern als Fürsprecher der Italiener der Arbeiter Malvicini und für die anderen Hagenlocher bei uns vorsprachen«. Hertsch hoffte, dass die Militärbehörde den Lohnkonflikt zu seinen Gunsten entscheiden würde. Aus seiner Sicht sei das Verhalten der Ausländer nicht zu dulden. Er befürchtete die »moralischen Folgen, die sich für unsere deutschen Arbeiter aus einem solchen Auftreten feindlicher Ausländer ergeben«. Diese nationale Unterscheidung beschwörend, warnte er vor den Freiheiten der Italiener, die »infolge ihrer weitgehenden Bewegungsfreiheit es im vorliegenden Fall sogar wagen, zu Wortführern einer Lohnbewegung sich aufzuwerfen und dadurch unsere deutschen Arbeiter zu verhetzen«.374 Nachdem sich die Fordernden gemeinsam gegen die Firmenleitung durchgesetzt und eine Lohnerhöhung erzwungen hatten, zerfiel aber das Unterscheidungskonstrukt zwischen den »feindlichen« und »unseren« Arbeitern. Nun kündigten die Inländer bereits zukünftige Forderungen an, empörte sich Wilhelm Hertsch. Ähnliche Einsichten hatte der Düsseldorfer Polizeidezernent Robert Lehr (1883– 1956) gewonnen. Er erstattete dem Regierungspräsidenten im März 1917 Rapport, dass belgische und französische Arbeiter verhaftet werden mussten, um nicht »durch das Beispiel ihrer Aufsässigkeit Unruhen und Arbeitseinstellungen« zu provozieren.375 Die größeren Streiks des Jahres 1917, die sich an den Lebensmittelrationierungen und der ungleichen Verteilung entzündeten, und an denen sich ebenfalls Industriearbeiter beteiligten, lagen noch vor ihm. Für den bereits zitierten Landrat Berthold, der sich um die Aufrechterhaltung der Rüstungsproduktion in der Bremer Vulkan-Werft sorgte, bildeten sie einen wichtigen Erfahrungshintergrund. Er befürchtete, dass die Arbeitsniederlegungen ausländischer Arbeiter auf die ›deutschen‹ übergriffen.376 Schließlich war dieses Szenario für den Düssel372 373 374 375
Herbert, Fremdarbeiter, S. 39. Wilhelm Hertsch an d. stv. Gkdo. XIII. AK, 6.8.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818. Wilhelm Hertsch an d. stv. Gkdo. XIII. AK, 12.8.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 818. Polizeiverwaltung Düsseldorf (gez. Lehr) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 8.3.1917, in: LAV NRW R, BR 0007, 15048, Bl. 76. 376 Landrat d. Kreises Blumenthal (gez. Berthold) an d. Reg.-Präs. in Stade, in: 7.7.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112381, Bl. 237 f.
Arbeiten zwischen Zurückhaltung und Anwerbung
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dorfer Bürgermeister Adalbert Oehler Wirklichkeit geworden. Als es im Sommer 1917 zu Lebensmittelengpässen kam, beobachtete er: »In der letzten Juniwoche entlud sich der Unmut weiter Kreise der Bevölkerung in schweren Ausschreitungen und Plünderungen der Lebensmittelgeschäfte. Beteiligt waren bei den Ausschreitungen zum großen Teil ausländische Hetzer. Ein volles Drittel der damals Festgenommenen waren Ausländer, insbesondere Russen aus Polen, die in der Kriegsindustrie beschäftigt waren.«377 Wie Wilhelm Hertsch und Robert Lehr interpretierte Adalbert Oehler die Unruhen entlang nationaler Differenzen. Für ihn waren es aus der Nachkriegsperspektive vorrangig »ausländische Hetzer«, die Zwietracht in der nationalen Gemeinschaft säten und von denen ein erhebliches politisches Konfliktpotenzial ausging. Während des Krieges hatte die Oberste Heeresleitung mehrfach vor alliierten Flugblättern und illegalen Zeitungen gewarnt, in denen die »Arbeiterbevölkerung […] zu Massenstreiks und das Volk zu gewaltsamer Auflehnung gegen die herrschende Ordnung […] aufgefordert« werde.378 Aus Sicht der Zitierten hatten diese Befürchtungen im aufbegehrenden Ausländer eine Verkörperung erfahren und Unabhängige Sozialdemokraten wie Pazifisten einen Mitstreiter gefunden. In der zweiten Kriegshälfte wurden folglich Stimmen laut, die Ausländern unter neuen Vorzeichen eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung vorwarfen. Feindliche Ausländer sahen sich im Angesicht einer zunehmenden Ernährungskrise und innenpolitischer Kämpfe Anschuldigungen ausgesetzt, ökonomisch vom Krieg zu profitieren. Teilweise fanden sie sich unter einen Generalverdacht gestellt, inländische Arbeiter zu Unruhen und Streiks anzustiften. Wenige Tage vor Kriegsende leitete Heinrich von Oppen, der Polizeipräsident Berlins, aus dieser Perspektive eine weitgehende Forderung ab. Er verlangte in einem Bericht an Kaiser Wilhelm II., dass »noch vor Beginn der Abrüstung alle, nicht nur in Großberlin, sondern überhaupt in Deutschland in gewerblicher Arbeit tätigen, während des Krieges nach Deutschland gekommenen Ausländer, […] rücksichtslos aus ihren bisherigen Stellen entfernt, gesammelt und im Wege des Massenabschubs an ihre verschiedenen Heimatländer geschlossen abgeliefert werden«.379 Im Rahmen der Demobilmachung sollte sich die politische und wirtschaftliche Prämisse eines Vorranges inländischer Arbeiter/innen durchsetzen. Um die heimkehrenden Soldaten in den Arbeitsmarkt zu integrieren, standen Ausländer/innen bei Entlassungsmaßnahmen an erster Stelle vor Personen, »die nicht gezwungen 377 Oehler, Düsseldorf im Weltkrieg, S. 363. 378 Erlass d. Chefs d. Generalstabes d. Feldheeres (gez. i. A. Ludendorff), 15.11.1917, in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 260, S. 227 ff. 379 Verwaltungsbericht d. Polizeipräsidenten von Berlin, April bis Oktober 1918 (gez. v. Oppen), 29.10.1918, in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 316, S. 297–303.
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sind, einem Erwerb nachzugehen«, Jugendlichen und Berufsfremden.380 In der Nachkriegszeit rückte die Einwanderung von »Massen heimgekehrter Auslandsdeutscher, ehemaliger Internierter, Deutschstämmiger, Grenzlandvertriebener und Flüchtlinge«, wie es in einer Aufzählung des Reichskommissars für Zivilgefangene und Flüchtlinge hieß, in den Fokus. Auch sie sollten gegenüber Ausländer/innen bevorzugt werden.381 Ausländische Staatsangehörige erfuhren zwar eine tarifrechtliche Gleichstellung. Allerdings bestand seit 1922 für Inländer/innen ein reichsweiter Beschäftigungsvorrang.382
Resümee: Die Organisation von Notwendigkeit und Vergeltung Ausländische Staatsangehörige waren vor Kriegsbeginn auf vielfältige Art und Weise mit dem Wirtschaftsraum des Deutschen Reiches verflochten. Die Kriegsmaßnahmen bedeuteten für sie weitreichende Eingriffe in ihre privatwirtschaftlichen Beziehungen, Rechte und Verantwortungsbereiche. Für viele staatliche Verantwortungsträger wog ihre Staatsangehörigkeit nun schwerer als ihre bürgerlichen Eigentumsrechte und ihre Wirtschaftsfreiheit. Die Kontrolle des Eigentums und des Geldes unter dem beherrschenden Topos der Vergeltung grenzte ›feindliche‹ Unternehmer und Geschäftsinhaber aus dem Kriegswirtschaftsleben umfänglich aus, und ebenso Rentiers verloren die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen. Von der Spionageprävention und den militärischen Nationalisierungsbestrebungen waren besonders hochqualifizierte Angestellte und Facharbeiter betroffen, die sukzessive aus ihren Arbeitsstellen verdrängt werden sollten. Unterdessen legen Einzelfälle nahe, dass bei Zwangsverwaltungen und Entlassungen vielschichtige Abwägungsprozesse der Militärkommandeure und Zivilverwalter unausweichlich waren. Die Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen für den Sieg war letztendlich nicht vereinbar mit einer umfassenden Überwachung ausländischer Angestellter. Ihre Entlassung war gegenüber inländischen Unternehmern kaum zu rechtfertigen, während die Migration ausländischer Fachkräfte mit dem Krieg abbrach und Einberufungen die Unternehmensbelegschaften verkleinerten. Im gleichen Sinne gestaltete sich der Umgang mit hunderttausenden ausländischen Saisonarbeiter/innen in Industrie und Landwirtschaft. Ihre
380 Gunther Mai, Arbeitsmarktregulierung oder Sozialpolitik? Die personelle Demobilmachung in Deutschland 1918 bis 1920/24, in: Gerald D. Feldman u. a. (Hg.), Die Anpassung an die Inflation, Berlin 1986, S. 202–236, hier S. 212. 381 Reichskommissar für Zivilgefangene u. Flüchtlinge (gez. i.V. Straube), Denkschrift betr. Abänderung d. Bestimmungen über d. Meldepflicht u. d. Behandlung d. Ausländer, 30.10.1920, in: BArch Berlin, R 43-I/594. 382 Ebd. u. Herbert, Fremdarbeiter, S. 56–59. Zur Ausländerbeschäftigung in der Weimarer Republik siehe: Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, S. 309–481.
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Beschäftigung galt als unabdingbar, weil das Arbeitskräfteangebot von vorneherein limitiert war. Die wirtschaftspolitischen Interventionen waren von der Grundüberzeugung durchdrungen, dass eine umfassende staatliche Organisation den politischen und militärischen Sieg erzwingen könne. Verdeutlicht hatte diese kriegsprägende Idee der Reichskanzler Bethmann-Hollweg gegenüber der Frankfurter Zeitung. Auf die Probleme der Lebensmittelversorgung angesprochen, sagte er: »Das ganze ist eine Organisationssache. Der Staat hat sie nun in seine Hand genommen[.] […] Die Organisation, die hier in Gang gesetzt werden muß, ist eine sehr schwierige Geschichte, aber wir glauben, die Schwierigkeiten überwinden zu können. Unser Staatswesen hat gezeigt, daß es die schwersten Organisationsaufgaben lösen kann.«383 Die Arbeitskräftepolitik als Organisationsaufgabe zeigte sich gerade in der Anwerbung und Zurückhaltung qualifizierter und ungelernter feindlicher Ausländer/innen aus Osteuropa, Belgien und Italien. Diese stellten aus Sicht der Heeresführung, der Reichsleitung und vieler Arbeitgeber ein wichtiges und unentbehrliches Element in der Kriegswirtschaft dar. Zwei Faktoren ihres Arbeitseinsatzes rückten verstärkt in den Fokus staatlicher und nicht-staatlicher Akteure. Zum einen klagten Arbeitgeber über vermehrte Kontraktbrüche und Widerständigkeiten der Arbeiter. Zum anderen sorgten sich die Kriegführenden um ihre Produktivität. Daraus entspannen sich Kontroversen um Kontrolle und Freizügigkeit, Zwang und Fürsorge, wobei der angemessene Umgang mit den ausländischen Arbeiter/ innen umstritten blieb. Während einige industrielle und landwirtschaftliche Großunternehmer und lokale Zivil- wie Militärverantwortliche Sanktionsinstrumente und Reglementierungen als unausweichlich betrachteten, gehörten diese für die Heeresverantwortlichen in Berlin zu den entscheidenden Faktoren, welche die Arbeitsfreudigkeit und damit die Produktivität untergruben. Trotz verschiedener Vorurteile gegenüber den Arbeiter/innen sollten in den Augen der Heeresverantwortlichen – ähnlich wie bei Inländern – soziale Zugeständnisse und nicht schrankenlose Gewalt die Arbeitsbereitschaft und -leistung der ausländischen Arbeiter/innen im Deutschen Reich fördern. In diesem Spannungsfeld war es für den Krieg kennzeichnend, dass einzelne Akteure vor Ort, angesichts einer Flut an militärischen Bestimmungen, auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter/innen einen entscheidenden Einfluss behielten. Arbeitgeber, inländische Kollegen, Polizeigendarmerie und Gewerbeaufsichtsbeamte interpretierten die bestehenden Verfügungen und setzten sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen, Vorurteile und finanziellen Interessen um. Ihre Handlungsspielräume, in denen Zwang eine zentrale Rolle spielen konnte, wurden militärischerseits solange 383 Eine Aueßerung des Reichskanzlers, in: Frankfurter Zeitung, 6.2.1915 (Nr. 37, Abendblatt).
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gestattet, wie Arbeiter/innen Strafen erduldeten oder diese im Sinne der Arbeitsproduktivität lagen. Die Anwendung von Zwang stellte immer auch eine situative Gratwanderung dar, um Interventionen oder Widerstände zu vermeiden. Auf der einen Seite brachten die Akteure des Krieges im Zuge dessen die Internierung Widerständiger und ihre Beugung bei Schwerstarbeit hervor. Auf der anderen Seite richteten sie Fürsorgestellen ein, akzeptierten fremdsprachige Eingaben und gewährten ausländischen Arbeiter/innen den Beitritt zu deutschen Gewerkschaften. Hierbei wirkten die einzelnen Elemente dieser vielschichtigen Ausländer/ innenpolitik in unterschiedlichem Maße und in wechselnden Konstellationen in die Lebenswelten der Arbeiter/innen hinein. Die Oberste Heeresführung und die Reichsleitung entwarfen eine Kriegsgesellschaft, in der jeder im Sinne des Staates tätig zu sein hatte. Über die Lebensumstände des Einzelnen entschied in der zweiten Kriegshälfte weit weniger seine Staatszugehörigkeit als vielmehr seine physische oder mentale Leistungsbereitschaft. Mit voranschreitendem Krieg stand die Ökonomisierung des Individuums der Nationalisierung der Gesellschaft entgegen.
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»Internierung. Überführung von feindl. Ausländern oder von auf neutrales Gebiet übergangenen Flüchtlingen feindl. Heere in eigens dazu bestimmte Orte (*Konzentrationslager). Die I. von Zivilpersonen geschieht in der Hauptsache als *Repressalie und ist insbesondere für nicht Wehrfähige aufhebbar.«1 »Konzentrationslager. (Konzentration vom lat. centrum, Mittelpunkt, Zusammenschluß.) Größere, an bestimmten Punkten errichtete Unterkunftsorte zur Aufnahme (*Internierung) von Zivilgefangenen (berüchtigt die von den Engl. im Burenkrieg eingerichteten, wegen der großen Sterblichkeit der Frauen und Kinder) und von auf neutrales Gebiet übergegangenen Truppen kriegführender Mächte. Dtsch. K. u. a. Ruhleben (für Engl.), Holzminden (für Frz.).«2 Das Kriegstaschenbuch klärte 1916 seine Leser/innen über Kriegsorte und -praktiken auf, die es beim Anschlagen der Mobilmachungsbefehle in Europa nicht gegeben hatte. 1905 sahen die Herausgeber von Meyers Großem KonversationsLexikon keinen Eintrag für Konzentrationslager vor, und die Erklärung des Begriffes Internierung bezog sich überwiegend auf den Akt, der bedeutete, »ins Innere des Landes oder an einen bestimmten Ort, besonders in eine Festung, verweisen«.3 In der Kriegsdefinition verdichteten sich die Orte zu »eigens dazu« vorgesehenen Punkten der Ausgrenzung von Zivilisten. Die Taschenbuchbearbeiter blickten hierbei nicht mehr auf die Festnahmen in den stürmischen Augusttagen zurück, sondern sahen sich einer systematischeren und umfassenderen Zivilgefangenschaft gegenüber, die im Laufe des Herbstes 1914 Gestalt angenommen hatte. In der Rechtswissenschaft der Jahrhundertwende wurde die Internierung als Praxis des Krieges nicht diskutiert. Ebenso existierten keine staatsrechtlich anerkannten Normierungen. »Der im Weltkrieg neu entstandene Begriff des Zivilgefangenen, unter den auch Frauen und Kinder fallen können, war mit dem bisherigen Völkerrechte unvereinbar«, betonte der Staatsrechtler Conrad Bornhak (1861–1944), der an der Preußischen Kriegsakademie gelehrt hatte, während des
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Art. Internierung, in: Kriegstaschenbuch, S. 134. Art. Konzentrationslager, in: Ebd., S. 157. Art. Internierung, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 10, Leipzig 1905, S. 890.
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Krieges.4 Auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz 1907 hatte allerdings die japanische Delegation die Aufnahme einer Regelung zur Ausweisung und Abschiebung von Zivilisten beantragt und wurde von den italienischen Abgesandten hierin unterstützt. »Die Angehörigen eines kriegführenden Staates sollen auf dem Gebiet des Gegners weiterhin den Schutz der Landesgesetze hinsichtlich ihrer Person, ihres Eigentums und ihrer geschäftlichen Unternehmungen genießen. Der Staat hat das Recht: 1. sie aus Orten auszuweisen, wenn ihre Anwesenheit die Sicherheit oder die militärischen Interessen des Staates gefährdet; zu diesem Zweck ist ihnen eine angemessene Abreisefrist zu gewähren, die den Umständen, die zu dieser Maßnahme führten, entspricht; 2. Einzelpersonen abzuschieben, deren Verhalten in gleicher Hinsicht als gefährlich gilt[.]«5 Die Verhandlungsteilnehmer aus 44 Staaten nahmen diesen Vorschlag nicht in die Vereinbarungen zum Kriegsrecht auf. Sie verwarfen die Möglichkeit einer Internierung von Zivilisten in großer Zahl als unzeitgemäß, erwähnten diese im endgültigen Vertragstext nicht und schlossen sie einmal mehr von den Diskussionen um das Kriegsrecht aus.6 Zur selben Zeit variierte der Umgang mit feindlichen Staatsangehörigen. Im Krieg zwischen dem Osmanischen Reich und dem Königreich Italien 1911/12 verfügte die Hohe Pforte die Ausweisung aller Staatsbürger/innen des Kriegsgegners wie bereits im Krieg gegen das Königreich Griechenland 1897, obwohl osmanische Staatsangehörige in Italien und Griechenland verbleiben durften. Im russländisch-japanischen Krieg 1904/05 erfolgte, mit Ausnahme in den Gebieten Ostasiens, keine Massenausweisung betroffener Ausländer/innen. Gleiches galt im Krieg zwischen den USA und dem Königreich Spanien 1898.7 Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 hatten bürgerliche Beobachter die Ausweisung deutscher Staatsbürger aus Paris im Zuge der Schlacht bei Sedan intensiv verfolgt und diskutiert. Sie beschrieben diese mehrheitlich als anachronistischen Akt wie als Rückschritt in den Bemühungen um eine Humanisierung des Krieges. Er solle auf dem Schlachtfeld zwischen kämpfenden Sol4 5 6 7
Conrad Bornhak, Der Wandel des Völkerrechts, Berlin 1916, S. 38. Franz Scheidl, Die Kriegsgefangenschaft von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Berlin 1943, S. 211. Josef Kohler, Die Vorkriegsgefangenen, in: Zeitschrift für Völkerrecht, Bd. VIII (1914), S. 641–645, hier S. 642. Zusammenfassend: Scheidl, Die Kriegsgefangenschaft, S. 212–216 u. Garner, The International Law and the World War, S. 56–59.
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daten entschieden werden.8 Unabhängig davon erfolgten bereits in Einzelfällen Verhaftungen und Internierungen. Diese stellten im Verhältnis zur Kriegsgefangenschaft von Soldaten und Offizieren aber nur eine Randerscheinung dar. Besonders betroffen waren mit dem Heer reisende Kriegsberichterstatter, die nach ihrer Rückkehr mit öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen durften.9 So verarbeitete der Journalist Theodor Fontane (1819–1898) seine Erfahrungen in dem Buch Kriegsgefangen. Erlebtes 1870, das vorab in der Vossischen Zeitung Abdruck fand.10 Die folgenden Ausführungen beleuchten die Ereignisse, die zur systematischen militärischen Internierung ausländischer Zivilisten führten, die damit einhergehenden Debatten in der Kriegsgesellschaft und die Praktiken im Umgang mit den Zivilgefangenen. Ihre Wahrnehmung und Beschreibung, Behandlung und Verwaltung wird als ein Prozess der Verstetigung verstanden, der vielstimmige Zeugnisse hervorbrachte. Nicht nur für zurückschauende Historiker/innen, die sich durch Fotografien, Archivdokumente und Selbstzeugnisse hindurchbewegen, vergegenwärtigen sich die gefangenen Zivilisten gleich dem Blick in einen zerbrochenen Spiegel. Auch die damaligen Akteure waren mit Brüchen in den ihnen begegnenden und durch sie hervorgebrachten Narrativen und Praktiken konfrontiert. Eine erste Annäherung an die Zivilgefangenschaft ermöglichen die Schriften dreier Staatsrechtler der Weimarer Zeit. Hermann Held, Jean Spiropulos und Christian Meurer suchten vor dem Hintergrund des verlorenen Krieges und des Versailler Friedensvertrages ein historisches und juristisches Urteil. Ihre Nachkriegsabhandlungen über die Internierung feindlicher Ausländer/innen sollen als konkurrierende Rezeptionen gelesen werden. Sie geben Einblicke in verschiedene Lesarten des Geschehenen und problematisieren mögliche historische Perspektiven. Zugleich blieben ihre Mahnungen nach internationalen Rechtsnormen für lange Zeit ergebnislos. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden trotz einer Absichtserklärung auf der Genfer Konferenz von 1929, aus der ein Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen hervorging, keine internationalen Vereinbarungen über die Zivilinternierung getroffen.11
8 Becker, Strammstehen vor der Obrigkeit? S. 102–104 u. Pabst, Subproletariat auf Zeit, S. 268. 9 Vgl. Heidi Mehrkens, Statuswechsel. Kriegserfahrung und nationale Wahrnehmung im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, Essen 2008, S. 175–186. 10 Theodor Fontane, Kriegsgefangen. Erlebtes 1870, Berlin 1871. 11 Scheidl, Die Kriegsgefangenschaft, S. 222–227.
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Juristische Urteile über das Unerwartete Der Internierte – Hermann J. Held Im Juli 1914 reiste Hermann J. Held (1890–1963) nach Cambridge, um dort an juristischen Vorlesungen teilzunehmen und in den englischen Bibliotheken seine Dissertation über die Rolle des Völkerrechts im russländisch-japanischen Krieg 1904/05 abzuschließen. Als der Krieg in Europa beschlossen worden war, konnte er England aufgrund der Zurückhaltung feindlicher Ausländer/innen nicht mehr verlassen. Am 21. Oktober 1914 wurde er im Gefangenenlager Lofthouse Park bei Wakefield, einem stillgelegten Freizeitpark, interniert. In den Kriegsjahren wirkte er vor allem an der durch die sozial gehobenen Insassen eingerichteten Lagerhochschule als Dozent für Rechtswissenschaften. Nachdem er im Oktober 1918 in das Lager Knockaloe auf der Isle of Man verlegt worden war, erfolgte seine Freilassung erst Ende März 1919.12 Ein Jahr später legte er seinem Promotionsgesuch ein medizinisches Gutachten bei, in dem es über die Wirkung der langen Gefangenschaft auf ihn hieß: »Die Behandlung brachte die schrecklichsten Zustände hervor, in dem anläßlich von Erethismus der Kranke rast- und ruhelos, gedrängt etwas zu tun, in den meisten Fällen jedoch zur Ausführung unfähig wurde und erlahmte. […] Als offenbar vasomotorisch vermittelte Störungen sind der Kopfdruck, Schwindel, Betäubungsgefühle, solche von Wallung mit wirrem Durcheinander der Gedanken zu deuten. Daher ist es erklärlich, daß […] größte Rücksicht auf den schwer nervenkranken Patienten genommen werden muß.«13 Hermann Held erholte sich. In seinen Arbeiten wirkten gleichwohl die Kriegserlebnisse thematisch und womöglich ebenso moralisch fort. In ihnen erkannte er gar die Möglichkeit zu einem Urteil, das »breitere und die andern Arbeiten zum Teil richtigstellende Ausführungen« enthalte.14 Er promovierte über Die Rechtsstellung feindlicher Zivilpersonen in England unter besonderer Berücksichtigung des Fremdenrechts15 und verfasste seine Habilitationsschrift über den Wirtschaftskrieg.16 Beide Darstellungen fanden Eingang in die von ihm geschriebenen Artikel Wirtschaftskrieg und Zivilgefangenschaft im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie.17 12 Henning Ibs, Hermann J. Held (1890–1963). Ein Gelehrtenleben in den Fängen der Zeitläufe, Frankfurt a. M. 2000, S. 32–48. 13 Zeugnis d. Medizinalrates Dr. Stroomann über Hermann Held, 19.1.1920, zit. nach: Ibs, Hermann J. Held, S. 49 f. 14 Held, Zivilgefangenschaft, S. 717. 15 Ibs, Hermann J. Held, S. 52 ff. 16 Ebd., S. 77–82. 17 Hermann J. Held, Wirtschaftskrieg, in: Strupp (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 576–634 u. Ders., Zivilgefangenschaft, in: Ebd., S. 663–723.
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Der Jurist Karl Strupp (1886–1940) gab das Wörterbuch zwischen 1924 und 1929 in drei Bänden heraus.18 Mit dem in internationalen Fachkreisen gelobten Werk hatte der Frankfurter Professor (1926–1933) zwei Ziele verfolgt. Einerseits sollte das Wörterbuch das Völkerrecht als eigenständige Rechtsdisziplin unter Beweis stellen. Andererseits wollte Strupp unter einer nationalen Prämisse die Bedeutung der deutschen Rechtswissenschaften unterstreichen. Darüber hinaus wandte er sich aber nicht nur an ein Fachpublikum, sondern stellte das Nachschlagewerk ebenso in den Dienst von Diplomaten und Politikern.19 Die circa 150 mitwirkenden Autoren vertraten die Rechtswissenschaft in ihrer fachlichen Breite. Held war durch seine akademischen Qualifikationsarbeiten ein ausgewiesener Experte. Zugleich ist die Vermutung naheliegend, dass sein abschließendes Urteil über die Zivilinternierung gleichwohl eine Rolle für seine Aufnahme in den Kreis der Wörterbuchautoren gespielt hatte. Denn er bewertete diese Praxis im Weltkrieg als unverhältnismäßig und widerrechtlich. Held definierte Zivilgefangenschaft zunächst als »Festhaltung mit der Kriegsführung und der bewaffneten Macht des Feindes in keiner aktiven Verbindung stehender feindlicher Personen«.20 Sie sei »ein Verfahren zur Verhütung der Teilnahme« dieser am Krieg. Ihre Einschließung stelle indes keine Zwangsläufigkeit dar. Denn die Freiheitsbeschränkung sei die »härteste Form, die bisherige Unschädlichkeit des meist im Frieden gastlich aufgenommenen Feindes zu erhalten und die Möglichkeit des Beginns seiner Teilnahme am Krieg auszuschließen«. Für die Internierung hielt er unterschiedliche Gründe wie »z. B. die geographische Lage des Landes, die Zahl der feindlichen Zivilpersonen, die Kriegslage, die öffentliche Meinung u. dgl.« denkbar. Rückblickend stellte er aber fest, dass der »Grundsatz des adäquaten Mittels […] sicherlich nicht eingehalten [wird], wenn eine Regierung auf jeden Druck der öffentlichen Meinung, auf Hetzreden wüster Fanatiker und die Propaganda einer skrupellosen Presse mit Internierungsmaßnahmen antwortet«.21 Held bezog sich hierbei überwiegend auf Protestversammlungen in London im Jahre 1915, die sich als Reaktion auf die Versenkung des britischen Passagierschiffs RMS Lusitania durch ein deutsches U-Boot entwickelt hatten und in deren Anschluss die britische Regierung die Internierung wehrpflichtiger ›Enemy Aliens‹ verfügte.22 Sein daraus hervorgehendes Resümee beanspruchte allerdings Allgemeingültigkeit. Polizeiliche Aufsicht, Ortswechselverbote und Meldevorschriften sollten meist als Maßnahmen genügen. Deshalb konstatierte 18 Karl Strupp (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1–3, Berlin 1924– 1929. 19 Sandra Link, Ein Realist mit Idealen – Der Völkerrechtler Karl Strupp (1886–1940), BadenBaden 2003, bes. S. 190–209. 20 Held, Zivilgefangenschaft, S. 663 (Herv. R. M.). 21 Ebd., S. 663–666. 22 Ebd., S. 701 f.
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er: »Sogenannte ›geschlossene Konzentrationslager‹ sind also grundsätzlich zu vermeiden«.23 Seinen Standpunkt gegen die Zivilinternierung untermauerte Hermann Held mit zwei Argumenten. Er deutete erstens das 19. Jahrhundert als eine völkerrechtliche Blütezeit, in der eine stetige Ausweitung der Rechte der Zivilisten in kriegerischen Konflikten erreicht wurde. Ihre Abreise innerhalb großzügiger Fristen zu gestatten, sei »eine völkerrechtliche Pflicht des kriegführenden Staates geworden« und ihr fortwährender Aufenthalt meist die Regel gewesen. Diese Vorkriegspraxis sah er zweitens durch ihre Ächtung nach dem Krieg bestätigt. »Eine Zurückhaltung solcher Personen, wie sie in ältester Zeit üblich war, läßt sich heute ihrem Umfang nach nur im Hinblick auf das System der allgemeinen Wehrpflicht rechtfertigen, wenn dies auch nicht der Staatenpraxis vor dem Weltkrieg und den Erfordernissen moderner Zivilisationen entspricht. Die Internierung von Zivilpersonen ist nach Völkergewohnheitsrecht, Staatenpraxis, besonders einer Reihe von Verträgen, aber auch nach der herrschenden Meinung in der Völkerrechtswissenschaft (Stand 1914) widerrechtlich. Die Verpflichtung Deutschlands im Vertrag von Versailles […], den alliierten Zivilpersonen Gewalt- und Internierungsschäden zu ersetzen, bestätigt die Widerrechtlichkeit für die Gegenwart[.]«24 Für die Beurteilung der Zivilinternierung im Ersten Weltkrieg ergab sich für Held daraus ein Bruch kriegsrechtlicher Normen, den er zuerst bei der britischen Regierung verortete. Zukünftige Vereinbarungen sollten solche Völkerrechtsverletzungen verhindern helfen.25
Der Richter – Jean Spiropulos Das Resümee Hermann J. Helds unterschied sich von dem des Rechtswissenschaftlers Jean Spiropulos (1896–1972), der in seinem späteren Leben zum Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag berufen werden sollte.26 Im Gegensatz zu Held schrieb er in der Einleitung seiner 1922 verfassten Darstellung über die Ausweisung und Internierung feindlicher Staatsangehöriger: »Mit dem Eintritt des Kriegszustandes hat der Staat das Recht, gegenüber den in seinem Gebiete befindlichen Angehörigen des Gegners gewisse Maßnahmen zu ergreifen, die ihm im Interesse seiner eigenen Sicherheit nötig erscheinen«. Spiropulos zählte die »Zurückhaltung resp. Internierung« ausdrücklich dazu. Weil keine rechtlichen 23 24 25 26
Ebd., S. 666. Ebd., S. 715. Ebd., S. 717. Jean Spiropulos, Ausweisung und Internierung feindlicher Staatsangehöriger, Leipzig 1922. Ebenso ist die Schreibweise Spiropoulos und Spyropoulos verwendet worden.
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Kodifikationen existierten, erblickte er darin keine aus dem Völkerrecht herleitbare Rechtswidrigkeit und keine »Rückkehr zu ›barbarischen Sitten‹«.27 »Wir müssen uns über diesen Punkt klar sein«, appellierte er an seine Leser/ innen, dass »der einzelne feindliche Staatsbürger […] dank der allgemeinen Wehrpflicht verpflichtet [ist], sich bei Ausbruch des Krieges in das Heer seines Landes einreihen zu lassen; er wird mithin einen […] Teil der feindlichen Truppenmacht bilden«. Mit der Erlaubnis ihrer Abreise würden sich die Staaten selbst schädigen. Spiropulos sah deshalb im Selbsterhaltungsrecht der Staaten eine ausreichende Begründung für die Zurückhaltungspraxis auch der Wehrfähigen. Er lehnte darüber hinaus eine Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Zivilisten ab, da letztere durch die ihnen »eingeräumten Rechte einen genügenden Einfluß auf das politische Leben des Staates erhalten« hätten. So habe der Staat das Recht, Frauen und Kinder in seinem Interesse »vorübergehend« zurückzuhalten, »nicht aber dauernd« festzuhalten.28 Zwar erkannte auch Spiropulos im Rousseau’schen Paradigma, dass »der Kriegszustand keinen Einfluß auf das Verhältnis der Angehörigen der beiden im Streite befindlichen Staaten zueinander ausübe«, eine »unbestrittene Forderung« und eine »Grundlage des modernen Kriegsrechtes«. Aber im Rückblick auf die Praxis des Weltkrieges, die »aufklärend« gewirkt hätte, konstatierte er eine Fehlentwicklung der Theorie des Völkerrechts. »Der Glaube einiger Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, daß der Typus der Zurückhaltung und Internierung einem überwundenen Standpunkt angehöre, hat sich als schimärenhaft erwiesen. Das ganze Gebäude jener veralteten, die Stellung der feindlichen Staatsangehörigen charakterisierenden Theorie ist – weil den neuen Verhältnissen nicht mehr angepasst – in einigen Monaten Weltkrieg unter dem Drucke der Ereignisse zusammengebrochen.«29 Karl von Stengel (1840–1930), ebenfalls Staatsrechtler und einer der Vertreter des Deutschen Reiches auf der Haager Friedenskonferenz 1899, hatte sich 1914 in gleichem Sinne geäußert. Er kritisierte bezugnehmend auf die internationalen Beziehungen das Überwiegen von »Phrasen und Schlagworten«. Dies müsse ein Ende finden, »denn es ist klar, daß Fortschritte im Völkerrechte nicht durch utopistische, mit den Grundlagen der geltenden Völkerrechtsordnung im Widerspruch
27 Spiropulos, Ausweisung und Internierung, S. 21 f., 24 u. 97 f. Auf die unterschiedliche Deutung des Krieges bei Spiropulos und Held wies bereits Held selbst hin, siehe: Held, Zivilgefangenschaft, S. 717. 28 Spiropulos, Ausweisung und Internierung, S. 97 f., 101, 111 u. 113. 29 Ebd., S. 100.
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stehende Bestrebungen erzielt werden können, sondern nur dadurch, daß auf den bestehenden Grundlagen vorsichtig und ruhig weitergebaut wird«.30 Die Internierungspraxis des Weltkrieges sah Jean Spiropulos im Grundsatz »salus populi suprema lex esto« – das Wohl des Volkes sei das höchste Gesetz – begründet. Er betonte davon ausgehend wie sein Kollege Held die situativen Entscheidungsbedingungen, die zu dieser führen können. Von der »Größe der Anzahl der im Lande befindlichen feindlichen Untertanen«, der »geographische[n] Lage« des Staates und »vom Verlauf der kriegerischen Unternehmungen selbst« hänge die Wahl staatlicher Zwangsmittel ab.31 Außerdem zeitige der Krieg weitere Entscheidungsfaktoren. Hierbei hob Spiropulos den Vergeltungscharakter der ergriffenen Maßnahmen im Deutschen Reich hervor. Nachdem die deutsche Regierung zu Kriegsbeginn feindliche Ausländer/innen »weit weniger streng behandelt« habe, sei eine diesbezügliche Wandlung erst durch die Situation deutscher Staatsangehöriger in feindlichen Staaten eingetreten, die die Reichsleitung zum Handeln gezwungen habe. Über diesen Wahrnehmungsprozess schrieb er: »Die allmählich eintreffenden Nachrichten aus dem Auslande über die harten Maßregeln, denen die deutschen Untertanen auf Anordnung der feindlichen Regierungen hin unterworfen wurden, riefen lebhafte Beunruhigung in der Bevölkerung als auch in Regierungskreisen hervor.«32 Das staatliche Handeln im Krieg war für ihn folglich vielschichtig und nicht durch »Einheitlichkeit« bestimmt. Den heterogenen Interessen und den daraus folgenden Praktiken wollte er aber im Völkerrecht nicht durch die Ächtung der Zivilinternierung nachkommen, sondern durch internationale Übereinkünfte zu ihrer Regulierung. Ihre Eckpunkte skizzierte er am Schluss seiner Darstellung. »Es muss allgemeinverbindlich geregelt werden, daß die zurückgehaltenen Untertanen der beiden Kriegführenden grundsätzlich nicht schlechter als die Kriegsgefangenen zu behandeln sind. Auch wird vielleicht die Notwendigkeit einer Differenzierung in der Behandlung – je nach Alter, Geschlecht und sozialer Stellung – sich ergeben. Internierung von Zivilgefangenen in Kolonien und gesundheitsschädlichen Orten ist strengstens zu untersagen. Regeln über etwaigen Austausch sind aufzustellen. Bestimmte Altersgrenzen für die Klassifikation der Wehrfähigkeit müssen vereinbart werden.«33
30 Karl von Stengel, Völkerrecht, in: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz u. Adolph Wagner (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II, Bd. 1, Buch 3: Die Entwicklung des Rechts, Berlin 1914, S. 61–89, hier S. 88. 31 Spiropulos, Ausweisung und Internierung, S. 103. 32 Ebd., S. 79 f. 33 Ebd., S. 114.
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In diesem Sinne sind die Darlegungen Spiropulos’ als ein Plädoyer gegen die zukünftige Entgrenzung der Kriegspraktiken gegenüber Zivilisten zu verstehen, obwohl er das Handeln nationaler Entscheidungsträger wie lokaler Akteure in den Jahren 1914 bis 1918, das die Zivilinternierung als einen Status quo des Krieges hervorbrachte, nicht verurteilte. In Teilen ist seine Schrift eine Rechtfertigung der Kriegsentscheidungen, bei denen er die Macht- und Zwangsverhältnisse zwischen Militärs und ›feindlichen‹ Zivilisten durchaus anerkannte. Die humanitären Grenzüberschreitungen und die individuelle Verantwortung identifizierbarer Akteure blendete er wie sein Kollege Hermann Held hingegen aus. Hierfür hatten die beiden Rechtswissenschaftler keine zweckmäßige Perspektive gewählt. Ihr Blick verharrte auf einer gesamtstaatlichen Handlungsebene mit agierenden Kollektivsubjekten. Als Vermittlungsbeitrag ihrer konträren Standpunkte können aus der Retrospektive die Abwägungen des Jenaer Professors für öffentliches Recht, Johannes Niedner (1868–1920), gelesen werden. In einem Vortrag in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft zu Jena 1915 stellte er die Frage: »Wo bleibt das Völkerrecht?«34 Ausgangspunkt seiner Ausführungen war die Feststellung, dass das Recht nicht nur in den Elfenbeintürmen der politischen Elite ersonnen und durch die Zwangsgewalt staatlicher oder internationaler Institutionen verwirklicht werde. Ebenso seien die gesellschaftlichen, zwischenmenschlichen Praktiken, die »soziale Lebensbetätigung«, ein Keim der Rechtssetzung und -bestätigung. Die zwischen beiden Polen entstehenden Differenzen waren für ihn der stetige Impuls der Weiterentwicklung des Rechts. »Sie können ihren Grund darin haben, daß die geschriebene Norm überhaupt niemals in die Rechtsüberzeugung der Beteiligten übergegangen ist, oder darin, daß die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit verlorengegangen ist.«35 Niedner wandte diese Reflexionen auf das Völkerrecht im Weltkrieg an. »Bei den Grausamkeiten gegen Verwundete und Gefangene, über die sich beide Parteien beschweren, bei der Verletzung des Roten Kreuzes, der Nichtachtung der Parlamentäre, der Vernichtung von Kunstwerken handelt es sich doch wohl überall nur um Rechtsverletzungen in Einzelfällen«, urteilte er. Denn die kriegführenden Regierungen wie die Oberkommandos lehnten die Genfer Konvention und die Haager Abkommen nicht ab. Vielmehr sei es ihr »ersichtliche[s] Bestreben«, »sie zur Durchführung zu bringen«. »Hunderttausende von Gefangenen und Verwundeten werden ordnungsmäßig verpflegt und es wird ihr schriftlicher Verkehr mit dem Heimatlande zugelassen. Die Überzeugung, daß das so sein muß, ist bei den kriegführenden Staatsregierungen geblieben.«36 Weniger wohlwollend fiel dagegen seine Einschätzung des Umgangs mit feindlichen Ausländer/innen aus. Er erklärte seinen Zuhörern, dass »[i]n manchem 34 Johannes Niedner, Der Krieg und das Völkerrecht, Jena 1915. 35 Ebd., S. 18. 36 Ebd., S. 21 f.
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gegen frühere Rechtsgewohnheiten geänderten Verhalten gegen Zivilpersonen […] offenbar die Überzeugung zum Ausdruck [kommt], daß das frühere Verhalten grundsätzlich nicht aufrechterhalten werden könne«. Im Krieg sei eine Differenz zwischen Konventionen und festgestellten Erfordernissen aufgebrochen, die sich in neuartigen Praktiken äußere. »Das trat z. B. bei der Gefangennahme der nicht zur bewaffneten Macht gehörigen, aber möglicherweise bei ihr Verwendung findenden wehrfähigen Männer zu Tage. Alle beteiligten Staaten haben sie schließlich für notwendig gehalten. Es drängte sich gleich am Anfang des Krieges allen beteiligten Staaten die Überzeugung auf, daß es in diesem Kriege darauf ankommen werde, den letzten Mann heranzuziehen, und so schlug denn in diesem Punkte die Überzeugung von dem, was notwendig sei, um; das herrschende Rechtsgefühl verbot es anscheinend nicht mehr das zu tun, was man früher nicht glaubte tun zu dürfen.«37 Johannes Niedner bestätigte einerseits die Ansicht Hermann Helds, dass die Internierung von Zivilisten nach dem Gewohnheitsrecht eine Rechtsübertretung gewesen sei. Zugleich erkannte er andererseits die Normativität des staatlichen Selbstschutzes, wie sie von Jean Spiropulos vertreten wurde, an. Während ersterer die theoriegeleitete Vorkriegskonstitution betonte und letzterer die Praxis der Kriegführenden stärker gewichtete, erklärte Niedner diese Positionen zu Polen eines dialektischen Zusammenspiels der Rechtsgenese. Der Weltkrieg hatte demnach eine Wandlung juristischer Werte und einen Prozess der Rechtsaushandlung in Bewegung gesetzt. In den 1920er Jahren war dieser noch nicht abgeschlossen, und Held wie Spiropulos waren zwei seiner Protagonisten. Jenseits ihrer formulierten Gegensätze lassen sich zwei gemeinsame Kernaussagen herausstellen. Erstens zeigten sie, dass die Internierung von Zivilisten über einen längeren Zeitraum in vielen kriegführenden Staaten gängige Praxis gewesen war. Sie schätzten im Zuge dessen das Handeln der deutschen Verantwortungsträger als ein reagierendes ein. Zweitens stellte ihnen zufolge die Zivilinternierung keine langfristig in militärischen Zirkeln geplante oder in öffentlichen Foren thematisierte und dadurch theoretisch-normierte Unternehmung dar, sondern eine situativ entschiedene und durch unterschiedliche Praktiken ausgestaltete Maßnahme. Mit diesen historisch-juristischen Befunden können die Veröffentlichungen Helds und Spiropulos’ zum Umgang mit Zivilisten im Weltkrieg als Beiträge zu den polarisierenden Diskussionen um Kriegsrechtsverletzungen gegenüber Kriegsund Zivilgefangenen gelesen werden. Die seit den ersten Kriegstagen von den Alliierten erhobenen Vorwürfe über menschenunwürdige Lebensbedingungen in 37 Ebd., S. 23.
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Lagern und menschenverachtendes Verhalten durch Verantwortungsträger waren zahlreich gewesen. Im Laufe der 1920er Jahre widmeten sich mehrere Institutionen im Deutschen Reich den humanitären Grenzüberschreitungen. Zunächst konstituierte sich nach Kriegsende die Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland unter dem Vorsitz des Völkerrechtlers und Pazifisten Walther Schücking.38 Ihre Mitglieder untersuchten exemplarische Einzelfälle. Sie beschränkten sich aber überwiegend auf die Kriegsgefangenenbehandlung. Gleichzeitig verhandelte das Leipziger Reichsgericht Anklagen wegen Gefangenenmisshandlungen und in über 100 Fällen hinsichtlich der Deportation belgischer Staatsangehöriger, die in der deutschen Rüstungsindustrie arbeiten mussten.39 Zu Verurteilungen kam es allerdings nur in sehr wenigen Fällen und die Verfahren vermochten es nicht, einen Prozess der historischen Meinungsbildung oder eine generelle juristische Debatte über die Rechtmäßigkeit der Internierung von Zivilisten anzustoßen. Erst der parlamentarische Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung und des Reichstages widmete seine Aufmerksamkeit unter anderem den Zivilinternierten.
Der Gutachter – Christian Meurer Der dritte Unterausschuss der Nationalversammlung und des Reichstages über die Brüche des Völkerrechts war Teil einer großen parlamentarischen Unternehmung. Sie suchte in den Gründungsjahren der Weimarer Republik in gleichem Maße Antworten auf Fragen nach den Verantwortlichen für den Krieg, nach den versäumten Friedensmöglichkeiten und nach den Ursachen für die Kriegsniederlage. Die herangezogenen Gutachter strebten in den daraus hervorgegangenen Berichten vielfach Synthesen an, die über Einzelfälle urteilten und zugleich allgemeingültige Ergebnisse formulierten. In diesem Sinne kamen die Mitglieder des dritten Unterausschusses ausdrücklich nicht als Richter, sondern als Geschichtsforscher zusammen.40 Unter der Ägide des Würzburger Ordinarius für Kirchen- und Völkerrecht Christian Meurer (1856–1935) entstand ein umfangreiches Gutachten über Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts. Es behielt der Bewertung des Umgangs
38 Die Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen. Amtlicher Bericht der Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland, Berlin 1920. Zusammenfassend: Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, S. 321–332. 39 Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 333–395 u. umfassend zu den Leipziger Kriegsverbrecherprozessen: Harald Wiggenhorn, Verliererjustiz. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg, Baden-Baden 2005. 40 Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, S. 156 f.
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mit den Zivilgefangenen ein eigenes Kapitel vor.41 Meurer profitierte beim Verfassen erheblich von Zuarbeiten der Beamten der Reichszentrale für Kriegs- und Zivilgefangene und der Auflösungsstelle des Kriegsgefangenenwesens und schöpfte seine Erkenntnisse hauptsächlich aus den Akten deutscher ziviler und militärischer Behörden. Auf diese Verflechtung von Gutachter und staatlichen Institutionen gilt es besonders hinzuweisen, eröffnete sie doch in hohem Maße die Möglichkeit, dass die Untersuchungsergebnisse die Interessen der außenpolitischen Leitlinien der Weimarer Republik widerspiegelten.42 Die Mehrheit der Ausschussmitglieder nahm nach mehreren Verhandlungstagen im November 1925 eine Entschließung an, welche die Narrative der Kriegszeit fortschrieb. Sie diagnostizierten in Bezug auf die »wechselseitige Behandlung der bei Kriegsausbruch in Feindesland befindlichen Personen«, dass die Kriegsgegner des Deutschen Reiches »unter Außerachtlassung der Humanität die Zivilbevölkerung deutscher Staatsangehörigkeit nicht nur in schlimmste Kriegsnot versetzt, sondern sie auch darüber hinaus der Grundlage ihrer Existenz für immer beraubt [haben]. Nachdem so von der Gegenseite der Krieg auf die Zivilbevölkerung übertragen worden war, ist Deutschland diesem Beispiel notgedrungen, wenn auch zögernd, gefolgt.«43 Meurer hatte in seinem Gutachten das Fazit gezogen: »Deutschland war gezwungen, den Weg der Vergeltung zu beschreiten und folgte nur zögernd dem Beispiel der Gegner.«44 Er sah während des Krieges eine Spirale aus Aktionen und Reaktionen in Bewegung gesetzt, die sich der Verantwortung der Reichsführung entzogen. »Die Gegner begannen, und Deutschland mußte mit Gegenmaßnahmen folgen. Damit raste die Kriegsfurie hüben wie drüben auch in die friedliche Wohnung hinein und zertrat die Errungenschaft der Kultur.«45 Charakteristisch für diesen Blickwinkel ist im Weiteren die moralische Verurteilung der Zivilinternierung als eine »verabscheuungswürdige Grausamkeit« und einen »bedauerlichste[n] Rückfall in die Unkultur«.46 Denn obwohl eine völkerrechtliche Klärung des Status ausländischer Zivilisten vor dem Kriege unterblieben sei, erkannte Meurer in der juristischen Literatur wie in Äußerungen der »Kulturwelt« einen Konsens über das Rousseausche Paradigma, nach dem Staaten Krieg führten und nicht Individuen. Er fand in seiner Zusammenfassung des 41 Gutachten d. Sachverständigen Geh. Rates Prof. Dr. Meurer, in: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919–1928. Verhandlungen, Gutachten, Urkunden. Reihe 3: Völkerrecht im Weltkrieg, Bd. 3: Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts, Hlbd. 1 u. 2, Berlin 1927, S. 913 (inkl. Anhang). 42 Heinemann, Die verdrängte Niederlage, S. 196 f. u. 201. 43 Entschließung d. Dritten Unterausschusses (14.11.1925), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 7–22, hier S. 22. 44 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 723. 45 Ebd., S. 724. 46 Ebd., S. 723.
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gewachsenen Gewohnheitsrechtes gleichwohl eine Rückversicherung für dessen Überschreitungen. Zivilisten hätten demnach »das Recht der Rückkehr, wenn nicht (bei gesunden Männern) wehrpflichtiges Alter oder Spionageverdacht vorlag oder sich eine Schutzhaft als nötig erwies«.47 Unter der Prämisse des Handelns als Reaktion und des Moralisierens verfasst, hatte Meurer sein Gutachten als eine vergleichende Studie angelegt. Er schilderte zuerst die Maßnahmen der Kriegsgegner, um daran anschließend die Unvermeidlichkeit der Entscheidungen deutscher Verantwortlicher zu unterstreichen. Beispielhaft zeigt sich sein Vorgehen bei der Darstellung des Kriegsbeginns. Deutsche Staatsangehörige seien in den Ländern der Kriegsgegner mit Plünderungen, Verhaftungen, Misshandlungen und »rohen Gewalttaten« konfrontiert gewesen. Im Gegensatz dazu überging er mit einem nüchternen Verweis auf die Gesetzeslage, wie feindliche Ausländer/innen im Deutschen Reich behandelt wurden. »Die deutschen Gegenmaßnahmen, die durch das Vorgehen notgedrungen hervorgerufen wurden, sind enthalten in dem im RGBl. veröffentlichten Bundesratsverordnungen von August bis Dezember 1914«, hieß es lediglich.48 Die Argumentationsstrategie Meurers zeitigte mehrere Folgen. Zum einen erschöpften sich seine juristischen Erkenntnisse in der nicht weiter begründeten Feststellung, dass bei der Zivilinternierung, trotz des erörterten Vorkriegsgewohnheitsrechtes, keine »Verletzung des Völkerrechts« vorlag und die »Konzentrationslager« im Übrigen eine »englische Erfindung« waren.49 Den dazu führenden Überlegungen der Kriegsgegner sprach er jeglichen kriegsbezogenen Charakter ab.50 Zum anderen stilisierte er die Zivilinternierung zu einer unvermeidbaren Institution des Krieges im Deutschen Reich. Denn aus seinem Blickwinkel vermied er die Benennung verantwortlicher Akteure wie die Differenzierung situativer Entscheidungen und vielfältiger lokaler Praktiken gegenüber feindlichen Staatsangehörigen. Folglich galt für Meurer, dass wer auch immer im Deutschen Reich Entscheidungen treffen musste, es im zögernden Ringen mit sich selbst getan hatte. Die internationale Perspektivierung der Situation deutscher Staatsangehöriger unter anderem in Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien, Russland, Rumänien, Portugal, Griechenland und den Vereinigten Staaten von Amerika kann hierbei als höchst absichtsvolle narrative Strategie gedeutet werden. Sie diente der Entschuldung und Relativierung der Maßnahmen der unbekannten Akteure des Deutschen Reiches. Christian Meurer erhob nicht zuletzt das Handeln der Kriegsgegner zur normativen und praktischen Orientierungsgrundlage und begründete damit einen dritten Standpunkt in der Debatte über den Ort der Zivilinternierung im Europa des 47 48 49 50
Ebd., S. 720. Ebd., S. 721 f. Ebd., S. 723 f. Vgl. Heinemann, Die verdrängte Niederlage, S. 201 f.
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beginnenden 20. Jahrhunderts. Hermann Held hatte ihre Unverhältnismäßigkeit und Rechtswidrigkeit in Bezug auf das internationale Gewohnheitsrecht betont. Jean Spiropulos verteidigte die Internierung als ein Recht des Staates, das aus den situativen Erfordernissen des Krieges erwachse. Christian Meurer schließlich fasste sie als relationales internationales System auf, dessen Funktionslogik auf dem Paradigma der Gegenseitigkeit basierte. Innerhalb dieses Systems trafen souveräne Akteure weiterhin Entscheidungen. Ihre Handlungsspielräume reduzierten sich allerdings erheblich, weil sie davon überzeugt waren, stets auf die Maßnahmen der Kriegsgegner gleichwertig reagieren zu müssen. Zugleich mussten sie davon ausgehen, dass ihre Taten von den anderen Kriegsakteuren registriert wurden, die entsprechend verfahren konnten. Erst als der Gutachter auf die Anklagen der Alliierten und die Ausgestaltung der Zivilinternierung zurückkam, reichte diese Verteidigungsstrategie nicht mehr aus. »Es mag zutreffen, daß in den ersten Kriegsmonaten die Verhältnisse in deutschen Internierungslagern viel zu wünschen übrig ließen«, begann Meurer seine Ausführungen und begegnete dem Eingeständnis mit mehreren historischen Forschungsresultaten.51 Missstände hätten sich ergeben, »weil es unmöglich war, in kürzester Zeit vollkommen einwandfreie Unterkunft zu schaffen und ein zur Bewachung nach jeder Richtung geeignetes Personal heranzuziehen«. Ebenso »[n]achteilig« für die Umsetzung der Zivilinternierung sei es gewesen, »daß verschiedene behördliche Stellen sich mit der Regelung derselben befaßten«. Im Kontrast zu seinen einleitenden Darlegungen, in denen er selbst Kollektivakteure nicht namhaft machte, zählte er nun auf: »das Auswärtige Amt, das Allgemeine Kriegsdepartement des Kriegsministeriums, der Chef des Generalstabes des Feldheeres, der Chef des Stellvertretenden Generalstabes, das Oberkommando in den Marken in Berlin, die Stellvertretenden Generalkommandos, das Unterkunftsdepartement des Kriegsministeriums, das Ersatz- und Arbeitsdepartement im Kriegsministerium (AZS.), das Sanitätsdepartement im Kriegsministerium, das Reichsamt des Innern, die Landesministerien«. Aus den daraus folgenden verworrenen Zuständigkeiten hätte sich ein »Mangel an Stetigkeit bei den unteren Stellen« ergeben, »worunter stellenweise wohl die Internierten zu leiden hatten«. Es sei allerdings ein hoher finanzieller Aufwand betrieben worden, um die »Lagereinrichtungen auf den unter den gegebenen Verhältnissen höchsten Stand der Vervollkommnung zu bringen«. Nicht zuletzt seien lokale Verantwortliche wie »Korps- und Lagerkommandanten in verhältnismäßig kurzer Zeit der ihnen ganz neu gestellten Aufgabe Herr geworden«.52 Sie hätten »zum Teil mustergültige Einrichtungen getroffen«.
51 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 763. 52 Ebd.
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Meurers Darstellung und Einschätzung unübersichtlicher ebenso wie kaum zurückverfolgbarer Zuständigkeiten und nicht gänzlich nachvollziehbarer Verantwortungen beeinflusste das Urteil über die Rechtsverletzungen durch die Ausschussmitglieder. So hielten auch die sozialdemokratischen Abgeordneten des Untersuchungsausschusses in ihrem kritischen Minderheitenentschluss fest, dass »[e]ine einheitliche Stelle, die gegenüber dem Staate die Verantwortung für die Behandlung der Kriegsgefangenen insgesamt zu tragen hatte, […] nicht [bestand]. Teils waren die Kriegsminister, teils die Oberste Heeresleitung, teils der Reichskanzler (Auswärtiges Amt) ressortmäßig zuständig. Die Verantwortung trugen die einzelnen Stellen teils solidarisch, teils die einzelne Stelle für sich«.53 Die sich aus den anfänglichen Improvisationen ergebenden Missstände, so die weitere Argumentation Meurers, seien eine Herausforderung gewesen, die gemeistert wurde. Die vielen zuständigen Institutionen waren in diesem Sinne sowohl Störfaktoren als auch Teilhaber an der stetigen Verbesserung der Lage der Internierten. Ganz diesem Motiv des Fortschritts verschrieben, entwarf Meurer darauffolgend eine Erfolgsgeschichte der Zivilinternierung im Deutschen Reich anhand der Aufzählung kriegsministerieller Erlasse. Machtkämpfe und Meinungsverschiedenheiten, Zwänge und Konflikte verschwanden ebenso hinter dieser Bilanz wie die über vier Jahre andauernde Entwicklung des Internierungssystems und die dafür verantwortlichen internen wie externen Faktoren. Erst in den kleingedruckten Quellenangaben fanden die Parlamentarier/innen die Prozesshaftigkeit der Internierungsnormen und -praktiken. Dass die Internierten nicht als Kriegsgefangene im Sinne des Militärstrafgesetzbuches zu behandeln waren und demzufolge der Zivilgerichtsbarkeit unterstanden, wurde vom Reichsmilitärgericht erstmals 1915 entschieden, 1917 bestätigt und erst daraufhin in einer Weisung des Kriegsministeriums vom 24. Juli 1917 explizit ausgeführt.54 Dass den »Angehörigen feindlicher Staaten […] ein Beschwerderecht an den Obermilitärbefehlshaber über die Maßnahmen der Militärbefehlshaber zu[stand]«, war keineswegs ein Dauerzustand gewesen, sondern erst seit dem 23. Februar 1918 eine Option für die Betroffenen.55 Im Anschluss daran verhandelte Meurer die internationalen Beschwerden über die Zustände in bestimmten deutschen Lagern. Er widerlegte die erhobenen Vorwürfe mit Stellungnahmen aus dem Preußischen Kriegsministerium oder kam beständig zu dem Schluss, dass tatsächliche Mängel in kürzester Zeit behoben worden seien. Zu einer Relativierung der Erfolgsgeschichte sah er keinen Anlass. Aus den allgemeinen Erörterungen über den reagierenden Charakter deutscher Verantwortungsträger und der dargelegten Umsetzung der Zivilinternierung ent53 Minderheitenentschließung d. Dritten Unterausschusses (14.11.1925), Antrag d. Abgeordneten Dr. Levi u. Genossen, in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 23–27, hier S. 24. 54 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 765 f. 55 Ebd., S. 770.
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stand in seinem Gutachten ein geschlossenes Gesamtbild. Obwohl die Akteure des Deutschen Reiches von außen gezwungen wurden, zur Internierung von Zivilisten zu schreiten, arbeiteten sie an der fortwährenden Verbesserung der Internierungsbedingungen. »Konzentrationslager« waren der »Höhepunkt« des »System[s] der zwangsweisen Zurückbehaltung und ungebührlichen Freiheitsbeschränkung« im Weltkrieg.56 Aber Deutschland hatte die »mustergültig[sten] Einrichtungen«. Deshalb sollten die »Feststellungen der Gegner« nicht überschätzt werden. »Die Kriegspsychose führt zu Übertreibungen und nimmt Selbsterfundenes als Wahrheit.«57 Die drei juristischen Nachkriegsstimmen verdeutlichen, dass es im Deutschen Reich keine einheitliche Beurteilung der Zivilinternierung gab. Vor dem Hintergrund der Begründung und der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages überwog die gegenseitige Aufrechnung der Kriegshandlungen. In den Nuancen der Urteile offenbarten sich darüber hinaus die Kontroversen um die Bedeutung wie Auslegung internationaler Gewohnheitsrechte, Verhältnismäßigkeiten, Handlungssouveränitäten und -zwängen von Staaten sowie Verantwortlichkeiten. Die Kontroversen entstanden nicht erst in der Retrospektive der Nachkriegszeit, sondern schlossen an Debatten der Jahre 1914 bis 1918 an. So hatte bereits 1915 Josef Kohler (1849–1919), ein umtriebiger und eifrig publizierender Berliner Professor der Rechte, versucht, die Zurückhaltung und Internierung von Zivilisten völkerrechtlich zu erfassen. Als maßgeblichen Beweggrund für die Kriegführenden sah er, trotz heftiger Diskussionen in der Tagespresse über Vergeltungsmaßnahmen, ihren »möglichen Kriegsdienst« an, der dem bereits geleisteten gleichgestellt werden sollte. Deshalb bezeichnete er sie als »Vorkriegsgefangene«, auf welche die Bestimmungen für Kriegsgefangene auszudehnen seien. Er hoffte zudem, dass »in bezug auf die Behandlung und Beköstigung ein Unterschied gemacht wird zwischen den gewöhnlichen Gefangenen und denen, die einem Bildungsgrad angehören, welcher eine Gleichstellung mit den kriegsgefangenen Offizieren erheischt«.58 Zur selben Zeit legte der Staatsrechtslehrer Paul Laband (1838–1918) eine erste Definition der Zivilinternierung vor. »Internierung, d. h. die Entziehung der Freizügigkeit, die Bindung an einen bestimmten Aufenthaltsort und die damit verknüpfte Unmöglichkeit einer freien Erwerbstätigkeit. Das Korrelat der Gefangenschaft aber ist die Notwendigkeit, für den Unterhalt der Gefangenen zu sorgen. Dadurch wird die Internierung zu einer Belastung des Staates.«59
56 57 58 59
Ebd., S. 721. Ebd., S. 862. Kohler, Die Vorkriegsgefangenen, S. 641–645. Paul Laband, Die Kriegsgefangenen, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 20 (1915), Nr. 1/2, Sp. 3–9, hier Sp. 4.
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Er erkannte in der »Zwangsinternierung von Zivilpersonen« ein Novum des Weltkrieges und konstatierte ein Fehlen an völkerrechtlichen Normen. Wie Kohler sah er Parallelen zur Kriegsgefangenschaft. »[D]ie Behandlung dieser Internierten […] hängt vom Belieben der Regierung ab, in deren Gewalt die Fremden sich befinden; es ist aber wohl anzunehmen, daß sie in keiner Beziehung schlechter sein darf als die der Kriegsgefangenen. Ein Arbeitszwang darf gegen diese Personen nicht ausgeübt werden; eine Erwerbstätigkeit innerhalb des Konzentrationslagers, soweit dazu Gelegenheit ist, z. B. als Barbiere, Handwerker, Künstler, steht ihnen frei, und sie können mit den ihnen zur Verfügung stehenden Geldmitteln ihre Lage verbessern. Der briefliche Verkehr ist ihnen nicht verboten, steht aber unter der polizeilichen oder militärischen Kontrolle der Lagerkommandantur.«60 In gleichem Sinne urteilte das Reichsmilitärgericht 1915. Mit dem Fehlen jeglicher Bestimmungen ginge keine »Rechtlosigkeit und Willkür« einher, erläuterte der Reichsmilitärgerichtsrat Max von Schlayer (1867–1936). »Die Maßregeln des Nehmerstaates gegen sie haben sich anzupassen den Grundsätzen des Völkerrechts, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens.«61 Die Juristen Kohler und Laband nahmen mit ihren wenigen Worten an erbitterten Debatten über Kriegsrechtsverletzungen teil. Ihre juristische und historische Urteilsbildung konkurrierte mit umfangreichen Sammlungen von Anklagen und Verteidigungsschriften, in denen die Verfasser die Authentizität ihrer Quellen, ihres »Tatsachenmaterials« behaupteten. Als exemplarisch können die kommentierte Edition Ernst Müller-Meiningens (1866–1944),62 der bis 1918 Reichstagsabgeordneter und in der Nachkriegszeit bayerischer Justizminister war, und die elf Denkschriften des Reichskommissars zur Erörterung von Gewalttätigkeiten gegen deutsche Zivilpersonen in Feindesland gelten.63 Sie verweisen in ihrer Materialfülle und unbedingten Sprache auf die Gravitationskraft gegenseitiger 60 Ebd., Sp. 9. 61 Max von Schlayer, Reichsmilitärgericht – Sind internierte feindliche Ausländer Kriegsgefangene? in: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 21 (1916), Nr. 1/2, Sp. 136–137. 62 Ernst Müller-Meiningen, Der Weltkrieg 1914–1917 und der »Zusammenbruch des Völkerrechts«. Eine Abwehr und Anklage, Bd. 1 u. 2, Berlin 19174. Nach dem Krieg erfolgte durch das Preußische Kriegsministerium und die Vierte Oberste Heeresleitung eine erste umfangreiche offizielle Stellungnahme zu den Anklagen der Alliierten: Die deutsche Kriegsführung und das Völkerrecht. Beiträge zur Schuldfrage, hg. vom Preußischen Kriegsministerium u. d. Obersten Heeresleitung, Berlin 1919. 63 Denkschriften u. Zusammenstellungen d. Reichskommissars zur Erörterung von Gewalttätigkeiten gegen deutsche Zivilpersonen im Ausland, Bd. 1–3, in: BArch Berlin, R 901/82938–82940.
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Anschuldigungen von Kriegsrechtsverstößen und auf die Suche nach der einen Wahrheit. Sich davon zu lösen, bedeutet, die Handlungsprämissen und -spielräume der beteiligten Akteure herauszuarbeiten. Hierbei gilt es, hinter die Definition des Kriegstaschenbuches zurückzutreten und Bedeutungsschichten und -veränderungen des dort als selbstverständlich Geltenden zu ergründen. Denn die Zivilinternierung stellte nicht nur eine erweiterte und neue Kriegspraktik gegenüber Zivilisten dar. Sie brachte gleichfalls ganz andere Figurationen feindlicher Ausländer/innen hervor.
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges Ein Generalstabstelegramm und unkoordinierte Initiativen »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens gefangen.«64 Mit diesen Worten setzte Franz Kafka (1883–1924) ein, als er im August 1914 seine Arbeit am Proceß aufnahm. Es ist ein Einstieg in Ungewissheiten. K. vermutet, dass er verleumdet wurde, aber er weiß nicht von wem. K. glaubt an seine Unschuld, sicher ist er sich nicht. K. wurde gefangen, obwohl er nicht floh, nicht untertauchte. Er befindet sich in seinem Zimmer, und doch steht er in der Öffentlichkeit. Mit einer »ganz ungewöhnlichen Neugierde« beobachtet ihn seine Nachbarin, und gleich wird es an der Tür klopfen. Zwei »Wächter« erwarten K., um über ihn zu wachen. Der Krieg ist anwesend in dieser Szene,65 in dem, was die Wächter tun sollen und wie sie in der Benennung dessen schwanken, wie auch Kafka schwankte. »Sie sind ja gefangen«, herrscht einer der beiden Wächter K. an und erklärt ihm später mit gleicher Selbstverständlichkeit: »Sie sind doch verhaftet«. Gefangen wird der Flüchtende oder der niedergerungene Soldat im Krieg. Im Frieden wird der Verdächtige verhaftet, woraufhin ein Prozess folgt, an dessen Ende ein Urteil steht. Kafka strich nachträglich das Gefangennehmen des Krieges und ersetzte es durch eine fragile Ordnung des Friedens, die ihm nicht weniger monströs erschien. »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«66 »Von dem Abtransport der unverdächtigen Angehörigen feindlicher Länder sind alle Wehrfähigen im Alter von 17–45 Jahren ausgeschlossen. Sie sind als Kriegsgefangene zu behandeln«, notierten Telegraphisten in Kriegsministerien 64 Faksimile der ersten Seite des Proceßes in: Der ganze Prozess. 33 Nahaufnahmen von Kafkas Manuskript, zgl. Marbacher Magazin 145, hg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, Marbach am Neckar 2013, S. 30. Vgl. auch die darin enthaltenen Lesarten von Peter-André Alt, Stanley Corngold, Péter Esterházy, David Zane Mairowitz und Hanns-Josef Ortheil, S. 31–36. 65 Vgl. Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a. M. 20082, S. 537. 66 Franz Kafka, Der Proceß. In der Fassung der Handschrift, Frankfurt a. M. 1994, S. 9.
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und Generalkommandos am Abend des 28. August 1914.67 Die folgenschwere Weisung erging im Namen der Abteilung III b des Großen Generalstabes. Geleitet von Major Walter Nicolai, waren ihre Mitarbeiter für den Nachrichtendienst und die Spionageabwehr verantwortlich. Ihre Entscheidung lässt sich innerhalb mehrerer Kontexte verorten. Während der ersten Kriegsmonate handelte Nicolais Stab in einem Feld ungeklärter Befugnisse und Verantwortungen. Neben der Abteilung III b waren die Zentralpolizeistellen mit der Spionageabwehr betraut. Die lokalen Polizeiämter wiederum setzten die Mobilmachungsanweisungen um und erhielten zusätzlich Weisungen von den stellvertretenden Generalkommandeuren. Infolgedessen zirkulierte eine Vielzahl unterschiedlicher Bestimmungen innerhalb einzelner territorialer Bereiche, die voneinander abweichende Einschränkungen und Freiheiten für verschiedene ausländische Personenkreise mit sich brachten. Diese Situation musste in den Augen Walter Nicolais vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl an Kriegsgegnern und ohne eine zentrale Koordinationsstelle einem Kontrollverlust gleichkommen. Unzählige Meldungen über Spione und Spionageverdächtige trafen zeitgleich bei den Behörden ein. Während in den Zeitungen Gerüchte aufgegriffen und Behauptungen über die Infiltration des Reiches aufgestellt wurden, werteten die Mitarbeiter der Abwehrabteilung authentisch erscheinende Verdächtigungen aus. Laut Nicolai fehlte ihnen dazu genügend Personal, so dass in »vielen Verdachtsfällen […] zunächst nichts anderes als Zugriff und Verhängung der Schutzhaft übrig« blieb.68 Aber nicht nur im Generalstab wurden Belastungsgrenzen sichtbar. »Überall trat eine starke Überlastung der Polizei hervor, deren Aufgaben auch auf anderen Gebieten erweitert waren, während der Krieg gleichzeitig empfindliche Lücken in den Beamtenstand gerissen hatte«, beklagte Nicolai rückblickend die Situation im August 1914.69 Die Meinungsbildung innerhalb des Generalstabs wie der Reichsleitung wurde begleitet von Pressemeldungen, unbestätigten Informationen und Gerüchten über die Lebensbedingungen deutscher Staatsangehöriger im Ausland. Vertreter des Auswärtigen Amtes hatten im Rahmen einer interministeriellen Besprechung bereits am 11. August vermutet, dass die russische Regierung veranlasst hat, Angehörige der Mittelmächte zu internieren, und dass in Frankreich mit der Errichtung von »Konzentrationslagern« begonnen wurde.70 »Die Männer werden, so sagte man uns, als Kriegsgefangene nach Schottland oder sonst wohin gebracht werden«, zitierte die Kölnische Zeitung eine aus Großbritannien aus67 Großer Generalstab (Abt. III b) hier an d. Württ. KM, 28.8.1814, (Telegramm, Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 824, Bl. 1 u. in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 123. 68 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 36 u. Ders., Geheime Mächte, S. 56 f. 69 Nicolai, Nachrichtendienst, S. 38. 70 Hzgl. Braunschweigische Gesandtschaft an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 12.8.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 459.
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gereiste Frau.71 Aus London Zurückgekehrte schilderten im Berliner Tageblatt, wie ›deutsche‹ Männer und Frauen in den englischen Küstenstädten Folkestone und Southampton verhaftet und interniert wurden.72 Das Blatt hatte wenige Tage zuvor von Mitteilungen aus Schweden berichtet, die die Informationen des Auswärtigen Amtes bestätigten. Demnach würden in Russland Verbliebene im Alter von 18 bis 42 Jahren als Kriegsgefangene behandelt.73 Am 28. August, dem Versandtag des Telegramms, setzten Vertreter der Reichsministerien und Militärbehörden ihre Beratungen über den Umgang mit feindlichen Ausländer/innen fort. Sie lehnten hierbei die Überzeugung des Chefs des Generalstabes, Helmuth von Moltke (1848–1916), ab. Er hatte am 19. August bezüglich aller britischen Staatsbürger/innen gegenüber dem Reichskanzler erklärt, dass vom militärischen Standpunkte aus keine Einwände gegen ihre Abreise bestünden.74 Die Verhandlungsteilnehmer entschieden dem entgegen bei der Organisation der Ausreise russländischer Staatsangehöriger, die Wehrpflichtigen von der allgemeinen Abreisegenehmigung auszuschließen. Ihre damit einhergehende Statusänderung hin zu Kriegsgefangenen stellte für sie aber keinen Diskussionsgegenstand dar.75 Das Telegramm aus der Abteilung III b könnte deshalb als eine Bestätigung des sich durchsetzenden offiziellen Standpunktes im militärischen Führungszirkel gelesen werden. Schließlich schloss die vom Generalstab eingeforderte Maßnahme reichsweit an Erörterungen von Kriegs- und Innenministern, Generalkommandeuren und Polizeibeamten über die Ausländer/innenbehandlung an. Mithin stellte die Internierung ›feindlicher‹ Wehrpflichtiger in einigen Korpsbereichen und Bundesstaaten kein Novum dar. Das Telegramm aus der Abteilung III b des Generalstabes bestätigte oftmals erwogene Entscheidungen oder bereits angewandte Praktiken. 71 Meldung, in: Kölnische Zeitung, 11.8.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 1, Dok.-Nr. 359, S. 235. 72 Die Verhaftung von Deutschen in England, in: Berliner Tageblatt, 14.8.1914 (Nr. 409, Morgenausgabe); In englischer Gefangenschaft, in: Berliner Tageblatt, 18.8.1914 (Nr. 416, Morgenausgabe) u. Kriegstage in England, in: Berliner Tageblatt, 19.8.1914 (Nr. 418, Morgenausgabe). 73 Festnahme aller waffenfähigen Deutschen in Rußland, in: Berliner Tageblatt, 15.8.1914 (Nr. 412, Abendausgabe). 74 Reichskanzler an d. AA, 19.8.1914, (Telegramm) in: BArch Berlin, R 901/82967 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 5/4515, Bl. 170. In den vor dem 28. August 1914 stattgefundenen Besprechungen im Reichsamt des Innern vertraten die Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums und des Generalstabes die Meinung, dass eine Ausreise der Ausländer/innen bis zum Ende der Mobilmachung nicht in Frage käme. Siehe: Kgl. Bay. Bevollmächtigte zum Bundesrat Staatsrat Strößenreuther an d. Bay. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, Berlin 18.8.1914, (Abs.) in: HStA München, MInn 53976 u. Hzgl. Braunschweigische Gesandtschaft an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 12.8.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 459. 75 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Abbeförderung der im Deutschen Reich aufhaltsamen Russen, 28.8.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 88–95.
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Im Königreich Bayern hatte Kriegsminister Otto Kreß von Kressenstein Verordnungen unterzeichnet, die den Umgang mit Ausländer/innen regeln sollten. Die Militärbehörden informierte er am 6. August aus dem Hause an der Münchner Ludwigstraße: »Alle wehrfähigen, sich zurzeit im Gebiet des Deutschen Reichs aufhaltenden Angehörigen der mit dem Deutschen Reich im Kriegszustand befindlichen Staaten können, gleichgültig, ob sie bereits dem Heere angehören oder nicht und ohne Rücksicht auf ihre mil. Stellung, zu Kriegsgefangenen gemacht werden.«76 Dreizehn Tage später wurden den bayerischen Militärverantwortlichen erneut umfassende Weisungen zugestellt. Diesmal entfiel die Möglichkeitsform. Militärdienstuntaugliche, Frauen, Kinder und Greise sollten, sofern sie als unverdächtig galten, baldmöglichst abgeschoben werden. Wie die unter dem Militärrecht stehenden Personen waren »die übrigen, ihrer Körperbeschaffenheit nach wehrfähig erscheinenden Angehörigen der erwähnten Staaten, die zwischen 17 und 45 Jahre alt sind, im besonderen Studenten, Kaufleute, Künstler usw. kriegsgefangen zu setzen«. Arbeitslose oder verdächtige ausländische Saisonarbeiter seien davon nicht auszuschließen.77 Zweifel, dass dies eine geschlossene und bewachte Unterbringung der Betroffenen bedeutete, ließen die Mitarbeiter des Kriegsministeriums nicht aufkommen. Sie baten wenige Tage später die Lokalbehörden um Mithilfe, Orte und Plätze für die Unterbringung der »bürgerlichen Kriegsgefangenen« zu benennen, weil die Truppenübungsplätze für Soldaten freigehalten werden müssten. Bis dahin seien die stellvertretenden Generalkommandos für eine geeignete Unterbringung zuständig.78 Ein Blick über die bayerische Grenze hinaus verweist auf Variationen in der Frage der Internierung wehrfähiger feindlicher Ausländer. Im westlichen VIII. Armeekorpsbereich zwischen Aachen, Köln, Koblenz und Trier galten ab dem 24. August 1914 unter der Ägide Paul von Ploetz’ (1847–1930) rigide Vorschriften.79 »Alle militärpflichtigen Personen sind sogleich festzunehmen«, stellte er unmissverständlich klar. Ebenso ordnete er an, »[d]iejenigen Angehörigen feindlicher Staaten, die zwar nicht mehr militärpflichtig sind, sich aber verdächtig oder lästig gemacht haben«, zu verhaften. Die Betroffenen sollten in Zivilgefängnissen untergebracht werden. Die in Freiheit Verbliebenen mussten mit einer »scharf[en]« Überwachung rechnen. »Sie werden zu diesem Zweck unter Polizeikontrolle gestellt, wobei tägliche Meldepflicht und Ueberwachung des Briefverkehrs sich als besonders wirk-
76 Erlass d. Bay KM, betr. Behandlung ausländischer Staatsangehöriger, an u. a. d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK, 6.8.1914, in: HStA München, MInn 53976 (Herv. im Org.). 77 Erlass d. Bay. KM, betr. Angehörige fremder Staaten, an u. a. d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK, 19.8.1914, in: HStA München, MInn 53976 (Herv. im Org.). 78 Bay. KM (gez. i. A. Kuchler), betr. Unterbringung bürgerlicher Kriegsgefangener, an d. stv. Gkdos I., II., III. bay. AK, 28.8.1914, in: HStA München, MInn 53976. 79 Bestimmungen über d. Behandlung Angehöriger feindlicher Staaten d. stv. Gkdo. VIII. AK (gez. v. Ploetz), 24.8.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14994, Bl. 73.
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sam erweisen werden«, nahm von Ploetz an. Zuletzt verbot er ihnen, die Rheinprovinz zu verlassen. Im Bereich des badischen XIV. Armeekorpsbezirks erließ Hans Gaede, der stellvertretende kommandierende General, bereits am 8. August 1914 Leitlinien für den Umgang mit feindlichen Ausländern. Die Kriegsgefangenschaft könne sich seiner Meinung nach nicht länger auf im Heeresdienst stehende Personen beschränken. »Denn es handelt sich bei der Kriegsgefangenschaft nach heutiger Auffassung um die Unschädlichmachung der für den Krieg tätigen und wichtigen Personen. Da es aber möglich ist, dass auch irgendwelche mit der Kriegführung an sich nicht in Verbindung stehende Personen, wenn sie auf freiem Fuss verbleiben, eine Gefahr für die Kriegspartei darstellen und dass die kürzere oder längere Festhaltung dieser Personen von der militärischen Notwendigkeit verlangt wird, so sind alle Personen als der Kriegsgefangenschaft unterliegend zu betrachten, falls und so lange jene Voraussetzung vorhanden ist.«80 Der badische Innenminister, Heinrich von und zu Bodman, unterbreitete daran anschließ end am 19. August für das Großherzogtum Vorschläge hinsichtlich der Ausländer in den Städten Baden, Villingen und Donaueschingen, die als Sammelpunkte militärischer Abschiebungen dienten. Demnach sollten diejenigen »Franzosen, Engländer und Belgier im Alter von 20 bis 40 Jahren, die nicht offensichtlich körperlich dienstunfähig sind«, kriegsgefangen genommen werden.81 Der Chef des Stabes des Karlsruher Generalkommandos stimmte dem zu,82 und am 7. September folgten entsprechende Regelungen für russländische Staatsangehörige.83 Diesen Internierungsbeschlüssen entgegen standen die allgemeinen Bestimmungen im Königreich Sachsen. Adolph von Carlowitz, der sächsische Kriegsminister, unterzeichnete am 18. August Anweisungen über die Behandlung der »Russen, Serben, Franzosen, Engländer und Belgier«. Sie sollten »vorläufig nicht als Kriegsgefangene behandelt« und nur »festgesetzt« werden, wenn sie »verdächtig« sind. Sollte dies in Betracht kommen, sei ihre »Überwachung bezw. Unterbringung und Festsetzung […] Sache der Zivilbehörden«. Dies galt ebenso – die ausländischen Saisonarbeiter/innen nicht inbegriffen – für alle übrigen Nichtwehrpflichtigen.84
80 Stv. Gkdo. XIV. AK an d. Bad. BzA Baden, 8.8.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 81 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 19.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 82 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Chef d. Stabes, v. Wolf) an d. Bad. MdI, 21.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 83 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzÄ, 7.9.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 84 Sächs. KM (gez. v. Carlowitz), betr. Behandlung feindlicher Ausländer, an u. a. d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 18.8.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 8.
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In gleicher Weise sah der Oberbefehlshaber in den Marken, Gustav von Kessel am 10. August 1914 nur die Überstellung »[v]erdächtige[r] und lästige[r] Angehörige[r] feindlicher Staaten« in Schutzhaft vor. Alle weiteren Ausländer/ innen sollten unter Polizeikontrolle gestellt werden, zu der vor allem Meldepflichten und Briefsperren gehörten.85 Im Königreich Württemberg ordnete der Generalkommandeur an, alle unverdächtigen feindlichen Ausländer/innen auszuweisen und sie nach der Schweiz abzuschieben. Er gestattete Ausnahmen für jene, »gegen die mit der Massnahme eine besondere Härte verbunden gewesen wäre und für deren unanfechtbares Verhalten sich mehrere angesehene einheimische Persönlichkeiten verbürgten« sowie für russländische Saisonarbeiter/innen. »Ein Unterschied nach der Richtung, ob es sich um Leute im wehrfähigen Alter handelte oder nicht, wurde nicht gemacht, insbesondere wurde niemand als Kriegsgefangener behandelt«, wurde in einem internen Bericht die Situation zu Kriegsbeginn festgehalten.86 Die getroffenen Maßnahmen stellten rückblickend Provisorien dar, die beständig der Kriegslage angepasst wurden. Der bayerische Kriegsminister zum Beispiel ließ seiner Anordnung, ›feindliche‹ Wehrfähige kriegsgefangen zu nehmen, am 4. September 1914 bereits eine Einschränkung des betroffenen Personenkreises folgen. Denn keineswegs jeder »bürgerliche Kriegsgefangene« wurde von der Militärelite des Königreiches als ›feindlich‹ eingestuft. »Unter diesen befinden sich nun zweifellos mehrere Personen, von denen eine Gefahr für die Landesverteidigung nach irgend einer Richtung hin nicht zu erwarten ist. In erster Linie Leute, die seit vielen Jahren in einer bayer. Stadt ortsansässig, den Behörden und der Einwohnerschaft wohl bekannt sind und die ihre Beziehungen zum Mutterlande abgebrochen haben, also Leute, die ihren Lebensberuf und ihren Erwerb ausschließlich bei uns gefunden und sich hier fest angesiedelt haben, ja u. U. mit deutschen Familien in enge Verwandtschaft getreten sind. Solche Personen würden vielfach durch die lange Kriegsgefangenschaft ohne zwingenden Grund ihre ganze Existenz verlieren.«87 Zugleich waren Ausnahmen bei inaktiven Offizieren möglich, die infolge ihres hohen Alters (über 70 Jahren), »schwerer körperlicher oder geistiger Erkrankung oder allgemeiner Hinfälligkeit an sich eine gewisse menschliche Rücksicht verdienen«. Die Entscheidung, ob eine Entlassung angemessen sei, legte Kreß von Kressenstein »unter voller eigener Verantwortung« in das Ermessen der stell85 Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel) an u. a. d. Reg.-Präs. in Berlin, 10.8.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835 u. (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 86 Bericht d. Württ. Landespolizeizentralstelle an d. Württ. KM, 3.9.1914, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 22 f. 87 Bay. KM (gez. v. Kreß), betr. Kriegsgefangene, an d. stv. Gkdos. I., II., III. bay. AK, 4.9.1914, (Abs.) in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1.
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vertretenden Generalkommandos. Gleichwohl sollten Betroffene eine »den Vermögensverhältnissen entsprechend hohe Kaution« stellen und eine Erklärung abgeben, in der sie sich verpflichteten, »nichts gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten Nachteiliges zu unternehmen«. Bei geringsten Verstößen gegen die ihnen sodann auferlegte Meldepflicht und das Verbot, ihren Ortspolizeibezirk zu verlassen, konnten sie erneut in Kriegsgefangenschaft verbracht werden.88 Ebenso fügte der badische Innenminister seinem Vorschlag, der vom Militärbefehlshaber angenommen wurde, einen Kommentar hinzu, der Einschränkungen und Bedenken hinsichtlich der Internierungsanordnung enthielt. Zum einen hatte er die Sorge, dass die Kriegsgefangenschaft von Zivilisten völkerrechtlich unzulässig sei. Zum anderen sprächen »Zweckmässigkeitsgründe dafür, nicht zu viele Zivilpersonen als Kriegsgefangene anzusehen und für die Dauer des ganzen Krieges verwahren zu müssen«. Er lehnte deshalb eine Ausdehnung auf Dienstpflichtige über dem 40. Lebensjahre ab. In Bezug auf die russländischen Staatsangehörigen, die er von seinem Vorschlage zunächst ausgenommen hatte, bemerkte er, dass sie »nach den Berichten mehrerer Bezirksämter« eine »sehr geringe Neigung zu kriegerischer Betätigung« hätten.89 Offenbar sah er es als keineswegs notwendig an, sie zu internieren. Rechtliche Bedenken gegen die Internierung von Zivilisten »in Polizei- und Gerichtsgefängnissen« hegten ferner die bayerischen Ministerialbeamten. Sie sollte deshalb vermieden werden, »solange sie nicht im Verdachte einer bestimmten strafbaren Handlung stehen und demnach als Untersuchungsgefangene zu behandeln wären«.90 Das Telegramm aus der Abteilung III b des Generalstabes vom 28. August 1914 war die erste reichsweite Anordnung gewesen, Zivilisten als Kriegsgefangene zu behandeln. Während die Weisung einen sich durchsetzenden militärischen Standpunkt untermauerte, schwieg sie einerseits zu den daraus folgenden Konsequenzen für die betroffenen feindlichen Ausländer. Andererseits ließ sie viele Fragen nach der Organisation und der Verantwortung offen.
Zurücknahmen der Generalstabsanordnung Im Königreich Sachsen entschied der Kriegsminister, dass die Anordnung des Großen Generalstabes umgesetzt werden sollte, obwohl eine allgemeine Internierung feindlicher Ausländer von ihm wenige Tage zuvor nicht beabsichtigt gewesen war. Aber er lehnte ihre Überführung in Kriegsgefangenenlager ab. Sie sollten wie die bereits internierten Studenten aus Freiberg und Mittweida nach der Straf88 Bay. KM (gez. v. Kreß), betr. Kriegsgefangene, an d. stv. Gkdos. I., II., III. bay. AK, 4.9.1914, (Abs.) in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 89 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 19.8.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 90 Bay. KM (gez. i. A. Kuchler), betr. Unterbringung bürgerlicher Kriegsgefangener, an d. stv. Gkdos I., II., III. bay. AK, 28.8.1914, in: HStA München, MInn 53976.
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und Korrektionsanstalt auf Schloss Sachsenburg in der Nähe Frankenbergs i. Sa. überführt werden.91 Dies sei »ausreichend«, bemerkte er und unterstrich damit eine angestrebte Mäßigung in der Umsetzung. Dagegen erhoben Mitarbeiter des Sächsischen Innenministeriums Einwände. Denn eine Internierung in Sachsenburg bedeute eine zivile, polizeiliche Unterbringung. Eine solche weiche einerseits vom Wortlaut, Inhalt und Sinn der Generalstabsverfügung ab. Andererseits könne »zum mindesten für das Gefühl der Betroffenen« die Verbringung dorthin »den Charakter einer Strafhaft an sich tragen«. »Die innere Verwaltung hat aber keinen Anlaß, dabei mitzuwirken, daß unschuldige Ausländer mit einem solchen Makel belastet werden, und es wäre deshalb wohl zu erwägen, ob nicht die Internierung dieser Ausländer allein den für die Verwahrung von Kriegsgefangenen zuständigen Militärbehörden zu überlassen wäre. Die Polizeibehörden wären dadurch auch in wünschenswerter Weise von jeder Mitverantwortung für eine Behandlung der Ausländer befreit, die allein auf eine Autorität der Militärinstanzen zurückzuführen ist.«92 Die protestierenden Beamten hinterfragten folglich eine in vielen Teilen des Reiches gängige Praxis: die Übertragung der Verantwortung von den Militär- auf die Zivilbehörden. Was für den Generalkommandeur in Koblenz eine Selbstverständlichkeit gewesen war – die Unterbringung Zivilinternierter in Zivilgefängnissen –, verwischte zugleich den symbolischen und administrativ-funktionellen Akt der militärischen Internierung. Dies erkannten die sächsischen Beamten. Die Entscheidungsbefugnisse militärischer Akteure gründeten auf der Verkündung des Kriegszustandes. Ihre Anordnungen hätten demzufolge durch die errichteten Institutionen des Krieges durchgeführt werden sollen. Auch ihre bayerischen Kollegen hatten bereits in dieser Hinsicht interveniert und die Trennung von zivilen und militärischen Instanzen angemahnt. Auf Unverständnis traf in Sachsen ferner die Verschärfung der bestehenden Bestimmungen, wie eine Intervention des Dresdner Polizeipräsidenten, Paul Koettig, zeigt. Die sächsischen Richtlinien vom 18. August hatten das Vorgehen seiner Behörde seit Kriegsbeginn bestätigt. In Dresden galt, abgesehen von Meldevorschriften, die Prämisse, »unverdächtige Ausländer, auch wenn sie feindlichen Nationen angehören, unbehelligt zu lassen«.93 Gegen die anderslautende General91 Säch. KM an d. Sächs. MdI, 2.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 2. 92 Sächs. MdI, Abt. IV an d. Abt. II, 5.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 7 f. Die Referenten der Abt. IV hielten an ihrer grundsätzlichen Kritik fest und versuchten ein Jahr später, eine Überführung Zivilinternierter in das Lager Holzminden zu erwirken. Siehe: Sächs. MdI, Abt. IV (gez. Fink[?]) an d. Abt. II, 24.8.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 85 f. 93 Bericht d. Polizeipräsidenten von Dresden an d. KrhM Dresden, 21.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 203 f.
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stabsanordnung aus Berlin vom 28. August erhoben die Beamten Einspruch.94 Koettig setzte sich mit dem Dresdner stellvertretenden Generalkommandeur ins Einvernehmen und erwirkte »vorläufig«, nur jene ›feindlichen‹ Wehrfähigen in Haft zu nehmen, »die sich vorübergehend hier aufhalten und von denen, die dauernd hier wohnen, diejenigen, die ohne festen Erwerb sind«. In Leipzig sei es zwar zur Festnahme sämtlicher Betroffener gekommen,95 aber im Einklang sah er seine Entscheidung mit der polizeilichen Praxis in Chemnitz. Um diese zusätzlich zu rechtfertigen, spekulierte er auf die Auslastung sächsischer Gefängnisanstalten. Nach Zählungen würde es sich allein in Dresden um »225 Wehrfähige, zu denen noch etwa 54 Frauen und Kinder kommen«, handeln, die untergebracht werden müssten. Eine vollständige Ausführung der Generalstabsanordnung steigere diese Zahl um 261 Festzunehmende, gab Koettig zu bedenken.96 Er sollte recht behalten. Das Garnison-Kommando in Leipzig meldete zur gleichen Zeit mehr als 400 zu verhaftende Personen und sah ihre Unterbringung in den Gefangenenanstalten der Messestadt nur als »vorläufige« Lösung an.97 Daher begannen die für Straf- und Versorgungsanstalten zuständigen Beamten des Innenministeriums, umtriebig nach freien Plätzen in den Gefängnissen zu suchen. Die Anstaltsdirektionen in Hohenstein und Sachsenburg teilten ihnen mit, dass keine Plätze mehr vorhanden seien.98 Da im Bautzener Gefängnis bereits 50 ausländische Neuankömmlinge auf der Anmeldeliste standen, fragten sie dort schließlich ohne Umschweife an, »von welchem Tage ab Aufnahmen erfolgen können«.99 Die sächsischen Gefängnisse waren voll belegt, und Anstaltsdirektoren widersprachen der Zweckentfremdung durch die Unterbringung nicht verurteilter Ausländer/innen.100 Die Generalstabsanordnung sorgte neben der lokalen Durchführung in einer weiteren Hinsicht für Konflikte. Denn sie vermittelte eine scheinbare Klarheit, die es im Angesicht der nationalen und sozialen Ungleichheit der Ausländer/ innen nicht geben konnte. Dies betraf unter anderem die ausländischen Saisonarbeiter/innen. Ihre Nichterwähnung in der telegrafierten Anweisung sorgte für viele Nachfragen der Lokalverantwortlichen. Sie schwankten hierbei zwischen Ablehnung und Zustimmung bezüglich ihrer Internierung. Einerseits befürchteten Amts- und Kreisvorstände, die Familienangehörigen der Internierten zukünftig 94 Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI, 9.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 195 f. 95 Die Verhaftungen in Leipzig fanden in der überregionalen Presse Beachtung: Verhaftung wehrpflichtiger Engländer, in: Hamburger Nachrichten, 10.9.1914 (Nr. 424), Ztga. in: BArch Berlin, R 901/82967. 96 Polizeidirektion Dresden an d. Sächs. MdI, 9.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 195 f. 97 Garnison-Kommando Leipzig an d. Sächs. Kultusministerium, wtgl. an d. Sächs. MdI, 8.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 115. 98 Abt. IV an Abt. II d. Sächs. MdI, 15.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 179. 99 Sächs. MdI (Abt. IV) an d. Anstaltsdirektion Bautzen, 15.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 180. 100 Bericht d. Sächs. Krhm Zwickau an d. Sächs. MdI, 3.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 199 ff.
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ernähren zu müssen.101 Andererseits herrschte im Baugewerbe, das viele Saisonarbeiter beschäftigte, eine hohe Arbeitslosigkeit, die für die Wintermonate ebenso auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt zu befürchten war.102 Aufgrund dieser vielfältigen Probleme erklärte sich der sächsische Kriegsminister damit einverstanden, »daß nur die Verdächtigen festgesetzt und durch die Zivilbehörden interniert werden«.103 Eine generelle Internierung wehrfähiger feindlicher Ausländer war in Sachsen folglich ausgesetzt, und die bis dahin verhafteten wehrfähigen Personen sollten freigelassen werden.104 Ohne Widerspruch wurde im Großherzogtum Baden die Anordnung vom 28. August durchgeführt. Auf den Fluren des Badischen Innenministeriums bestand gar der »dringende [W]unsch«, die Maßnahme beschleunigt anzugehen. Die Ministerialbeamten glaubten allerdings, vermutlich aus den gleichen Gründen wie ihre sächsischen Kollegen, dass die Festgenommenen an die Militärbehörden zu überstellen seien, unter die Bestimmungen für Kriegsgefangene fielen und anschließend in Festungen oder »[M]ilitärlagern« untergebracht würden. Diese Auffassung sorgte für Rückfragen des Karlsruher Generalkommandeurs bei der Obersten Heeresleitung. Der Chef des stellvertretenden Generalstabes vertrat entgegen allen Erwartungen am 9. September die Ansicht, »dasz die wehrpflichtigen angehoerigen feindlicher staaten im allgemeinen nicht als kriegsgefangene zu behandeln sind«.105 Der Chef des stellvertretenden Generalstabes verfolgte mit seiner Stellungnahme, die den relevanten Militärbehörden zur Kenntnis gelangte, weiterhin die Absicht, die reichsweit unterschiedlichen Grundsätze zu vereinheitlichen. Er hielt hierbei indes an den polizeilichen Meldepflichten als das maßgebliche Instrument der Kontrolle wehrpflichtiger wie verdächtiger Ausländer fest.106 Infolgedessen galten bereits zwei Wochen nach der Generalstabsanordnung der Nachrichtenabteilung neue Direktiven. Am 23. September 1914 erhielten die badischen Bezirksämter die Anweisung, feindliche Ausländer, die »lediglich wegen ihres wehrfähigen Alters als Kriegsgefangene im Amtsgefängnis untergebracht sein sollten, […] auf freien Fuß zu setzen«.107 Trotzdem drängte die badische Regierung den
101 AmhM Meißen an d. KrhM Dresden, 30.8.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 183. 102 Bericht d. Sächs. KrhM Zwickau an d. Sächs. MdI, 3.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 199 ff. 103 Sächs. MdI an d. AmhM, KrhM, d. Stadträte d. Städte mit rev. Städteordnung, d. Polizeidirektion u. d. Polizeiämter, 8.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3313, Bl. 233. 104 Abt. IV an d. Abt. II d. Sächs. MdI, 17.9.1914, in: HStA Dresden, 10736/3314, Bl. 181. 105 Bad. Auswärtiges Min. (gez. v. Dusch) an d. RAdI, 18.9.1914, (Telegramm) in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 9 f. 106 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee hier an d. Württ. KM, 9.9.1914, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 40 u. an d. Sächs. KM, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 30. 107 Bad. MdI (gez. Bodman) an d. Bad. BzÄ, 23.9.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269.
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Reichskanzler fortgesetzt, eine abschließende Entscheidung im Sinne der Kriegsgefangennahme zu treffen.108 Eine Antwort aus Berlin erhielt sie gleichwohl nicht. Ein offizieller Widerruf der durch den Chef des Nachrichtendienstes ergangenen Anordnung unterblieb. Der revidierte Standpunkt fand trotzdem Eingang in die Bestimmungen der Zivilbehörden. Sie erfuhren am 10. Oktober eine breitere Grundlegung durch den Direktor des Unterkunfts-Departements, Emil Friedrich. Er erwiderte eine Anfrage des Reichskanzlers, die dieser am 26. August an das Berliner Kriegsministerium gerichtet hatte, und führte aus, »daß die wehrpflichtigen Angehörigen feindlicher Staaten, sofern kein Fluchtverdacht oder Verdacht der Spionage vorliegt, nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, also nicht festzunehmen, sondern auf freiem Fuß zu belassen sind. Die Verpflichtung zu regelmäßig zu wiederholender polizeilichen Meldungen wird dagegen stets anzuordnen sein, um einem Verlassen des Aufenthaltsorts vorzubeugen.«109 Der Verzicht auf eine Internierung der Wehrpflichtigen, der in Friedrichs Äußerung nicht näher erläutert wird, resultierte aus mehreren Konflikten, die eine Umsetzung erschwerten beziehungsweise behinderten. Erstens gab es Unklarheiten über die Zuständigkeiten zwischen der Militär- und der Zivilverwaltung und die sich daraus ergebenden Verantwortlichkeiten. Dies betraf auch das Verhältnis der militärischen Anordnung zu vorangegangenen Maßnahmen der lokalen Polizeibehörden. Zweitens wurden die Orte der Internierung und ihre Verfügbarkeit nur unzureichend erörtert. Es mangelte an polizeilichen und militärischen Unterbringungsmöglichkeiten. Drittens fehlte eine von den exekutiven Akteuren als folgerichtig anerkannte Begründung für die Maßnahme, sodass Meinungsverschiedenheiten und Zweifel einen Verständigungsprozess zwischen den Verantwortlichen erforderten. Erst im historischen Rückblick war die Anordnung zur Kriegsgefangennahme vom 28. August 1914 ein Vorspiel für militärische Maßnahmen im November und Dezember 1914. Die im Folgenden freizulegenden Unterschiede verweisen auf einen unterschwelligen Lernprozess.
108 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. Melchior) an d. stv. Generalstab, 14.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 109 Preuß. KM (gez. Friedrich), betr. Wehrpflichtige Angehörige feindlicher Staaten, an d. Reichskanzler (RAdI), 10.10.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 202; in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622; in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269; in: HStA Dresden, 10736/3316, Bl. 9 u. zitiert in: Bay. KM an d. stv. Gkdos. I. II. III. bay. AK, 22.10.1914, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148.
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Öffentliche Empörungen über die Kriegsgegner Ab Mitte Oktober 1914 diskutierte die deutsche Zeitungsöffentlichkeit verstärkt über Nachrichten aus Großbritannien, Frankreich und Russland, denen zufolge Staatsangehörige der Mittelmächte in diesen Ländern unverhältnismäßig und verachtend behandelt würden. Die in Tageszeitungen ausgetragenen Debatten schlossen inhaltlich an die bei Kriegsbeginn kursierenden Gerüchte und Berichte über Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten im Ausland an. Seien diese seinerzeit von den Bevölkerungen ausgegangen, rückten nun die staatlichen Verantwortungsträger in das Blickfeld. Die Zeitungsberichterstatter thematisierten vorrangig die Situation in Großbritannien. Meldungen aus London verlautbarten, dass die britische Regierung beschlossen hatte, »alle im Lande wohnenden deutschen und österreichischen Untertanen, die im wehrpflichtigen Alter stehen, zu internieren«.110 Das Berliner Tageblatt berichtete am Morgen des 23. Oktobers, dass mit »der Durchführung dieses Beschlusses […] sofort begonnen« und zahlreiche »Deutsche verhaftet« wurden. Am Abend desselben Tages bekräftigten die Redakteure ihre Schlagzeile und informierten über 120 in London verhaftete ›Deutsche‹ und ›Österreicher‹.111 Diese Nachrichten erfuhren eine Bestätigung durch Rückreisende wie den zu Kriegsbeginn in London wohnenden Kolonialisten Carl Peters und den Kaufmann Emil Selcke, der trotz seines Alters von 60 Jahren für kurze Zeit im Internierungslager Newbury festgehalten worden war. Während Peters über Enteignungen, Internierungen, Plünderungen, Hetzkampagnen und alltägliches Leid sprach, schilderte Selcke die Zustände innerhalb der Lagergrenzen.112 »Unter Tränen« gab er seine Erlebnisse wieder: eingepfercht in dunklen Pferdeboxen schliefen sie auf Stroh, kochten das wenige ihnen zugeteilte Essen an Feuerstellen, die in Erdlöchern mit nassem Holz entfacht wurden, tranken Tee, den sie durch alte schmutzige Säcke 110 Massenverhaftungen von Deutschen und Österreichern in England, in: Berliner Tageblatt, 23.10.1914 (Nr. 539, Morgenausgabe). 111 Die Massenverhaftungen von Deutschen und Österreichern in England, in: Berliner Tageblatt, 23.10.1914 (Nr. 540, Abendausgabe). 112 Umfänglich geschildert werden die Äußerungen der beiden Berichterstatter in: Auge um Auge, Zahn um Zahn, in: Badische Landes-Zeitung, 28.10.1914 (Nr. 501, Abendblatt). Peters Bericht druckte zuerst die Zeitung Die Post am 16. Oktober 1914 unter dem Titel »Englische Verlogenheit« ab, gefolgt von der Zeitung Der Tag am 17. Oktober. Kurz darauf fand er Eingang in weitere Blätter wie die Badische Landes-Zeitung und den Dresdner Anzeiger; siehe: Karl Peters über die Behandlung der Deutschen in England, in: Dresdner Anzeiger, 20.10.1914, Ztga. in: PA AA, R 20335, Bl. 15. Selckes Schilderungen erschienen zuerst im Hamburger Fremdenblatt; siehe: Hamburger Fremdenblatt, 24.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 204, S. 128–132. Bezug genommen wird auf ihn in einer Bekanntmachung d. kommandierenden Generals d. IX. Armeekorpsbezirks: Bkm, in: Hamburger Fremdenblatt, 30.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 300b, S. 189 f. Umfänglich zitiert findet sich der Bericht Selckes ferner in: Carl Peters, Das deutsche Elend in London, Leipzig 1914, S. 4–9.
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gegossen hatten, entbehrten jeglicher medizinischen Grundversorgung und wurden bei Beschwerden mit Arrest bestraft. Eindrücklich steckten die beiden Zeugen das inhaltliche wie emotionale Panorama ähnlicher Erzählungen ab. Das Erlebte zu erklären und Ursachen jenseits von Germanophobie und Hass zu benennen, vermochten sie nicht. Ihre unmittelbaren Erfahrungen suggerierten stattdessen eine kaum hinterfragbare, generalisierte Faktizität.113 Die beiden Rückkehrer zählten hierbei zu den ersten Autoren im Genre der ›Kriegserinnerungen aus dem feindlichen Ausland‹.114 Es dauerte nicht lange, bis Zeitungskommentatoren die Berichte aufgriffen und Konsequenzen aus den aufgedeckten Missständen forderten. »Die Engländer bewegen sich bei uns frisch und frei,« konstatierte einer von ihnen in der Kölnischen Zeitung, »als lebten wir noch in der alten friedlichen Welt, als würden keine Deutschen drüben jenseits des Kanals aufs unwürdigste behandelt, als würden drüben keine deutschen Angestellten kurzerhand ohne Bezahlung aufs Pflaster geworfen und als Gefangene in Kitcheners Konzentrationslager eingesperrt«.115 Die Antwort auf die rhetorische Frage, ob dieser Zustand weiter geduldet werden solle, gab die Zeitung am 30. Oktober. Weil deutsche Staatsbürger »vom Knaben bis zum Greisenalter in die […] Konzentrationslager eingesperrt seien und dort eine Behandlung erführen, die jeder Zivilisation und den natürlichen Geboten der Menschlichkeit Hohn spreche«, forderte ein weiterer redaktioneller Beitrag nichts weniger als »Rache«.116 In einem darin eingebetteten Leserbrief hieß es an gleicher Stelle: »Wir wissen nicht, ob die deutsche Regierung Schritte unternimmt, die von der Pflicht für den Schutz deutscher Untertanen gebieterisch gefordert werden. 113 Carl Peters versuchte die Allgemeingültigkeit seiner Schilderungen noch 1914 durch eine kommentierte Zeitungsausschnittsammlung zu untermauern. Siehe: Peters, Das deutsche Elend. 114 Unter anderem: Fanny Hoeßl, Hundert Tage Gefangene in Frankreich nebst Briefen von deutschen Zivilgefangenen in Frankreich, München 1915; Stefanie Steinmetz, Meine Kriegsgefangenschaft. Erlebnisse einer Mannheimerin in Frankreich, Freiburg 1915; Helene Schaarschmidt, Erlebnisse einer Deutschen in Frankreich nach Ausbruch des Krieges, Chemnitz 1915; Carl von Maixdorff, In russischer Gewalt. Selbsterlebtes aus dem Beginn des Weltkrieges, Leipzig 1915; Wilhelm Westedt, Zur Kriegszeit um die Welt. Zehn Monate im feindlichen und neutralen Auslande, Leipzig 1916; Géza Baracs-Deltour, Pariser Selbsterlebnisse während des Krieges, München 1917; F. Hede, Als »deutscher Spion« kriegsgefangen in Russland. Erlebnisse eines Mitgliedes des Deutschen Flottenvereins, Berlin 1917; Karl Liebau, Gefangen in Rumänien. Bilder aus meiner rumänischen Gefangenschaft, Hamburg 1918. 115 Unsere lieben Engländer. Sollen wir Vergeltungsmaßregeln ergreifen?, in: Kölnische Zeitung, 23.10.1914 (Nr. 1164, Mittagsausgabe), Ztga. in: StA Hamburg, 111–2, L e. 116 Meldung, in: Kölnische Zeitung, 30.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 300, S. 188 f.
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[…] Das deutsche Volk verlangt, daß alle nicht waffenfähigen Engländer unverzüglich vom deutschen Boden zwangsweise entfernt, daß alle waffenfähigen in Konzentrationslagern gesammelt werden, wo sie zwar nicht nach englischem Muster verhungern sollen, wo ihnen aber nur das zum Leben Notwendige unter Ausschluß aller Behaglichkeit verabfolgt wird. Wir dürfen und wollen nicht länger uns kümmern um die wenigen Gemütskranken, die immer wieder das Lied von Feindesliebe und Ritterlichkeit zu singen pflegen.«117 Der Autor suchte die direkte Konfrontation mit den mahnenden Stimmen aus dem Kreise der Militärbefehlshaber. Seine dringliche Aufforderung zum Handeln verband er zudem nicht nur mit konkreten Maßnahmen. Seine Vorstellungen kulminierten in erwarteten und gezielt herbeigeführten Lebensbedingungen in den einzurichtenden Internierungslagern. Bevor diese militärisch verwalteten Areale ihre Tore öffneten, wurden deren Rahmenbedingungen und Konsequenzen öffentlich erörtert. Der Sprechakt und die in ihm sich konturierende Imagination der dort herzustellenden Lebenswelten verwiesen auf eine prekäre Grenze der Zivilgesellschaft im Krieg. »Zahllose uns zugegangene Zuschriften«, resümierten die Redakteure der Kölnischen Zeitung, »fordern, daß dafür […] an den bisher unbehelligt unter uns lebenden Engländern, die wir in unserer Gewalt haben, Vergeltung geübt werde«.118 In den Spalten der nationalliberalen Zeitung, die »die jeweiligen Anschauungen der politischen Zentralbehörden in Berlin wider[spiegelten]«,119 wurden die fremden Staatsbürger unwidersprochen zu einer Verfügungsmasse öffentlicher moralischer Befindlichkeiten erklärt und der »Schrei nach Rache« gerechtfertigt. Drei Monate nach Kriegsbeginn stellte die Zeitung zur Schau, wie Einzelne das als rückständig dargestellte Ethos der »Ritterlichkeit« nicht in einem Affekt auf dem Schlachtfeld, sondern in wohlbedachten Kommentaren mit spitzer Feder beseitigten. Die Behauptung einer kollektiven Entrüstung verlieh den Ausführungen des Briefschreibers eine nachdrückliche Aura einer Allgemeingültigkeit, die er dennoch verteidigen musste gegen eine Minderheit, die er denunzierte. In diesem ›Textrand‹, einem störenden Anderen, wird die Brüchigkeit der ›öffentlichen Meinung‹ sichtbar. Sie blieb eine relative Größe in Bezug auf die lesende Zeitungskundschaft, auf die politische Bedeutung der Kommentatoren und auf das Eingeforderte. Solange die staatlichen Entscheidungsträger eine wesentliche Relevanz solcher Meinungen verneinten und diese als Grundlage ihres Handelns ablehnten, verweigerten sie der ›öffentlichen Meinung‹ der Empörten und ihren kriegspolitischen Mitbestimmungsforderungen einen maßgeblichen Geltungsanspruch. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Art. Kölnische Zeitung, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 11, Leipzig 1907, S. 282.
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Die Zeitungsmeldungen kreierten zweifellos einen öffentlichen Gesprächsstoff entlang eines kontroversen kriegspolitischen Feldes.120 Inwieweit die Zeitungsmacher eine politische Agenda mit ihren Nachrichten verfolgten, trieb bereits die Zeitgenossen um. Der jüdische Reichstagsabgeordnete Oskar Cohn, ein Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft und anschließend der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, vermutete 1916 rückblickend hinter den sich ereifernden Berichten eine systematisch vorangetriebene Verleumdungskampagne. »Es kam diesen Zeitungen […] sehr zu paß, diese Nachrichten über englische Brutalitäten gegenüber Deutschen zu vergröbern, zu verallgemeinern und so die Kriegshetze gegen England […] immer mehr anzufachen«,121 führte er im Berliner Reichstagsplenum aus. Die nationalistische und konservative »Presse und ihre Hintermänner« in der Verantwortung sehend, deutete er einen Zusammenhang zwischen den Pressemeldungen und den folgenden Internierungsmaßnahmen an. Er unterstellte der Berichterstattung einen strategischen Charakter, um die Ansichten der Bevölkerung zu beeinflussen. Innerhalb der vielschichtigen Presselandschaft des Kaiserreiches existierten gleichwohl Versuche, nuancierte Positionen einzunehmen. Als mahnende Gegenstimme traten die Redakteure des sozialdemokratischen Vorwärts unter der Schriftleitung Rudolf Hilferdings (1877–1941) auf, während ihr Blatt vom Pressestab des Reichsmarineamtes misstrauisch observiert wurde.122 Sie lehnten nationale Empörungswellen wie die kriegsbezogene Aussetzung oppositioneller, sozialdemokratischer Politik entschieden ab und unterstützten die »wenigstens zunächst noch abwartende und für genaue Untersuchungen besorgte Haltung der deutschen Regierung«. Diese sei »jedenfalls sympathischer als das Gebaren mancher Blätter, die sich gar nicht genug darin tun können, in der Vorstellung verschärfter Vergeltungsmaßnahmen zu schwelgen«.123 In der Frankfurter Zeitung fanden die Uneindeutigkeit der verschiedenen Berichte und im Anschluss daran die Widersprüchlichkeit der Meinungen ihren Niederschlag. Ende Oktober veröffentlichten die Blattmacher einen Artikel des Daily Telegraph, in dem über die gute Behandlung der Internierten in der Olympia in London berichtet wurde.124 Sie setzten diesem tags darauf einen Leserbrief entgegen, der zuvor in der Westminster Gazette erschienen war. Ein naturalisierter 120 Vgl. zur Medienwirkung im Kaiserreich: Frank Bösch, Zeitungsberichte im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik, Jg. 49 (2004), Heft 3, S. 319–336, hier bes. S. 322–324. 121 Oskar Cohn (SAG), 41. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 7.4.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 307, S. 915. 122 Zur Auseinandersetzung zwischen kritischen sozialdemokratischen Zeitungsredaktionen und der Parteiführung siehe: Kurt Koszyk, Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1968, S. 146–151 u. Kruse, Krieg und nationale Integration, S. 144–147. 123 Die »Vergeltung«, in: Vorwärts, 1.11.1914 (Nr. 299). 124 Die Gefangenenlager in England, in: Frankfurter Zeitung, 26.10.1914 (Nr. 297, Morgenblatt).
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britischer Staatsbürger, der in London wohnte, blickte darin auf eine zerrissene Einwanderungsgesellschaft. Wie Carl Peters berichtete er von Beleidigungen und seiner Ausgrenzung. Allerdings warf sein Beitrag im Kontext der denunzierenden Meldungen in anderen Zeitungen indirekt die Frage nach einem angemessenen Umgang mit Ausländer/innen auf, die seit langer Zeit im Deutschen Reich lebten.125 Am Samstag, dem 31. Oktober, folgte im Abendblatt der Zeitung ein mehrspaltiger redaktioneller Kommentar über die Lage Deutscher im Ausland. Nicht auf Großbritannien konzentriert,126 bildeten die Verhältnisse zwischen Deportationen, Internierungslagern und »Pöbelausschreitungen« den Mittelpunkt der Erörterungen. »Wir sehen, wie unsere Feinde unter der gewissenlosen Führung der Londoner Regierung anerkannte Verträge brechen und wie sie sich in schneller Folge auch von den Grundsätzen der Humanität entfernen.« Dem Betrachter biete sich ein »Schauspiel der Deutschenverfolgung«. Dennoch sei es nicht »Sache des einzelnen, hierfür Vergeltung zu üben und nun den einzelnen Engländer, Franzosen oder Russen empfinden zu lassen, wie tief wir über die Unmenschlichkeiten seiner Landsleute empört sind.« Die Kommentatoren hielten an der Prämisse fest, sich nicht »desselben Verbrechens schuldig [zu] machen«. In diesem Sinne schlossen sie mit einem Handlungsappell an die Reichsleitung. Sie verzichteten aber auf einen weitreichenden Forderungskatalog und empfahlen einzig eine internationale Kontrolle über die angemessene Behandlung der feindlichen Ausländer/innen innerhalb wie außerhalb der Internierungslager.127 Die Zurückhaltung der Frankfurter Redaktion wich aber am 2. November ebenfalls einem emotionalen Duktus. Das Meinungsspektrum hatte sich auf eine Internierungsforderung verengt. Der Staatsrechtler Hermann Levy (1881–1949) plädierte dafür, dass die »Wiedervergeltung […] eine Maßnahme des Schutzes sein [soll], den wir unseren Landsleuten in England schuldig sind«. So würden »reichere und gebildete Engländer, die sich noch in Deutschland aufhalten,« gewiss »unter dem Druck solcher Maßnahmen alle Hebel in Bewegung setzen«, um die britische Regierung zu überzeugen, die dortigen Lebensumstände zu verbessern.128 Diese diplomatische Erörterung wurde von der bestürzten Feststellung begleitet, dass die schlechten Zustände in Großbritannien »wirklich grundlos« seien und
125 Die englischen Gefangenenlager, in: Frankfurter Zeitung, 27.10.1914 (Nr. 298, Morgenblatt). 126 Die Frankfurter Zeitung berichtete wie andere Blätter gleichfalls über die Lebensumstände deutscher Staatsangehöriger in Russland. Hierzu beispielsweise: Meldung, in: Hamburger Fremdenblatt, 4.11.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 380, S. 243. 127 Titelkommentar, 31. Oktober, in: Frankfurter Zeitung, 31.10.1914 (Nr. 302, Abendblatt). Ebenso berichtete die Zeitung am gleichen Tag über Konzentrationslager in Kanada. 128 Deutsche Vergeltungsmaßregeln, in: Frankfurter Zeitung, 2.11.1914 (Nr. 304, Morgenblatt); Hermann Levy wird zitiert nach einem Beitrag im Tag.
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»reinem Haß« entsprängen. Die Schlussfolgerung der Redakteure lautete: »Da kann man wirklich Gleiches mit Gleichem vergelten.«129 Die Debatte um Vergeltungsmaßnahmen wurde nicht allein in den Zeitungen geführt. Die Initiatoren einer Kampagne in Dresden versuchten mit einer Eingabe an den Reichskanzler, in der sie ihn drängten, »an den Engländern Wiedervergeltung zu üben«, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Sie verbanden diese mit einer Unterschriftensammlung. »Tausende von Unterschriften« kamen offenbar zusammen, obwohl die aufgestellten Forderungen jegliche Mäßigung vermissen ließen.130 So sannen die Kampagnenmacher darauf, »Engländer und vor allem auch die vielfach recht anmaßenden und herausfordernd auftretenden Engländerinnen einmal durch eigene Erfahrungen erproben zu lassen, ob und inwieweit die Konzentrationslager nach englischen Vorschriften den Anforderungen der Menschlichkeit entsprechen«. In Deutschland lebende Ausländer ergriffen in der hitzigen Debatte durchaus das Wort. Indes erfuhren sie, dass ihnen im Krieg ein unabhängiger Standpunkt verwehrt blieb. Ihre eigenen Interessen verfolgend, bestätigten sie doch die Haltung der Ankläger. Die Frankfurter Zeitungsmacher veröffentlichten eine Kundgebung britischer Staatsangehöriger, die seit vielen Jahren in Deutschland lebten. William Lindley,131 John Mackenzie und Ernest Cole protestierten »[i]m Namen der zahlreichen in Frankfurt und Umgebung sich aufhaltenden britischen Untertanen, die sich hier ungehindert bewegen dürfen, […] gegen jede harte und unberechtigte Behandlung der Deutschen in England«.132 Wenige Tage später informierte die Zeitung über ähnlich lautende Eingaben aus den englischen Kolonien in München- Gladbach und Bonn. Letztere warnte die britische Regierung vor der »maßlosen Erbitterung […] in allen Schichten des Volkes«.133 Die Leiter der in Hamburg ansässigen Bankenhäuser mit Muttersitz in London zeigten sich ebenfalls um die ›öffentliche Meinung‹ besorgt. Sie drängten die britische Regierung, Entgegenkommen zu zeigen.134 Darüber hinaus initiierten ausländische Staatsbürger Unterschriftensammlungen, mit denen sie ihren Pro129 Ebd. Drei Tage zuvor hatte bereits in der Badischen Presse ein Kommentator resümiert, dass die Reichsleitung einsehen müsse: »Not kennt kein Gebot!« Siehe: Deutsche Vergeltungsmaßregeln, in: Badische Presse, 30.10.1914 (Nr. 506, Abendausgabe; Herv. im Org.). 130 Die Deutschen in England, in: Frankfurter Zeitung, 31.10.1914 (Nr. 302, Abendblatt). 131 Vermutlich handelte es sich um den britischen Ingenieur William Heerlein Lindley (1853– 1917). 132 Die Behandlung Deutscher in England, in: Frankfurter Zeitung, 30.10.1914 (Nr. 301, Abendblatt). Eine ähnliche Wortmeldung einer britischen Staatsangehörigen, siehe: Englische Stimmen gegen die niederträchtige Behandlung der Deutschen in England, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 30.10.1914 (Nr. 301), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3316, Bl. 158. 133 Engländer in Deutschland, in: Frankfurter Zeitung, 3.11.1914 (Nr. 305, Abendblatt). 134 Meldung, in: Kölnische Zeitung, 30.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 300a, S. 189.
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testen Nachdruck verleihen wollten,135 und sie kamen dem Aufruf Carl Schultzes aus Dresden nach, in Briefen ihre persönlichen Erfahrungen seit Kriegsbeginn zu schildern.136 Ihre Appelle und Aktionen, mit denen sich Ausländer/innen eine öffentliche Stimme gaben, dokumentierten ihre schwierige Lebenssituation zwischen den Fronten. Selbst ihre Wortmeldungen für deutsche Staatsangehörige im Ausland bestätigten indirekt die verbitterten Klagen in der deutschen Presse. Obwohl sie sich in den öffentlichen Debatten über gegenseitige Bürgerrechtsverstöße zugunsten ›Deutscher‹ positionierten, sollte dies keinen Einfluss auf die zu treffenden Entscheidungen innerhalb der Reichsadministration zeitigen.
Ein Ultimatum als Reaktion und endgültiger Entschluss In Süddeutschland dienten die Zeitungsdebatten als nützliches Argument, die Ende September zurückgestellte Internierung Wehrpflichtiger abermals einzufordern. Nachdem ein entsprechendes Gesuch der Regierung des Großherzogtums Baden an den Reichskanzler zu keinem Ergebnis geführt hatte, wandte sich Oberstleutnant Melchior im Namen des Karlsruher Generalkommandos erneut an den stellvertretenden Generalstab.137 Er zeigte sich vor dem Hintergrund der Anwesenheit einer »erhebliche[n] Anzahl feindlicher Ausländer« besorgt über die Spionagegefahr in den Grenzbezirken. Die Kriegsgefangennahme der Militärpflichtigen und die Ausweisung der Übrigen sei deshalb weiterhin geboten. Der Vertreter Hans Gaedes konnte auf »eine größere Beunruhigung« der Bevölkerung wie ihren »tiefen Unwillen« ob der »allzu nachsichtigen Behandlung« der Ausländer/innen verweisen. Die Pressemeldungen in der Karlsruher und in der Kölnischen Zeitung dienten ihm hierbei als authentische Belege. Auf die Berichte in den Tageszeitungen berief sich ebenso Egon Freiherr von Gayl. Nachdem ihm »aus kaufmännischen und industriellen Kreisen« verschiedene »Klagen« zugegangen waren, wandte er sich direkt an den Reichskanzler und bat, die Festnahme der wehrpflichtigen britischen Bürger zu prüfen.138 Staatliche Akteure wie sie setzten auf diese Weise die ›öffentliche Meinung‹ empörter Bürger/innen und Nationalisten in Geltung. In Norddeutschland erkannte Maximilian von Roehl, der kommandierende General des Hamburg-Altonaer Armeekorpsbezirks, öffentlich den »berechtigten
135 Meldung, in: Beilage zum Staatsanzeiger für Württemberg, 28.1.1915, Ztga. in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622. 136 Die Behandlung der feindlichen Zivilpersonen in den kriegführenden Staaten bei Ausbruch des Krieges, bearb. von Carl Schultze, hg. von Anonymus aus d. Nachlass, Berlin 1918, S. 1–29. Der Aufruf datiert auf den 27. Oktober 1914. 137 Stv. Gkdo. XIV. AK (gez. i. A. Melchior) an d. stv. Generalstab, 14. u. 30.10.1914, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/269. 138 Stv. Gkdo. VII. AK (Frhr. v. Gayl) an d. Reichkanzler, 12.10.1014, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 69.
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Sturm der Entrüstung in den breitesten Schichten der Bevölkerung« an.139 Eindringlich telegrafierte er an das Auswärtige Amt: »Stimmung gegen die in Deutschland anwesenden Engländer wird täglich erregter, besonders in Hamburg, wo zuverlässiger Bericht über Gefangenenlager Newbury vorliegt. Schutzmaßregeln erscheinen bald nicht mehr ausreichend.«140 Um dieser Situation Einhalt zu gebieten, schlug er die Internierung britischer Wehrfähiger auf dem Truppenübungsplatz Lockstedt vor. Maximilian von Roehl erhielt vom Auswärtigen Amt die Bestätigung, dass ein Ultimatum an die britische Regierung gestellt worden sei.141 In einer Stellungnahme in den Zeitungen berichtete er von diesem Vorgang. Er tadelte darin den Umgang mit britischen Bürger/innen in Deutschland als »viel zu milde«, wobei er sich auf den bekannten Erlebnisbericht Emil Selckes berief. »Diese Tatsache hat den zuständigen Behörden Veranlassung gegeben, dem amerikanischen Botschafter in London mitzuteilen, daß die hier befindlichen englischen Männer vom 17. bis zum 55. Lebensjahre gleichfalls gefangen gesetzt würden, wenn nicht bis zum 5. November amtliche Nachricht über die Freilassung der wehrfähigen Deutschen in England einginge.«142 Das Ultimatum der Reichsleitung markierte einen vorläufigen Schlusspunkt in den öffentlichen Debatten. Den Stimmen mäßigender Zeitgenossen, die auf diplomatische Verhandlungen und ein schrittweises Entgegenkommen hofften, wurde dadurch die Argumentationsgrundlage entzogen. Zeitgleich konstruierte von Roehl mit seiner Wortwahl in der Presse eine eindeutige Wirkungskette. Die ›öffentliche Meinung‹ antizipierend, sei erst aus der »Entrüstung« einer gesellschaftlichen Mehrheit das Handeln der Regierenden hervorgegangen. Die Offiziere von Gayl, von Roehl und Melchior standen innerhalb der staatlichen Administration mit ihrer Einschätzung nicht allein. Die Wahrnehmung einer bevölkerungsweiten Unruhe fand ebenso Eingang in die Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Hauptstadtbevölkerung. Am 2. November notierte Traugott von Jagow: »[D]as Einschreiten der Engländer gegen die deutschen Zivilpersonen [hat] große Erbitterung erregt und den bereits vorhandenen tiefgehenden Engländerhaß noch gesteigert. Die Durchführung einer entsprechenden Vergeltung an den hier aufhältlichen Engländern 139 Bkm., in: Hamburger Fremdenblatt, 30.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.Nr. 300b, S. 189 f. u. Ein Ultimatum an England während des Krieges, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 31.10.1914 (Nr. 302), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3316, Bl. 155. 140 Stv. Gkdo. IX. AK an d. AA, 27.10.1914, (Telegramm, Abs.) in: StA Hamburg, 111–2, L e. Ebenso thematisiert bei: Stibbe, British civilian internees, S. 34. 141 AA an d. stv. Gkdo. IX. AK, o.D., (Telegramm, Abs.) in: StA Hamburg, 111–2, L e. 142 Bkm., in: Hamburger Fremdenblatt, 30.10.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.Nr. 300b, S. 189 f.
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wird überall gefordert.«143 Sein Bericht gelangte wenigstens auf die Schreibtische des Oberkommandierenden in den Marken, des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei und des preußischen Innenministers.144 Mit ihm bestätigte er nachträglich die Eindrücke, über die sich Vertreter der Militär- und Zivilbehörden in einer Besprechung im Reichsamt des Innern zuvor ausgetauscht hatten.145 Die empörten und anklagenden Bürger bildeten einen in seiner Wirkmächtigkeit nicht zu unterschätzenden, aber nur schwer zu beziffernden politischen Einflussfaktor. Sie errangen eine Deutungshoheit und behaupteten eine ›öffentliche Meinung‹, die staatliche Akteure als Argument aufgriffen und als Störfaktor misstrauisch beobachteten. Indem sie die Befürworter der Internierung unterstützten, halfen sie eine folgenschwere Entscheidung zu rechtfertigen. Die Internierungsmaßnahme erschien hierbei öffentlich als Konsens zwischen Regierenden und Regierten, und staatliche Akteure gewährten ihnen scheinbar eine politische Rolle in Entscheidungsprozessen. Die sich Empörenden und Anklagenden waren gleichzeitig durch ihre emotionale Rhetorik selbst zu einem Risiko geworden. Wie die Äußerungen von Roehls und von Jagows zeigten, sorgten sich die militärischen und zivilen Verantwortungsträger um eine erregte Stimmung der Bevölkerung, die auch auf die Pressemeldungen und -kommentare zurückgeführt werden konnte. Eine Beruhigung der wahrgenommenen Stimmungslage durch etwaige Internierungen bedeutete dementsprechend eine Wiedergewinnung staatlicher Interpretationsansprüche. Im Umgang mit feindlichen Ausländer/innen konstituierte sich folglich eine innenpolitische Auseinandersetzung als ein wichtiger Entscheidungsfaktor, der neben die militärische Risikobewertung und das diplomatische Kalkül trat. Die Urteilsfindung innerhalb der staatlichen Administration ist mit der Betrachtung der Zeitungsöffentlichkeit noch nicht hinreichend ergründet. In dieser bildeten sich die regierungsinternen Überlegungen lediglich ausschnitthaft ab. Die fordernden Bürger setzten sich nur scheinbar durch. Denn die Meinungsbildung im Reichsamt des Innern gestaltete sich vielschichtiger. »There are a very few English civilians in Germany who have been placed in prison or in prison camps – about 300. The German Government is informed that a great number of German civilian prisoners – over 6.000 – are in prison camps in England.«146 Am gleichen Tag, als der US-amerikanische Botschafter in Berlin, James W. Gerard, mit diesem Memorandum der britischen Regierung 143 14. Stimmungsbericht d. Berliner Polizeipräsidenten (gez. Jagow), 2.11.1914, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 21, S. 22 f. u. in: BArch Berlin, R 43/2398.a, Bl. 1. 144 Ingo Materna u. Hans-Joachim Schreckenbach, Einleitung, in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, S. IX-XXVIII, hier S. XXV. 145 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, 17.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 11 ff. 146 Memorandum communicated by American Embassy, 17.10.1914, in: Parlamentary Papers, Cd. 7817, Correspondence between His Majesty’s Government and the United States Am-
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vorschlug, die Verhafteten in die Freiheit zu entlassen, fand in den Diensträumen der Berliner Wilhelmstraße eine bedeutsame Unterredung statt. Unter anderem Abgesandte des Admiralstabes, des stellvertretenden Generalstabes der Armee, des Auswärtigen Amtes, des Reichsmarineamtes, des Preußischen Innenministeriums und des Reichsamtes des Innern diskutierten am 17. Oktober 1914 über die weitere Behandlung feindlicher Ausländer/innen.147 Nachdem bereits am 30. September und 12. Oktober die Vertreter der Marine- und Heeresverwaltung in gleicher Runde über die schlechte Lebenssituation deutscher Staatsangehöriger in England berichtet hatten,148 wurde nun unter dem Tagesordnungspunkt »Engländer« aus den Zeitungsberichten Carl Peters vorgelesen.149 Laut Protokoll herrschte der Eindruck vor, »dass die Behandlung der Deutschen in England eine erbärmliche ist«. Daraufhin informierte Walter Eckard vom Auswärtigen Amt über die Initiative seines Hauses. Der US-amerikanische Botschafter sei gebeten worden, informell die britische Regierung zu konsultieren. Er sollte auf eine Verbesserung der Zustände hinwirken und ohne Ultimatum auf die möglichen Gegenmaßnahmen hinweisen. Die Grundstimmung blieb dennoch pessimistisch. »Von verschiedenen Seiten wurde bezweifelt, dass dieser Schritt Erfolg haben werde«, notierte der Protokollant. Währenddessen empfanden die Anwesenden die »öffentliche Meinung« als aufgebracht. Um diese zu beruhigen, sei die Internierungsmaßnahme »auch nötig«, lautete die offenbar einmütige Überzeugung. Ernst Vanselow, der für den stellvertretenden Chef des Admiralstabes sprach, hielt ein mögliches Ultimatum als »bloße Androhung« für zwecklos. Erst die Internierung von Zivilisten baue seiner Auffassung nach genügend Druck auf, um Besserungen eintreten zu lassen. Aber die außenpolitische Wirkung stand für ihn nicht im Vordergrund. Er befürwortete »insbesondere wegen Spionagegefahr die Festsetzung der Engländer« und gab hierbei auch den vorherrschenden Standpunkt innerhalb der Heeresführung wieder. Zur selben Zeit befürchtete der Chef des stellvertretenden Generalstabes, Kurt von Manteuffel, gezielte Spionageaktionen ebenso wie unbeabsichtigte Beobachtungen von Truppenbewegungen. Er vermutete ferner eine Verbindung zwischen Feuerausbrüchen in Getreidelagern bassador respecting the Treatment of Prisoners of War and Interned Civilians in the United Kingdom and Germany respectively, Misc.-No. 7 (1915), Doc.-No. 16, S. 9. 147 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, 17.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 11 ff. 148 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, 30.9.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 145 ff. u. Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, 12.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112362, Bl. 196 ff. 149 Der stellvertretende Generalstab sammelte zu dieser Zeit bereits systematisch Nachrichten über die unzureichende Behandlung deutscher Staatsbürger/innen und Kriegsgefangener. Peters war wohl der bekannteste Berichterstatter. Siehe: Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an u. a. d. Bay., Sächs. u. Württ. KM, betr. Sammlung verbürgter Nachrichten über d. Behandlung d. Deutschen im Ausland, 15.10.1914, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 817, Bl. 16 ff.
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und der Bewegungsfreiheit britischer Staatsangehöriger.150 Ihre Nicht-Internierung erschien aus dieser Perspektive als ein unkalkulierbares Risiko für die militärische Sicherheit des Deutschen Reiches. Die im Reichsamt Zusammengekommenen vereinbarten, die Entscheidung über das weitere Vorgehen dem Großen Hauptquartier zu übergeben. Diesem gehörten neben Kaiser Wilhelm II. und den Chefs des Feldheeres wie der Marine ebenso der Reichskanzler und ein Vertreter des Auswärtigen Amtes an. Dass die dort zu treffenden Beschlüsse feststanden, zeigte die daran anschließende Verständigung über die Eckpunkte der Internierung. Die Diskutanten nahmen die spätere Anordnung des Chefs des stellvertretenden Generalstabes der Armee vorweg, indem sie die Wehrpflichtigen definierten und Ausnahmekriterien festlegten.151 Offenbar unabhängig davon erfolgte zur selben Zeit die beginnende Internierung der verbliebenen europäischen feindlichen Ausländer in der Kolonie Deutsch-Ostafrika.152 Der Entscheidungsdreiklang aus ›öffentlicher Meinung‹, Spionagegefahr und Vergeltung zum Schutze deutscher Staatsangehöriger wird in der historischen Forschung mit unterschiedlichen Gewichtungen diskutiert. Christoph Jahr betont die »grassierende Spionagehysterie« und weist auf die vorsorgliche Verhinderung der Kriegsteilnahme der Wehrfähigen hin.153 Er zeichnet eine Kontinuitätslinie zum Kriegsbeginn und betrachtet die militärischen Argumente als maßgeblich, hinter die diplomatische und politische zurücktraten. Matthew Stibbe hingegen akzentuiert die politische Bedeutung der Internierungsentscheidung. »[A]t home, public support for the war would be given a much-needed boost by a policy which demonstrated Britain’s vulnerability to counter-measures in the form of ›legitimate‹ retaliation for the riots and anti-German measures taken in Britain«,154 legt er dar. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Richard Speed, wenn er resümiert: »Newspaper reports about the detention of civilian tourists in Britain created a public demand for the internment of the British in German. Given the disparity between the numbers of Germans and Britons interned, the Imperial government was unwilling to resist this demand«.155 Den beiden Historikern vorausgehend, hatte bereits der US-amerikanische Botschafter James W. Gerard diese Perspek150 Chef d. stv. Generalstabes der Armee an d. Chef d. Generalstabes d. Feldheeres, hier wtgl. an d. Reichsmarineamt, 20.10.1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 102–104. Siehe auch: Stibbe, The German Empire’s Response, S. 51 f. 151 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, 17.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 11 ff. 152 Daniel Steinbach, Challenging European Colonial Supremacy: The Internment of ›Enemy Aliens‹ in British and German East Africa during the First World War, in: James E. Kitchen, Alisa Miller u. Laura Rowe (Hg.), Other Combatants, Other Fronts: Competing Histories of the First World War, Cambridge 2011, S. 153–175, hier S. 165. 153 Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 303. 154 Vgl. Stibbe, British civilian internees, S. 35. 155 Speed, Prisoners, diplomats and the Great War, S. 148.
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tive gegenüber seinem Londoner Kollegen Walter Page (1855–1918) nachdrücklich hervorgehoben. »The order for the […] concentration […]«, schrieb er am 13. November 1914, »was occasioned by the pressure of public opinion, which has been still further excited by the newspaper reports of a considerable number of deaths in the concentration camps«.156 Die Stellungnahmen der Ressortbevollmächtigten im Reichsamt des Innern lassen erkennen, dass in Militär- und Regierungskreisen keine Gegenpositionen zur Internierung ausländischer Zivilisten formuliert worden waren. Von unterschiedlichen Interessen und Zielen geleitet, waren sie sich in der Frage eines zweckentsprechenden Umgangs mit den britischen Wehrfähigen einig. Zur Bannung der Spionagegefahr, zur Entlassung der Zivilgefangenen in Großbritannien beziehungsweise zur Verbesserung ihrer Lebensumstände und zur Beruhigung der ›öffentlichen Meinung‹ erschien ihnen die Internierung als folgerichtig und geeignet. Gleich, welche Momente im Großen Hauptquartier den Ausschlag geben würden, aus Militär- und Regierungskreisen sowie aus der Öffentlichkeit waren keine Einwände zu befürchten. Die Umsetzung der Internierung offenbarte hingegen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertretern des Auswärtigen Amtes und des stellvertretenden Generalstabes. General Kurt von Manteuffel plädierte für eine unangekündigte Durchführung. »Von großer Bedeutung erscheint es,« führte er gegenüber dem Generalstabschef Erich von Falkenhayn aus, »keinerlei Nachrichten über die diesseitigen Absichten vorzeitig an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Die Maßregel dürfte umso wirkungsvoller sein, wenn es ohne jeden Versuch der Drohung gelänge, möglichst schnell mit der vollzogenen Tatsache hervorzutreten.«157 Durchsetzen konnten sich allerdings die Diplomaten. Die Reichsleitung stellte der britischen Regierung ein bis zum Abend des 5. November befristetes Ultimatum.158 Sie forderte die »Freilassung und bessere Behandlung der in England seit Ausbruch des Krieges festgehaltenen Deutschen«, um deutsche Vergeltungsmaßnahmen zu verhindern. »Das Mißliche ist nur, daß in Deutschland nicht mehr als 2–3000 Engländer sind, während sich in England ungefähr 50000 Deutsche befinden«, notierte Arnold Paulssen (1864–1942), der Vertreter des Großherzogtums Sachsen-Weimar-
156 Ambassador James W. Gerard, Berlin to Ambassador Walter Page, London, 8.11.1914 in: Parlamentary Papers, Cd. 7817, Correspondence between His Majesty’s Government and the United States Ambassador respecting the Treatment of Prisoners of War and Interned Civilians in the United Kingdom and Germany respectively, Misc.-No. 7 (1915), Doc.-No. 24, Enclosure, S. 16 f. 157 Chef d. stv. Generalstabes der Armee an d. Chef d. Generalstabes d. Feldheeres, hier wtgl. an d. Reichsmarineamt, 20.10.1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 102–104. 158 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an u. a. d. Bay., Sächs. u. Württ. KM, 3.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 16 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 147.
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Eisenach beim Bundesrat.159 Seine Eindrücke bezüglich der politischen Bewertung des Ultimatums waren wenig zuversichtlich. Nach ihm zufolge bezweifelte die militärische und politische Führung des Reiches, »daß England sein Verfahren ändern, sondern die 2–3000 Engländer in Deutschland ruhig ihrem Schicksal überlassen wird«.160 Diese Haltung sei als ein »Beweis der ungeheuren Nervosität in London und als eine Konzession an den Pöbel« anzusehen. Die Vorbereitungen zur Internierung der britischen Wehrfähigen wurden am 3. November aufgenommen. Kurt von Manteuffel unterrichtete die stellvertretenden Generalkommandos in einer ausführlichen Anordnung.161 »1.) Alle männlichen Engländer zwischen vollendetem 17. und 55. Lebensjahr, die sich innerhalb des Deutschen Reiches befinden und denen als Ärzten oder Geistlichen nicht das Ausreiserecht zusteht, sind in Sicherheitshaft zu nehmen und […] unter militärischer Bedeckung in das Lager Ruhleben bei Berlin zu überführen. […] 2.) Ausnahmen […] können von den Stellvertretenden Generalkommandos und dem Oberkommando in den Marken nur dann gestattet werden, wenn schwere Krankheit, die den Transport unmöglich macht, von amtsärztlicher Seite bescheinigt wird. Sobald das Befinden den Transport gestattet, ist die Überführung nachzuholen. […] 4.) Die unter 1–2 genannten Maßregeln sollen zunächst nur Anwendung finden auf Angehörige des ›Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland‹. 5.) Sofern für die Transporte fahrplanmäßige Züge nicht ausreichen, sind von den Stellvertretenden Generalkommandos Sonderzüge mit den LinienKommandanturen zu vereinbaren.«162
159 Politische Lageberichte d. Stv. Bevollmächtigten Sachsen-Weimar-Eisenachs zum Bundesrat (Arnold Paulssen), 1.11.1914, in: HStA Weimar, Stv. Bevollmächtigter Sachsen-WeimarEisenach zum Bundesrat, Nr. 57, Bl. 132. 160 Politische Lageberichte d. Stv. Bevollmächtigten Sachsen-Weimar-Eisenachs zum Bundesrat (Arnold Paulssen), 4.11.1914, in: Ebd., Bl. 135. 161 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an u. a. d. Bay., Sächs. u. Württ. KM, 3.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 16 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 147 u. Preuß. Minister. d. Innern (gez. v. Loebell) an d. Reichsmarineamt, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 149. 162 Anordnung d. Chefs d. stv. Generalstabes d. Armee, 3.11.1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5368, Bl. 148; in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 17 u. in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2052. Als wehrpflichtiges Alter wurde bei britischen Staatsangehörigen das 17.–55. Lebensjahr, bei französischen das 17.–60. und bei russländischen das 17.–45. angenommen. Siehe: Preuß. KM, betr. Übersicht über d. Kostenverteilung für festgenommene feindliche Ausländer, an sämtl. stv. Gkdos. 9.8.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 89.
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Die Militärbefehlshaber sollten schließlich vorsorglich eine Verständigung mit den Zivilbehörden über die Durchführung herbeiführen. Im Gegensatz zum 28. August 1914, als ein kurzes Telegramm Militär- und Zivilbehörden überraschte, plante der stellvertretende Generalstab die Internierung britischer Wehrpflichtiger nun akribisch. Die Offiziere definierten den Personenkreis und legten Regeln für Ausnahmefälle fest. Sie setzten die bundesstaatlichen Regierungen in Kenntnis, bestimmten den Internierungsort, grenzten Verantwortungsbereiche ab und unterwiesen die betroffenen Ämter.163 Darüber hinaus veröffentlichten sie in Zeitungen nicht nur das Ultimatum an Großbritannien und den daran anschließenden Internierungsbeschluss, sondern ebenso die Durchführungsanordnung und eine Begründung der Maßnahme. Demnach seien manche Schilderungen über die Behandlung deutscher Zivilisten in England »zweifellos« übertrieben gewesen. »Was aber als Ergebnis amtlicher Feststellungen übrig bleibt, ist so schwerwiegend, daß, vor allem gegenüber England, Vergeltungsmaßregeln gerechtfertigt und notwendig sind«, informierte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung ihre Käufer/innen.164 Diese reichsweite Zentralisation der Organisation hatte nichts mehr gemein mit den improvisierten Internierungslagern in Donaueschingen oder auf der Plassenburg bei Kulmbach.165 Die Definition der zu Internierenden schloss ferner eine soziale, wirtschaftliche oder lokal-situative Unterscheidung der Betroffenen aus. Nach Ruhleben brachen alle gesunden britischen Staatsbürger im wehrfähigen Alter auf.166 »Es handelt sich um Personen aus allen Gesellschaftsschichten,« sollte der Korrespondent der Frankfurter Zeitung aus der bayerischen Hauptstadt berichten, »darunter Gewerbetreibende, die schon so lange hier ansässig sind, daß sie allgemein als gute Münchner galten und wohl kaum jemand von ihrer wahren Staatsangehörigkeit wußte.«167 Der Reporter der Vossischen Zeitung schilderte ein ähnliches Panorama aus Berlin. »Während viele Engländer mit Kraftdroschken angefahren kamen, wurden andere in kleinen Gruppen zu Fuß abgeführt. […] Unter den Engländern befinden sich viele Angestellte und Studenten, aber auch selbstständige Geschäftsleute und Gewerbetreibende. Auch Direktoren und Inspektoren großer englischer Gesellschaften sah man unter ihnen.«168 163 Politische Lageberichte d. stv. Bevollmächtigten Sachsen-Weimar-Eisenachs zum Bundesrat (Arnold Paulssen), 27.10., 1.11. u. 4.11.1914, in: HStA Weimar, Stv. Bevollmächtigter Sachsen-Weimar-Eisenach zum Bundesrat, Nr. 57, Bl. 124 f., 132, 135. 164 Festnahme der in Deutschland befindlichen Engländer, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 275, Erste Ausgabe). 165 Siehe hierzu das Kapitel Ausweisen und Einquartieren. 166 In Großbritannien galt erst ab 1916 die Wehrpflicht. 167 Die Internierung der Engländer, in: Frankfurter Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 309, Zweites Morgenblatt). 168 Die Internierung der Engländer, in: Vossische Zeitung, 6.11.1914 (Nr. 566, Abendausgabe).
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Die Ruhlebener Lagergemeinschaft setzte sich aus den verschiedensten sozialen und kulturellen Gruppen zusammen.169 Verbunden waren sie durch ihre Staatszugehörigkeit, die ab dem 6. November für die Lebensumstände feindlicher Ausländer/innen ein noch stärkeres Gewicht gewann. Bevor das Ultimatum abgelaufen war, begann für die Betroffenen eine bange Zeit des Wartens. Die australische Staatsbürgerin Ethel Cooper erzählte ihrer Schwester von einer aufwühlenden Zeit. »I have just heard from the American Consul, who is incidentally the greatest fool you can imagine, that all Englishmen are to be put back into prison by the 5th, and all Englishwomen either into prison or turned out of the country, and he strongly advises all to leave who can, by 5 o’clock tomorrow morning. On the strength of that we went to the police again-they say they have no orders yet-but the majority are leaving, (the women, I mean) at 5 tomorrow.«170 Sie schrieb Vollmachten für Freunde, die ihre Angelegenheiten in Leipzig regeln sollten, packte ihre Koffer mit den nötigsten Dingen und teilte ihrer Schwester eine sichere Postadresse mit. Dass ihre Bedenken bezüglich einer Internierung unberechtigt waren, erfuhr sie erst am 6. November. Die Vorboten der Entscheidung über eine Internierung britischer Staatsbürger spürte ebenfalls Israel Cohen (1879–1961), der als Reporter für die London Times recherchierte und nach dem Krieg als Sekretär der World Zionist Organization arbeitete. »But from the middle of October I began to feel uneasy. One morning the police official asked me how long I had lived in Germany before the war, whether I had lived in any other town before Berlin, what my occupation was, my age, and kindred questions, and as he noted down my replies I felt that these were required for something more than statistical purposes.«171 Anfang November erfuhr er schließlich von dem gestellten Ultimatum. »My first impression was that this threat would be carried out; my second, that it was merely bluff; my third, that the British Government would yield and everything would end happily.«172 Als der 5. Tag des Monats näher rückte, fragte er auf der US-amerikanischen Botschaft und bei der Polizeibehörde nach Neuigkeiten. Niemand hatte
169 Vgl. auch Stibbe, Britisch Civilian Internees, S. 53 u. 95–99. 170 Cooper, Behind the Lines, Letter 14 (2.11.1914), S. 38. 171 Israel Cohen, The Ruhleben Prison Camp. A Record of Nineteen Months’ Internment, London 1917, S. 21. 172 Ebd., S. 22.
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etwas gehört. »[A]nd realising that it was best not to be taken unawares, I made some half-hearted preparations on the night of the 5th.« Die durch Kurt von Manteuffel angekündigte Mitteilung verließ das Telegrafenamt des stellvertretenden Generalstabes am 6. November um 1.23 Uhr. Der britische Außenminister versuchte erfolglos, mit einer entgegnenden Anfrage über die Behandlung der in den Vormonaten festgenommenen britischen Staatsbürger Zeit zu gewinnen.173 Die Anordnung trat in Kraft.174 Zum selben Zeitpunkt begann der Zivilgefangenenaustausch mit Frankreich.175 »For a long time we hoped against hope that an exchange would be effected upon some basis or other, but nothing came of it, and when we saw the inevitable we resigned ourselves to it with a good grace«, schrieb rückblickend Wallace Ellison, der bereits im Sennelager einige Wochen interniert gewesen war, über die Ankündigung der Maßnahme in den Zeitungen.176 Und Israel Cohen erlebte eine kafkaeske Szene am darauffolgenden Morgen. »At seven o’clock on Friday morning, November 6th, 1914, just as I thought of turning over on the other side, there was a ring at the front door, and shortly afterwards there was a knock at my door. I knew that my hour had come. […] [W]hen I opened the door my grey-haired landlady, in tremulous tones, told me that a gentleman wished to see me. I knew that gentleman: I had been expecting him.«177 Der ihn gefangennehmende Polizeibeamte hatte von seinem Vorgesetzten die Anweisung erhalten, »mit der erforderlichen Festigkeit vorzugehen, unnötige
173 Edward Grey to Walter Page, United States Ambassador in London, 7.11.1914, in: Parlamentary Papers, Cd. 7817, Correspondence between His Majesty’s Government and the United States Ambassador respecting the Treatment of Prisoners of War and Interned Civilians in the United Kingdom and Germany respectively, Misc.-No. 7 (1915), Doc.-No. 21, S. 15. 174 Stv. Generalstab d. Armee ursp. an d. Preuß. MdI, 6.11.1914, (Telegramm) in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 18. Sogenannte Kolonialengländer waren von der Internierungsanordnung zunächst ausgeschlossen. Am 19. Januar 1915 fiel gleichwohl der Entschluss, als »Vergeltung der in den englischen Kolonien gegenüber den Deutschen getroffenen Maßnahmen« auch diese zu internieren. Ausnahmen galten vorerst »bezüglich der Inder, der Buren und der Australier, wobei als Australier die in Australien geborenen Personen angesehen werden« sollten. Siehe: Zusammenfassung Besprechung im RAdI, betr. Ausländer, 19.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365. Bekanntmachung hierzu siehe: Internierung der Kolonial-Engländer, in: Berliner Tageblatt, 29.1.1915 (Nr. 52, Morgenausgabe). 175 Die Rückkehr der in Frankreich festgehaltenen Zivilpersonen, in: Frankfurter Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 309, Zweites Morgenblatt). 176 Wallace Ellison, Escaped! Adventures in German Captivity, London 1918, S. 31. 177 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 23.
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Härten aber jedenfalls zu vermeiden«.178 Er betrat Cohens Wohnhaus und wurde gastlich empfangen. »I offered my visitor a cigar, which he took without any pretence of wounded dignity, and then I seated him in the hall, where my landlady gave him a cup of coffee.«179 Die Festnahme war für den Beamten kein Akt, bei dem er Zwang anwenden musste. Der Vorgesetzte des Bewirteten, Traugott von Jagow, wandte sich zur selben Zeit erneut den Bürger/innen Berlins zu. »Für die große Menge«, bemerkte er, »hat der Krieg, den wir führen, eigentlich nur noch ein leidenschaftlich begehrtes Ziel, die Abrechnung mit England. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Festsetzung der hier wohnenden männlichen Engländer […] mit großer Freude […] aufgenommen worden«.180 Ähnlich konstatierte die Badische Landes-Zeitung »im hiesigen Publikum allgemein große Befriedigung« über den Internierungsentschluss.181 Die britische Staatsangehörige Annie Dröege nahm kein Bedauern in ihrem Bekanntenkreis über die Internierung ihres Mannes wahr. In ihrem Tagebuch notierte sie nachdenklich: »All made the same remark: ›So Herr Droege is in Ruhleben. You must thank your abominable government for that. He will better treated than England treats our men.‹«182 Aber keineswegs alle empörten Gemüter waren beruhigt. Zum einen protestierten Enttäuschte etwa in den Hamburger Nachrichten über eine nicht ausreichende Vergeltungsmaßnahme,183 und bei einigen Bürger/innen gärte der Verdacht, dass die Behandlung der Internierten »zu gut« sei.184 Zum anderen erregten verbliebene »englische Familien« beispielsweise in Dresden in »Kreisen der hiesigen Bürgerschaft« weiterhin »Unwillen und Ärger«. Wie die städtische Kommandantur verlautbarte, wurden ihr Besuch von Theatern und Schaustellungen, Lustbarkeiten und Restaurants sowie die dort geführten Gespräche scharf kritisiert. Um die immer noch verärgerten Teile des Dresdner Establishments zu beruhigen, schlug die Kommandantur vor, die Meldepflichten »streng« und »unbequem« durchzu-
178 Sächs. MdI an d. KrhM, AmhM u. Stadträte d. Städte mit rev. Städteordnung, d. Polizeidirektion u. d. Polizeiämter, 6.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 19. Eine ähnliche Anweisung findet sich in: Stv. Gkdo XIII. AK an d. Württ. MdI, 5.11.1914 u. Württ. MdI an d. Oberämter, o.D., (Staatstelegramm) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 874. 179 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 23. 180 15. Stimmungsbericht d. Polizeipräsidenten von Jagow, 9.11.1914, (Ent.) in: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten, Dok.-Nr. 22, S. 23 u. in: BArch Berlin, R 43/2398.a, Bl. 6. 181 Die Festnahme der Engländer in Deutschland, in: Badische Landes-Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 518, Mittagsblatt). 182 Dröege, Diary of Annie’s War, S. 30 (18.11.1914). 183 Heftige Anschuldigungen gegen die Reichsregierung, in: Dresdner Volkszeitung, 13.11.1914 (Nr. 263), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3317, Bl. 51. 184 Die Engländer im deutschen Konzentrationslager, in: Badische Landes-Zeitung, 8.12.1914 (Nr. 571, Abendblatt).
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führen. Die Dresdner Militärs bemühten hierbei einmal mehr das Argument des »schweren Loses unserer in England lebenden Landsleute«.185 In der offiziellen Begründung der Internierung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung klang allerdings ein kritischer Tonfall gegenüber den zuvor veröffentlichten Berichten aus England an. Denn die Ermittlungsergebnisse neutraler Beobachter wurden nicht verschwiegen. »Nach der amtlichen Untersuchung […] stellten sich manche Fälle nicht in allen Umständen so dar, wie in den Schilderungen der Presse. In Einzelheiten sind zweifellos den Beschwerdeführern hin und wieder auch Übertreibungen unterlaufen. […] Mutwillige Grausamkeiten gegen Deutsche waren den Engländern im großen und ganzen nicht nachzuweisen. Es sind aber ganz unnötige und unwürdige Härten vorgekommen, wie sie mindestens ohne Fahrlässigkeit von Beauftragten der britischen Krone nicht möglich gewesen wären.«186 Dass dennoch Vergeltungsmaßnahmen notwendig seien, durfte im Anschluss an diese vorsichtige Pressekritik, welche die Verantwortung sogleich an die »Beschwerdeführer« weitergab, nicht fehlen. Die Klarstellung durch die neutralen Inspekteure, die unter anderem in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde und zur Versachlichung der erhitzten Debatten hätte beitragen können, kam zu spät. Die militärischen Verantwortungsträger zogen daraus gleichwohl für die späteren Kriegsjahre eine Lehre. Sie nahmen in die Zensurbestimmungen des Kriegspresseamtes den Passus auf, dass »[a]lle Artikel, gleichviel welcher Herkunft und welchen Umfanges, die Völkerrechtsverletzungen von seiten unserer Feinde schildern, oder die Behandlung und Lage Deutscher […] zum Gegenstand haben, ebenso Aufsätze, in denen […] die Anwendung von Gegenmaßregeln gefordert wird«, der Vorzensur unterliegen. »Berichte über feindliche Greueltaten an deutschen Verwundeten oder schlechte Behandlung von kriegsgefangenen Deutschen« sollten die Pressevertreter »mit großer Vorsicht« zur Kenntnis nehmen und an die Militärbehörden weiterleiten.187 Die nationalistischen Agitatoren suchten sich andere Wege, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. In Denkschriften und in Eingaben wie jener der Jenaer Sektion des Alldeutschen Verbandes an den Reichsrat im März 1916 hielten sie die 185 Kommandantur Dresden an d. stv. Gkdo. XII. AK, 16.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 91. 186 Festnahme der in Deutschland befindlichen Engländer, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 275, Erste Ausgabe). Verbreitet wurde die amtliche Nachricht über das WTB und beispielsweise ebenfalls abgedruckt in: Die Festnahme der Engländer in Deutschland, in: Badische Landes-Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 518, Mittagsblatt) u. Die Internierung der Engländer, in: Frankfurter Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 309, Zweites Morgenblatt). 187 Zensurbuch für die deutsche Presse, hg. von der Oberzensurstelle des Kriegspresseamtes, Berlin (März) 1917, S. 9 u. 47.
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Forderung aufrecht, alle britischen Staatsangehörigen zu internieren und Hilfslieferungen des Roten Kreuzes an sie zu untersagen, um die Internierten nicht besser als die Bevölkerung zu stellen. Auf Zustimmung innerhalb der Reichsadministration stießen sie mit ihren Anliegen nicht. Dennoch übten sie einen politischen Druck aus, den der Reichskanzler Bethmann Hollweg in einer Reichstagsrede im Juni 1916 zu mindern versuchte, indem er den »Mißbrauch mit der Flagge der nationalen Partei« anprangerte und »das Nationale« als das Selbstverständliche propagierte.188 In seinen Augen durften sich die verhängnisvollen Herbsttage 1914 mit ihrer unkontrollierbaren Eigendynamik nicht wiederholen.
Unsicheres und widersprüchliches Wissen über die Zivilinternierungen Innerhalb der Presse hatten Redakteure, Rückkehrer aus Großbritannien und Kommentatoren eine Empörungsspirale in Gang gesetzt, die ihre Kreise bis ins Reichsamt des Innern zog. Das Verlesen der Carl Peterschen Zeitungsartikel bei den Ministerialkonsultationen verwies auf die unsicheren staatlichen Informationskanäle im Krieg. Die Militär- und Regierungsvertreter konnten das von ihnen behauptete Wissen kaum verifizieren. Die Untersuchungen neutraler Beobachter lagen ihnen noch nicht vor. Sie vertrauten schließlich den prekären Informationen, wohl weil diese Stereotype über Großbritannien bestätigten und ihrem Erwartungshorizont über die Möglichkeiten im damaligen Krieg entsprachen. Militärische ebenso wie zivile Akteure erklärten das Petersche und Selckesche Wissen gar zu einer maßgeblichen Entscheidungsgrundlage. Im Zuge dessen erscheint die Ende 1914 von Carl Peters publizierte Materialsammlung Das deutsche Elend in London, in der er »Zeugen« zu Wort kommen ließ, die seine Schilderungen stützten, als ein Instrument in einem Deutungskampf um valide Informationen.189 Er verteidigte sich mit seiner Veröffentlichung gegen die Erkenntnisse der neutralen Beobachter, die seinen Standpunkt relativierten beziehungsweise widerlegten. Die Interventionen Peters’ verdeutlichen die Schwierigkeiten staatlicher Entscheidungsträger, gesicherte Informationen während des Krieges zu erlangen. Sie bezogen ihr Wissen über die Vorgänge bei den Kriegsgegnern nicht selten aus Zeitungsmeldungen und von heimkehrenden Zeitzeugen. Ohne die Möglichkeit weiterer Überprüfungen hatten deren Einschätzungen, eventuelle Übertreibungen ebenso wie Generalisierungen von einzelnen Vorkommnissen eine erhebliche Chance, als authentisch eingestuft und als glaubhaft angenommen zu werden. Die verantwortlichen Akteure mussten unbestätigte Aussagen als Grundlage ihrer Entscheidungen akzeptieren. So lagen bei dem Beschluss zur Internierung britischer Staatsbürger keine »einwandfreien« Informationen darüber vor, inwieweit die dor-
188 Stibbe, The German Empire’s Response, S. 55 f. u. Theobald v. Bethmann Hollweg (Reichskanzler), 59. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 5.6.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 307, S. 1511. 189 Peters, Das deutsche Elend.
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tigen Behörden Ausnahmeregelungen getroffen hatten.190 In Bezug auf die Anzahl der im Ausland Internierten konnten die Regierungsvertreter noch 1916 lediglich auf ungenaue oder divergierende Angaben zurückgreifen. Bei einer Ministerialbesprechung hielt der Protokollant fest: »Die Zahl der in England internierten Deutschen werde auf etwa 30.000, der in Frankreich auf etwa 10.000 geschätzt. Für Rußland wichen die einzelnen Schätzungen weit voneinander ab; sie schwankten zwischen 30.000 und 100.000«.191 Nach dem Krieg prangerten die sozialdemokratischen Abgeordneten des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Verletzungen des Kriegsgefangenenrechtes aufarbeitete, die heiklen Lücken in der Nachrichtensammlung der Reichsbehörden an. Sie zweifelten mit Blick auf die Materialgrundlage des umfangreichen Gutachtens des Staatsrechtlers Christian Meurer erheblich an der Genauigkeit und Dichte der Informationen. »Es handelt sich hier nicht um ein systematisches Bild, sondern um einzelne Befehle usw., die ein Zufall dem deutschen Nachrichtendienst in die Hände gespielt hat«, gaben sie zu Protokoll. Aus den Dokumenten, nach denen im Krieg entschieden, vergolten und angeklagt wurde, glaubten sie nicht, »ein zutreffendes Bild über die Gesamtheit der gegnerischen Gefangenenbehandlung gewinnen zu können«.192 Im November 1914 erwarteten die Militärführung und die Reichsleitung die eilig eingeforderten Berichte neutraler Gesandter. Deren Eindrücke veränderten zugleich die Entscheidungsgrundlage der Internierung britischer Staatsangehöriger. Denn sie wiesen anstatt systematischer Menschenrechtsverletzungen einzelne Vorkommnisse nach, die geahndet wurden. Ein britisches Zivilgericht verurteilte beispielsweise Täter »deutschfeindlicher Krawalle« im Londoner Stadtteil Deptford zu Gefängnisstrafen und Bürgschaften über künftiges Wohlverhalten. Die meisten der Beteiligten seien gar in die Armee eingetreten, meldete die Frankfurter Zeitung.193 Chandler Hale (1873–1951), der im Auftrag des US-amerikanischen Botschafters in London Zivilgefangenenlager besucht hatte, berichtete gleichsam von generell klaglosen Lebensumständen der Internierten.194 Dem vormals wich190 Preuß. Minister d. Innern (gez. Loebell) an d. stv. Kriegsminister, 3.1.1915, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112364. 191 Aufzeichnung d. Ergebnisse d. Besprechung im RAdI, betr. Entlassung d. Kriegsgefangenen, 2.3.1916, in: GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 1751. 192 Minderheitsentschließung d. Dritten Unterausschusses (14.11.1925), Antrag d. Abgeordneten Dr. Levi u. Genossen, in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 23–27, hier S. 23. 193 Die Internierung der Engländer, in: Frankfurter Zeitung, 7.11.1914 (Nr. 309, Zweites Morgenblatt). 194 Bericht d. Beauftragten d. Amerikanischen Botschafters in London Chandler Hale über d. Besichtigung d. Gefangenenlager in Douglas u. Peel auf d. Insel Man u. in Templemore in Irland, November 1914, hier an d. Vorsitzenden d. Budgetkommission d. Reichstages, 28.4.1915, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5402, Bl. 3 f. Am 22. September 1914 befanden sich bereits circa 10.500 Wehrpflichtige in britischen Internierungslagern. Siehe: Panayi, Prisoners of Britain, S. 42–45.
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tigen Argument, deutsche Bürger in Großbritannien zu schützen, war somit die Grundlage entzogen worden. Die Entscheidungsträger im Großen Hauptquartier reagierten hierauf jedoch nicht. In nichtöffentlichen Stellungnahmen militärischer und ziviler Akteure traten alsdann Widersprüche über die angenommenen Gründe der Internierungsanordnung zutage. Friedrich Wilhelm von Loebell, der preußische Innenminister, schrieb im Januar 1915 an den stellvertretenden Kriegsminister: »Die Internierung […] ist als objektive Vergeltungsmaßnahme gegenüber gleichartigen Maßnahmen der englischen Regierung gedacht und angeordnet worden.«195 Johannes Kriege, Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, verteidigte vor den Abgeordneten des Reichshaushaltsausschusses etwa zur selben Zeit die Internierung, um »deutschen Angehörigen in England eine bessere Behandlung zu verschaffen«.196 Hierbei zeichne sich nach vier Monaten ein »begrenzter Erfolg« ab. Wiederum Vertreter des Bayerischen Innenministeriums waren noch 1918 davon überzeugt, dass die »Gefangensetzung der feindlichen Ausländer […] in Deutschland eine Vergeltungsmaßnahme« war.197 Davon gingen in internen Schriftwechseln gleichsam Alfred von Tirpitz (1849–1930), der Staatssekretär des Reichsmarineamtes,198 und Hans Gaede, der stellvertretende kommandierende General des Freiburger Armeekorpsbezirks aus. Letzterer behauptete zudem, dass die Internierungsanordnung »unsere Reichsregierung« veranlasst hatte.199 Dem entgegen hielt Kurt von Manteuffel an seinem Standpunkt fest. Bei der Internierung hätte es sich eben nicht um eine Repressalie gehandelt. Jene sollte »nur den unverläßlichen Schutz gegen Spionage gewährleisten«.200 Zugleich entspann sich an dieser Auffassung durchaus Kritik. Ludwig von Grundherr, der Münchner Polizeipräsident, äußerte sich grundsätzlich. Viele feindliche Ausländer/ innen, unter denen er Spionageverdächtige vermutete, seien zu Kriegsbeginn aufgrund fehlender Direktiven unbehelligt geblieben. »Als dann im November 1914 die zurückgebliebenen Engländer und Franzosen in die Sammellager geschafft
195 Preuß. Minister d. Innern (gez. Lewald) an d. preuß. stv. Kriegsminister, 3.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 262–265. 196 Johannes Kriege, 2. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 11.3.1915, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, bearb. von Reinhard Schiffers u. Manfred Koch, Bd. 1, Düsseldorf 1981, S. 6–15, hier S. 14. 197 Bay. SMdI an d. Bay. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern, 27.2.1918, in: HStA München, MInn 53978. 198 Staatssekretär d. Reichsmarineamtes an d. Staatssekretär d. RAdI, 4.6.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112367, Bl. 76 f. 199 Stv. Gkdo. XIV AK (gez. Gaede) an d. Bad. MdI, 19.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348. 200 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. RAdI, 20.11.1914, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622.
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Internieren und Freilassen
wurden, traf diese Massregel grossenteils ganz unverdächtige, innerlich deutsch gesinnte Leute«,201 beschwerte er sich. Die unterschiedlichen Interessen und Argumente im Herbst 1914 zeitigten Folgen für die Behandlung der Internierten. Während Ministerialdirektor Theodor Lewald eine Orientierung an den britischen Maßnahmen dringend empfahl und Ausnahmegenehmigungen anregte, beharrte von Manteuffel auf der generellen Spionageprävention. »[D]er Schutz gegen Spionage [ist] eine so wichtige Notwendigkeit, daß persönliche und auch allgemeine wirtschaftliche Interessen in vielen Fällen werden zurücktreten müssen.«202
Ausweitung der Internierungen als Kriegspraktik Die Internierungsmaßnahme vom 6. November 1914 dehnte der Chef des stellvertretenden Generalstabes am 11. Dezember des Jahres gleichlautend auf französische Wehrpflichtige im Alter von 17 bis 60 Jahren aus.203 Eine öffentliche Empörungswelle wie gegen britische Staatsangehörige begleitete die Entscheidung nicht. Gleichwohl wusste die Kölnische Zeitung über die »menschenunwürdige« und »skandalöse« Unterbringung und Verpflegung deutscher Zivilgefangener in Frankreich zu berichten.204 Der Rückkehrer Rudolf Möller (1864–1946), ein bis 26. Oktober 1914 im nordafrikanischen Sebdou internierter ›Marokko-Deutscher‹,205 schilderte die schlechte Behandlung der Festgenommenen in den Dresdner Neueste Nachrichten.206 Eine reichsweite öffentliche Bekanntmachung der Internierungsmaßnahme unterblieb. Den badischen Zeitungsmachern war die sich Tage später verbreitende Nachricht eine nur wenige Zeilen umfassende Notiz wert.207 »Aus verschiedenen Städten wurde gemeldet,« klärte die Badische Presse ihre Leser/innen auf, »daß dort die im wehrpflichtigen Alter befindlichen Franzosen verhaftet worden sind«.208 »Das dürfte seit einigen Tagen überall geschehen 201 Polizeidirektion München (gez. Grundherr) an d. Bay. SMdI, 27.1.1915, in: HStA München, MInn 53976. 202 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. RAdI, 20.11.1914, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622. 203 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) hier u. a. an d. Sächs. KM, 11.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 1 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 129. 204 Meldung, in: Kölnische Zeitung, 12.11.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 4, Dok.-Nr. 488, S. 303. 205 Zu den Internierungslagern Sebdou und Laghouat siehe: Mai, Die Marokko-Deutschen, S. 663–680. Zur Person Möller: Ders., Die Marokko-Deutschen 1873–1918. Biogramme, S. 163, URN: urn:nbn:de:gbv:547–201700149 (November 2017). 206 Meldung, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 29.11.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 5, Dok.-Nr. 192, S. 120–123. 207 Meldung, in: Badische Landes-Zeitung, 28.12.1914 (Nr. 602) u. Internierung der Franzosen, in: Badischer Beobachter, 20.12.1914 (Nr. 379). 208 Internierung der wehrpflichtigen Franzosen, in: Badische Presse, 19.12.1914 (Nr. 592, Abendausgabe).
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Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
und heute schon im ganzen Reiche beendet sein«. Zur Begründung registrierte das Blatt unberührt, dass »den Franzosen jetzt erst [geschieht], was unseren Leuten in Frankreich längst geschehen ist«, und in der Vossischen Zeitung wurde der Hoffnung auf eine Besserung der Zustände in Frankreich Ausdruck verliehen.209 Die Militärbehörden waren angewiesen, »ebenso streng« wie bei der Festnahme britischer Wehrpflichtiger vorzugehen.210 Als Internierungsort bestimmte Kurt von Manteuffel ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager nahe Holzminden im X. Armeekorpsbereich. Im Frühjahr 1915 waren laut offiziellen Angaben circa 4200 britische und 2200 französische Staatsangehörige, die sich zu Kriegsbeginn in Deutschland aufgehalten hatten, interniert.211 Tabelle 11: Französische Staatsangehörige im Deutschen Reich, Dezember 1914 Bundesstaaten
Preußen Bayern
Weibliche Personen
Männliche Personen Knaben
17–60 Jahre
über 60 Jahre
1202
239
613
60
188
47
81
14
Sachsen
87
14
51
3
Württemberg
82
31
32
4
Baden Elsaß-Lothringen … Insgesamt
278
109
253
31
3801
565
662
819
…
…
…
…
5839
1047
1803
936
Quelle: Übersicht über d. im Deutschen Reich anwesenden Franzosen, Dezember 1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 152 f. Anmerkung: Die Übersicht beanspruchte keine Vollständigkeit, da die von den Polizei behörden aufgestellten Listen nicht normiert waren.
Auf russländische Staatsangehörige weiteten die Militär- und Regierungsverantwortlichen die Internierungsanordnung nicht aus, obgleich diesbezügliche Forderungen staatlicher Akteure hinsichtlich der Saisonarbeiter/innen zu vernehmen waren. Der Magistrat der bayerischen Stadt Hof verlangte die Prüfung der Frage, »ob nicht sämtliche Russen – Männer und Frauen – in Konzentrations209 Internierung wehrpflichtiger Franzosen, in: Vossische Zeitung, 19.12.1914 (Nr. 645, Abendausgabe). 210 Anlage, Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) hier u. a. an d. Sächs. KM, 11.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 3 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 128. 211 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 767 (Preuß. KM, 3.2.1915, Bericht d. Referenten Major Belian an d. stv. Kriegsminister).
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Internieren und Freilassen
lagern unterzubringen sind«.212 Neben seiner Forderung nach Vergeltung zweifelte er an einer effektiven Überwachung der Arbeiter/innen auf den landwirtschaftlichen Gütern. »Dabei braucht nicht einmal bei diesen auf niedrigster Stufe der Bildung und Gesittung stehenden Leuten politische Feindschaft der treibende Beweggrund zu sein; wir können uns sehr wohl denken, daß auch bloße Differenzen mit dem Arbeitgeber diese Leute zu gemeingefährlichen Handlungen aus persönlicher Erbitterung heraus verleiten können.« Ebenso befürwortete die sächsische Kreishauptmannschaft Zwickau ihre Unterbringung in »Sammellagern«, um ihren Verbleib über die Wintermonate 1914/15 zu gewährleisten.213 Die »Fürsorge für die nächstjährige Ernte, das vielleicht wichtigste Problem des Tages« fordere dies »gebieterisch«. Eine »allgemeine Internierung« US-amerikanischer Staatsangehöriger war ebenso mit »Rücksicht auf die zahlreich in Amerika befindlichen Deutschen« nicht vorgesehen.214 Im Gegenteil sollten die Militärbehörden »eine nicht zu strenge Handhabung der angezogenen Bestimmungen« verfolgen und »in Einzelfällen einwandfreien und als deutschfreundlich bekannten Personen, von denen staatsfeindliche Handlungen nicht zu erwarten sind, Erleichterung in der Meldepflicht« gewähren. In weiteren Fällen der Gefangennahme ausländischer Wehrpflichtiger beschränkten die Militär- und Regierungsverantwortlichen den betroffenen Personenkreis. Als Reaktion auf die Internierung militärpflichtiger Angehöriger des Deutschen Reiches in Portugal im April 1916215 sollten lediglich diejenigen portugiesischen Wehrpflichtigen nach Holzminden überführt werden, »deren Maßregelung die Ausübung eines Druckes auf die portugiesische Regierung erwarten« ließe.216 Ausdrücklich ausgeschlossen waren davon jene, »deren Ausfall deutsche wirtschaftliche Interessen schädigen würde«. Im Falle Griechenlands verbrachten die dortigen Militärbehörden im März 1918 36 deutsche Staatsangehörige auf die Insel Skyros, woraufhin innerhalb des Deutschen Reiches nach der gleichen Anzahl griechi-
212 Stadtmagistrat Hof an d. Regierung von Oberfranken (KdI), 17.11.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112380. 213 Sächs. KrhM Zwickau an d. Sächs. MdI, 3.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3315, Bl. 137 f. 214 Preuß. KM, betr. Angehörige d. Vereinigten Staaten von Amerika, hier wtgl. an d. Sächs. KM, 18.4.1917, in: HStA Dresden, 10736/3367, Bl. 14; ähnlicher Wortlaut: Stv. Gkdo. XIV. AK an d. Bad. MdI, 26.4.1917, in: GLA Karlsruhe, 236/23193. Verhandlungen zum Umgang mit den US-amerikanischen Staatsangehörigen fanden am 12. April 1917 im Reichsamt des Innern statt: Ergebnisprotokoll d. Besprechung im RAdI, 12.4.1917, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4595, Bl. 17–21. 215 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Portugiesen, an d. Reichsmarineamt, 12.5.1916, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5384, Bl. 112 f. u. Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 29.5.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2836, Bl. 8. 216 Preuß. KM, betr. Portugiesen, hier wtgl. an d. Sächs. KM, 5.9.1916, in: HStA Dresden, 11348/2836, Bl. 43.
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
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scher Frauen und Männer gefahndet wurde, die im Lager Holzminden interniert werden sollten.217 Für die Nichtinternierten bestand gleichwohl fortwährend die Sorge, ob nicht eine spätere Festnahme erfolgen könnte.218 Für sie wirkten die Internierungslager somit als beständige Verunsicherung und Drohkulisse. Im Namen der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums in Frankfurt am Main befürchtete zum Beispiel Isaac Breuer (1883–1946), dass im Falle einer Ausdehnung der Internierung auf russländische Staatsbürger »dem russischen Staate in schärfster Opposition gegenüberstehende polnische Juden« von dieser betroffen seien.219 Ebenso reisten 1915, als Italien in den Krieg eintrat, mehrere italienische Familien aus Furcht vor einer Inhaftierung aus dem Großherzogtum Baden ab.220 Ihre Sorge war nicht unberechtigt gewesen. In Bayern hatte die Militärverwaltung unlängst Vorsorge getroffen, italienische Staatsbürger/innen im Falle einer Kriegserklärung Italiens zu internieren.221 Für die Zivil- wie Militärbeamten erweiterten sich demzufolge die Drohkulisse und die Handlungsmöglichkeiten. So wurden ausländische Studenten 1916 in Karlsruhe mit dem Verweis auf eine mögliche Internierung zur Annahme einer Arbeit gedrängt.222 Einen Verweigerer ließen die Beamten des Bezirksamtes nach Holzminden abschieben.
Umstrittene Vergeltungen und ihre Ziele Die Zivilgefangenen im Deutschen Reich mussten erfahren, dass ihre zwangsweise Überführung in die Lager nicht die letzte Vergeltungsmaßnahme sein musste. »Am 16. März 1916 verfügte das Kriegsministerium den Abtransport von 3000 französischen Gefangenen, darunter 250 Zivilgefangene aller Stände, nach Mitau und Kurland«, um dadurch die Lage der Kriegs- und Zivilgefangenen in Frankreich zu verbessern.223 Als die Heeresverwaltung drei Monate später den Berichten 217 Preuß. KM, betr. griechische Staatsangehörige, an d. Sächs. KM, 19.3.1918, in: HStA Dresden, 11348/2839, Bl. 84. Ihre Entlassung erfolgte mit Wirkung vom 16. Oktober 1918, siehe: Preuß. KM, betr. Entlassung griechischer Staatsangehöriger, an d. stv. Gkdo. X. AK, 16.10.1918, (Abs.) in: Ebd., Bl. 89. 218 Bad. BzA Baden an d. Bad. MdI, 13.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23209. 219 Reichskanzler (RAdI, gez. i. A. Lewald) an d. Chef d. stv. Generalstabes d. Armee, 16.11.1914, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622. 220 Bad. BzA Baden, betr. Behandlung d. Italiener, an d. Bad. MdI durch Vermittlung d. Landeskommissärs Karlsruhe, 14.6.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23199. 221 Felicita Ratti, Civili italiani a Traunstein. Immigrazione, integrazione, internamento, in: Andrea Scartabellati, Matteo Ermacora u. Felicita Ratti (Hg.), Esperienze di guerra lontano dalla guerra 1914–1918, Neapel 2014, S. 201–212, hier S. 205 f. 222 Bad. BzA Karlsruhe (gez. Otto Weitzel) an d. Bad. MdI, 24.2.1916, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 223 Die Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen. Amtlicher Bericht der Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland, Berlin 1920, Anlage 37, S. 102 f.
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schweizerischer Delegierter entnahm, »dass die Kolonialdeutschen in Medjouna (Marokko) ohne Rücksicht auf Vorbildung, soziale Stellung und Gesundheitszustand zu schweren körperlichen Arbeiten gezwungen wurden«, entschloss sie sich, »eine grössere Zahl zivilgefangener Franzosen« nach dem besetzten Russland abzuschieben und dort unter »Arbeitszwang« zu stellen.224 Einige der Betroffenen verblieben auch nach dem Einlenken der französischen Regierung in den dortigen Lagern. Eine Einmaligkeit dieser Maßnahme war nicht beabsichtigt. »Sollte die französische Regierung in Zukunft wieder zivilgefangene Deutsche zwangsweise mit körperlichen Arbeiten beschäftigen,« teilte das Preußische Kriegsministerium mit, »so würde die Heeresverwaltung selbstverständlich erneut entsprechende Massregeln ergreifen.«225 Der Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Johannes Kriege, rechtfertigte im Reichshaushaltsausschuss im März 1916 die Vergeltungspraxis. Sie sei im engen Zusammenhang mit Bemühungen zu sehen, die Lage deutscher Gefangener im Ausland zu verbessern. Neben der Aufklärung über die konkrete Situation vor Ort wurden materielle Hilfen organisiert, Verhandlungen angestrebt und erst »notfalls« Vergeltungsmaßnahmen angeordnet.226 Er insistierte darauf, dass diese »gewisse[n] Grundsätze[n], die sich im allgemeinen bewährt haben«, folgen. »Danach gehen wir nur in solchen Fällen vor, wo das Unrecht auf feindlicher Seite klar erwiesen ist, und wo dieses Unrecht nicht einer nachgeordneten Stelle, sondern der Regierung selbst, sei es im Tun oder Unterlassen, zur Last fällt.« Des Weiteren würde nur »Gleiches mit Gleichem« vergolten, ohne die »Barbareien unserer Gegner nachzuahmen«. »Innerhalb dieser gekennzeichneten Grenzen«, wollte Kriege anerkannt wissen, »haben wir das Mittel der Vergeltung wiederholt mit Erfolg zur Anwendung gebracht.«227 Johannes Kriege verschwieg in seinem Plädoyer allerdings, dass zwischen dem Preußischen Kriegsministerium und dem Auswärtigen Amt tiefe Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung der Vergeltungsmaßnahmen bestanden. Aus Sicht der Diplomaten handelte es sich bei diesen um ein politisches Instrument. Verkündet von den militärischen Verantwortlichen, beeinflussten die Vergeltungen zwischenstaatliche Verhandlungen ebenso wie das internationale Ansehen des Deutschen Reiches und nahmen Einfluss auf die Lage der im Ausland befindlichen 224 Preuß. KM an d. Zentralkomitee d. dt. Vereine vom Roten Kreuz, Abt. Gefangenenfürsorge, 7.6.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 215 u. in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 11. 225 Ebd. 226 Johannes Kriege, 54. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 31.3.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 427–437, hier bes. S. 428. 227 Aussage d. Ministerialdirektors Kriege im Reichshaushaltsausschuss, 31.3.1916, zit. nach: Die Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen. Amtlicher Bericht der Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland, Berlin 1920, S. 100 (Anlage 37).
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deutschen Staatsangehörigen. Die Offiziere der Heeresleitung wirkten insofern in ein genuines Politikfeld des Amtes hinein, ohne dass dessen Vertretern Einspruchsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Die internen Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten sagten allerdings noch nichts über die Haltung der Diplomaten zu den Vergeltungsmaßnahmen aus. So erklärte Reichskanzler Bethmann Hollweg, dass das »Auswärtige Amt […] keineswegs […] dem Gedanken der Vergeltung grundsätzlich abgeneigt [ist]«.228 Soweit es »notwendig und zweckmäßig« erscheine und nicht »Rache«, sondern »Schutz« das Handeln begründete, hätten dessen Mitarbeiter »bei der Durchführung solcher Maßnahmen bereitwilligst mitgewirkt«. Der politische Nutzen der Vergeltungsmaßnahmen stand dennoch in Frage, wie Bethmann Hollweg im Oktober 1916 resümierte. Diplomatische »Erfolge dürften […] vielfach nicht durch die Vergeltungsmaßnahmen, sondern trotz ihrer Anwendung erzielt worden sein«, erläuterte er dem preußischen Kriegsminister Hermann von Stein.229 Nachdem er mit dessen Vorgänger, Wild von Hohenborn, im Sommer 1916 überein gekommen war, dem Auswärtigen Amt vor der Anwendung von Vergeltungsmaßnahmen eine Stellungnahme zu ermöglichen und diese weiterhin anzukündigen, stellte von Stein die Vereinbarung nun in Frage.230 Er sei zu der »Überzeugung gelangt, daß auf dem gegenwärtigen Höhepunkt des Krieges, wo die Feinde ihre ganze Macht zur Vernichtung Deutschlands einsetzen, dieser Gesichtspunkt seine Bedeutung verloren hat«.231 Für von Stein und Bethmann Hollweg stellten die Vergeltungsmaßnahmen indes nur ein nachrangiges Konfliktfeld dar. Denn seit dem Antritt der Dritten Obersten Heeresleitung im August 1916 rangen die Heeresführung und die zivile Reichsleitung um die Entscheidung über einen uneingeschränkten U-Boot-Einsatz.232 Bei diesem würden sich außenpolitische und militärische Verantwortungsbereiche überschneiden, indem gegnerische und neutrale Handelsschiffe hiervon betroffen wären. Die militärische Elite konnte mit der Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges ab 1. Februar 1917 und schließlich mit dem erzwungenen Rücktritt Bethmann Hollwegs im Juli des Jahres den Konflikt für sich entscheiden. Das außenpolitische Handeln wurde in der Kriegsdiktatur unter Erich Ludendorff 228 Reichskanzler (gez. Bethmann Hollweg) an d. preuß. Kriegsminister, Hermann v. Stein, 31.10.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/82917 u. in: PA AA, R 22213 – Großes Hauptquartier, Kriegsgefangene. 229 Ebd. (Herv. im Org.). 230 Preuß. Kriegsminister (gez. v. Hohenborn) an d. Reichskanzler, 6.7.1916, u. Preuß. Kriegsminister (gez. v. Stein) an d. Reichskanzler, 27.1.1917, u. Reichskanzler (gez. Bethmann Hollweg) an d. preuß. Kriegsminister, 14.3.1917, (Abs.) in: PA AA, R 22213 – Großes Hauptquartier, Kriegsgefangene. 231 Preuß. Kriegsminister (gez. v. Stein) an d. Reichskanzler, 27.1.1917, (Abs.) in: Ebd. u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5390, Bl. 120. 232 Nebelin, Ludendorff, S. 287–304.
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dem »Endsieg« untergeordnet.233 Der Generalquartiermeister ordnete Anfang Januar 1918 ohne vorherige Bekanntgabe die Deportation 600 französischer Bürger nach einem kleinen Dorf in Litauen und 400 französischer Bürgerinnen nach Holzminden an.234 Die Vergeltungsmaßnahmen gehörten weiterhin zu einem Sanktionsinstrument, das die Lebensbedingungen feindlicher Ausländer/innen inner- und außerhalb der Lager erheblich beeinflusste und zu deren Rahmenbedingungen gehörte. Wie die Entscheidung Erich Ludendorffs zudem verdeutlicht, waren die Wehrpflichtigen, die sich zu Kriegsbeginn im Deutschen Reich aufhielten, nicht die einzigen Zivilisten, die in Gefangenenlagern untergebracht wurden.
Kontinuierliche Deportationen aus den Kriegsgebieten Die circa 2000 im Dezember 1914 festgenommenen französischen Staatsbürger, die im Lager Holzminden eintrafen,235 begegneten dort Zivilisten, die vor dem Krieg in Belgien und Nordfrankreich gelebt hatten. Die zwangsweise Deportation von Teilen der Zivilbevölkerung aus den östlichen und westlichen Operationsund Etappengebieten gehörte seit den ersten Kriegstagen zur Kriegspraxis. Die deutsche Heeresführung bezeichnete sie als »Schutzgefangene« oder »Evakuierte«. Die schweizerischen Regierungsvertreter sahen in ihnen Kriegsopfer, »die wegen Gefährdung in der Feuerzone, wegen Obdachlosigkeit in den durch den Krieg zerstörten Städten und Dörfern, wegen gänzlicher Mittellosigkeit und wegen der sich steigernden Schwierigkeit ihrer Verproviantierung aus ihrer Heimat weggeführt und in rückwärts gelegenen Konzentrationslagern angesammelt oder auch direkt abtransportiert wurden«.236 Entsprechend der Bestimmungen des Preußischen Kriegsministeriums erfolgte »ihre Unterbringung ohne jede Ausnahme – also auch die der nicht im wehrpflichtigen Alter stehenden Männer, sowie der Frauen und Kinder – zunächst in Sammellagern«.237 Laut Hugo von Freytag-Loringhoven (1855–1924), dem Generalquartiermeister West, war ihr dauerhafter Aufenthalt im Deutschen Reich nicht vorgesehen. Er hielt im Gegenteil das »Abschieben von Bewohnern der besetzten feindlichen
233 Ebd., S. 338 ff. 234 Verbalnote AA an d. Schweizerische Gesandtschaft in Berlin, 12.1.1918, (Abs.) in: PA AA, R 22214 – Großes Hauptquartier, Kriegsgefangene. 235 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 9.1.1915, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 26 f. 236 III. Bericht d. Bundesrates an d. Bundesversammlung über d. von ihm auf Grund d. Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 getroffenen Massnahmen, 15.5.1916, in: Schweizerisches Bundesblatt mit schweizerischer Gesetzsammlung, Jg. 68, Nr. 21 (24.5.1916), S. 533–635, hier S. 558. 237 Vorschrift für d. Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten (Neudruck), Herbst 1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1985.
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Gebiete über die Schweiz nach Südfrankreich« für »wünschenswert«.238 Dennoch mussten sie meist unangekündigt eine gewisse Zeit von den deutschen Zivilbehörden versorgt werden. Nach offiziellen Angaben verteilten sich am 28. Januar 1915 »30.000 von den Kriegsschauplätzen zurückgeführte Zivilpersonen« auf fast sämtliche bis dahin eingerichtete Gefangenenlager. Unter ihnen befanden sich 16.000 französische, 7500 belgische und 4000 russländische Staatsangehörige.239 Ihre Unterbringung und Ernährung war in den Wintermonaten 1914/15 durch vielerlei Improvisationen gekennzeichnet und hatte beispielsweise in Bayern »sehr viele Erkrankungen und eine hohe Sterblichkeit verursacht«.240 Die ersten Rückführungstransporte begannen im Frühjahr 1915. Bis zum Kriegsende sollten die schweizerischen Grenzbehörden circa 472.000 auf diesem Weg beförderte Menschen zählen.241 Die Deportierten stellten für die Heeresverwalter eine heterogene Personengruppe dar. Denn die Besatzungstruppen hatten Zivilisten keineswegs nur aus humanitären Motiven aus den Frontgebieten abgeschoben. Sie kennzeichneten diese unter anderem als »Geiseln, Wehrfähige, Bestrafte, Verdächtige oder im Vergeltungsverfahren Festgenommene«. Hinter dieser Einteilung stand die Absicht, die Abgeschobenen unterschiedlich zu behandeln und ihre Entlassungsbedingungen festzulegen. Unterdessen wurden die Abschiebungen oftmals »ohne vorherige Benachrichtigung und ohne nähere Erklärung vom Kriegsschauplatz« verfügt.242 Nicht selten fehlten selbst allgemein gefasste Angaben.243 »Nur in wenigen Fällen konnte übrigens der Grund der Festnahme mit voller Sicherheit festgestellt werden«, vermerkte der Traunsteiner Lagerkommandant Theodor von der Pford-
238 Generalquartiermeister West (Gr.H.Qu., gez. i. A. Zoellner) an d. Preuß. KM u. d. Große Hauptquartier, 28.12.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 29 u. in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 135. 239 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 767 (KM, 3.2.1915, Bericht d. Referenten Major Belian an d. stv. Kriegsminister). Der Leiter des Unterkunfts-Departements des Preußischen Kriegsministeriums sprach im März 1915 vor dem Reichshaushaltsausschuss ebenfalls von 30.000 Zivilgefangenen aus Belgien, Frankreich und Russland. Siehe: Emil Friedrich, 6. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 16.3.1915, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 1, S. 41–51, hier S. 47. 240 Bay. KM an d. Preuß. KM, 22.1.1915, in: HStA München, Abt IV., MKr 12790. 241 XI. Bericht d. Bundesrates an d. Bundesversammlung über d. von ihm auf Grund d. Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 getroffenen Massnahmen, 2.12.1918, in: Schweizerisches Bundesblatt mit schweizerischer Gesetzsammlung, Jg. 70, Nr. 50 (4.12.1918), S. 151–320, hier S. 159. 242 Stv. Gkdo. XIX. AK an d. Sächs. KrhM Zwickau, 13.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3315, Bl. 176. 243 Preuß. KM, betr. Einlieferung d. Zivilgefangenen, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., hier wtgl. an d. Sächs. KM, 6.5.1918, in: HStA Dresden, 10736/3371, Bl. 54.
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ten (1873–1923).244 »Schriftliche Unterlagen fehlten fast durchweg.« Aus diesem Grund sollten ab Sommer 1915 umfangreiche Nachprüfungen von den Militärbehörden vorgenommen werden, um »unbegründete Härten« zu beseitigen.245 Umstände und Gründe, Ort und Zeit der Gefangennahme sowie die Dienststelle, die die Maßnahme verfügt hatte, seien zu ermitteln. Bei Frauen und Kindern hatten die Lagerverwalter eine Einschätzung abzugeben, ob eine »dauernde Internierung nötig oder Abschiebung angezeigt ist«. Die Verantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium wollten an einer verschiedenartigen Behandlung der Abgeschobenen festhalten. Aber die initiierten Recherchen zeitigten nicht den erhofften Erfolg. »[D]ie Ermittlungen, die nachträglich angestellt wurden, verliefen meist ergebnislos«, erklärte von der Pfordten.246 Zugleich erwies sich das Kategoriensystem als unzuverlässig. Denn beispielsweise sollten »Verbrecher und Aufwiegler« als Zuschreibungen fortan vermieden werden, da sie zu »Mißdeutungen« Anlass gegeben hätten.247 Ob die Ausländer/innen selbst wussten, warum sie in ein Internierungslager überführt wurden, ist zumindest zweifelhaft. Die Fürsorgende Elisabeth Rotten beschwerte sich gegenüber der Holzmindener Kommandantur, dass »den Damen auf ihr Befragen […] gesagt [wurde], dass gegen die meisten dieser Frauen nichts vorliegt, dass es aber zur Zeit für sie besser ist, wenn sie interniert bleiben«.248 Im Kriegsgefangenenlager Ingolstadt befragte der Gerichtsoffizier die wehrunfähigen Internierten nach den Gründen für ihre Abschiebung aus den besetzten Gebieten. Der Lagerkommandant Gustav Freiherr von Schönhub (1855–1934) fasste die Aussagen folgendermaßen zusammen: »Als Grund der Verhaftung brachte Ingenieur [Henri] Dasnay vor, dass er […] als Ausländer verhaftet wurde, [Henri] Hommel u. [Victor] Nizon wollen nur zum Schutze abgeführt, dann aber nicht mehr entlassen worden sein. Die Geistlichen [Jules] Bodel, [Edmond] Chan[t]ton u. [Prosper] Vanat sowie der Uhrmacher Pastel erklärten, dass ihnen bei oder alsbald nach ihrer Festnahme mitgeteilt worden sei, dass sie als Geisel festgehalten würden. Einige der Vernommenen gaben lediglich ihrer Vermutung dahin Ausdruck, dass sie wohl als Geisel verhaftet worden seien. Alle übrigen erklärten, den Grund ihrer Fest244 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 245 Preuß. KM, betr. Zivilgefangene, 4.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 327 u. in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 56. 246 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 247 Preuß. KM, betr. Zivilgefangene, 4.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 327 u. in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 56. 248 AHS (gez. Rotten) an d. Kommandanten d. Gefangenenlagers Holzminden, 12.7.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2.
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nahme nicht angeben zu können. […] Auf Grund der vorliegenden Aussagen war auch eine Feststellung dahin nicht möglich, ob sich unter den Gefangenen solche befinden, die für die Beibringung von Kriegskontributionen haften sollten, oder sonst aus besonderen Gründen als Geiseln überwiesen wurden.«249 Zu den Wirrnissen der Zivilgefangennahme trat der Missstand, dass viele Deportierte für Monate in den Gefangenenlagern oder auf Arbeitskommandos ›verschwanden‹, weil sie dem Zentral-Nachweis-Bureau im Berliner Kriegsministerium nicht gemeldet worden waren.250 Die fehlenden Informationen und die ungenügende Personenerfassung offenbaren ein bruchstückhaftes Wissen der Lagerverantwortlichen über die Internierten. Die unbekannten Zivilgefangenen stellten kein beabsichtigtes Element des Internierungssystems dar. Aber ihre kriegsbezogene Geschichtslosigkeit prägte dieses in weiten Teilen mit und deutet einen stellenweise willkürlichen Umgang mit ihnen an. Die Dynamik der Ereignisse auf den Kriegsschauplätzen beeinflusste die Wahrnehmung inländischer Akteure maßgeblich und bestimmte das Leben der abgeschobenen Menschen. Zwei weitere Gruppen müssen von den aus Kriegsgebieten Abgeschobenen unterschieden werden. Die deutschen Besatzungstruppen in Belgien deportierten von Ende Oktober 1916 bis Anfang Februar 1917 circa 60.000 belgische Staatsbürger zwangsweise. Forciert von einer Interessenkoalition aus Oberster Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, Preußischem Kriegsministerium und Großindustriellen wie Carl Duisberg, Hugo Stinnes (1870–1924) und Walther Rathenau sollten sie dazu beitragen, den Arbeitskräftemangel im Deutschen Reich zu verringern. »Eigentliche Konzentrationslager für zwangsweise abgeführte belgische Arbeiter« waren von den zivilen und militärischen Verantwortlichen nicht vorgesehen. Sie legten besonders Wert darauf, den Ausdruck ›Lager‹ zu vermeiden. Stattdessen sollte von »Unterkunftsstätten für Industriearbeiter« gesprochen werden.251 Das Vorhaben scheiterte. Begleitet von willkürlichen Gefangennahmen und gewaltsamen Übergriffen, beschränkten sich die Deportationen nicht auf Arbeitslose. Vollbeschäftigte Arbeiter, Kranke, Jugendliche 249 Kommandantur d. Gefangenenlagers Ingolstadt (gez. v. Schönhub) an d. Festungskommandantur Ingolstadt, 6.5.1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2001. Die Genannten wurden im Mai 1915 in das Zivilinternierungslager nach Traunstein überführt. Siehe: Index Cards, in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 250 Preuß. KM, betr. Zivilgefangene, 4.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 327 u. in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 56 u. Reichsfinanzmin. (Reichszentralstelle für Kriegs- u. Zivilgefangene, gez. Bauer) an sämtl. Kriegsgefangenenstellen, 9.1.1922, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/108845, Bl. 219. 251 Ergebnisse d. Besprechung im RAdI, betr. Versorgung d. Kriegsindustrie mit Arbeitskräften, 17.10.1916, in: Urkunden der Obersten Heeresleitung, S. 127–131 (Kap. II, Abt. 23).
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und Alte trafen in den Sammelstellen, die Kriegsgefangenenlagern angegliedert waren, aufeinander. Dort eskalierte die humanitäre Situation im Winter 1917, weil die Lagerverantwortlichen innerhalb kürzester Zeit die mit Kleidung und Lebensmitteln Unterversorgten für längere Zeit aufnehmen mussten. Generalleutnant Viktor von Eichstedt, der Adjutant im Kriegsgefangenenlager Guben gewesen war, schilderte die Zustände nachträglich wie folgt: »Am 15.11.1916 wurden uns 12.000 belgische Abschüblinge telegraphisch gemeldet. […] Es kamen etwa 10.000 Belgier[.] […] Die Ernährungsverhältnisse lagen, wie bekannt, im Winter 1916/17 äußerst ungünstig. […] Wegen des strengen Frostes im damaligen Winter, der mit geringen Unterbrechungen bis Ende Februar währte […], war es nicht möglich, Kartoffeln heranzubringen, selbst wenn welche vorhanden gewesen wären. Die Kälte machte sich umso empfindlicher geltend, als die Baracken leicht gebaut waren[.] […] Alle die vorgeschilderten Umstände wirkten zusammen, um Seuchen unter den Abschüblingen zu erzeugen, denen auch eine ganze Reihe zum Opfer gefallen ist[.]«252 Ärzte attestierten 13.000 Deportierten, arbeitsunfähig zu sein. Etwa 1300 starben an den Folgen der chaotischen Deportations- und Ankunftsbedingungen. Bis Ende Januar 1917 hatte nur etwa ein Drittel der Zwangsabgeschobenen eine Arbeit »freiwillig« aufgenommen. Über 8000 fanden sich in militärischen Arbeitskommandos wieder, auf denen sie zur Arbeit gezwungen wurden. Angesichts dieser desolaten Bilanz verfügte die Oberste Heeresleitung Anfang Februar 1917 den Abbruch der Zwangsarbeitsdeportationen. Bis Sommer 1917 wurden die Belgier, die noch in den Lagern ausharrten, zurückgeführt.253 Jene, die noch einen Arbeitsvertrag zu erfüllen hatten, sollten »genau wie alle übrigen frei in Deutschland lebenden nicht militärischen Angehörigen feindlicher Staaten behandelt« werden. Insbesondere sei ihre Bewachung und kasernierte Unterbringung einzustellen, hieß es in der »Neuregelung der Behandlung belgischer Abschüblinge«.254 Von den Zwangsarbeitern ist eine weitere Gruppe Deportierter zu unterscheiden, die Geiseln.255 Mit ihrer Festnahme sollte im Sinne der Vergeltungsmaßnahmen eine bessere Behandlung deutscher Staatsangehöriger im Ausland erzwungen oder »die Sicherstellung des Wohlverhaltens der Bevölkerung oder gewisser ihr 252 Generalleutnant Viktor von Eichstedt, zit. nach: Hankel, Die Leipziger Prozesse, S. 387. 253 Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 140–162 u. Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 103–108. 254 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Neuregelung d. Behandlung belgischer Abschüblinge, hier an u. a. d. Sächs. KM, 5.6.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 296 ff. 255 Zur juristischen und militärischen Diskussion über Geiseln siehe: Andreas Toppe, Militär und Kriegsvölkerrecht. Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899– 1940, München 2008, S. 164–184.
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auferlegter Verbindlichkeiten« erwirkt werden.256 Aus diesem Grund war die Internierungszeit der Geiseln eine unbestimmte, während die Deportierten nur kurze Zeit in deutschem Gewahrsam verbringen sollten. »Die Eigenschaft als Geisel hört erst auf, wenn dienstlich mitgeteilt wird, daß der Grund, aus dem die Betreffenden als Geiseln festgenommen wurden, nicht weiter besteht«, informierte das Preußische Kriegsministerium die Militärbehörden.257 Nicht selten waren die Geiseln von Austauschvereinbarungen ausgeschlossen.258 Unter einer Vergeltungsprämisse wurden im Sommer 1918 beispielsweise 400 französische Staatsbürgerinnen »besseren Standes« nach dem Lager in Holzminden als Geiseln überführt, weil »deutsche Elsass-Lothringer« in Frankreich »widerrechtlich« zurückgehalten würden.259 Schließlich fanden sich mittellose und hilfsbedürftige russländisch-polnische Saisonarbeiter/innen in den Internierungslagern untergebracht. Sie waren aus den östlichen Provinzen Preußens und der Provinz Hannover ausgewiesen worden oder ihre Arbeitsverträge endeten in den beginnenden Wintermonaten 1914/15, während eine Rückkehr in ihre Heimatorte über die russisch-deutsche Grenze nicht möglich war. »Arbeitslos gewordene Russen […], sofern sie im wehrpflichtigen Alter stehen und völlig mittellos sind, [wären] u. U. auch mit Frau und Kind, in die Lager Havelberg oder Holzminden zu überführen«, entschied im Januar 1915 Franz von Wandel, der preußische stellvertretende Kriegsminister.260 Die übrigen Nicht-Militärpflichtigen, die einer Unterstützung bedurften, sollten dagegen keine Aufnahme in den Internierungslagern finden, sondern von den Zivilbehörden (»in Polizeigewahrsam«) versorgt werden. Gleichzeitig rechneten von Wandel und seine Mitarbeiter mit »aufsässigen ausländischen Arbeitern«, die ebenfalls 256 Generalquartiermeister an u. a. d. Armee-Oberkommandos, Gr.H.Qu., 21.9.1915, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 872, Bl. 28. 257 Preuß. KM, betr. Heranziehung von Zivilgefangenen zur Arbeit, hier an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 81. 258 Z. B.: Preuß. KM, betr. Rückkehr französischer Zivilgefangener, an u. a. sämtl. stv. Gkdos, 15.1.1916, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1024, Bl. 95 f. u. Bay. SMdI an d. Kgl. Regierungen, KdI, 7.2.1916, (Abd.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148. 259 Preuß. KM (gez. [Major Frhr. Curt] v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337; Die Behandlung der feindlichen Kriegsgefangenen. Amtlicher Bericht der Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland, Berlin 1920, Anlage 37 u. Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 677 (Anordnung d. Generalquartiermeisters v. 27.12.1917). 260 Preuß. KM (gez. v. Wandel), betr. russische Saisonarbeiter, an u. a. sämtl. Gkdos., 7.1.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 31 u. Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich) an d. preuß. Minister d. Innern, 14.1.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 74, Beih. 3, Bd. 2, Bl. 27. Für das Königreich Bayern: (Abd.) Bay. SMdI (gez. v. Soden) an d. Regierungen, KdI, u. Distriktsverwaltungsbehörden, 27.1.1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 155.
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in Gefangenenlager (zumeist Havelberg) zu überführen seien.261 »Wenngleich diese Leute formell zwar nicht zu den Kriegsgefangenen gerechnet werden können,« erläuterten sie, »so liegen, zumal wenn bei dem bestehenden Kriegszustand die persönliche Freiheit […] aufgehoben ist, keine Bedenken vor, sie den Kriegsgefangenen entsprechend zu behandeln.«262 »Die Einweisung ist von vornherein als eine vorübergehende Massnahme gedacht, die aufgehoben werden wird, sobald sich dieser Pole wieder an geordnete Arbeit in Freiheit gewöhnt haben wird«, erklärten württembergische Militärverantwortliche hierzu.263 Dass nicht nur den »[A]ufsässigen« eine Internierung drohte, verdeutlicht das Beispiel des Königreiches Bayern. Im Bereich des Münchner Generalkommandos sollten alle russländisch-polnischen Arbeiter/innen, »die bis 5. Februar 1916 keine [Arbeits-]Verträge abgeschlossen haben und sich weigern, unter angemessenen Bedingungen Verträge überhaupt abzuschließen«, in ein Gefangenenlager verbracht werden.264 Dort seien sie anschließend »zwangsweise zu Arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben zu verwenden«. Tabelle 12: Amtlich gemeldete internierte Zivilpersonen im Deutschen Reich, 1915–1918 Stichtag 1915
1916 1917
1918
Internierte
10.6.
48.513
10.8.
68.694
10.9.
73.934
10.10.
76.988
10.7.
84.457
10.10.
87.342
10.1.
90.323
10.4.
98.621
10.6.
98.866
10.5.
104.501
10.10.
111.879
Quelle: Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 28 f.
261 Sächs. KM an d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 17.1.1915, in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 35. 262 Preuß. KM (gez. v. Wandel) an d. stv. Gkdo. X. AK, 22.12.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2834, Bl. 37. 263 Tätigkeits- u. Erfahrungsbericht d. Ausländerabt. d. stv. Gkdos. XIII. AK (gez. Müller), 10.4.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 28, Bl. 16. 264 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 19.2.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.).
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
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Prekäre Kategorisierungen der Internierten Die verschiedenen Gruppen der Zivilgefangenen trafen in den Internierungslagern – in Ruhleben in eingeschränktem Maße – aufeinander. Der Stuttgarter stellvertretende Generalkommandeur ordnete sie vier Kategorien zu: erstens »Angehörige der feindlichen Staaten in wehrpflichtigem Alter«, zweitens »politische Verdächtige aus Elsaß-Lothringen«, drittens »Personen, die vom Feldheer aus dem besetzten feindlichen Gebiet, sei es wegen völkerrechtswidriger Handlungen gegen unsere Truppen, sei es zu ihrer eigenen Sicherheit bei Räumung von Ortschaften oder wegen Mittellosigkeit pp, nach Deutschland weggeführt worden sind«, und viertens »Personen, die aus allgemeinen polizeilichen Gründen und als gefährlich für die Interessen der Landesverteidigung in Vorbeugungshaft genommen werden mußten«.265 Ähnliche Angaben enthielten die Begleitpapiere der im sächsischen Zwickau eintreffenden Deportierten: »Wehrpflichtige Ausländer (Zivilpersonen) als Kriegsgefangene«, »Sicherheitsgefangene«, »Geiseln« und »Französische Dorfbewohner, die festgehalten werden sollen, bis die Entscheidung bei Verdun gefallen ist«.266 Die Reichsleitung setzte der militärischen Ordnung der Zivilgefangenen eine vielschichtige zivile entgegen. Diese unterschied stärker die Internierungsgründe und die betroffenen Personengruppen im Deutschen Reich. Ausgangspunkt der Überlegungen war im Sommer 1915 die Verteilung der finanziellen Ausgaben für zivilgefangene Ausländer/innen.267 Sie wurden unterteilt in: 1. »aus Anlaß des Krieges im Deutschen Reich zurückgehaltene wehrpflichtige bezw. wehrfähige Angehörige feindlicher Staaten« 2. »nicht wehrpflichtige und nicht wehrfähige Angehörige sowie Frauen und Kinder feindlicher Staaten, die sich bei Ausbruch des Krieges im Deutschen Reich aufhielten« 3. »russische Saisonarbeiter im wehrpflichtigen bezw. wehrfähigen Alter« 4. »sonstige russische Saisonarbeiter, Frauen und Kinder, insoweit sie nicht über eigene Mittel verfügen« 5. »spionageverdächtige Personen« und »in militärische Schutzhaft genommene Personen« 6. »ehemalige Offiziere der feindlichen Heere« 265 Bericht d. stv. kommand. Generals d. XIII. AK (gez. v. Marchtaler) an d. Württ. KM, 25.2.1915, in: HStA Stuttgart, M 1/4, Bü 1023, Bl. 205 ff. 266 Bericht d. stv. Infanterie-Brigade 89 über d. Gefangenen d. Gefangenenlagers Zwickau I an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 8.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3315, Bl. 174 f. Da eine Entscheidung vor Verdun noch Ende 1915 nicht herbeigeführt worden war, befanden sich viele von ihnen noch lange im Kriegsgefangenenlager Zittau-Gross-Poritsch. Siehe: Kommandantur d. Kriegsgefangenenlagers Gross-Poritsch an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager XII. u. XIX. AK, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 19. 267 Preuß. KM, betr. Verrechnung d. Kosten für festgenommene feindliche Ausländer, an u. a. sämtl. stv. Intendanturen, 9.8.1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148.
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Internieren und Freilassen
7. »Geiseln« 8. »aus militärischen Rücksichten vom ausländischen Kriegsschauplatz abgeschobene Personen« 9. »mittellose und obdachlose Familien aus besetzten ausländischen Gebieten« 10. »an Grenzstationen von den militärischen Befehlshabern angehaltenen und für kriegsgefangen erklärte Ausländer« 11. »im Vergeltungsweg« in Lagern internierte britische und französische Staatsangehörige 12. »in Bad Homburg v.d.H. Festgehaltene« 13. »zurückgehaltene belgische Schiffer« 14. »Italiener, die aus dem Gebiete westlich des Rheins […] abgeschoben worden sind«. Ausgehend von diesem Unterscheidungsgefüge verknüpften sich in den Lagern drei Signaturen der Zivilgefangenen. Sie waren erstens durch die Gründe gekennzeichnet, die zu ihrer Internierung führten. Zweitens zeichnete sie ihre soziale und regionale, generationelle und nationale Herkunft aus. Diese Umstände beschrieben drittens ihre Entlassungswege. Im Angesicht dieser Verschiedenartigkeit versuchten die Vertreter des Unterkunfts-Departements im Preußischen Kriegsministerium seit Januar 1915, die Internierten innerhalb des Lagersystems zu trennen. Ruhleben blieb bis auf wenige Ausnahmen268 britischen Staatsbürgern im Alter von 17 bis 55 Jahren vorbehalten, während französische und später italienische Militärpflichtige grundsätzlich in Holzminden Aufnahme finden sollten. Das Gefangenenlager in Rastatt im Großherzogtum Baden war daneben als Sammel- und Durchgangsstation vorgesehen für alle aus Nordfrankreich abgeschobenen »Frauen und Kinder«, »alle unverdächtigen, nicht im wehrpflichtigen Alter (von 17 bis 60 Jahren) stehenden, männlichen Personen« und für jene »im Alter von 45 bis 60 Jahren«, die »wegen schwerer körperlicher Gebrechen« keinen Waffendienst leisten konnten.269 Circa 200.000 von der Westfront Abgeschobene wurden bis Anfang März 1915 durch das Lager geschleust.270 Für jene von den östlichen Kriegsschauplätzen Stammen268 Der Bürgermeister von Spandau berichtete, dass in Ruhleben ebenfalls russländische Staatsangehörige interniert seien. Siehe: Oberbürgermeister Spandau an d. Reg.-Präs. zu Potsdam, 24.11.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835. Das Oberkommando in den Marken sah zudem noch Ende Dezember 1914 die Überweisung von Ausländern vor, bei denen sich dauernde »Widersetzlichkeiten« gezeigt hätten. Siehe: Okdo. in d. Marken (gez. v. Kessel) hier an d. Reg.-Präs. zu Potsdam, 20.12.1914, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2844. 269 Ausführungsbestimmungen d. Preuß. KM (gez. Wandel), 21.1.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 135 f. u. Befehl für d. Kriegsgefangenenlager Rastatt durch d. stv. Gkdo XIV. AK, 9.3.1915, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/194. 270 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster u. C. de Marval, S. 46.
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den errichteten die Militärbehörden ein Zivilgefangenenlager in der Gemeinde Havelberg. Es sollte darüber hinaus italienische Zivilgefangene aufnehmen, die als »Widersetzliche« galten oder »einer verschärften Bewachung bedürfen«.271 Zudem kamen viele Abgeschobene aus den baltischen Provinzen Russlands in ein Lager bei Lauban in Schlesien.272 Die Heeresverwalter hielten es im Laufe des Krieges für notwendig, weitere Unterscheidungen zwischen den Internierten zu treffen. Eine Trennung nach dem sozialen Status der Gefangenen fand zwischen Celle, Gütersloh und den übrigen Internierungsorten statt.273 Das Celler Schloss beherbergte »Zivilgefangene in gehobener Lebensstellung«,274 die »nach Stand oder Bildung den Offizieren gleich zu rechnen« seien.275 Sie genossen das Privileg, zu »keinerlei Arbeiten«, auch nicht im Internierungslager, herangezogen zu werden.276 Henri Pirenne (1862–1935), Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Gent, erlebte die Unterschiede zwischen den Lager am eigenen Leib.277 Im Mai 1916 wurde er aus dem Offiziersgefangenenlager Krefeld nach Holzminden verlegt. »[M]ein Aufenthalt in Crefeld hatte mich verwöhnt, und in den ersten Tagen versetzte mir der allzu abrupte Kontrast zwischen dem, was ich verließ, und dem, was ich vorfand, einen wie ich gestehen muss ziemlich harten Schock«, erinnerte er sich.278
271 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde) an u. a. preuß. stv. Gkdos., 13.1.1917, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5390, Bl. 64. 272 AHS an Eduard Fuchs in Zehlendorf, 12.1.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51 C/III g 3. 273 Preuß. KM an d. stv. Gkdo. III. AK, hier wtgl. durch d. Oberpräsidenten d. Provinz Brandenburg an u. a. d. Landräte, 12.6.1915, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2835. 274 Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich), betr. Heranziehung von Zivilgefangenen zur Arbeit, an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 81 u. in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 7. Natalie Orjewsky und Erik S. Henius, Vertreter der dänisch-russischen Kommission zum Besuch der Gefangenenlager, berichteten am 28. Oktober 1915 von 126 Internierten. Siehe: Berichte der dänisch-russischen Kommissionen zum Besuch der Gefangenenlager in Deutschland, o. O. 1915, S. 33. 275 Preuß. KM, betr. Brotsendungen für belgische u. französische Kriegsgefangene, an d. stv. Gkdos. u. d. Okdo. in d. Marken, hier an d. Sächs. KM, 30.8.1916, in: HStA Dresden, 11248/6971, Bl. 120; Preuß. KM, betr. Offizier-Gefangenenlager Gütersloh, an d. stv. Gkdo. VII. AK, 5.9.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 273. 276 Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich), betr. Heranziehung von Zivilgefangenen zur Arbeit, an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 81 u. in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 7. 277 Index card, Henri Pirenne (geb. 1862), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. Pirenne wurde im März 1916 aus Gent nach Deutschland überführt. Generalgouverneur Moritz von Bissing warf ihm vor, gegen die Besatzungsbehörden illegal agitiert zu haben. Seine Verhaftung sorgte ebenfalls in der deutschen Presse für Aufsehen. Siehe: Die belgischen Professoren, in: Frankfurter Zeitung 17.5.1916 (Nr. 136, Abendblatt). 278 Henri Pirenne, Souvenirs de Captivité en Allemagne (Mars 1916 – Novembre 1918), in: Revue des Deux Mondes, Tome 55 (1920), N° 3, S. 539–560 u. N° 4, S. 829–858, hier S. 551.
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Internieren und Freilassen
Eine Verknüpfung von Religion und politischen Zielen fand hingegen in den Gefangenenlagern in Zossen und Wünsdorf statt, in die »Zivilgefangene mohammedanischen Glaubens, sowie christliche Georgier« überführt wurden.279 Sie sollten dort nicht nur nach ihren religiösen Vorschriften leben können, sondern ebenfalls durch stetige Agitation sich den Mittelmächten anschließen.280 Politische Beeinflussung stand ebenfalls im Kriegsgefangenenlager Göttingen-Ebertal im Vordergrund, das Rainer Pöppinghege als »reichsweites Kommunikationszentrum des flämischen Nationalismus« bezeichnet. Unterstützt von den Göttinger Professoren Konrad Beyerle (1872–1933) und Carl Stange (1870–1959) bevorzugten die Lagerverwalter dort die ›flämischen‹ Kriegsgefangenen, richteten für sie eine Lagerbibliothek und -schule ein, gestatteten ihnen Zugang zur Universitätsbibliothek, veranstalteten landeskundliche Vorträge, verteilten flämische Zeitungen und ermöglichten die Veröffentlichung einer Lagerzeitung mit überregionaler Reichweite.281 Im Oktober 1918 befanden sich noch 25 Zivilpersonen im Göttinger Lager.282 Zurückhaltender und unentschiedener gestaltete sich die politische Unterrichtung russländischer Gefangener, die unter anderem in den Lagern in Rastatt, Salzwedel und Wetzlar für einen ukrainischen Nationalgedanken gewonnen werden sollten. Organisiert durch den in Österreich gegründeten »Bund zur Befreiung der Ukraine« nahmen die Gefangenen an Geschichts-, Sprach- und Handwerkskursen teil und erhielten Broschüren, die ihre ukrainische Identität hervorhoben. Schließlich kam eine kleine Gruppe von Freiwilligen auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz zum Einsatz. Sie agitierten einerseits unter gefangenen Soldaten, die anschließend über die Frontlinie zurück geschleust wurden, um ihre Kameraden zum Desertieren aufzurufen. Andererseits wirkten sie in den besetzten ukrainischen Gebieten für eine nationale Unabhängigkeit.283 Die Strafanstalt an der Fulda in Kassel sahen die Preußischen Militärverantwortlichen seit Herbst 1915 als Internierungslager für »feindländische ehemalige Zuchthäusler« vor, »für deren Festsetzung oder weitere Festhaltung militärische Rücksichten massgebend« seien oder von denen angenommen wurde, »dass sie in Anbetracht ihrer Vorstrafen die öffentliche Sicherheit des Staates gefährden könn279 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 767 (Bkm. d. Preuß. KM, 15.2.1915). 280 Grundsätzlich zur Besonderheit der beiden Lager siehe: Gerhard Höpp, Muslime in der Mark. Als Kriegsgefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen, 1914–1924, Berlin 1997, S. 35–68. 281 Rainer Pöppinghege, Das Kriegsgefangenenlager Ebertal als Zentrum flämischer Propaganda im Ersten Weltkrieg, in: Göttinger Jahrbuch, Bd. 51 (2003), S. 49–60, Zitat S. 52. 282 Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 15. 283 Frank Golczewski, Die deutsche »Gefangenenarbeit« mit Ukrainern im Ersten Weltkrieg, in: Rainer Hering u. Rainer Nicolaysen (Hg.), Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, Wiesbaden 2003, S. 551–572.
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
573
ten«. Für die Aufnahme von »Widersetzlichen« und Zivilgefangenen, »die einer verschärften Bewachung bedürfen« bestimmten sie das Lager Hassenberg bei Coburg.284 Die Elbinger Zeitung berichtete Anfang 1915 von mehr als »700 Mann Franktireurs« belgischer, französischer und russländischer Staatsangehörigkeit, die dort aufgenommen wurden und eine Armbinde mit der Aufschrift »Kriegsgefangener« tragen mussten.285 Gefangene, die eine solche Zuschreibung erhielten, sollten seit Sommer 1916 ebenfalls nach dem Internierungslager in Havelberg verbracht werden.286 Außerdem schlugen die Heeresverwalter den lokalen Militärbehörden vor, Internierte, »die einen schlechten Einfluß auf die übrigen Zivilgefangenen ausüben« und die nicht gesondert untergebracht werden könnten, nach Einverständnis der zivilen Aufsichtsbehörde in Zivilgefängnissen unterzubringen.287 Die skizzierten Unterscheidungen wurden innerhalb des Internierungssystems allerdings keineswegs konsequent umgesetzt. Das Lager in Ruhleben ausgenommen, fand nicht nur bezüglich der Staatsangehörigkeit eine uneinheitliche Verteilung der Zivilgefangenen statt. Russländische Bürger/innen aus den besetzten Gebieten Osteuropas befanden sich sowohl in den Zivilgefangenenlagern in Havelberg, Holzminden und Rastatt, als auch in Kriegsgefangenenlagern wie Bütow (poln. Bytów), Lauban (poln. Lubań) und Skalmierschütz (poln. Nowe Skalmierzyce).288 Belgische Zivilisten wurden ebenfalls nach Havelberg verbracht,289 französische internierten die Militärbehörden des Weiteren im Sennelager nördlich von Paderborn.290 Zivilpersonen aus Nordfrankreich waren noch längere Zeit in den sächsischen Gefangenenlagern Gross-Poritsch (poln. Porajów) nahe Zittau291 284 Preuß. KM (gez. i. A. Hoffmann), betr. Benutzung d. alten Strafanstalt an d. Fulda in Kassel, an d. stv. Gkdo. VIII. AK, 11.9.1915, (Abs.) in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 47. 285 Elbinger Zeitung, 7.2.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 6, Dok.-Nr. 365p, S. 256 f. 286 Preuß. KM, betr. Zivilgefangenenlager Hassenberg, an u. a. sämtl. stv. Gkdos, 13.6.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 178. 287 Preuß. KM, betr. Zivilgefangene, 4.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 327. 288 Preuß. KM (gez. Friedrich), betr. zurückzuführende Zivilgefangene, an d. Kaiserliche Gouvernement Warschau, hier abs. an sämtl. stv. Gkdos., 22.9.1916, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348. 289 Preuß. KM, betr. Offizier-Gefangenenlager Gütersloh, an d. stv. Gkdo. VII. AK, 5.9.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 237. 290 Sie gaben dort eine der wenigen Zivilinterniertenzeitungen außerhalb Ruhlebens heraus. Siehe: Stefan Wangart u. Richard Hellmann, Die Zeitung im deutschen Gefangenen- und Internierungslager. Eine Bibliographie, Baden 1920, S. 53 f. 291 Sächs. KM an d. Preuß. KM, o.D. (ursp. Telegramm vom 31.12.1915), (Antworttelegramm, Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 35 u. Kommandantur d. Kriegsgefangenenlagers Gross-Poritsch an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager XII. u. XIX. AK, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 19 u. Kommandantur d. Kriegsgefangenenlagers Gross-Poritsch an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager XII. u. XIX. AK, in: Ebd., Bl. 91 u. d. Akte: HStA Dresden, 11348/2825, Titel: Liste der Zivilgefangenen im Lager Großporitzsch (Mai 1916).
574
Internieren und Freilassen
und Bautzen interniert.292 Das Lager im südbayerischen Traunstein beherbergte den gesamten Krieg über Zivilgefangene unterschiedlichster Staatsangehörigkeit.293 Schließlich hatten die zuständigen Militärverantwortlichen »eine Anzahl Elsässerinnen deutscher Staatsangehörigkeit« nach Holzminden überführt, wie Delegierte des Schweizerischen Frauenkomitees für Gefangenenhilfe 1916 schilderten.294 Generalmajor von Schübe vom zuständigen stellvertretenden Generalkommando charakterisierte die entstandene Situation im Lager Havelberg im Sommer 1916 folgendermaßen: »Im Gefangenenlager Havelberg sind jetzt die verschiedenartigsten Elemente untergebracht, wie Verbrecher und Unbestrafte, Verdächtige und Harmlose, Gebildete und Ungebildete, Inländer und Ausländer der verschiedensten Nationalitäten. Die Kommandantur ist bemüht, diese nach Möglichkeit gesondert unterzubringen.«295 Die soziale und staatsbürgerliche Zusammensetzung sowie die Alters- und Geschlechterstruktur in den Zivilgefangenenlagern waren hierbei in hohem Maße veränderlich. Abschiebungen, Austauschaktionen, individuelle Entlassungen und den gesamten Krieg über andauernde weitere Deportationen führten zu teilweise beträchtlichen Ab- und Zugängen in den Barackenstädten.296
292 Kommandantur d. Kriegsgefangenenlagers Bautzen an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager, 3.5.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 219. 293 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 294 AHS an d. Kommandanten d. Gefangenenlagers Holzminden, 12.7.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 295 Stv. Gkdo. III. AK (gez. v. Schübe), betr. Lager Havelberg, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 22.7.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 208. 296 Vgl. Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669 u. Weber, Das Gefangenenlager Traunstein. Zur Gruppe der italienischen Zivilinternierten siehe insbesondere: Ratti, Civili italiani a Traunstein, S. 210 f.
575
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
Tabelle 13: Belegung der Zivilgefangenenlager, Dezember 1916, August 1917 und Oktober 1918 Gefangenenlager
1.12.1916
15.8.1917
10.10.1918
Holzminden
6.731
2.533
4.240
Havelberg
5.054
2.686
1.820
Rastatt
3.153
1.645
1.223
Ruhleben
3.627
3.220
2.318
Traunstein
623
Senne
2.462
Limburg an d. Lahn
1.174
Celle …
124 …
…
Deutsches Reich (inkl. Generalgouvernement Belgien)
… 20.936
Quelle: Bestandsnachweisung d. Zivilgefangenenlager, Preuß. KM (gez. i. A. Rohde) an d. Reichskanzler, RAdI, 6.9.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112370, Bl. 327 u. für Oktober 1918: Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 12–27.
Die überlieferten Statistiken zur Zivilinternierung bilden diese vielfältigen Verschiebungen innerhalb der Lager ab (Tab. 13). Darüber hinaus weisen sie auf unterschiedliche Erfassungen der Zivilgefangenen hin. So hielten sich laut des Statistischen Jahrbuches des Deutschen Reiches am 1. Dezember 1916 176.620 »kriegsgefangene Zivilpersonen« in Deutschland auf (Tab. 14).297 Eine Bestandserhebung der Zivilgefangenenlager des Berliner Kriegsministeriums gibt für ebendieses Datum in der Summe nur 18.565 Internierte an.298 Schließlich waren Wilhelm Doegen zufolge bis zum 10. Oktober 1918 insgesamt 111.879 Zivilpersonen im Deutschen Reich interniert gewesen.299 Solche großen Abweichungen resultierten aus unterschiedlich angelegten Nachweisen und Zählungen sowie ungleich verzeichneten Personengruppen. Die Mitarbeiter des Preußischen Kriegsministeriums griffen auf eigene Statistiken zurück. Die aus den besetzten Gebieten Deportierten zählten hierbei nicht zu den Zivilgefangenen. Doegen, der seine Erkenntnisse hauptsächlich aus dem Sächsischen Kriegsarchiv schöpfte, hat dieses Zahlenmaterial als Grundlage verwendet. Zudem ist es möglich, dass in offiziellen Militärstatistiken nur die wehrpflichtigen Internierten aufgenommen wurden. Die Herausgeber des Statistischen Jahrbuches zogen offenbar die Verzeichnisse des Zentral-Nachweis-Bureaus heran, dem zwar nicht alle Internierten gemeldet 297 Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches, Bd. 1919 (Jg. 40), S. 10 f. 298 Bestandsnachweisung d. Zivilgefangenenlager, Preuß. KM (gez. i. A. Rohde) an d. Reichskanzler, RAdI, 6.9.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112370, Bl. 327. 299 Doegen, Der Kriegsgefangenen Haltung und Schicksal, S. 28 f.
1.521.661
Baden
Hessen
62.272.185
…
1.486.899
59.646.516
…
1.431.008
924.750
437.216
576.933
1.204.799
1.996.752
2.331.512
4.249.668
6.421.266
37.132.975
Deutsche Reichs angehörige
646.001
…
19.988
9.850
4.940
21.314
5.303
13.573
11.023
65.467
42.061
426.873
männl.
618.460
…
18.148
10.398
5.622
19.381
5.726
14.148
10.675
89.873
57.527
360.501
weibl.
1.264.461
…
38.136
20.248
10.562
40.695
11.029
27.271
21.698
155.340
99.588
787.374
insg.
Reichsausländer ohne Kriegsgefangene
Quelle: Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches, Bd. 1919 (Jg. 40), S. 10 f.
Deutsches Reich
…
ElsaßLothringen
947.542
2.073.721
Württemberg
Hamburg
2.388.578
Sachsen
461.132
4.443.953
Bayern
Braunschweig
6.622.452
Preußen
647.738
38.912.337
Bundes staaten
MecklenburgSchwerin
Ortsanwesende Bevölkerung
Tabelle 14: Ortsanwesende Bevölkerung im Deutschen Reich, 1. Dezember 1916
161.246
…
44
124
8.089
351
319
2.537
53
776
2.690
144.179
männl.
15.374
…
5
19
931
83
8
46
—
46
1.912
11.563
weibl.
Kriegsgefangene Zivilpersonen
176.620
…
49
143
9.020
431
327
2.583
53
822
4.602
155.712
insg.
1.178.707
…
17.706
2.252
7.152
29.676
35.506
46.665
35.219
37.563
92.279
836.216
Kriegsgefangene Militär personen
5.881
…
—
149
182
—
—
—
96
560
4.717
—
Unbekannte Staatsangehörigkeit
576 Internieren und Freilassen
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
577
wurden, dessen Registratur gleichwohl umfangreicher ausgefallen sein dürfte. Davon ausgehend könnten sie zu den Abgeschobenen ebenso die zur Zwangsarbeit Deportierten hinzugezählt haben,300 deren Zahl am 20. Januar 1917 58.106 betrug.301
Internierungslager als verstetigte Provisorien Die eingerichteten Zivilgefangenenlager glichen in ihrem Aufbau und in ihrer Verwaltung jenen für Kriegsgefangene.302 Die von Uta Hinz in die Forschungsdiskussion eingebrachten Entwicklungstendenzen der Barackenlager können dementsprechend übertragen werden.303 Nachdem die Zahl der Gefangenen in den militärischen Planungen immens unterschätzt worden war, dauerte es bis zum Sommer 1915, bis eine Sicherung der Grundversorgung erreicht und eine funktionierende Infrastruktur inner- und außerhalb der Lager errichtet war. Dazu zählten neben dem Bau fester Unterkünfte die Installation von Sanitäranlagen und die Ausstattung von Krankenstationen, die Organisation der Verwaltung und die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung. »Aus Provisorien wurden in der Folge Kleinstädte«, resümiert die Historikerin und betont die damit einhergehende Ausdifferenzierung der Lagerinnenwelten im Jahre 1915.304 Wirtschaftsräume mit Kochstellen, Wäschereien, Desinfektionsbereichen wurden eingerichtet und Poststellen organisiert. Werkstätten entstanden neben Bibliotheken, Sakralräumen und kulturellen Einrichtungen. Die dezentrale Struktur der Militärverwaltung führte allerdings zeitgleich zu einer Verdichtung von Vorschriften und Sonderbestimmungen in den einzelnen Armeekorpsbezirken, die voneinander abweichende Lebensumstände der Gefangenen zur Folge hatten. Uneinheitlichkeit prägte fortan das Lagersystem, das zunehmend erweitert wurde um Arbeitskommandos und -lager, über die die Kriegsgefangenen freiwillig oder erzwungen in die deutsche Kriegswirtschaft vordrangen. Im Dezember 1916 arbeiteten 567.251 in der Landwirtschaft und 405.214 in industriellen Betrieben.305 Die Internierung britischer und französischer Wehrpflichtiger war wie die Deportation der Zivilisten aus den Front- und Etappengebieten in einer Phase des Lageraufbaus erfolgt. In Rastatt errichteten die Lagerverantwortlichen erst im 300 In die Zugangs- und Abgangslisten wurden die belgischen Zwangsdeportierten nicht aufgenommen. Siehe: Preuß. KM (Kriegsamt) an d. Sächs. KM, Anlage: Grundsätze zur Heranziehung arbeitsscheuer Belgier zu Arbeiten in Dtl., 15.11.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 294 ff. u. in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 1, Anlage 5, S. 242–246. 301 Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 151. 302 Eine Übersicht der verschiedenen Lagertypen und ihres Aufbaus und Betriebes unter hygienischen Gesichtspunkten bietet die Nachkriegsbetrachtung: August Gärtner, Einrichtung und Hygiene der Kriegsgefangenenlager, in: Wilhelm Hoffmann (Hg.), Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Bd. VII: Hygiene, Leipzig 1922, S. 162–265. 303 Im Folgenden nach Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 92–137. 304 Ebd., S. 106. 305 Ebd., S. 276.
578
Internieren und Freilassen
Laufe des Frühjahrs 1915 eine Badeanstalt, die den Gefangenen eine wöchentliche, angemessene Körperhygiene ermöglichte.306 In Holzminden war die funktionale Ausdifferenzierung der ursprünglich für Soldaten vorgesehenen Holzbarackenstadt noch im Gange. Kranke konnten beispielsweise in der Anfangszeit nicht von den übrigen Internierten isoliert werden,307 und die Eröffnung einer Schule und einer Bücherei, von Läden und ›Restaurants‹ stand in den Wintermonaten 1914/15 noch bevor.308 In Lauban wurde eine entsprechende Schule erst im Dezember 1915 eingerichtet.309 Etwa ein Jahr später folgte dort eine Nähstube, in der die Gefangenen dringend benötigte Kleidungsstücke selbst herstellen konnten.310 Hans Weber, der zum Stammpersonal des Lagers Traunstein gehörte, resümierte nach dem Kriege, dass »[d]as Bauen und Bessern […] überhaupt nicht ab[riß]. Stets ergaben sich naturgemäß neue kleinere und größere Bedürfnisse«.311 Neben den Initiativen der Lagerverantwortlichen vor Ort fand auf Reichsebene innerhalb des Preußischen Kriegsministeriums eine Kontrolle der Lager und die Festlegung von Mindeststandards statt. Die Lagerkommandanturen erhielten unter anderem im August 1915 den Auftrag, die sanitären und hygienischen Zustände zu verbessern. Vielfach sei die Anzahl der Waschbecken zu gering, weshalb die Internierten ihr Essgeschirr zum Waschen und Waschtröge gleichzeitig zur Körperpflege wie zur Kleiderwäsche benutzen mussten. Als zukünftige Orientierungsgröße galt, dass fünf Personen auf ein Waschbecken angewiesen sein sollten.312 Die historische wie zeitgenössische Diagnose einer Phase vielfältiger Improvisationen in den ersten Kriegsmonaten stellte in der Nachkriegszeit kein unproblematisches Unterfangen dar. Denn die Feststellungen über unfertige Bauten und Einrichtungen, unausgereifte Lagerordnungen und Umgangsformen konnten als Argumente herangezogen werden, um schlechte und unzuträgliche Lebensverhältnisse der Gefangenen zu rechtfertigen. »Man hatte in Deutschland auch nie mit der Möglichkeit, so große Mengen von Kriegsgefangenen zu machen, gerechnet«, erklärte in diesem Sinne der Sachverständige für den Untersuchungsausschuss über Verletzungen des Kriegsgefangenenrechtes. »Selbst die besten Vorbereitungen hätten daher nicht ausgereicht, die heranströmenden Massen von Kriegsgefangenen 306 Bericht d. Zivilgefangenenlagers Rastatt (gez. v. Bauern), betr. d. Verlausung d. Gefangenen, 2.4.1915, in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 307 Kommandantur d. Gefangenenlagers Holzminden (gez. v. Bitter) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 12.10.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 44 ff. u. Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 9.1.1915, in: Ebd., Bl. 26 f. 308 Berichte der dänisch-russischen Kommissionen zum Besuche der Gefangenenlager in Deutschland 1915, S. 36 (Lagerbesuch durch N. Orjewski u. E. Henius, 30.10.1915). 309 Eine Russenschule in Lauban, in: Berliner Tageblatt, 21.12.1915 (Nr. 650, Morgenausgabe). 310 Elisabeth Rotten an Reginald G. Foster, Rockefeller Kriegshilfskommission in Bern, 14.11.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 311 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 21. 312 Stv. Intendantur III. AK an d. Garnisonsverwaltungen, hier an d. städt. Garnisonsverwaltung Havelberg, 5.8.1915, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1340.
Gefangennahmen im Angesicht des Krieges
579
sogleich reibungslos unterzubringen und mit allem Nötigen zu versorgen.«313 In ihrer Minderheitsentschließung folgten auch die sozialdemokratischen Mitglieder des Ausschusses dieser Sichtweise. Sie urteilten: »Deutschland ist, wie die übrigen Völker, in den Krieg eingetreten, ohne genügende Vorbereitung für die Unterbringung der dann unerwarteten großen Zahl von Gefangenen, woraus sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Ländern für die Kriegsgefangenen zunächst schwere Unzuträglichkeiten ergaben, die nicht auf bösen Willen zurückzuführen sind.«314 Indes greift die Vorstellung einer kontinuierlich weiterentwickelten materiellen und organisatorischen Infrastruktur zu kurz. Zum einen konnten und sollten einhergehend mit dem Wechsel von Lagerkommandanten umfangreiche Reorganisationen initiiert werden.315 Zum anderen wurden durch die jahrelange Nutzung oder durch Beanstandungen neutraler Beobachter Sanierungen wie Aus- und Umbauarbeiten notwendig. Mit solchen sah sich beispielsweise Hans Blaurock (1857– 1936), der Kommandant des Lagers Havelberg, Ende September 1915 konfrontiert. »Durch Entlassung der Saisonarbeiter war eine Umquartierung notwendig, und ein Raum für die gebildeten Elemente der Frauen, welche analog den Männern bevorzugte Plätze haben sollten, war nicht vorhanden. Zudem mußte ein Platz für die höheren Orts anerkannte Unterrichtserteilung für 100 Kinder geschaffen werden. […] Ich musste umsomehr zu der sofortigen Einrichtung schreiten, als, wie bekannt, eine internationale Kommission zu erwarten ist[.]«316 Die Internierten klagten im darauffolgenden Jahr über den beginnenden Verschleiß der Baracken. Dächer und Fenster waren undicht geworden.317 Zeitgleich begann die Kommandantur aufgrund der sozialen Unterschiede der Zivilgefangenen mit dem Bau kleinerer Wohnungen für jene in einer gehobenen Lebensstellung,318 und 313 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 67. 314 Minderheitsentschließung d. Dritten Unterausschusses (14.11.1925), Antrag d. Abgeordneten Dr. Levi u. Genossen, in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 23–27, hier S. 24. 315 Report Celle (Schloss), Alonzo Englebert Taylor, 26.7.1916, in: United States National Archives Microfilm Publications (US-NA MP), Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 296, Doc.-No. 763.72114/1879 (National Archives Identifier: 27303967). Dem entgegengesetzt sollte die innere Organisation des Lagers Ruhleben bei einem Kommandantenwechsel 1916 beibehalten werden, siehe: Stibbe, British civilian internees, S. 62. 316 Kommandantur d. Gefangenenlagers Havelberg (gez. Blaurock) an d. städtische Garnisonsverwaltung Havelberg, 28.9.1915, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1348. 317 Kassen- (u. beschränkte Wirtschafts)prüfung, 14.–17.10.1916 d. Lagers Havelberg durch d. stv. Intendantur III. AK, 31.10.1916, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1345. 318 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. AA, 25.1.1917, in: BArch Berlin, R 901/84319.
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Internieren und Freilassen
eine Wäscherei wurde eingerichtet. Nach einer Phase des Aufbaus war das Havelberger Lager zu einem Ort der Ausbesserungen und Erweiterungen geworden.319 Wie in anderen Internierungslagern agierte der Lagerkommandant dabei unter dem Diktat ökonomischer Effizienz.320 Er durfte selbstständig nur über Ausgaben bis 500 Mark bestimmen, »wenn es sich in Einzelfällen um Beseitigung eines dringenden Notstandes« handelte und musste diese gegenüber der vorgesetzten Militärbehörde rechtfertigen.321 Die Ausstattung der Lager war zudem von dem Engagement der Internierten abhängig. So erwarben die finanzkräftigen Internierten in Holzminden, nach Angaben der Geisel Victor Carlier, nicht nur bessere Matratzen, sondern auch kleine Öfen.322
Vermessungen und Zugriffe »Zivilgefangene, im Kriege insbes. alle von kriegführenden Mächten gefangen gehaltenen (internierten), nicht dem Heer eingereihten Angehörigen feindl. Staaten.«323 Die Internierung feindlicher Ausländer/innen erfolgte im Deutschen Reich aus unterschiedlichen Motiven und umfasste verschiedenartige Personengruppen. Die federführenden Akteure der Gefangennahmen verwehrten diesen aber eine sprachliche und praktische Abgrenzung. Begriffe wie Zivilgefangene, bürgerliche Kriegsgefangene, Zivilinternierte, Zivil-Kriegsgefangene324 und Internierte wurden meist synonym verwendet, und lange Zeit war ihre Unterscheidung von den militärischen Kriegsgefangenen nicht festgelegt. Emil Friedrich, der Leiter des Unterkunfts-Departements, stellte erst im April 1916 zur »Behebung von Zweifeln« »praktisch«, nicht »grundsätzlich« klar, »inwieweit als Zivilpersonen festgenommene feindliche Ausländer als Kriegs- oder Zivilgefangene zu behandeln sind«.325 319 Verzeichnis d. Rechnungsbelege betr. Gefangenenlager I u. II Havelberg, Militär-Bauamt Spandau I, Spandau 29.1., 8.2., 9.2. u. 30.3.1916, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1345 u. Ebd., Nr. 1353 u. 1354. 320 Siehe auch: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 108 f. 321 Kommandantur d. Gefangenenlagers Havelberg (gez. Blaurock) an d. städtische Garnisonsverwaltung Havelberg, 28.9.1915, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1348. 322 Victor Carlier, Souvenirs d’un otage du nord, ediert in: Wallart Claudine, Déportation de prisonniers civils »au camp de concentration« d’Holzminden novembre 1916 – avril 1917, in: Revue du Nord, Tome 80 (1998), N° 325, S. 417–448 (421–444), hier S. 430 f. 323 Art. Zivilgefangene, in: Kriegstaschenbuch, S. 344. 324 Generalgouvernement Warschau (gez. v. Esch) an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager d. X. AK, 10.6.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 17. 325 Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich), betr. Kriegs- u. Zivilgefangene, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 17.4.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 158.
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Als Kriegsgefangener galt demnach, »[w]er am Kriege gegen Deutschland teilgenommen hat«. Dies betraf alle »Personen, die bei Kriegsausbruch oder während des Krieges einem feindlichen Heere angehört haben«, gleichviel ob sie aus diesem während des Krieges formell oder informell entlassen worden waren. Dagegen seien als »Zivilgefangene […] solche feindliche Ausländer anzusehen, die, ohne bei oder seit Kriegsausbruch einem feindlichen Heere angehört zu haben, in deutsche Gefangenenlager überführt wurden, – einerlei ob sie noch im wehrpflichtigen Alter stehen und ob sie dauernd für kriegsunbrauchbar befunden werden oder nicht«. Eine sprachliche Unterscheidung nach den Gründen der Gefangenschaft sah diese Begriffsbestimmung nicht vor. Alle internierten feindlichen Ausländer seien Zivilgefangene. Emil Friedrich stellte gleichwohl nicht die einzige Stimme innerhalb des Kriegsministeriums dar. Major Pabst von Ohain erläuterte drei Monate später einen davon abweichenden Standpunkt.326 Auf die Frage, »Wer ist ›Zivilgefangener‹?«, gab er zu Protokoll, dass es sich hierbei lediglich um Personen handele, »die als Wehrfähige oder aus politischen Gründen interniert seien«. Seine Definition schloss viele von den Kriegsschauplätzen deportierte Zivilisten aus, die zu dieser Zeit in den Internierungslagern untergebracht waren. Diese enge Begriffsrahmung variierte sodann der Geheime Oberjustizrat Eduard Tigges (1874–1945) als Vertreter des Reichsjustizamtes. Die Haager Landkriegsordnung paraphrasierend, welche die Bezeichnung »Zivilgefangene« oder »Internierte« nicht kannte, bemerkte er, dass »Zivilinternierter […] nur derjenige [sei], der von der Militärbehörde mit Rücksicht auf seine politische Gefährlichkeit oder als Wehrfähiger in militärische Sicherheitshaft genommen worden sei«. Während nach Pabst von Ohains Verständnis Zivilisten, die im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen interniert wurden, zu den Zivilgefangenen zählten, ließ Tigges skizzierte Definition dies nur noch schwer zu. Zugleich fanden auch bei ihm die Deportierten keine Beachtung und keinen Platz in der Vorstellung über die Zivilgefangenschaft. Die Mitarbeiter des Preußischen Kriegsministeriums entwickelten bezüglich der deportierten Zivilisten eine ganz eigene sprachliche Praxis. Sie bezeichneten diese nach Geschlecht und Alter als internierte oder zivilgefangene Frauen, Kinder und Greise. Den Redakteuren der evangelischen Zeitschrift Die Eiche erläuterten sie ihre Bezeichnungsweise. »Bemerkt wird noch, dass […] Frauen und Kinder allgemein nicht als ›Internierte‹ zu bezeichnen sind. Es befinden und befanden sich in Gefangenenlagern nur solche Frauen und Kinder, die – vom Kriegsschauplatz oder aus den besetzten feindlichen Gebieten zurückgeführt – kein anderes Unterkommen
326 Protokoll d. Besprechung im Preuß. KM, betr. Strafaussetzung, 31.7.1916, in: HStA München, Abt. IV, MKr 14155.
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hatten; es handelt sich bei ihnen nicht um Internierte, sondern um Schutzgefangene.«327 Im Frühjahr 1916, zur selben Zeit als die Redaktion der Eiche den Brief aus dem Kriegsministerium erhielt, justierten die Militärverantwortlichen ihre sprachliche Kennzeichnung der Deportierten. Sie bezeichneten diese bei Abschiebungen über die Schweiz fortan als »Evakuierte«.328 Die Begriffe »Schutzgefangene« und »Evakuierte« drangen jedoch nicht konsequent in die Kriegssprache der Militärund Zivilverwaltung ein, obwohl sie eine Unterscheidung zwischen Personen, die sich bei Kriegsbeginn im Deutschen Reich aufhielten und jenen, die erst im Zuge des Krieges sich dort aufhalten mussten, ermöglicht hätten. Die uneindeutige sprachliche Trennung zeigt sich nicht zuletzt im vorliegenden Quellenkorpus. Im interministeriellen Schriftverkehr wurden die Begriffe Zivilgefangenschaft und -internierung synonym verwendet. Eine Anordnung sei »irrtümlich auch auf etwa 100 franz. Zivilgefangene in Traunstein angewendet worden«, hieß es beispielsweise in einer Erläuterung des Preußischen Kriegsministeriums gegenüber dem Auswärtigen Amt.329 »Sobald die vorgesetzte Behörde von dem irrtümlich eingeführten Arbeitszwang gegen die 100 Zivilinternierten in Traunstein Kenntnis erhielt, wurde die Massnahme sofort aufgehoben.« In den Auseinandersetzungen um die Finanzierung der Internierung zeigte sich eine intensiv diskutierte Unterscheidung der einzelnen Gefangenengruppen nach dem militärischen und sozialen Status, dem Alter und dem Geschlecht.330 Allerdings führten die Verhandlungen zwischen Vertretern des Reiches und der Bundesstaaten nicht zu einer begrifflichen Präzisierung der Zivilgefangenschaft. Für Betrachter/innen der vielfältigen staatlichen Überlieferungen ergeben sich aus den skizzierten sprachlichen Unklarheiten nicht selten Unsicherheiten darüber, auf wen bestimmte Kennzeichnungen jeweils zutrafen. Die historischen Unbestimmtheiten sind charakteristisch für die Versuche, internierte Ausländer/innen in den Blick zu nehmen. Die unterschiedlichsten Überlieferungen stiften einen stetigen Zweifel, der den folgenden prekären Verstehens- und Erklärungsprozess begleitet und an Achim Landwehrs Postulat kritischer Geschichtsschreibung mahnt. Sie sei »mithin die Kunst, sich nicht allzu zu sicher zu sein«.331 Die Darstellung erzäh327 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Rohde) an d. Geschäftsstelle »Die Eiche« (Vierteljahrsschrift für Freundschaftsarbeit der Kirchen), 5.2.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. 328 III. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die von ihm auf Grund des Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 getroffenen Massnahmen, in: Schweizerisches Bundesblatt, Jg. 68, Nr. 21 (24.5.1916), S. 557. 329 Preuß. KM (gez. Bauer) an d. Reichskanzler (AA), 21.1.1917, in: BArch Berlin, R 901/84461 (Herv. R. M.). 330 Preuß. KM, betr. Übersicht über d. Kostenverteilung für festgenommene feindliche Ausländer, an sämtl. stv. Gkdos. 9.8.1915, in: HStA Dresden, 10736/3357, Bl. 89. 331 Landwehr, Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein, S. 14.
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lerischer und praktischer, übereinstimmender und sich widersprechender Vermessungen der Internierten soll in diesem Sinne als ein Unterfangen verstanden werden, das sich seiner Unsicherheiten und Grenzen bewusst ist.
Gebrochene fotografische Einblicke in ein Internierungslager Eine erste Annäherung an die internierten feindlichen Ausländer/innen offenbart die Ausgrenzung aus sozialen und kulturellen, politischen und ökonomischen Lebenswelten. Die Gefangenen wurden in karge Barackenstädte verbracht, in denen sie viele ihrer privaten Lebensgewohnheiten aufgeben mussten. Ihr persönliches Hab und Gut reduzierte sich auf wenige kleine Dinge. Schließlich hatten sie, begleitet von einem weitgehenden Kontrollverlust über das eigene Leben, sich in einer erzwungenen Gemeinschaft zurechtzufinden. Umfangreiche fotografische Sammlungen, die im Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und im Pariser Kunstmuseum Musée d’Orsay überliefert sind, präsentieren Momentaufnahmen aus der materiellen und sozialen Welt des Gefangenenlagers Holzminden.332 In den Jahren 1915 bis 1917, unter anderem von dem internierten Ingenieur André de Boudinhon (1877–1929),333 aufgenommen, führen sie gegenwärtige Betrachter/innen mit stolperndem Schritte hinter den Stacheldrahtzaun, vorbei an den Wachposten. Die Fotografien ziehen die suchenden Augen zwischen die endlos scheinenden Reihen der Holzbaracken, die sich meist nur durch große Nummern neben den Türen voneinander unterschieden.334 Der Blick gleitet noch über ein Schild mit der Aufschrift Russisches Hilfskomitee, das neben dem Eingang zu einer der Baracken hing, schon öffnet sich vor ihm die 332 ICRC Audiovisual Archives, Geneva, via URL: https://avarchives.icrc.org u. Musée d’Orsay, Paris, Collection: Boudinhon, André de, via URL: https://www.musee-orsay.fr. 333 Index card, André de Boudinhon (geb. 1877), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 334 Die nachstehenden Beschreibungen basieren auf den folgenden Fotografien: ICRC Audiovisual Archives, Reference-No.: V-P-HIST-00343-22, V-P-HIST-01682-34, V-PHIST-01682-35, V-P-HIST-01682-36, V-P-HIST-03085-04, V-P-HIST-03085-11, V-PHIST-03085-12, V-P-HIST-03085-31, V-P-HIST-03213-15A, V-P-HIST-03213-17A, V-PHIST-03213-18A, V-P-HIST-03535-02A, V-P-HIST-03535-03A, V-P-HIST-03535-05A, V-P-HIST-03535-06A, V-P-HIST-03535-07A, V-P-HIST-03535-08A, V-P-HIST-03535-09A, V-P-HIST-03535-24A, V-P-HIST-03535-28A, V-P-HIST-03535-30A, V-P-HIST-03535-34A, V-P-HIST-03535-35A, V-P-HIST-03535-36A, V-P-HIST-03539-03A, V-P-HIST-03539-02A, V-P-HIST-03539-10A, V-P-HIST-03539-17A, V-P-HIST-03539-19A, V-P-HIST-03539-22A, V-P-HIST-03539-24A, V-P-HIST-03540-07A, V-P-HIST-03540-04, V-P-HIST-03540-08A, V-P-HIST-03540-14, V-P-HIST-03540-15, V-P-HIST-03540-16, V-P-HIST-03540-18, VP-HIST-03540-22, V-P-HIST-03540-26, V-P-HIST-03540-36, V-P-HIST-03541-08, VP-HIST-03541-09, V-P-HIST-03541-10, V-P-HIST-03541-11, V-P-HIST-03541-15, V-P-HIST-03541-18, V-P-HIST-03541-20, V-P-HIST-03541-25, V-P-HIST-03541-21, VP-HIST-03541-22, V-P-HIST-03542-06, V-P-HIST-03542-07, V-P-HIST-03542-18, V-PHIST-03543-03, V-P-HIST-03543-06, V-P-HIST-03543-11, via URL: https://avarchives. icrc.org.
Quelle: War 1914–1918. Holzminden camp. The main Avenue. Every day life. o.D., ICRC Audiovisual Archives, Reference-No.: V-P-HIST-03541-08.
Abbildung 3: Hauptstraße des Internierungslagers Holzminden, ohne Datum
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Hauptstraße. Auf manchen Fotografien wurde sie als Avenue Joffe, auf anderen als Boulevard Joffe tituliert. Sie schlug eine breite Schneise zwischen die Unterkünfte, die zu der ihr zugewandten Seite mit langen Holzbänken versehen waren. In ihrer Mitte reihten sich zwischen Strommasten kleinere Buden und Hütten aneinander, von denen manche mit einer Außenjalousie Schatten spendeten. Schilder verwiesen auf ein Café, ein Restaurant oder auf Magasins Réunis. Hinter diesen kleinen Läden und Schänken entdecken die Betrachter/innen sodann Hydranten und lange Waschtische gesäumt von Eimern und Fässern. Am Ende der Straße flatterten weiße Laken und Hemden über Leinen im Wind. Hier in der Nähe mussten sich die ›Universität‹ und die Kapelle befunden haben. An der Theaterbaracke zogen mannshohe Plakate, die für ein Schauspiel und einen Boxkampf warben, die Aufmerksamkeit auf sich, bevor der Blick weiter schweift in die kleineren bergauf und bergab führenden Gassen. Weitere Tafeln kennzeichneten dort die hinter den monotonen Holzlatten verborgenen Räume: eine Schneiderwerkstatt, eine Schule, eine Kirche, eine Geldausgabe und ein Krankenrevier für Russen & Polen. Am Horizont, hinter dem meterhohen Stacheldrahtzaun und den Wachtürmen, jenseits der Felder und des entfernten Landschulheims, zeichneten sich kleine Hügel ab. Und immer schien in diesem aus Holz errichteten Ort die Sonne, auf die der dokumentarische Blick des Fotoapparates angewiesen war. Kleine Pfützen am Rande einer Baracke und Holzstege durch die Gassen deuten andere, verdreckte und mühselige Wirklichkeiten des Lagers an. Doch bevor die Betrachter/innen tiefer in die aufziehenden Wolken schauen, sollten sie sich nochmals den Fotografien zuwenden und auf die mit Leben erfüllten Wege zurückkehren. Viele Kinder, Frauen und Männer spazierten durch die künstliche Stadt, verweilten vor dem Châlet Alphonse XIII.335 an Gartentischen, tranken gemeinsam Kaffee oder Limonade und unterhielten sich. Sie saßen im Pavillon des Nations auf schmalen Holzbänken dicht beieinander, als der Fotograf den Auslöser betätigte und zwei Männer bei ihrer Zeitungslektüre unterbrach.336 Immerzu 335 König Alfons XIII. von Spanien (1886–1941) engagierte sich für Kriegsgefangene und Zivilinternierte in den kriegführenden Staaten. Er richtete ein Sekretariat ein, das nach Vermissten recherchierte, Briefe vermittelte und Hilfslieferungen arrangierte. Er setzte sich für die Rückführung von Gefangenen ein und missbilligte jegliche Vergeltungsmaßnahmen. Siehe: Charles Petrie, King Alfonso XIII and his age, London 1963, S. 125 ff. 336 Lagerzeitungen hatte es offenbar im Holzmindener Internierungslager nicht gegeben. Nur die englischsprachige The Occasional Review ist in einer Ausgabe im Jahre 1918 nachgewiesen, die im Offiziersgefangenenlager herausgegeben wurde. Dagegen existierten beispielsweise in Ruhleben mehrere selbstständige Lagerzeitungen: In Ruhleben Camp, Ruhleben Camp Magazine, Ruhleben Daily News, La Vie Française de Ruhleben, Messagero und L’Echo. Für Havelberg und Traunstein sind keine Zeitungen belegt. Eine erste Übersicht des Lagerzeitungswesens publizierten: Wangart u. Hellmann, Die Zeitung im deutschen Gefangenen- und Internierungslager. Zur sozialen Bedeutung und Kultur der Lagerzeitungen siehe: Rainer Pöppinghege, Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen 2006.
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standen kleine Gruppen zusammen. Viele von ihnen hatten sich versammelt, um einem Konzert im Freien zu lauschen. Auf dem Boulevard bildeten sie im Juli 1916 ein enges Spalier und beobachteten einen Marathonwettkampf. Hinter einer Baracke trugen Männer ein Boule-Spiel aus. Ein Clown machte bei anderer Gelegenheit seine Späße in einer Menschentraube. Spaß schienen die durch den Schnee den Hang hinab Rodelnden auch im Winter zu haben, und andächtig feierten sie das Weihnachtsfest. Auf einem anderen Foto erspähen die Betrachter/innen eine lange Menschenschlange, die vor der Geldausgabe stand, das nächste zeigt Männer mit Schüsseln in einer Reihe vor der Kantine. Dann richtete der Fotograf sein Objektiv auf Kinder, die wohl von ihrer Lehrerin zur Lagerschule geführt wurden. Ein anderer Alltag kehrt ein: Wäsche waschen, unter Bewachung die Lagerstraße ausbessern, Kartoffeln schälen, den Wagen mit den Postsendungen ins Lager ziehen. Die Fotografien präsentieren soziale Beziehungen, gemeinschaftliche Aktivitäten und alltägliche wie sich wiederholende Bezugspunkte, die Versuche eines Tradierens des gewohnten Lebens in einer radikal veränderten Umgebung darstellten und zu psychologischen Bewältigungsstrategien der Internierungserfahrung gehörten.337 Der Fotograf nahm mit seinem Apparat einen distanzierten Blick ein. Aber er wählte die Perspektive der Wachsoldaten und Offiziere. Ihre Gesten des Beherrschens und des Kontrollierens spiegeln sich in seinen Aufnahmen wider. Deshalb scheint es, als fände er keinen Zugang zu den Fotografierten. Wie fremd war er ihnen? Waren seine Aufnahmen womöglich dokumentarisch und verletzend zugleich, indem er auch in private Räume eindrang oder ein Begräbnis begleitete? Wählte der Fotograf nicht ebenso einen respektvollen, einen positiven Blick? Manch einer der Abgebildeten schaut grimmig, aber keine Traurigkeit ist in den Gesichtern zu erkennen, keine Geste lässt Leid erahnen. Die Aufnahmen präsentieren eine vorzeigbare Welt. Sie inszenieren die Internierung, wie sie gewünscht und vorgestellt wurde, wie sie gesehen und angenommen werden sollte. Vielleicht akzeptierten die Abgebildeten die Anwesenheit des Fotografen deshalb. Die Lagerkommandantur wird mit seinen fotografischen Szenen zufrieden gewesen sein. Womöglich warf die Vorzensur aller »Bilder aus dem Gebiet des Gefangenenwesens […] durch die Kriegsministerien« ihren Schatten auf die Fotografien.338 Die Militärverantwortlichen erkannten in ihnen ein wichtiges, kriegspolitisches Instrument. Sie wollten mit fotografischen Aufnahmen über die »tatsächlichen 337 Die folgenden Überlegungen und Ausführungen profitierten in großem Maße von: Harald Mytum, Materiality Matters: The Role of Things in Coping Strategies at Cunningham’s Camp, Douglas During World War I, in: Ders. u. Gilly Carr (Hg.), Prisoners of War, Archeology, Memory, and Heritage of 19th- and 20th-Century Mass Internment, New York 2013, S. 169–187 u. Ders, Deciphering Dynamic Networks from Static Images. First World War Photographs at Douglas Camp, in: Gilly Carr u. Ders. (Hg.), Cultural Heritage and Prisoners of War. Creativity Behind Barbed Wire, New York 2012, S. 133–151. 338 Zensurbuch für die deutsche Presse, S. 46.
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Verhältnisse in den Gefangenenlagern« aufklären. Zugleich versuchten sie, die Verbreitung zu reglementieren und die Perspektive des Fotografen zu kontrollieren.339 Deshalb war die »photographische Aufnahme oder das Zeichnen Kriegsgefangener innerhalb sowohl, wie auch überall außerhalb der Gefangenenlager« seit November 1914 ohne vorherige militärische Genehmigung unter anderem im Bereich des Münsteraner Armeekorps verboten.340 Die Grundsätze für Lagerbesichtigungen durch neutrale Gesandte konnten allerdings separate Bestimmungen enthalten. So waren die Delegierten des Dänischen Roten Kreuzes befugt, »photographische Apparate zur Aufnahme der Gefangenen und ihrer Unterkunftsplätze ein- und auszuführen, photographische Aufnahmen […] in Gegenwart einer Aufsichtsperson zu machen und die Aufnahmen […] bei der Rückreise mitzunehmen«.341 Die Fotografien stellten keinen kontextlosen Blick auf die Internierungslager dar. Für die einen bedeuteten sie Erinnerungen an die Zeit der Internierung, für andere dokumentierten sie den angemessenen Zustand der Unterbringung Evakuierter, wiederum andere betrachteten sie als ein Zeugnis der Barbarei und fortgesetzter Demütigungen unverschuldeter Opfer des Krieges. Diese Ansichten traten in Konkurrenz zueinander. Auf die Gefangennahme folgte der Kampf um die Deutungshoheit über die Motive und Ziele, die Normen und Praktiken, die ›Wirklichkeit‹ der Internierung. Gefangene und Heimgekehrte, (ausländische) Journalisten und Fotografen, neutrale Beobachter und Abgesandte, Lagerkommandanten und kriegführende Regierungen entwickelten über die Lagerwelten spezifische Narrative, die stets ihre Authentizität behaupteten und nicht selten andere Perspektiven diskreditierten.
Soziale und ökonomische Unterscheidungen der Internierten Beugen sich heutige Betrachter/innen ein zweites Mal über die Holzmindener Schwarzweißaufnahmen, werden sie womöglich feiner Unterschiede zwischen den abgebildeten Personen und den dargestellten Alltagsbegebenheiten gewahr. Grenzen und Gegensätze deuten sich an, die dem ersten beschreibenden Blick entgingen. An der Lagerhauptstraße befanden sich nebeneinander ein russisches und ein französisches Restaurant. Vor dem Châlet Alphonse XIII. saßen adrett gekleidete Damen und Herren. Vorbei spazierende Frauen trugen Sommerkleider mit pas339 Preuß. KM, betr. Herstellung photographischer Massenaufnahmen von Kriegsgefangenen, 17.11.1914, zit. nach: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 187. Im November waren seitens des Preußischen Kriegsministeriums nur der Verlag August Scherl in Berlin und die Verlagsbuchhandlung J. J. Weber in Leipzig als Fotografen zugelassen. 340 Bkm. d. stv. Gkdo VII. AK (Moritz v. Bissing), 27.11.1914 u. 20.1.1915, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Erste Ausgabe, S. 5 u. 10 (Satzstellung im Org.). 341 Grundsätze für d. Entsendung von Abordnungen durch d. Dänische Rote Kreuz zur Besichtigung d. Gefangenenplätze in Deutschland u. in Rußland, in: Berichte der dänischrussischen Kommissionen, S. 4 f.
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sendem Hut oder weißer Bluse, und Männer traten in polierten Schuhen, gut sitzendem Anzug und streng gebundener Krawatte vor den Fotoapparat. Währenddessen steckten andere Füße in einfachen Holzschuhen, bedeckten Militärhosen und zu lange Jacketts die Gefangenen, banden sich Frauen einfache Schürzen über ihre schlichten Hemden und Röcke. Letztere besuchten wohl selten das Etablissement, in dem nur gegen Lagergeld Kaffee oder Kakao ausgeschenkt wurde. Henri Pirenne erinnerte sich nach seiner Rückkehr nach Belgien an die Lagermagistrale: »Auf der zentralen Allee, der Avenue Joffre, wie die Gefangenen sie nannten, wimmelte es von morgens bis abends von einer bunten Menschenmenge, in der alle Nationalitäten und sozialen Klassen anzutreffen waren, und in der bis auf Englisch alle Sprachen gesprochen wurden[.]«342 Das Interieur des Lagers und seine soziale Welt waren durchzogen von Symbolen und Brüchen, die die Gefangenen aus der Gesellschaft jenseits des Stacheldrahtes mitgebracht hatten. Die sozialen und ökonomischen Grenzziehungen setzten sich in Holzminden ebenso wie in Havelberg und in Ruhleben in der Ausgestaltung der Baracken fort. Aufnahmen größerer Schlafsäle liegen neben solchen separierter kleiner Wohnbereiche. Denn ausdrücklich achteten die Lagerkommandanturen auf eine »standesgemäße« Unterbringung der Internierten.343 In Rastatt etablierten die Offiziere deshalb ein soziales Dreiklassensystem für die Unterkünfte.344 Klassengegensätze spiegelten sich darüber hinaus in der Praxis der Arbeitsverteilung wider. Auf einer Holzmindener Fotografie ziehen neun Männer eine große Planierwalze hinter sich her, auf einer anderen heben sie Gräben aus und verlegen Transportschienen. Den Kontrast dazu bildeten jene, die an einem technischen Kurs in der Lageruniversität teilnahmen. Die Verteilung der »Lagerarbeit« auf die Gefangenen erfolgte durch die Verantwortlichen »nach Möglichkeit« vor dem Hintergrund ihrer »bürgerlichen Stellung«.345 Die Gebildeten wurden auf »Geschäftszimmern mit schriftlichen Arbeiten, als Dolmetscher, bei der Lagerpost, als Aufsichtspersonal« eingesetzt.346 Die Holzmindener Offiziere hätten für »schwere Arbeiten« darauf geachtet, Gefangene heranzuziehen, »die an derartige Arbeiten gewöhnt sind«. Jene, »die im Privatleben mehr oder weniger körperliche Arbeiten nicht verrichtet haben«, seien »nur zu leichter Arbeit« herangezogen worden, führten Vertreter des Berliner 342 Pirenne, Souvenirs de Captivité en Allemagne, S. 551. Ähnlich berichtete Victor Carlier, eine französische Geisel, über seine Eindrücke aus dem Lager: Carlier, Souvenirs d’un otage du nord, S. 427 f. 343 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. AA, 17.10.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 344 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster u. C. de Marval, S. 46. 345 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 22.10.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 346 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 22.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337.
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Kriegsministeriums aus. Dieser Grundsatz stieß aber im Alltag an seine Grenzen. Denn aufgrund der »grossen Zahl der Gebildeten« sei es nach den Ministerialvertretern »nicht angängig, diese von den notwendigen Arbeiten ganz« auszuschließen.347 Zudem könne eine »Befreiung eines Teiles der Internierten von den Lagerarbeiten […] im Interesse geordneter Zustände und der Instandhaltung des Lagers nicht stattfinden«. Demzufolge wurden nur in Ausnahmefällen einzelne Internierte von der Arbeitszuteilung befreit. Eine ungleichmäßige Verteilung des Lagerdienstes würde schließlich »auch Unzufriedenheit bei den Angehörigen der anderen Gesellschaftsschichten« erregen. Ähnliche Abwägungen verfolgten Offiziere in Holzminden bei der Frage einer ausgeglichenen Arbeitszuweisung zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten der Internierten.348 Die soziale Unterscheidung der Gefangenen konnte zudem durch Vergeltungsmaßnahmen aufgehoben werden. »[B]ei der Heranziehung französischer Kriegsgefangener zur Arbeit« sollte beispielsweise Ende 1916 »keine Rücksicht mehr auf ihren früheren Beruf« genommen werden.349 Der soziale Status des Einzelnen garantierte keineswegs eine entsprechende Behandlung. Er ermöglichte lediglich prekäre Abgrenzungen, die jederzeit in Frage gestellt werden konnten. Die Internierungslager beseitigten aber mitnichten soziale und ökonomische sowie nationale Gegensätze zwischen den Internierten. Sie vertieften diese mitunter bereits im Zuge der Art und Weise der Gefangennahmen. Wehrfähige britische und französische Staatsangehörige konnten im November und Dezember 1914 »außer Gegenständen des persönlichen Bedarfs, wie insbesondere Kleidung, Wäsche, Waschgerät und dergleichen, […] ein Bettlaken, einen Kopfkissenbezug sowie zwei einfache Schlafdecken« in die Zivilgefangenenlager mitnehmen.350 Dagegen führten die aus den Front- und Etappengebieten Belgiens, Nordfrankreichs und osteuropäischer Kriegsschauplätze Deportierten oftmals nur das bei sich, was sie am eigenen Leib trugen.351 Der Havelberger Lagerkommandant bestätigte gegenüber der Auskunfts- und Hilfsstelle, dass »Linna Lankisch und Patronella Jockschuss […] außer den Sachen, die sie täglich tragen und die schon sehr abgenutzt sind, weiter keine Kleidungsstücke« besitzen. Ihre Schuhe seien ebenso »stark verbraucht« und könnten »aus den Kammerbeständen zur Zeit nicht ersetzt werden«.352 Er bezifferte 347 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. AA, 17.10.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 348 Preuß. KM (gez. v. Fransecky), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.11.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 349 Preuß. KM (gez. i. A. Bauer) an d. Reichskanzler (AA), 21.1.1917, in: BArch Berlin, R 901/84461. 350 Sächs. MdI an u. a. d. Sächs. KrhM, 6.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 19 u. für d. französischen Wehrpflichtigen: Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 1. 351 Für Lauban u. a.: AHS an d. Hilfsstelle für Kriegsgeiseln in Basel, z.H. von Fräulein Stückelberg, 21.11.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 3. 352 Kommandantur d. Gefangenenlagers Havelberg an d. Hilfe für kriegsgefangene Deutsche, 22.8.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2.
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Anfang 1917 die Zahl der Bedürftigen im Lager auf 50 Frauen und 34 Kinder. Sie benötigten vor allem Stiefel, Strümpfe, Kleidung und Säuglingswäsche.353 Diese Dinge gehörten zu den am meisten erbetenen bei der Fürsorgenden Elisabeth Rotten.354 Nicht zuletzt boten Bürger/innen den Lagerkommandanturen im ersten Kriegswinter offenbar eigenverantwortlich »Bekleidung und Verpflegung« für die Gefangenen an.355 Die sozialen Unterschiede gravierten sich tief in das Äußerliche der Internierten ein. »Schuhe, Kleider und Wäsche mussten von den Besitzenden bezahlt werden, andere Gefangene erhielten sie kostenlos«, fasste ein Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums euphemistisch die Situation im Krieg zusammen,356 wobei die Bekleidung der Zivilgefangenen aus Heeresbeständen ursprünglich nicht vorgesehen und sogar verboten gewesen war.357 Diese Vorgabe hätte sich laut dem Traunsteiner Lagerkommandanten, Theodor von der Pfordten, als »überaus unbequem ja geradezu als nicht ganz durchführbar erwies[en]«.358 Denn sie gefährde den Einsatz der Internierten »in der heimischen Wirtschaft«, erklärte er seinem Vorgesetzten. »Sie scheint auf die Verhältnisse von Lagern zugeschnitten zu sein, in denen sich vorwiegend wohlhabende Angehörige feindlicher Staaten befanden[.]« In Traunstein seien viele Mittellose interniert, die ihre Verdienste nicht für »teure Arbeitskleidung« aufbrauchen wollten. Darüber hinaus hätte das Lager im November 1917 beispielsweise italienische Zivilgefangene aufgenommen, die »nur Fetzen am Leibe« trugen und meist kein Geld und kein Gepäck mit sich führten. »Bei den hiesigen Witterungsverhältnissen hätten sie nach dem anstrengenden Bahntransport keine Woche mehr ohne ernste Lebensgefahr so bleiben dürfen, wie sie ankamen. Es blieb also nichts anders übrig, als sie aus Beständen der Heeresverwaltung auszustatten.« Für von der Pfordten zeigte dieser Fall, »dass das Verbot der Abgabe von Kleidungsstücken an Zivilgefangene praktisch undurchführbar« war. Seine Lagerkommandantur erkannte in dem 353 Kommandantur d. Gefangenenlagers Havelberg an d. Hilfe für kriegsgefangene Deutsche, 19.2.1917, in: EZA Berlin, 51/C III g 2,2. Die ungenügende Winterkleidung der Internierten wurde ferner vom US-amerikanischen Botschaftsmitarbeiter Ellis Loring Dresel kritisiert, siehe: Report of a visit of inspection, Ellis Loring Dresel, 17.9.1916, in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 347, Doc.-No. 763.72115/2409. 354 Unter vielen Bedürftigkeitsanfragen in der Akte EZA Berlin, 51/C III g 2: Elisabeth Rotten an d. Kommandanten d. Gefangenenlagers in Havelberg, 19.7. u. 31.8.1916. 355 Angebote für Gefangenenlager, in: Berliner Tageblatt, 31.1.1915 (Nr. 56, Morgenausgabe). 356 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: USNA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/4491. 357 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 12.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337 u. Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 766 (Bkm. d. Preuß. KM, 12.5.1917). 358 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Bekleidung, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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Mindestmaß an Kleiderausstattung eine anzunehmende Fürsorgepflicht und handelte eigenwillig wie eigennützig. Intakte und wetterfeste Kleidung stellte eine Mangelware dar. Sie gehörte ebenso im Lager Holzminden zu einem streng reglementierten Gut. Jeder Internierte bekam eine Kleiderkarte ausgehändigt, auf der die abgegebenen Wäschestücke vermerkt wurden, »weil die zur freien Arbeit entlassenen Gefangenen sonst Kleider aufkauften, um damit später zu handeln«. Außerdem sei Heeresbekleidung »oft aus Sabotagegründen« mutwillig »zerrissen« worden, berichtete eine kriegsministerielle Stellungnahme.359 Die von den Kommandanturen in Geltung gesetzten, wirkmächtigen sozialen Gegensätze zeitigten sich ebenso bei der Lebensmittelversorgung und der persönlichen Habe der Internierten.360 Arthur Eugster, der für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Kriegs- und Zivilgefangenenlager in Deutschland inspizierte, umschrieb diese Gegensätze im Frühjahr 1915 bei seinem Besuch des Lagers Rastatt. »In der Kantine werden Kaffee, Milch, Würste etc. verkauft, auch können diejenigen die Mittel besitzen, für 1 Mark ein gutes Mittagessen bekommen.«361 Die zusätzliche Verpflegungsmöglichkeit für die Bargeldbesitzenden glich unterdessen lediglich die ungenügenden täglichen Rationen aus. Eugster musste auch feststellen, dass der »Kaloriengehalt […] hier aber doch nach Gutachten zu niedrig« ist.362 Elisabeth Rotten verwies mit ihren Unterstützungsbemühungen besonders auf die hilfsbedürftige Situation kleiner Kinder und älterer Internierter.363 So versuchte sie, durch das Berner Hilfskomitee für bedürftige Kriegsgefangene kondensierte Milch in das Lager Lauban zu übersenden.364 Doch selbst bei rohen Esswaren aus den Hilfspaketen waren die Zubereitungsmöglichkeiten limitiert und abhängig von der finanziellen Situation der Internierten, da sie in den Lagerläden die Kohlen für die Barackenherde gesondert erwerben mussten.365 Der Militäradministration gelang es ab 1916 nicht mehr, eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen, wie Uta Hinz ausführt. Die Gefangenen waren zunehmend von privaten Zukäufen und Lebensmittelpaketen abhängig, 359 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 360 Für Ruhleben: Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 306 f. 361 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. E ugster u. C. de Marval, S. 47. 362 Ebd., S. 46. 363 Elisabeth Rotten an d. Berner Hilfskomitee für bedürftige Kriegsgefangene beim Schweizer Roten Kreuz, 27.1.1917, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 2,1. 364 Elisabeth Rotten an d. Berner Hilfskomitee für bedürftige Kriegsgefangene, z.H. von Frau Isoz, 15.6.1916, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 1. 365 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Bemerkung d. Vertreters d. Spanischen Botschaft über d. Besuch im Lager Holzminden am 24.8.1916, an d. AA, 6.2.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337.
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und unter ihnen begann sich eine nationale Hierarchie des Mangels zu etablieren. Während britische und französische Staatsangehörige durch Hilfsorganisationen in ihren Heimatländern in großem Maße versorgt wurden, erhielten russländische Staatsbürger/innen signifikant weniger Unterstützung.366 Die nationalen Ungleichheiten gründeten unter anderem auf einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Kriegs- und Zivilgefangenen in ihren Heimatländern. In Russland unterstellten ihnen Nationalisten und Militärverantwortliche einen mangelnden Kampfgeist, und die russische Heeresführung befürchtete, dass Unterstützungsaufrufe entmutigend auf die Frontsoldaten wirkten. Die russische Regierung verhinderte deshalb fortgesetzt Hilfs- und Spendenaktionen für gefangen Genommene.367 Zu den Dingen der Fürsorge, die in die Lager gesandt wurden, kamen zu Weihnachten und Ostern Spielsachen und Süßigkeiten wie Honigkuchen für die internierten Kinder hinzu.368 Diese Gaben waren allerdings in unterschiedlichem Maße erwünscht. Die Heeresverantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium wiesen im März 1916 die Auskunfts- und Hilfsstelle barsch darauf hin, »dass für in Deutschland internierte Frauen und Kinder durch staatliche Massnahmen in weitgehender Weise gesorgt wird und es sich daher erübrigt, den Betreffenden weiter Zuwendungen aus privaten Mitteln zugute kommen zu lassen«.369 Während der Holzmindener Kommandant gegenüber Elisabeth Rotten diese Haltung teilte und feststellte, dass die Kinder »reichlich« beschenkt seien und solche Sendungen nicht mehr erlaubt würden,370 waren sie hingegen in Lauban weiterhin äußerst willkommen.371 Die Kommandanturen entschieden, wer als bedürftig galt, und übten letztlich noch in der Knappheit der Dinge eine weitreichende Kontrolle über die Zivilgefangenen aus. So offen die Internierungslager hinsichtlich des Briefverkehrs für Fürsorgende scheinbar waren, so weitreichend gestalteten sich gleichzeitig die Interventionsmöglichkeiten der Lagerverantwortlichen. Die Grundhaltung der Heeresführung, weitergehende Hilfen für Kriegs- und Zivilgefangene auszuschließen, verurteilten 1925 die sozialdemokratischen Mitglieder des Dritten Unterausschusses über die Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts. Sie kamen mit Blick auf die Lebensmittelversorgung zu dem Schluss, dass »die Förderung einer reichlichen Liebesgabenzufuhr von neutraler und charitativer Seite« nicht ausreichend gewesen sei. Die Reichsleitung hätte vielmehr
366 Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 219–227 u. Gärtner, Einrichtung und Hygiene der Kriegsgefangenenlager, S. 221–225. 367 Dietrich Beyrau, Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen, Paderborn 2017, S. 82. 368 Elisabeth Rotten an d. Kommandanten d. Gefangenenlagers Holzminden, 14.4.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 369 Preuß. KM (gez. i. A. Hoffmann) an d. AHS, 16.3.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 3. 370 Kommandantur d. Gefangenenlagers Holzminden an d. AHS, 19.4.1916, in: EZA Berlin, 51/C III g 2. 371 Lagergeistlicher Lauban an d. AHS, 23.1.1917, in: EZA Berlin, 51/C III g 2,2.
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»bei den feindlichen Regierungen Schritte unternehmen sollen, um diese zu bewegen, Nahrungsmittel unter Aufsicht der Neutralen an die stark unterernährten Russen und Rumänen zu verteilen. Statt dessen hat sie gegenüber den Feindstaaten die Fiktion aufrecht erhalten, als ob die Kriegsgefangenen in Deutschland auch ohne Liebesgaben die zur Erhaltung von Leben und Gesundheit notwendige Nahrungsmittelmenge erhielten.«372
Private Grenzziehungen und öffentliche Abgrenzungen Die Internierten versuchten in den Lagerwelten des Mangels, unter den Augen der Kommandanturen private Lebensbereiche abzugrenzen und zu verteidigen. Die Fotografien aus dem Gefangenenlager Holzminden gestatten flüchtige Einblicke in persönlich hergerichtete Schlafstätten und sie zeigen das Bemühen Einzelner, Signaturen der Individualität zu bewahren. Die Wand einer Männerbaracke zierte eine weibliche Silhouette. Hinter einer Frau mit ihren drei Kindern ist eine Uhr zu erkennen. Private Fotografien, Postkarten, Zeitungsseiten und eine französische Nationalflagge schmückten eine weitere Barackenwand. Ein Stiftbecher stand auf einer anderen Aufnahme im Regal. Eine mit Kordeln versehene weiße Tagesdecke spannte sich glatt über ein Bett. Ein Abreißkalender hing an einem weiteren Schlafplatz und über dem Tisch baumelte eine Lampe, um die ein aus Servietten gebastelter Schirm hing. Eine kleine Zimmerpflanze stand auf einem Tisch am Fenster. Eine Frau hielt eine mit Ornamenten verzierte Kaffeetasse in der Hand. Eine andere Internierte ließ sich mit einem aufgeschlagenen Buch fotografieren. Oben auf einem Regal lag eine Keksdose. Gestapelte Kisten und Koffer deuten weitere persönliche Dinge an. Ein Hut hing an einem Haken über einem Bett. Kinder saßen auf Holzpferden und ein Mädchen hatte ein kleines Holzboot vor sich stehen. Daneben werden die Dinge sichtbar, die die Menschen bei sich trugen: eine Taschenuhr, eine Perlenkette, ein Schmuckanhänger, ein Armreif und ein Ring. Es waren solche kleinen Gegenstände, die den Einzelnen von den Anderen unterscheiden konnten, die Identität repräsentierten und einen privaten Raum stifteten. Die intime Welt der Alltagsgegenstände war unsicher und flüchtig. Sie stellte keine Selbstverständlichkeit dar. Persönliche Wertsachen und angeeignete Dinge waren jederzeit dem Zugriff der Lagerverantwortlichen preisgegeben. In Havelberg beanstandeten die militärischen Wirtschaftsprüfer die Zweckentfremdung ausgegebener Decken. Diese seien in mehreren Baracken »vielfach als Fenster- Bettusw. Vorhänge benutzt, was nach bestehenden Bestimmungen verboten ist«. Sie forderten die Havelberger Garnisonsverwaltung auf, die Behebung der Mängel durch
372 Minderheitsentschließung d. Dritten Unterausschusses (14.11.1925), Antrag d. Abgeordneten Dr. Levi u. Genossen, in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 23–27, hier S. 25.
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die Kommandantur zu überprüfen und anschließend Bericht zu erstatten.373 Das Einreißen privater Räume lediglich als Maßnahme ökonomischer Optimierungsversuche und technischer Überlegungen zu sehen, greift im Falle Holzmindens zu kurz. Im Zuge von Strafmaßnahmen im dortigen Lager, wie sie beispielsweise gegenüber belgischen Staatsbürgerinnen angeordnet wurden, die zugeteilte Arbeiten verweigert hatten, konnten den Internierten »einige Bequemlichkeiten in der Ausstattung ihrer Baracke« entzogen werden.374 Fortwährend fanden darüber hinaus »Appelle und Durchsuchungen« statt. »Diese Bestrafungen waren alltäglich«, beklagte Henri Pirenne.375 Die Kommandantur führte sie durch, »um Kleidung und Geräte in Ordnung zu halten« und »Fluchtmittel einzuziehen«.376 Die Lagersoldaten achteten hierbei besonders auf gesammelte Dinge wie persönliche Briefe. »Unwichtige Briefe mussten […] nach 8 Tagen vernichtet werden, damit die Gefangenen nicht zu viel unnütze Sachen bei sich aufbewahrten«, notierten die verantwortlichen Offiziere des Berliner Kriegsministeriums. »Geschäfts- und sonstige wichtige Familienbriefe konnten die Gefangenen aber solange aufbewahren wie sie wollten. Bestraft wurde im Uebertretungsfalle noch niemand.« Vor den Durchsuchungsaktionen agierten Brief- und Paketüberwacher in den Lagern an einer Schnittstelle von materiellen und immateriellen Persönlichkeitsgütern. Die Briefkontakte der Internierten mit Menschen außerhalb des Lagers entbehrten jeder Vertraulichkeit. Sie sollten im Sinne der preußischen Militärverantwortlichen einen überwiegend funktionalen Charakter besitzen. Die Korrespondenzen mit deutschen Zivilpersonen und »auf freiem Fuße befindlichen Ausländern« waren maßgeblich unter der Prämisse gestattet, deutsche Geschäftsleute, »bei welchen die Kriegsgefangenen ihre Waren bestellen«, nicht zu schädigen. »Ein persönlicher Verkehr ist nach Möglichkeit auszuschließen«, hieß es in den entsprechenden Richtlinien.377 Die Postzensur prüfte die Schreiben demnach sowohl auf Spionagehinweise als auch auf unerwünschte Kontakte. Einige Internierte wollten sich dieser sozialen Kontrolle entziehen. So stellten Bahnüberwachungsreisende in einem D-Zug von Herbesthal nach Laon bei zwei entlassenen und nun nach ihrer Heimat zurückkehrenden Internierten »eine größere Anzahl Briefe und Postkarten« sicher, die an Einwohner in den besetzten Gebieten adressiert waren.378 373 Kassen- (u. beschränkte Wirtschafts)prüfung, 14.–17.10.1916 d. Lagers Havelberg durch d. stv. Intendantur III. AK, 31.10.1916, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1345. 374 Preuß. KM (gez. v. Reid) an d. AA, 11.3.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 375 Pirenne, Souvenirs de Captivité en Allemagne, S. 553. 376 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491 (National Archives Identifier: 27319800). 377 Preuß. KM, betr. Briefverkehr d. Kriegs- u. Zivilgefangenen, hier an d. Sächs. KM, 1.8.1917, in: HStA Dresden, 11348/2817, Bl. 39. 378 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Untersuchung zurückkehrender Zivilgefangener auf Mitnahme unerlaubter Schriftstücke, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 31.5.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2005.
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In gleichem Maße kontrollierte die Prüfstelle des Lagers Holzminden Paketsendungen und überwachte akribisch den Eingang von persönlichen Dingen und Versorgungsgütern. »Sie [die Pakete] müssen in allen Teilen genau untersucht werden, da wiederholt in ihnen Gegenstände vorgefunden sind, die zur Begünstigung von Fluchtversuchen sowie zur Ausübung von Sabotage bestimmt waren. Der eine oder andere Gegenstand des Inhalt[s] der Pakete wird dabei mehr oder weniger unansehnlich, zerbrochen oder zerkleinert. Ein Unbrauchbarmachen des einwandfreien Inhalts erfolgt in keinem Falle.«379 Die Paketkontrolleure hielten zwischenzeitlich sogar »Früchte wie Feigen, Nüsse, Kartoffeln usw., Medikamente jeder Art« für geeignete Fluchtwerkzeuge und entnahmen sie den Paketen.380 Die individuelle Erfahrung privater und materieller Unsicherheit war dementsprechend maßgeblich von den Internierungsumständen, der sozialen Stellung und den Verwaltungs- und Sanktionspraktiken der Lagerkommandanturen abhängig. Gleichzeitig trennte die in Holzminden im Châlet Alphonse sich unterhaltenden Männer und Frauen und die an der Seite im Schatten der Baracken Sitzenden oftmals mehr als eine breite Lagerstraße. Denn dieses Bild zusammensitzender Familien und kleiner Gemeinschaften wird bei näherer Betrachtung porös, und weitere Grenzziehungen dringen an die Oberfläche. Der Eindruck eines Zusammenlebens von Frauen und Männern täuscht. Ein Stacheldrahtzaun teilte das Lager und entzweite die im Sonnenschein flanierenden Familien und Paare. Ihr Zusammenkommen war auf wenige Stunden täglich begrenzt. Viele Fotografien zeichnen somit ein Bild abseits des Lageralltags. Neben die Geschlechtergrenzen traten sodann die des Alters. Jugendliche und Kinder stehen auf den Fotografien in Kontrast zu den älteren Internierten. Ein Entlassener berichtete der Londoner Times von seinen Erfahrungen. »Speaking generally,« erklärte die Zeitung ihren Leser/innen, »the conditions are not intolerable for the young and vigerous. There are, however, many invalids in the camp, and for these the life is excessively trying.«381 Des Weiteren verweisen Ansichten des Lazarettes auf die getrennten Welten zwischen Erkrankten und Gesunden. Die TimesHerausgeber griffen diesen Aspekt in einem späteren Bericht aufgrund weiterer Zuschriften erneut auf. »The hardest lot of all falls upon the infirm and elderly. There are many sick; there are some helpless cripples; there are many diabetics snat379 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 9.8.1917 in: BArch Berlin, R 901/84337. 380 Preuß. KM (gez. v. Fransecky), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 22.11.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 381 Life at Ruhleben. Conditions in the Prison Camp, in: The Times (London, England), 16.1.1915 (Nr. 40.753).
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ched away from cures they were underdoing[.]«382 Gleichzeitig veränderte sich mit der gesundheitlichen Verfassung die Aussicht auf eine Entlassung aus den Lagern. Mehrere Holzmindener Aufnahmen thematisieren die unterschiedlichen Wege aus der Internierung. Die Kamera hielt ein Begräbnis fest. Der Fotograf dokumentierte die Reparatur eines Zaunes nach einer Flucht. Auf einer anderen Aufnahme zeigte er Zurückbleibende, die nach der Schweiz Abreisenden hinterher blickten. Während Frauen und Kinder, Ältere und Kranke meist auf eine Abschiebung hoffen konnten, war den wehrpflichtigen Männern dieser Weg aus der Gefangenschaft im Allgemeinen versperrt. Einigen Internierten eröffnete sich aufgrund ihrer nationalen Gesinnung oder ihrer kulturellen Integration trotzdem die Möglichkeit, die Lagergemeinschaft zu verlassen. Dieser Umstand ließ weitere Brüche zwischen den Internierten keimen. Denn keineswegs selten forderte die Internierung die Betroffen zu einem nationalen Bekenntnis heraus. Israel Cohen, der in Ruhleben interniert gewesen war, erinnerte an die »hybrid Englishmen«, »Deutschgesinnte« oder »Deutschfreundliche« in seinen Aufzeichnungen. »One of the most singular features of the community at Ruhleben consisted of the large number of prisoners who openly professed their sympathy for the German cause. […] For the most part, they were men who had been born and bred in Germany, who had acquired naturalisation after the minimum period of residence in England or one of her colonies, and who had then returned to the Fatherland.«383 Der Kaufmann Johannes Vieweg (1885–?) berichtete seiner Bekannten Annie Dröege aus der Perspektive eines Betroffenen,384 dass er im Lager vor allem sein Englisch verbessern konnte. »He tells me that they have classes amongst themselves and go to school just like boys. He has studied English and reads and writes it very well.«385 Andere Internierte hatten sich in Deutschland eine wirtschaftliche Existenz aufgebaut, beherrschten die deutsche Sprache akzentfrei, lehrten an den Universitäten und Fachhochschulen, arbeiteten in gehobenen Positionen in Unternehmen, hatten ortsansässige Frauen geheiratet und erzogen ihre Kinder im deutschnationalen Geiste. Zunächst, so Israel Cohen, wurden diese »German-speaking Englishmen« als Kuriosität aufgefasst. Aber schnell prallten ihre politischen Auffassungen auf jene der übrigen Gefangenen. »[W]hen, in the course of inevitable discussion upon 382 Interned Civilians at Ruhleben. Restricted Food and Overcrowing, in: The Times (London, England), 13.3.1915 (Nr. 40.801). 383 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 102. 384 Index card, Johannes Vieweg (geb. 1885), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 385 Dröege, Diary of Annie’s War, S. 183 (7.3.1916).
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the causes of the war and its prospects, they unblushingly espoused the side of our captors they aroused our reproach and our resentment.«386 Die unterschwelligen politischen Konflikte zwischen den britischen Staatsangehörigen registrierte die Ruhlebener Kommandantur äußerst aufmerksam. Die Lageroffiziere versuchten überdies, die Unstimmigkeiten zwischen ihnen zu vertiefen.387 »We were all lined up again in front of our barracks,« berichtete Cohen, »and the Baron388 called upon those who were deutschgesinnt, that is, who felt like Germans, to step on one side, so that their names might be taken. Various groups ranging from twenty to a hundred stepped out of the ranks in front of each barrack, amid the stony silence of the rest of their fellow-prisoners[.]«389 In der folgenden Zeit waren Denunziationen und Ausgrenzungen der Vorgetretenen zu beobachten. Manch ein Riss ging gar durch internierte Familien, wenn Väter und Söhne gezwungen wurden, sich für Großbritannien oder Deutschland zu entscheiden. Der Lagerkommandant ordnete schließlich an, die beiden Gruppen räumlich zu trennen. »[W]e were informed that all the pro-Germans were to be segregated from the rest of the Camp. They were to be lodged in Stable 1, in the wooden Barracks XIV and XV, and in the ›Tea-House‹[.] […] All the prisoners in these four barracks who did not subscribe to the tenets of pro-Germanism had to pack up their belongings and seek a new home in the horse-boxes and haylofts vacated by the ›P.G.’s,‹ but they were not allowed to take their beds with them.«390 Die innere Haltung des Einzelnen zum Deutschen Reich zog unsichtbare Gräben durch die Fotografien und deutet weitere Grenzziehungen in den Lagergemeinschaften an. Matthew Stibbe kommt nach seinen Forschungen zu dem Schluss, dass die Lager »nur sehr selten Orte für Interaktion oder kulturellen Austausch über nationale Grenzen hinweg« waren.391 Für Ruhleben weist er darüber hinaus 386 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 103 u. ebenso: Joseph Powell u. Francis Gribble, The History of Ruhleben. A Record of British Organization in a Prison Camp in Germany, London 1919, S. 25–40. 387 Die Rolle der Lagerleitung im Desintegrationsprozess der Ruhlebener Lagergemeinschaft betont ebenso Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 307 ff. 388 Baron von Taube war der Stellvertreter des Lagerkommandanten Major a. D. Graf Schwerin Wolfshagen. Zur Ruhlebener Kommandantur siehe: Stibbe, British civilian internees, S. 56–60. 389 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 104 (Herv. im Org.). Deshalb trifft das Resümee John Davidson Ketchums (1893–1962) posthum veröffentlichter Studie über das Lager Ruhleben nur in formaler Hinsicht zu: »[S]trangers to one another, separated by great differences of background and education, they were yet one and all British subjects.« Siehe: John Davidson Ketchum, Ruhleben. A Prison Camp Society, Toronto 1965, S. 37 (Herv. im Org.). 390 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 104. 391 Stibbe, Ein globales Phänomen, S. 175.
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einen latenten Antisemitismus und Rassismus unter den Internierten nach und arbeitet die zwiespältigen Beziehungen zu den Gefangenen aus den britischen Kolonien heraus. Sie waren ebenso wie orthodoxe Juden in separaten Baracken untergebracht und lebten im Lager isoliert.392 In Holzminden beeinflussten die Mitarbeiter der Kommandantur das Zusammenleben, indem sie »Dirnen und moralisch verdächtige Frauen […] in einer besonderen Baracke« unterbrachten und diese nicht in Kontakt zu den übrigen Internierten treten ließen.393 Der soziokulturelle Kontrast zwischen den Internierten wirkte bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Während die einen ihre Erinnerungen an die Zeit in Deutschland im privaten Lebensbereich weitergaben, verschriftlichten und veröffentlichen die gebildeten und sozial gehobenen Männer, vor allem die wehrpflichtigen britischen Staatsbürger, Erlebnisberichte und Tagebücher, mit denen sie kurzzeitig auf dem Büchermarkt Erfolge feiern konnten. Sie organisierten überdies 1919 in der Westminster Hall eine Ruhleben-Ausstellung und trafen sich regelmäßig zum Jahrestag ihrer Internierung.394 Obschon diese Beiträge zur Erinnerungskultur in der Nachkriegszeit bald von anderen Momenten wie dem Gedenken an die Kriegsopfer überlagert wurden, sind sie heutzutage die ersten Zeugnisse aus der damaligen Zeit, denen Historiker/innen in Bibliotheken begegnen.395
Militärische Ordnung und Gewalt Die Holzmindener Fotografien hielten abseits des Kamerafokus Formen möglicher Gewalt, angedrohten Zwangs und unablässiger Kontrolle fest. Ein Wachsoldat mit Gewehr begleitete neun Männer beim Walzen einer Straße. Viele Gefangene trugen an ihrem linken Oberarm eine Binde, die sie außerhalb der Lager kennzeichnen sollte.396 Menschen standen vor oder hinter Stacheldrahtzäunen, an deren Enden Wachtürme in den Himmel emporragten.397 Als Deportierte, Geiseln, Verdächtige und Wehrfähige wurden ausländische Staatsangehörige ihres zivilen Status enthoben und an Orte normativer und praktizierter Ausnahmen verbracht. Gewehre, Abzeichen und Drähte hatten – im Sinne des französischen Philosophen Olivier Razac – den Charakter einer Handlung, die ein Innen und ein Außen der bürgerlich-zivilen Ordnung konstituieren
392 Stibbe, British civilian internees, S. 97 ff.; Ders. Ein globales Phänomen, S. 168 ff. Zum Antisemitismus und Rassismus ebenso: Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 307–310. 393 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Bemerkung d. Vertreters d. Spanischen Botschaft über d. Besuch im Lager Holzminden am 24.8.1916, an d. AA, 6.2.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 394 Stibbe, British civilian internees, S. 163–183 u. Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 319 ff. 395 Vgl. die Bibliographie bei Stibbe, British civilian internees, S. 195–202. 396 Preuß. KM (Unterk.-Dept. gez. i. A. Hoffmann), betr. Zulassung von Zivilgefangenen zu Arbeiten, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 22.4.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 207. 397 Kommandantur d. Gefangenenlagers Holzminden (gez. v. Bitter) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 12.10.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 44 ff.
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half.398 Diese Werkzeuge der Internierung symbolisierten die Macht der Einen und die Machtlosigkeit der Anderen, das Streben nach Kontrolle und die riskanten Möglichkeiten, aus der Kontrolllosigkeit auszubrechen. Sie kennzeichneten weniger eine »normalisierende und permanente visuelle Überwachung« als vielmehr die Möglichkeit willkürlicher Interventionen.399 Die im Herbst 1914 errichteten Zivilinternierungslager fielen überwiegend in den Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereich militärischer Akteure. Der damit einhergehenden Zurückdrängung zivilstaatlicher Abhängigkeiten folgte in den Lagern eine Militarisierung des Umgangs mit den gefangenen Zivilisten. Exemplarisch zeigt dies eine rechtfertigende Darlegung des Unterkunfts-Departements des Preußischen Kriegsministeriums vom Januar 1919 über die Zustände in Holzminden.400 Darin finden die Art und der Umfang der Lagerarbeiten, das Verhalten der Wachmannschaften und der Aufsichtsführenden, der Umgang mit älteren Personen, Kranken und Frauen, die Strafpraxis im Lager, die Lebensmittelversorgung, der Postverkehr und die beständige Kontrolle der Zivilgefangenen eine Rechtfertigung. Der Anlass für die mehrseitige Stellungnahme waren schwere Vorwürfe eines im Sommer 1918 geflohenen russländischen Studenten gewesen. Er gehörte offenbar zu jener Gruppe von 370 aus dem Zarenreich stammenden Internierten, die Ende August 1914 im belgischen Lüttich gefangen genommen worden waren. Deutsche Soldaten sahen es als erwiesen an, dass mehrere von ihnen aus dem Hinterhalt auf sie geschossen hatten. Nachdem die Festgenommenen zunächst im Münsteraner Kriegsgefangenenlager interniert worden waren, wurden sie aufgrund ihrer gehobenen Lebensverhältnisse in das Offiziersgefangenenlager in Celle verlegt. Während einige anschließend nach Holzminden überführt wurden, hatte etwa die Hälfte die Erlaubnis erhalten, die Lager zu verlassen.401 Im Sommer 1918 waren noch 80 von ihnen interniert gewesen.402 Der geflüchtete Student prangerte seine Behandlung als Kriegsgefangener an und erhob Klage gegen die deutsche Heeresverwaltung und den Lagerkommandanten Generalmajor z. D. Pflugradt. Die von dem Offizier Oeste unterzeichnete Zurückweisung der Vorwürfe, die aus der Kriegszeit stammende Berichte zusammen398 Olivier Razac, Politische Geschichte des Stacheldrahts. Prärie, Schützengraben, Lager, übers. aus d. Franz. von Maria Muhle, Zürich 2003, S. 51–70. 399 Ebd., S. 65. 400 Swiss Political Departement to the Legation of the United States of America, Bern, 30.1.1919 u. Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491 (National Archives Identifier: 27319800). 401 Zur Geschichte der russländischen Studenten aus Lüttich äußerte sich: Victor Rubin an d. stv. Gkdo. XII. AK, 20.6.1916, in: HStA Dresden, 11348/2832, Bl. 34 ff. 402 Preuß. KM (Unterk.-Dept. gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 22.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337.
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fasste,403 formulierte dagegen bedachtsam einen vor den Alliierten rechtfertigbaren Status quo. Der offizielle Bericht soll als Referenzpunkt für einen militärischen Blick auf die Internierungslager dienen, der einen akzeptierten, normativen und praktizierten Möglichkeitsraum beschrieb. Während der Geflüchtete eine Erzählung physischer und psychischer Gewalt und Machtlosigkeit entwarf, lenkten die Rechtfertigenden den Blick auf die ›Notwendigkeiten‹ zur Aufrechterhaltung der Ordnung und des Lagerbetriebes. Sie gaben ihre Vorstellungen über die Grenzen des Zivilen im Krieg zu erkennen, wobei sie grundsätzlich auf eine Trennung von Kriegs- und Zivilgefangenen bestanden. Einen Großteil des Vorgebrachten bestritten sie nicht. Gleichwohl unterzeichnete Oeste eine Verschiebung der Perspektiven und eine Relativierung der Vorwürfe. Aus einem vollständigen Kontrollverlust über das eigene Leben, aus Unverständnis über bestimmte Vorgänge und der Demütigung eines Menschen wurden maßvolle Bestimmungen und verhältnismäßige Zustände, deren Ursachen nicht in den Internierungslagern ruhten, sondern zumeist bei den Internierten. Oeste setzte sein Signum unter eine Stellungnahme, die »[b]ei weitem die Mehrzahl der Holzmindener Gefangenen« kriminalisierte. Im Lager seien überwiegend »Verbrecher (Zuchthäusler usw.) oder Franktireures oder wenigstens politische Verbrecher« interniert gewesen. »[N]ur eine ganz geringe Zahl« hätte zur Kategorie der »Vergeltungsgefangene[n]« gehört, die »bevorzugt behandelt« worden wären.404 Kriegsministerialbeamte hatten bereits im Sommer 1918 diese angenommene Gefährlichkeit der Internierten mit ihrem sozialen Stand verknüpft. In Holzminden seien »im allgemeinen die Angehörigen der unteren Volksschichten, darunter auch wegen Verbrechen und Vergehen vorbestrafte untergebracht. Daß diese mehrtausendköpfige Menge nicht immer blos [sic] mit Milde und Ordnung gehalten werden kann, ist selbstverständlich.«405 Indem sie Unschuldige als potenziell Schuldige hinstellten, indem wehrlose Zivilisten zu einer schwer zu kontrollierenden Menschenansammlung erklärt wurden, rechtfertigten die Heeresver403 U. a. in: BArch Berlin, R 901/84337. Ähnliche Vorwürfe wurden z. B. erhoben in: L’École du Malheur. Les Femmes Françaises au Camp d’Holzminden, in: L’Homme Libre, Journal quotidien du matin, 24.2.1918, Nr. 605 u. im Memorandum d. belgischen Regierung über d. Deportation u. Zwangsarbeit belgischer Zivilisten wie über d. Behandlung d. Frauen in Holzminden: Légation de Belgique, Washington D.C. to Robert Lansing, Secretary of State, 29.5.1918, Inclosure 4, in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 353, Doc.-No. 763.72115/3340 (National Archives Identifier: 27353183) u. BArch Berlin, R 901/84337. Die Anklagen und Erwiderungen stark verkürzend siehe ebenso: Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 779–789. 404 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 405 Preuß. KM (gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337.
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walter und in ihrem Namen die Beamten des Auswärtigen Amtes letztlich den Einsatz physischer Gewalt und die Durchsetzung umfassender Reglementierungen. In ihrem Nachkriegsbericht leiteten Oeste und seine Mitarbeiter aus ihren sozialpathologischen Einsichten ein akzeptierbares Verhalten der Wachsoldaten ab. »Wenn die Begleitmannschaften darauf aufmerksam gemacht wurden, dass die ihnen übergebenen Gefangenen teilweise Verbrecher waren, so geschah dies, um die Aufmerksamkeit der Begleitmannschaft zu erhöhen,« führten sie aus. Solche Hinweise seien keinesfalls gegeben worden, »um sie zur Misshandlung der Gefangenen zu veranlassen, vielmehr waren Misshandlungen streng verboten«. Aber »[s]elbstverständlich« sollten die Wachposten nicht freundlich gegenüber den »internierten Feind[en]« auftreten, sondern sich »nur korrekt verhalten«.406 Das Auftreten der Lagermannschaften wurde innerhalb des Berliner Kriegsministeriums sogar als zu gutmütig wahrgenommen. Denn das »Bewachungspersonal neigt vielmehr zur Milde und Nachsicht, obwohl es ihm bekannt ist, daß die Deutschen in Frankreich teilweise mit ausserordentlicher Härte behandelt werden«, wie es in einem Bericht über die Situation in Holzminden hieß.407 Die Verfassung und Ausbildung der Wachmannschaften hatte in Militärkreisen zur Sorge Anlass gegeben.408 Theodor von der Pfordten, der Traunsteiner Lagerkommandant, zeigte sich besonders über die häufigen Versetzungen der abkommandierten Soldaten unzufrieden.409 Viele von ihnen seien »vielfach ganz unausgebildet dem Lager überwiesen« worden und zudem »körperlich schwach und ungewandt, mit allerlei Leiden behaftet und deshalb nicht genügend leistungsfähig«. »Es ist nicht selten vorgekommen, dass innerhalb einiger Monate nahezu das ganze Wachkommando ausgewechselt wurde«, hielt er fest. Aus diesem Grund sah sich der Lagerkommandant mit der fortwährenden Ausbildung neuer Rekruten konfrontiert, die »die notwendige militärische Haltung und die vielfach nicht gerade einfachen Vorschriften über die Gefangenenbehandlung« erst erlernen mussten. Zu den Aufgaben der Wachmannschaften gehörten in Holzminden wie in anderen Lagern Appelle und Durchsuchungen, die als »unbedingt nötig« galten, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und etwaige Fluchtmittel aufzufinden. »Dass dieses nötig war, hatten die Gefangenen sich selbst zuzuschreiben«, erläuterte
406 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 407 Preuß. KM (gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 408 Siehe hierzu auch: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 178–180 u. Mitze, Kriegsgefangenenlager Ingolstadt, S. 102–103. 409 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Bewachung, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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Oeste.410 Seine Stellungnahme zielte hierbei überwiegend auf eine Kriminalisierung der Männer ab. Sein Ministerialkollege, der Offizier Reid, versuchte hingegen die internierten Frauen moralisch zu diskreditieren. Sie hätten durch ihr »ungebärdige[s], ungesittete[s] und streitsüchtige[s] Benehmen« die Lagerverwalter dazu gezwungen, »ihnen einige Bequemlichkeiten in der Ausstattung ihrer Baracke zu entziehen und sie zu leichten Arbeiten anzuhalten«, wozu »leichte Feldarbeit« gehören konnte.411 Indem die Militärverantwortlichen den Internierten darüber hinaus vorwarfen, ihre Unterredungen mit neutralen Beobachter/innen zu nutzen, die Lagerkommandanten zu diffamieren und »unwesentliche Vorkommnisse übertrieben darzustellen«,412 hoben sie ihr stetes Misstrauen und ein beständiges Spannungsverhältnis gegenüber den Gefangenen hervor. Die Internierten konfrontierten die Militärverantwortlichen mit einer gewissen Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit. Aus Sicht der Heeresverwalter fügten sie sich schwerlich in die vorgestellte Ordnung der Internierungslager und störten den verwalteten militärischen Alltag. Im Zuge dieser Aneignung der Gefangenen als Unruhestifter/innen wandelte sich die Vorstellung über die zwangsweise angeordnete Internierung, die ein bestimmtes militärisches, politisches und/oder diplomatisches Ziel verfolgt hatte. Nicht mehr die Internierenden, sondern die Internierten verschuldeten die Lebensumstände in den Lagern. Eine ähnliche argumentative Verschiebung der Verantwortung fand bei der Rechtfertigung des Gesundheitszustandes der Zivilgefangenen aus Nordfrankreich statt. Gegenüber neutralen Beobachtern, die das Durchgangslager in Rastatt besucht hatten, bestätigte der Garnisonsälteste Konrad Dumrath (1853–1925) den »Schmutz«, den sie vorgefunden hatten. »Doch trifft dieser Vorwurf nicht das hiesige Zivilgefangenenlager und dessen Einrichtungen, sondern lediglich die hier untergebracht gewesenen Zivilgefangenen selbst. Diese trafen hier z. T. sehr stark mit Ungeziefer, namentlich Kleider- und Kopfläusen, behaftet ein. Wenn hier auch als mildernder Umstand angesehen werden kann, dass diese Leute schon monatelang unterwegs waren und in andern Lagern z. T. mit Russen zusammen gewesen sind, so ist doch die allgemeine körperliche Unsauberkeit der Franzosen, besonders auch ihr übliches Verhalten auf Abortanlagen bez. ihrer Nichtbenützung, zu Genüge bekannt.«413 410 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 411 Preuß. KM (gez. Reid) an d. AA, 11.3.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 412 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. AA, 12.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 413 Stellungnahme d. Garnisonkommandos Rastatt (gez. Dumrath), 25.2.1915, in: IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster u. C. de Marval, Beilage IV, S. 61–63 (Herv. im Org.). Siehe auch: Bericht d. Zivilgefangenenlagers
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Die Auseinandersetzung um Deutungshoheiten zeigte sich in gleichem Maße bei den sogenannten Lagerarbeiten. Sie wurden in Art und Umfang von den Kommandanturen definiert und galten als notwendig für die Instandhaltung der Lager und als eine Ablenkung für die Gefangenen. Neben der Reinigung der Baracken und der Aufenthaltsbereiche umfassten sie alle Arbeiten zum Betrieb der Lager, ihrer Infrastruktur und großer Teile der Lebensmittelversorgung. So wurde der Ausbau der Kanalisation im Lager Holzminden414 ebenso dazu gerechnet wie in den Zweiglagern Lichtenhorst, Mecklingen und Vördenermoor die »Herstellung von Zufuhrwegen, Steinsetzerarbeiten, Umgraben von Heideland und ähnliche Arbeiten landwirtschaftlicher Art«.415 Auch das »[e]inige Male« an Sonntagen erfolgte Sammeln von Brennholz im nahen Wald hatte dazugehört.416 Die Ministerialoffiziere beschrieben die landwirtschaftlichen Tätigkeiten als eine »Erholung«.417 Der Offizier Reid nahm für Holzminden sogar an, »dass der gute Gesundheitszustand im Lager mit eine Folge der gesunden und zweckmäßigen Beschäftigung in der frischen Luft ist«.418 Eine ähnliche Perspektive fand in die preußische Nachkriegsstellungnahme Oestes Eingang. Gerade für die »arbeitenden Stände« unter den Gefangenen sei es »wegen der Eintönigkeit des Lagerlebens« »im Interesse ihres körperlichen und geistigen Wohlbefindens unumgänglich nötig gewesen«, Arbeit aufzunehmen.419 Diese Ansicht bedeutete letztendlich, dass wer sich der Lagerarbeit verweigere, sich selbst und der Gemeinschaft schade. Lagerkommandant Theodor von der Pfordten bemerkte kurz vor Kriegsende aufgrund seiner Erfahrungen, »dass nichts unangebrachter wäre, als Zivilgefangenen im Lager einen allzu bequemen und angenehmen Zustand zu bieten, sie insbesondere durch Spiel, Veranstaltung von Vorführungen, Vorträge, Sport usw. zu unterhalten«. Er empfahl hingegen die »Langeweile des Lageralltags« als förderlichen Antrieb für die Gefangenen, unterschiedlichste Arbeiten anzunehmen. »In dieser Hinsicht wurde im Bezirk des I.A.K. [Bayern] und besonders hier sehr
Rastatt (gez. v. Bauern), 2.4.1915 u. Bericht d. Bezirksarztes Stoecker an d. Bad. BzA Villingen, 14.3.1915, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23176. 414 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Bemerkung d. Vertreters d. Spanischen Botschaft über d. Besuch im Lager Holzminden am 24.8.1916, an d. AA, 6.2.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 415 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 9.8.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 416 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 417 Preuß. KM (gez. v. Fransecky), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.11.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 418 Preuß. KM (gez. Reid) an d. AA, 11.3.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 419 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491.
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zurückhaltend verfahren und der gute Erfolg hat sich darin gezeigt, dass jetzt kaum mehr ein Zivilgefangener unbeschäftigt im Lager weilt.«420 Die Frauen in Holzminden hätten »zu Streit und Klatsch« und Verstößen gegen die Lagerordnung geneigt, weil sie »beschäftigungslos« gewesen seien, mutmaßte Major Curt von Buttlar vom Berliner Kriegsministerium.421 Dieser Standpunkt war keine Seltenheit. Eine Variation fand er bezüglich der Reaktionen der Betroffenen. Nach Ansicht der Militärverantwortlichen hätten sie die Arbeiten nicht ausschließlich verweigert, sondern sogar begrüßt. »Im allgemeinen haben die Zivilgefangenen über die ihnen auferlegte Arbeit keineswegs geklagt, sondern sie als eine willkommene Abwechslung gegenüber dem einförmigen Lagerleben betrachtet«, fasste allgemeingültiger ein anderer Militärbericht die Haltung der Internierten zusammen.422 Während sich der ehemalige russländische Student über die beschwerlichen Lagerarbeiten wie das Sammeln schwerer Holzscheite beklagte, waren die Offiziere der Ansicht, dass die »meisten der Gefangenen […] diese Arbeit als angenehmen Spaziergang« empfunden hätten.423 Die Arbeiten seien stets mit Blick auf den körperlichen Zustand der Gefangenen verteilt worden, betonte Oeste. Ein Einsatz kranker und älterer Gefangener sei »erlogen«, sodass »niemand verlangen kann, dass er ernstlich widerlegt würde«. »Frauen waren von Lagerarbeiten befreit und entknüpften daher (sofern sie nicht Kinder zu versorgen hatten, schwach waren, oder den besseren Ständen angehörten) an 3 Tagen der Woche je 5 Stunden (mit Mittagspause) Netze.«424 Dass die Internierten im Gegensatz dazu bestrebt waren, sich von den Arbeiten auszuschließen, registrierten die Heeresverantwortlichen dennoch aufmerksam und steuerten den Versuchen mit Restriktionen entgegen. Vor allem die Krankmeldungen beim Lagerarzt galten als ein Mittel der Zurückstellung. Deshalb sei es gerechtfertigt gewesen, dass »[d]ie Feldwebel […] nur die Leute der unterstellten Bezirke, die sich durch unbegründete wiederholte Krankmeldung der Arbeit zu entziehen suchen, vom wiederholten Besuche des Arztes zurückgehalten« hätten.425 Der Übergang von Einschränkungen hin zu Zwängen war dabei fließend. »Strafen für Arbeitsverweigerung sind nur selten vorgekommen. Sie müssen streng sein, weil die Arbeitsverweigerung die ganze Ordnung im Lager 420 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 421 Preuß. KM (gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 422 Preuß. KM (gez. i. A. Bauer) an d. Reichskanzler (AA), 21.1.1917, in: BArch Berlin, R 901/84461. 423 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 424 Ebd. 425 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. AA, 12.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337.
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gefährden würde. Es kann nicht geduldet werden, daß einzelne Gefangene willkürlich, aus Laune oder bösem Willen die Arbeiten, die zum Nutzen der Lagerinsassen ausgeführt werden müssen, verweigern und andere für sich arbeiten lassen. In keinem Fall sind mehr als 3 Tage Arrest verhängt worden.«426 Die Bestrafung der Zivilinternierten basierte seit Sommer 1916 nicht mehr auf den Grundsätzen des Militärstrafgesetzbuches. Denn das Reichsmilitärgericht hatte entschieden, dass sie nicht als Kriegsgefangene anzusehen seien, unerheblich davon, ob ihre Festnahme auf »Kriegsrecht oder Kriegsraison« beruhte. »Auf diese Personen fänden daher die von den Kriegsgefangenen handelnden Bestimmungen der Landkriegsordnung, und damit auch diejenigen des M.St.G.B. [Militärstrafgesetzbuches] und der M.St.G.O. [Militärstrafgerichtsordnung], keine Anwendung«, erläuterte der Ministerialbeamte Hörnle den bayerischen Offizieren.427 Theodor von der Pfordten sah daraufhin die Ruhe und Ordnung in seinem Lager gefährdet, weil »strafbare Handlungen« der Internierten »deshalb von den bürgerlichen Gerichten verfolgt« werden und seiner Ansicht nach »folgerichtig« ebenso die Disziplinarstrafordnung keine Anwendung mehr finden darf. »Da es praktisch undurchführbar ist, gegen Zivilgefangene überhaupt keine Disziplinarmassregel zu ergreifen, weil sonst jede Zucht und Ordnung im Lager aufhören würde, bliebe schliesslich ihre disziplinäre Behandlung ganz dem Ermessen der Lagerkommandanten überlassen«, folgerte der Traunsteiner Lagerkommandant. Er hätte sich deshalb »[i]n der Praxis […] damit abgefunden, dass man einfach die Disziplinarstrafordnung auf die Zivilgefangenen anwendete«. In Bezug auf die »Sicherung und Lagerordnung« unterschied er dementsprechend nicht zwischen Kriegs- und Zivilgefangenen.428 Die Lagervorschriften und Strafandrohungen bildeten für die Kommandanturen ein zentrales Element bei der Gewährleistung der Ordnung. Die Verantwortlichen in dem auf dem Truppenübungsplatz Heuberg errichteten Lager setzten für die Zivilgefangenen unter anderem folgende Vorschriften in Geltung. Für die Aufrechterhaltung der »strengste[n] Ordnung« in den Stuben waren die Stubenältesten verantwortlich. Sie sollten kontrollieren, »dass die Stuben sauber gekehrt, die Betten ordentlich gemacht sind und ordnungsmässig gewischt und gelüftet wird. Die Stubenältesten haben auch jeden ordnungswidrigen Vorfall, Streitereien etc. der diensttuenden Ordenanz [sic] oder dem diensttuenden Feldwebel zu mel-
426 Preuß. KM (gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 427 Bay. KM (Verwaltungsabt., gez. Hörnle) an u. a. d. stv. Gkdos. I., II. u. III. bay. AK, 13.6.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148. 428 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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den.«429 Die Lagerleitung übertrug hierbei einen Teil der Verantwortung auf die Internierten und begründete erneut eine Hierarchie unter ihnen. Die Verlagerung der Ordnungsbefugnisse und Sanktionsmöglichkeiten erfolgte am weitgehendsten im Lager Ruhleben. Das dortige »Captains Committee«, das sich zunächst aus den von der Lagerkommandantur ernannten und später gewählten Barackenvertretern zusammensetzte, kontrollierte unter anderem die interne Finanz- und Verpflegungsverteilung und führte Aufsicht über die von Internierten gebildete Lagerpolizei.430 Unter dem Vorsitz Joseph Powells entwickelte es sich zu einer machtvollen Institution, die an der Schnittstelle zwischen den Gefangenen und der deutschen Lagerleitung sowie internationalen Organisationen agierte. In der Folge stand Powell durchaus in der Kritik, die vor allem Entlassene äußerten.431 Dies wird nicht zuletzt die Absicht der Lagerkommandantur gewesen sein. Denn sie trat im Zuge dessen mehrfach gegenüber den Internierten hinter die gewählten Captains zurück. Das Committee filterte Beschwerden wie Anfragen und musste Entscheidungen der Militärverantwortlichen vermitteln. Es war trotz der sich ermöglichenden Gestaltungs- und Handlungsspielräume, die aus einem unmittelbaren Wissen über die Lage und die Bedürfnisse der Internierten herrührten, ein Element der Herrschaftsorganisation. Die Vorschriften im Lager Heuberg diktierten den Internierten weitere Verhaltensregeln. Das Lager durfte nicht ohne militärische Aufsicht verlassen werden. Briefe und Postkarten hatten die Gefangenen zuerst der Prüfungsstelle vorzulegen. Kranke sollten sich frühzeitig beim Lagerarzt melden. Verstöße gegen die geltenden Bestimmungen wurden mit weitreichenden Sanktionen geahndet, zu denen »Nahrungsentziehung, Lohnentziehung und Freiheitsstrafen (leichter, strenger und mittlerer Arrest)« gehörten.432 Die Lagervorschriften konnten ebenso eine nächtliche Ausgangssperre umfassen. In Holzminden verhängte die Kommandantur eine solche zur »eigenen Sicherheit« der Gefangenen, »damit sie vom Posten nicht als Flüchtlinge erschossen wurden«. »Als Warnung vor Fluchtversuchen und der damit verbundenen Lebensgefahr wurden die Zahl und die Namen der bei solchen Versuchen getöteten Gefangenen regelmäßig durch Lagerbefehl bekanntgegeben.«433 Übertretungen des Ausgehverbotes konnten auch gegenüber Frauen
429 Kommandantur d. Gefangenenlagers Heuberg, Vorschriften für die Zivilgefangenen, o. D., in: GLA Karlsruhe, 456/F63/312. 430 Umfassend hierzu: Powell u. Gribble, The History of Ruhleben. Ebenso: Stibbe, British civilian internees, S. 60–63 u. Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 310–312. 431 Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 311 f. 432 Kommandantur d. Gefangenenlagers Heuberg, Vorschriften für die Zivilgefangenen, o. D., in: GLA Karlsruhe, 456/F63/312. 433 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491.
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mit bis zu drei Tagen Arrest bestraft werden.434 Die Internierungslager stellten zunehmend Orte vieler Strafen dar, wobei diese häufig erst aus Verstößen gegen die inneren Ordnungen der Lager erwuchsen. Eine Bekanntmachung des Preußischen Kriegsministeriums deutete die verhängnisvolle Eigendynamik der restriktiven Lagerordnungen und Strafbestimmungen in der Praxis an. Offiziere formulierten weit entfernt vom Lageralltag Richtlinien, und Lagerkommandanten gaben Tagesbefehle aus, die physische Gewalt gegen die Gefangenen nicht ausschlossen. Jedoch mussten die Wachsoldaten situativ entscheiden, ob ein Fluchtversuch vorlag oder die Vorschriften übertreten wurden und welche Motive hierfür ausschlaggebend gewesen waren. Dass es dabei zu »Mißhandlungen« gekommen sei, gestand Oberst Rudolf von Fransecky, der Nachfolger Emil Friedrichs als Direktor des Unterkunfts-Departements, im September 1918 ein.435 Er berichtete gegenüber den Militärbehörden von »Anzeigen über gewaltsame Todesfälle feindlicher Kriegs- und Zivilgefangener« und »Feststellungen«, nach denen es zu »Fälle[n] schwerer Mißhandlung durch das Bewachungspersonal« gekommen sei. Vor dem Hintergrund, dass »durch solche Fälle die deutschen Gefangenen in Feindeshand mitunter sehr zu leiden haben«, mahnte er an, Wachen sorgfältig zu unterrichten und Dienstanweisungen eindeutig zu formulieren. »Nicht selten beruht das unrichtige Verhalten der Gefangenen im Dienstverkehr auf Mißverständnissen infolge der Sprachunterschiede. Deshalb ist es Pflicht jedes Vorgesetzten, sich die Überzeugung davon zu verschaffen, daß seine Befehle von den Gefangenen auch verstanden sein können.« Den lagerinternen Sanktionsinstrumenten stand das System der militärischen Vergeltungsmaßnahmen zur Seite. Aber weder die Internierten noch die Lagerkommandanturen hatten einen Einfluss auf deren Anordnung. Über Art, Umfang und Zeitpunkt der Vergeltungen entschied die Heeresführung. Eine Zeitlang musste aufgrund dessen die Poststelle in Holzminden schließen,436 und die Internierten durften ebenso das Theater und die Restaurants nicht besuchen.437 Den »civilinternierten Franzosen« wurde zwischenzeitlich verboten, ihre eigenen Stühle zu benutzen oder »tagsüber auf den Betten zu sitzen oder zu liegen, größere Koffer bei sich zu haben«.438 Nur für die rumänischen Zivilgefangenen
434 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. AA, 12.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 435 Preuß. KM (gez. i. A. v. Fransecky), betr. Misshandlung Kriegs- u. Zivilgefangener, Waffengebrauch, an u. a. d. KM, 23.9.1918, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 1044. 436 Stellungnahme d. Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste), 11.1.1919, (Abs.) in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 313, Doc.-No. 763.72114/ 4491. 437 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 784 (Bkm. d. Preuß. KM, 20.2.1917). 438 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde) an d. AA, 6.11.1916, in: BArch Berlin, R 901/82917.
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war eine »Unterhaltungsbeschränkung« in Kraft getreten.439 Gebildete französische Internierte sollten im Sommer 1916 als Vergeltungsmaßnahme zur Arbeit herangezogen werden. Die Lagerkommandantur in Traunstein organisierte hierfür Erdarbeiten auf einem Kartoffelfeld. »Aber nicht nur Lehrer, Kaufleute, Rentner, Bürgermeister trugen dort Steine u. a., sondern mit kühnem wohlberechnetem Trugschluß rechnete die Kommandantur zu den ›gebildeten Franzosen besserer Stände‹ auch alle jene, die bisher zu bequem oder zu störrig gewesen waren, eine angebotene Arbeitsstelle zu übernehmen«, erinnerte sich der zum Lagerpersonal gehörende Hans Weber.440 Die Vergeltungsmaßnahmen konnten den Verantwortlichen somit als ein Instrument dienen, die Freiwilligkeit bei der Übernahme von Arbeiten außer Kraft zu setzen. Ein dem entgegengesetztes Handeln der Kommandanturen beschrieb Maximilian von Baden (1867–1929), der letzte Kanzler des Deutschen Kaiserreiches, in der Nachkriegszeit. Er war in der internationalen Gefangenenfürsorge tätig gewesen und unterhielt Kontakte zu den maßgeblichen Verantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium wie beispielsweise Emil Friedrich, dem Leiter für die Gefangenenangelegenheiten. Über die Reaktionen auf angeordnete Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Frankreich legte er dar: »Vielfach halfen sich unsere Lagerkommandanten damit, daß sie anbefohlene Härten nicht ausführten, wohl aber die ihnen unterstellten Gefangenen veranlaßten, nach Hause zu schreiben, daß die angedrohten Maßnahmen in Kraft getreten wären.«441 Die militärischen Vergeltungsmaßnahmen bedeuteten für die Kommandanturen sowohl Zwänge als auch erweiterte Handlungsspielräume. Sie mussten unabhängig von ihrer eigenen Beurteilung der Situation vor Ort die Anordnungen der Heeresleitung durchführen. Im Umgang mit den Internierten konnten sie diese zugleich nutzen, Milde oder Härte zu demonstrieren und ihrem Führungsstil Nachdruck zu verleihen. An ihrer unmittelbaren Deutungshoheit über die Lebensumstände im Lager änderte dies wenig. Sie legten in Zweifelsfällen fest, zu welchem sozialen Stande ein Internierter zählte oder wie »anbefohlene Härten« umzusetzen waren. Unterdessen ordnete die Heeresführung noch weitergehende Repressalien wie die Abschiebung französischer Zivilgefangener nach dem besetzten Russland an, wo sie gewaltsam zur Arbeit gezwungen wurden.442 439 Preuß. KM (gez. v. Fransecky), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.11.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337. 440 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, hier S. 4. u. 67. Die Vergeltungsmaßnahme wurde auf Anordnung des Preußischen Kriegsministeriums ungerechtfertigter Weise auf französische Zivilgefangene ausgedehnt. Hierzu siehe: Preuß. KM (gez. i. A. Bauer) an d. Reichskanzler (AA), 21.1.1917, in: BArch Berlin, R 901/84461. 441 Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin 1927, S. 13. 442 Preuß. KM an d. Zentralkomitee d. dt. Vereine vom Roten Kreuz, Abt. Gefangenenfürsorge, 7.6.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 215 u. in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 11.
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Militärische Rechtfertigungen über die Lebensumstände in den Internierungslagern wie die Stellungnahme des Offiziers Oeste verdichteten die Lager zu Orten potenzieller Unordnung und vermeintlicher Fehldeutungen, zu krisenanfälligen Räumen ziviler Widersetzlichkeit gegenüber militärischen Akteuren.443 Als ambivalent wahrgenommene Internierte sollten sich durch Drohungen und Kontrollen in das Lagersystem einordnen. Sanktionen und Zwänge unterstreichen ihr Aufbegehren innerhalb der militärischen Herrschaftsräume und deuten ein Scheitern der mit diesen einhergehenden Ordnungsvorstellungen an. Die Internierungslager blieben stets Orte der Veränderung und ihrer Infragestellung.
Lagerinspektionen als Notwendigkeit und Kontrollverlust Eine Vielzahl an militärischen Berichten entstand als Reaktion auf Verbalnoten der spanischen, niederländischen und US-amerikanischen Botschaft444 sowie als Erwiderung auf internationale Zeitungsmeldungen. An die Heeresverantwortlichen gelangt, forderten sie von den jeweiligen Kommandanturen Stellungnahmen ein, die später meist im Auswärtigen Amt redigiert und anschließend an die neutralen Botschaften weitergeleitet wurden. Das Handeln der Lageroffiziere und -mannschaften gegenüber den Internierten wurde somit auf zweierlei Weise überwacht und bewertet. Zum einen verfassten neutrale Gesandtschaftsvertreter ebenso wie Delegierte des Roten Kreuzes Berichte über ihre Lagerinspektionen, die auch in Zeitungen Eingang fanden.445 Vereinbarungen mit Frankreich und Großbritannien legten fest, dass Delegierte der sogenannten Schutzmächte das Recht zu unangekündigten Lagerkontrollen hatten.446 Gleichzeitig erlaubten die Militärbehörden bei verbürgter Gegenseitigkeit ebenso Besichtigungen durch private Organisationen wie das Schweizer Initiativ-Komitee für Gefangenenschutz447 443 Siehe ebenso die Verteidigungen in: Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 2, S. 771–794. 444 Ab Februar 1917 wurden die Interessen der US-amerikanischen, russländischen, französischen, belgischen, portugiesischen, japanischen, rumänischen und serbischen Staatsangehörigen im Deutschen Reich durch die spanische Regierung, die der britischen Staatsangehörigen durch die Niederländische Gesandtschaft und die der italienischen Staatsangehörigen durch die Schweizerische Gesandtschaft vertreten. Siehe: Minister d. Auswärtigen Angelegenheiten, betr. Schutz d. Fremden in Dtl. u. Deutsche Interessen im Ausland, 27.2.1917, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/82918. 445 Beispielsweise über die Reise Arthur Eugsters: Die deutschen Kriegsgefangenenlager, in: Berliner Tageblatt, 23.2.1915 (Nr. 99, Abendausgabe), u. über die Reise Carle de Marvals: Leipziger Neueste Nachrichten, 18.3.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 7, Dok.-Nr. 46a, S. 28. 446 Zusammenstellung d. Vereinbarungen zwischen d. Deutschen Reich u. d. Kriegsgegnern über d. beiderseitigen Kriegs- u. Zivilgefangenen, 2.3.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 320 (Anlage Nr. 508–708), Nr. 645, S. 6. 447 Mitteilung von Frau Geh. Rat Prof. Ida Doeltz, Charlottenburg, 16.11.1915, (Abs.) in: EZA Berlin, 51/C III g 1.
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oder das International Committee of Young Men’s Christian Association.448 Zum anderen basierten viele diplomatische Noten auf Beschwerden der Internierten und der Entlassenen, die sie an ihre Regierungen gerichtet, gegenüber neutralen Beobachter/innen geäußert oder vor Untersuchungskommissionen getätigt hatten und die in der internationalen Presse aufgegriffen wurden. Diese vielfältigsten Äußerungen stellten für die Militärvertreter konkurrierende Deutungen dar, die nicht selten beanspruchten, Einflüsse auf die Internierungslager auszuüben. Die militärischen und zivilen Planer der Internierung ahnten im Oktober 1914 längst, dass das Zivilinternierungssystem eine besondere Aufmerksamkeit durch ausländische Beobachter/innen erfahren würde. Der US-amerikanische Botschafter, James W. Gerard, hatte erstmals am 20. August das Gefangenenlager in Döberitz besucht, in dem britische Staatsbürger aus unterschiedlichen Gründen interniert worden waren. Daraufhin bereiste er weitere Haftorte und stellte alsbald Forderungen für geregelte Inspektionen auf.449 Die Vertreter der Heeresführung und der Reichsleitung waren deshalb ursprünglich übereingekommen, einen Unterbringungsort für die wehrfähigen britischen Staatsangehörigen in der Nähe Berlins zu vermeiden, »weil [dieser] dann ständig von den Vertretern der fremden Mächte besucht werden würde«.450 Die Skepsis der Militärverantwortlichen und Lagerkommandanturen gegenüber neutralen Kommissionen und Gesandtschaften bestand den Krieg über fort. Die Diplomaten des Auswärtigen Amtes erhielten von Seiten des Preußischen Kriegsministeriums im Februar 1915 die ersten nachdrücklichen Hinweise, dass »Besuche von Gefangenenlagern durch Beauftragte der verschiedenen Botschaften und Gesandtschaften« stark zunähmen und keineswegs willkommen waren.451 Sie hätten »nicht mehr den Charakter von Besuchen, sondern den einer Beaufsichtigung angenommen«. Die Heeresverwalter stellten indes die Inspektionen nicht in Frage. Denn die Gegenseitigkeit des Informationsaustausches, die ebenso Berichte über die Lage deutscher Kriegsgefangener im Ausland ermöglichte, hatte für sie einen hohen Stellenwert erlangt.452 Deshalb bekräftigte Hauptmann Paul Draudt (1877–1944) im Namen des Berliner Kriegsministeriums gegenüber dem 448 Vgl. Kenneth Steuer, Pursuit of an ›Unparalleled Opportunity‹: The American YMCA and Prisoner of War Diplomacy among the Central Power Nations during World War I., 1914– 1923, New York 2008, S. 41–63. 449 Gerard, My four years, S. 118 ff. 450 Protokoll d. Besprechung im RAdI, betr. Behandlung d. Angehörigen feindlicher Staaten, 17.10.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112363, Bl. 11 ff. 451 Preuß. KM, betr. Besuch von Kriegsgefangenenlagern, an d. AA, 12.2.1915, in: BArch Berlin, R 901/84208. 452 U. a.: Rotes Kreuz, Ausschuss für deutsche Kriegsgefangene, u. Hilfe für kriegsgefangene Deutsche, Interne Wochenberichte, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5402, Bl. 80–123, 140– 204 u. d. Sammlung d. Internen Wochenberichte in: Ebd., RM 3/5403–5417. Die Wochenberichte waren ausdrücklich nicht für die Veröffentlichung in der Presse bestimmt. Sie glichen in ihrem formalen Aufbau allerdings den publizierten Inspektionsberichten.
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Auswärtigen Amt den Vorsatz des Entgegenkommens. »Jeder einzelne derartige Wunsch, der von außerhalb an das Kriegsministerium gelangt, wird mit dem größten Wohlwollen geprüft und, wenn nicht ganz schwerwiegende Bedenken dagegen sprechen, verwirklicht«, erläuterte er im Sommer 1916 den ministerialen Standpunkt.453 Dass dieses Wohlwollen im föderalen System militärisch-bürokratischer Zuständigkeiten verloren gehen konnte, mussten Conrad Hoffmann (1884– 1958), ein Delegierter der Gefangenenhilfe des YMCA, und James W. Gerard feststellen, als sie bei ihren ersten Inspektionen zurückgewiesen und ihnen Einschränkungen im Umgang mit den Internierten auferlegt wurden.454 Die dänischrussische Rot-Kreuz-Delegation stieß im September 1916 ebenfalls auf Widerstände durch den stellvertretenden Generalkommandeur in Posen.455 Er habe den Lagerkommandanturen die Erlaubnis erteilt, bei der »geringste[n] Unruhe und Erregung« vor Ort die Besuche abzubrechen, beschwerte sich der Gesandte Knud Graf Danneskiold-Samsöe. Vor dem Hintergrund einer ablehnenden Stimmung gegenüber den neutralen Inspekteuren, die den Kommandanten unlängst als Störfaktoren angekündigt worden wären, berichtete er über ein Vorkommnis in Görlitz: »Als wir uns dem ›Lager V‹ näherten, teilte uns der Lagerkommandant mit, dass es hier viele schwierige Elemente gebe, und falls nach unserm Besuch die geringste Spur von Unruhe unter den Gefangenen sich zeigen sollte, würde er sofort nach Posen telegraphieren und der übrige Teil unserer Reise würde dann verboten werden.« Als daraufhin die Bewegungsfreiheit der Delegierten eingeschränkt wurde, erklärte die Delegierte Klujeff den zeitweiligen Abbruch ihrer Inspektionsreise. Das Recht auf Inspektionsreisen musste von den Abgesandten beständig eingefordert werden. Der US-amerikanische Botschaftsmitarbeiter Daniel J. McCarthy registrierte bei den Militärkommandeuren eine widerständige Grundhaltung, die durch ein ausgewogenes Verhältnis von Lob und Kritik sowie durch Routine aufgebrochen werden könne.456 Aber noch im September 1918 ermahnte das Bayerische Kriegsministerium die lokalen Militär- wie Zivilverantwortlichen, die Neutralität der Beobachter/innen und die Exterritorialität der spanischen Botschaftsdelegierten zu akzeptieren, nachdem es zu schikanösen »Vorkommnisse[n]« aufgrund zeitlich begrenzter Reisepässe gekommen war.457 Sie hätten 453 Preuß. KM (gez. Hauptmann [Paul] Draudt) an d. AA, Legationsrat [Fritz] v. Keller, 28.8.1916, in: BArch Berlin, R 901/84210. 454 Conrad Hoffmann, In the Prison Camps of Germany. A Narrativ of »Y« Service among Prisoners of War, New York 1920, S. 30–33 u. Gerard, My four years, S. 122 f. 455 Knud Graf Danneskiold-Samsöe an d. AA, 22.9.1916, in: BArch Berlin, R 901/84542. 456 Daniel J. McCarthy, The Prisoner of War in Germany. The Care and Treatment of the Prisoner of War with a History of the Development of the Principle of neutral Inspection and Control, New York 1918, S. 34. 457 Bay. SMdI (gez. L. Brodway) an u. a. d. Regierungen (KdI) u. d. Distriktspolizeibehörden, 16.9.1918, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/2.
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einen Anspruch darauf, »daß ihnen von seiten aller staatlichen Organe mit größter Zuvorkommenheit und Höflichkeit begegnet, auch in der Ausübung ihrer Tätigkeit Unterstützung geleistet wird«. Um zukünftige Hindernisse auf dem Feld der Ausweiskontrollen gänzlich auszuräumen, sei es fortan »nicht angängig, andere Ausweise von ihnen zu verlangen, und zwar auch dann nicht, wenn der Ausweis etwa ausnahmsweise älteren Datums sein sollte«. Paul Draudt dagegen verteidigte Inspektionshindernisse für bestimmte Aufenthaltsorte, an denen die Gefangenen nicht länger verweilten und »die sich im Gebiet der militärischen Operationen befinden, wo aus grundsätzlichen, militärischen Rücksichten ein unbeschränkter Verkehr neutraler Staatsangehöriger nicht zugelassen werden« könne.458 Aber grundsätzlich seien aus seiner Sicht ein »unbeschränkter Zutritt und unbeschränkte Bewegungsmöglichkeiten in den Gefangenenlagern« gewährleistet, wie unter anderem »die umfangreiche Liebestätigkeit der Weltvereinigung der Christlichen Jungen Männer« und »des weiteren die vielen neutralen Ärztekommissionen« zeigten. Hauptmann Draudt argumentierte gegenüber dem Auswärtigen Amt im Fall dennoch vorgekommener Verweigerungen mit Zynismus. Denn diese seien letztlich im Sinne des Schutzes der Gefangenen ausgesprochen worden. Während Kriegsgefangene in Operationsgebieten unter Zwang hinter der Feuerlinie arbeiteten, unterstrich er ihr Recht auf die Achtung ihrer Ehre. »Ablehnend verhält sich die deutsche Heeresverwaltung solchen Besuchen von Gefangenenlagern gegenüber, denen jeder praktische Wert abgesprochen werden muss, und die lediglich in das Gebiet der Schaustellung fallen. Die kriegsgefangenen Feinde sind Menschen, deren restlose Pflichterfüllung die deutsche Heeresverwaltung anerkennt und unbedingt achtet. Diese Menschen, die psychisch unter dem Druck der Kriegsgefangenschaft schon genug leiden, als Besichtigungsobjekte der allgemeinen Neugierde auszusetzen, hält Deutschland für unter seiner Würde.«459 Die Inspektionsreisen neutraler Beobachter/innen galten als geduldet, nicht als erwünscht. Sie waren zwar mit großer Bewegungsfreiheit und Transparenz konzipiert worden, gleichwohl unterlagen sie einer minutiösen Steuerung durch die Zuständigen im Preußischen Kriegsministerium. Diese behielten sich stets die Sperrung von Orten aus »militärischen Rücksichten« vor. Zudem standen die Reisen unter dem prekären Paradigma der Gegenseitigkeit. Der preußische stell458 Zusätzlich sollte 1918 der Besuch neutraler Vertreter bei britischen Staatsbürgerinnen, die wegen Spionageverdachts inhaftiert waren, als Vergeltungsmaßnahme verboten werden. Siehe: Staatssekretär d. Reichs-Justizamtes an u. a. d. Bundesregierungen, 15.5.1918, in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 633. 459 Preuß. KM (gez. Hauptmann Draudt) an d. AA, Legationsrat v. Keller, 28.8.1916, in: BArch Berlin, R 901/84210.
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vertretende Kriegsminister verbot beispielsweise im September 1916 den dänischen Inspekteuren den Besuch der Zivilgefangenenlager, solang die russische Regierung den Besuch bei deutschen Zivilgefangenen untersage.460 Das dänische Inspektionsunternehmen veranschaulicht zugleich die weitergehenden Beeinflussungsversuche der Militärverantwortlichen. Zum Zweck der Zensur ließen sie das Tagebuch des Kommissionsmitglieds Prof. Dr. Erlandsen bei seiner Ausreise beschlagnahmen. Vertreter des Preußischen Kriegsministeriums wie des stellvertretenden Generalstabes der Armee hegten Bedenken, weil dieses »neben einer ungünstigen Beurteilung der Lage der gesunden Kriegsgefangenen […] die Wiedergabe von Bemerkungen der Kriegsgefangenen ohne jeden Kommentar, gewissermassen als Bestätigung der eigenen Meinung« enthielt. Erlandsen hatte aus ihrer Sicht gegen die ungeschriebenen Regeln einer unparteiischen, im Sinne der Offiziere ausgewogenen Untersuchung verstoßen. »Ganz im Gegensatz hierzu war das Verhalten der anderen dänischen Herren, welche es verstanden, […] ihre neutrale Stellung vollauf zu wahren.«461 Einerseits wollten die Heeresverantwortlichen einen auf den Aufzeichnungen beruhenden, politisch brisanten Bericht verhindern. Andererseits hätte ein Zurückbehalten des Tagesbuches wohl zu erheblichen diplomatischen Verwerfungen geführt. Deshalb übersandten sie es schließlich an die dänische Regierung. Die Rapporte der Gesandten und Delegierten erregten nicht selten das Missfallen der Militärverantwortlichen, die vor allem die Umstände der Inspektionen, die Aussagen der Internierten oder gar die Neutralität der Delegierten selbst in Frage stellten. Dies musste auch der spanische Delegierte Ricardo Murillo erfahren. Nach einem kritischen Bericht an seine Botschaft wurde von Seiten des Preußischen Kriegsministeriums erklärt, dass dieser »nur auf eine Kette von Mißverständnissen zurückzuführen« sei, die wohl vor allem auf »sprachlichen Schwierigkeiten« beruhten.462 Die Internierten hätten ihm gegenüber »unberechtigte Klagen oder unwesentliche Vorkommnisse übertrieben oder entstellt« vorgebracht. Darüber hinaus hätte er es versäumt, die Klagen »an Ort und Stelle einer sachlichen Prüfung« zu unterziehen. Aber nicht nur staatliche Akteure kritisierten die Berichte, wie dem Schweizer Nationalrat Arthur Eugster bewusst wurde. Er sah sich mit Anfeindungen aus der französischen Presse konfrontiert. Der Vorwurf gegen ihn lautete unter anderem, dass seine Berichte einseitig und deutschfreundlich seien.463 Seinen Kritikern entgegnete er: »Es gibt nur eins: Nach bestem Wissen und Gewissen seine Pflicht 460 Preuß. KM (gez. Wandel) an d. Dänischen Gesandten in Berlin, 26.9.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/84542. 461 Preuß. KM (gez. Bauer) an d. Reichskanzler (AA), 30.12.1916, in: BArch Berlin, R 901/85452. 462 Preuß. KM (gez. Reid) an d. AA, 11.3.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 463 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster u. C. de Marval, S. 3 f. u. Dieter Riesenberger, Für Humanität in Krieg und Frieden. Das Internationale Rote Kreuz 1863–1977, Göttingen 1992, S. 73 f.
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tun, die Wahrheit suchen und ihr die Ehre geben und um Dank und Undank sich nicht kümmern. […] Als neutraler Schweizer glaube ich legitimiert zu sein, Vertrauen zu fordern.«464 Sein Mitstreiter Carle de Marval (1872–1939), der ebenfalls als neutraler Inspekteur beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz tätig war, musste während seiner Lichtbildvorträge über seine Reisen nach Frankreich Beschimpfungen ertragen. Im Vorfeld eines Auftritts in Berlin denunzierte ihn ein schweizerischer Kunsthistoriker.465 Er bezichtigte de Marval, ein »gewissenloser Heuchler und Lügner« zu sein. Obwohl die Verantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium daraufhin starke Bedenken gegen den Vortrag hegten, einigten sie sich, den neutralen Berichterstatter gewähren zu lassen, weil ein Auftrittsverbot »schwere Nachteile haben könnte, die besser vermieden werden«.466 Emil Friedrich traf zugleich Vorsorge, »daß de Marval Dinge politischer Natur nicht berührt«.467 Unwillen löste gleichfalls die Britin Emily Hobhouse (1860–1926) aus, die im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) über britische Konzentrationslager in Südafrika berichtet hatte. Sie besuchte gegen den Willen der britischen Gesandtschaft in Bern Internierungslager in Belgien und Deutschland und publizierte anschließend ihre Eindrücke. Für zu wohlwollende Schlussfolgerungen wurde sie in Großbritannien in der Presse und im Parlament angegriffen.468 Der US-amerikanische Inspekteur Daniel J. McCarthy betrachtete die Beobachtermissionen als schwierige Unternehmungen und wies auf die voraussetzungsreiche Arbeit der Delegierten hin.469 Nach Kriegsbeginn hätte das Inspektionswesen zügig organisiert werden müssen, und Botschaftsmitarbeiter seien dafür kurzfristig in die Pflicht genommen worden. Sie waren allerdings Diplomaten und keine Ärzte oder Offiziere. Es fehlte ihnen seiner Meinung nach an einem speziellen Training für ihre neuen Aufgaben, und zum Teil seien die Rekrutierten zu jung gewesen. »For a young man just out of college to presume to tell a general in the German Army how to run his camp was naturally looked as presumptuous.«470 Geeignete Inspektoren zeichne demnach eine eigenständige Persönlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit aus. Er leitete aus seinen Erfahrungen einen Anforderungskatalog an die Inspekteure ab, die keine Laien mehr sein sollten, sondern Experten der Kontrolle. 464 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 2: Berichte v. A. Eugster u. C. de Marval, S. 4. 465 Ernst v. Meyenburg an Konteradmiral z. D. J. Meier, 18.5.1915, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1149, Qu. 1281. 466 Preuß. KM (gez. Rohde) an d. Staatssekretär d. AA, 29.5.1915, (Abs.) in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1149, Qu. 1282. 467 Preuß. KM (gez. Friedrich) an d. Chef d. stv. Generalstabs d. Armee, 31.5.1915, (Abs.) in: Ebd. 468 Stibbe, Ein globales Phänomen, S. 174 u. John Crangle u. Joseph Baylen, Emily Hobhouse’s Peace Mission, 1916, in: Journal of Contemporary History, Vol. 14 (1979), No. 4, S. 731–744. 469 McCarthy, The Prisoner of War in Germany, S. 31 ff. 470 Ebd., S. 32.
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»I further recommend that such other men having charge of the inspection should be trained physicians with the working knowledge of large social service problems, hygiene and hospital or camp inspection, with some knowledge of military form and procedure and with sufficient assurance and tact to stand firmly for their rights in the inspection and for the correction of evils wherever they existed. It would appear that these were high qualifications to expect in one man.«471 Daniel McCarthy machte feinsinnig auf die prekäre Rolle der neutralen Delegierten im Inspektionssystem aufmerksam. Sie waren eigenständige Akteure, die sich mit ihren Besuchen zuerst gegenüber den Lagerkommandanturen behaupten mussten. Alsdann versuchten sie, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen.472 Schließlich hatten sich ihre Berichte durchzusetzen, die sich in Debatten um die ›wirklichen‹ Zustände in den Lagern einschrieben. Dabei konkurrierten sie mit Zeitzeug/innen, Behauptungen in der internationalen Presse und ›deutschen‹ Schriften über die Gefangenenlager. Sie schrieben für ein breites Publikum aus Botschaftern, Militär- und Zivilvertretern und den Bevölkerungen der kriegführenden Staaten. Ein Erfolg ihrer Arbeit, das heißt eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Lagern, hing mithin von ihrer Fähigkeit ab, ihre Person als neutral darzustellen. Hierzu gehörte die fortwährende Beteuerung der eigenen Unabhängigkeit und ein Urteil, das als ausgewogen Akzeptanz fand. Gleichzeitig mussten ihre Dokumentationen als besonders authentisch und objektiv gelten. Dies sollte vor allem durch einen spezifischen Beobachterblick und ein wiederkehrendes, standardisiertes Design der Inspektionsberichte erreicht werden, an dem sich die neutralen Botschaftsdelegationen ebenso wie die Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz orientierten.473 Zu dem normierten Blick auf die Lager gehörte eine distanzierte, aufzählende, stakkatoartige Beschreibungssprache und ein Kategoriensystem, das die einzelnen materiellen und zum Teil immateriellen Faktoren der Internierung erfasste. In den Berichten Arthur Eugsters und Carle de Marvals, der bereits als Beobachter in den Balkankriegen tätig gewesen war, wurden folgende Teilbereiche erfasst: Unterbringung, Kost, Lager, Kleidung, Gesundheitszustand, Arbeit, Zerstreuungen, Gottesdienst, Korrespondenz, Paket- und Geldverkehr, Wünsche der Gefangenen
471 Ebd., S. 33. 472 Siehe ebenso: Hoffmann, In the Prison Camps of Germany, S. 30 f. 473 Die Berichte der Gesandtschaften wurden nicht systematisch publiziert. Einige der US-amerikanischen Berichte fanden Abdruck in den Veröffentlichungen des Britischen Parlaments. Z. B.: Parlamentary Papers, Cd. 7863, Note from the United States Ambassador transmitting a Report, dated Juni 8, 1915, on the conditions at present existing in the Internement Camp at Ruhleben, Misc.-No. 13 (1915).
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und Bemerkungen oder Verbesserungsvorschläge.474 Diese Kategorisierung galt in Nuancen während des gesamten Krieges.475 Sie garantierte neben der Möglichkeit des Vergleichens eine zügige Erfassung der Lagerzustände. Dies war notwendig, da die Delegierten innerhalb weniger Tage eine Vielzahl an Lagern und Arbeitskommandos besichtigten. Eugster und de Marval unternahmen beispielsweise im Auftrag des Roten Kreuzes zwischen dem 14. und 22. Mai 1915 eine Reise, die im Gefangenenlager in Blankenburg in der Mark startete. Von dort aus legten sie mehr als 1100 Kilometer zurück über die Lager in Merseburg (16.5.), Halle (Saale, 17.5.), Torgau-Zinna (17.5.), Bautzen (18.5.), Bischofswerda (18.5.), Nürnberg (19.5.), Amberg (20.5.), Ludwigsburg-Eglosheim (21.5.) und Hohen-Asperg (21.5.) nach Stuttgart (21.5.). Die Professionalisierung der Inspektionen ging einher mit dem Versuch, sie effizient, ergebnisorientiert und routiniert zu gestalten. Berichte, die die Erfahrungsdimension der Internierten berücksichtigten, waren bei dem enormen Reisepensum schwer vorstellbar und gehörten zu den Ausnahmen.476 Im Vordergrund ihrer Verbesserungsvorschläge für die Lager standen schnell umsetzbare und wenig kostenintensive Verbesserungen wie zusätzliche Decken für die Gefangenen, Ausbesserungen an den Baracken oder die Einrichtung kultureller Räumlichkeiten. Die einzelnen Berichte waren nicht darauf angelegt, die Gefangenen akribisch zu unterscheiden und die Internierungsbedingungen in Bezug zu ihrer physischen und psychischen Situation oder zu ihrer Gefangenengeschichte zu setzen. Ebenso eine Randerscheinung bildeten individuelle, emotionale Schilderungen. Der Delegierte Anton von Schulthess (1855–1941) ließ solche in seinen Bericht über das Zivilinternierungslager Lauban einfließen, als er beklagenswerte Menschen schilderte, die, ihrer Heimat entwurzelt, sich um das tägliche Leben sorgten und sonst der Welt mit Gleichgültigkeit gegenübertraten.477 Von dieser Systematik stärker abweichend, inspizierten dänische Rot-KreuzDelegierte im Jahre 1915 die Lager mit moralischem Urteil und spitzer Feder. Über das Zivilgefangenenlager in Gütersloh urteilten Natalie Orjewsky und Erik Henius: »Es war ein trauriger Anblick, diese so ganz verschiedenen Menschen, die eigentlich mit dem Kriege nichts zu tun haben und die schon lange interniert sind, zu sehen. Ihre Lage ist sicher eine noch bedauernswertere als die der Kriegsgefangenen und ganz besonders die derjenigen, die von den besetzen 474 Exemplarisch: IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 3: Berichte v. A. Eugster u. C. de Marval, S. 32–47. 475 Vgl. z. B. CICR (Hg.), Documents publiés à l’occasion de la guerre, Série 17: Rapport de René Guillermin, Octobre–Novembre 1917. 476 Vgl. die Ausführungen Schulthess’ über das Lager Lauban: CICR (Hg.), Documents publiés à l’occasion de la guerre, Série 11: Rapport de A. von Schulthess et F. Thormeyer, Avril 1916, S. 41 f. 477 Ebd.
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Gebieten hergebracht sind und teilweise absolut keine Möglichkeit haben, mit ihren Angehörigen in Verbindung zu treten.«478 Über ihren Besuch im Lager Hassenberg bei Coburg schrieben sie: »Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Zivilgefangenen […] ohne Vergleich schlechter untergebracht sind – und es fällt einem auf, daß in einem Land, wo sonst so viel in Hinsicht auf sanitäre Einrichtungen gemacht wird, ein solches Haus in einem solchen Zustande […] als Aufenthalt für mehrere hundert Menschen benutzt werden darf. Der beschränkte Hofraum, der einzige Spaziergang der Einwohner, zusammen mit dem naheliegenden Friedhof, wo die Opfer der früheren Seuchenkrankheit beerdigt sind, machen einen unheimlichen Eindruck.«479 Im Kontrast zu Berichten schweizerischer Delegierter und neutraler Gesandtschaften werden die kaum vorhandenen Anhaltspunkte für lagerübergreifende Vergleiche und aufeinander aufbauende Verbesserungen ersichtlich. Die dänischen Kommissionsurteile zielten nicht auf eine einsichtige Verständigung ab. Die Wertungen der Berichterstatter/innen suchten keine Verhandlungsbasis mit den lokalen Militärverantwortlichen. Sie konfrontierten diese mit humanitären Versäumnissen. Ihr abschließendes Urteil gewährt Einblicke in eine Wahrnehmungstendenz, welche weitaus zurückhaltender und untergründiger ebenfalls in vielen anderen Berichten ihren Ausdruck fand: »Von allen Gefangenen befanden die Zivilgefangenen sich in der bedauerlichsten Lage; meistens sind sie viel schlechter als die Mannschaften untergebracht und werden auch unbefriedigend verpflegt, obwohl sich unter diesen Gefangenen Leute höheren Standes befinden.«480 Die Inspekteure drangen in das weitgehend abgeschlossene Ökosystem der Internierungslager ein, öffneten es für die lesenden Blicke eines internationalen Publikums481 und vermittelten wichtige Aspekte der dortigen Lebensbedingungen. 478 Berichte der dänisch-russischen Kommissionen, S. 15 (Besuch d. Lagers Gütersloh, 29.9.1915). 479 Berichte der dänisch-russischen Kommissionen, S. 30 (Besuch d. Lagers Hassenberg, 23.10.1915). 480 Ebd., S. 93. Obwohl die Delegierten im Abschlussbericht Fortschritte beim Ausbau der Lager erkannten, bewerteten sie das Kriegsgefangenenwesen (besonders die Lager für russländische Gefangene) insgesamt als ungenügend. Die Schlafstellen seien »unsauber«, die Verpflegung »unbefriedigend«, die Bekleidung »tadelnswert«. Darüber hinaus seien die Lager uneinheitlich in Bezug auf Strafen, Löhne und Kantinen organisiert. Siehe: Ebd., S. 90 ff. 481 Die Inspektionsreisen und die Berichte wurden von internationalen Pressepublikationen aufmerksam verfolgt. Zum Beispiel für Frankreich: Les prisonniers de guerre. Ce qu’a vu le Délégué de la Croix-Rouge de Genève, in: Le Petit Parisien, 11.2.1915 (Nr. 13984) u. Pour les prisonniers de guerre, in: Le Matin. Derniers télégrammes de la nuit, 11.2.1915 (Nr. 11307) u. Chez les prisonniers français en Allemagne, in: Le Temps, 2.3.1915 (Nr. 19596) u. La Mis-
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Obwohl es sich bei ihren Berichten nur um schriftliche Momentaufnahmen handelte, fungierten sie im Rahmen von Verbalnoten neutraler Staaten als mögliche Faktoren einer Veränderung in den Internierungslagern. Gleichwohl gaben die neutralen Delegierten den Internierten keine Stimme und keinen Raum, über ihre individuellen Erlebnisse zu berichten. Erst die Entlassenen hatten die Möglichkeit ihre Erfahrungen mitzuteilen. Sie erhielten Aufmerksamkeit von diplomatischen Vertretern ihrer Regierungen und von Journalisten, die sich einem Informations- und wohl ebenso einem Sensationsinteresse verpflichtet fühlten. Die ehemals Internierten wurden zu umworbenen Informationsträger/innen, deren Schilderungen als authentisch galten. Welche weitreichenden Folgen dies innerhalb einer öffentlichen Empörungsspirale zeitigen konnte, offenbarten im Deutschen Reich Carl Peters und Emil Selcke. Denn individuelle und persönliche Erfahrungen verdichteten sich in Zeitungsartikeln, Untersuchungsberichten, selbständigen Publikationen und Regierungsmemoranden zu politischen Statements. Die Entlassenen erwarben im Zuge dessen einerseits eine spezifische Deutungsmacht. Anderseits hatten sie wenige Möglichkeiten, die Instrumentalisierung ihrer Erzählungen zu vermeiden. Die Befragungen stellten jedoch mithin erste Versuche dar, die vergangenen Erlebnisse sprachlich einzuordnen. Meist waren es zerbrechliche Bemühungen der Rückeroberung der eigenen Stimme, des Sprechens über die Erfahrungen und der Deutung der Lebensumstände während der Internierung. Für die offizielle französische Untersuchungskommission zur Feststellung der Verletzung der Menschenrechte durch die Kriegsgegner waren die Berichte der Heimkehrenden Beweise für die schlechte Unterbringung und Versorgung der aus Nordfrankreich Deportierten482 sowie für ihre soziale und moralische Verwahrlosung.483 Die Befragten beklagten im Falle Holzmindens vor der Kommission die schlechten Schlafbedingungen auf mit Holzspänen befüllten Matratzen, die wenigen Decken, die Kälte in den Baracken während der Wintermonate, die geringe Zuteilung an Kohlenbriketts, das schlechte und zu wenige Essen, denn meist sei ihnen nur Suppe mit Kartoffeln und unbekömmliches, bitteres Schwarzbrot serviert worden. Butter und besseres Brot mussten sie sich in der Kantine kaufen. Sie hätten grundsätzlich unter der mangelnden Hygiene gelitten. Viele
sion de M. L’Abbé Dévaud, auprès des prisonniers, in: La Croix, 2.3.1915 (Nr. 9806, Supplément). Für Deutschland: Die Zustände in französischen Gefangenenlagern, in: Badischer Beobachter, 26.6.1915 (Nr. 290). 482 Documents relatifs à la guerre, 1914–1915, Bd. 2, S. 7–16. 483 Ministry for Foreign Affairs, French Republic to the Embassy of the United States, 4.11.1915, Enclosure 3 (11.1915), in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 289, Doc.-No. 763.72114/1006 (National Archives Identifier: 27297860).
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Internierte seien in einem schlechten Gesundheitszustand und meist nur noch erschöpft gewesen.484 Die in Frankreich Angekommenen erzählten von einem Leben unter den Internierungsbedingungen, die neutrale Beobachter/innen fortwährend dokumentiert hatten. Mit Wucht füllten sie die erlebten Zustände mit ihren Empfindungen aus. Der Schlaf wird ungemütlich, die Decken halten die Kälte nicht fern, das Brot schmeckt bitter und Erschöpfung durchdringt das Lebensgefühl. Die politische Instrumentalisierung ihrer Schilderungen außer Acht lassend, ergänzten sie die vorhergehenden Blicke in die Lager und fügten diesen eine mögliche Deutung hinzu, die in Konkurrenz trat zu den Berichten der neutralen Delegierten und der Militärvertreter. Ihre Zeugenperspektive fand Eingang in diplomatische Denkschriften wie zum Beispiel in jene der belgischen Regierung vom Mai 1918, in welcher ein Arbeitszwang und daraus hervorgehende Sanktionen im Lager Holzminden verurteilt wurden. Demnach seien vom 13. August bis 19. September 1917 30 Frauen aufgrund ihrer Arbeitsverweigerung mit Abschottung und Nahrungsmittelentzug bestraft worden. Neutrale Inspektoren erfuhren von dieser Maßnahme durch die Holzmindener Kommandantur. Aus ihrer Sicht sollten die Arbeitswilligen von den aufwiegelnden Verweigerern getrennt, diese zur »Sinnesänderung« gedrängt und somit die Ruhe wie Ordnung im Lager gewährleistet werden.485 Einer Augenzeugin zufolge führte die Situation die Bestraften in einen physischen und emotionalen Ausnahmezustand. »They would perhaps have died of hunger if charitable hands had not passed them, surreptitiously, a little food prepared secretly. From four o’clock in the afternoon until midnight, these unfortunates had to get along without any toilet receptacles. The proposal that they should give in only aroused their indignation. Their mattresses and blankets, and even the woolen clothing which they wore, were taken from them.«486 Die Betroffenen seien anschließend, nur eine Stunde bevor die spanische Gesandtschaft das Lager besuchte, entlassen worden. Eine beigelegte Anordnung für das Frauenlager unterstützte die Aussage der Zeugin. Darin hieß es, dass sich die Frauen weiterhin weigern würden, Arbeit aufzunehmen. 484 Documents relatifs à la guerre, 1914–1915, Bd. 2, Dok.-Nr. 43–45 u. 66–78, S. 37–39 u. 49– 55. Diese Aussagen wurden ebenso in späteren Schriften aufgegriffen: Léonie Chaptal de Chanteloup, Rapatries, 1915–1918, Paris 1919, bes. S. 45–49. 485 Preuß. KM (gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 486 Légation de Belgique, Washington D.C. to Robert Lansing, Secretary of State, 29.5.1918, Inclosure 4 (4.5.1918), in: US-NA MP, Microcopy No. 367, Records of the Department of State, Roll 353, Doc.-No. 763.72115/3340 (National Archives Identifier: 27353183).
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»Beginning on Friday, September 14, there will again be enforced the prohibition against receiving letters, cards, and packages. At the same time, blankets and mattresses will be taken away as heretofore. I direct particular attention to the fact that I shall punish pitilessly every effort to give those who refused to work the things which they are forbidden to have – blankets, mattresses, especially food.«487 Es gehörte zu den Grundlagen des Internierungssystems, dass auch diese Anklagen, die den Weg in die französische Presse gefunden hatten,488 von den lokalen Militärverantwortlichen beachtet wurden. Diese empfanden die Vorwürfe als eine »maßlose und gehässige Übertreibung« und bewerteten die Sanktionen als »sehr milde Maßnahmen«.489 Diese Entgegnung, die als exemplarisch gelten kann, reihte sich in eine kaum variierte Antwortstrategie ein. Viele Klagen wurden als »unberechtigt« zurückgewiesen, weil die Berichterstatter die Internierten falsch verstanden hätten, ihre Schlussfolgerungen »auf eine Kette von Missverständnissen zurückzuführen« oder sprachliche Verständigungsprobleme aufgetreten seien.490 Die staatlichen Verantwortlichen unterstellten den ehemaligen Internierten zudem, der »deutsch-feindlich gesinnten Presse übertriebene und unzutreffende Angaben« zu liefern.491 Sie gestanden selten Probleme ein, und wenn dies geschah, erklärten sie, dass diese bereits behoben seien.492 Die unveröffentlichten militärischen Stellungnahmen in den Archivbeständen des Auswärtigen Amtes verdeutlichen einen im Krieg praktizierten Status quo der Vermessung der Zustände in den Lagern. Die Militärverantwortlichen in Berlin konnten sich entgegen ihrem Unwillen und ihrer Entrüstung gegenüber ehemaligen Internierten, neutralen Inspektoren und diplomatischen Interessenvertretern ihren Beschwerden und Vorwürfen nicht verschließen. Sie setzten Antworten auf und ein Inspektionsnetzwerk in Geltung, innerhalb dessen die Lagerkommandanturen damit rechnen konnten, sich für ihr Handeln und ihr Unterlassen rechtfertigen zu müssen. Den normativen Praktiken der Internierung wurde dadurch eine ideelle Grenze gesetzt, die weniger einer Verschärfung der Sanktionsinstrumentarien und Vergeltungsmaßnahmen vorbeugte als vielmehr die Internierten vor willkürlichen, unbegründeten situativen Maßnahmen schützen konnte. 487 Ebd. 488 L’École du Malheur. Les Femmes Françaises au Camp d’Holzminden, in: L’Homme Libre, Journal quotidien du matin, 24.2.1918 (Nr. 605). 489 Preuß. KM (gez. v. Buttlar), betr. Lager Holzminden, an d. AA, 20.6.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 490 Preuß. KM (gez. Reid) an d. AA, 11.3.1918, in: BArch Berlin, R 901/84337. 491 Preuß. KM (gez. v. Fransecky), betr. Lager Havelberg, an d. AA, 2.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84319. 492 Preuß. KM (gez. Rohde), betr. Bemerkung d. Vertreters d. Spanischen Botschaft über d. Besuch im Lager Holzminden am 24.8.1916, an d. AA, 6.2.1917, in: BArch Berlin, R 901/84337.
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Maximilian von Baden regte im Juni 1918 zusammen mit dem Direktor des preußischen Unterkunfts-Departements Emil Friedrich eine Institutionalisierung dieses Status quo in einem eigenständigen Ministerium »mit einem Mann von internationalem Gewicht an der Spitze« an. »Seine Aufgabe sollte eine doppelte sein«, erinnerte er sich Mitte der 1920er Jahre. Zum einen hätte der Minister die »öffentliche Abwehr von Verleumdung« zu organisieren gehabt. Zum anderen sollte ein »einheitliches Regiment über die Gefangenenlager, das alle sachlichen und Personenfragen fest in der Hand hielte und dadurch jede Abweichung von der humanen Linie zu verhindern in der Lage wäre«, geschaffen werden. Der spätere Reichskanzler blickte hierbei sowohl auf Verbesserungen im Gefangenenwesen als auch auf die mobilisierende, emotionale Wirkung verstörender Berichte für die Bevölkerung in gegnerischen Staaten. Von Baden forderte in diesem Zusammenhang ebenfalls die Einsetzung einer »Gefangenenkommission, bestehend aus Männern mit internationalem Ansehen«, welche die Vorwürfe aus dem Ausland überprüfen und beantworten sollte.493
Wort- und Bildgefechte über die eine Wirklichkeit der Internierung Zu den öffentlichkeitswirksamen Entgegnungen internationaler Anschuldigungen zählte die von Joachim Kühn (1892–1978) herausgegebene Sammlung Aus französischen Kriegstagebüchern.494 Der Diplomat und Publizist495 wollte »die Gefangenen selber sprechen« lassen, um die französischen Anklagen wegen Kriegsrechtsverletzungen zu widerlegen. Dazu zitierte er umfangreich aus Kriegstagebüchern, die von den Gefangenen zwangsweise eingesammelt worden waren. Abseits der darin niedergelegten Erfahrungen, die vielfältige Generalisierungen entkräfteten, verfolgte Kühn mit der Quellenwahl die Absicht, Darstellungen zu diskreditieren, die ihre Erkenntnisse aus Briefen und Zeugenaussagen schöpften. Diese hätten eine »parteiische Färbung« oder den »verstimmenden Beigeschmack erpreßter oder verabredeter Arbeit«. Das ihm vorliegende Material sei dahingehend von »wissenschaftliche[m] Wert«, eine »Quelle ersten Ranges« und »von der ersten bis zur letzten Zeile authentisch«.496 Kühn versuchte dementsprechend die Auseinandersetzung nicht inhaltlich zu führen und nicht »mit den üblichen Mitteln methodischer Kritik«. Denn er bestritt grundsätzlich den Aussagewert französischer Veröffentlichungen wie deren Quellen und ließ keine Zweifel daran, dass er im Besitze ›wahrhaftiger‹ Belege für das Los der Gefangenen in Deutschland sei.
493 Von Baden, Erinnerungen und Dokumente, S. 16 u. 280 ff. 494 Joachim Kühn, Aus französischen Kriegstagebüchern. Bd. 1: Stimmen aus der deutschen Gefangenschaft u. Bd. 2: Der »Poilu« im eigenen Urteil, Berlin 1918. 495 Kühn wirkte als Referent bei der deutschen Waffenstillstandskommission in Spa und arbeitete anschließend mit Unterbrechung bis 1958 im Auswärtigen Dienst. 496 Kühn, Aus französischen Kriegstagebüchern, Bd. I., S. 7 f.
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»Worauf es jetzt ankommt,« schrieb er, »ist die Vorlage von Dokumenten, die sich mit dem schlimmsten Willen nicht widerlegen lassen«.497 Die Militärverantwortlichen setzten gleichzeitig den ausländischen Vorwürfen mehr als ihre schriftlichen Antworten entgegen. In einer großformatigen Broschüre veröffentlichten sie 250 »Wirklichkeitsaufnahmen« aus deutschen Kriegsgefangenenlagern nebst einer Betrachtungsanleitung.498 Diese stellte Alexander Backhaus (1865–1927) zusammen, ein nationalliberaler Reichstagsabgeordneter und Professor der Landwirtschaft an der Universität Königsberg, der im Weltkrieg als Referent im Preußischen Kriegsministerium arbeitete. Noch vor seinen einleitenden Worten wies der Verleger im Klappentext auf die Absicht des Fotokatalogs hin. »Als ein Zeugnis deutscher Art möge dieses Buch hinausgehen in alle Welt. Klar und sachlich widerlegt es alle Verleumdungen, die unsere Feinde über Deutschlands Gefangenenbehandlung zu verbreiten wußten. Gegen dieses Buch gibt es keine Lüge. Rund dreihundert Wirklichkeitsaufnahmen aus allen größeren deutschen Gefangenenlagern reden eine Sprache, die nicht widerlegt werden kann.«499 Die Veröffentlichung sollte dazu beitragen, die Internierungslager gegen Kritiker zu immunisieren. Hauptsächlich gegliedert nach den Gesichtspunkten der Delegiertenberichte – unter anderem: Unterkunft, Innere Einrichtung, Aufsicht und Bewachung, Ernährung, Körperpflege, Krankenfürsorge, Beschäftigung, Unterhaltung, Religiöser Kultus –, wurden die Fotografien diesen sprachlichen Zugängen entgegengesetzt. Sie zeigten von den zivilen Internierten hauptsächlich Gruppenansichten: Männer in Traunstein, Frauen mit Waschschüsseln und »Schulkinder« mit ihren Lehrern in Holzminden, einen Spielplatz mit Schaukel und Wippe in Rastatt und im selben Lager einen Gottesdienst und eine Sportveranstaltung. Es handelte sich um arrangierte Momentaufnahmen von Personengruppen, die eine Alltäglichkeit der Kriegs- und Zivilgefangenschaft fokussierten, in die soziale Not, psychische Wunden und militärische Gewalt keinen Eingang fanden. Die Veröffentlichung für ein breites Publikum deutet eine gewisse Akzeptanz dieses Status quo an. Die fotografische Abbildung von Internierten fand Anknüpfungspunkte in journalistischen Dokumentationen. »Wie wir internierte Russen und Franzosen 497 Ebd., Bd. II, S. 7. 498 Die Kriegsgefangenen in Deutschland. Gegen 250 Wirklichkeitsaufnahmen aus deutschen Gefangenenlagern mit einer Erläuterung von Professor Dr. Backhaus. In deutscher, französischer, englischer, spanischer und russischer Sprache, hg. von Alexander Backhaus, Siegen 1915 (Verlag: Hermann Montanus, 1. Auflage: 30.000). Zivilgefangene werden auf den Abbildungen 10, 11, 12, 56, 84, 156, 158, 159, 164, 180, 181, 188 und 225 gezeigt. 499 Die Kriegsgefangenen in Deutschland, Klappentext (November 1915).
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behandeln«, lautete eine Schlagzeile der Zeitungsmacher in der ersten Ausgabe der Deutschen Kriegszeitung.500 Darunter präsentierten sie fünf Fotografien aus dem Barackenlager Döberitz in der Nähe Berlins, die lediglich durch kurze Untertitel wie »Leben und Treiben« oder »Vor der Frauenbaracke« eine Erläuterung fanden. Den späteren fotografischen Blicken gleichend, zeigten die Aufnahmen Frauen und Männer vor Barackengebäuden. Die Leser/innen sahen sie in Reihen mit ihrem Essgeschirr angetreten, bei der Essensausgabe und beim Kartenspielen. Dies sollte die angemessene Behandlung von zivilen Angehörigen feindlicher Staaten belegen. Die stumme, heile Welt der Internierungslager stand nicht zur Disposition. In der vom Ausschuß für Rat und Hilfe in staats- und völkerrechtlichen Angelegenheiten für In- und Ausländer herausgegebenen Schrift Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern,501 die ganz ähnliche Aufnahmen enthielt, wurde diese Alltäglichkeit und ihre Humanität jenseits jedwedes Ausnahmezustandes noch stärker betont. Im Begleittext hieß es über die Gefangenenlager, dass diese »in ihrer inneren Einteilung den Stempel der Menschlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Ordnung«502 trügen. »Jedes Lager ist sozusagen eine kleine Stadt, deren Einwohnerzahl sich zwischen tausend und fünfundzwanzigtausend bewegt.« Diese Vorstellung der Lager als funktional differenzierte Gemeinschaften illustrierten die abgedruckten Fotografien. Blickten die Betrachter/innen etwa nicht auf Kleinstädte, wenn sie sich durch Hauptstraßen, Küchenräume, Speiseräume, Krankenlazarette, Handwerksstuben, Waschräume, Feuerwehrlöschzüge, Theaterszenen, Fußballspiele, Brausebäder, Barbierstuben, Kirchenräume und Friedhöfe blätterten? Die Aufnahmen scheinen denen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz aus Holzminden und anderen Lagerabbildungen zu ähneln. Aber Fotografien in der französischen Zeitung Le Miroir konfrontieren die Betrachter/innen mit einem kontrastierenden Blick auf die Internierungslager und entblößen die perspektivische Selektivität der »Wirklichkeitsaufnahmen«.503 Die französischen Redakteure wählten für ihre Darstellung der Erniedrigungen, denen »Frauen, Kinder und Alte, die außerhalb der Welt lebten«, ausgesetzt wären, vier Holzmindener Aufnahmen aus. Nur eine bildete das Motiv einer Interniertengruppe ab. Auf den anderen rückte der Stacheldrahtzaun, der das Männer- und Frauenlager von500 Wie wir internierte Russen und Franzosen behandeln, in: Deutsche Kriegszeitung. Illus trierte Wochen-Ausgabe, hg. vom Berliner Lokal-Anzeiger, 16.8.1914 (Nr. 1), S. 8. 501 Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 1.–3. Folge, Frankfurt a. M. 1915–16. 502 Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 1. Folge, S. 5. Ähnlich lautend: Alfons Paquet, Vorwort, in: Ausschuß für Rat und Hilfe (Hg.), Aus deutschen Kriegsgefangenenlagern, 2. Folge, S. 8. 503 Un camp de prisonniers civils a Holzminden, in: Le Miroir. Publication hebdomadaire, 12.12.1915 (Nr. 107), S. 12 f. 1918 veröffentlichte die Zeitung weitere Aufnahmen: Les heures les moins longues a Holzminden, in: Le Miroir. Publication hebdomadaire, 24.2.1918 (Nr. 222), S. 12 f.
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einander trennte, in den Bildmittelpunkt und dominierte den Blick der Kamera. Die Fotografien betonten hiermit die Segregation von Zivilisten in den Lagern und führten die kontroverse Debatte über die Lebensbedingungen in der Zivilgefangenschaft mithilfe fotografischer Zeugnisse fort. Sie hielten den »Wirklichkeitssammlern den Spiegel vor und zeigten die Vielstimmigkeit der Fotografien. Indem sie ebenfalls zum Mittel des erklärenden Bildkommentars griffen, verstärkten sie ihre Prämisse über die Zustände in Deutschland. Wohl im Unwissen darüber, dass der abgebildete Zaun nur das Lager aufteilte, erklärten sie ihren Zeitungsleser/innen, dass hinter dem Stacheldraht die Deportierten und vor ihm schaulustige ›Deutsche‹ zu sehen seien. »Hinter den Zäunen, die sie einpferchen wie Raubtiere, ertragen die Ausgegrenzten in Würde diese auferlegte Demütigung«, resümierten die Redakteure.504 In gleichem Maße kamen die »Wirklichkeitsaufnahmen« nicht ohne wegweisende sprachliche Deutungen aus. Die Internierung der Zivilisten erläuterte Backhaus dabei als Notwendigkeit unter der Prämisse der Humanität. »Aber nicht nur kriegsgefangene Soldaten wurden in den deutschen Gefangenenlagern aufgenommen; auch zahlreiche militärpflichtige feindlicher Länder, der Spionage Verdächtige und schließlich Bewohner aus besetzten Gebieten mußten zu ihrem eigenen Schutz auf längere oder kürzere Zeit interniert werden. Aus dem Gefangenenlager Traunstein sehen wir so männliche Zivilgefangene, aus dem Lager Holzminden Frauen und Kinder, deren Los die Heeresverwaltung auf jede nur mögliche Weise zu erleichtern sucht.«505 Nicht erst die Kommentierungen der Fotografien lassen die unerbittlich geführten Konflikte um divergierende ›Wirklichkeiten‹ hinter schriftlichen und bildlichen Zeugnissen sichtbar werden. Die Internierten und ihre Lebenssituation waren stets Teil einer kriegspolitischen Interpretation, um sinnhaft die Grausamkeit der Anderen oder die eigene Menschlichkeit zu beweisen. Mit Tagebüchern, Briefen, Zeugenaussagen, Inspektionsberichten, Rechtfertigungen und Fotografien versuchten die kriegführenden Parteien, ihre Deutungshoheit über die eine Wahrnehmung der Internierungslager zu behaupten. Ehe die vorgebrachten Materialien als Belege für bestimmte inhaltliche Standpunkte galten, wurden sie innerhalb einer Hierarchie der ›Wahrhaftigkeit‹ positioniert. Daraus sollten sie ihre Wirkung und ihre Überzeugungskraft schöpfen.
504 Nicht alle französischen Zeitungen wählten solch ausdrucksstarke Aufnahmen für die Veröffentlichung aus. In La guerre photographiée, 7.12.1916 (Nr. 6) stand ebenso wie in Le camp des prisonniers civils d’Holzminden, in: Gazette des Ardennes, Edition Illustrée (Nr. 54, 1918) beispielsweise die Dokumentation des Lageralltags im Vordergrund. 505 Die Kriegsgefangenen in Deutschland, S. 6.
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Die Situation und die Erfahrungen feindlicher Ausländer/innen rückten im Angesicht dessen in den Hintergrund. Ihre Erzählungen wurden als Bestätigung für das jeweilige Wissen um die Lage der Zivilgefangenen instrumentalisiert. Die daraus hervorgehenden Perspektiven schwankten zwischen ›angemessen‹ und ›menschenunwürdig‹. Sie brachten ›feindliche‹ Zivilisten zum einen als leidende Opfer und zum anderen als adäquat behandelte Feinde hervor. Schattierungen waren in dem damit einhergehenden Ausschließlichkeitsduktus von Anklage oder Verteidigung nicht vorgesehen. Die Internierten waren entweder Opfer oder Umsorgte, die Lager entweder Räume der demütigenden Entrechtung oder der sozialen Fürsorge. Dass sich die Diskussionen nicht nur um die Lebensbedingungen in den Lagern drehen sollten, sondern ebenso um die Würde der Internierten, arbeiteten die Le Miroir-Redakteure heraus. Sie hinterfragten die Position der Deportierenden wie der Zivilbevölkerung zu den Lagern. Und ihre Vermutung über Zaungäste war keinesfalls unzutreffend. In der Fotosammlung des Roten Kreuzes finden sich Aufnahmen, die Zivilisten vor und hinter den Außenzäunen zeigen.
Unsichere Vermutungen und Erwartungen über die internierten Zivilisten Die Gefangenenlager gehörten in den Jahren 1914 bis 1918 zum alltäglichen Erscheinungsbild im Deutschen Reich. Die Holzmindener Baracken waren von der Stadt aus zu sehen, und Fotografien hielten Zaungäste fest. Die Transparenz des Stacheldrahtes und die Sichtbarkeit der Internierten standen gleichwohl diametral zu fragmentarischen Kenntnissen und Einflussmöglichkeiten der Zivilverwaltung ebenso wie der Bevölkerung. Eine kritische Berichterstattung wurde in den späteren Kriegsjahren durch die Vorzensur behindert, der »[a]lle Aufsätze und bildlichen Darstellungen über Kriegsgefangene« und »Nachrichten über Abschiebung von Landeseinwohnern aus besetztem feindlichen Gebiet« unterlagen.506 Einblicke Einzelner, ob als Wachsoldaten oder im persönlichen Kontakt mit den Gefangenen, beschränkten sich auf Teilbereiche der Internierung. Die von ihnen weitergegebenen Informationen kursierten meist als unbestätigte Gerüchte unter den Einwohner/innen und den lokalen Zivilverantwortlichen. Wissens- und Handlungsgrenzen von Stadtmagistraten, Landräten und Polizeikommissaren waren nicht zuletzt aus der Verantwortungsverlagerung von zivilen zu militärischen Institutionen zwischen den Internierungsanordnungen vom 28. August und 6. November 1914 erwachsen.507 Die Zivilbehörden und die Bevölkerung hatten nach der Ansicht der Regierung Oberbayerns eine ergänzende Rolle bei der Zivilinternierung einzunehmen. Wäh506 Zensurbuch für die deutsche Presse, S. 9 u. 46. 507 Vgl. hierzu ebenso die vorangegangenen Ausführungen zu Donaueschingen und Kulmbach im Kapitel Ausweisen und Einquartieren.
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rend Kommandantur und Wachkommandos für das Lager in Traunstein die Verantwortung trugen, sollten zivile Akteure aufgrund möglicher Fluchtversuche sich verstärkt dem städtischen Raum zuwenden. Polizeibeamte hatten den Fremdenverkehr streng zu überwachen. »Insbesondere müssen Leute, welche unbekannt und der deutschen Sprache nicht ganz mächtig sind, im Betretungsfalle sofort angehalten und der nächsten Distriktpolizeibehörde oder Gendarmeriestation vorgeführt werden«, lauteten ihre Anweisungen. Wirte sollten »alle verdächtigen Fremden« sofort melden. Bahnbehörden müssten verhindern, dass Verdächtige Eisenbahnfahrkarten kaufen.508 Diese Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche gestaltete sich in der Praxis schwierig, weil sich Entschlüsse der Lagerkommandanten auf die umliegenden Städte und Gemeinden auswirkten. Dies betraf den Bereich wirtschaftlicher Maßnahmen, beispielsweise den Aufbau von eigenen Versorgungsketten, ebenso wie die Festlegung von Ausgehzeiten der Gefangenen oder ihre Entlassung. Die Akteure der Lokalbehörden hatten bei den militärischen Entscheidungen oftmals keine Mitspracherechte und konnten nur auf das umsichtige Handeln wie das Entgegenkommen der Militärverantwortlichen hoffen. Im Falle des Lagers Holzminden wird dies bei der Absetzung des Führungs- und Bewachungspersonals im Sommer 1917 deutlich. Nach einer kritischen Inspektion des Lagers durch einen höheren Offizier war der Kommandant zurückgetreten. Die Zivilbehörden wurden über den Vorgang und die Gründe nicht informiert. Der Kreisdirektor Rudolf Hoffmeister konnte nur Vermutungen anstellen und Gerüchte abwägen.509 Offenbar hatte die alte Kommandantur Kontakte der Einwohner/innen Holzmindens mit den Internierten nicht verboten und »das Gebaren der Gefangenen, welche sich früher häufiger in der Stadt zeigten«, geduldet. »Übrigens ist es nicht leicht, bei der Zurückhaltung, welche die Militärbehörde übt, ein klares Bild zu bekommen«, berichtete Hoffmeister dem Herzoglichen Staatsministerium in Braunschweig.510 Das Generalkommando stünde zwar mit der Stadtpolizeibehörde über die Aufenthaltsverhältnisse der Gefangenen »stets in unmittelbarer Verbindung«, gleichwohl verfahre es »bei der Verfolgung der Einzelfälle ganz selbstständig«, sodass eine Unterrichtung der Zivilbehörden nicht stattfinde. Der Holzmindener Kreisdirektor wies demzufolge zivile Einflussmöglichkeiten auf die im Lager registrierten Missstände zurück. Sie entzogen sich administrativ seinem Zuständigkeitsbereich und zusammen mit den unzureichenden Informationen sah er sich der Verantwortung entbunden. 508 Regierung von Oberbayern, KdI, an u. a. d. BzÄ Traunstein, Laufen, Berchtesgaden, u. d. Stadtmagistrat Traunstein u. Rosenheim, 29.9.1914, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 509 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 1.7.1917, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 22 ff. 510 Ebd.
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Die im pfälzischen Landau erfolgte Internierung Deportierter, die aus den besetzten französischen Gebieten stammten, erweitert die Perspektive auf unsichere Wissensbestände um eine öffentliche Dimension der Ereignisse. Die sich scheinbar ausschließenden Erzählungen zwischen den Kriegsgegnern um die eine Wirklichkeit der Internierung fanden sich ebenso im Deutschen Reich wieder. Ihre ausschließliche Deutung als Kriegspropaganda ginge daher fehl. Im Januar 1915 informierten die bayerisch-liberalen Münchner Neueste Nachrichten ihre Leserschaft über die in Landau eingetroffenen Zivilisten. »(2000 französische Zivilgefangene) sind seit einiger Zeit hier auf dem Ebenberg in 12 Baracken untergebracht. Es sind Männer, Frauen und Kinder aus allen Ständen und Berufsklassen, darunter auch ein Brauereidirektor und eine Gräfin. Der Wunsch einiger Insassen, in der Stadt wohnen zu dürfen, konnte selbstredend nicht erfüllt werden, wohl aber dürfen sie unter Begleitung von Landwehrleuten in die Stadt gehen und Einkäufe machen. Das Los der Gefangenen ist, wie sie selbst anerkennen, in jeder Hinsicht erträglich.«511 Am selben Tag erschien in der Straßburger Post ein Bericht über das Gefangenenlager auf dem Ebenberg, welcher der Münchner Darstellung stark ähnelte und die Schilderungen um eine Interpretation erweiterte:512 die Lagerwege seien »sauber«, hygienische Einrichtungen vorhanden und die Küche »musterhaft«. Demnach geschehe »alles erlaubte, um den Gefangenen ihr Los erträglich zu machen«. Ganz anders beschrieb hingegen der nationalliberale Pfälzische Kurier zwei Tage später die Situation. »Landau, 24. Jan. Unter den Frauen und Kindern in dem Gefangenen-Lager auf dem Ebenberg herrschte zu Anfang große Not, weshalb der Frauenverein vom Roten Kreuz sich im Einverständnis mit der Militärbehörde an die Einwohnerschaft wandte mit der Bitte, abgetragene gut erhaltene Kleider und besonders Wäsche zur Verfügung zu stellen. Da die Insassen des Lagers ausschließlich der ärmsten Klasse angehörten, so blieb eben nichts anderes übrig, als daß wir in geeigneter Weise für sie sorgten. […] [Wir glauben], daß es doch schicklicher ist, so intime Angelegenheiten wie die Wäsche der französischen Frauen, von denen etwa ein halbes Dutzend bis jetzt im Wochenbett liegt, dem Frauenverein zu übertragen.«513
511 2000 französische Zivilgefangene, in: Münchner Neueste Nachrichten, 22.1.1915 (Nr. 39), Ztga. in: HStA München, MInn 53976. 512 Meldung, in: Straßburger Post, 22.1.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 6, Dok.-Nr. 230, S. 159. 513 Meldung, in: Pfälzischer Kurier, 25.1.1915 (Nr. 20), Ztga. in: HStA München, MInn 53976.
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In weiten Teilen berichteten die drei Blätter ihren geografisch voneinander entfernten Leser/innen divergierende Geschichten. Die Zivilgefangenen und ihre Lebensumstände waren für die Zeitungskäufer/innen in München und Straßburg andere als in Speyer. Den beiden gegenübergestellten Zeitungsdarstellungen war gemein, dass sie als Faktenbeschreibungen auftraten und die nicht-alltägliche Situation des Lagers in Beziehung zu alltäglichen Begebenheiten – Wohnen, Einkaufen und Geburt – setzten. Darüber hinaus allerdings verfolgten die Artikel entgegengesetzte Erzählstrategien. Während in den Münchner Neueste Nachrichten eine heterogene Gruppe in Bezug auf Alter, Geschlecht und sozialem Milieu im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und der Unternehmer wie die Adlige hervorgehoben wurden, befanden sich nach dem Pfälzischen Kurier überwiegend Frauen und Kinder »der ärmsten Klasse« in dem Lager. Der erträglichen Situation stand die Erzählung großer Not gegenüber. Damit einhergehend unterschieden sich die räumlichen Bezugspunkte der Akteure. Im ersten Bericht gingen die Insassen aus dem Lager in die Stadt. Im zweiten betraten die Mitglieder des städtischen Frauenvereins das Lager. In beiden Beschreibungen verband die zeitlich begrenzte Zirkulation von Geld, Gütern und sozialer Fürsorge das periphere Lager mit der Stadt. Die bestehenden Grenzen stellten die Verfasser indes nicht in Frage. Dem Unternehmer und der Gräfin wie den Frauen im Wochenbett wurde der Auszug aus den Baracken nicht gestattet. Die Verschiedenheit der Zivilgefangenen galt nicht als Anlass für ihre differenzierte Behandlung. Die Redakteure verzichteten zwischen ihrer Schilderung zufriedenstellender Zustände und entgegenkommender Hilfe weitgehend auf kriegspolitische Aufrufe oder Appelle. Lediglich im Pfälzischen Kurier wurde der Genugtuung Ausdruck verliehen, dass »die Deutschen keine Barbaren sind«.514 Dennoch zeichneten die Artikel keineswegs nur eine zweckbestimmte Momentaufnahme des Lagers. Sie tradierten, übersetzten und veränderten die bestehenden Erzählungen über die Zivilinternierung innerhalb des Deutschen Reiches. Während die Münchner und die Straßburger Zeitung an die Vorstellung einer adäquaten Behandlung gefangener Zivilisten anschlossen, die mit der Internierung britischer Staatsbürger in Ruhleben einsetzte,515 stellte die Pfälzer Zeitung dieser Betrachtungsweise Hilfsbedürftige entgegen, die durch die Militärbehörden nicht angemessen versorgt werden konnten. Die Deutungskonkurrenz der Zeitungsblätter verweist auf verschiedene öffentliche Wahrnehmungen der Internierungen. Diese mussten darüber hinaus nicht mit den Perspektiven der lokalen Zivilverwaltung übereinstimmen. Die Regierung der bayerischen Pfalz nahm die Zeitungsbeiträge zur Kenntnis und forderte daraufhin Erkundigungen und eine Stellungnahme des Landauer 514 Pfälzischer Kurier, 25.1.1915 (Nr. 20), Ztga. in: HStA München, MInn 53976. 515 U. a.: Die Engländer im deutschen Konzentrationslager, in: Badische Landes-Zeitung, 8.12.1914 (Nr. 571, Abendblatt).
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Stadtmagistrats ein. Er setzte an seine Vorgesetzten ein langes Schreiben auf, in dem er überwiegend den Konjunktiv heranzog. »Vor etwa 14 Tagen hörte ich, daß die Belegung des Lagers mit einer größeren Anzahl ›französischer Staatsangehöriger‹ beabsichtigt sei. Es trafen dann auch an mehreren Tagen kurz nach einander Civilpersonen, Männer, Frauen und Kinder in der ungefähren Zahl von 1900 Köpfen hier ein. Sie wurden in der Nähe des Lagers aus der Bahn ausgeladen und von der Militärbehörde unter militärischem Schutze in das Barackenlager verbracht. […] Die Unterbringung und die gesamte Versorgung der Schutzgefangenen hat die Militärverwaltung besorgt. Die Mitwirkung der Zivilbehörde wurde in keiner Weise in Anspruch genommen. […] Daß der Wunsch von einzelnen Insassen geäußert worden wäre, in der Stadt wohnen zu dürfen, ist mir nicht bekannt geworden. Ebenso hatte ich nicht davon gehört, daß einzelne in Begleitung von Landwehrleuten Einkäufe in der Stadt gemacht hätten. […] Sehr bald nach Belegung des Lagers sind 4 Frauen gestorben, eine infolge Erkrankung nach einer im K.Garnisonslazarett erfolgten Operation, die anderen hochbetagt mit 65, 86 und 88 Jahren. Ich habe gehört, daß gefangene Angehörige der Verstorbenen die Erlaubnis erhalten haben sollen, unter militärischer Begleitung der Beerdigung anzuwohnen. Im Anschluß an eine solche Beerdigung soll, wie behauptet wird, eine oder mehrere Personen sich in die Stadt begeben und Einkäufe gemacht haben. Ob dies aber wahr ist, steht nicht fest.«516 Die einzige Aufgabe des Magistrates bestand seinen Schilderungen nach darin, »das Verbot, den Ebenberg zu betreten«, bekanntzugeben. Alsdann hätte die Militärverwaltung die umfassende Absperrung des Lagers verfügt, sodass »außer den zur Bewachung und Verpflegung berufenen militärischen Organen der Zutritt […] für jedermann vollkommen ausgeschlossen« gewesen sei. Von einer Hilfsaktion des Roten Kreuzes hatte er ebenfalls keine Kenntnis erlangt. Allerdings wurde die »freiwillige Sanitätskolonne« der Stadt in Anspruch genommen. Es passierte viel in Landau »ohne Mitwirkung und ohne Kenntnis des Magistrates«. Der Stadtmagistrat musste innerhalb der Verwaltungshierarchie gegenüber der Pfälzer Regierung auf die beiden Presseberichte reagieren. Er entwarf hierbei eine zu diesen entgegengesetzte Position. Ihm zufolge waren seine Ausführungen der erste zivilstaatliche Vorgang, in dem das Lager und seine Insassen administrativ in die Stadt eingeschrieben wurden. Er »hörte« drei Mal von der Situation auf dem Ebenberg, erhielt keine schriftlichen Mitteilungen und fertigte keine an. Ebenso verursachte und provozierte die Einrichtung des Lagers laut seinem Bericht, den Sanitätsdienst ausgenommen, keine Resonanzen oder Reaktionen anderer städti516 Stadtmagistrat Landau (Pfalz) an d. Regierung d. Pfalz, KdI, 30.1.1915, in: HStA München, MInn 53976.
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scher Akteure. Daran anschließend wies er jegliche Beziehung zwischen Stadt und Lager zurück. Lediglich der Gang der Lebenden vom Bahnhof bis zum Ebenberg und die Beisetzung der Toten auf dem städtischen Friedhof brachte einen zeitlich begrenzten Kontakt der Zivilgefangenen mit der Stadt hervor. Ansonsten handelte es sich dem Magistrat nach um zwei voneinander losgelöste, autonome Räume. Seine Kenntnisse über die Menschen, die auf dem Ebenberg untergebracht waren, erweiterten die Deutungen über die Internierten. »Ich hörte, daß es sich um Bewohner von Dörfern handle, die unmittelbar hinter der Gefechtslinie gelegen, von den Franzosen zusammengeschoßen worden seien. Zu ihrem Schutze seien die Bewohner weggebracht worden«, mutmaßte der Magistrat. In einer Zeit, in der er keinerlei Zugänge zu dem Lager hatte, hielten sich dort demnach Opfer der gegnerischen Kriegsführung auf. Im Laufe seiner Erkundigungen sei »der größte Teil, nämlich alle Frauen und Kinder sowie alle Männer, die nicht in wehrfähigem Alter stehen,« über die Schweiz nach Frankreich abgeschoben worden. »Es sollen jetzt noch etwa 160 männliche Personen in wehrfähigem Alter auf dem Ebenberg verwahrt werden.« Somit hatten sich für den Magistrat innerhalb einer Woche die Konfiguration der Lagerbewohner/innen und die Angemessenheit einer Intervention vollständig geändert. Hinter den Stacheldrahtzäunen befanden sich nun wehrfähige Zurückgehaltene, möglicherweise feindliche Soldaten. Der Landauer Magistrat entwarf eine Erzählung über Zivilgefangene, die auf einem unbeständigen Wissen gründete. Die Internierung von Zivilisten vor den Toren der Stadt entziehe sich der Sichtbarkeit, der Verschriftlichung, einer möglichen Erfahrbarkeit und jeglichem administrativen sowie politischen Handeln. In seinem Bericht werden das Lager und die Zivilgefangenen zu einem Gerücht über einen abwesenden Ort und über abwesende Personen, die er einzig im autonom dargestellten Verfügungsraum der Militärverwaltung verortete. Im Nebeneinanderlegen der Texte offenbart sich für Zurückblickende ein Spannungsfeld, in dem die vielen ausländischen Anderen des Krieges in ambivalenten Szenarien erfasst wurden. Die drei Entwürfe über Landau waren widersprüchlich und behaupteten dennoch, authentische Ordnungen der Zivilgefangenschaft zu beschreiben. Für ihre Leser/innen folgten daraus unterschiedliche Rezeptionen und im Anschluss daran voneinander abweichende Bedingungen, Möglichkeiten und Potenziale institutionellen Handelns ebenso wie zivilgesellschaftlichen Engagements. Die überlieferten Zeugnisse verweigern sich einer Dichotomie von Zuschreibungen und Praktiken, in denen die ›deutsche‹ Gesellschaft den feindlichen Ausländer/innen gegenüberstand. Sie betonen vielmehr den prekären wie offenen Prozess der Wissensaneignung über gefangene Zivilisten und die Umstände der Internierung. Dass die Deportierten in den zeitgenössischen Schilderungen nicht zu Wort gekommen waren, verengte die Perspektive der Presseartikel und des Magistratsberichts und unterband eine kritische Auseinandersetzung mit den militärischen Abschiebungen. Im Bericht der französischen Kommission zur Untersuchung
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deutscher Menschenrechtsverletzungen hätten die Beteiligten die Aussage Pauline Thirions finden können. Sie hatte den Ermittlern Ende Februar 1915 ihre Erlebnisse auf dem Ebenberg geschildert und erhob schwere Vorwürfe.517 Die chaotischen Umstände ihrer Deportation und die Situation im Lager seien für den Tod einer der älteren Damen, Mélanie Canton, verantwortlich gewesen. Madame Canton, die bei der Abschiebung verzweifelt gewesen sei und die Reise nur in ihren Strümpfen antrat, sei bei einer Desinfektion in der Januarkälte erkrankt und hatte sich davon nicht mehr erholt. Die Landauer Berichte bildeten nur einen Teil an Deutungen und Vorstellungen über die Deportierten aus den Kriegsgebieten ab. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der das Handeln staatlicher Akteure beeinflusste, verdient Beachtung. In ihm verbanden sich die Folgen des schlechten Gesundheitszustandes der Gefangenen mit einer latenten Sorge um die einheimische Bevölkerung. Die Internierten wurden als Überträger/innen von Infektionskrankheiten gefürchtet.518 Die spätere Schriftstellerin Adrienne Thomas (1897–1980), die als freiwillige Helferin des Roten Kreuzes am Metzer Bahnhof arbeitete, hielt ihre erste Begegnung mit Abgeschobenen in ihrem Tagebuch fest. Der ankommende Zug war auf dem Weg in die Schweiz gewesen und sie schätzte, dass sich in seinen Wagen 800 Menschen, »Frauen, kleine Kinder, alte Männer« befanden. »Es war eine bunt durcheinandergewürfelte Gesellschaft, arme Leute, bessere u. mehrere sehr vornehme«, notierte sie und stockte plötzlich in ihren Aufzeichnungen. »Dann war da eine junge Frau, vor der ich, als die Tür geöffnet wurde, zurückschreckte, u. ich habe doch schon viel gesehen. Sie hatte eine ganz grüne Haut, Gesicht, Hals, Hände, Arme, sicher auch der ganze Körper; aber nur eine Sekunde dauerte meine Schwäche an.«519 729 Deportierte waren im Oktober 1914 mit Militärtransporten nach der sächsischen Industriestadt Zwickau gelangt. »Ein sehr großer Teil sind ganz alte gebrechliche Frauen und Männer. Kinder sind in jedem Alter von 4 Monaten aufwärts vorhanden«, berichtete die stellvertretende Infanterie-Brigade 89.520 Bis zum 8. Oktober 1914 starben sieben der Ankommenden. »Sie litten alle an Alters- und Herzschwäche und waren, abgesehen von einem 64jährigen Manne, alle zwischen 77 und 87 Jahren.« Ansonsten sei ihr Gesundheitszustand »befriedigend« gewesen. 517 Documents relatifs à la guerre, 1914–1915, Bd. 2, Dok.-Nr. 36, S. 34 f. 518 Eine Übersicht der festgestellten Lagerkrankheiten findet sich bei: Gärtner, Einrichtung und Hygiene der Kriegsgefangenenlager, S. 252–266. 519 Adrienne Thomas, Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Tagebuch, hg. von Günter Scholdt, Köln 2004, S. 11 f. (Metz, 7.4.1915). Sie verarbeitete ihre Kriegserlebnisse in dem Antikriegsroman Die Katrin wird Soldat (1930). 520 Bericht d. stv. Infanterie-Brigade 89 über d. Gefangenen d. Gefangenenlagers Zwickau I an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 8.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3315, Bl. 174 f. Unter den Deportierten befanden sich 522 Männer, 142 Frauen und 65 Kinder. 479 von ihnen besaßen die französische Staatsangehörigkeit.
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Sie wurden in einer alten Malzfabrik einquartiert, die in mehreren Etappen erst als Aufenthaltsort hergerichtet werden musste. Die Garnisonsverwaltung Zwickau hatte Anfang Oktober den »Befehl des Kgl. Gen.-Kdos., Betten für die Frauen und Kinder zu beschaffen«, noch nicht umgesetzt und auch die Erhöhung des Brandschutzes stand aus. Unterdessen stieg die Zahl der nach Zwickau Abgeschobenen stetig. Mitte November zählte die Kreishauptmannschaft bereits 1500 Personen.521 Die Zwickauer Stadtverwaltung begegnete den eilig untergebrachten Zivilisten mit Ablehnung. Der Oberbürgermeister Karl Keil (1861–1920) befürchtete die Übertragung von Seuchen und verbot die Aufnahme von Kranken und »ihrer Entbindung entgegensehender Französinnen« in das städtische Krankenhaus sowie die Beerdigung Verstorbener auf dem Stadtfriedhof.522 Als im Zwickauer Kriegsgefangenenlager unter den russländischen Soldaten Flecktyphus ausbrach, bestätigten sich seine Sorgen, und er drohte der Militärverwaltung, »durch das Fleckfieber gefährdete Bürger auf ihre Schadensansprüche gegen die Militärbehörden hinzuweisen«.523 Als Lokalverantwortlicher und Vertreter der städtischen Bürgerschaft stellte er sich gegen die Anordnungen des stellvertretenden Generalkommandeurs in Leipzig. Georg Hermann von Schweinitz forderte eine nachsichtige Behandlung der Deportierten.524 »Die Gebote der Menschlichkeit«, führte er aus, »verlangen, daß für diese Personen, wenn sie auch aus dem feindlichen Lande stammen, etwas mehr getan wird, als es das Gefangenenlager zuläßt.« Die »ganz alten gebrechlichen Leute« sollten in »öffentlichen Versorgungsanstalten« eine Bleibe finden und Kinder »unter Aufsicht […] tagsüber beschäftigt« werden. Auch von Seiten der Kreishauptmannschaft wurde der Oberbürgermeister für sein Verhalten getadelt und ihm vorgeworfen, »erst Erregung in die Bürgerschaft hineinzutragen«.525 Als im November 1914 in Militär- und Zivilverwaltungskreisen die Umwandlung des Holzmindener Kriegs- in ein Zivilgefangenenlager diskutiert wurde, erhob der Stadtmagistrat Paul von Otto (1868–1939) Einspruch, weil er ebenfalls die Ausbreitung von Seuchen befürchtete. Mit ähnlichen Überlegungen verwahrte sich der Kreisdirektor Hoffmeister gegen die Unterbringung von ausländischen Familien in städtischen Privatwohnungen. Er sah sowohl ihre ausreichende Überwachung nicht gewährleistet als auch die von ihnen ausgehende »Gefahr der Verseuchung«. Überdies vermutete er, dass sich ein Teil der dortigen Hausbesitzer weigern werde, die Ausländer/innen aufzunehmen, »wegen der zu befürchtenden Verschmutzung 521 Sächs. KrhM Zwickau an d. Sächs. MdI, 19.11.1914, in: HStA Dresden, 10736/3348, Bl. 88. 522 Sächs. KrhM Zwickau an d. Sächs. MdI, 27.3.1915, in: HStA Dresden, 10736/3351, Bl. 89 f. u. Bericht d. stv. Infanterie-Brigade 89 über d. Gefangenen d. Gefangenenlagers Zwickau I an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 8.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3315, Bl. 174. 523 Sächs. KrhM Zwickau an d. Sächs. MdI, 27.3.1915, in: HStA Dresden, 10736/3351, Bl. 89 f. 524 Stv. Gkdo. XIX. AK an d. Sächs. KrhM Zwickau, 13.10.1914, in: HStA Dresden, 10736/3315, Bl. 176. 525 Sächs. KrhM Zwickau an d. Sächs. MdI, 27.3.1915, in: HStA Dresden, 10736/3351, Bl. 89 f.
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der Wohnungen«.526 Da das Kriegsgefangenenlager unlängst bestand, verdeutlichen der Magistrat und der Kreisdirektor mit ihren Interventionen, wie der Infektionsschutz zugleich als ein administratives wie politisches Argument gegen die Aufnahme von Zivilinternierten herangezogen werden konnte. Das sich über das Deutsche Reich erstreckende Netz an Lagern brachte ambivalente Grenzen zwischen der Zivilverwaltung und der Bevölkerung auf der einen und den Internierten und den Lagerverantwortlichen auf der anderen Seite hervor. Das Unwissen über die Zivilgefangenen und die Versorgungsprobleme in den Lagern verbanden sich nicht selten zu einer Abwehrhaltung der Zivilverantwortlichen vor Ort. Der Gesundheitsschutz der Bevölkerung wog für einige Bürgermeister und Kreisvorstände schwerer als das Wohl der Deportierten. Sie waren nicht nur Fremde aus anderen Regionen Europas, sondern brachten ebenfalls für ›deutsche‹ Ärzte längst unbekannte, »fremde Krankheiten« wie das Fleckfieber mit.527 Die immer auch politisch einsetzbare Aneignung der Deportierten als Gefährder der Gesundheit vor Ort trat neben die Deutungen von privilegierten Internierten und Unterstützungsbedürftigen. Die Lage in einigen Kriegsgefangenenlagern, in denen eine Flecktyphusepidemie ausgebrochen war, verstärkten die Befürchtungen der staatlichen Verantwortungsträger.528 Im Zuge dessen wurde beispielsweise im brandenburgischen Guben die Bevölkerung über »Wesen und Abwehr der Infektionskrankheiten« informiert,529 und im sächsischen Görlitz rief die Polizeibehörde zur Impfung gegen die Pocken auf, die mit den russländischen Kriegsgefangenen in die Stadt gelangen könnten.530 Die Berichte der Delegierten des Roten Kreuzes über ihre Lagerbesuche bedeuteten in diesem Lichte eine Möglichkeit für zivilstaatliche Behörden, sich über die Zustände in den Lagern zu informieren, und für die Bevölkerung, sich über die hygienischen Vorsorgen zu vergewissern. Sie konnten bei Arthur Eugster im März 1915 nachlesen, dass die »Bemühungen der deutschen Behörden […] darauf [abzielen], Krankheiten, namentlich Epidemien, zu verhüten. Diese Sorgfalt kommt aber in gleichem Masse den Internierten und Gefangenen zugute und verdient somit warme Anerkennung.«531 Die damit einhergehende gesellschaftliche Vermittlungsfunktion veröffentlichter Inspektionsberichte sollte nicht unterschätzt werden.
526 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 12.11.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 33. 527 Gärtner, Einrichtung und Hygiene der Kriegsgefangenenlager, S. 259. 528 Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 99–106. 529 Andreas Peter, Das »Russenlager« in Guben, Potsdam 1998, S. 19. 530 Bkm., in: Görlitzer Nachrichten, 5.9.1914, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 2, Dok.-Nr. 319, S. 205. 531 IKRK (Hg.), Dokumente herausgegeben während des Krieges, Serie 1: Berichte v. Ed. Naville, V. van Berchem, A. Eugster u. C. de Marval, S. 43 f. (Besichtigung d. Lagers am 9.1.1915).
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An die Vorstellungen über den Gesundheitszustand der Internierten anknüpfend wandte sich Oberpfarrer Reinhardt im Namen des Gemeinde-Kirchen-Rates an den Magistrat der Stadt Havelberg. »[W]ir [tragen] Bedenken […], fernerhin die Leichen der Gefangenen auf dem sog. Jungfernfriedhof aufzunehmen, weil wir fürchten, daß der zur Verfügung stehende Raum auf die Dauer nicht ausreichen wird«, teilte er dem Stadtmagistrat im Januar 1915 mit und gab Einblicke in eine mögliche Kalkulation von Leben und Tod der Zivilgefangenen. »Wenn außer den hier bereits befindlichen Gefangenen noch 5000 etwa zu erwarten sind, also etwa 8000 im Ganzen hier die Lager füllen, so wird ganz abgesehen von einer etwa auftretenden Seuche die Zahl der Toten für das Jahr etwa 150 bei ganz normalen Verhältnissen betragen. Dieselbe dürfte sich aber wegen der Zusammenlegung vieler auf einem verhältnismäßig kleinen Raum und der Gefahr ansteckender Krankheiten beträchtlich erhöhen.«532 Der Friedhof wäre nach kurzer Zeit »derartig belaste[t]«, dass die Gemeinde einen neuen Begräbnisplatz erwerben müsste, »womit zweifellos die Erhöhung der Kirchensteuer verbunden sein würde«. Oberpfarrer Reinhardt bat deshalb um eine separate Ruhestätte für die Gefangenen. »Selbstverständlich steht unser Totengräber gegen die übliche Gebühr auch für die Beerdigung der Gefangenen nach wie vor zur Verfügung, soweit er für unseren Gemeindebetrieb nicht in Betracht kommt.«533 Ob der Oberpfarrer die Kirchensteuer lediglich als Vorwand benutzte, um die weitreichenden Folgen der Gefangenengräber für die individuelle wie die kollektive Erinnerungskultur in Havelberg abzuwenden, ist nicht bekannt. Aber sein finanzielles Argument spielte für staatliche Verwaltungsakteure keine nachgeordnete Rolle. Die finanziellen Überlegungen, die mit den Lagern verbunden waren, eröffnen den Blick auf eine weitere Aneignung und Deutung der Zivilinternierung. Der Kreisdirektor und der Stadtmagistrat von Holzminden spekulierten als vorausschauende Beamte über »größere Vorteile« militärischer Gefangener, »da beim Vorhandensein nur erwachsener männlicher Personen der Absatz an Gegenständen des täglichen Gebrauchs ein größerer sein würde, als bei der Anwesenheit auch zahlreicher Frauen und Kinder«.534 Durch die Einquartierung von Zivilisten befürchtete Hoffmeister jedoch negative wirtschaftliche Folgen für die Stadtgemeinde. »Zudem liegt m. E. die Hauptbefürchtung darin, daß die Leute 532 Gemeinde-Kirchen-Rat d. Stadtgemeinde Havelberg (gez. Oberpfarrer Reinhardt) an d. Magistrat v. Havelberg, 28.1.1915, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1846. 533 Ebd. 534 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 12.11.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 33.
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zum großen Teil Armenmittel werden in Anspruch nehmen müssen, wodurch der Fiskus […] belastet werden würde.«535 Dennoch ließ sich der Holzmindener Stadtmagistrat bereits im November 1914 von Vertretern des Preußischen Kriegsministeriums überzeugen, dass polizeiliche, hygienische und wirtschaftliche Vorbehalte unbegründet seien.536 Gegenüber dem Kreisdirektor erklärte er, dass die »Errichtung des […] Konzentrationslagers […] aus militärischen Gründen« erfolgt und »unabänderlich« sei. »Gleichzeitig verfolgte das Kriegsministerium aber bei der Auswahl des Ortes die Absicht, der Stadt Holzminden wirtschaftliche Vorteile zuzuwenden. Das Konzentrationslager wird voraussichtlich stärker belegt und die Bedürfnisse und der Geldumsatz höher sein, wie [sic] bei einem Gefangenenlager«. In gleichem Maße sei die Unterbringung von ausländischen Familien mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden, denn diese seien »seit langen Jahren in Deutschland ansässig« und »durchaus wohlhabend«. Schließlich ergriff er sogar die Initiative und schlug die Errichtung eines Offiziersgefangenenlagers im Holzmindener Landschulheim vor.537 Erneut wird er die Vorteile für seine Gemeinde im Blick gehabt haben. Obschon die Internierungslager unabhängig verwaltet wurden, blieben sie auf die Infrastruktur, die Versorgungsgüter und Einwohner/innen der umliegenden Gemeinden angewiesen. Hans Weber, der zum Stammpersonal des Lagers Traunstein gehört hatte, betonte rückblickend die Vorteile für die Stadt. »In einer Zeit, wo die Nachbarkurorte leer standen, […] brachte das Lager Fremde und Verkehr nach Traunstein, hielt später ausgesprochene Schieberkreise fern, brachte aber doch immer Leben, Geld und Verdienst in die Stadt«, resümierte er.538 Die ansässigen Gewerbetreibenden lieferten Lebensmittel in das Lager,539 und die militärdienstpflichtigen Bürger profitierten von dessen Nähe zu ihren Arbeitsorten. Sie dienten bei lokalen Militärkommandos und konnten zugleich ihren Berufen nachgehen. »[I]n der Regel« hatten sie zwei Tage Dienst und anschließend einen Tag frei, »um zu Hause nach dem Rechten zu sehen«. Dementsprechend setzte sich das Wachkommando »zum größten Teil aus Landwirten der Umgebung und aus Gewerbetreibenden und anderen Bürgern der Stadt Traunstein zusammen«,540 die durch Konrad Scharrers Gasthof verpflegt wurden.541 Außerdem arbeiteten viele Frauen, »die der öffentlichen Unterstützung bedurft hätten«, in der Postprüfungsstelle als
535 Ebd. 536 Stadtmagistrat Holzminden (gez. Otto) an d. Hzgl. Kreisdirektion Holzminden, 16.11.1914, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 48 ff. 537 Ebd. 538 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 4 u. 67. 539 Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, S. 243 u. 283, Fn. 12. 540 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Bewachung, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 541 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 8.
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Dolmetscherinnen.542 Das Internierungslager stellte folglich einen willkommenen Arbeitgeber dar. Dessen Kommandantur agierte darüber hinaus als ein mit den Kriegsjahren zunehmend wichtiger werdender Arbeitskräftevermittler. »Daß die Gefangenenarbeit zunächst Traunstein und seiner Geschäftswelt zugute kam,« so Weber, »mag in diesem Zusammenhang auch billig Erwähnung finden.«543 Schließlich versuchten unterschiedliche lokale Akteure, von der Errichtung der Gefangenenlager zu profitieren, wie der Wiesbadener Architekt Burghard Harling (1872–?) in einem Angebotsschreiben an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf zeigte.544 Nachdem er durch die Aachener Allgemeine Zeitung erfahren hatte, dass »in oder bei Remscheid, bezw. M. Gladbach Baracken zur Unterbringung mittelloser Ausländer errichtet werden« sollen, empfahl er »seine Firma zur Ausführung von Barackenbauten«. »Meine Baracken haben den grossen Vorteil, dass dieselben in einzelnen Tafeln fertig angeliefert, und in kürzester Zeit aufgestellt werden können; ferner sind dieselben dann sofort bezugsfertig. Die Bauten bieten durch die Art der Konstruktion (doppelten Fussboden, Wände und ev. auch Decke) vollständigen Schutz gegen die Unbilden der Witterung. Dieselben können in jeder Form und Grösse hergestellt, und in kürzester Zeit geliefert werden.« Harling, der bereits im Auftrage der preußischen Militärbehörden gearbeitet hatte, dachte dabei nicht nur an temporäre Provisorien. »Die Baracken eignen sich sowohl für Wohnbaracken, Schulen, als auch für kleinere Bahnhofsbauten und Krankenbaracken«, warb er. Mit dieser Intervention rückt er die möglichen Vorstellungen über die Lager bei nicht-staatlichen Akteuren wiederum in den Vordergrund.
Grenzüberschreitende Begegnungen und Kontakte Fotografien aus dem Holzmindener Lager lichteten vorbeigehende Zaungäste ab, die inne hielten und die Internierten musterten. Gesten und Wortwechsel zwischen ihnen wären möglich gewesen. Diese Nähe sollte nach dem Willen des preußischen Kriegsministers Erich von Falkenhayn verhindert werden. »Die Gefangenen müssen derart abgeschlossen werden, daß jeder Verkehr mit Zivilpersonen unbedingt ausgeschlossen ist«, belehrte er die Verantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium im September 1914.545 »Die Plätze sind schon wegen der Zudringlichkeit gewisser neugieriger Elemente, die sich der Tragweite 542 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Dolmetscherwesen, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 543 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 67. 544 Burghard Harling (Architekt, Wiesbaden) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 30.11.1914, in: LAV NRW R, BR 0007, 14997, Bl. 56. 545 Preuß. Kriegsminister (Gr.H.Qu., gez. v. Falkenhayn) an d. Preuß. KM, 6.9.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/156, Bl. 26.
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ihrer Handlung nicht bewußt sind, in weitem Umfange abzusperren.« Daher gab er zu bedenken, ob es nicht möglich sei, eine »noch größere Zentralisierung in für die Öffentlichkeit von vornherein unzugänglicher Gegend« durchzuführen. Auch die »Gefahr der Verseuchung des Landes« würde dadurch vermindert werden. Sein Anliegen, die Gefangenenlager und ihre Insassen abzuschotten, sollte ein unerfüllter Wunsch bleiben. Die errichteten Kriegsgefangenenlager im Deutschen Reich entwickelten sich zu Attraktionen. Lisbeth Dill hielt in einem Bericht in der Gartenlaube über ihre Eindrücke aus Merseburg fest, dass sie einem »Rennen« beizuwohnen glaubte, an dem sich Menschen aller Schichten und jeden Alters beteiligten.546 Auch der Lagerkommandant des Kriegsgefangenenlagers Königsbrück nördlich von Dresden bemerkte »täglich Ansammlungen einer großen Menge Publikum[s]«. »Zeitweise war die Straße entlang der Gefangenenlager durch Automobile, Fuhrwerke, Radfahrer und Fußgänger völlig versperrt. Den Aufforderungen der Posten und Patrouillen, nicht stehen zu bleiben, wurde nur zögernd entsprochen; auch wurde mehrfach seitens des Publikums versucht, über die Straße marschierenden Gefangenenabteilungen Obst, Zigarren, Zigaretten zuzustecken oder in die Gefangenenlager derartige Liebesgaben zu werfen.«547 Der Kommandant hielt deshalb eine »scharfe Absperrung der Gefangenenlager« für nötig. Seine Auffassung wurde in militärischen Kreisen geteilt. In vielen Armeekorpsbereichen war es untersagt und unter Strafe gestellt, mit den Kriegsgefangenen in Kontakt zu treten.548 Personen, die gegen das Kontaktverbot verstoßen hatten, wurden nicht selten namentlich in den regionalen Tageszeitungen angeprangert.549 Ein kurzes Phänomen der ersten Kriegswochen war gleichwohl die Möglichkeit für die Bevölkerung, einzelne Lager wie in Havelberg und Ohrdruf besichtigen 546 Lisbeth Dill, Die Gefangenenlager bei Merseburg, in: Die Gartenlaube, 1915, Nr. 1, S. 7–9, zit. nach: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 188. Siehe ferner: Peter, Guben, S. 64–67; Hinz, Gefangenen im Großen Krieg, S. 187–191; Klaus Otte, Lager Soltau. Das Kriegsgefangenenund Internierungslager des Ersten Weltkriegs (1914–1921). Geschichte und Geschichten, Soltau 1999, S. 17–20. 547 Kommandantur d. Truppenübungsplatzes Königsbrück an d. stv. Gkdo. XII. AK, 12.9.1914, in: HStA Dresden, 11348/156, Bl. 26. 548 Weiterhin für den XIII. Armeekorpsbezirk: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 191–201; für den X. Armeekorpsbezirk: Otte, Lager Soltau, S. 19 f.; für den XVII. Armeekorpsbezirk: Bkm. betr. Verbot d. Annäherung an Kriegsgefangene, in: Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 167 f.; für d. I. bay. Armeekorpsbezirk: Bkm. betr. Verkehr mit Kriegsgefangenen, 1.5.1917, in: Roth (Bearb.), Kriegsanordnungen, I. bay. AK, S. 193. 549 Für Sachsen: HStA Dresden, 11352/580–582 u. für Bayern: Mitze, Kriegsgefangenenlager Ingolstadt, S. 364–371.
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zu können. »[G]egen Entgelt zu einem guten Zweck« warb die Jenaische Zeitung und wies auf die unterschiedlichsten Gefangenengruppen auf dem thüringischen Truppenübungsplatz – »Leute im Alter des Schulknaben bis zum Greise« – hin.550 Die Besichtigungen standen im starken Kontrast zum Vorgehen in anderen Landesteilen und können als Ausnahmen gelten. In Traunstein wurden die Kontaktverbote auch mit der Würde der Zivilinternierten begründet. Eine Mitteilung im Traunsteiner Wochenblatt ermahnte die Einwohner/innen Ende September 1914 eindringlich. »Jede Fühlungnahme, jedes Gespräch mit den Gefangenen ist untersagt. Das äußerst unvernünftige Anstarren derselben mag, schon allein aus Gründen des Taktes, in Zukunft unterbleiben. Auch das Kommando läßt an die Einwohnerschaft das Ersuchen stellen, es möge dieses auf die Inhaftierten nicht bloß lästig, sondern auch verletzend wirkende Anschauung unterlassen werden. Fast keiner von ihnen unterscheidet sich durch sein Äußeres von den in unseren Straßen verkehrenden Menschen des Alltags. […] Manche sind darunter, deren wir uns noch vor wenigen Monaten gefreut hätten, wenn wir sie als Kurgäste hätten verzeichnen können.«551 Bei vielen Internierten handelte es sich um ehemalige Einwohner des Deutschen Reiches. Deshalb stellten die Zeitungsredakteure in Aussicht, dass ihre Familienangehörigen nach Traunstein übersiedeln könnten, und sie vermuteten, dass die Gasthofbesitzer die Familien sicherlich nicht abweisen würden.552 Eine ähnliche Praxis des Nachzugs von Angehörigen galt in Holzminden.553 Während mithin die abgesperrten Internierungslager für Sorgen und Verwirrungen in den angrenzenden Städten und Gemeinden sorgten, mussten die Bürgermeister einen weiteren Zuzug von Fremden regeln. In dieser Situation im Frühjahr 1915 nahm Traunstein zusätzlich abgeschobene Elsaß-Lothringer/innen auf.554 Unterdessen hatte sich die Aufregung um das Lager in der Voralpenstadt nur schwer beruhigen lassen. Der Bürgermeister sah sich Anfang Oktober 1914 erneut genötigt, eine Bekanntmachung zu veröffentlichen. »Es wird wiederholt gewarnt,« hieß es darin, »vor dem Gefangenendepot stehen zu bleiben oder gar Spötteleien u. dergl. zu verüben. Es sei nochmals betont, daß es sich in der Hauptsache um
550 Letzte Nachrichten, in: Jenaische Zeitung, 15.9.1914 (Nr. 216, Erstes Blatt). 551 Meldung, in: Traunsteiner Wochenblatt, 29.9.1914, zit. nach: Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, S. 245 f. 552 Ebd. 553 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 1.7.1917, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 22 ff. 554 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. Deppert) an d. Stadtmagistrat Traunstein, 2.2.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5.
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anständige Leute handelt, die hier aus formellen Gründen inhaftiert sind.«555 Den nach Traunstein Entlassenen schlug in dieser Zeit das Misstrauen einiger Einwohner/innen entgegen. Sie verhielten sich ihnen »unfreundlich gegenüber und verfolgte[n] sie mit allerlei grundlosen Verdächtigungen«. Erst im letzten Kriegssommer hatten sie sich vollkommen »an den Zustand gewöhnt«.556 Vielfältige Beobachtungen und Inszenierungen begleiteten die Gefangenenlager. Zeitungsredakteure veröffentlichten ihre Eindrücke. Bürger und Bürgerinnen beobachteten die Gefangenen an Bahnstationen oder auf den Wegen in die Lager, erspähten sie hinter den Zäunen oder begegneten ihnen bei Einkäufen in den Städten. Ob in den Zeitungsspalten oder auf den Straßen, die Schauenden mussten sich positionieren und ihre Blicke unterlagen vielerlei Deutungen. Indem »Zaungäste« als Schaulustige und Anstarrende, Verhöhnende und Störer in der Presse ebenso wie in den Administrationen beschrieben wurden, hatten sie unvermeidlich einen Standpunkt gegenüber den Internierten eingenommen, ohne ihre Motive offenlegen zu können. Ihre stumm-vielsagenden Blicke ebenso wie ihre lauten Stimmen über die Lagerzäune oder ihre öffentlichen Klagen in der Presse557 bilden bruchstückhafte und selektive zeitgenössisch gedeutete Sichtweisen auf die Internierten ab. Den eher ablehnenden und skeptischen Reaktionen können auch andere Verhaltensweisen gegenübergestellt werden. Das Gefangenenlager in Traunstein bedeutete für sprachkundige Frauen und wehrfähige Männer aus der Region einen Arbeitsplatz, der sie in stetigen Kontakt zu den Internierten brachte. Als Dolmetscherinnen oder Wachsoldaten konnten sie sich nicht abwenden, sondern hatten – zumindest äußerlich – eine eingeforderte Haltung gegenüber Lagerbewohner/innen einzunehmen. Über die Tätigkeit der Frauen in der Postprüfungsstelle äußerte sich der Lagerkommandant von der Pfordten im Sommer 1918 anerkennend. Sie hätten »sachlich im Dienste [G]utes zum Teil sogar Vorzügliches geleistet« und »häufig den […] unbedingt erforderlichen Spürsinn« besessen.558 Zu einem ähnlichen Urteil über die Wachmannschaften gelangte er nicht. Er beklagte ihre Einstellung und ihr Auftreten. »Die Leute sind im Allgemeinen gemäss der Sinnesart der oberbayerischen Bevölkerung willig, gutmütig und diensteifrig. Ausschreitungen und Unbotmässigkeiten kamen so gut wie niemals vor, dagegen fehlt der grossen Mehrzahl die Fähigkeit raschen selbständigen Entschlusses, eigenen Denkens und 555 Meldung, in: Traunsteiner Wochenblatt, 8.10.1914, zit. nach: Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, S. 245 f. 556 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, MKr 1669. 557 Vgl. das Kapitel Ausweisen und Einquartieren. U. a.: Leserbrief, Rechtsanwalt Schülin, in: Donaueschinger Tageblatt, 18.8.1914 (Nr. 188), Ztga. in: GLA Karlsruhe, 236/23175. 558 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Dolmetscherwesen, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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scharfen Auftretens gegenüber den Gefangenen. Sie machen ihren Dienst schlecht und recht, verstehen es aber nicht, aus den Gefangenen gesteigerte Arbeitsleistung herauszuholen, solange nicht ein strenger Vorgesetzter hinter ihnen steht. Auch sind sie gegenüber den Gefangenen häufig zu vertrauensselig und ihren Schlichen nicht gewachsen.«559 Von der Pfordten erblickte im nachlässigen Umgang der Wachmannschaften mit den Internierten und im gleichermaßen »zumeist nicht sehr stramm[en] und tatkräftig[en]« Verhalten der Unteroffiziere eine Ursache dafür, dass der »Verkehr mit Zivilpersonen, unerlaubtes Einkaufen, ungeeignetes Verhalten auf der Bahn niemals ganz verhindert« wurde. In Holzminden stellte sich die Situation ähnlich dar, und Kreisdirektor Rudolf Hoffmeister hielt einen über dienstliche Angelegenheiten hinausgehenden Kontakt zwischen den Internierten und den Wachsoldaten fest.560 »Zweifellos ist in verschiedenen Fällen ein Verkehr mit den Einwohnern der Stadt vorgekommen«, führte er aus. Diese Kontakte und die Verhaftung eines einheimischen Landsturmmannes aus dem Wachbatallion deutete er als Anlass für die Versetzung der Bewachungsmannschaft, einiger Lageroffiziere und des Kommandanten Generalmajor z. D. Pflugradt im Sommer 1917. Hauptmann Wikopp sei im Zuge dessen gar »ein nicht einwandfreier Verkehr mit im Lager untergebrachten Frauenzimmern nachgesagt« worden. Dem soldatischen Laissez-faire stand allerdings die Ausübung von Zwang gegenüber. Wohlwollen, Gleichgültigkeit oder Zuneigung schlossen physische und psychische Gewalt keineswegs aus. Es sei »mitunter unsanft« in Traunstein hergegangen, um das »unbegründete, eigenwillige Verlassen einer einmal freiwillig übernommenen Arbeitsstelle, soweit nur irgend möglich« zu verhindern, erinnerte sich Hans Weber. Dies hätte zwar »manches Kopfschütteln und manche herbe Kritik verursacht«, gleichwohl seien »diese Härten« mit »Rücksicht auf die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung« notwendig gewesen. »[O]ffenbare Rohheit, wie sie gegen Ende des Krieges vereinzelt sich zeigte«, wolle er damit allerdings nicht verteidigen.561 Hans Weber verschwieg seinen Bewertungsmaßstab für einen »rohen« Umgang. Dennoch deutete er sich an. Zum einen schrieb der Lageroffizier, dass es das »schlimmste war, daß für Zivilinternierte ein Arbeitszwang nicht bestand«.562 Zum anderen gewährte er Einblicke in die Strafpraxis im Lager. Für Fluchtversuche, Arbeitsverweigerung, Besitz von deutschem Geld und das Schmuggeln 559 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Bewachung, in: Ebd. 560 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 1.7.1917, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 22 ff. 561 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 12. 562 Ebd., S. 11 f.
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von Lebensmitteln seien im Laufe des Krieges, angeordnet durch das Bayerische Kriegsministerium, die Strafen »schärfer und härter« geworden. Von Arrest über »durch Hunger verschärften Dunkelarrest« bis hin zu »Nahrungsentzug und Entzug des Nachtlagers« hätten die Maßnahmen gereicht.563 Die Wachsoldaten werden sich diesen Strafpraktiken in den seltensten Fällen entzogen haben können. Allerdings konstatierte Weber, dass für ihn »das tatkräftige Sympathisieren der Wachmannschaften mit den Gefangenen«, »[e]in ganz wundes Kapitel übrigens aus dem letzten Kriegsjahr«, gewesen sei.564 Er und sein Vorgesetzter verdeutlichen mit ihren Klagen ein überaus facettenreiches Spannungsverhältnis zwischen dem Lagerpersonal und den Internierten. Begegnungen und Kontakte waren verflochten in militärische Vorschriften und Befehlsketten, in Erwartungshaltungen, persönliche Ansichten und öffentliche Meinungsbilder. Die Begegnungs- und Kontaktverbote außerhalb der Internierungslager waren spätestens mit der Einkehr der Kriegs- und Zivilgefangenen in die Kriegswirtschaft und besonders in die Landwirtschaft nur schwerlich zu überwachen.565 Weitreichende Strafandrohungen sollten den Begegnungen und sozialen Kontakten vorbeugen. So wurde in Oberbayern »[m]it Gefängnis bis zu einem Jahre« bestraft, wer mit Kriegsgefangenen in Verkehr trat, diesen vermittelte, sie mit »Gegenständen irgendwelcher Art, insbesondere Kleidungsstücke, Schriftstücke, Lebensmittel« versorgte oder »die Gefangenenlager und die Arbeitsstätten der Kriegsgefangenen betritt«.566 Zweifel bestanden hinsichtlich des Status entlassener Zivilinternierter, die überwiegend durch eine Arbeitsaufnahme die Lager verlassen durften und sich infolgedessen einer eindeutigen Zuordnung als gefangene Feinde entzogen. In Traunstein betraf dies 1918 »regelmäßig zwischen 350 und 400 Zivilgefangene«, die sich über Oberbayern und den Regierungsbezirk Schwaben verteilten. Sie hatten als Land- wie Fabrikarbeiter, in Gewerbe- wie Kaufmannsbetrieben, in Röstereien und Bergwerken eine Beschäftigung gefunden.567 Ihren damit einhergehenden Statuswechsel von Gefangenen zu Entlassenen sollen die beiden folgenden Vorfälle in Traunstein 1916 und 1918 illustrieren. 563 Ebd., S. 28 ff. Ob sich Weber nur auf die Kriegsgefangenen bezog, bleibt im Unklaren. 564 Ebd., S. 30. 565 Vgl. zu den vielfältigen Grenzüberschreitungen das Kapitel Grenzen ziehen und verschieben. Für Bayern: Regierung von Oberbayern (KdI) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 19.11.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3 u. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager I. bay. AK an d. BzÄ, 6.4.1916, in: Ebd. 566 Bkm. d. stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann), 4.3.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. Erneuerung fanden diese Bestimmungen im Mai 1917: Verkehr mit Kriegsgefangenen, in: Unterhaltungs-Blatt zu Traunsteiner Wochenblatt, 5.5.1917, Ztga. in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 567 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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Der Fall der Anna Bermühler, des Ephraim Medwedowski und des David Safian verdeutlicht die Unsicherheit und das bestehende Wagnis bei einer Kontaktaufnahme zu ehemaligen Internierten. Die Drei, die sich aus der Vorkriegszeit kannten, und die Bürger/innen der Stadt fanden am 20. Juli 1916 in ihrer Tageszeitung eine reißerische Anklage vor. »Vorgestern in den späten Abendstunden bemerkte man ein Frauenzimmer, das dem besseren Stande angehören will, mit zwei russischen Zivilgefangenen promenieren, trotzdem sie von 5 Personen verfolgt wurde, ließ sie von ihren beiden Kunden nicht los.«568 Deckten die Redakteure womöglich einen Verstoß gegen die Militäranordnungen auf? Die Angesprochene erinnerte sich an einen anderen Ablauf der Ereignisse. Sie berichtete von einem zufälligen Treffen mit ehemaligen Münchner Kommilitonen, in dessen Verlauf sie von »jungen Burschen«, die mit Stöcken bewaffnet waren, bedroht wurde.569 Die in der Zeitung angedrohte Selbstjustiz dürfte für sie deshalb umso schwerer gewogen haben. »Wenn ein solches liebesbedürftiges Weib in Zukunft noch einmal erwischt wird, werden wir unnachsichtig den Namen veröffentlichen.«570 Die drei Spazierenden hatten gegen keine militärischen Bestimmungen verstoßen. Im Gegenteil hatte sich Anna Bermühler rückversichert, dass ein Kontakt mit Entlassenen gestattet sei. Major a. D. Reverdys hatte sich für sie erkundigt, und Hauptmann Ulmer vom Gefangenenlager äußerte keine Bedenken.571 Ebenso erkannte der Lagerkommandant von der Pfordten keine Verstöße. Vielmehr schlug er dem Magistrat eine richtigstellende Bekanntmachung vor. »Der Erwägung stelle ich anheim, ob nicht durch ein amtliches Anschreiben des Stadtmagistrats die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen wäre, daß ein Entlassener kein Gefangener mehr ist.«572 Zwei Jahre nach den »Spötteleien« am Lagerzaun war die Anwesenheit der Internierten noch keine nicht-beachtenswerte Alltäglichkeit. Dies traf nicht nur für Traunstein zu. Laut dem zuständigen Kreisdirektor in Holzminden hatte »[d]as Gebaren der Gefangenen« bei ihren Stadtbesuchen noch bis Sommer 1917 »wiederholt Anstoß erregt«.573 Die Verhöhnung der drei Spazierenden in der Traunsteiner Zeitung erfolgte offenbar aus verletztem Nationalstolz. Die Herausgeber bildeten nach Recherchen nicht nur Meinungen ab, sondern beanspruchten mit ihrer Drohung, in private soziale Beziehungen eingreifen zu dürfen. Die ehemals Internierten, Medwedow568 Gemeines Frauenzimmer, in: Traunsteiner Wochenblatt, 20.7.1916, zit. nach: Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, S. 251. 569 Verhandlung Anna Bermühler, 20.7.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5. 570 Gemeines Frauenzimmer, in: Traunsteiner Wochenblatt, 20.7.1916, zit. nach: Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, S. 251. 571 Erklärung d. Major a. D. Reverdys, 20.7.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5. 572 Randnotiz auf d. Verhandlungsprotokoll betr. Anna Bermühler v. 20.7.1916, 21.7.1916, u. Bkm. d. Magistrats, 26.7.1916, (Ent.) in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5. 573 Hzgl. Kreisdirektion Holzminden (gez. Hoffmeister) an d. Hzgl. SMin. Braunschweig, 1.7.1917, in: StA Wolfenbüttel, 12 Neu 9, Nr. 460, Bl. 22 ff.
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ski und Safian, versicherten daraufhin, auf künftige Kontakte mit Anna Bermühler zu verzichten. »Ich erkenne gleichfalls an,« gab letzterer auf der Polizeiwache zu Protokoll, »dass der Spaziergang bei den hier herrschenden Stimmungen eine gewisse Unvorsichtigkeit war. Ich werde selbstverständlich künftighin öffentlichen Verkehr mit der Dame meiden.«574 Neben der klarstellenden Bekanntmachung des Bürgermeisters über die entlassenen Zivilinternierten stand weiterhin das unter Strafe gestellte Umgangs- und Fürsorgeverbot zwischen der Bevölkerung und den Kriegsgefangenen.575 Auch von der Pfordten beklagte die fortgesetzten Kontakte mit den feindlichen Soldaten. Vor allem die Arbeitsabstellung Einzelner hätte schwerwiegende Verstöße gegen die Anordnung, insbesondere »geschlechtlichen Verkehr mit Familienangehörigen oder Dienstboten der Arbeitgeber«, hervorgebracht.576 Demzufolge verlangte er von der Bevölkerung eine minuziöse Unterscheidung zwischen zur Arbeit entlassenen Kriegsgefangenen und arbeitenden ehemaligen Internierten. Ausländer waren nicht gleich Ausländer in seinem Kontrollbereich. Zudem suggerierte er mit seinen Ausführungen, dass erst die Einkehr der Gefangenen in die zivilen Lebensräume Begegnungen und vielfältigen Austausch ermöglicht hätte. Aber das Beispiel seines Lagers verdeutlicht einen intensiven Kontakt über die Stacheldrahtzäune hinweg. Nachdem bereits Ende 1917 ein Briefverkehr zwischen dem entlassenen Zivilgefangenen Johann Guilim und Joseph Feuerlein unter Umgehung der Postprüfungsstelle des Lagers aufgedeckt worden war,577 führte ein Brieffund bei dem polnischen Zivilgefangenen Adolf Stach ein dreiviertel Jahr später den Verbindungsoffizier des Lagers zu einem Brief- und Paketschmuggelunternehmen. Die Rechtsanwaltswitwe Ellen Geigl (1887–?) hatte nach seinen Ermittlungen einen regen Verkehr mit dem nach Traunstein entlassenen serbischen Internierten Uresch Stanojewitsch (1886–?), einem verheirateten Bahnbeamten, gepflegt. Ein anfänglicher Briefkontakt mündete in eine Liaison, die nicht verboten war. Aber beide beendeten ihre Beziehung nicht, als Stanojewitsch wegen Spionageverdachts im August 1918 erneut verhaftet wurde. Sie versuchten über ein weites Netzwerk aus Vertrauten ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. Dreh- und Angelpunkt der Bemühungen Geigls und Stanojewitschs war allem Anschein nach Ursula Wild (1870–?), welche die ihr überbrachten Güter in das Lager weiterleitete. »Frl. Wild errichtete gewissermassen eine Zentrale für Abgabe von Lebensmitteln und Briefen an die Serben in das Lager«, urteilte der Ver574 Erklärung d. David Safian, 20.7.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/5. 575 Bkm. d. stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann), 4.3.1915, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1. 576 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Arbeits-Abstellung, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 577 Bericht über Gefangenenbeobachtung, Gefangenenlager Traunstein, 14.12.1917, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1404.
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bindungsoffizier gegenüber dem örtlichen Staatsanwalt. Aber auch Wild kam nicht ohne Kontakte in das Gefangenenlager aus. Ihre Überbringer waren offenbar die beiden russländischen Zivilgefangenen Ustimenko und Sigmund Kalmus (1891–?). Letzterer hatte vor dem Krieg als Kaufmann in München gelebt und schien recht eifrig zu sein. Allerdings konnte ihm nur die Übergabe von Briefen nachgewiesen werden. Zwischen Wild und Geigl wiederum agierten viele Vertraute aus dem bürgerlichen Milieu der Stadt, die in die Beziehung eingeweiht waren und Briefe weiterleiteten sowie überbrachten. Einige von ihnen hatten selbst Kontakte zu Gefangenen geknüpft. Neben den Briefen übermittelten sie Brotmarken, Obst, Fleisch, Ölsardinen, Mehl, Kuchen, Tee und andere Dinge. Ebenso spielte die Früchtehandlung Renner eine gewisse Rolle. Den Inhabern gelang es jedoch, mit einem »unverschämten Ton« den Vermittlungsoffizier von weiteren Nachforschungen abzuhalten. Schließlich musste er erkennen, dass vom Lagerpersonal mindestens San.-Sergeant Buchern, der Pakete, und Leutnant Kurt Mayer, der Briefe den Gefangenen überbrachte, involviert gewesen waren.578 Dass die Briefkontakte ergänzt wurden durch Lebensmittelpakete, war weniger auf einen grundsätzlichen Mangel im Lager zurückzuführen. Die Vernehmung Adolf Stachs hatte ergeben, dass er Zucker und Zigaretten von einem »Polen« und einem »Franzosen« im Lager gegen Seife für die beiden Ausländer eintauschte.579 Für ihn stand ein Tauschhandel im Mittelpunkt, der im vierten Kriegsjahr die gravierenden Mängel in der Grundversorgung aller im Deutschen Reich sich Aufhaltenden sichtbar werden ließ. Über den Traunsteiner Lagerzaun hinweg zirkulierten Güter und Wissen, welche die Beziehung zwischen Geigl und Stanojewitsch aufrechterhielten und weitere intensive Kontakte fortbestehen ließen. Die beteiligten Bürger/innen, Zivilinternierten und Lagerbediensteten teilten und vermittelten ein Erfahrungswissen über das Lager, das nicht in den Zeitungen, Inspektionsberichten, Stellungnahmen der Kommandantur oder auf Fotografien repräsentiert wurde. Sie wussten, wie Kontrollen zu umgehen waren, an welchen Orten – etwa Kirchen und Lagerzaunabschnitten – sie sich treffen, wen sie einweihen konnten. Sie besaßen darüber hinaus Kenntnisse voneinander, die sich den Kontrollversuchen der Lagerkommandantur entzogen. Die Verstrickungen und Verwicklungen zwischen den Zivilisten inner- und außerhalb des Lagers skizzieren einen Möglichkeitspol im gesellschaftlichen Umgang mit den Internierten, an dessen entgegengesetztem Ende die Traunsteiner Pöbeleien am Anfang des Krieges standen. Die Offiziere in Traunstein hatten dennoch ein wichtiges Kontroll- und Überwachungsinstrument installiert, als sie entschieden, dass schriftliche Korrespon578 Verbindungsoffizier Gefangenenlager Traunstein an d. Staatsanwalt d. Landgerichtes Traunstein, 18.10.1918, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1404. 579 Vernehmungsprotokoll Adolf Stach, Traunstein, 18.10.1918, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1404.
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denzen der einmal Internierten die Postprüfungsstelle des Lagers passieren mussten.580 Die Postkontrolle ermöglichte ihnen die beständige Überwachung und Sanktionierung der Gefangenen und hielt das Lager als einen wichtigen Bezugspunkt für die Entlassenen aufrecht. Sie war weit mehr als eine Spionageabwehr. Während an der Westfront Verteidigungsschlachten tobten und der Generalquartiermeister Erich Ludendorff über ein Waffenstillstandsgesuch nachdachte, entwarf der Verbindungsoffizier des Lagers Traunstein eine weitere Bekanntmachung an die Bevölkerung.581 Darin beklagte er, dass »Zivilpersonen Briefe unter den Gefangenen vermitteln« und drohte, in zukünftigen Fällen von Briefschmuggel eine »gerichtliche Bestrafung« zu beantragen. »Strafbar ist auch, wenn Zivilisten den Gefangenen Zivilkleider geben, damit die Gefangenen nicht als solche erkannt werden sollen.« Fluchthilfen seitens der Bevölkerung stellten für die Heeresverantwortlichen fortwährend ein Problem dar. In Bayern wie im restlichen Deutschen Reich waren Belohnungen für die Festnahme flüchtiger Kriegsgefangener vorgesehen,582 die im August 1916 auf die Ergreifung von Zivilgefangenen ausgedehnt wurden.583 Um sie zu stellen und ihre Fluchtversuche durch Abschreckung zu verringern, lobten die verantwortlichen Offiziere für ihre Ergreifung eine Belobigung und bis zu 20 Mark aus. Eine Unterscheidung zwischen entwaffneten Soldaten und gefangenen Zivilisten wurde gegenüber der ›deutschen‹ Zivilbevölkerung nicht mehr vorgenommen. Im Königreich Sachsen erwarteten die beiden zuständigen stellvertretenden Generalkommandeure seit Februar 1915 eine Gleichbehandlung flüchtiger Kriegs- und Zivilgefangener durch die Zivilbehörden. Sie erteilten »den Gendarmen die Befugnis, auf Kriegsgefangene (Militär und Zivil), die sich der Gefangenschaft durch Flucht entziehen wollen, nach einmaligem vorherigem Anruf zu schießen«.584 Dem entgegen misstraute Freiherr von Gayl, der stellvertretende Generalkommandeur des Münsteraner Armeekorpsbezirks, der Bevölkerung, indem er sie viel 580 Stv. Gkdo. I. bay. AK an u. a. d. Bay, KM, d. SMdI u. hier an d. Kriegsgefangenenlager Traunstein, 19.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2005. 581 Bkm., in: Tittmanninger Anzeiger, 24.9.1918 (Nr. 113) u. in: Reichenhaller Grenzbote, 24.9.1918 (Nr. 221) u. in: Freilassinger Zeitung, 25.9.1918 (Nr. 77), Ztga. in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 1404. 582 Preuß. KM, betr. Belohnung aus Anlaß d. Ergreifung flüchtiger Kriegsgefangener, an sämtl. stv. Gkdos., 13.9.1915, in: HStA Dresden, 10736/3358, Bl. 67 f. Öffentlich bekanntgegeben u. a.: Bkm. betr. Ergreifung flüchtiger Kriegsgefangener, 10.10.1915, in: Roth (Bearb.), Kriegsanordnungen, I. bay. AK, S. 195. 583 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Belohnung aus Anlaß d. Ergreifung flüchtiger Zivilgefangener, an d. Reichskanzler (RAdI), 31.8.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112388, Bl. 2. 584 Stv. Gkdo. XIX. AK (gez. v. Schweinitz) an d. Sächs. MdI, 14.2.1915, in: HStA Dresden, 10736/3349, Bl. 109 u. eine gleichlautende Verfügung d. stv. Gkdos. XII. AK, 13.2.1915, in: Ebd., Bl. 112.
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eher der Fluchthilfe verdächtigte. Er ordnete deshalb für seinen Verantwortungsbereich an, dass »[w]er es unternimmt, entwichene Kriegsgefangene oder entwichene Zivilgefangene […] aufzunehmen, verborgen zu halten, zu verpflegen oder sie sonst auf irgend eine Weise mit Rat und Tat bei ihrem unbefugten Fernbleiben von ihrer Bewachungsstelle zu unterstützen, […] mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft« wird. »Wer von dem Aufenthalt eines solchen Gefangenen Kenntnis hat, ist verpflichtet, hiervon der nächsten Polizeibehörde oder dem nächsten Gemeindevorsteher Mitteilung zu machen. Die Unterlassung dieser Mitteilung zieht gleichfalls Bestrafung nach sich.«585
Verhandlungen der Diplomaten Prekäre Vereinbarungen Dem Schweigen der Haager Landkriegsordnung über den Umgang mit den beiderseitigen Staatsangehörigen im Kriegsfalle stand ein hundert Jahre älteres Vertragswerk gegenüber: der Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Seiner Majestät dem König von Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika von 1785 (erneuert 1799).586 Vordergründig als ein Abkommen konzipiert, das die Liberalisierung der Handelsbeziehungen vorantreiben und die Gleichbehandlung in Zollfragen sichern sollte, vereinbarten die Regierungen außerdem Rechte ihrer Bürger im Kriegsfall. Neben Bestimmungen über eine angemessene Behandlung Kriegsgefangener (Art. 24) nahmen sie im Verlauf der Verhandlungen einen Artikel über den Schutz von Zivilpersonen (Art. 23) auf.587 Dieser Zusatz, der offenbar von Benjamin Franklin (1706–1790) abgefasst wurde und aus den Erfahrungen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges hervorging, enthob den Vertrag seines ausschließlichen Handelscharakters und stellte ihn unter die Prämisse der Zusicherung elementarer Bürgerrechte.588 Der 23. Artikel bestimmte:
585 Bkm. d. stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl), 12.7.1915, in: Verordnungen des kommandierenden Generals für den Bereich des VII. Armeekorps, Zweiter Nachtrag, S. 64. 586 Der Freundschafts- und Handelsvertrag von 1785 zwischen Seiner Majestät dem König von Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika, hg. von Karl Arndt, München 1977 u. The Treaty of Amity and Commerce of 1785 between His Majesty the King of Prussia and the United States of America, in: Treaties and Other International Agreements of the United States of America, 1776–1949, Vol. 8, hg. von Charles I. Bevans, Washington D.C. 1971, S. 78–97. 587 Der Freundschafts- und Handelsvertrag von 1785, S. 90 f. 588 Götz Fehr, Völkerrecht aus dem Geiste von Freiheit und Menschlichkeit, in: Der Freundschafts- und Handelsvertrag von 1785 zwischen Seiner Majestät dem König von Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika, hg. von Karl Arndt, München 1977, S. 105–109.
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»Wenn zwischen den beiden kontrahierenden Teilen Krieg ausbrechen sollte, soll es den Kaufleuten eines jeden der beiden Länder, die zu diesem Zeitpunkt im anderen Lande wohnen, erlaubt sein, neun Monate zu bleiben, um ihre Schulden einzutreiben und ihre Angelegenheiten zu ordnen, wonach sie frei abreisen und all ihre bewegliche Habe ohne Belästigung mitnehmen dürfen. Alle Frauen, Kinder, Gelehrte jeglicher Fakultät, Landwirte, Handwerker, Manufakturisten und Fischer, die unbewaffnet in unbefestigten Städten, Dörfern und Orten wohnen und ganz allgemein alle anderen, deren Beschäftigung dem allgemeinen Lebensunterhalt und dem Wohl der Menschheit dienen, sollen ihren jeweiligen Beschäftigungen weiter nachgehen dürfen und sollen nicht persönlich belästigt werden[.]«589 Anfang 1917, kurz vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und dem Deutschen Reich, erinnerte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur Zimmermann, den US-amerikanischen Botschafter, James W. Gerard, an diesen Vertragstext.590 Beide kamen überein, ihn protokollarisch bestätigen zu wollen. Die Deutsche Gesandtschaft in Bern übermittelte kurz darauf den Entwurf einer Zusatzvereinbarung an das US-amerikanische Außenministerium. Mit der Begründung, dass der Artikel 23 einiger Erläuterungen und Nachträge hinsichtlich der Entwicklung des internationalen Rechts bedürfe, formulierten die deutschen Diplomaten einerseits Ergänzungen wie die Respektierung von Patenten und Wirtschaftsverträgen. Andererseits hoben sie den Vorrang militärischer Handlungsoptionen hervor, indem sie eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der beiderseitigen Staatsangehörigen ermöglichen wollten. »Merchants as well as the other persons mentioned in article 23 may be excluded from fortified places or other places of military importance.«591 Mit dieser Beifügung ordneten sie die Rechtsvereinbarung von 1785 dem Status quo des Krieges unter. Eine Internierung der Zivilisten hielten sie daran anschließend in einer schwebenden Nicht-Möglichkeit. »They may accordingly not be transferred to 589 Dt. Übersetzung: Der Freundschafts- und Handelsvertrag von 1785, Art. 23, S. 19. 590 The Ambassador in Germany (Gerard) to the Secretary of State, Berlin, 4.2.1917, in: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States (FRUS), 1918, Supplement 2, The World War, Washington D.C. 1933, S. 160. Die Diskussionen über den Vertrag setzten im ersten Kriegsjahr ein. Für das Reichsmarineamt hatte Heinrich Pohl (1883–1931), Professor für Öffentliches Recht an der Universität Greifswald, im Februar 1915 ein Gutachten über die Gültigkeit der seekriegsrechtlichen Bestimmungen verfasst. Siehe: Materialien u. Gutachten zur Frage d. Geltung d. preußisch-amerikanischen Verträge von 1785, 1799 und 1828 im gegenwärtigen Weltkriege, 26.2.1915, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5352, Bl. 36–60. 591 The Swiss Minister (Ritter) to the Secretary of State, Washington, 10.2.1917, conc. Agreement between Germany and the United States of America Concerning the Treatment of Each Others Citizens and Their Private Property after the Servance of Diplomatic Relations, in: FRUS 1918, Supplement 2, The World War, S. 160 ff., hier Art. 2, S. 161.
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concentration camps, nor shall their private property be subject to sequestration or liquidation or other compulsory alienation except in cases that under the existing laws apply also to neutrals.«592 Robert Lansing (1864–1928), der Außenminister der USA, erteilte dem Entwurf eine Absage. Die deutsche Seite hatte in seinen Augen mit dem uneingeschränkten U-Bootkrieg, bei dem seit 1915 US-amerikanische Staatsbürger/innen, die auf Handelsschiffen reisten, getötet worden waren, längst elementare Vertragsartikel gebrochen. Zudem wurden vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen Ausreisewillige am Verlassen des Deutschen Reiches gehindert. »While this is not a violation of the terms of the treaties mentioned,« informierte Lansing den Botschafter der Schweiz, »it is a disregard of the reciprocal liberty of intercourse between the two countries in time of peace, and cannot be taken otherwise than as an indication of a purpose on the part of the German Government to disregard in the event of war the similar liberty of action provided for in article 23 of the treaty of 1799[.]«593 Die deutsche Entgegnung wiederum entlarvte den Vorrang militärischer Überlegungen vor diplomatischen Abwägungen.594 »That departure from the country is delayed under certain circumstances is to be ascribed to necessary precautionary measures.«595 Die sich nach der Kriegserklärung entwickelnde Debatte innerhalb der USAdministration, inwieweit der Vertrag von 1785 vereinbar mit einem Ausreiseverbot für feindliche Ausländer/innen sei, illustriert den eindringenden Duktus des Krieges in die Rechtfertigungen staatlichen Handelns. »[I]t was our duty to allow all German citizens resident in this country the full nine months stipulated«, schrieb Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) im Mai 1917 an Lansing, »but […] it was our privilege to discriminate amongst them just as we are discriminating amongst those alien enemies who remain in residence here, distinguishing and restraining those whom we have reason to believe to entertain purposes hostile or inimical to the United States«.596 Von deutscher Seite wurde der Artikel 23 zuerst am 18. April 1917 in Frage gestellt, als US-amerikanische Staatsangehörige den Bestimmungen 592 Ebd., Art. 3. 593 The Secretary of State to the Swiss Minister (Ritter), 20.3.1917, in: FRUS 1918, Supplement 2, The World War, S. 162 ff. 594 Arthur Zimmermann hatte im internen Schriftwechsel Bezug auf den Vertrag und die daraus hervorgehenden Prämissen im Umgang mit US-amerikanischen Staatsbürger/innen genommen: Preuß. Minister d. auswärtigen Angelegenheiten (gez. Zimmermann) an d. Minister d. geistlichen u. Unterrichts-Angelegenheiten, 15.4.1917, (Abs.) in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 826, Bl. 3. 595 The Swiss Minister (Ritter) to the Secretary of State, 30.3.1917, in: FRUS 1918, Supplement 2, The World War, S. 164 f. 596 President Wilson to the Secretary of State, 8.5.1917, in: FRUS 1918, Supplement 2, The World War, S. 170 f. Die hier verwendete Bezeichnung »alien enemy« war ebenso gebräuchlich wie »enemy alien«. Siehe: Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg, S. 20, Fn. 7.
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über die Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten unterworfen wurden.597 Mit der staatlichen Zwangsaufsicht für US-amerikanische Unternehmen erklärte ihn der Reichskanzler am 18. Oktober 1917 für nichtig.598 Die vorgeschlagene Zusatzvereinbarung legt die Suche nach diplomatischen Spielräumen vor dem Hintergrund des Fehlens internationaler Übereinkünfte offen. Die Vertreter des Deutschen Reiches wollten komplizierte Verhandlungen in einem neuartigen Diplomatiefeld vor dem Kriegseintritt der USA abwickeln. Denn die Rahmenbedingungen, Kriterien und Entlassungsvoraussetzungen hinsichtlich der Kriegs- und Zivilgefangenschaft mussten ebenso wie die Austauschkonditionen für Militär- und Zivilpersonen oder ihre Internierungen in Drittstaaten bilateral vereinbart werden. Als Vermittler zwischen den Kriegführenden stellten sich neutrale Gesandtschaften wie die niederländische, die schweizerische oder die spanische zur Verfügung und begleiteten die meist langwierigen und umfangreichen Verhandlungen.599 Diese waren geprägt von einem stetigen Misstrauen, von Vorwürfen und Anklagen wegen Kriegsrechtsverletzungen, und geführt wurden sie mit Druckmitteln jenseits des Verhandlungstisches. So akzeptierte der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg Vergeltungsmaßnahmen, um den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu forcieren. Den sodann errungenen Vereinbarungen wohnte ein prekärer Status inne. Wiederum Bethmann Hollweg vermerkte, dass es sich »nicht um förmliche Verträge« handelte, »sondern nur um mehr oder minder formlose Abreden«.600 Kennzeichnend für die Verhandlungsergebnisse war in manchen Fällen bereits ihr Entstehungsprozess. »The question of the inspection of prisoners of the camps and the rights of Ambassadors charged with the interests of hostile powers was quite in the clouds«, erinnerte sich James W. Gerard über die Inspektionsrechte neutraler Delegierter zu Kriegsbeginn.601 Die Heeresverantwortlichen hatten seine Besuche bei Kriegsgefangenen erschwert, und die zivilen Reichsbehörden verweigerten ihm eine klärende Stellungnahme. Er wandte sich deshalb, ohne Rücksprache mit anderen kriegführenden Parteien zu suchen, an den Reichskanzler. Sein mit Zorn vorgetragenes Gesuch – »If I cannot get an answer to my proposition about prisoners, I will take a chair and sit in front of your palace in the 597 Preuß. KM, betr. Angehörige d. Vereinigten Staaten von Amerika, an sämtl. militärische Stellen, hier wtgl. an d. Sächs. KM, 18.4.1917, in: HStA Dresden, 10736/3367, Bl. 14 u. Bethmann Hollweg an d. preuß. Kriegsminister, 14.5.1917, (Abs.) in: Ebd., Bl. 43 f. 598 Reichskanzler (RAdI) an d. Bundesregierungen, 18.10.1917, in: HStA Dresden, 10717/2290. 599 AA an d. Legationsrat Kempff, Politische Abt., Generalgouverneur in Belgien, 9.2.1917, (Ent.) in: BArch Berlin, R 901/82918. 600 Zusammenstellung d. Vereinbarungen zwischen d. Deutschen Reich u. d. Kriegsgegnern über d. beiderseitigen Kriegs- u. Zivilgefangenen, 2.3.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 320 (Anlage Nr. 508–708), Nr. 645, S. 3. 601 Gerard, My four years, S. 120 f.
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street until I receive an answer«602 – hatte Erfolg. Unerwartet kam er mit Repräsentanten des Auswärtigen Amtes, des Generalstabs, des Preußischen Kriegsministeriums und dem Kommandanten des Internierungslagers in Ruhleben zusammen. »In twenty minutes we managed to reach an agreement which I then and there drew up«, notierte er rückblickend.603 Die Anwesenden legten pragmatisch die grundsätzlichen Rechte neutraler Abgesandter fest. Sie sollten die Lager jederzeit besuchen und sich außerhalb des Hörbereiches der Lagerverantwortlichen mit den Gefangenen unterhalten dürfen. Probleme seien fortan mit den Lagerkommandanturen vor Ort zu klären. Zudem konnten die Schutzmachtvertreter bis zu zehn Delegierte benennen, die, ausgestattet mit Sonderpässen, diese Rechte teilten. In 20 Minuten improvisierten die Verantwortlichen eine Vereinbarung, die von der britischen Regierung anerkannt und gleichermaßen umgesetzt wurde und während der Kriegsjahre ihre Gültigkeit behielt. Eine solche Stabilität zeitigten nicht alle Übereinkünfte. Aus Verhandlungen zwischen französischen und deutschen Abgesandten ging im Januar 1916 eine Verständigung über die Freilassung und die Rückkehr weiblicher Zivilgefangener, Dienstuntauglicher und Nicht-Wehrpflichtiger in ihre Heimat hervor.604 Die Offiziere im Preußischen Kriegsministerium ordneten an, dass sowohl »die bei Kriegsausbruch in Deutschland befindlichen Franzosen und Französinnen, wie auch […] die vom Kriegsschauplatz zurückgeführten, […] einschließlich der Geiseln, sobald der Zweck ihrer Festhaltung hinfällig geworden ist«, davon profitieren sollten. Fünf Monate später stellten sie jedoch fest, dass »Frankreich seine […] übernommenen Verpflichtungen zum großen Teil nicht erfüllt habe«. Deshalb wurde die weitere Rückkehr in das besetzte Nordfrankreich untersagt und lediglich bei erforderlicher »Arbeitsleistung im Heeresinteresse« genehmigt.605 Die Übereinkunft war damit teilweise gescheitert. Warum die französische Regierung ihren Zusagen nicht nachkam, erfuhren die Beteiligten erst ein Jahr später. Der Grund war eine unterschiedliche Auslegung des betroffenen Personenkreises. So hatte die französische Regierung den Standpunkt vertreten, dass das Abkommen »lediglich die Rückkehr der Zivilgefangenen in ihre Heimat regele« und Zivilisten ausschloss, »die sich auf freiem Fuß befänden«.606 Umgehend erfolgte daraufhin ein Rückkehrverbot für »auf freiem Fuße befindliche Franzosen und Französinnen« im Deutschen Reich. Die Geltungsdauer der ausgehandelten Provisorien blieb
602 Ebd. 603 Ebd., S. 121. 604 Preuß. KM, betr. Rückkehr französischer Zivilgefangener, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 15.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 36 f. u. in: GLA Karlsruhe, 456/F1/409. 605 Generalquartiermeister an d. Armee-Oberkommandos u. Etappen-Inspektionen d. Westens, 5.6.1916, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 51. 606 Preuß. KM (Unterk.-Dept.), betr. Abreise französischer Staatsangehöriger, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 31.5.1917, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 67.
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folglich ungewiss. Zugleich gab es keine Gewähr für eine alle Akteure zufriedenstellende Umsetzung.607 Erste Übereinkünfte hinsichtlich feindlicher Ausländer und Ausländerinnen waren Ende August 1914 zustande gekommen. Die französische Regierung hatte die Anregung des spanischen Botschafters in Bern aufgegriffen, Verzeichnisse über die zurückgehaltenen Staatsangehörigen auszutauschen.608 Die deutschen Regierungsvertreter stimmten dem Ansinnen zu. Aus ihrer Sicht befanden sich zum einen mehr deutsche Staatsbürger/innen in Frankreich als französische im Deutschen Reich. Zum anderen hofften sie, auf diesem Wege Nachrichten über die in französischen Internierungslagern Festgehaltenen zu erlangen. Im Rahmen des gegenseitigen Informationsaustausches forderte die Reichsleitung von den Bundesstaaten genaue Verzeichnisse über die Anzahl der vor Ort aufhältlichen Ausländer/innen ein.609 Ein feingliedriges Wissen über sie war die Grundlage der Kriegsdiplomatie. Die Vereinbarungen bestätigten und normierten im Zuge dessen die Kategorisierung ausländischer Zivilisten anhand ihrer Staatsbürgerschaft. Sie setzten eine nationalstaatsbezogene Ordnung der Ausländer/innen voraus, unterwarfen sie aufgrund des bilateralen Charakters anschließend ihrer staatlichen Zugehörigkeit und erkannten ihre daraus hervorgehende unterschiedliche Behandlung an. Bis zum Frühjahr 1917 erreichten die Vereinbarungen über Ausländer/innen, Kriegs- und Zivilgefangene einen solchen Umfang, dass die Reichsleitung zur Orientierung eine Zusammenstellung veröffentlichte.610 Diese spiegelte ein kontinuierlich verdichtetes Regelwerk wider. Im Oktober 1914 hatten die diplomatischen Vertreter des Deutschen Reiches und Frankreichs beschlossen, weiblichen Zivilpersonen sowie männlichen unter 17 und über 60 Jahren die Ausreise zu gestatten.611 Im Dezember desselben Jahres, 607 Zusammenstellung d. Vereinbarungen zwischen d. Deutschen Reich u. d. Kriegsgegnern über d. beiderseitigen Kriegs- u. Zivilgefangenen, 2.3.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 320 (Anlage Nr. 508–708), Nr. 645, S. 10. 608 Gesandter Romberg in Bern an d. AA, 17.8.1914, (Telegramm, Abs.) in: BArch Berlin, R 901/83168. 609 Preuß. Minister d. Innern (i.V. gez. Drews, Unterstaatssekretär) an d. Reg.-Präs. u. d. Polizeipräsidenten von Berlin, 25.8.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762 u. (Aktenexemplar) Rundschreiben d. Reichskanzlers, (RAdI, gez. Lewald), 5.9.1914, in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 127. 610 Zusammenstellung d. Vereinbarungen zwischen d. Deutschen Reich u. d. Kriegsgegnern über d. beiderseitigen Kriegs- und Zivilgefangenen, 2.3.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 320 (Anlage Nr. 508–708), Nr. 645. Zugleich: Weißbuch betr. Vereinbarungen seitens Deutschlands u. d. feindlichen Staaten über Kriegs- u. Zivilgefangene, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/7110. Eine bis Kriegsende reichende (unvollständige) Aufzählung der Vereinbarungen findet sich bei Scheidl, Die Kriegsgefangenschaft, S. 223 u. 596–599. 611 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. Sächs. KM, 14.10.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 83. Siehe auch: Preuß. Minister d. Innern (gez. v. J arotzky, Ministerialdirektor) an d. Oberpräsidenten u. d. Reg.-Präs. in Sigmaringen, 18.10.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762.
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nachdem deutsche und französische Staatsbürger in großer Zahl interniert worden waren, sollten dienstuntaugliche Männer zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr nachträglich von dieser Maßnahme ausgenommen werden. Im Januar 1916 folgte eine Verständigung über die Freilassung der weiblichen Zivilgefangenen, die aus den militärisch besetzten Gebieten evakuiert worden waren, aller dienstuntauglichen Wehrpflichtigen und aller männlichen Zivilisten unter 17 und über 55 Jahren.612 Weitgehende Abreisevereinbarungen kamen ebenso zwischen britischen und deutschen Unterhändlern zustande. Seit September 1914 erhielten Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren, Frauen und über 55 Jahre alte Männer die Erlaubnis abzureisen.613 Dienstuntauglichen, Ärzten und Geistlichen im wehrpflichtigen Alter wurde dies ebenfalls gestattet.614 Für alle Ausreisewilligen galt allerdings, dass sie nicht spionageverdächtig sein durften. Im Januar 1917 senkten die beiden Regierungen das höchstmögliche Alter der Internierten auf 45 Jahre herab. Zudem sollten nicht mehr als jeweils 20 Zivilisten aus militärischen Gründen zurückgehalten werden. Im Zuge der Verhandlungen stimmten die Kriegsgegner ebenfalls einer deutlichen Einschränkung der Vergeltungsmaßnahmen zu. »Reprisals against combatant and civilian prisoners of war may only be carried out after at least four week’s notice of intention so to do has been given. […] In cases which seem suitable an attempt will be made to eliminate the reasons for reprisals by arranging a personal discussion at The Hague before threatening the reprisals«, hielt die Vereinbarung aus dem Juli 1917 fest.615 Nachdem russländische Staatsangehörige im September und Oktober 1914 mit Sonderzügen über Schweden ausgereist waren und die Vertreter des Russischen Reiches die Gegenseitigkeit verbürgt hatten, gelangten deutsche und russische Unterhändler im Februar 1915 zu einer weiteren Übereinkunft.616 Bis auf männliche Zivilpersonen zwischen ihrem 17. und 45. Lebensjahre sollten nun alle beiderseitigen Staatsbürger/innen ihre Heimreise antreten können. Zu den vereinbarten Modalitäten gehörte die Zusicherung, dass weiterhin Sonderzüge zur 612 Preuß. KM, betr. Rückkehr französischer Zivilgefangener, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 15.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 36 f. u. in: GLA Karlsruhe, 456/F1/409. 613 Siehe auch: Preuß. Minister d. Innern (gez. Loebell) an d. Oberpräsidenten, 9.9.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762 u. Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an d. Sächs. KM, 8.10.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 63. 614 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. Sächs. KM, 21.10.1914, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 85. 615 Agreement between Great Britain and Germany Concerning Combatant and Civilian Prisoners of War, Den Haag 2.7.1917, in: Documents on Prisoners of War, hg. von Howard S. Levie, Newport 1979, Dok.-Nr. 37, S. 86–93 u. Parlamentary Papers, Cd. 8590, Agreement between Great Britain and Germany Concerning Combatant and Civilian Prisoners of War, Misc.-No. 12 (1917). 616 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee an d. Sächs. KM, 15.2.1915, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 160.
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Verfügung stünden und Hilfskomitees zugelassen würden. Die Reisenden durften ihr Gepäck, Bargeld und Wertsachen mitnehmen. Im Herbst 1916 sicherten sich die Regierungen abermals zu, dass sie Zivilisten, die aus den militärischen Operationsgebieten deportiert und in Lagern untergebracht worden waren, entlassen würden. Männer im Alter zwischen 17 und nun 49 Jahren und jene, die entweder durch einen Arbeitsvertrag gebunden waren oder »für eine Verwendung in der deutschen Kriegswirtschaft als Facharbeiter« in Frage kamen, bildeten davon wiederum eine Ausnahme.617 Zu einem erneuten diplomatischen Erfolg auf dem Papier gelangten die beiderseitigen Verhandlungsführer im Herbst 1917 in Kopenhagen. Die Ratifizierung der Vereinbarungen über einen Zivilgefangenenaustausch scheiterte allerdings an den politischen Unruhen in Russland im Oktober 1917.618 Erst im Zuge des Friedensvertrages von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 einigten sich die deutschen und die sowjetischen Diplomaten auf eine Entlassung der Zivilinternierten in ihre Heimat.619 Bis dahin sollten sie »eine Besserung ihrer Lage wirklich empfinden«.620 Infolge der politischen Spannungen zwischen dem japanischen und dem deutschen Kaiserreich und der darauffolgenden Kriegserklärung wurden Ende August 1914 japanische Staatsangehörige im Deutschen Reich in Schutzhaft genommen, »um sie gegen eventuelle Ausschreitungen zu schützen«.621 Kurz darauf vereinbarten beide Kriegsparteien dennoch die Entlassung Unverdächtiger und erlaubten ihre Abreise beziehungsweise Abschiebung.622 Die in Deutschland verbliebenen Internierten fanden sich in verschiedenen Lagern wieder. In Ruhleben wies ihnen die Kommandantur eine abgeschirmte Baracke zu.623 Ebenso hatten sich deutsche und serbische Unterhändler auf die Freilassung und ungehinderte Abreise der beiderseitigen Staatsangehörigen geeinigt.624 617 Preuß. KM an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 4.9.1916, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 52. 618 Emil Friedrich, 193. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 5.1.1918, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 4, S. 1842–1848, hier S. 1846 f. 619 Johannes Zelt, Die deutsch-sowjetischen Beziehungen in den Jahren 1917–1921 und das Problem der Kriegsgefangenen und Internierten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 15 (1967), Heft 6, S. 1015–1032, hier S. 1016–1019. 620 Preuß. KM (gez. i. A. v. Fransecky), betr. Behandlung von Zivilgefangenen des ehemaligen russischen Kaiserreiches, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4594, Bl. 301 u. Preuß KM (gez. i. A. v. Fransecky), betr. Erleichterungen für russische Offiziere u. Mannschaften, 27.5.1918, in: Ebd., Bl. 302 f. 621 Staatssekretär d. Reichsmarineamts (gez. v. Capelle) an d. Okdo. in d. Marken, 19.8.1914, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112361, Bl. 43. 622 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee, betr. Abreise d. unverdächtigen Japaner, hier an d. Sächs. KM, 23.9.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 43. 623 Wippich, Internierung und Abschiebung von Japanern, S. 18–40. 624 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee hier an d. Sächs. KM, 4.10.1914, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 62 u. siehe ebenso: Preuß. KM, betr. Behandlung Angehöriger feindlicher Staaten, d. sich bei Ausbruch d. Krieges im Dt. Reich aufhielten, 9.11.1914, in: Ebd., Bl. 106– 110.
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Die Mehrzahl der zwischenstaatlichen Vereinbarungen betraf den Personenkreis der Zurückgehaltenen und Internierten. Im Laufe des Krieges verengten die kriegführenden Regierungen und Militärverantwortlichen diesen auf gesunde, wehrpflichtige Männer und Spionageverdächtige. Den Übrigen sicherten sie eine Abreise zu. Sofern Ausländer/innen ihren Lebensunterhalt selbst sichern konnten, sollten sie zum Verlassen des Landes nicht gedrängt werden. Der preußische Innenminister betonte, dass »[u]nverdächtige englische Frauen und Kinder, die seit längerer Zeit im Deutschen Reich sich aufhalten, insbesondere solche, die hier ihrem Berufe oder Studium nachgehen«, auf ihren Wunsch hin im Reich verbleiben dürften. Denn »eine Ausweisung der Engländer [ist] im allgemeinen nicht beabsichtigt«, teilte er den Oberpräsidenten mit.625 Gleichfalls sollten 1916 nur jene nicht-wehrpflichtigen französischen Staatsangehörigen für die Rücktransporte nach Frankreich angemeldet werden, die dies wünschten.626 In weiteren Vereinbarungen kamen die Vertreter des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und Russlands überein, dass Zivilinternierte nicht gegen ihren Willen zur Arbeit heranzuziehen seien, sofern es sich nicht um Tätigkeiten handelte, die der Aufrechterhaltung des Lagerdienstes dienten. Zugleich beinhalteten die Absprachen die Übernahme vieler Bestimmungen aus dem Bereich der Kriegsgefangenenbehandlung. So wurde der Postverkehr geregelt,627 und neutrale Kommissionen erhielten die Erlaubnis, ohne vorherige Ankündigung die Lager zu inspizieren. Dies bedeutete eine zunehmende Gleichstellung der Kriegsgefangenen- und Internierungslager.628 Die Diplomaten ruhten im Krieg nicht. Sie verhandelten in einem militärischen und wirtschaftlichen Abnutzungskrieg, der eine immer weiter gesteigerte gesellschaftliche Mobilmachung nach sich zog, humanitäre Eckpunkte des Umgangs mit feindlichen Staatsangehörigen. Im Zuge dessen konnten sie den Kriegführenden wie der Dritten Obersten Heeresleitung im Deutschen Reich einerseits Zugeständnisse abringen. Diese widersprachen andererseits nicht den militärischen und nationalen Interessen der Kriegsgegner, die bereit waren, Vereinbarungen zum Schutze der eigenen Staatsbürger/innen ebenso wie zur Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft einzuschränken. Gleichwohl stimmten die französische und die deutsche Heeresführung im April 1918 den Berner Vereinbarungen zu, die für die beiderseitigen Staatsangehörigen das Ende der Internierung bedeuteten. Die 625 Preuß. Minister d. Innern (gez. Loebell) an d. Oberpräsidenten, 9.9.1914, in: GStA PK, XIV. HA Rep. 180, Nr. 14762. 626 Preuß. KM, betr. Rückkehr französischer Zivilgefangener, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 15.1.1916, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 36 f. u. in: GLA Karlsruhe, 456/F1/409. 627 Preuß. KM, betr. Briefverkehr d. Kriegs- u. Zivilgefangenen, an u. a. d. Sächs. KM, 1.18.1917, in: HStA Dresden, 11348/2817, Bl. 39. 628 Zusammenstellung d. Vereinbarungen zwischen d. Deutschen Reich u. d. Kriegsgegnern über d. beiderseitigen Kriegs- und Zivilgefangenen, 2.3.1917, in: Sten.Ber.RT, Bd. 320 (Anlage Nr. 508–708), Nr. 645.
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Protokolle dieser Vereinbarung gewähren Einblicke in das Ringen um Kompromisse, in übereinstimmende Ziele und gegensätzliche Vorstellungen.
Schwierige Verhandlungen Mit dem Ziel eines Siegfriedens war die Frühjahrsoffensive des deutschen Heeres an der Westfront in vollem Gange, als im April 1918 Verhandlungen über die Rahmenbedingungen der Kriegs- und Zivilgefangenschaft in Bern aufgenommen wurden.629 Nach Sondierungen trafen am schweizerischen Verhandlungstisch nicht nur neutrale Gesandte mit weitreichenden Forderungskatalogen aufeinander. Beide Seiten hatten Entscheidungsträger ziviler und militärischer Institutionen entsandt.630 Unter anderem saßen sich Georges Cahen-Salvador (1875–1963), der Leiter der Kriegsgefangenen-Abteilung im Französischen Kriegsministerium, und Emil Friedrich, der Direktor des Unterkunfts-Departements im Preußischen Kriegsministerium, gegenüber. Die Sitzungen leitete Paul Dinichert (1878–1954), der Direktor der Abteilung für die Vertretung fremder Interessen und die Internierung beim Berner Politischen Departement, in dem die auswärtigen Angelegenheiten der Schweiz koordiniert wurden. Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz waren von den Verhandlungen ausgeschlossen worden.631 Nachdem Fragen hinsichtlich der Kriegsgefangenen, ihres Austausches beziehungsweise ihrer Internierung in neutralen Staaten besprochen worden waren, 629 Protokoll d. Verhandlungen zwischen d. französischen u. deutschen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, in: BArch Berlin, R 901/84196. Das Protokoll jeder Sitzung wurde den Delegationen vorgelesen und von diesen genehmigt. Die Berner Vereinbarungen zwischen der Kaiserlich-Deutschen Regierung und der Regierung der Französischen Republik über Zivilpersonen vom 26. April 1918 wurden als Druckschrift veröffentlicht und finden sich abgedruckt in: Scheidl, Die Kriegsgefangenschaft, S. 136–139. Im Folgenden wird auf das Protokoll Bezug genommen. 630 Für die französische Seite unterzeichneten das Abkommen: André de Panafieu (1865–1949) als bevollmächtigter Minister und Delegierter des Auswärtigen Ministeriums, Georges Cahen-Salvador (1875–1963), der Leiter der Kriegsgefangenen-Abteilung im französischen Kriegsministerium, Colonel Émile Victor Giraud (1868–1946) als Vertreter des französischen Generalstabes und der Diplomat Charles Hervé Alphand (1879–1942). Der deutschen Delegation gehörten an: Emil Friedrich, der Direktor des Unterkunfts-Departements im Preußischen Kriegsministerium, Friedrich von Keller (1873–1960) als Vertreter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Walter Pabst von Ohain (1877–1938), der Vertreter der Abteilung Kriegsgefangenenschutz im Berliner Kriegsministerium, Major von Polentz, der in selbigem für den Kriegsgefangenen-Austausch und die Internierten zuständig zeichnete, Herbert von Hindenburg (1872–1956), der Leiter der Kriegsgefangenen-Abteilung der Gesandtschaft in Bern, Walther Bourwieg (1885–1945) als Vertreter des Reichsamtes des Innern und der Geheime Regierungsrat [Richard] Schlössingk. 631 Zum Einfluss des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz siehe: Matthew Stibbe, The Internment of Civilians by Belligerent States during the First World War and the Response of the International Committee of the Red Cross, in: Journal of Contemporary History, Vol. 41 (2006), No. 1, S. 5–19, hier S. 15–19.
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gingen die Verhandelnden zu den Vertragsentwürfen, die Zivilpersonen betrafen, über. Die Gespräche waren durchzogen von dem Bedenken, dass die Gegenseitigkeit der Abreden nicht gewahrt werden könnte. Beide Seiten hatten Erfahrungen mit Auslegungsspielräumen und nicht eingehaltenen Zusagen gemacht. Allerdings galt es nach annähernd vier Kriegsjahren und diversen Austauschabkommen als unstrittig, die Lebensumstände der Internierten zu verbessern beziehungsweise sie mehrheitlich freizulassen und ihnen die Ausreise zu gestatten. Unlängst formierte sich gegen die Zivilinternierung innenpolitischer Widerstand. In Deutschland hatten die Mitglieder des Reichshaushaltsausschusses im Oktober 1916 eine Resolution verabschiedet, in der sie forderten, sämtliche Zivilinternierte freizulassen und auf Wunsch in ihre Heimat zurückzubefördern.632 Entgegen dem Misstrauen der Militärverantwortlichen gaben sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die einzelnen Staaten versprechen würden, »die Entlassenen nicht in die Wehrmacht einzureihen«. Die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten stellte sich im November 1916 hinter dieses Ansinnen.633 Ungeachtet dessen hatte sich das Kräfteverhältnis zwischen Heeresführung und ziviler Reichsleitung zu Gunsten ersterer verschoben.634 Dies zeigte sich auch bei den Verhandlungen in Bern. Die deutschen Abgesandten verfolgten das Ziel, die militärischen Handlungsspielräume durch vertragliche Zusicherungen nicht einzuschränken. Sie wollten dementsprechend die Einrichtung neuer Internierungslager nicht ausschließen, und die Vertreter des Kriegsministeriums stellten sich gegen eine uneingeschränkte Rückkehrmöglichkeit der Zivilisten in die besetzten Gebiete.635 Die französischen Unterhändler witterten darin den Versuch, unter militärischen Vorzeichen weitere Evakuierungen und Internierungen zu veranlassen, die sie in diesem Falle sogar vertraglich legitimiert hätten. Ihre Ablehnung des deutschen Standpunktes führte allerdings nicht zum Scheitern der Verhandlungen. Die Militärverantwortlichen gaben bis zum Ende der Gespräche ihre Position auf. Wohl existierten im Deutschen Reich genügend Internierungslager. In Artikel 20 der Vereinbarungen würde es heißen, dass eine »Internierung von Zivilpersonen des einen Teils in den Gebieten des andern Teils oder in besetzten Gebieten […] in Zukunft nicht stattfinden« wird.636 Lediglich Einzelpersonen sollten im Interesse der militärischen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung nach dem besetzenden Staat abgeschoben
632 Mündlicher Bericht d. Ausschusses für d. Reichshaushalt über Fragen d. Gefangenenbehandlung, 13.10.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 319 (Anlage Nr. 403–507), Nr. 429. S. 864. 633 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1979–2000. 634 Nebelin, Ludendorff, S. 283–304. 635 Protokoll d. Verhandlungen zwischen d. französischen u. deutschen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, 8.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84196, S. 15. 636 Berner Vereinbarungen zwischen der deutschen und der französischen Regierung über Kriegsgefangene und über Zivilpersonen vom 26.4.1918, B. Art. 1; separate Druckschrift u. a. in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 265–284.
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und »mit Freiheitsbeschränkungen nach militärischen Notwendigkeiten« belegt werden dürfen. Uneinigkeit bestand daraufhin in der Frage, ob die Austauschregelungen für alle beiderseitigen Staatsangehörigen gelten sollten oder nur für Zivilinternierte. Im Lichte der Kriegsziele, die nicht nur militärische Gebietseroberungen und -verteidigungen, sondern ebenso eine nationale Bevölkerungspolitik einschlossen, war dies ein entscheidender Konflikt in den Verhandlungen. Die französischen Vertreter wollten einzig Internierte als Gegenstand der Vereinbarungen akzeptieren. Sie befürchteten politische Vorfestlegungen in Bezug auf die aus Elsass-Lothringen stammenden Zivilisten, die die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Nachdem die Verhandlungen an diesem Punkt ins Stocken gekommen waren, schlugen sie als Vermittlungsangebot vor, »nicht nur die Zivilpersonen in das Abkommen einzubegreifen, die gegenwärtig interniert sind, sondern auch alle diejenigen, welche einmal seit Beginn des Krieges vorübergehend interniert waren«.637 Den Kompromiss aufgreifend, bemühten sich die Vertreter Deutschlands, die Internierung provisorisch zu definieren. Als diese sollte die »Unterbringung in einem Lager, dépôt, Gefängnis oder irgend einer anderen geschlossenen Unterkunft« gelten, »sofern der Aufenthalt darin nicht in das freie Belieben des Betroffenen gestellt« gewesen war.638 Es kann vermutet werden, dass sie besonders letztere unscharfe Kategorie der »geschlossenen Unterkunft« wählten, um möglichst viele Zivilisten in die Vereinbarungen einzubeziehen. Den Vertretern Frankreichs blieb dies nicht verborgen, und Charles Alphand plädierte für die Erstellung von Verzeichnissen, in denen die »gegenwärtigen dépôts und Lager« aufgelistet würden. Diese wurden schließlich nicht dem Vertragstext beigefügt, aber zur Klärung vorgehalten. Alle »gegenwärtig[en]« oder ehemaligen in »Internierungslagern irgendwelcher Art« Untergebrachten »ohne Rücksicht auf ihr Alter und Geschlecht« sowie ihre Ehefrauen und Kinder erhielten im endgültigen Vertragstext die bedingungslose Erlaubnis zur Heimreise. Lag ihr Heimatort in den besetzten Gebieten, sollte ihnen die Abreise dorthin frei stehen, sofern keine militärischen Gründe dagegen sprachen.639 In einer Zusatzerklärung der französischen Delegation, der die deutsche Seite zustimmte, erklärte diese, dass »auch diejenigen Zivilpersonen die Vorteile dieser Vereinbarung genießen [sollen], welche zwar nicht in einem eigentlichen Internierungslager, aber in einer anderen geschlossenen Unterkunft irgendwelcher Art, sei es zur Feststellung der Persönlichkeit oder zur Klarstellung ihrer Verhältnisse, sei es aus 637 Protokoll d. Verhandlungen zwischen d. französischen u. deutschen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, 12.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84196, S. 31. 638 Ebd., S. 33. 639 Berner Vereinbarungen, B. Art. 1, 2 u. 4.
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irgendeinem anderen Grunde, gegen ihren Willen untergebracht worden sind, sofern der Aufenthalt in dieser geschlossenen Unterkunft länger als 2 Monate gedauert hat.«640 Zivilisten, die niemals interniert waren, oder die nur kurz festgehalten wurden, erhielten keine Zusicherung auf eine Rückkehr in ihre Heimat. Die Befürchtung der deutschen Delegierten, dass Elsaß-Lothringer dennoch zurückgehalten werden könnten, ließ die Brüchigkeit des gefundenen Kompromisses sichtbar werden. Als sie eine schriftliche Erklärung von jenen Ausreisebefugten, »die auf die Heimschaffung verzichten wollen«, forderten, erblickten die Vertreter Frankreichs darin das Ansinnen, »eine Mitwirkung zu erlangen, zwecks Befriedigung gewisser politischer Absichten«.641 Es zeigte sich, dass viele Elsaß-Lothringer nicht zum definierten Interniertenkreis zählten. »Für die Zivilinternierten wird das Abkommen massgebend sein«, erklärte André de Panafieu im Namen seiner Regierung und zog damit eine klare Verständigungsgrenze. Gesuche »nichtinternierter Zivilpersonen« sollten geprüft werden. »Jedoch wird sich die französische Regierung das Recht vorbehalten, diesen Gesuchen in Berücksichtigung der besonderen Umstände die ihr gutfindende Folge zu geben.« Die französische Delegation gab einige Tage später eine zusätzliche Erklärung ab, in der sie versicherte, »unbeschadet ihres theoretischen Standpunktes über die Staatsangehörigkeit der Elsass-Lothringer bei der praktischen Handhabung des […] Austauschabkommens« sie nicht von dessen Vergünstigungen auszuschließen.642 Die Verhandelnden fanden schließlich in Artikel 5 des Abkommens eine Formulierung, die das Bleiberecht als Privileg darstellte: »Den Zivilpersonen, die in dem Gebiete des Aufenthaltsstaates zu bleiben wünschen, kann dies nötigenfalls unter Zuweisung eines Wohnortes gestattet werden«.643 Im Deutschen Reich unterlagen die Entlassenen weiterhin den Bestimmungen für feindliche Ausländer/ innen und sollten, »falls sie nicht ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten in der Lage sind, den Betrieben der Kriegs- und Volkswirtschaft, eventl. durch Vermittlung der deutschen Arbeiterzentrale und der Kriegsamtsstellen, als freie Arbeiter« überwiesen werden.644 640 Zusatzerklärung d. französischen Delegation zu d. Berner Vereinbarungen B, Art. 2, in: BArch Berlin, R 901/84196 u. Erklärungen d. schweizerischen Regierung sowie d. deutschen u. französischen Delegation auf d. Berner Gefangenenkonferenz im April 1918, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 139 ff. 641 Protokoll d. Verhandlungen zwischen d. französischen u. deutschen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, 8.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84196, S. 17. 642 Protokoll d. Verhandlungen zwischen d. französischen u. deutschen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, 20.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84196, S. 51–53 (Erklärung d. französischen Delegation u. Bericht über d. Position d. französischen Regierung). 643 Berner Vereinbarungen, B. Art. 5. 644 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. Rohde) an d. stv. Gkdos. III., IV., VII., IX., X., XIV, u. XVIII. AK, 18.7.1918, in: HStA München, Abt. IV, MKr 12798.
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Trotz des Vorhabens der deutschen Delegation, die Austauschregelungen auf alle Zivilisten auszudehnen und der abschließend defensiven Zusicherung, hatten sie durchaus ein erhebliches Interesse an dem Verbleib der Nichtinternierten. Ihre Unterschlagung im Abkommen kam ihnen nicht ungelegen, denn sie fügte sich in die deutsche Arbeitskräftepolitik ein. Während der Referent des Auswärtigen Amtes, Friedrich von Keller (1873–1960), die »Menschlichkeit« als Argument der deutschen Seite hervorgehoben hatte, gab Major Pabst von Ohain einen direkteren Einblick in die abwägenden Überlegungen. »Die Herausgabe dieser Leute, die für den deutschen Arbeitsmarkt sehr wertvoll sind«, führte er laut Protokoll in Bern aus, »bildet deutscherseits ein grosses Entgegenkommen.«645 Als Berichterstatter über die Zwischenergebnisse erklärte er in einer Besprechung im Preußischen Kriegsministerium den Militärvertretern unumwunden: »Vorteil: Lösung der Elsässerfrage, Nachteil: Verlust von etwa 10.000 früher internierten, jetzt freiwillig arbeitenden Zivilfranzosen.«646 Der Referent der Abteilung für das Zurückstellungswesen erwartete auf diese Erklärung hin sogleich Beschwerden von Arbeitgebern, die mit den Ausreiseberechtigten zum Teil langfristige Verträge abgeschlossen hatten. Die in Berlin Anwesenden wollten aber einstimmig von einer diesbezüglichen Regelung absehen. Diese Haltung korrespondierte mit den Ausführungsbestimmungen nach Inkrafttreten der Übereinkünfte. Von den Ausreiseberechtigten sollten zunächst diejenigen befördert werden,647 »die keine vertraglichen Arbeitsverpflichtungen zu erfüllen haben«. Beim Bestehen gültiger Arbeitsverträge hätte der »Abtransport erst nach Ablauf derselben in Frage [zu kommen], jedoch spätestens mit den für die Beendigung der Transporte vorgesehenen Fristen vom 15. November 1918«.648 Die Lagerkommandantur in Traunstein verzögerte zugleich »aus volkswirtschaftlichen Gründen« die Anlage der Austauschlisten, sodass »wenigstens ein Teil der Franzosen noch über die Ernte zurückbehalten« wurde.649 Neben diesen Verzögerungsstrategien setzte Oberst Rudolf von Fransecky, der Direktor des Unterkunfts-Departements, auf eine wei645 Protokoll d. Verhandlungen mit d. französischen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, 8.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84196, S. 16. 646 Protokoll d. Besprechung im Preuß. KM, betr. Berner Austausch-Verhandlungen mit d. französischen Regierung, 15.4.1918, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 134 f. 647 Internierte mussten bis zum 15. August 1918 ihre Abreise angetreten haben, ehemals Internierte bis zum 15. November 1918. Siehe: Preuß. KM, betr. Zurückführung französischer Zivilpersonen nach Frankreich auf Grund d. Berner Vereinbarungen, an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 11.6.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 198. Die Ausreisemodalitäten finden sich ferner in: Ausführungsbestimmungen über d. Zurückführungen französischer Zivilpersonen nach Frankreich, hier Preuß. KM an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 29.7.1918, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 209. 648 Preuß. KM, betr. Rückführung französischer Staatsangehöriger nach Frankreich auf Grund d. Berner Vereinbarungen, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, 14.8.1918, hier abschr. an d. Sächs. KM, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 220 f. 649 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 37.
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tere Maßnahme. Um die aus den besetzten französischen Gebieten Stammenden der Kriegswirtschaft zu erhalten, gestattete er ihnen, »von dort ihre Angehörigen nach Deutschland kommen zu lassen, falls erstere bereit sind, in Deutschland zu verbleiben«. Ihren Arbeitgebern sollte von den Mitarbeitern der Kriegsamtsstellen »die Wichtigkeit der Erhaltung dieser Arbeitskräfte« eingeschärft und sie dazu angehalten werden, »zu den Reise- und Umzugskosten tunlichst die erforderlichen Beiträge aus eigenen Mitteln zu leisten«.650 Trotz dieses Versuches, die Abreisezahlen zu minimieren, meldeten sich bis 17. Juli 1918 1465 Ausreisewillige an. 310 von ihnen, die sich bei Kriegsbeginn im Deutschen Reich aufgehalten hatten, waren bis zu diesem Zeitpunkt interniert gewesen.651 Sie verließen bis Anfang August 1918 das Deutsche Reich, und eine entsprechende Anzahl deutscher Staatsangehöriger reiste aus Frankreich aus.652 Deutsche Zeitungen berichteten im Zuge einer Pressemitteilung des Wolffschen Telegraphischen Bureaus von einem »befriedigenden Abschluß« der Verhandlungen. Die Ergebnisse für die Zivilpersonen seien »umso erfreulicher, als damit auch den noch in Frankreich befindlichen Elsaß-Lothringern die Möglichkeit zur Heimkehr geboten wird«.653 Die Ausreisemodalitäten und die Einschränkungen der Vereinbarung ließen sie unerwähnt. Gegenüber den französischen Nichtinternierten blieb eine entgegenkommende Haltung unnötig. Über sie erging durch das Berliner Kriegsministerium Anfang Juni 1918 die unmissverständliche Bestimmung, dass »[s]olche Franzosen und Französinnen sowie deren Kinder, die seit Kriegsausbruch in Deutschland niemals interniert gewesen sind, sondern immer auf freiem Fuße waren, […] keinen Anspruch auf Ausreisegenehmigung [haben]. Diese kann ihnen aber in Einzelfällen, wenn an der Zurückbehaltung weder ein militärisches noch volkswirtschaftliches Interesse besteht, erteilt werden.«654
650 Preuß. KM, betr. Rückkehr ehemaliger französischer Zivilinternierter, an d. Bundesregierungen u. d. Statthalter Elsaß-Lothringens, 30.8.1918, (Abs.) in: HStA Dresden, 10736/3372, Bl. 14. 651 Übersicht d. über Rastatt ab Schaffhausen nach dem unbesetzten Frankreich abzutransportierenden französischen Zivilpersonen, 17.7.1918, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 200. 652 Zum deutsch-französischen Gefangenenaustausch, in: Badische Presse, 8.8.1918 (Nr. 365, Mittagsblatt); Der Gefangenenaustausch mit Frankreich, in: Frankfurter Zeitung, 17.7.1918 (Nr. 196, Zweites Morgenblatt). Zu Verzögerungen bei der Umsetzung der Vereinbarung siehe: Der deutsch-französische Gefangenenaustausch, in: Frankfurter Zeitung, 16.8.1918 (Nr. 226, Abendblatt). 653 Befriedigender Abschluß der deutsch-franz. Gefangenenfrage, in: Badische Presse, 2.5.1918 (Nr. 204, Abendblatt); Die Berner Vereinbarungen, in: Frankfurter Zeitung, 19.5.1918 (Nr. 138, Erstes Morgenblatt). 654 Preuß. KM, betr. Ausreise auf freiem Fuß befindlicher französischer Zivilpersonen, an d. Bay. KM, hier abs. an d. Sächs. KM, 11.6.1918, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 185.
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Derartige Anträge wurden durch die jeweiligen Kriegsministerien entschieden. Einen Monat später erfolgte eine nochmalige Klarstellung: »Im Interesse der deutschen Kriegswirtschaft sind daher Ausreiseanträge nicht interniert gewesener französischer Zivilpersonen, wenn sie als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft nutzbringend verwertet werden können, grundsätzlich abzulehnen.«655 Die Leerstellen in den Berner Vereinbarungen führten bei den verantwortlichen Beamten des Preußischen Ministeriums nicht zu kulanten Entscheidungen. Die Kriegswirtschaft besaß in ihrem Umgang mit feindlichen Ausländer/innen oberste Priorität. Die Konfliktfelder der Zivilinternierung bestanden in unterschiedlicher Intensität fort. Erstens gehörte die Festnahme von Zivilisten zu einer militärischen Praxis, die situativ auf dem Kriegsschauplatz erforderlich werden konnte oder als Druckmittel innerhalb von Vergeltungsmaßnahmen erfolgte. Zweitens stand die Zurückhaltung von Ausländer/innen im Kontext bevölkerungspolitischer Ziele wie in Elsaß-Lothringen. Drittens fällten die verantwortlichen deutschen Akteure ihre Entscheidungen im Zeichen eines Arbeitskräftemangels. Der Kriegsverlauf hatte einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Behandlung feindlicher Staatsangehöriger genommen. Dass Major Pabst von Ohain im Preußischen Kriegsministerium Zwischenberichte vor Vertretern des Admiralstabes, des stellvertretenden Generalstabes und der bundesstaatlichen Militärbevollmächtigten abliefern musste, verdeutlicht die labilen Verhandlungskonstellationen in Bern.656 Die Konferenz war letztlich erfolgreich, weil die Zahl der potenziell Auszutauschenden – 8000 französische Internierte, ohne die zur Arbeit Entlassenen, und 8000–9000 deutsche Internierte – etwa gleich groß war. Die Befürchtungen ungleichmäßiger Regelungen entfielen.657 Dass die militärischen Akteure kein Veto einlegten, kann als eine weitgehende Interessenübereinstimmung gedeutet werden. Dieser lag weniger ein Vorstellungswandel militärischer Kriegspraktiken oder eine diplomatische Raison zugrunde. Vielmehr hatten sich nach vier Kriegsjahren die Bedingungen ihres Handelns verändert. Bis Mai 1918 waren über 360.000 Zivilisten aus Nordfrankreich über die Schweiz abgeschoben worden,658 die Lebensmittelversorgung
655 Preuß. KM, betr. Berner Abkommen, an d. stv. Gkdo. XXI. AK, 11.7.1918, hier abs. an d. stv. Gkdo. XII. AK, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 203. 656 Protokoll d. Besprechung im Preuß. KM, betr. Berner Austausch-Verhandlungen mit d. französischen Regierung, 15.4.1918, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 134 f. 657 Protokoll d. Verhandlungen zwischen d. deutschen u. französischen Regierung in Bern über Gefangenenfragen, 8.4.1918 u. 20.4.1918, in: BArch Berlin, R 901/84196, S. 16 u. 53. 658 XI. Bericht d. Bundesrates an die Bundesversammlung über die von ihm auf Grund des Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 getroffenen Massnahmen, 2.12.1918, in: Schweizerisches Bundesblatt mit schweizerischer Gesetzsammlung, Jg. 70, Nr. 50 (4.12.1918), S. 151– 320, hier S. 159.
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in den Lagern blieb kritisch, und die weitere Internierung von Zivilpersonen stand ohnedem der militärischen Arbeitskräftepolitik entgegen. Den Berner Vereinbarungen kann eine Vorbildfunktion zugeschrieben werden. Am 14. Juli 1918 folgte eine ähnlich lautende Übereinkunft mit den Vertretern Großbritanniens, die sich auf alle beiderseitigen Staatsangehörigen erstreckte.659 Die erbitterten Kriegsgegner kamen bei Verhandlungen in Den Haag überein, dass die Zivilangehörigen, »die sich am Tage des Inkrafttretens dieser Vereinbarung irgendwo in dem Machtbereich des anderen Teiles aufhalten […] auf ihren Wunsch ohne Rücksicht auf ihr Alter und Geschlecht heimbefördert« werden sollen.660 Das Deutsche Reich erhielt das Recht, 40 Zivilisten zurückzuhalten, und Großbritannien durfte 70 Personen von der Rückkehr ausschließen. Eine Unterscheidung zwischen Internierten und Nichtinternierten fand nicht statt. Die Regierungen gingen von etwa 20.000 heimkehrenden wehrfähigen deutschen und 6000 britischen Staatsangehörigen aus. Das Inkrafttreten und die Umsetzung der Vereinbarung verzögerten sich allerdings bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 11. November 1918. Die deutsche Regierung und der Admiralsstab verlangten zum einen die Zusicherung, dass die britische Regierung ihre Mitwirkung an Internierungen und Deportationen deutscher Staatsangehöriger in China versage. Zum anderen forderte die britische Regierung zwar eine Repatriierung von U-Boot-Offizieren, lehnte diese aber für die Mannschaften der Boote ab.661 Da beide Seiten nicht auf die Wünsche der anderen eingingen, setzte sich abermals eine Spirale aus Vorwürfen und Vergeltungsdrohungen in Gang.662 Am 23. September 1918 folgte eine Gefangenenaustausch-Konferenz in Bern zwischen deutschen und US-amerikanischen Diplomaten und Militärvertretern. Die Initiative zu den Verhandlungen ging von der US-amerikanischen Regierung aus. Die Offiziere des deutschen Admiralstabes sahen die Verträge mit Frankreich und Großbritannien als Grund dafür an.663 Die beiden Abkommen sollten 659 Vereinbarung zwischen d. deutschen u. d. britischen Regierung über Kriegsgefangene u. Zivilpersonen, 14.7.1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4610, Bl. 94–108 u. abgedruckt in d. englischen Fassung in: Documents on Prisoners of War, Dok.-Nr. 40, S. 101–113. 660 Ebd., Art. 3. 661 Zu den Diskussionen zwischen dem Chef des Admiralsstabes der Marine, dem Preußischen Kriegsministerium, dem Reichskanzler und dem Auswärtigen Amt siehe: Besprechungsprotokoll, betr. Aufhebung d. Art. 8 d. Abkommens zwischen Dtl. u. Großbritannien, 6.9.1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4610, 199–206 u. Erklärung d. Chefs d. Admiralstabes zur Frage d. Abschlusses d. Vereinbarung zwischen d. Deutschen Reich u. Großbritannien über Kriegsgefangene u. Zivilpersonen (gez. i.V. v. Bülow), 8.9.1918, in: Ebd., Bl. 207 f. 662 England verzögert die Ausführung der Haager Gefangenenvereinbarung, in: Badischer Beobachter, 23.9.1918 (Nr. 492, Abendblatt). 663 Vermerk, betr. Sitzung am 17.8.1918 im AA zwecks Verhandlungen über Gefangenenfragen mit d. USA, 17.8.1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 5/2612, Bl. 46 f.
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in den Verhandlungen als Orientierung dienen664 und »die Freigabe sämtlicher internierter Zivilpersonen« erzielt werden.665 Allerdings nahmen die deutschen Verhandlungsführer bei den Nichtinternierten von einer bedingungslosen Rückkehr Abstand. Sie befürchteten, dass die US-amerikanische Regierung infolgedessen »die Möglichkeit haben würde, eine ungeheure Anzahl Unerwünschter abzuschieben«. Der endgültige Vertragstext, der weitgehend auf dem Entwurf der US-amerikanischen Delegation aufbaute,666 folgte diesen Bedenken nicht. Bis auf die wehrpflichtigen Zivilisten im Alter zwischen 17 und 45 Jahren durften alle übrigen »ohne Rücksicht auf ihre Zahl« in ihre Heimat zurückreisen.667 Obwohl die Durchführung der Abkommen mit Frankreich und Großbritannien auf Probleme stieß und die deutsch-amerikanische Vereinbarung durch den Waffenstillstand ihre Bedeutung verlor, skizzierten sie dennoch einen endgültigen Weg aus den Lagern vor Kriegsende. Sie beendeten trotz der britisch-deutschen Verzögerungen die systematische Internierung Wehrpflichtiger und die militärische Zurückhaltung Evakuierter. Indes waren viele Internierte und Zivilgefangene im Sommer 1918 längst entlassen worden.
Wege in eine eingeschränkte Freiheit Den gefangenen feindlichen Ausländer/innen eröffneten sich neben den Vereinbarungen zwischen den kriegführenden Staaten weitere Möglichkeiten, die Lager zu verlassen. Diese Wege aus der Internierung waren gebunden an ideelle Verdienste und wirtschaftliche sowie militärische Leistungen, die sie gegenüber der deutschen Kriegsgesellschaft erbringen mussten.
Gesinnung und Wehrdienst »Ich, Kurt Alfred Müller, geb. am 22. Oktober 1888 zu London, bitte höflichst das General-Kommando mich von der Internierung befreien zu wollen, da ich bereits am 1. Oktober mein Naturalisations-Gesuch eingereicht habe. Ich hatte den nächsten Tag nachdem mein Vater und meine Geschwister wieder Deutsch wurden dies getan. Meine Eltern, Großeltern sowie alle Verwandten
664 Vermerk, betr. Sitzung im Reichsmarineamt, September 1918, in: Ebd., Bl. 53 f. 665 Vermerk, betr. Sitzung am 17.8.1918 im AA zwecks Verhandlungen über Gefangenenfragen mit d. USA, 17.8.1918, in: Ebd., Bl. 46 f. 666 Vereinbarungsentwurf, 30.9.1918, in: Ebd., Bl. 89–106. 667 Vereinbarung zwischen Deutschland u. d. Vereinigten Staaten von Amerika über Kriegsgefangene, Sanitätspersonal u. Zivilpersonen, November 1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 5/2612, Bl. 117–158, hier Art. 151.
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sind Deutsche. […] Mein Bruder Curt Hermann Müller Stud med ist Kriegsfreiwilliger.«668 So klar die Internierungsanordnungen vom 6. November und 11. Dezember 1914 für die Wehrpflichtigen insgesamt formuliert gewesen sein mögen, so mangelhaft gestalteten sie sich mit Blick auf Einzelfälle wie Kurt Müller. Daran anschließend eröffneten sich den stellvertretenden Generalkommandeuren ebenso wie den Zivilverwaltungen Entscheidungsspielräume, die ein maßgebliches Charakteristikum der systematischen Internierung darstellten. Auf die Festsetzung aller Wehrpflichtigen folgte die lange Phase der Einzelfallprüfungen hinsichtlich ihrer Entlassung. Ob und inwieweit diese geregelt werden sollte, diskutierten die Verantwortlichen der Internierung seit November 1914. Kurt von Manteuffel, der Chef des stellvertretenden Generalstabes der Armee, betonte in Fragen von Ausnahmeregelungen die Befugnisse der Generalkommandeure. »Da die Verhältnisse in den einzelnen Korpsbezirken sehr verschieden liegen,« erläuterte er dem Reichskanzler, läge es in ihrem »Ermessen […], wie weit sie von dem ihnen zustehenden Rechte zu Ausnahmen Gebrauch machen wollen. Es wird mit Sicherheit angenommen, daß unnötige Härten vermieden werden.«669 Hatte er im Zuge des Internierungsbeschlusses gesundheitliche Rückstellungen nahegelegt, betonte er zwei Wochen später die Prämisse des Schutzes vor Spionage bei etwaigen Ausnahmen. Sie sollten deshalb nicht zur Regel werden. Die Spionageprävention sei »eine so wichtige Notwendigkeit, daß persönliche und auch allgemeine wirtschaftliche Interessen in vielen Fällen werden zurücktreten müssen«. Die anfänglich kaum vorhandenen Handlungsspielräume bei der Befreiung von der Zivilinternierung spiegelten ebenso die zur selben Zeit geltenden Grundsätze für die Entlassung aus dem Lager Ruhleben wider. Selbst wenn der betroffene britische Staatsangehörige zu früherer Zeit einem Wehrdienst in Deutschland nachgekommen war, musste er mindestens 45 Jahre alt sein, um das Lager verlassen zu können.670 Der preußische Innenminister und der stellvertretende Kriegsminister diskutierten im Dezember 1914 dennoch über Ausnahmeregelungen.671 Während letzterer vorschlug, »die Internierung künftig auf ausgesprochene englische Elemente zu beschränken und Persönlichkeiten, die seit langen Jahren in Deutschland ansässig sind und sich hier als zuverlässig erwiesen haben, freizulassen«, argu668 Kurt Alfred Müller an d. stv. Gkdo. XII. AK, 6.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 79. 669 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an d. RAdI, 20.11.1914, Bkm. an sämtl. stv. Gkdos., in: HStA Stuttgart, E 40/72, Bü 622. 670 Okdo. in d. Marken, Grundsätze für d. Entlassung aus Ruhleben (gez. v. Kessel), 17.11.1914, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 14. 671 Preuß. MdI (gez. Loebell) an d. preuß. stv. Kriegsminister, 3.1.1915, hier wtgl. an d. Reichskanzler (RAdI), in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 262–265.
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mentierte der Innenminister mit dem Gedanken der Gegenseitigkeit.672 Friedrich Wilhelm von Loebell erinnerte daran, dass die Entscheidung des stellvertretenden Generalstabes ein Akt der Vergeltung gewesen sei, bei dem davon ausgegangen wurde, dass alle deutschen Wehrpflichtigen »in England festgenommen und in camps untergebracht seien«. Weil keine Informationen vorlägen, »ob und in welchem Umfange Ausnahmen von der englischen Regierung gemacht« wurden, seien solche »in nennenswertem Umfange bisher nicht zugelassen worden«. Etwaige Regelungen sollten sich weiterhin an der britischen Kriegspraxis orientieren, um »die weltgeschichtliche Beurteilung des Verhaltens der kriegführenden Staaten« auf deutscher Seite zu wissen. Im Zuge dessen müsse der Charakter selbstständigen Handelns vermieden werden. Die Haltung des Innenministers in Bezug auf Freilassungen war demzufolge zurückhaltender als die des stellvertretenden Kriegsministers, obwohl innerhalb der preußischen Ministerien zeitgleich die Zivilinternierung unter dem Aspekt der finanziellen Kosten diskutiert und betrachtet wurde.673 Der Innenminister äußerte darüber hinaus seine Zweifel an den Kriterien »Ansässigkeit« und »Zuverlässigkeit«.674 Vielmehr solle »der Abstammung von deutschen Eltern, früherer deutscher Reichsangehörigkeit, der Geburt oder der Erziehung in Deutschland, der Ableistung der militärischen Dienstpflicht im Inlande« eine größere Bedeutung beigemessen werden. Mit seinen Überlegungen kehrte von Loebell die Perspektive auf mögliche Entlassungen um. Er skizzierte einen nationalen Standpunkt, der nicht mehr nach dem aufrechten Britischsein fragte, sondern die Exklusivität des Deutschseins und daraus folgende Privilegien im Krieg betonte. Von Loebell umriss die Kriterien, die für Internierte eine Entlassung bedeuten konnten. Zugleich lotete er die Entscheidungsspielräume der Militärbehörden aus. Diese befanden über entsprechende Gesuche, weil sie die Internierungsmaßnahmen verantworteten. Der Innenminister hatte mit dieser Entscheidungsinstanz allerdings seine Probleme. Er stellte die Frage, ob das für Ruhleben zuständige Oberkommando in den Marken »die richtige Stelle« für die schwierigen Abwägungen sei. Denn es handele »sich dabei nicht um militärische Gesichtspunkte, sondern um Sichtung und Einschätzung der verschiedenartigsten bürgerlichen Verhältnisse und um die Beurteilung der Persönlichkeit als solcher […], die jedenfalls nicht ohne tunlichst genaue Kenntnis des Einzelnen und seiner Familienverhält672 Ebd. 673 Für die Diskussionen zwischen dem preuß. Minister des Innern, dem Reichsschatzamt, dem Preuß. Finanzministerium und dem Justizministerium exemplarisch: Aufzeichnung über d. Ergebnis d. am 13.2.1915 im Preuß. MdI kommissarischen Verhandlung über d. Kostentragung hinsichtlich d. während d. Krieges auf militärische Anordnung erfolgten Inhaftierung feindlicher Ausländer (gez. v. Jarotzky), 13.2.1915, (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 151 IC, Nr. 2481. 674 Preuß. MdI (gez. Loebell) an d. preuß. stv. Kriegsminister, 3.1.1915, hier wtgl. an d. Reichskanzler (RAdI), in: BArch Berlin, R 1501/112364, Bl. 262–265.
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nisse möglich ist«.675 Die Entscheidung solle daher von der Zivilbehörde des letzten Wohnsitzes getroffen werden, ließ der Innenminister mitteilen. Durchsetzen konnte er sich mit dieser Forderung nicht. Das Oberkommando in den Marken blieb zuständig für die Entlassungsgesuche aus dem Lager Ruhleben, auch wenn dessen Mitarbeiter gelegentlich Rat bei den Zivilbehörden suchten. Diese Diskussionen zeitigten bei der Internierung französischer Wehrpflichtiger erste Folgen. Von Manteuffel ließ die Militärbehörden in den Erläuterungen zu den Ausführungsbestimmungen wissen, dass die »verfügte Festnahme der Franzosen […] ebenso streng wie bei den Engländern durchzuführen sein wird«, jedoch Ausnahmefälle »nicht zu vermeiden« sein werden.676 Die entsprechenden »Anträge auf ausnahmsweise Befreiung« mussten dem stellvertretenden Generalkommando des X. Armeekorps vorgelegt werden, »dem allein die endgültige Entscheidung zusteht, nachdem alle Franzosen in dem Lager eingetroffen sind«. Dadurch sollte es Einzelnen nicht möglich sein, »ihre Verhaftung noch längere Zeit hinaus[zu]schieben«. Über die Entscheidung von Ausnahmegesuchen stellte er übereinstimmend mit dem preußischen Kriegsminister fest, dass »nur ein zweifelsfrei nachgewiesenes bedeutendes deutsches Interesse die Bewilligung […] rechtfertigen kann, und dass auch dann noch von angesehenen Deutschen eine Bürgschaft für deutschfreundliche Gesinnung und Betätigung der Freizulassenden zu übernehmen sein wird«. Wirtschaftliche Interessen deutscher Firmen, die französische Staatsangehörige beschäftigten, sollten bei den Ausnahmegenehmigungen keine Rolle spielen. »[D]enn nach einer Kriegsdauer von 4 Monaten wäre wohl jeder Betrieb in der Lage gewesen, sich im Bedarfsfalle deutsche Leiter anzulernen.« Während viele Internierte einen Antrag auf Entlassung stellten, entschieden das Oberkommando in den Marken und die stellvertretenden Generalkommandos des X. und des I. bayerischen Armeekorps trotz der strikten Vorgaben zu Gunsten Einzelner. Die oberbayerische Militärbehörde entließ aus dem Gefangenenlager Traunstein »von Anfang an einzelne Zivilgefangene höheren Standes und solche Leute, die wegen ihrer guten Gesinnung besonders vertrauenswürdig waren«. Sie mussten neben »dem Nachweis gesicherten Unterhalts eine grössere Sicherheit in Bar oder in Wertpapieren […], die zwischen 2000 Mk. und 300 Mk. schwankte«, erbringen.677 Die Entlassenen waren der für feindliche Ausländer/innen geltenden Meldepflicht unterworfen und durften den ihnen zugewiesenen Ortspolizeibezirk nicht verlassen. Für die Offiziere des Oberkommandos in den Marken und die Beamten der Berliner Kommandantur bedeuteten die Gesuche zunächst einen erhöhten Arbeits675 Ebd. 676 Chef d. stv. Generalstabes d. Armee (gez. v. Manteuffel) an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1914, in: HStA Dresden, 11348/2831, Bl. 3 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5369, Bl. 128. 677 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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aufwand, über den sie sich zu beschweren wussten. Von etwa 4000 britischen Staatsbürgern, die in Ruhleben interniert waren, hatten bis Mitte Januar 1915 1600 einen Entlassungsantrag gestellt. Von den 517 bis dahin bearbeiteten Anträgen genehmigten die Offiziere 212. Die Gründe unterschieden sich voneinander. Zur Entlassung in sechs Fällen kam es, weil die Betreffenden unter 17 oder über 55 Jahre alt waren. Vier in Ruhleben Eingelieferte besaßen nicht die britische Staatsangehörigkeit, 41 zählten zur Gruppe der sogenannten Kolonialengländer, die von der Internierungsanordnung vom 6. November 1914 ausdrücklich ausgenommen waren. 16 Personen erreichten ihre Einbürgerung, 17 waren über 45 Jahre alt und hatten im Deutschen Reich »ihrer Militärpflicht genügt«. Von neun weiteren Internierten standen die Söhne im deutschen Heer. 26 konnten aus Ruhleben aufgrund »schwerwiegender deutscher Interessen (Trainer und mit Militärlieferungen betraute Leute)« abreisen. Vier Ärzte und Geistliche wurden entlassen. Bei 61 Personen diagnostizierten die Ärzte eine schwere Krankheit. Fünf Personen kamen aus anderen »Billigkeitsgründe[n]« frei.678 Ebenso wurden britische Staatsangehörige entlassen, die für Firmenleiter und die Militärverantwortlichen als unentbehrlich galten.679 In Einzelfällen hatten die Berliner Kommandantur, das Reichskolonialamt, das Auswärtige Amt oder der preußische Innenminister eine Zurückstellung beantragt.680 Unter welch öffentlicher Aufmerksamkeit die aus Ruhleben Entlassenen standen, verdeutlichen Zeitungsberichte über die Ankunft eines technischen Zeichners und eines Firmenvertreters in Plauen i. V. und die Reise mehrerer Bankangestellter nach Hamburg im April 1915. Die in Sachsen aus der Eisenbahn Steigenden konnten ihre Anstellung wieder aufnehmen, weil sie seit langer Zeit dort gearbeitet und gelebt hatten und ihre Fertigkeiten zur Fortführung zweier Betriebe benötigt wurden. Ihre Entlassung führte trotzdem zu lebhaften Diskussionen in der Stadtverordnetenversammlung681 und sie fand Eingang in einen Artikel der Deutschen Tageszeitung.682 Die Redakteure griffen gleichzeitig Schilderungen über die nach Hamburg Reisenden auf. Die britischen Bankkaufmänner kehrten an ihre früheren Arbeitsplätze zurück, weil auf den Fluren des Berliner Kriegsministeriums die 678 Zusammenfassung d. Besprechung im RAdI, betr. Ausländer, 19.1.1915, in: BArch Berlin, R 1501/112365, Bl. 21 f. 679 Z. B.: Dresdner Gardinen- und Spitzen-Manufactur AG an d. stv. Gkdo. XII. AK, 6.11.1914 u. Telegramm d. Kommandantur Ruhleben an d. stv. Gkdo. XII. AK, 19.1.1915, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 46 f. u. 108. 680 Verzeichnis d. im Landespolizeibezirk Berlin befindlichen nicht kriegsgefangenen englischen Staatsangehörigen im Alter von 17–55 Jahren, übersandt d. d. Polizeipräsidenten von Berlin (v. Jagow) an d. preuß. Minister d. Innern, 3.3.1915, in: GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 1146, Nr. 58 Beiheft 3. Von den zwischen 17 und 55 Jahre alten Briten wurden ferner einige ohne Angaben von Gründen zurückgestellt. 681 Meldung, in: Meeraner-Zeitung, 17.4.1915 (Nr. 87), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3352. 682 Eine Übertreibung!, in: Deutsche Tageszeitung, 24.4.1915 (Nr. 208), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3352.
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Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen umging. In London lebten im Frühjahr 1915 weiterhin deutsche kaufmännische Angestellte auf freiem Fuß, die bei deutschen Geldhäusern erhebliche Einlagen aus dem Deutschen Reich verwalteten. Deshalb sollten die britischen Behörden nicht unnötig provoziert werden.683 Unterdessen erregte die Entlassungsentscheidung energischen Widerspruch, der sich an der Rückreise der Finanzexperten aus Ruhleben entzündete. Denn die britischen Entlassenen waren den »in Feldgrau, im Bürgerrock, im Trauergewand« nach Hamburg Fahrenden nicht verborgen geblieben. »Im Zug Berlin– Hamburg aber ging es hoch her, da knallten im Speisewagen die Champagnerpfropfen, und fröhliche Herren pflogen mit lauter Stimme bei schäumendem Sekt und köstlichen Speisen, warm und kalt, einer lustigen Unterhaltung. Allerdings in englischer Sprache«, wie die Hamburger Nachrichten am 20. April schilderten.684 Die Redakteure deuteten das Geschehene als eine überwunden geglaubte nationale Demütigung. »Engländer in den Abteilen erster Klasse, Engländer im Speisewagen; die Deutschen wie Stiefkinder draußen vor gedrängt.« Infolgedessen verteidigten sie die Internierung wehrfähiger Briten als eine Errungenschaft, die nun in Frage zu stehen schien. »Warum muß jetzt, was Ende Oktober zur Genugtuung des deutschen Volkes angeordnet war und allgemein Befriedigung zeugte, wieder aufgehoben, warum muß eine größere Anzahl Engländer in kräftigem, wehrfähigen Alter plötzlich aus Ruhleben entlassen werden?« Die Hamburger Redakteure formulierten mit ihrem Einwand einerseits eine zugespitzte Frage, die sich durch ihre Wortwahl selbst beantwortete. Andererseits verwiesen sie auf ein fortbestehendes Konfliktpotenzial zwischen öffentlich geäußerten Meinungen und dem Handeln der Reichsadministration. Die Verantwortlichen der Deutschen Tageszeitung, die zur Besonnenheit mahnten, verwiesen auf die emotionalen Auseinandersetzungen im zurückliegenden Oktober.685 Sie griffen in ihrem Resümee eine im Oktober 1914 eingeforderte Handlungsprämisse wieder auf: »Solange aber unsere armen Landsleute im feindlichen Auslande häßlich und gehässig behandelt werden, ist bei uns für übertriebene Milde und Rücksicht kein Raum.« Diesen »unliebsamen Erörterungen«686 und der »wahre[n] Flut empörter Zuschriften« trat die Reichsleitung entgegen. Sie ließ am 24. April im Berliner 683 Interne Mitteilung Alfons Mumm von Schwarzenstein an d. Direktor d. Nachrichtenabt. d. AA, Otto Hammann, 26.4.1915, in: PA AA, R 20339, Bl. 140. 684 Rückkehr von Ruhleben, in: Hamburger Nachrichten, 20.4.1915, Ztga. in: PA AA, R 20339, Bl. 144. Eine Auseinandersetzung fand ebenso statt in: Hamburger Fremdenblatt, 23.4.1915, Azg. in: Kriegsdokumente, Bd. 8, Dok.-Nr. 141, S. 102–105 u. schließlich: Entlassung der englischen Bankbeamten aus Ruhleben, in: Berliner Tageblatt, 27.4.1915 (Nr. 213, Abendausgabe). 685 Eine Übertreibung!, in: Deutsche Tageszeitung, 24.4.1915 (Nr. 208), Ztga. in: HStA Dresden, 10736/3352, Bl. 97. 686 Preuß. KM an d. preuß. stv. Gkdos., 12.6.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 220.
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Lokal-Anzeiger eine Meldung veröffentlichen, in der der Vorfall verurteilt und eine Untersuchung angekündigt wurde.687 Gleichzeitig drängte sie darauf, zwischen der »Freilassung der Engländer und ihrem Benehmen in der Eisenbahn« zu unterscheiden. Denn diese diene »eine[r] Art Austausch« und sei im Interesse ›Deutscher‹ in England.688 Die zügige Erwiderung unterstrich, dass öffentliche Debatten wie im Oktober 1914 unterbunden werden sollten. Sie skizzierte darüber hinaus ein weiterhin bestehendes innenpolitisches Umfeld, in dem Zivil- und Militärverantwortliche ihre Entscheidungen trafen. Die Entlassungen mochten militärischen, wirtschaftlichen oder außenpolitischen Zwecken dienen. In der Bevölkerung durften sie weder Aufsehen erregen, noch auf übermäßigen Widerstand stoßen. Den Militärbefehlshabern wurde deshalb empfohlen, die Entlassenen oder Beurlaubten über ein »angemessenes Verhalten« zu unterrichten und »in Zukunft von der bevorstehenden Entlassung feindlicher Ausländer die zuständige Eisenbahnverwaltung zu verständigen, die für abgesonderte Unterbringung der Betreffenden und ihre Fernhaltung vom Speisewagen sorgen wird«.689 Eine und wohl noch einige andere schmunzelten über die Zeitungsberichte. Annie Dröege, eine britische Staatsangehörige, die in Hildesheim lebte, schrieb in ihr Tagebuch: »It was very amusing to read of their journey from Berlin to Hamburg.«690 Einige Zivilbehörden plädierten bereits im November 1914 für Ausnahmen und verhinderten entgegen den militärischen Bestimmungen die Internierung einzelner britischer Staatsangehöriger. So hatten sächsische Beamte des Innenministeriums hinsichtlich Personen, deren Einbürgerungsgesuch vorlag, längst eine Entscheidung gefällt, während ihre preußischen Kollegen weiterhin über Regelungen diskutierten. Demnach sollten in Sachsen, wenn »keine Bedenken« bestanden, neben Fällen schwerer Krankheit auch Wehrfähige von der Überführung nach Ruhleben ausgenommen werden, »die ihre Naturalisation bereits eingeleitet« hatten.691 Exemplarisch galt dies für Herbert Lucius. Der 22jährige britische Staatsbürger war in Meißen im Telegraphendienst der Eisenbahnverwaltung angestellt. Im September hatte er ein Einbürgerungsgesuch eingereicht, das der dortige Stadtrat unterstützte. Im Zuge der Internierungsanordnung vom 6. November 1914 fand er sich zwar im städtischen Arrest wieder, gleichwohl trat er auf Weisung des Dresdner Generalkommandos nicht die Reise nach Ruhle-
687 Die Engländer im D-Zug, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 24.4.1915, Ztga. in: PA AA, R 20339, Bl. 143. 688 Sachlich berichtete die Frankfurter Zeitung über die Rückreise: Freilassung englischer Bankbeamter aus Ruhleben, in: Frankfurter Zeitung, 28.4.1915 (Nr. 117, Zweites Morgenblatt). 689 Preuß. KM an d. preuß. stv. Gkdos., 12.6.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 220. 690 Dröege, Diary of Annie’s War, S. 106 f. (25.4.1915). 691 Sächs. MdI an d. KrhM, AmhM u. Stadträte d. Städte mit rev. Städteordnung, d. Polizeidirektion u. d. Polizeiämter, 6.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 19.
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ben an.692 Er konnte am 19. November das Haftlokal verlassen und unterstand fortan einer Polizeikontrolle, »die sich mit seinen dienstlichen Verpflichtungen als Eisenbahngehilfe verträgt«.693 Was für Herbert Lucius galt, musste nicht auf den »Rentner« Philipp Kilian Mahler in Baden zutreffen. Obwohl sogar seine Einbürgerung »demnächst zu erwarten steht«, wurde er von der Internierung nicht ausgenommen.694 Die Militärverantwortlichen in Sachsen beschieden nicht jeden Fall wohlwollend, wie der gebürtige Dresdner Robert Todd (1869–?)695 zu spüren bekam, der nach dem Krieg wieder in der sächsischen Landeshauptstadt wohnte.696 Sein Arbeitgeber, die Dresdner Firma Grahl & Hoehle, ersuchte ebenfalls um eine Zurückstellung des Prokuristen. »Besagter Herr stammt von einem englischen Vater und einer deutschen Mutter und ist in Dresden geboren. Derselbe ist so grunddeutsch erzogen, dass wir ihn, als wir ihn für die englischen Reisen bestimmten, erst auf die BerlitzSchule schicken mußten, damit er richtig englisch lernte. Wie ihm die englische Sprache fremd war, so ist ihm auch jede englische Gesinnung fremd.«697 Aber das Gesuch wurde vom stellvertretenden Generalkommando abgelehnt, obwohl folglich die technische Leitung der Spezialmaschinenfabrik vakant war und Arbeitsplätze zur Disposition standen. Wenige Monate später entschied dieselbe Militärbehörde über die Entlassung »ehemaliger Studenten« der Hochschule in Mittweida, die im August und September 1914 verhaftet worden waren. Die Militärbeamten knüpften nach einer Vorauswahl »deutschfreundlicher« Personen vier Bedingungen an eine Freilassung aus der Landesanstalt Hohenstein. Die Internierten sollten neben guter Führung »genügend Mittel zur Selbsterhaltung nachweisen, ihre Schulden bezahlt haben und persönlich unverdächtig« sein.698 Der Naturalisationsantrag stellte für feindliche Ausländer eine grundlegende Möglichkeit dar, ihren Status zu wechseln und einer Internierung zu entgehen beziehungsweise aus dieser entlassen zu werden. Die Einbürgerungspraxis und die 692 Stadtrat Meißen (Abt. für Militärsachen), betr. Herbert Lucius, an d. stv. Gkdo. XII. AK, 10.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 45. 693 Antw. d. stv. Gkdo. XII. AK an d. Stadtrat Meißen, 19.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 91. 694 Bad. BzA Baden an d. Bad. MdI, 6.11.1914, in: GLA Karlsruhe, 236/23210. 695 Index card, Rob. Burn. Todd (geb. 1869), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 696 Adressbuch für Dresden und Vororte 1921, S. 816. 697 Grahl & Hoehle – Maschinenfabrik und Eisengiesserei Dresden an d. stv. Gkdo. XII. AK, 9.11.1914, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 40 f. 698 Stv. Gkdo. XII. AK, betr. Entlassung von Studenten aus d. Landesanstalt Hohenstein, an d. Sächs. MdI, 17.2.1915, in: HStA Dresden, 10736/3349, Bl. 186.
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ihr zugrundeliegenden Kriterien erfuhren im Krieg eine pragmatische Anpassung. Seit 1913 hatte ein Reichsgesetz den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit, die auf dem Grundsatz der Abstammung und nicht des Geburtsortes fußte, geregelt. Das Staatsangehörigkeitsgesetz erlaubte es, (polnische) Arbeitsmigranten und jüdische Bewerber aus »ethnisch-kulturellen Gründen« zurückzuweisen, zugleich aber aus »ökonomischen Motiven« Naturalisationen zu gewähren. Die um die Jahrhundertwende gewachsenen internationalen arbeitsmarktpolitischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Abhängigkeiten hatten »nationale Absolutheitsansprüche und Isolationstendenzen sowohl in der Einwanderungs- wie in der Einbürgerungspolitik« unterbunden, resümiert Dieter Gosewinkel.699 Im Krieg wurden Anträge von Militärpflichtigen und Kriegsfreiwilligen sowie deren Familienangehörigen meist bevorzugt und zügig bearbeitet,700 obwohl die preußische Regierung fortwährend warnte, dass dadurch Überwachungs- und Vergeltungsmaßnahmen erschwert werden würden.701 Ihr Ansinnen, Einbürgerungen vom Geburtsort und der Sozialisation im Deutschen Reich abhängig zu machen,702 und die benötigten Stellungnahmen des Reichsmarineamtes für britische Staatsbürger hatten keine generelle Ablehnung der Gesuche zur Folge. Der Weltkrieg bedeutete für viele Einbürgerungswillige eine »liberale Wende« in der Staatsbürgerschaftspolitik, wie Till van Rahden mit Blick auf die Stadt Breslau konstatiert.703 Was die Priorität der »Wehrgemeinschaft« gegenüber der Gesinnungs- und »Abstammungsgemeinschaft«704 für die Internierten bedeuten konnte, schilderte Israel Cohen für das Lager Ruhleben. Er nahm einen psychischen Druck wahr, der von den Lageroffizieren auf die »Deutschgesinnten« ausgeübt wurde. »Constant pressure was thus brought to bear upon the inmates of the pro-German barracks to make them enlist in the Kaiser’s army, and instead of receiving favours they found themselves subjected to more rigorous treatment than 699 Zusammenfassend zum Staatsangehörigkeitsrecht siehe: Dieter Gosewinkel, Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit im Deutschen Kaiserreich, in: Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 392–405, hier zitiert S. 399 u. 402. 700 Entwurf einer Protokollstelle betr. Einbürgerungsanträge nach § 12 d. Reichs- u. Staatsangehörigkeitsgesetzes, 4.8.1914, in: HStA Stuttgart, E 130a, Bü 1146, Qu. 90. 701 Till van Rahden, Die Grenze vor Ort – Einbürgerung und Ausweisung ausländischer Juden in Breslau 1860–1918, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 27 (1998): Historische Migrationsforschung, S. 47–70, hier S. 62; Ders., Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000, S. 287 f.; Oliver Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871–1945, Göttingen 2006, S. 47 f., 105–107 und 138 f. 702 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 329. 703 Van Rahden, Juden und andere Breslauer, S. 287 u. in diesem Sinne ebenso: Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich, S. 47 f. 704 Ebd., S. 46.
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their fellow-prisoners. Those who had sons were plainly told they could secure their own release by the enlistment of their sons. Some fathers preferred to continue in internment indefinitely rather than sacrifice their sons to what they regarded as certain death; some sons resolved to purchase their father’s liberation at the cost of their own loyalty and safety.«705 Nach den Angaben Emil Friedrichs wurden bis November 1916 von den etwa 5000 »festgenommenen Engländern« 176 »eingebürgert und ins Heer« eingestellt.706 Obschon seit April 1915 im Ruhlebener Internierungslager die »Deutschgesinnten« separat untergebracht waren, Gesuche auf Einbürgerung und Verbleib im Deutschen Reich von Kriegs- und Zivilgefangenen vorlagen und die preußischen Regierungspräsidenten Naturalisationen Nichtinternierter veranlassten, reagierten die Mitarbeiter des Preußischen Kriegsministeriums erst im Dezember 1915 mit kursorischen Richtlinien auf die entstandene Situation.707 Die Militärbehörden sollten demnach »keine bestimmte Stellung« zu den Anträgen beziehen. Denn zum einen fehlten hinsichtlich der Kriegsgefangenen genaue Bestimmungen und zum anderen müssten weitere Gesuche vermieden werden. In einer ersten Skizze einer zukünftigen Regelung teilte Emil Friedrich den Militärbehörden mit, dass die Antragsteller neben »Verfügungsfähigkeit (Volljährigkeit) und Unbescholtenheit […] den Nachweis einjährigen freiwilligen Aufenthalts an einem Orte und tadelloser Führung und endlich den Nachweis, für sich und die Angehörigen den Unterhalt beschaffen zu können«, zu erbringen hätten. Da für den einjährigen Aufenthalt Zeiten angerechnet wurden, in denen sie »einzeln ohne militärische Bewachung untergebracht sind«, sollten sie eine dementsprechende Unterkunft finden. Im Anschluss daran fand die Wehrgemeinschaft in den Richtlinien des Ministeriums allerdings ihre ethnischen Grenzen. Denn bei der ersten Auswahl an Per-
705 Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 106 f. 706 Emil Friedrich (Departementsdirektor, Preuß. KM), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1998. Cohen, The Ruhleben Prison Camp, S. 108 erinnerte sich an etwa 200–300 für das Heer Rekrutierte. Vgl. ebenso: Stibbe, British civilian internees, S. 124 f. Dieser bezieht sich auf eine Aussage des preußischen stellvertretenden Kriegsministers im Deutschen Reichstag: Franz v. Wandel, 41. Sitzung d. RT (XIII. Leg.Per.), 7.4.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 307, S. 918. Dabei geht aus dessen Wortlaut allerdings nicht hervor, wie viele Freiwillige für das preußische Heer gewonnen werden konnten: »Von den übrigen 700 wollen 500 Engländer bleiben, weil sie geschäftlich daran ein Interesse haben, weil sie nicht dienen wollen usw., 200 wollen entlassen werden, und die Verhältnisse bezüglich Entlassung dieser 200 Leute unterliegen augenblicklich der Prüfung.« 707 Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich), betr. Einbürgerung von Kriegs- u. Zivilgefangenen, an u. a. d. Bay., Sächs. u. Württ. KM, 6.12.1915, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 874 u. in: LAV NRW R, BR 0007, Nr. 14996, Bl. 130.
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sonen seien nur jene zu berücksichtigen, »die einen erwünschten Zuwachs für den Staat abgeben werden«.708 »Vorauszusetzen wäre hier volle geistige und körperliche Gesundheit, moralische Zuverlässigkeit und rein arische Abstammung. Die Einbürgerung solcher Elemente würde durch Unterrichtung der Leute in der deutschen Sprache, im Lesen und Schreiben von vornherein wesentlich gefördert werden können.«709 Eine solche Leitlinie für die Militärbehörden hätte nicht weiter von einer »liberalen Wende« ziviler Behörden entfernt sein können. »In der Wahrnehmung der militärischen Führung lebte die Wehrgemeinschaft aus der spezifischen Homogenität einer Volksgemeinschaft, die nicht in der gemeinsamen Staatsangehörigkeit aufging«, erklärt Dieter Gosewinkel für die Zählung jüdischer Soldaten im deutschen Heer 1916.710 Während sich der stellvertretende Kriegsminister Franz von Wandel gegen solche antisemitischen Vorstöße wehrte, hatten sie in den militärischen Argumenten für die Einbürgerung nach den Vorstellungen Friedrichs bereits einen festen Platz. Gleichwohl zog eine weitgehende Erfüllung der genannten Voraussetzungen keineswegs eine Einbürgerung nach sich, wie der Münchner Pferdehändler Nikolaus Chambroux erfuhr. Sein außerehelicher Vater war ein »hoher [französischer] Staatsbeamter« gewesen, und seine Mutter stammte aus München. Er selbst wurde 1865 dort geboren und hatte Zeit seines Lebens in der bayerischen Landeshauptstadt verbracht. 1911, 1913 und im August 1914 versuchte er erfolglos, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen.711 »Er war stets der Meinung[,] bayerischer Staatsangehöriger zu sein«, schrieb sein Rechtsanwalt an das Münchner Generalkommando. »Chambroux […] hat Frankreich nie gesehen und ist voraussichtlich niemals über die deutsche Grenze hinausgekommen. Er wurde stets als Bayer betrachtet, spricht keine andere als die deutsche Sprache und fühlt sich nur als Bayer und denkt nur als Bayer. […] Nikolaus Chambroux hat eine Münchnerin geheiratet. Aus der Ehe ist ein Knabe hervorgegangen[.]«712 Trotzdem inhaftierten ihn die Beamten der Polizeidirektion München, ließen ihn in das Zivilgefangenenlager nach Holzminden abschieben und verwehrten ihm ebenso wie das Münchner stellvertretende Generalkommando in der Folge ihre Zustimmung zur Einbürgerung. Obgleich Unklarheit über die Gültigkeit seiner französischen Staatsbürgerschaft bestand, reagierte ferner der Chef des Stabes des Hannovera708 Ebd. 709 Ebd. 710 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 337. 711 Stadtmagistrat München an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 25.2.1915, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2067. 712 Rechtsanwälte Erhard Angerer u. Adolf Strauss (gez. Strauss) an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 17.12.1914, (Abs.) in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2067.
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ner Generalkommandos, Julius von Rogowski, ablehnend. »Solange nicht feststeht, dass Chambroux die französische Staatsangehörigkeit nicht besitzt, kann dem Antrage auf Entlassung nicht stattgegeben werden.«713 Erst Anfang August 1918 wurde er aufgrund einer Herzkrankheit von Holzminden in ein schweizerisches Krankenhaus nach Unterseen im Kanton Bern verlegt, wo er wenige Tage später seiner Krankheit erlag.714 Die restriktiven Richtlinien des Berliner Kriegsministeriums hinsichtlich der Einbürgerungsgesuche fielen zusammen mit ersten Diskussionen um weitgehendere Entlassungsgenehmigungen. Im Laufe der Kriegsjahre kritisierten lauter werdende Stimmen aus Militär-, Regierungs-, Parlaments- und Wirtschaftskreisen die Lager als Selbstzweck und forderten für die Zivilinternierten einen Platz in der Kriegsgesellschaft. Wenige Wochen nach der Einrichtung des Internierungslagers in Ruhleben hatten die Redakteure des Vorwärts von vier Gewerkschaftsmitgliedern des Lederarbeiterverbandes berichtet, die aufgrund ihrer englischen Abstammung und nicht zuletzt wegen einer in den Vorkriegsjahren verweigerten Einbürgerung interniert worden waren.715 Der sozialdemokratische Abgeordnete Daniel Stücklen knüpfte im August 1915 an die dahinterstehende Kritik an. Er äußerte im Reichstagsplenum den Wunsch, dass Internierte, die Naturalisierungsgesuche gestellt hatten oder deren Gesuche abgelehnt worden waren, freigelassen werden. Denn viele von ihnen seien in Deutschland geboren und verstünden nur die deutsche Sprache.716 Stücklen gehörte Ende 1915 ebenfalls zu den Unterstützern eines Antrags der Budgetkommission, die die Freilassung jener ausländischen Zivilinternierten forderte, die »eine gesicherte Existenz nachweisen können und bei denen kein Verdacht besteht, daß sie die Sicherheit des Reiches gefährden«.717 Die Redebeiträge und Initiativen im Reichstag problematisierten die Zivilinternierung in der Öffentlichkeit und sollten fortan bis Kriegsende anhalten. Im Januar 1916 überführte der Sozialdemokrat Wolfgang Heine (1861–1944) aus Dessau den Wunsch in eine Kritik an den Militärbehörden. Vor dem Hintergrund seines Engagements für die in Ruhleben Internierten und seiner vehementen Ablehnung des Belagerungszustandes als »Militärdiktatur«, verurteilte er die Internierungsbeschlüsse und beklagte ihre anti-jüdische Wirkung. 713 Stv. Gkdo. X. AK (gez. v. Rogowski) an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 10.5.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2067. 714 Index cards, Nikolaus Chambroux (1865–1918), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 715 Deutsche Gewerkschaftsmitglieder als Ausländer interniert, in: Vorwärts, 16.12.1914 (Nr. 343). 716 Daniel Stücklen (SPD), 19. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 26.8.1915, in: Sten.Ber.RT, Bd. 306, S. 352. 717 Daniel Stücklen, 43. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 17.12.1915, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 1, S. 311–318, hier S. 317.
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»Man schädigt nicht England – als Repressalie war diese Internierung gedacht –, sondern Deutschland. Da sind Leute unter den internierten Engländern, deren Verwandte im deutschen Heere kämpfen, und deren Schwestern oder Töchter mit deutschen Offizieren verheiratet sind. Aber es ist nicht zu erreichen: die Leute gelten als Engländer. Es sind auch Leute darunter, die sich jahrzehntelang – in einem Falle der mir bekannt ist, sogar seit 30 Jahren – bemüht haben, in Deutschland naturalisiert zu werden, und zwar zu einer Zeit, wo sie noch im militärpflichtigen Alter standen, wo sie hätten dienen müssen. Aber diese Naturalisation ist ihnen immer abgeschlagen worden, in der Regel, weil sie Juden waren. Diese Leute werden jetzt interniert und wirtschaftlich ruiniert.«718 In gleichem Maße kritisierte Oskar Cohn im Sommer 1916 die Internierung von »Scheinengländern« und »Formalengländern«, »die niemals in England gewesen sind«.719 Er verschob hierbei seine Kritik an den Maßnahmen sprachlich von sinnlos zu unklug. »Er [der stellvertretende Kriegsminister] nennt 1400 Vollblutengländer, die interniert sind. Darüber ist nichts zu sagen, wenn man sich überhaupt einmal auf den Standpunkt stellt, daß die Internierungsmaßregel gerechtfertigt ist. Ich für meine Person und auch meine politischen Freunde bestreiten die Berechtigung und die Notwendigkeit der Internierungsmaßregel und halten sie nach wie vor für eine im höchsten Maße politisch unkluge Maßregel.«720 Dieser öffentliche Konfrontationskurs deutete im Jahre 1916 mehr als die Ablehnung militärischer Vergeltungsmaßnahmen an. Wolfgang Heine und Oskar Cohn führten die Frage der Internierung als militärische Praxis und Entscheidungshoheit zurück in einen politischen Verhandlungsprozess. Sie zeigten auf, dass der einmal im Krieg gefasste Internierungsbeschluss unabgeschlossen und revidierbar sein konnte und in ihren Augen sein musste. Sie verlangten eine stetige Rechtfertigung und Überprüfung sowie eine parlamentarische Kontrolle über den Umgang mit Zivilisten ausländischer Staatsangehörigkeit. Der stellvertretende preußische Kriegsminister Franz von Wandel reagierte mit Unverständnis auf den Vorstoß der Abgeordneten. Wiederholt gab er zum Ausdruck, aus der Vergeltungslogik
718 Wolfgang Heine (SPD), 32. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 18.1.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 306, S. 750. Der Abgeordnete trug seine Kritik zunächst im Reichshaushaltsausschuss vor: Wolfgang Heine, 47. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 11.1.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 342–347, hier S. 344. 719 Oskar Cohn (SDAG), 60. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 6.6.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 307, S. 1564. 720 Ebd., S. 1565.
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nicht ausbrechen zu wollen.721 Er verteidigte sich im kleineren Kreise der Budgetkommission schließlich mit den Worten, dass er nicht verstehen könne, »wie darin ein Unrecht gefunden werden kann, daß wir doch endlich einmal einen Beschluß gefaßt haben, der frei von Sentimentalität war«.722 Zeitgleich zu den öffentlichen Diskussionen und vor dem Hintergrund einer kritischen Versorgungslage in den Internierungslagern bildete sich unter den preußischen Militärverantwortlichen überwiegend die Ansicht heraus, dass die Zahl der Entlassenen zu niedrig sei. Sie modifizierten daher seit 1916 ihre Vorgaben. Die Lagerkommandanturen und stellvertretenden Generalkommandos sollten durch erweiterte Handlungsspielräume zu einer liberalen Freilassungspolitik geführt werden. Im März 1916 hatten die Militärbeamten des märkischen Oberkommandos die Möglichkeit erhalten, britische Zivilinternierte zu beurlauben. Nach einer Verfügung des Berliner Kriegsministeriums sollten »alle deutsch gesinnten Männer, oder solche, an deren Festhaltung oder Befreiung England uninteressiert ist«, dafür in Betracht kommen. Den Militärbehörden des letzten Wohnsitzes wurde weiterhin ein Einspruchsrecht zugestanden. Dessen ungeachtet ersuchte das »Kriegsministerium […] ergebenst, die Aufnahme solcher Engländer nur in besonders begründeten Ausnahmefällen abzulehnen«.723 Ein außergewöhnliches ›deutsches‹ Interesse, eine genehmigte Naturalisation und eine Einberufung waren nicht mehr Bedingung, um dem Lager Ruhleben den Rücken kehren zu können. Im August 1916 wurden diese Bestimmungen erweitert. »Deutschgesinnte Engländer können, auch wenn sie ihre Einbürgerung […] nicht beantragen wollen, bis auf weiteres beurlaubt werden, wenn dies zur Ernährung ihrer deutsch gesinnten Familie notwendig ist, oder aber durch ihre Beurlaubung eine wertvolle Arbeitskraft gewonnen wird.«724 Die eingeforderte Naturalisation als »Deutschgesinnter« verlor an Bedeutung, und die Arbeitsleistung des Einzelnen besaß für die Heeresverantwortlichen einen zunehmend wichtigeren Stellenwert hinsichtlich aller Zivilinternierten. Trotz des Festhaltens an der Praxis der Repressionen waren bis zum November 1916 aus Ruhleben, neben den 176 für das Heer Rekrutierten, 206 Personen aufgrund ihrer Gesinnung beurlaubt oder entlassen und 600 als garnisonsdienstunfähig oder wegen ihres Alters über 55 Jahren abgeschoben worden. Hinzu 721 U. a. Franz v. Wandel, 43. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 17.12.1915, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 1, S. 311–318, hier S. 317 f. 722 Franz v. Wandel, 56. Sitzung d. RHaushA (XIII. Leg.-Per.), 3.4.1916, in: Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, Bd. 2, S. 443–451, hier S. 446. 723 Preuß. KM, betr. zeitlich unbeschränkte Beurlaubung aus d. Engländerlager Ruhleben, an d. stv. Gkdos. 6.3.1916, in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 228 u. in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. II. bay. AK, 148. 724 Preuß. KM, betr. Entlassung aus d. Engländerlager Ruhleben, an sämtl. stv. Gkdos., 3.8.1916 (Anweisung an d. Okdo. i.d. Marken, 3.7.1916), in: HStA Dresden, 11348/2830, Bl. 239.
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kamen weitere 400 britische Bürger, bei denen ein »deutsches Interesse« an ihrer Freilassung bestand. »Die Zahl erhöht sich täglich«, konstatierte Emil Friedrich beschwichtigend im Reichstag mit Blick auf die noch 3700 in Ruhleben Internierten. »Es wird ja dauernd geprüft. Dauernd beschäftigen sich die Lagerkommandantur, Kommandantur in Berlin und das Oberkommando in den Marken damit.« An Oskar Cohn gerichtet, fuhr er fort: »Sie können aber nicht gut verlangen, und das deutsche Volk wird das absolut nicht verstehen, wenn wir morgen die 200 Engländer herauslassen wollten, Söhne, deren Väter sich weigern, sie in das deutsche Heer einstellen zu lassen.«725 Über mehr als ein halbes Jahr hatten sich die Entlassungshoffnungen Arthur Dröeges (1871–1950) hingezogen,726 bis er schließlich im Zuge eines Gefangenenaustausches Ruhleben hinter sich lassen konnte. Zunächst hoffte er im Spätsommer 1916 ausreisen zu dürfen, dann an den Weihnachtstagen mit seiner Frau Deutschland den Rücken gekehrt zu haben und endlich an Ostern zu Hause zu sein. »The uncertainty is awfully unpleasant«,727 notierte Annie Dröege in ihrem Tagebuch. Im Frühjahr 1917 gelang beiden schließlich die Ausreise und sie sahen sich in England wieder. Seit Herbst 1916 öffneten sich die Lagertore für die nicht ›deutschgesinnten‹ Internierten weiter. »Die lange Dauer des Krieges und besonders die dringliche Forderung nach Bereitstellung von Arbeitskräften für die Kriegs- und Volkswirtschaft« erhöhten fortan ihre Entlassungschancen erheblich. »Freilassung oder Zuführung in nutzbringende Tätigkeit« lautete der nun eingeforderte Grundsatz im Umgang mit den Zivilinternierten.728 Der seit Oktober 1916 amtierende preußische Kriegsminister Hermann von Stein hatte die neuen Leitlinien verfügt.729 Er hinterfragte die Prämissen der bisherigen Zivilinternierung und forderte von den zuständigen Militärkommandeuren eine Nachprüfung der »Festhaltungsgründe«, soweit die Gefangenen »nicht von den Kriegsschauplätzen nach Deutschland überführt worden sind«. Als Ziel hatte er vor Augen, alle Internierten »auf freien Fuß« 725 Emil Friedrich (Departementsdirektor, Preuß. KM), 72. Sitzung d. RT (XIII. Leg.-Per.), 2.11.1916, in: Sten.Ber.RT, Bd. 308, S. 1998. 726 Index card, Arthur Dröege (geb. 1871), in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 727 Dröege, Diary of Annie’s War, S. 227 (30.8.1916), 231 (26.9.1916) u. 256 (25.1.1917). 728 Mit Bekanntmachung des Preußischen Kriegsministeriums vom 11. Dezember 1915 waren die Internierten in Ruhleben von einer Arbeitsberechtigung außerhalb des Lagers ausgeschlossen. Siehe: Preuß. KM (gez. Friedrich), betr. Heranziehung von Zivilgefangenen zur Arbeit, hier an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 81 u. an d. Württ. KM, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 7. Wohl mit der Richtlinie vom Dezember 1916 wurde diese Restriktion aufgehoben. 1917 hatten 700 bis 800 Männer außerhalb des Lagers eine Arbeit aufgenommen. Siehe: Jahr, Zivilisten als Kriegsgefangene, S. 313. 729 Im Folgenden, wenn nicht anders angegeben: Preuß. KM (gez. v. Stein), betr. Überprüfung d. Festhaltungsgründe d. Zivilgefangenen, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., 5.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 300 f.
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zu setzen, »deren weitere Festhaltung nicht aus Gründen der Staatssicherheit – wie z. B. bei Stockfranzosen und -Engländern – geboten bleibt«. Um dies zu erreichen, sollten die Entscheidenden mit der »gebotenen Sachlichkeit« urteilen und »[a]lle übrigen bisher in dieser Hinsicht maßgebenden Gradmesser – wie z. B. deutsche Gesinnung, ob Neigung für spätere Einbürgerung vorhanden, ob Verkehr im Lager mit Stockfranzosen oder -Engländern stattgefunden, ob Annahme oder Beibehaltung einer fremden Staatsangehörigkeit erfolgt ist, um sich der Wehrpflicht zu entziehen, –« als bedeutungslos betrachten. Denn im Deutschen Reich würden die Betreffenden »in unserer Gewalt bleiben«. Sie könnten bei Verletzungen der geltenden Bestimmungen und des in sie »gesetzten Vertrauens« umgehend wieder in ein Internierungslager überstellt werden. Er verwarf daran anschließend ebenso das Argument der Mittellosigkeit für eine fortgesetzte Internierung. Für diejenigen, »die sich nicht aus eigenen Mitteln oder durch Rückkehr in ihre frühere oder Aufnahme einer andern Tätigkeit unterhalten können, dürfte es bei der jetzigen Lage des Arbeitsmarktes unschwer sein, lohnenden Verdienst zu schaffen«. Die öffentliche Kritik der Reichstagsabgeordneten aufgreifend, revidierte Hermann von Stein die militärische Perspektive auf die zivilen Gefangenen. An vielen von ihnen hätte »der feindliche Staat […] nicht das geringste Interesse«. Sie selbst haben »keine oder nur oberflächliche Beziehungen zu ihm, dafür aber rege Interessen für oder in Deutschland«. »In vielen Fällen lassen sich durch Freilassung solcher Zivilgefangener wirtschaftliche Notstände in deutschen Familien beheben. Derartige Zivilgefangene können ohne Gefährdung der Staatssicherheit auf freien Fuß gesetzt werden und je nach Lage des Falles Erleichterungen in der Meldepflicht u.s.w. zugebilligt erhalten.« Der Kriegsminister mahnte hierbei an, ebenso jene Personen zu überprüfen, die beispielsweise wegen Spionageverdachts inhaftiert wurden. »In solchen Fällen ist zu bedenken, daß bei Kriegsausbruch wohl ausnahmslos alle Ausländer aus irgend einem Grunde verdächtigt wurden und daß die damals herrschende Spionensuche auch manchen völlig Unschuldigen mitgehen ließ. Aber auch bei solchen Unschuldigen ist und blieb als Festhaltungsgrund z. B. ›Spionageverdacht‹ angegeben.« Die bisherigen Beobachtungen und Feststellungen der Lagerkommandanturen müssten überprüft werden und seien zu revidieren. »[D]er eine oder andere Zivilgefangene [hat] sich mündlich oder in Schreiben an Angehörige zu einer Äußerung […] hinreißen lassen, die an sich allein bewertet, eine Freilassung unmöglich macht. Bei sachlicher Würdigung wird es
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sich aber auch in solchen Fällen nicht selten ergeben, daß man es mit einem völlig harmlosen Menschen zu tun hat, dessen zeitweilige Gereiztheit auf die Folgen der langen Gefangenschaft, die erfahrungsgemäß auf Gebildete besonders nachteilig wirkt, zurückzuführen ist.« Der Kriegsminister gestattete fortan Kriterien und Ermessensspielräume, die lokale Zivilbeamte seit den Augusttagen 1914 eingefordert hatten. Von Stein forcierte die interne Überprüfung und psychologische Bewertung jedes einzelnen Internierten. Er hinterfragte die bisher geltenden militärischen Vorstellungen ebenso wie die bürokratischen Verfahren und beurteilte die Beschlüsse der Vergangenheit kritisch. Bei einer liberalen Entscheidungskultur der verantwortlichen Militärbefehlshaber hätten die Richtlinien von Steins ein Ende der Internierungsanordnungen des 6. November und 11. Dezember 1914 bedeuten können. Hermann von Stein zweifelte im Zuge dessen offenbar am Willen der Generalkommandeure, den neuen Entscheidungsmaßstäben Geltung zu verschaffen. Deshalb änderte er den Entscheidungsmodus über die Entlassungsgesuche. Bei den Generalkommandos sollten »Nachprüfungsausschüsse« eingesetzt werden, »die aus dem jeweiligen Lagerkommandanten, einem höheren Regierungsbeamten (Offizier des Beurlaubtenstandes) und einem Kriegsgerichtsrat zu bestehen hätten«.730 Dass diese Skepsis nicht unberechtigt war, zeigte im Herbst 1917 die wiederholte Aufforderung zur »Prüfung auf Freilassungsmöglichkeit«. »Es ist zu bedenken, daß die Festhaltungsgründe in zahlreichen Fällen von Tag zu Tag an Stichhaltigkeit verlieren und daß daher mancher Zivilgefangener jetzt oder in der Folgezeit zur Freilassung gelangen kann, bei dem dies früher nicht angängig erschien«, hieß es entsprechend in einer Weisung des Preußischen Kriegsministeriums.731 Zwei Monate später sahen sich dessen Vertreter erneut gezwungen, darauf zu insistieren, dass gegenüber »Angehörigen feindlicher Staaten […] von der Anwendung der militärischen Schutzhaft und der Unterbringung in Gefangenenlagern nur Gebrauch gemacht werden [soll], wenn Spionageverdacht besteht oder sie sich Vergehen gegen die Sicherheit des Reiches oder der Kriegsführung schuldig gemacht haben«.732 Die Verantwortlichen des Gefangenenwesens im Kriegsministerium versuchten in ihrem Drängen den Spagat zwischen der Vermeidung einer Internierung, die im Oktober und November 1914 als eine allgemeingültige Lösung gegolten hatte, und der Gewährleistung einer umfassenden militärischen Sicherheit. Feindliche Aus730 Preuß. KM (gez. v. Stein), betr. Überprüfung d. Festhaltungsgründe d. Zivilgefangenen, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., 5.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 300 f. 731 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Freilassung von Zivilgefangenen, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., Berlin, 22.10.1917, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 271 u. in: BArch Freiburg (MA), RM 3/5394, Bl. 195. 732 Preuß. KM (Unterk.-Dept.), betr. Unterbringung Angehöriger feindlicher Staaten in Gefangenenlagern, hier an u. a. d. Sächs. KM, 20.12.1917, in: HStA Dresden, 11352/797, Bl. 58.
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länder kehrten mit ihrer Entlassung in die zivilen Zuständigkeitsbereiche zurück und unterstanden der Zivilgerichtsbarkeit. Die Militärverantwortlichen hielten deshalb an ihrer eindringlichen Mahnung gegenüber den Zivilbehörden fest, »für alle Maßnahmen zu sorgen, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit […] getroffen werden müssen«.733 Zugleich revidierten sie die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit feindlicher Ausländer/innen. Hierfür hatte bereits von Stein den stellvertretenden Generalkommandos mitgeteilt, dass die Vorgabe vom November 1914, nach der viele Städte des Deutschen Reiches zu Sperrbezirken erklärt worden waren, weitgehend wegfalle. »Bei zahlreichen, aus diesen sogenannten Sperrgebieten damals Abgeschobenen wird die Rückkehr jetzt unbedenklich erfolgen können.«734 Bei dieser Rückgabe der Verantwortung sollten die Zivilbeamten ihre lokalen Interessen zurückstellen. Vielmehr gelte es, die Kriegslage des Reiches zu berücksichtigen. »Endlich wird noch bemerkt, daß bei dem herrschenden Mangel an Arbeitskräften es durchaus geboten ist, alle erhältlichen Arbeiter feindlicher Staaten den Betrieben der Kriegs- und Volkswirtschaft als Arbeitskräfte zuzuführen, statt sie in Gefangenenlagern brach zu legen, da sie hier zu Arbeiten nicht gezwungen werden können. Zur Vermeidung von Sabotagen würden die Leute nötigenfalls in solchen Betrieben zu verwenden sein, in welchem keine oder nur geringe Möglichkeit dafür vorhanden sind.«735 Im Zuge der Revision der Festhaltungsgründe überdachten ebenso einzelne stellvertretende Generalkommandeure ihre Bestimmungen hinsichtlich feindlicher Ausländer. In Koblenz konstatierten die Militärverantwortlichen, dass wegen der »Überfüllung der Gefängnisse« und der »Verpflegungsschwierigkeiten« Gefangene, »bei denen nicht Spionageverdacht besteht oder bei denen nicht Vergehen gegen die Sicherheit des Reiches oder die Kriegsführung in Frage kommen, nach Verbüssung der Strafen oder nach Aufhebung des gerichtlichen Haftbefehls alsbald entlassen werden müssen«.736
733 Ebd. 734 Preuß. KM (gez. v. Stein), betr. Überprüfung d. Festhaltungsgründe d. Zivilgefangenen, an u. a. d. preuß. stv. Gkdos., 5.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 300 f. 735 Preuß. KM (Unterk.-Dept.), betr. Unterbringung Angehöriger feindlicher Staaten in Gefangenenlagern, an u. a. d. Sächs. KM, 20.12.1917, in: HStA Dresden, 11352/797, Bl. 58. 736 Verfügung d. stv. Gkdo. VIII. AK, 26.3.1918, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 285. In der Verfügung vom 25.2.1915 hieß es: »Die genannten Personen [Ausländer, politische Gefangene und der Spionage verdächtige Personen] sind somit auch nach Verbüssung der Strafe oder Aufhebung eines erlassenen Haftbefehls zu meiner Verfügung in Haft zu behalten.« Siehe: Verfügung d. stv. Gkdo. VIII. AK, 25.2.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 209 u. (Abs.) in: GStA PK, I. HA, Rep. 84a, Nr. 11652, Bl. 388.
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Arbeit Innerhalb der Obersten Heeresleitung und des Berliner Kriegsministeriums fanden Ende 1916 Erörterungen über die Rückführung der Zivilgefangenen und die Ausnutzung ihrer Arbeitskraft statt. Sie schlossen an intensive Bemühungen an, die Arbeitskraftreserven der ›deutschen‹ Bevölkerung auszuschöpfen737 und die Kriegsgefangenen für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren. Letztere wurden seit Frühjahr 1915, als der Einbruch der industriellen Produktion und die daraus folgende Massenerwerbslosigkeit überwunden waren, dem akzeptierten Diktat ökonomischer Kriegsnotwendigkeiten unterworfen. Die Monotonie des Lageralltags hinter sich lassend, sahen sie sich auf ihre Arbeitskraft reduziert und nach Graden der Verwendungsfähigkeit kategorisiert. Sie mussten vor dem Hintergrund einer mangelhaften Lebensmittelversorgung und unter der Androhung von Disziplinarstrafen oftmals in Arbeitskommandos in der Rüstungsindustrie, dem Bergbau oder der Landwirtschaft arbeiten.738 Über ihre vielen Tätigkeiten im Landespolizeibezirk Berlin berichteten die Preußischen Regierungs- und Gewerberäte. »Es wurden Franzosen, Russen, Engländer und Italiener in Kraftwagenausbesserungsbetrieben, in einer Bettstellenfabrik, in einer Buchdruckerei und in lithographischen Anstalten, ferner als Goldarbeiter, Schneider, Schuhmacher eingestellt. Vorwiegend aber fanden sie Verwendung im Ofenbetrieb, bei unreinlichen und bei Transportarbeiten, wie in Maschinenfabriken, Gasanstalten, Kohlenhandlungen, bei der Müllabfuhr, in einer Konservenfabrik und auf einem Schlachthofe. Dort ersetzten sie die stets fehlenden kräftigen Transport- und Ofenarbeiter und machten den Fortbetrieb teilweise erst möglich.«739 Seit April 1915 konnten zivile Gefangene »freiwillig«, »ohne daß ein Zwang hierzu ausgeübt werden soll«, außerhalb der Lager – Ruhleben ausgenommen740 – eine Beschäftigung aufnehmen. Ein »unentfernbares Abzeichen an der Kleidung« sollte sie kennzeichnen. Unterkunft, Verpflegung und Bewachung orientierten sich »aus praktischen Gründen« an den Bestimmungen für Kriegsgefangene. Im Gegensatz zu den militärischen Gefangenen stand ihnen nach Abzügen für die gestellte Unterkunft und Verpflegung ihr Lohn voll zur Verfügung.741 737 Das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst trat am 6. Dezember 1916 in Kraft. 738 Oltmer, Unentbehrliche Arbeitskräfte, S. 67–96 u. Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 265– 304 u. 360 f. 739 Jahresberichte der Preußischen Regierungs- und Gewerberäte 1914–1918, S. 225 f. 740 Preuß. KM (gez. Friedrich), betr. Heranziehung von Zivilgefangenen zur Arbeit, hier an u. a. d. Sächs. KM, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 81 u. an d. Württ. KM, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 7. 741 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Hoffmann), betr. Zulassung von Zivilgefangenen zu Arbeiten, an sämtl. stv. Gkdos., 22.4.1915, in: HStA Dresden, 11348/2813, Bl. 207 u. in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 1. Diesen Grundsatz nimmt der Gutachter des Untersuchungs-
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Der formulierte Grundsatz der Freiwilligkeit hatte auf dem Papier meist Bestand. Seine Rahmenbedingungen unterlagen aber Veränderungen. Denn der Arbeitseinsatz der Zivilinternierten ließ bereits in den Sommermonaten 1915 eine Tendenz erkennen, welche die Überlegungen der Militärverantwortlichen innerhalb der Obersten Heeresleitung wie des Preußischen Kriegsministeriums maßgeblich prägte. Am Beispiel des Internierungslagers Rastatt zeigte sich, dass viele Gefangene bereit waren, eine Beschäftigung aufzunehmen. Gleichwohl gab es ebenso viele, die dies verweigerten. Während etwa 1500 eine Arbeitsstelle fanden, lehnten circa 1200 eine Arbeitsaufnahme ab.742 Militärische Akteure nahmen bei den Verweigerern einen ausgeprägten »Deutschenhaß« wahr, der eine umfassende Ablehnung, zum Nutzen Deutschlands zu arbeiten, einschloss. Darüber hinaus unterstellten sie ihnen, aus Kalkül zu handeln und als »unnütze Esser« ihre Entlassung beschleunigen zu wollen.743 Zivilinternierte aus den besetzten Gebieten Nordfrankreichs bestätigten durchaus freimütig ihre Absichten gegenüber Lageroffizieren. Sie hofften auf eine baldige Heimkehr über die Schweiz, indem sie die Arbeit verweigerten.744 Nuanciert blickte Theodor von der Pfordten auf ihre Beweggründe. Er stellte heraus, dass vor allem französische Staatsangehörige »politische oder unter Umständen strafrechtliche« Nachteile in der Nachkriegszeit befürchteten.745 Nachdem den Offizieren des Preußischen Kriegsministeriums vermehrt Berichte über viele Arbeitsverweigerungen und eine zurückhaltende Zulassungspraxis der Lagerkommandanturen zur Kenntnis gekommen waren, beharrten sie auf dem »bestehenden Mangel an Arbeitskräften, namentlich an Facharbeitern für die Industrie«.746 Sie empfahlen nach der eindringlichen Ermahnung der ausschusses über die Verletzung des Kriegsgefangenenrechts für den gesamten Krieg als gegeben an. Siehe: Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 321. 742 Inspektion d. Gefangenenlager XIV. AK an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 26.7.1915, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348. 743 Generalgouvernement Belgien (gez. Scherenberg) an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager d. X. AK, 7.6.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 17 u. Preuß. KM, betr. belgische Gefangene in Dtl., an sämtl. stv. Gkdos., 8.6.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 176. 744 Kommandantur d. Zivilgefangenenlagers Rastatt (gez. v. Bauern) an d. stv. Gkdo. XIV. AK, Abt. VI, 28.9.1916, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348. 745 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 746 Z. B. Kommandantur d. Kriegsgefangenenlagers Gross-Poritsch an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager XII. u. XIX. AK, 11.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 19. u. Antw. d. stv. Gkdos. XII. AK an d. Inspektion der KGL XII. und XIX. AK, Dresden, 21.12.1915, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 20. Ebenso noch 1916 bedacht formuliert: Grundsätze für d. Entlassung von bürgerlichen Kriegsgefangenen zu Arbeitszwecken d. stv. Gkdos. I. bay. AK, an u. a. d. Bay, KM, d. SMdI u. hier an d. Kriegsgefangenenlager Traunstein, 19.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2005.
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Internierten, die Durchsetzungsstrategien in den Lagern anzupassen. Die Verantwortlichen vor Ort sollten die Lebensbedingungen der Gefangenen von ihrem Willen zum Arbeitseinsatz abhängig machen. »Unmittelbaren Zwang […] auszuüben ist zwar […] nicht angängig«, gaben die Berliner Vorgesetzten zu bedenken. »[M]indestens aber muß alles vermieden werden, was ihnen das Lagerleben noch länger begehrenswert machen könnte.« Dazu sollten unter anderem die »ausgiebige« Heranziehung zu »unliebsamen Lagerarbeiten«,747 eine Postsperre oder der Entzug von Hilfspaketen gehören.748 Flankiert wurden diese Zwänge durch Zugeständnisse. Die Bewachungsmaßnahmen bei Arbeitseinsätzen sollten seit September 1916 gelockert werden und bei »freien Anwerbungen« gänzlich fortfallen. Zudem konnten die Entlassenen mit Erleichterungen bei den Meldevorschriften rechnen.749 Einsätze in Arbeitskommandos und Vertragsabschlüsse wurden auf »höchstens 6 Monate« befristet, weil dies die »Arbeitsfreudigkeit« erhöhe und einen Wechsel der Arbeitsstelle erleichtere, »wenn sie der ihnen übertragenen Arbeit körperlich auf die Dauer nicht gewachsen sind.« Ebenso dürften die ehemaligen Zivilinternierten »gesundheitsschädliche Arbeiten« nicht über einen längeren Zeitraum verrichten.750 Die Bestimmungen erfuhren im März 1917 eine umfassende Aktualisierung.751 Aus Sicht des Chefs des Kriegsarbeitsamts im preußischen Kriegsministerium, Major von Kühlwetter, waren in den Gefangenenlagern fortwährend Arbeitsfähige einquartiert. Die Kriegswirtschaft verlange »gebieterisch die Nutzbarmachung« jedes Einzelnen. »Jedes zulässige Mittel muss versucht werden, viele Wege werden gangbar sein«, drängte er, um »möglichst alle arbeitsfähigen und unverdächtigen Zivilgefangenen freiwillig« zu beschäftigen. Zu ihnen zählten alle »Männer und Frauen, insbesondere auch jugendliche Personen beiderlei Geschlechts nach Vollendung des 15. Lebensjahres, sofern sie nach ärztlichen Gutachten zu nennenswerter Arbeitsleistung ausserhalb der Lager körperlich imstande sind«. Einer unterschiedslosen Mobilisierung der Internierten standen die Militärverantwortlichen indessen ablehnend gegenüber. Der soziale Status des Einzelnen 747 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Rohde), betr. Zivilgefangene, hier an u. a. d. Sächs. u. Württ. KM, 13.3.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 139 u. in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 9 sowie Generalgouvernement Belgien (gez. Scherenberg) an d. Inspektion der Kriegsgefangenenlager d. X. AK, 7.6.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 17. 748 Preuß. KM, betr. belgische Gefangene in Dtl., an sämtl. stv. Gkdos., 8.6.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 176. 749 Preuß. KM, betr. Überwachung feindlicher Ausländer, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 29.9.1916, in: HStA Dresden, 11352/796, Bl. 2 ff. 750 Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich), betr. Verträge für Arbeitskommandos von Zivilgefangenen, an sämtl. preuß. stv. Gkdos., hier wtgl. an d. Württ. KM, 30.5.1917, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 22. 751 Preuß. KM (Kriegsamt, gez. i. A. v. Kühlwetter [Major, Chef des Kriegsarbeitsamts]), betr. verstärkte Heranziehung d. Zivilgefangenen zu Arbeiten für d. Kriegswirtschaft, hier an d. Württ. KM, 20.3.1917, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 18 f.
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müsse respektiert werden. Sie schlossen deshalb von den verschärften Anwerbebemühungen Personen aus, die »nach ihrem Beruf oder ihrer Lebensstellung gröbere körperliche Arbeiten nicht zu verrichten pflegen«, wie »Intellektuelle, z. B. Studierende, Beamte, selbständige Kaufleute, Gutsbesitzer«. Für die Überzeugung der Übrigen mahnten sie wiederum Veränderungen bei den Verpflichtungsstrategien an und öffneten die Internierungslager für die Deutsche-Arbeiter-Zentrale, das Industriebüro in Brüssel und weitere Industrievertreter. Sie richteten darüber hinaus Vermittlungsbüros ein, deren Mitarbeiter unter anderem aus dem Bewachungspersonal zu rekrutieren seien und die Kenntnisse »der Sprache und der Gewohnheit der betr. Zivilgefangenen« besitzen sollten. »Die Personenfrage, die Geschicklichkeit und das Verständnis für die Eigenart der betreffenden Zivilgefangenen wird hier für die Ergebnisse entscheidend sein.« Die Verantwortlichen des Kriegsamts stellten dem kollektiven Programm der Arbeiter/innenanwerbung Fälle Einzelner gegenüber, die es durch individuelle Arbeitsanreize und »günstige Nachrichten« zu überzeugen galt. Erneut hätten die Kommandanturen den Arbeitswilligen »Erleichterungen« wie eine bessere Verpflegung und gelockerte Postbestimmungen zu gewähren. Sie forderten damit einhergehend, dass die Vergütungen denen deutscher Arbeiter entsprechen solle, denn »gerade mit einer grosszügigen Behandlung der Lohnfrage wird viel zu erreichen sein«. Im Zuge dieser personenbezogenen ökonomischen Mobilisierung wurden die zu Kriegsbeginn vielfach geäußerten Spionageverdächtigungen verworfen. Die situativ von Bedeutung gewesenen Verdachtsmomente wichen einer Neubewertung der Internierten, die »vom Standpunkt der Spionage- und Sabotageabwehr und der Verbrechensverhütung unbedenklich« erscheinen musste.752 Die in den militärischen Richtlinien vorgesehenen Privilegien dürfen dennoch nicht über die Zwangselemente der Rekrutierung und die geringgeschätzte Stellung der Arbeiter/innen hinwegtäuschen. Wie sich die Vorstellungen militärischer Akteure ihnen gegenüber zwischen den Jahren 1915 und 1917 gravierend veränderten, stellten die Grundsätze für den Arbeitseinsatz zwangsdeportierter belgischer Staatsbürger heraus. Die Offiziere des Kriegsamts betonten darin bezüglich der »drei Kategorien der Kriegsgefangenen, Zivilgefangenen und anderen feindlichen Ausländer«, dass sie »einer gleichmäßigen Heranziehung zu den im deutschen Interesse notwendigen Arbeiten unterworfen werden [müssen], und zwar wenn nötig, auch im Zwangswege«. Der »rechtliche Unterschied« dieser Gruppen sei ohne Belang. Die »Zwangsheranziehung Kriegsgefangener, außer zu unmittelbaren Kriegsarbeiten«, beruhe auf der Haager Landkriegsordnung und die für
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»Zivilgefangene und andere feindliche Ausländer« gründe auf dem preußischen Belagerungszustandsgesetz aus dem Jahre 1851.753 Wie eine solche Verordnung zum Arbeitszwang feindlicher Ausländer lauten konnte, zeigte der stellvertretende Generalkommandeur des Hannoveraner Armeekorps, Karl Heinrich von Hänisch (1861–1921). Er bestimmte »im Interesse der öffentlichen Sicherheit«, dass »Angehörige feindlicher Staaten, die nicht dem Soldatenstande angehören, […] die Arbeiten, zu denen sie bestellt und die ihren Fähigkeiten angemessen sind, ohne hinreichenden Grund nicht verweigern« dürfen.754 Über die Rechtmäßigkeit von Weigerungen sollten die Kommandanten der Verteilungsstellen oder zivile Lokalverantwortliche wie Bürgermeister und Landräte entscheiden. Wer die Arbeitsaufnahme unberechtigt ablehne, würde »mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft« werden. Gleichlautende Verordnungen anderer stellvertretender Generalkommandeure bestätigten diese Praxis im Hannoveraner Armeekorpsbereich.755 Allerdings verdeutlichten die Regelung die unbeständigen Unterscheidungen zwischen den feindlichen Ausländern. Der stellvertretende Generalkommandeur des VIII. Armeekorps, Paul von Ploetz, beschränkte die Bestimmungen ausdrücklich auf die belgischen Zwangsarbeitsdeportierten.756 Hierbei erhob er im März 1917 ihre Aufsichtspersonen gar zu Polizeibeamten auf Widerruf, die damit das »wünschenswert[e]« Recht zum Waffengebrauch erhielten.757 Dass die Disziplinarbestimmungen der stellvertretenden Generalkommandeure nur einen Möglichkeitspol des Zwangs beschrieben, erkannte Generalquartiermeister Erich Ludendorff. Auch er hatte festgestellt, dass sich in den Lagern noch »mehrere Tausend arbeitsverwendungsfähige Franzosen und Belgier aus dem Operations- und Etappengebiet« befänden, die keiner Arbeit im Deutschen Reich nachgingen. Da sie aus Gegenseitigkeitserwägungen nur für die Instandhaltung der Lager herangezogen werden durften, strebte er »ihre Rückführung in das besetzte Gebiet« an. Dort führen sie »den Armeen eine große Zahl neuer Arbeitskräfte« zu und würden »die Heimat von unnützen Essern« befreien. Er hatte vor allem Zivilgefangene im Blick, die »sich gesundheitlich und nach ihrer Lebensstellung zur Verwendung als freie Arbeiter oder zur Einstellung in ein Zivil-Arbeiter753 Preuß. KM (Kriegsamt) an d. Sächs. KM, Anlage: Grundsätze zur Heranziehung arbeitsscheuer Belgier zu Arbeiten in Dtl., 15.11.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 294 ff. u. in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 1, Anlage 5, S. 242–246. 754 Verordnung betr. Arbeitsverpflichtung feindlicher Ausländer d. stv. Gkdos. X. AK (gez. v. Hänisch), 3.2.1917, in: StdA Göttingen, Pol. Dir. Fach 167, Nr. 13, Bl. 222 u. 223. 755 Verordnung d. stv. Gkdos. XII. u. XIX. AK, 19.12.1916, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 11; Verordnung d. stv. Gkdos. XIII. AK, o.D., in: HStA Stuttgart, M 77/2, Bd. 33, Bl. 220. 756 Verordnung betr. belgische Abschüblinge d. stv. Gkdos. VIII. AK, 15.12.1916, in: LAV NRW R, BR 0007, 15048, Bl. 32. 757 Stv. Gkdo. VIII. AK an d. Oberpräsidenten d. Rheinprovinz, 6.3.1916, in: LAV NRW R, BR 0007, 15048, Bl. 48.
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Bataillon eignen und gegen deren Rückführung militärische Bedenken nicht zu erheben sind«.758 Sie sollten solange in militärisch organisierten Zivil-ArbeiterBataillonen verbleiben, bis sie sich »freiwillig anwerben lassen« würden.759 »In den heimischen Lagern darf nicht bekannt werden, dass die Arbeiter im besetzten Gebiet erforderlichenfalls zwangsweise zur Arbeit angehalten werden«, verlangte er zugleich gegenüber den stellvertretenden Generalkommandeuren.760 Den letzten Akt läutete Ludendorff im April 1917 ein, als im nordfranzösischen Maubeuge ein Gefangenenlager für 1500 internierte »arbeitsverwendungsfähige Franzosen und Belgier« errichtet wurde. Nach Zahlen aus den Lagern Holzminden, Havelberg und Rastatt, so Ludendorff, kämen für eine Abschiebung noch »8657 Franzosen und 1581 Belgier« in Frage.761 Russländische Deportierte blieben hingegen von einer solchen militärischerseits forcierten Rückführung ausgeschlossen. Solange sie »zu einer kriegswirtschaftlichen Arbeit in Deutschland […] geeignet und bereit sind oder doch Aussichten bieten, diese Voraussetzungen bei entsprechender Einwirkung in absehbarer Zeit zu erfüllen«, sollten sie im Deutschen Reich zurückgehalten werden.762 Das Jahr 1916 bedeutete somit einen tiefgreifenden Wandel im Umgang mit den Zivilinternierten. Die Prämisse einer freiwilligen Arbeitsaufnahme verschob sich über die gezielte Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Lagern und die gleichzeitig verstärkten Anwerbebemühungen hin zu vorgestellten wie praktizierten Möglichkeiten des Zwangs. Erinnert sei zum einen an die Ausführungen Hans Webers über das Lager Traunstein. Im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen hatte die Kommandantur ebenso Gefangene zwangsweise zur Arbeit herangezogen, die »bisher zu bequem oder zu störrig gewesen waren, eine angebotene Arbeitsstelle zu übernehmen«.763 Zum anderen verdeutlicht eine Aufstellung der dortigen 758 Generalquartiermeister an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 20.11.1916, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 85. u. Preuß. KM (Kriegsamt), betr. zivilgefangene Franzosen u. Belgier, an d. preuß. stv. Gkdos. 2.1.1917, hier wtgl. an d. Sächs. KM, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 24. 759 Zur Arbeit im Operations- und Etappengebiet siehe: Thiel, »Menschenbassin Belgien«, S. 123–135. 760 Generalquartiermeister an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 20.11.1916, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 85. Zusammenfassend zur Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas siehe: Jens Thiel und Christian Westerhoff, Deutsche Zwangsarbeiterlager im Ersten Weltkrieg. Entstehung – Funktion – Lagerregimes, in: Christoph Jahr u. Jens Thiel (Hg.), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 117–139. 761 Generalquartiermeister an das Armee-Oberkommando 2, Etappen-Inspektion 2; Abdruck an d. Preuß. KM u. d. Kriegsamt, 2.4.1917, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 249 f. 762 Preuß. KM, betr. Rückkehr Zivilgefangener in d. besetzte Gebiet Russlands, an sämtl. stv. Gkdos., d. Okdo. i.d. Marken u. d. Kommandantur Berlin, 18.8.1916, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 59. Im gleichen Sinne bereits: Preuß. KM, betr. Rückkehr von Zivilpersonen in d. besetzte Gebiet Russlands, an sämtl. stv. Gkdos. 30.11.1915, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 88. 763 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 67.
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Lagerkommandantur über verhängte Strafen gegen französische Zivilgefangene, dass Arbeitsverweigerungen als eine Straftat kategorisiert und sanktioniert wurden. Noël Cattoire (1882/83–?) musste 80 Mark zahlen, weil er seine Arbeitsstelle verlassen hatte. Fernand Latarges (1894–?) wurde aufgrund desselben Deliktes zu einer Woche Gefängnis verurteilt. Victor Lefèvre (1896–?) und drei weitere Internierte erhielten für »Arbeitsverweigerung und Verlassen des Aufenthaltsorts« eine Strafe von vier Tagen Gefängnis.764 Die unbedingte Überführung der Internierten in die Kriegswirtschaft ging einher mit veränderten Zuschreibungen. Aus den Spionageverdächtigten wurden schuldlos Festgehaltene, deren Arbeitskraft ungenutzt blieb. Deportierte unterschieden die Heeresverwalter in Arbeitsverwendungsfähige, die ihre Familienangehörigen in den besetzten Gebieten unterstützen sollten,765 und in Verweigerer. Nichtarbeitende galten als eine Belastung für die Kriegswirtschaft. In diesem Sinne wandelten sich der Charakter und die Funktion der Lager. Sie gewährleisteten in den vorgebrachten ökonomischen Argumenten nicht mehr die Sicherheit der Bevölkerung und den Lebensstandard internierter, deutscher Staatsangehöriger im Ausland. Vielmehr betrachteten die Verantwortlichen im Preußischen Kriegsministerium die Internierungslager zunehmend als Übergangsstationen und Nachtlager für Arbeitsfähige. Der Faktor Arbeit wurde zum Bezugspunkt für die Wahrnehmung der Ausländer/innen inner- und außerhalb der Lagerzäune und diente daran anschließend als Gradmesser für ihre staatliche Behandlung. Die militärischen Akteure trennten drei Formen von Arbeitsaufnahmen, die das Verhältnis der Arbeitenden zu den Lagern beeinflussten.766 Erstens gab es Internierte, die »Lagerarbeiten ausserhalb der Lager unter militärischer Bewachung« verrichteten und täglich in dieselben zurückkehrten. Von diesen unterschieden sich jene, »die sich freiwillig zu Arbeiten ausserhalb der Lager, die nicht mehr als Lagerarbeiten zu betrachten sind, bereit erklärt haben, […] die jedoch aus Sicherheitsgründen unter militärischer Bewachung in Arbeitskommandos tätig« waren. Sie übernachteten nicht mehr regelmäßig in den Lagern. Nach offiziellen Angaben umfassten diese beiden Gruppen im August 1916 12.000 Zivilinter764 Bay. SMin. d. Kgl. Hauses u. d. Äußern an d. AA, 22.8.1917, Anhang: Liste d. französischen Zivilinternierten wegen in d. Internierung begangener Straftaten, in: BArch Berlin, R 901/84010. 765 Generalgouvernement Belgien (gez. Scherenberg) an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager d. X. AK, 7.6.1916, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 17. 766 Preuß. KM (Kriegsamt, Kriegs-Ersatz- u. Arbeitsdept.), betr. Versicherungspflicht d. Zivilgefangenen feindlicher Staatsangehörigkeit, hier an u. a. d. Sächs. KM, 11.7.1917, in: HStA Dresden, 11348/2816, Bl. 319 u. Preuß. KM, betr. Kontrolle von zu Arbeitszwecken abgegebenen Zivilgefangenen, an sämtl. stv. Gkdos, Berlin, 10.4.1916, in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 154. Zur Behandlung dieser einzelnen Kategorien von Arbeitern weiterführend: Sächs. KM an d. Preuß. KM (Unterk.-Dept.), betr. Behandlung von Zivilgefangenen, mit d. Bitte um Äußerung, Dresden, 21.6.1917, (Abs.) in: HStA Dresden, 11348/2817, Bl. 44 ff. u. Antw. d. Preuß. KM an d. Sächs. KM, 24.7.1917, in: Ebd., Bl. 46.
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nierte.767 Von ihnen hoben sich schließlich solche »freien Arbeiter« ab, »die auf Grund selbstgeschlossener Arbeitsverträge dauernd aus den ZivilgefangenenLagern zur freien Arbeit entlassen« wurden. Sie unterstanden keiner militärischen Bewachung, erschienen nicht mehr in den Lagerlisten und verloren ihre Eigenschaft als Zivilinternierte. Ihr Übergang zu freien Arbeitern hatte zur Folge, dass sie nur den allgemeinen Bestimmungen für feindliche Ausländer/innen unterstanden und nach Ablauf des Arbeitsvertrags ihren Arbeitgeber wechseln konnten.768 Sie fielen deshalb bei Vertragsbruch nicht unter die Anordnungen über flüchtige Zivilgefangene und sie Denunzierende erhielten keine finanzielle Belohnung.769 Gleichwohl forderten die Beamten des Sächsischen Innenministeriums die Lokalbehörden auf, die »zur freien Arbeit beurlaubten« russländischen Internierten im Interesse der »Staatssicherheit« zu ergreifen und zurückzuführen, nachdem sie Hinweise aus »landwirtschaftlichen Kreisen« erhalten hatten.770 Nicht immer bedeutete ein Arbeitsvertrag ein beständiges Entlassungspapier. Die stellvertretenden Generalkommandeure hielten an Übergängen zwischen den einzelnen Formen der Arbeitsaufnahmen fest. Als dauerhaft erwies sich nur die Drohkulisse einer erneuten Internierung, die nie gänzlich wegfiel. Denn der Status des (»freien«) ausländischen Arbeiters blieb geknüpft an ein gefälliges Verhalten und die Arbeitsleistung des Einzelnen. So sollte in den Vorstellungen der oberbayerischen Militärverantwortlichen den Arbeitenden die Rückkehr in die Lager bevorstehen, wenn sie sich »unbotsmäßig« zeigten, die polizeilichen Kontrollen zu umgehen versuchten oder »durch anstössiges Verhalten Aergernis« erregten.771 Dazu konnte ebenso der Schmuggel von Briefen vorbei an den Postprüfungsstellen zählen. »Wiedereinschaffungen mussten deshalb nicht selten verfügt werden«, fasste der Lagerkommandant von der Pfordten seine Erfahrungen zusammen und betonte anschließend die über eine Internierung hinausgehende Strafpraxis. »Die wegen ihres Verschuldens ins Lager Zurückgeschafften wurden regelmässig zu unangenehmer Lagerarbeit herangezogen.«772 767 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1, S. 333. 768 Preuß. KM (Kriegsamt), betr. Rechtsstellung freier feindlicher Ausländer, hier an u. a. d. Sächs. KM, 8.1.1918, in: HStA Dresden, 11348/2817, Bl. 156. 769 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Belohnung aus Anlaß d. Ergreifung flüchtiger Zivilgefangener, an d. Reichskanzler (RAdI), 31.8.1916, (Abs.) in: BArch Berlin, R 1501/112388, Bl. 2. 770 Sächs. MdI an u.a d. KrhM, d. AmhM u. d. Polizeidirektion Dresden, 2.10.1917, in: HStA Dresden, 11348/2840, Bl. 73. 771 Grundsätze d. stv. Gkdo. I. bay. AK für d. Entlassung Zivilgefangener zu Arbeitszwecken, o.D., in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669. 772 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Zivilgefangene, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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Darüber hinaus mussten die frei Arbeitenden freiwillig ihre Arbeitsverträge verlängern. Nicht selten wurden sie doch überwacht durch die Lagerkommandanturen, die Ausweispapiere einbehielten und spezielle Ausweiskarten mit Lichtbild, Personenbeschreibung und einem Vermerk ausstellten, der die Rückführung Arbeitsloser in die Lager anmahnte.773 Dieses Verfahren griff ebenfalls, wenn ihnen unverschuldet eine Vertragsverlängerung misslang. Die Integration in die Kriegsgesellschaft gestaltete sich als ein risikobehaftetes und prekäres Unterfangen. Die deutliche Androhung einer Rückkehr in die Internierungslager entsprach den Bestimmungen für nichtinternierte russländisch-polnische Arbeiter/innen. Sie wurden in Oberbayern 1916 verpflichtet, ihre Arbeitsverträge bis Februar zu verlängern. Sollten sie es ablehnen, »unter angemessenen Bedingungen Verträge überhaupt abzuschließen, sind [sie] in ein Gefangenenlager des Korpsbezirks zu überführen und von dort aus unter den für Gefangene vorgesehenen Bedingungen zwangsweise zu Arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben zu verwenden«, ließ der Münchner stellvertretende Generalkommandeur bekanntgeben.774 Die entlassenen, freien Arbeiter waren meist keine bevorzugten Arbeitskräfte. Sie konkurrierten auf dem Arbeitsmarkt mit den Kriegsgefangenen. Als freie Arbeiter standen ihnen höhere Löhne zu, und insbesondere Landwirte erhielten für sie keine finanziellen Verpflegungszuschüsse. Diese Umstände erschwerten laut Theodor von der Pfordten ihre Vermittlung. »[D]ie landwirtschaftliche Bevölkerung [ist] oft nicht geneigt, Zivilgefangene als freie Arbeiter anzunehmen, wenn sie noch einigermassen Aussicht hatten, einen Kriegsgefangenen zu erhalten«, bilanzierte er. Über die Wirtschaftsstellen hätten die Landwirte weiterhin Kriegsgefangene zugeteilt bekommen und sich langsam an das niedrige Lohnniveau der Arbeitskräfte gewöhnt.775 Die Arbeitgeber sollten die ehemaligen Internierten zweckentsprechend überwachen und »Unzuträglichkeiten« verhindern. Die Lagerkommandanturen und stellvertretenden Generalkommandos konnten einerseits ihren Umgang mit den Ausländer/innen überwachen, indem sie wie die oberbayerische Militärbehörde monatlich Berichte darüber einforderten, »wie sich der Gefangene führt und zur Arbeit anstellt«. Die Arbeitgeber besaßen andererseits in den Militärbehörden eine 773 Preuß. MdI (gez. v. Jarotzky) an d. Reg.-Präs. in Düsseldorf, 17.6.1917, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 236/23176 u. Stv. Gkdo. VII. AK (gez. v. Gayl) an u. a. d. Landräte u. Polizeipräsidenten, nachrichtlich an d. Reg.-Präs. d. Rheinprovinzen, 30.5.1917, in: LAV NRW R, BR 0007, 14996, Bl. 246 f. u. Preuß. KM, betr. Kontrolle d. zu Arbeitszwecken abgegebenen Zivilgefangenen an u. a. d. preuß. stv. Gkdos, 23.3.1917, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 868, Bl. 20. Für Gefangene, die in Arbeitskommandos beschäftigt waren, galt diese Regelung nicht. Sie waren nicht als freie Arbeiter anzusehen. 774 Stv. Gkdo. I. bay. AK (gez. v. Tann) an u. a. d. Distriktsverwaltungsbehörden, 19.2.1916, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/1 (Herv. im Org.). 775 Bericht d. Lagerkommandanten v. d. Pfordten, ca. Mitte 1918, Kap. Verpflegung, in: HStA München, Abt. IV, MKr 1669.
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Beschwerdestelle.776 Josef Wirth, der Besitzer einer Papier- und Pappenfabrik in der Nähe Münchens, berichtete in diesem Zusammenhang beispielsweise, aus welchen Gründen er drei ehemalige Gefangene im Dezember 1916 entlassen hatte.777 »Als diese Leute zu mir kamen, stellte sich heraus, daß einer Universitäts-Student u. die anderen beiden Kaufleute waren«, begann er seine Ausführungen. Er unterstellte den drei Ungelernten, die der körperlich anstrengenden Arbeit wohl kaum gewachsen gewesen waren, eine stetige Unzufriedenheit mit der selbstgewählten Tätigkeit, mit der als »menschenunwürdig« empfundenen Unterkunft und mit der Verpflegung. Ihnen sei es »nicht um Arbeit« gegangen, sondern darum, »aus dem Lager fortzukommen u. insbesondere München deswegen als Arbeitsort aufzusuchen, weil sie daselbst Angehörige u. Freunde besitzen, ja sogar einer von ihnen da aufgewachsen ist«. Schließlich wäre ihre »Renitenz« so weit gegangen, »daß sie mir die anderen Arbeiter aufhetzten«. Der klagende Papierfabrikant behauptete seine Machtposition den ehemaligen Internierten gegenüber. Er entließ sie, weil ihm weitere ausländische Arbeiter zur Verfügung standen, deutete ihr Verhalten und setzte es in Bezug zu ihrem ›zivilen‹ Leben und meldete sie schließlich bei der Militärbehörde. Ihr gegenüber musste Wirth sich gleichwohl verteidigen. Denn er hatte in zweierlei Hinsicht versagt. Seine Aufgaben wären gewesen, den Arbeitenden bis zum Kriegsende eine angemessene Beschäftigung zu bieten und ihnen gegenüber ein im Sinne des Münchner Generalkommandos angemessenes Verhalten aufzuzeigen. Kündigungen durch die Arbeitgeber sollten im oberbayerischen Armeekorpsbezirk eine Ausnahme darstellen. Sie waren lediglich für »Entlassene, die sich unbotsmäßig zeigen, andere Arbeiter aufhetzen oder dauernd faul sind«, vorgesehen.778 Dementsprechend beachtete der Papierfabrikant Wirth in seiner Argumentation diese militärischen Vorgaben wortgetreu. Zugleich aber musste er seinen gebührenden Umgang mit den Arbeitern darlegen. Denn die Offiziere des Münchner Generalkommandos hatten für Arbeitgeber feindlicher Ausländer einen Verhaltenskodex aufgestellt.779 Sie wiesen darauf hin, dass die »feindlichen Ausländer, die in Deutschland den Lebensunterhalt für sich und vielfach auch für ihre Angehörigen im besetzten Gebiet verdienen, […] unserm Vaterlande einen Dienst [leisten]«. Deshalb sei es »im Interesse Deutschlands, diese Arbeiter mög776 Grundsätze für d. Entlassung von bürgerlichen Kriegsgefangenen zu Arbeitszwecken d. stv. Gkdos. I. bay. AK, an u. a. d. Bay, KM, d. SMdI u. hier an d. Kriegsgefangenenlager Traunstein, 19.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2005. 777 Josef Wirth, Pappenfabrik an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 22.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2113. 778 Grundsätze für d. Entlassung von bürgerlichen Kriegsgefangenen zu Arbeitszwecken d. stv. Gkdos. I. bay. AK, an u. a. d. Bay, KM, d. SMdI u. hier an d. Kriegsgefangenenlager Traunstein, 19.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2005. 779 Merkblatt für Arbeitgeber, d. Ausländer (feindliche u. nichtfeindliche) beschäftigen, verteilt am 11.10.1917, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo I. bay. AK, 1364.
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lichst zufrieden und arbeitsfreudig zu erhalten«. Eine zentrale Rolle spiele hierbei die »Persönlichkeit des Arbeitgebers«, der »das richtige Verhältnis« zu den Ausländern finden müsse. Zum einen bestehe dies aus Akzeptanz. »Es ist durchaus unrichtig, in Leuten, die sich freiwillig zur Arbeit bei uns verpflichtet haben, in erster Linie den feindlichen Ausländer zu sehen, und ihm dies bei jeder Gelegenheit zum Bewußtsein zu bringen.« Zum anderen fuße »das richtige Verhältnis« auf Autorität, denn »die Arbeiter [müssen sich] stets bewußt sein, daß Arbeitsscheue und Widersetzlichkeit auf das strengste geahndet werden«. Indem Wirth die Studenten ihre Tätigkeit in der Fabrik frei wählen ließ und versuchte ihnen entgegenzukommen, verwirklichte er die Normen der Münchner Offiziere. Dass die Integration scheiterte, war in seinen Augen deren Verschulden. Die abschließende Schilderung Josef Wirths vergegenwärtigt dem entgegen die Notsituation der Entlassenen, die sich nicht bei der Polizeibehörde meldeten, um nach Traunstein zurückgeführt zu werden. Ihre finanzielle Position wie ihre sozialen Beziehungen waren doch eng begrenzt. »[A]us Mitleid« von ihm geduldet, übernachteten sie weiterhin in den Schlafräumen der Papierfabrik und fanden offenbar keinen neuen Arbeitgeber.780
Rückkehr Die Praxis der Rücküberführung in die Gefangenenlager stieß auf Kritik. Deshalb sahen die Richtlinien des Preußischen Kriegsministeriums seit Frühjahr 1917 vor, dass »ausländische Arbeiter, welche ohne ihr Verschulden aus irgend welchen Gründen beschäftigungslos geworden sind, nicht interniert werden dürfen, sondern durch Vermittlung der öffentlichen Arbeitsnachweise so schnell wie möglich anderen Arbeitsstellen zuzuführen sind«.781 Die Internierungslager galten nun als störende, zur Last fallende Orte. Damit einhergehend betrieben auch die Lagerverantwortlichen »soweit irgend möglich« die Entlassung oder Rückführung der Frauen und Kinder aus den besetzten Gebieten Ost- und Westeuropas, die zwei Jahre nach Kriegsbeginn »immer noch in beträchtlicher Anzahl […] festgehalten« wurden. Die Berliner Verantwortlichen des Unterkunfts-Departements ersuchten die Generalgouverneure in Brüssel und Warschau sowie den Oberbefehlshaber Ost, »einer Zurückführung von Frauen und Kindern nur in besonders begründeten Ausnahmefällen die Genehmigung zu versagen«.782 Sie teilten dem Reichskanzler zudem mit, dass sie anstreben, »die Internierungslager des Inlandes von den aus den besetzten Gebieten stammenden Insassen, soweit diese für die deutsche Volkswirtschaft nicht in 780 Josef Wirth, Pappenfabrik an d. stv. Gkdo. I. bay. AK, 22.12.1916, in: HStA München, Abt. IV, Stv. Gkdo. I. bay. AK, 2113. 781 Württ. KM (gez. v. Marchtaler) an d. Württ. MdI, 5.5.1917, (Abs.) in: StA Ludwigsburg, F 160 I, Bü 692 (Herv. im Org.). 782 Preuß. KM (gez. i. A. Bonhard), betr. Zivilgefangene Frauen u. Kinder, an d. stv. Gkdo. XIV. AK, 28.8.1916, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348.
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Betracht kommen, freizumachen«.783 Nötigenfalls müssten Lager in den besetzten Gebieten eingerichtet werden. Die Verantwortlichen des Generalgouvernements Warschau forcierten die Rückführung besonders nachdrücklich. Vor allem »alle unverdächtigen, nicht arbeitsfähigen, aus dem besetzten Gebiete stammenden Zivilpersonen russischer Staatsangehörigkeit, namentlich die sich noch in Internierungslagern befinden – also insbesondere Greise, Kranke, Frauen (Mütter) und Kinder – sofern sie den Wunsch haben, in ihre Heimat zurückzukehren«, sollten unverzüglich entlassen werden.784 Die Offiziere des Generalgouvernements ersuchten fortwährend die Lagerkommandanturen um weitere Nachprüfungen der Festhaltungsgründe. »Die Entlassung einer 5- oder mehrköpfigen Familie, die jetzt vom Deutschen Reiche unterhalten werden muss, dürfte ein genügender Ausgleich für den Ausfall einer männlichen Arbeitskraft sein«, gaben sie zu bedenken. Eine Zurückhaltung sei nur bei Personen gerechtfertigt, deren »politische Gesinnung und Betätigungsmöglichkeit unerwünscht ist«. Die Militärverantwortlichen in Warschau argumentierten ebenfalls mit einer veränderten Perspektive auf die Kriegsereignisse im Jahre 1914, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Der einst erhobene Spionageverdacht und die Feststellungen einer Deutschfeindlichkeit seien »in der Mehrzahl der Fälle« nicht mehr aufrechtzuerhalten und bildeten keinen »Hinderungsgrund für die Rückkehr«.785 Da in der Folgezeit die Heimkehrquote unter ihren Erwartungen blieb, entsandte das Generalgouvernement gar eine Kommission, um Personen, die in der deutschen Kriegswirtschaft keine Verwendung fanden, zu ermitteln.786 Die Feststellung, dass sich »arbeitsunfähige Zivilgefangene« vom östlichen Kriegsschauplatz in den Lagern aufhielten, verstummte allerdings bis zum Kriegsende nicht.787 Belgische Zivilgefangene – Frauen und Kinder, Arbeitsverweigerer und -unfähige –, die »für eine Freilassung innerhalb Deutschlands nicht in Frage« kamen, sollten im Herbst 1917 nach dem belgischen »Übergangslager I« oder in das
783 Preuß. KM (gez. i. A. Rohde), betr. Bestandsnachweisung d. Zivilgefangenenlager, an d. Reichskanzler, RAdI, 6.9.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112370, Bl. 32 ff. (Herv. im Org.). 784 Preuß. KM, betr. Rückkehr Zivilgefangener in d. besetzte Gebiet Russlands, an sämtl. stv. Gkdos., d. Okdo. i.d. Marken u. d. Kommandantur Berlin, 18.8.1916, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 59. 785 Generalgouvernement Warschau, betr. Rückkehr russischer Zivilgefangener, an d. stv. Gkdo. XVII. AK, 28.10.1916, wtgl. an u. a. sämtl. stv. Gkdos., in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 79 f. u. in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348. 786 Generalgouvernement Warschau, Abt. Ic (Chef d. Stabes, gez. v. der Esch) an d. Preuß. KM, 17.8.1916, (Abs.) in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348 u. (Abs.) Preuß. KM (gez. Friedrich) an d. Gouvernement Warschau, hier abschr. an sämtl. stv. Gkdos. 22.9.1916, in: Ebd. 787 Preuß. KM, betr. Zivilgefangene, d. aus d. besetzten Ostgebieten stammen, hier an u. a. d. Sächs. KM, 3.10.1918, in: HStA Dresden, 11348/2827.
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Lager Diest bei Brüssel abgeschoben werden.788 Die forcierten Entlassungen zeitigten messbare Folgen (Tab. 15), aber eine endgültige Abwicklung der Internierungslager bedeuteten sie nicht.789 Tabelle 15: Entlassungen aus den Gefangenenlagern Holzminden, Havelberg, Rastatt und Ruhleben, 1. Dezember 1916 bis 15. August 1917 Staatsangehörigkeit russländische
Holzminden
Havelberg
701
7
2.511
1.828
belgische
765
75
rumänische
146
russ.-polnische französische
Rastatt
Ruhleben
101 1.037
britische
sonstige zusammen
407
75
375
471
4.198
2.386
1.508
407
Quelle: Bestandsnachweisung d. Zivilgefangenenlager, Preuß. KM (gez. i. A. Rohde) an d. Reichskanzler, RAdI, 6.9.1917, in: BArch Berlin, R 1501/112370, Bl. 327.
Von den Überlegungen und praktischen Hindernissen, welche die Entlassungen der Zivilinternierten begleiteten, erzählt eine Liste sieben zurückgehaltener Frauen aus dem Lager Rastatt.790 Obgleich eine Freilassung in allen Fällen auch von den Lagerverwaltern befürwortet wurde, zeigte sich schnell die Abhängigkeit von weiteren Akteuren und Faktoren. Die französische Staatsangehörige Clementine Gerber war am 12. August 1916 zu einem »8 wöchentlichen Aufenthalt hier eingeliefert« worden. Ihre Entlassung war deshalb erst für den 6. Oktober 1916 vorgesehen. Marie Perron, ebenfalls französischer Staatszugehörigkeit, sollte »ursprünglich« nur 14 Tage im Lager verbleiben und anschließend abgeschoben werden. Seit dem 13. April 1916 Insassin desselben, hatte sie »ein Gesuch um Verheiratung mit dem Landsturmmann Lieder der 1. Kompanie […] eingereicht«. Im Anschluss an die Trauung sollte ihre Entlassung erfolgen, allerdings konnte ihr zukünftiger Ehemann bis September 788 Preuß. KM, betr. Freilassung von Zivilgefangenen, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., Berlin, 22.10.1917, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 271. u. Preuß. KM, betr. Einrichtung eines Zivilgefangenenlagers u. einer Zentral-Strafanstalt im Bereich d. Generalgouvernements in Belgien, an d. Generalgouvernement u. Anhang zur Abs. an sämtl. stv. Gkdos., 18.8.1917, in: HStA Dresden, 11348/2815, Bl. 257 f. 789 Preuß. KM (Unterk.-Dept.), betr. Unterbringung Angehöriger feindlicher Staaten in Gefangenenlagern, hier an u. a. d. Sächs. KM, 20.12.1917, in: HStA Dresden, 11352/797, Bl. 58. 790 Kommandantur d. Zivilgefangenenlagers Rastatt (gez. Bauern) an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlager XIV. AK, 9.9.1916, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348.
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Internieren und Freilassen
die benötigten Papiere nicht vollständig beibringen. Clementine Gaidelle,791 eine italienische Staatsangehörige, wurde am 23. August 1916 mit ihren drei Kindern nach Rastatt zum »Zwangsaufenthalt« überführt. Ihre Abschiebung in die Schweiz erfolgte aufgrund der italienischen Kriegserklärung nicht. Auf den Einwand des Zivilgefangenenlagers, dass »bisher eine Internierung für die italienischen Staatsangehörigen nicht vorgesehen ist«, lag von dem zuständigen Militärpolizeimeister der Armeeabteilung Gaede noch keine Antwort vor. Sie wurde mit ihren Kindern schließlich im Herbst 1916 nach Holzminden überführt, wo ihr Ehemann Seduto Gaidelle untergebracht war.792 Josefa Gieda, eine russländische Staatsangehörige, gelangte ebenso mit ihrem Kind am 14. Juli 1916 in das Lager Rastatt. Die Überführung wurde damit begründet, dass in Weinstetten »keine Arbeit für sie mehr vorhanden war«. Die Kommandantur hatte ihren Ehemann am 19. August 1916 »zur Aufnahme der Arbeit nach Mannheim« entlassen, und dieser beantragte, »damit er dort für sie sorgen kann«, ihre Übersiedlung. Die Lagerverantwortlichen unterstützten das Gesuch, »damit sie dem Staate nicht zur Last fällt«, zumal sie sich in »gesegneten Umständen« befand und »ihre Niederkunft in Kürze« erwartete. Das Bezirksamt in Mannheim jedoch lehnte das Gesuch ab. Auf eine Antwort aus Mannheim warteten gleichfalls Walka Gieda und Marie Kulifer, beide russländischer Staatsangehörigkeit, die sich seit dem 14. Juli 1916 aufgrund des Arbeitsmangels in Weinstetten im Rastatter Lager aufhielten und nun hofften, durch Vermittlung des Mannes von Josefa Gieda in Mannheim Arbeit zu finden und entlassen zu werden. Dagegen verweilte die russländische Staatsangehörige Marie Zalik bereits seit dem 21. März 1916 im Lager, »weil sie mit einem Ottenheimer-Burschen in wilder Ehe lebte«. Auch ihre Entlassung war beantragt und von Seiten der Lagerverwaltung nach guter Führung befürwortet worden. Jedoch erhob die Inspektion der Kriegsgefangenenlager Einspruch, »da die Zalik nach der Gendarmeriemeldung v. 9.3.1916 […] nicht einwandfrei erscheint«.793 Vom Kriegseintritt eines Staates über den Bräutigam in spe oder den Mann einer Bekannten bis hin zu Militärpolizisten und Beamten in Bezirksämtern konnten die Interventionen in die Entlassungsgesuche der Internierten reichen. Trotz umfänglicher Forderungen aus dem Berliner Kriegsministerium betrachteten die Entscheider vor Ort den Einzelnen. Im Umgang mit ihm eröffneten und schlossen sich Handlungsspielräume, die teilweise von den Internierten mitgestaltet wurden. Die Lagerverwalter fanden sich in einer weitreichenden Vermittlerposition zwischen den militärischen Vorgaben aus Berlin und den intervenierenden Akteuren wieder. Nachdem sie die Lager und ihre Infrastrukturen für tausende unterschiedliche 791 Index card, Clementine Gaidelle, in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 792 Index card, Seduto Gaidelle, in: ICRC Historical Archives, Prisoners of the First World War, via URL: https://grandeguerre.icrc.org. 793 Kommandantur d. Zivilgefangenenlagers Rastatt (gez. Bauern) an d. Inspektion d. Kriegsgefangenenlagers XIV. AK, 9.9.1916, in: GLA Karlsruhe, 456/F8/348.
Wege in eine eingeschränkte Freiheit
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Menschen ausgebaut hatten, sollten sie in der zweiten Kriegshälfte die Barackenstädte systematisch räumen. Das lange Ende der Internierungslager diktierte zuerst und nachdrücklich die prekäre kriegswirtschaftliche Lage des Deutschen Reiches. Ein zweites ebenso lang andauerndes Ende der Zivilinternierung läuteten die Waffenstillstandsabkommen und Friedensverträge ein. In den Zusatzbestimmungen des Vertrags von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 wurde die unentgeltliche Heimbeförderung der beiderseitigen internierten oder verschickten Zivilangehörigen, sofern sie nicht zu bleiben wünschten, niedergelegt.794 In diesem Zusammenhang meldeten sich über 2600 russländische Staatsangehörige bis Ende Juni 1918 für die Ausreise an. Circa 1450 von ihnen befanden sich noch immer in Gefangenenlagern.795 Bis Mitte August schrieben sich nochmals über 500 Rückreisewillige in die Transportlisten ein.796 Der Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 beschleunigte die Entlassung der Internierten.797 Die militärischen Oberbefehlshaber und die Regierung des Deutschen Reiches willigten ein, alle deportierten Einwohner/ innen Nordfrankreichs, Belgiens, Elsaß-Lothringens und Luxemburgs binnen 14 Tagen zu repatriieren.798 Am Abend des 24. November 1918 sollten sie deutsches Territorium verlassen haben. »Die Zivilinternierten, die Geiseln, […] welche den alliierten oder assoziierten Mächten angehören«,799 hatten »ohne Recht auf Gegenseitigkeit« innerhalb eines Monates in ihre Heimat zurückzukehren.800 Sie wurden bis 8. Dezember 1918 in Rastatt zusammengezogen und reisten über Frankreich bis zum 11. des Monats aus. Den auf freiem Fuß lebenden ehemaligen feindlichen Ausländer/innen war gleichfalls die Heimreise gestattet. Wollten sie, wie
794 Deutsch-Russischer Zusatzvertrag zu d. Friedensvertrage zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien u. d. Türkei einerseits u. Rußland andererseits, Art. 18, in: RGBl. 1918, Nr. 77, S. 622–653, hier S. 640 ff. Vorbereitungen für die Ausreise russländischer Staatsangehöriger wurden seit Januar 1918 getroffen. Siehe: Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich) an u. a. RAdI u. Okdo. in d. Marken, 18.1.1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4594, Bl. 125. 795 Verzeichnis d. Preuß. KM über d. Zivilpersonen, d. eine Heimreise nach Russland wünschen, 24.6.1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4594, Bl. 279. 796 Verzeichnis d. Preuß. KM über d. Zivilpersonen, d. eine Heimreise nach Russland wünschen, 12.8.1918, in: BArch Freiburg (MA), RM 3/4594, Bl. 299. 797 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. i. A. Oeste u. Schlesinger), hier wtgl. an d. Sächs. Min. für Militärwesen, 17.11.1918, in: HStA Dresden, 10736/3372, Bl. 73. 798 Waffenstillstandsvertrag von Compiègne, Abschnitt A, Ziffer 3, 11.11.1918, in: Der Waffenstillstand 1918–1919. Das Dokumenten-Material der Waffenstillstands-Verhandlungen von Compiègne, Spa, Trier und Brüssel, Bd. 1, hg. von Edmund Marhefka, Berlin 1928, S. 23–57, hier S. 25. 799 Zu diesen Staaten gehörten: Großbritannien, Serbien, Montenegro, Japan, Portugal, Italien, Vereinigte Staaten von Amerika, Panama, Kuba, Siam, Liberia, China, Brasilien, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und Haiti. 800 Waffenstillstandsvertrag von Compiègne, Abschnitt D, Ziffer 18, 11.11.1918, in: Der Waffenstillstand 1918–1919, Bd. 1, S. 41 f.
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die entlassenen Zivilinternierten, in Deutschland bleiben, mussten sie dafür eine schriftliche Erklärung unterzeichnen.801 Die Wahl des Wohnortes stand ihnen frei. Nach Artikel 222 des Friedensvertrages von Versailles war die deutsche Regierung verpflichtet, »strafweise gegen deutsche Beamte oder Privatpersonen vorzugehen, die einen Staatsangehörigen einer alliierten oder assoziierten Macht verborgen halten oder es verabsäumen, nach erlangter Kenntnis von ihm Anzeige zu erstatten«.802 Denn ausländische Regierungen vermuteten in der Nachkriegszeit, dass ihre Staatsbürger/innen weiterhin zurückgehalten würden. Die Abwicklungsämter der Militärbehörden drängten daher auf Nachforschungen über vermisste Zivilinternierte und waren bemüht, »authentische« schriftliche Erklärungen von Rückkehrverweigerern zu erhalten. Zudem entsandte die Waffenstillstandskommission Delegierte zu Ermittlungen in die ehemaligen Lager.803 Aufgrund von Vorwürfen der belgischen Regierung hielten es Vertreter des Reichsamtes des Innern für »nicht unwahrscheinlich […], dass sich ohne Wissen und Willen der Behörden noch belgische Kriegsgefangene in Deutschland herumtreiben«. Im November 1919 eskalierte der Konflikt mit der belgischen Regierung, die der deutschen vorwarf, absichtlich ihre Staatsangehörigen zurückzuhalten und damit die Waffenstillstandsbedingungen zu verletzten. Sie schloss deshalb 30 deutsche Kriegsgefangene von der Heimreise aus.804 Die Gefangenenlager in Rastatt, Havelberg und Holzminden sollten bis 13. Dezember 1918 aufgelöst werden. Eilig skizzierten die preußischen Ministerialvertreter ihre anschließende Nutzung. »In erster Linie dienen die aufgelösten Zivilgefangenenlager als Sammellager für die feindlichen Kriegsgefangenen und demnächst für die Unterbringung der aus Feindesland zurückkehrenden deutschen Kriegsgefangenen und Zivilpersonen.«805 Als »Heimkehrerlager« sollten sie Geflüchteten, Vertriebenen und Zuwanderern eine kurzzeitige Unterkunft bie-
801 Preuß. KM an d. Sächs. Min. für Militärwesen, hier wtgl. an d. stv. Gkdo. XIX. AK, 30.11.1918, (Telegramm) in: HStA Dresden, 10736/3372, Bl. 73. 802 Gesetz über d. Friedensschluß zwischen Deutschland u. d. alliierten u. assoziierten Mächten, 16.7.1919, Art. 221 u. hier zit. 222, Abs. 2, in: RGBl. 1919, S. 687–1349, hier S. 977. Ebenso in leicht abgewandelter Übersetzung: Abwicklungsamt d. früheren I. bay. AK an d. BzÄ, abschr. an d. Regierungen von Oberbayern, Niederbayern, Schwaben u. Neuburg, 21.10.1919, in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3. 803 Abwicklungsamt d. Preuß. KM (Unterkunftsabt.) an d. RAdI, 13.10.1919, hier wtgl. an d. Landesregierungen, in: HStA München, MJu 10780 u. Bkm. an u. a. d. Württ. MdI, 18.1.1919, in: HStA Stuttgart, M 77/1, Bü 880, Bl. 53. 804 RAdI (gez. Lewald) an d. außerpreuß. Landesregierungen, 20.11.1919, (Abs.) in: StdA Traunstein, Akten 1870–1972, 160/3. 805 Preuß. KM (Unterk.-Dept., gez. Rohde u. Göhre), betr. Zivilgefangenenlager, an u. a. sämtl. stv. Gkdos., 6.12.1918, in: BArch Berlin, R 901/84319.
Resümee: Die Vielfalt der Internierungen und ihre Misserfolge
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ten, bis sie Arbeitsstellen und Wohnungen gefunden hätten. Für viele begann mit ihrer Ankunft ein beschwerlicher Weg in die deutsche Nachkriegsgesellschaft.806 Im April 1919 befanden sich in Havelberg 433 dienstentlassene »deutsche Soldaten polnischen Ursprungs« und 57 »Zivilisten (darunter 6 Frauen und ein Säugling)«. Laut einem Bericht des Delegierten des Roten Kreuzes Ernest Léderrey (1880–1965) wurden die Internierten festgehalten, weil sie, »in die Heimat zurückgekehrt, gegen Deutschland kämpfen könnten«.807 Im Herbst 1920 wurden sodann in dem Lager Soldaten der Russländischen Sowjetrepublik untergebracht, die im Krieg gegen Polen auf deutsches Territorium übergetreten waren.808 Ein anderes Schicksal ereilte das Internierungslager in Traunstein. Im Frühjahr 1919 wurde es endgültig aufgelöst, nachdem im Dezember des Vorjahres die letzten russländischen Internierten ihre beschwerliche Rückreise angetreten hatten. Die Diensträume des Lagers dienten fortan als Notwohnungen. »Bald wurde auch der unschöne Holzzaun entfernt«, beendete Hans Weber seine Geschichte über das Lager, das »in aller Form aufgehört [hatte] zu existieren. Nur seine Akten schlummern als letzter Rest im Staub der Archive in München.«809
Resümee: Die Vielfalt der Internierungen und ihre Misserfolge Feindliche Ausländerinnen und Ausländer verloren entgegen rechtswissenschaftlichen Erwartungen die Sicherheit, unversehrt und unbehelligt in den kriegführenden Staaten leben zu können. Der Kriegszustand hatte einen Möglichkeitsraum geöffnet, in dem es vorstellbar wurde, Bürger/innen feindlicher Staaten jenseits militärischer Kriegsschauplätze ohne zivilrechtliche Urteilssprüche, für deren Vollstreckung die Zivilgefängnisse zuständig blieben,810 in Lagern zu konzentrieren. Zivilinternierungen etablierten sich hierbei innerhalb eines breiten Handlungsspektrums weder als kriegspolitische, am Reißbrett entworfene Innovationen noch als aufgezwungene Provisorien. Zwischen militärischen Vorannahmen über die Bedeutung zurückgehaltener Wehrpflichtiger und staatlichen Vergeltungsaktionen, zwischen polizeilichen Überwachungsansprüchen und finanziellen Erwägungen über kostengünstige Unterbringungen brachten Militärkommandeure 806 Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, S. 107–135, Angabe zu Havelberg S. 115, Fn. 84. 807 Deutsch-Posensche Mission, Bericht über d. Besichtigung d. Gefangenenlagers Havelberg (gez. Léderrey), 26.4.1919, (Abs.) in: BArch Berlin, R 901/84319 (Herv. im Org.). 808 Reichsminister d. Innern an u. a. d. Landesregierungen, 10.11.1920, in: BLHA Potsdam, Rep. 2A I Pol, Nr. 2309/1. Siehe ebenso: Otte, Lager Soltau, S. 279–290. 809 Weber, Das Gefangenenlager Traunstein, S. 67 u. weiterführend: Haselbeck, Das Gefangenenlager Traunstein-Au, S. 280 ff. 810 Preuß. KM (gez. i. A. Friedrich), betr. Zivilgefangene, an sämtl. stv. Gkdos., 4.6.1915, in: LAV NRW R, BR 0007, 14995, Bl. 327 u. in: HStA Dresden, 11348/2814, Bl. 56.
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und Zivilverantwortliche ganz unterschiedliche Internierungswirklichkeiten hervor. Eine Unterscheidung der Zivilgefangenschaft sollte deshalb mindestens nach den Ursachen, den Verantwortlichen und den Organisationsformen erfolgen. Die Festhaltung von Spionageverdächtigen erfolgte überwiegend durch Polizeiorgane. Zugleich konnten feindliche Staatsangehörige unter der Verantwortung von Bürgermeistern und Landräten kurzfristig in Sammelunterkünften untergebracht werden, weil ihre Ausreise nicht möglich oder unerwünscht war. Daneben erfolgten erste Internierungen von Mittellosen, die gemeinsam verpflegt und kostengünstig untergebracht werden sollten. Diesen zivilverwalteten Einrichtungen standen die militärisch organisierten gegenüber. Ebenfalls zunächst in Lagern aufgenommen wurden aus den Kriegsgebieten deportierte und evakuierte Kinder, Frauen und Männer, die in Westeuropa anschließend über die Schweiz repatriiert wurden. Von ihnen zu unterscheiden sind die Geiseln. Sie sollten das Wohlwollen in den Besatzungsgebieten sicherstellen oder Druck auf Kriegsgegner ausüben. Sodann erfolgte die systematische Internierung wehrpflichtiger britischer und französischer Staatsbürger. Schließlich erhielten die Lager eine Bedeutung als Strafinstitutionen, in die Arbeitsverweigerer überführt werden konnten. Die Internierung wehrfähiger und -pflichtiger britischer und französischer Staatsbürger bedeutete hierbei eine weit über die Kriegsräson eines modernen Massenkrieges hinausgehende Entscheidung, die auf mehreren Überlegungen gründete. Die Diskussionen in Militär- und Regierungskreisen legen nahe, dass erst das Zusammenspiel unterschiedlicher politischer und militärischer Interessen und ihre Überschneidung die systematische Zivilinternierung ermöglichten. Die militärische Wahrnehmung einer akuten Gefährdung der Heeresoperationen durch ungehinderte Spionage traf auf eine pessimistische Vorstellung der Vorgänge in gegnerischen Staaten. Die daraus hervorgehende Logik der Vergeltung, die von den Verantwortlichen der zivilen Reichsleitung wie der Heeresverwaltung akzeptiert wurde, zielte auf den Schutz und die verhältnismäßige Behandlung deutscher Staatsbürger/ innen im Ausland. Ihre Entscheidungsfindung begleitete eine ›öffentliche Meinung‹, der sie eine wichtige Bedeutung beimaßen. Der Krieg allein hatte keine ausreichende Begründung dargestellt. Die Demonstration der eigenen Durchsetzungsfähigkeit nach innen und außen galt letztlich als eine erfolgversprechende Positionierungsstrategie in einem Krieg, der so bald nicht entschieden werden würde. Die an der systematischen Internierung beteiligten Militär- und Zivilverantwortlichen änderten nicht zuletzt die organisatorischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Maßnahme im November und Dezember 1914. Während hunderttausende Kriegsgefangene im Deutschen Reich ankamen, schufen sie ein Lagersystem, das nur zu einem kleinen Teil auf die Ressourcen und Institutionen der Zivilverwaltung angewiesen war. Die Lager drangen unerwartet in das Leben vieler feindlicher Staatsangehöriger ein und rissen sie aus ihren gesellschaftlichen und sozioökonomischen Lebens-
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welten. Der soziale Status und die Klassenzugehörigkeit ihrer Insassen wurden in den wenigsten Fällen geleugnet oder ignoriert. Die soziale Welt außerhalb der Stacheldrahtzäune formte auch das Leben innerhalb dieser, ob bei der Barackenausstattung, bei der Zuteilung von Lagerarbeiten oder beim Empfang von Hilfspaketen. Die Internierungslager konstituierten sich als ein Ordnungsmodell im Umgang mit feindlichen Ausländer/innen. Aber sie wurden zunehmend hinterfragt. Denn die Lager waren unzeitgemäß geworden, weil sie militärische, kriegswirtschaftliche und diplomatische Ressourcen beanspruchten. Ab 1916 hatten die Entlassungen der Internierten als »freie Arbeiter« und die Repatriierung Evakuierter oberste Priorität. Die in der zweiten Kriegshälfte beständig eingeforderten Lagerentlassungen verweisen auf ein Spannungsverhältnis zwischen dem militärischen Internierungssystem und der Kriegswirtschaft. Im Angesicht des Ringens um den Sieg konnte sich eine Politik der Ausgrenzung nicht etablieren. Stattdessen setzte sich das Primat einer Eingliederung in die leistungsorientierte Arbeitsgesellschaft durch. Zugleich schlossen die kriegführenden Regierungen vermehrt Austauschvereinbarungen ab. Mit dem Berner Abkommen 1917, dem Friedensvertrag von BrestLitowsk und den Haager Vereinbarungen 1918 kamen Frankreich, Großbritannien, Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und das Deutsche Reich überein, ein Ende der Zivilinternierung vor dem Kriegsende anzustreben. Mit Blick auf die Frage nach Lern- und Radikalisierungsprozessen ist dieser Umstand zu betonen. Die organisatorischen und baulichen Professionalisierungen der Lager führten nicht zur Ausdehnung der systematischen Konzentration von Zivilisten. Die deutsche Heeresführung und die Reichsleitung erklärten die Internierungslager auch 1917 und 1918 nicht zur Norm des Krieges.
9. Parallelgeschichten »feindlicher Ausländer«
An vier Seiten mit jeweils einem Stück Schnur gebunden, zwischen zwei alten, dicken Pappdeckeln ruhend, stapeln sich hunderte DIN A5 große, an den Rändern zerfallende Papierzettel im Bayerischen Kriegsarchiv. Auf ihnen hielten Münchner Polizeibeamte im September 1914 akkurat Informationen über Angehörige feindlicher Staaten fest. Die überlieferten Meldezettel gewähren einen Einblick in eine Art und Weise, sich den Kriegsalltag anzueignen und diesen zu gestalten. Im Akt des Registrierens hatten die Beamten statistische und personenbezogene Informationen über feindliche Ausländer/innen und Ausländer produziert, die ihnen und ihren Vorgesetzten neue Handlungsmöglichkeiten eröffneten. So konnten sie anschließend bestimmte Gruppen nach Merkmalen wie Staatsangehörigkeit, Alter oder Geschlecht abgrenzen, Einzelne oder Viele in ihrer Unterkunft verhaften oder jene ohne genügende Papiere abschieben. Aber sie mussten diese Pfade nicht zwangsläufig beschreiten. Die Verfasser des Zettelkataloges konturierten im gleichen Moment ein Wissen über ausländische Zivilisten, das in ihrer Kennzeichnung als »Feinde« keine ausreichende Entsprechung fand. Deshalb wäre es mit einem gegenwärtigen zweigeteilten Verständniszugang, der von einer unüberwindbaren Bresche zwischen Freund und Feind ausgeht, ungenügend beschrieben und erschlossen. Die augenscheinliche Untergliederung der Meldezettel in »Belgier«, »Engländer«, »Franzosen«, »Russen« und »Serben« verdeckt die unübersichtliche, verschachtelte und prekäre Ordnung, die aus jedem einzelnen Zettel während des Ersten Weltkrieges erwuchs. Vor den Sommermonaten des Jahres 1914 begann die militärische Hervorbringung feindlicher Ausländer/innen mit der Beobachtung der Balkankriege durch die Heeresführung. Deren Vertreter befürchteten Spionage- und Sabotageakte durch Zivilisten, die damit Einfluss auf die Mobilmachung und das weitere Kriegsgeschehen hätten ausüben können. Dies ließ vor allem eine Überwachung der Ausländer/innen als notwendig erscheinen. Die Einführung der Passpflicht zur Erleichterung polizeilicher Kontrollen sollte die erste Kriegsmaßnahme gegenüber Zivilisten feindlicher Staaten sein. Gleichzeitig versuchte die Reichsleitung, den Umgang mit ausländischen Saisonarbeiter/innen im Kriegsfall zu klären. Als landwirtschaftliche und industrielle Arbeitskräfte, die deutsche Heerespflichtige ersetzen sollten, galten sie als ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor. Ihre bereitwillige Zusammenarbeit wurde vorausgesetzt. Zwischen diesen beiden Polen, der Gefährdung militärischer Operationen einerseits und der Unterstützung der Kriegswirtschaft andererseits, verloren Ausländer/
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innen ihr Recht auf Ausreise. Zum Aufenthalt gezwungen, fehlten ihnen gegenüber allerdings politische Zielvorstellungen. Durch die flüchtigen Überlegungen der Vorkriegszeit, die lediglich Meldevorschriften und Kontrollbestimmungen sowie Ortswechselverbote begründeten, betraten feindliche Ausländer/innen die Bühne des Krieges als Akteure, deren Überwachung geboten war und in denen nicht wenige Zeitgenossen Spione erblickten. Ihre zukünftige Rolle blieb allerdings unberücksichtigt. Diese Leerstelle in den Mobilmachungsplänen stellte keine deutsche Besonderheit unter den kriegführenden Staaten dar. Sie fand ihre Entsprechung im kodifizierten und diskutierten Völkerrecht. Nicht wenige Militärplaner, Politiker, Diplomaten und Rechtswissenschaftler waren von einer voranschreitenden Humanisierung militärischer Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Staaten ausgegangen. Die Balkankriege repräsentierten für sie lediglich eine Ausnahme und keine zukunftsweisende Wirklichkeit. Angesichts dessen hatten sie es versäumt, Richtlinien für Zivilisten innerhalb der Territorien der Kriegsgegner auszuarbeiten. Sie unterschätzten in einem Zeitalter der Nationalstaaten und gewaltentgrenzter Kolonialkriege die zivilgesellschaftlichen Ängste und militärischen Befürchtungen jenseits der Kriegsschauplätze sowie die In strumentarien und die politische Bereitschaft, die nationale Sicherheit zu schützen und zu verteidigen. Aus diesem Grund fehlten für die Durchführung der Überwachungsmaßnahmen niedergelegte einheitliche Anweisungen. Und noch weniger äußerten sich die spärlichen Anordnungen über Problemlösungen abseits polizeilicher Kon trollen. Diese fortwährende Unvollständigkeit, die Verschiedenartigkeit und die Uneindeutigkeit administrativer Vorgaben eröffneten staatlichen Akteuren zum Teil weite Ermessensspielräume. In diesen entschieden Minister, Generalkommandeure und Lokalbeamte in vielfältigen Improvisationen situationsabhängig, wie der alltägliche Umgang mit feindlichen Staatsangehörigen ausgestaltet werden sollte. Neben gruppenbezogenen Beschlüssen trafen die jeweils Verantwortlichen unzählige Einzelfallentscheidungen, in denen sie Ausländer/innen individuell beurteilten und behandelten. Ungeachtet dieser unwägbaren Interventionen und einer unübersichtlichen regionalen Vielfalt an Bestimmungen und Verfahren setzten die Militär- und Zivilbeamten einen Grundbestand an Überwachungstechniken in Geltung. Sie schufen mit Melde- und Ortswechselbestimmungen ebenso wie mit Beschränkungen beim Arbeitsplatzwechsel oder in unternehmerischen Entscheidungen eine vorher ungekannte Abhängigkeit von staatlichen Institutionen. Dementsprechend stellten die Orte ihres Wirkens, wie Polizeiämter, Stadtverwaltungen und stellvertretende Generalkommandos, Knotenpunkte dar, an denen der Lebensalltag ausländischer Staatsangehöriger reguliert und diszipliniert sowie individuelle Privilegien verteilt wurden. Die dort Handelnden gebaren mit den Worten Michel Foucaults »eine bescheidene und mißtrauische Gewalt, die als eine sparsam kalkulierte, aber
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beständige Ökonomie« funktionierte.1 Bewusst und unbewusst verwirklichten sie das militärische Ziel der Heeresführung, feindlichen Ausländer/innen den Eindruck zu vermitteln, stetiger direkter und indirekter Kontrolle zu unterstehen. Mit dem Einsatz »des hierarchischen Blicks, der normierenden Sanktion und ihrer Kombination im Verfahren der Prüfung«2 disziplinierten sie nicht-deutsche Staatsangehörige und inszenierten dadurch eine präsente Unterscheidung von In- und Ausländer/innen. Unter dem Eindruck von Spionagegerüchten und ungesicherten Meldungen aus dem Ausland verdichteten sich die improvisierten Entscheidungen, Handlungen und Verfahrensweisen der ersten Kriegsmonate zu langfristig wirkenden Normen. Nicht die Erfahrungen eines jahrelangen Abnutzungskrieges brachten maßgebliche Eingriffe in das Leben ausländischer Staatsangehöriger hervor, sondern Wahrnehmungen und Gewissheiten, entworfene und umgesetzte Vorstellungen über das Mögliche wie das Notwendige, die in einer verworrenen und unorganisierten Kriegsphase gesammelt wurden. Bis zum Jahreswechsel 1914/15 hatte sich in diesem Sinne ein Status quo etabliert, an dem sich staatliche Akteure anschließend orientierten. Davon ausgehend kann bezüglich der Überwachungsund systematischen Internierungsmaßnahmen keine allgemein beabsichtigte restriktivere Behandlung feindlicher Ausländer/innen im Kriegsverlauf festgestellt werden, die an verschärften Maßregeln, härteren Sanktionen und eskalierenden Handhabungen der Vorschriften ablesbar wäre. Vielmehr zeigte sich hinsichtlich der Überwachungspraktiken ein zunehmender überregionaler Kontrollverlust gegen Ende des Krieges. Improvisationsmomente blieben nicht auf das Jahr 1914 beschränkt. Unter anderem die Kriegseintritte Italiens und der USA, der Waffenstillstand und spätere Friedensvertrag mit Russland, die Gründung des Königreiches Polen, bilaterale Austauschvereinbarungen, die verstärkte wirtschaftliche Mobilisierung und die damit im Zusammenhang stehende Richtlinie, die Zahl der Internierten nachhaltig zu verringern, schufen wiederum unerwartete und unvorbereitete Situationen. Im Zuge dessen brachen etablierte Routinen auf und wurden erneut infrage gestellt, weil es keinen selbstverständlichen Umgang mit feindlichen Staatsangehörigen im Krieg gab. Diese vielfältigen Übergänge von neutralen zu feindlichen Ausländer/ innen ebenso wie Ermessensspielräume bei der Bewertung letzterer verwiesen auf problem- und interessengeleitete Statuswechsel, die mithin ein funktionales Feindverständnis bei militärischen wie zivilen Führungsverantwortlichen und Lokalakteuren zutage treten ließen. Die zweckbetonte Aneignung feindlicher Ausländer/innen durch staatliche Akteure zeigte sich darüber hinaus an ihren maßgeblichen Orientierungs- und 1
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977, S. 220. 2 Ebd.
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Argumentationsrahmen bei der Rechtfertigung von Entscheidungen. Erstens bezogen sie sich auf Erfordernisse des Eigenen. Zivilverantwortliche richteten ihr Handeln oft an vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen aus, versuchten den Wünschen von Unternehmern nachzukommen und gingen nur selten direkt auf (veröffentlichte nationalistische) Reaktionen aus der Bevölkerung ein. Bei ihnen überwog ein Dualismus aus pragmatischen Entscheidungen und als kriegsnotwendig eingestuften Maßnahmen. Militärverantwortliche versuchten zu bestimmen, welche Forderungen und Restriktionen unabdingbar waren, um die störungsfreie wie siegreiche Fortführung des Krieges zu gewährleisten und deutsche (wehrpflichtige) Staatsbürger(/innen) in kriegführenden Staaten zu schützen. Dies bedeutete nicht, dass Vertreter der Militär- und Zivilbehörden einvernehmlich handelten. Denn schnell stellte sich heraus, dass ihre Interessen in vielen Fällen nicht übereinstimmten, Einschätzungen voneinander abwichen und Zuständigkeitsbereiche erst abgesteckt werden mussten. Die administrativen Netzwerke des Krieges entfalteten innerhalb des Deutschen Reiches ein Vergleichssystem, das über das Preußische Kriegsministerium und seine abstimmende Kommunikationspraxis aufrechterhalten wurde. In diesem System setzten staatliche Akteure Bestimmungen wie Verfahren und widersprüchliche Leitideen ins Verhältnis zueinander. Zweitens machte das zwischenstaatliche Gegenseitigkeitsparadigma für beide Akteursgruppen ein Bezugs- und Sinnsystem in ihrer Gegenwart verfügbar. Dieses setzte eine maßgebliche Eigendynamik des Krieges in Gang und wirkte prägend bis zu dessen Ende. Die Heeresführung wie die Reichsleitung blickten nicht zurück auf vergangene Kriege oder militärische Praktiken in den Kolonien, sondern spähten durch Zeitzeugenschilderungen, Pressemeldungen und Gesandtschaftsberichte über die Front hinweg auf die Situation deutscher Staatsangehöriger im Ausland. Für staatliche Akteure existierte somit ein ideeller wie praktischer Maßstab. Sie handelten in der Gewissheit, dass in anderen Staaten zur gleichen Zeit ähnliche Maßnahmen getroffen wurden und sie verhältnismäßig agierten. Der jeweilige Umgang mit feindlichen Ausländer/innen konnte folglich in der Begründung und Handhabung in zweifacher Weise nach außen verlagert werden. Als Argument diente der Gegenseitigkeitsgedanke unter anderem dazu, britische und französische Wehrpflichtige zu internieren, ihren Lebensstandard in den Lagern herabzusenken oder Unternehmen ausländischer Staatsbürger zu liquidieren. Zugleich eröffnete er aber die Chance, die Unterstützung und das Wohlergehen von Ausländer/innen zu rechtfertigen und zu verbessern, um Reichsangehörige in feindlichen Staaten zu schützen. Drittens richteten staatliche Akteure ihre Entscheidungen an den Ausländer/ innen aus. Obwohl vielfach die Vorstellung unwidersprochen blieb, dass ›feindliche‹ Zivilisten im Krieg anders behandelt werden müssten als in der Vorkriegszeit, standen vor allem für Lokalbeamte die sozialen und ökonomischen Statusunterschiede im Vordergrund. In vielen Amtsstuben des Deutschen Reiches dauerte die
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soziale Interpretation der Wirklichkeit an. Nationale Unterscheidungen erlangten hauptsächlich an Bedeutung, weil im Weltkrieg ungeachtet bestehender Bündnisse weiterhin Einzelstaaten gegeneinander kämpften. Vergeltungsmaßregeln richteten sich an Ereignissen in einzelnen kriegsgegnerischen Staaten aus, und ihre diplomatischen Vertreter handelten während der Jahre 1914 bis 1918 bilaterale Vereinbarungen bezüglich der Ausreiseregelungen und der Behandlung der Kriegs- und Zivilgefangenen aus. Innerhalb dieser Orientierungsrahmen zeichnete den administrativen Umgang mit feindlichen Ausländer/innen in vielen Fällen aus, dass Trennungen zwischen inund ausländischen Staatsangehörigen oftmals brüchig, nicht selten unentschieden und unvollständig sowie überwiegend revidierbar blieben. In diesem Zusammenhang entsprangen Improvisationen nicht nur dem Fehlen von Anweisungen oder der allzu schnellen Veränderung der Rahmenbedingungen. Ebenso gründeten situative Entscheidungen und spontan etablierte Verfahren der Ausführenden vor Ort auf einem unbeständigen Zweifel an der Anwendbarkeit erlassener Richtlinien. Die verallgemeinernden Bestimmungen der Reichs- und Generalstabsebene inszenierten eine Eindeutigkeit, die auf Bedenken stieß und deshalb verschiedenartige Auslegungen erfuhr. Der Krieg sollte keinen universellen Legitimationspool zur Verfügung stellen, aufgrund dessen unterschiedslos und kompromisslos verfahren wurde. In den Augen vieler Beamter existierte der idealtypische feindliche Staatsbürger oder die Staatsbürgerin nicht – keineswegs alle Angehörigen feindlicher Staaten galten als feindliche Ausländer/innen. Erfahrungen, Wissen und Wahrnehmungen ließen weitere Unterscheidungen nach ihrer angenommenen Loyalität, ihrer Aufenthaltsdauer, ihrem Geburtsort, ihrer kulturellen Sozialisation, ihrer gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Integration in die lokalen Gemeinschaften oder ihrer Nationalität als möglich und sinnvoll erscheinen. Diese Handlungsprämissen, die Vorstellungen und Lebenswelten im Kaiserreich der Vorkriegszeit widerspiegeln, ließen Zivil- und Militärverantwortliche im direkten Kontakt mit ausländischen Staatsangehörigen mitunter in widersprüchlichen Rollen agieren. Zum einen sollten sie durch die Landesregierungen und die Militärbefehlshaber angeordnete Maßnahmen, zu denen unter anderem Meldekontrollen und Arbeitszwang gehörten, vollziehen und eine Nichteinhaltung sanktionieren. Zum anderen konnten sie ebendiese begrenzen, über Gesuche und Ausnahmen wohlwollend entscheiden, Arbeitsbedingungen kontrollieren und Ausländer/innen vor weitergehenden Forderungen auch aus der Bürgerschaft schützen. Sie nahmen zwischen ausländischen Staatsangehörigen und der Bevölkerung ebenso wie Führungsverantwortlichen nicht zuletzt vielerlei Vermittlerpositionen ein. Diese können als Momente in Aushandlungsprozessen über die Grenzen zwischen den ›Deutschen‹ und den Anderen gelesen werden. Denn die Akteure erschufen in ihrem Tätigsein einen national Anderen. Aber gehen die vielen betrachteten Einzelfälle lediglich in einer Ordnung nationaler (und ethnischer) Kategorisierungen auf? Geben die filigranen Ungewissheiten und Verflechtungen
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zwischen Freunden und Feinden Hinweise darauf, dass die vielen lokalen Kriegsgemeinschaften mehr als nur nationalpatriotisch-selbstbezogen gedacht und ausgehandelt wurden? Beim Blick auf die zurückliegenden Kapitel verdichtet sich der Eindruck, dass dem Diktum Michael Geyers über das Jahr 1913 auch durch den Krieg gefolgt werden kann: »Im Alltag war vieles möglich, was Imperialisten und Nationalisten gleichermaßen unmöglich schien.«3 Kulturelle oder ethnische Stereotype ebenso wie nationalistische und fremdenfeindliche Ausgrenzungsmotive der Staatsbediensteten erlangten in den recherchierten Überlieferungen als Argumente und handlungsleitende Faktoren nur sehr selten Sichtbarkeit. Dementsprechend liegt die Schlussfolgerung nahe, dass diese nur eine geringe Bedeutung im Umgang mit feindlichen Ausländer/innen besaßen. Aber entgegengesetzt dazu etablierte sich ein radikalisierter politischer Diskurs über die eigene Nation, wie Sven Oliver Müller zeigt.4 Dieser wurde bestimmt von der Vorstellung über eine »rassistische Ausgrenzung von Menschen ausländischer oder fremdartiger Herkunft« und fand Ausdruck in der Auffassung, »denjenigen Bürgern vertrauen zu können, die durch das vermeintlich unabänderliche Faktum der Abstammung an den Staat gebunden waren«.5 Diese widersprüchlichen Befunde könnten sich aus einer zeitlichen Verzögerung zwischen dem politischen Reden über Vorstellungen einer ethnisierten Nation und dem Tätigsein staatlicher Akteure erklären. Auf wissenschaftlich-historiographischer Ebene liegen den Widersprüchen ferner unterschiedliche methodische Betrachtungswinkel zugrunde. Hierbei ist zu beachten, dass der versammelte Quellenkorpus der vorliegenden Darstellung ihre Ergebnisse beeinflusste. Denn staatliche Akteure verfassten und strukturierten innerhalb des administrativen Schriftverkehrs ihre Aussagen rechtsförmig und zielorientiert. Sie bezogen sich auf verfahrensrechtliche Rahmenbedingungen und versuchten anhand dieser, ihre Ziele durchzusetzen oder nachträglich ihr Handeln zu rechtfertigen. In Bezug auf feindliche Ausländer/innen überwog ein Denken und Argumentieren im Angesicht des Krieges. Dessen störungsfreie Fortsetzung, die in der Erhaltung ziviler Ruhe und Ordnung sowie militärischer Sicherheit gesehen wurde, und dessen kriegswirtschaftliche Gewährleistung dominierten die Durchsetzungsstrategien gegenüber ausländischen Staatsangehörigen. Nicht-staatliche Akteure eigneten sich diese Argumentationsmuster an. Das bedeutete schließlich, dass die Ausgrenzung Einzelner eine höhere Chance auf Erfolg hatte, wenn Ausgrenzende gegenüber verantwortlichen zivilen und militärischen Akteuren eine Gefährdung jedweder Ordnung und Sicherheit betonten, 3 4 5
Geyer, Von der Lust am Leben zur Arbeit am Tod, S. 34. Vgl. Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 216–219 u. 353–360 u. Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle, S. 318 f. Ebd., S. 218.
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anstatt ihr Ansinnen mit national-chauvinistischen, rassistischen oder antisemitischen Vorstellungen zu begründen. Dagegen dienten solche Fremdzuschreibungen, die sich meist nicht auf den Einzelnen, sondern auf den gegnerischen Staat oder dessen Regierung bezogen, eher dazu, ein bestimmtes Bild des Eigenen zu formulieren und einzufordern. Die (ver-)öffentlichten Feindbilder stellten aus dieser Perspektive eine Kontrastfolie dar. Feindliche Ausländer/innen traten hierbei als Exempel deutscher Gutmütigkeit und Besonnenheit in Erscheinung und bewiesen als Baustein in einer Argumentationskette eine deutsche Unfehlbarkeit. Sie stifteten als wichtige Bestandteile dieser Erzählschablone durch ihre konfliktbehaftete Anwesenheit dennoch einen Sinn. Sie verwiesen als Angehörige feindlicher Staaten auf die Frage, wer im Krieg als loyal gelten könne. Und sie ermöglichten als Figurationen des Dritten Antworten auf Unsicherheiten des Einzelnen, wie er sich im Krieg verhalten solle. Sie erlaubten es nicht zuletzt, soziale Konflikte als nationalen Protest auszudrücken und zu kompensieren. Aber warum fand keine folgerichtig erscheinende, aber kaum nachweisbare Verknüpfung von Greuel- und Misshandlungsberichten aus feindlichen Staaten mit den anwesenden feindlichen Ausländer/innen und Kriegsgefangenen statt, indem sie für Kriegshandlungen und Gewalttaten verantwortlich gemacht wurden? In gleichem Maße lag den Internierungsentscheidungen keine (kommunizierte) besondere Form der kulturellen Feindschaft zugrunde. Viele Wege führten in die Lager, aber sie folgten keiner politischen, nationalen oder ethnischen Ausgrenzungsstrategie. In finanziellen Erwägungen stellte die Konzentration von Zivilisten in Barackenlagern eine kostengünstige Unterbringung vor allem von Mittellosen dar. Militärischerseits galt sie als effizientes Mittel, um Zivilisten aus den Etappen- und Operationsgebieten Ost- und Westeuropas kontrolliert abzuschieben und meist nach einer zweiwöchigen Sperrfrist auszutauschen. Im Anschluss daran handelte es sich bei der Internierung von Wehrpflichtigen um ein Instrument der Überwachung und Zurückhaltung Spionageverdächtiger, um eine Gegenseitigkeitsmaßnahme, die deutsche Staatsangehörige in Großbritannien und Frankreich schützen sollte, und um eine Beschwichtigung der Medienöffentlichkeit wie der Bevölkerung. Geiseln aus den besetzten Territorien sollten das Wohlwollen der dortigen Bevölkerung sicherstellen. Arbeitsverweigerer wurden durch ihre Internierung und die damit einhergehenden militärischen Arbeitseinsätze gezwungen, neue Arbeitsverträge einzugehen oder ihre Beschäftigung wieder aufzunehmen. Die Barackenstädte nahmen viele Menschen aus unterschiedlichen Gründen auf. Der Zweck ihrer Internierung blieb aber auf den Krieg bezogen und spiegelte in großen Teilen die Bedeutung wider, die dem Militär und mit ihm dem »militarisierten, männlichen Subjekt im Mittelpunkt« beigemessen wurde.6 Die deutsche Heeresführung setzte in Absprache mit der Reichsleitung und unter Beteiligung vieler Zivilverantwortlicher die Lager zur Unterbringung von 6
Geyer, Von der Lust am Leben zur Arbeit am Tod, S. 27.
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Zivilisten in die Welt. Gemeinsam errichteten sie diese in einem europäischen Erfahrungsraum. Die Akteure der Internierung, beginnend bei den Polizeibeamten und Amtsvorständen, welche die Internierungsbescheide ausstellten, über die Lagerkommandeure, die Wachsoldaten und das Küchenpersonal bis hin zu den Zaungästen erschufen und erfuhren, verstetigten und veränderten diese Wirklichkeit – unter anderem in Donaueschingen, in Kulmbach, in Traunstein, in Holzminden, in Havelberg und in Ruhleben. Zur selben Zeit konnten sich Zeitungskäufer/innen die Existenz inländischer Internierungslager erlesen und dieser gewahr werden. In ihrer Greif- und Erfahrbarkeit wurden sie nicht nur denk- und sagbar als eine Drohung oder entfernte Möglichkeit, sondern ebenso wiederholbar. Aber ist dieser Prozess mit seiner Umschreibung als Gewöhnung hinreichend erfasst? Heather Jones spricht in diesem Zusammenhang von einer zweigeteilten Aneignung, »die zwischen der Darstellung der eigenen Lager als taylorisierter, indus trieller Leistung und Errungenschaft der Fürsorge einerseits, der feindlichen Lager als primitiv und barbarisch andererseits oszillierte«.7 Kriegs- und Zivilgefangenenlager galten dementsprechend zunehmend als »Inbegriff einer guten staatlichen Steuerung der Kriegsanstrengung«, als eine »positive Erweiterung der Staats- und Militärbürokratie«. Gleichwohl waren diese keine abgeschlossenen und autarken Orte. Die technologischen Innovationen und logistischen Leistungen brachten ebenso Kontrollkommissionen und zwischenstaatliche Informationssysteme, Fürsorgenetzwerke und Austauschvereinbarungen hervor. Die Lager bedeuteten demnach auch kommunikative und praktische Verflechtungen der Kriegsgemeinschaften und zeitigten problembehaftete Abhängigkeitsverhältnisse. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, die Lager als Laboratorien zu deuten, in denen einzelne Faktoren gezielt verändert werden konnten. Typhusepidemien, Unterversorgungen und Sterbefälle lagen nicht im ideologischen oder militärischen Kalkül der Lagerverantwortlichen, sondern verdeutlichten die Machtlosigkeit gegenüber kriegswirtschaftlichen Rationierungen ebenso wie die Unfähigkeit, auf kurzfristige Veränderungen der Zahl der Internierten oder ihres gesundheitlichen Zustandes zu reagieren. Bezugnehmend auf die Internierung wehrpflichtiger Zivilisten zeigte sich im Kriegsverlauf gleichfalls, dass die Lager keinen unabänderlichen Status quo des Krieges darstellten. Zuschreibungen und Entscheidungen aus den ersten Kriegsmonaten wurden seit dem Spätherbst 1916 revidiert, und die nachdrücklich eingeforderten Entlassungen aus den Lagern können daran anschließend trotz der wirtschaftspolitischen Gründe ebenso als eine grundsätzliche Hinterfragung der Internierungspraxis gedeutet werden. Noch waren diese Institutionen argumentativ und praktisch eng mit einer kriegsbedingten Ausnahmesituation verknüpft.
7
Jones, Eine technologische Revolution?, S. 132.
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In den Berner Vereinbarungen zwischen Deutschland und Frankreich gipfelten schließlich die Bemühungen, ein Ende der Zivilinternierungen einzuleiten. Die meist jahrelange Internierung bedeutete für viele ansässige Ausländer und ihre Familien eine umfassende Desintegration und stand damit neben anderen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Interventionen. Sofern Frauen, Kinder und Nicht-Wehrpflichtige die Abreise mit Sonderzügen abgelehnt hatten, waren sie bei eintretender finanzieller Not von zusätzlichen Kriegsunterstützungen ausgeschlossen und auf freiwillige karitative Hilfsangebote angewiesen. Währenddessen wurden ausländische Schüler/innen und Studierende von den öffentlichen Bildungseinrichtungen ausgeschlossen. Sprachverbote und -ermahnungen unterdrückten nicht-deutsches Reden und Kennzeichnen. Warnungen vor zu intimen Kontakten mit Ausländer/innen zirkulierten. Die Bekleidung öffentlicher Ämter war für sie nur gegen viele Widerstände fortsetzbar. Die Meldebestimmungen und Ortswechselverbote engten sie in ihrer Bewegungsfreiheit, die weitreichende Kontrolle und Verwaltung ihres Eigentums in ihrem Wirtschaftsleben erheblich ein. Firmenliquidationen beraubten sie schließlich ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Feindliche Ausländer/innen sahen sich in ihrem Alltag mit vielschichtigen Entmündigungen konfrontiert. Hinzu traten gesellschaftliche Ächtungen, die staatliche Maßnahmen indirekt bestätigten und als Machtdemonstrationen Einzelner zu verstehen sind. Einige ergriffen die Chance, ihre national-patriotische Haltung zu unterstreichen und entwarfen eine zweigeteilte Freund-Feind-Ordnung der Kriegsgesellschaft. Mit Gesten und Worten verliehen sie dieser Nachdruck und versuchten, mutmaßliche Feinde im Innern des Reiches zu enttarnen. Auf der Straße, in der Trambahn, im Gasthaus oder im Theater mussten Ausländer/innen damit rechnen, mit ihrer fremden Sprache, ihrer ›feindlichen‹ Staatsangehörigkeit oder den Handlungen »ihrer« Regierung konfrontiert zu werden. Infolgedessen standen ihrer erhöhten staatlichen Abhängigkeit soziale Distanzierungen gegenüber. Kennzeichnend für die Gruppe der feindlichen Ausländer/innen war ihre Verschiedenheit. Kurbesucher/innen und in Deutschland aufgewachsene Menschen, Saisonarbeiter/innen und Student/innen wurden in ihr zusammengefasst. Die eine Erfahrung des Ausländer/innenseins konnte es nicht geben. Erfahrungen waren sozial, kulturell, politisch, ökonomisch und individuell kodiert. Aber durchzog sie womöglich ein gemeinsamer Faden, eine Empfindung von Fremdsein? Eine solche verallgemeinernde Beschreibung hielt der Soziologe Ernst Grünfeld (1883–1938) für nicht ausreichend. Im Angesicht seiner eigenen Ausgrenzung im Dritten Reich als jüdischer Bürger, der bis 1933 einen Lehrstuhl für Genossenschaftswesen an der Universität Halle innegehabt hatte, schlug er für den Prozess der Entfremdung und der Aussonderung die Hermeneutik des Peripherwerdens vor. Mit Blick auf Fremde, Randseiter und Außenseiter schrieb er: »Das Entscheidende ist das Verhältnis der Distanz und der Prozeß der Distanzierung und Auflockerung des Gebildes, von dem oder zu dem eine Distanz gewonnen
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wurde.«8 Die Betroffenen teilten demnach das Erlebnis, nicht mehr zugehörig zu sein. Touristen verloren ihre gastlichen Beziehungen zu ihren Kurorten. In ihren Wohnorten Verwurzelte, womöglich dort Aufgewachsene, wurden anders behandelt als ihre Nachbarn und Bekannten. Saisonarbeiter/innen verloren ihren Lebensrhythmus zwischen Heimat und Fremde. Student/innen versperrten sich die Wege in die Mittelpunkte ihres vergangenen Hochschulalltags. In Bezug auf zentrale soziale Institutionen ihres Lebens waren sie innerhalb weniger Wochen peripher geworden. Bindungen lockerten sich, bestanden nur noch rudimentär oder versiegten. Über die »aussondernden Erlebnisse« schrieb Grünfeld, dass diese »sobald nicht aus der Seele des Peripheren getilgt werden können« und sie zu »anderen Menschen« machen. »Den einen erhebt so ein Erlebnis, den anderen drückt es nieder.«9 Skizzierte Grünfeld Distanzverhältnisse, die im Ersten Weltkrieg ebenso von Inländer/innen wahrgenommen wurden? Entfalteten die Sprachvereinheitlichungen, die unterdrückte Präsenz ausländischer Signaturen in der Öffentlichkeit und der eingeforderte Abstand im Umgang mit ihnen eine nachhaltige Wirkung? Veränderte sich eine Mehrzahl kommunikativer und sozialer Beziehungen zu Ausländer/innen dauerhaft? Zur gleichen Zeit gelang die nationalistische Partizipation inländischer Akteure am Krieg jenseits der Fronten aber nicht immer. Denn zivilstaatliche Akteure handelten weiterhin in ihrer jeweiligen Funktion und vor dem Hintergrund bestehender Bestimmungen. Polizeibeamte wogen Anschuldigungen ab, nahmen Aussagen aller Beteiligten auf und achteten darauf, zweck- und verhältnismäßig zu agieren. Richter interpretierten die Gesetzeslage nicht vor dem Hintergrund der Kriegsdepeschen des Großen Generalstabes und gaben folglich auch Ausländer/innen recht. Daneben zeigten sich Versuche, Ausgrenzungen und Benachteiligungen nicht hinzunehmen. Engagierte Fürsorgende sammelten Spenden, neutrale Botschafter setzten sich für ihre Schutzbefohlenen ein, Reichstagsabgeordnete trugen Missstände in das Licht der Öffentlichkeit, Rechtsanwälte vertraten ihre Interessen, Unternehmer standen zu ihren spezialisierten Fachkräften und Beamte entschieden im Stillen zugunsten ausländischer Staatsangehöriger. Die fortwährenden Mahnungen der stellvertretenden Generalkommandeure vor einem intensiven und unvorsichtigen Kontakt mit Ausländer/innen wie Kriegsgefangenen deuten darüber hinaus private und eigensinnige Begegnungen an. Gleichzeitig beschwichtigten Ausländer/ innen in öffentlichen Stellungnahmen, klagten vor Gerichten oder missachteten Bestimmungen, Arbeitsverträge oder gezogene Grenzen. Sie suchten sich wie ihre Mitbürger/innen Handlungs- und Argumentationsspielräume. In der Kriegswirtschaft erfuhren ausländische Arbeitende und Angestellte eine zweckorientierte Integration. Die zusammengetragenen Beispiele gemahnen daran, die lautesten 8 9
Ernst Grünfeld, Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie, hg. von Erie Grünfeld, Amsterdam 1939, S. 3. Ebd., S. 79.
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Stimmen nicht für die einzigen zu halten. Eine Gleichsetzung des Einzelnen mit dem Staat und seine Benachteiligung lediglich aufgrund seiner Staatsangehörigkeit entsprachen keinem Konsens. Für die Betroffenen zeitigten die vielfältigen eingeforderten oder erzwungenen veränderlichen Kategorisierungen unter anderem als Alteingesessene, Arbeiter, Deportierte, in Deutschland Geborene, Fachkräfte, Kranke, Mittellose, Studenten, Unternehmer oder Wehrpflichtige unterschiedliche Folgen. Sie fanden sich nicht selten in mehreren solcher Zuschreibungen wieder, die in unzähligen Variationen und Nuancen auf ihren Lebensalltag einwirkten. Meinungen und Urteile zeigten sich als veränderlich, und für Ausländer/innen bestanden Möglichkeiten zu begrenzten wie grenzüberschreitenden Statuswechseln. Beispielsweise durch deutsche Sprachkenntnisse, eine von der Staatsangehörigkeit abweichende Nationalität, Einbürgerungsansinnen, soziale Kontakte, eine weitreichende Integration in lokale Gemeinschaften und Bürgschaften oder Arbeitsaufnahmen gelang es ihnen, soziale ebenso wie wirtschaftliche Zuschreibungsräume und administrative Verwaltungskategorien sowie militärische Überwachungssphären zu verlassen. Eindrücklich sind die Beispiele Zivilinternierter, die durch den Abschluss eines Arbeitsvertrages die Lager als »freie Arbeiter« verlassen konnten, die Fälle von Studenten, die mit Arbeitsaufnahmen ihre Überwachung beendeten, die genehmigten Gesuche von Ansässigen, die aufgrund von Bürgschaften an ihrem Wohnort verbleiben durften oder die pragmatischen Unterscheidungen russländischer Staatsangehöriger aufgrund ihrer polnischen Nationalität. Mit solchen ideellen und praktischen Nachweisen ihrer Loyalität beziehungsweise Leistungsbereitschaft wurden ausländischen Staatsangehörigen Übergänge in die ›deutsche‹ Kriegsgesellschaft gewährt. Damit verbunden war aber ein stetiger Rechtfertigungszwang. Jeder Einzelne musste seine Haltung zum Kaiserreich hinterfragen und seinen Standpunkt womöglich verteidigen. Schließlich endete der Krieg in einem Waffenstillstand an der Westfront, während in Osteuropa in Kriegen und Bürgerkriegen um die zukünftige staatliche und gesellschaftliche Ordnung weitergekämpft wurde. Nachdem Vereinbarungen zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien ebenso wie der Friedensvertrag von Brest-Litowsk die Abreise zurückgehaltener ausländischer Staatsangehöriger in den Jahren 1917 und 1918 eingeläutet hatten, durften nun zivile Ausländer/innen unverzüglich ausreisen. Ihre Tagebücher und Aufzeichnungen enden meist mit ihrer Heimkehr. Ethel Cooper schrieb in ihrem letzten Brief aus Deutschland an ihre Schwester Anfang Dezember 1918: »My pass has come. I can scarcely believe it after so long – I have taken it to the Soldiers’ Council to be signed, and directly it comes back I take the next train that goes in the direction of Holland.«10
10 Cooper, Behind the Lines, Letter 18D (1.12.1918), S. 289.
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Zur selben Zeit versuchten Repatriierungskommissionen, die Zurückführung der Kriegs- und Zivilgefangenen zu koordinieren, von denen einige in den Wirren der Revolution bereits selbst Richtung Grenze aufgebrochen waren.11 Bis zu 20.000 russländische Soldaten entschieden sich unterdessen, nicht in ihre Heimat zurückzukehren. Zudem überquerten hunderttausende Geflüchtete und Emigranten, die Osteuropa freiwillig oder erzwungen verlassen hatten, die Reichsgrenze. Ihre Zahl betrug in den Jahren 1922 und 1923 nach Angaben des Völkerbundes und des Auswärtigen Amtes 600.000 und sank anschließend bis 1933 auf 100.000. Allein in Berlin sollen sich Anfang der 1920er Jahre 360.000 von ihnen aufgehalten haben. Die Hauptstadt des Deutschen Reiches war zugleich eine lebendige Metropole der Emigration, des Transits und des Exils geworden.12 Im Zuge der Pariser Friedensverträge hatte sich der Charakter der Migration erneut geändert. Im Rückblick zeigt sich, dass der Anteil nicht-deutscher Staatsangehöriger an der Wohnbevölkerung von 1910 bis 1925 von 1,9 auf 1,5 Prozent absank.13 Während Frankreich sich zu einem multikulturellen Einwanderungsland für Arbeitskräfte und Geflüchtete entwickelte und sich Ende der 1920er Jahre in seinen Grenzen 1,5 Millionen Ausländer/innen aufhielten,14 wiesen die Zeichen in Deutschland in die entgegengesetzte Richtung. Unter dem Eindruck hoher Arbeitslosigkeit und der Gebietsabtretungen an Polen wurde die antipolnische Abwehrpolitik wieder aufgenommen, die mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre in einer Zuwanderungssperre für ausländische Arbeiter/innen mündete.15 Dieter Gosewinkel errechnete, dass der Anteil fremdsprachiger Ausländer/innen sich um fast dreiviertel im Vergleich zur Vorkriegszeit verringerte. Zusammenfassend resümiert er deshalb, dass das Deutsche Reich »nach dem Ersten Weltkrieg deutlich ›homogener‹ (›deutscher‹) als das ausgehende Kaiserreich war«.16 Was bedeutete dies im Alltag für lokale Gemeinschaften und im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen, die beschlossen, weiterhin in Deutschland zu leben? Wie prägend wirkten die Kriegsjahre auf die Haltung Einzelner zu Fremden und Ausländer/ innen? Wie beeinflussten zurückliegende Erfahrungen das Zusammenleben zwischen In- und Ausländer/innen in der Weimarer Republik? Die im November 1918 begonnene Demobilmachung, zu der die Abwicklung der Militärverwaltungsinstitutionen gehörte, bedeutete ein Ende der Ausnahme11 Zur Repatriierung siehe: Hinz, Gefangen im Großen Krieg, S. 319–352. Für Ruhleben: Stibbe, British civilian internees, S. 152–157. 12 Karl Schlögel, Berlin: »Stiefmutter unter den russischen Städten«, in: Ders. (Hg.), Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941, München 1994, S. 234– 259 u. Ders, Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998. 13 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 339. 14 Sassen, Migranten, Siedler, Flüchtlinge, S. 107. 15 Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, S. 419–423 u. 478–487. 16 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 340.
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bestimmungen, die auf dem Belagerungszustandsgesetz gründeten. Der NichtKriegszustand brachte das gebündelte Handeln staatlicher Akteure hinsichtlich feindlicher Ausländer/innen zum Erliegen. Die überlieferten Akten brechen in den Herbstmonaten 1918 zumeist ab. Gelegentlich fügten Beamte noch Schriftstücke hinzu, die meist auf eilig korrigierten Amtsvorlagen Weisungen örtlicher Arbeiterund Soldatenräte dokumentierten. Auf diese Weise berichten sie vom Anbruch stürmischer Zeiten, in denen gleichwohl an vorhandene staatliche Prämissen angeknüpft wurde.17 Dies zeigte bereits der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat am Abend des 9. November 1918. Er verkündete in einer Extra-Ausgabe des Vorwärts den Generalstreik und rief dazu auf, für die »Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung« zu sorgen.18 Im Auswärtigen Amt liefen nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages Schadensersatzforderungen ein, Ermittlungen über die Umstände des Umgangs mit einzelnen Ausländer/innen begannen und Entschädigungen wurden festgelegt.19 Einer Initiative des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Jahre 1923 war dagegen kein Erfolg beschieden, völkerrechtliche Regelungen zu vereinbaren.20 Einen offiziellen Abschluss fand die kaum stattgefundene öffentliche und verwaltungsinterne Auseinandersetzung über den Umgang mit Angehörigen feindlicher Staaten schließlich 1925. Im dritten parlamentarischen Unterausschuss über die Brüche des Völkerrechts während des Krieges legte der Sachverständige Prof. Dr. Christian Meurer ein politisches Gutachten über die Behandlung der Zivilgefangenen vor. Indem es allein die Geschichte notwendiger Gegenseitigkeitsmaßnahmen des Deutschen Reiches fortspann, bildete es in seiner Einseitigkeit die vielen Facetten der Kriegsjahre nicht ab.21 In den offiziellen Erinnerungskulturen im Deutschen Reich hatte der Umgang mit feindlichen Ausländer/innen keinen Platz. Abgeschieden am Rande Havelbergs gedachte ein im Krieg entstandener Friedhof und in seiner Mitte ein Denkmal an die im Internierungslager verstorbenen Kinder, Frauen und Männer.22 Die damit einhergehende Leere provoziert ein Nachdenken über historische Lesarten, die im Zuge der zusammengetragenen Überlieferungen und ihrer Dar17 Zur Migrationspolitik nach 1918 siehe: Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, S. 33–88. 18 Generalstreik!, in: Vorwärts, 9.11.1918 (Extra-Ausgabe). 19 AA (gez. Kauer) an d. Heeresabwicklungsamt Preußen (Unterk.-Dep.), 22.3.1920, in: GLA Karlsruhe, 236/23177. Zur Durchführung der Entschädigungen siehe: Protokoll d. Besprechung in d. Reichszentralstelle für Kriegs- u. Zivilgefangene, betr. Bearbeitung u. Regelung d. Schadensersatzansprüche, 15.12.1921, in: BArch Berlin, R 1501/108845, Bl. 212 f. 20 Stibbe, The Internment of Civilians by Belligerent States, S. 18 f. 21 Sachverständigengutachten Meurer (Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts), in: Werk d. UA, Reihe 3, Bd. 3, Hlbd. 1 u. 2. 22 Lageplan d. Gefangenengräber u. Vorgang über d. Errichtung eines Denkmals, in: BLHA Potsdam, Rep. 8 Havelberg, Nr. 1342 u. Gräberlisten d. von 1914–1921 verstorbenen Kriegsgefangenen, in: Ebd., Nr. 1847.
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stellung möglich geworden sind. Sie sollen als Versuche verstanden werden. In ihrer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit schließen sie sich nicht aus. Sie verweisen vielmehr auf die Herausforderungen einer angemessenen Geschichtsschreibung. Vorrangig entfaltete sich eine Geschichte vielerlei Improvisationen. Diese stellten als Ereignisse und Argumentationen ein charakteristisches Merkmal des Handelns staatlicher Akteure dar, die darin Vorstellungen ausdrückten und im selben Augenblick feindlichen Ausländerinnen und Ausländern eine Gestalt gaben. In dem Versuch, die militärische Sicherheit und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Kaiserreiches sowie die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger/innen zu gewährleisten, kann eine Geschichte der Überwachung gelesen werden, die schließlich in Gefängnissen und im System der Internierungslager für Wehrpflichtige einen Höhepunkt erreichte. Am Ausgangspunkt dieser stand eine Krise der Loyalität, die in der Suche nach Vertrauen ihren Ausdruck fand. Obwohl Akteure administrativer Netzwerke in unterschiedlichen Momenten einzelnen Ausländer/innen Vertrauen entgegenbrachten, konnten sie es niemals für alle feindlichen Staatsangehörigen garantieren. Sie unterschieden diese deshalb von der übrigen Bevölkerung und entwarfen sowie etablierten administrative Verfahren. Sie registrierten und unterteilten, hielten Verdächtige fest und internierten wehrfähige Männer. Ihre hierbei beobachtbaren Unsicherheiten ebenso wie ihre Gewissheiten verdeutlichten Entscheidungs- und Handlungsspielräume, die über eine Erzählung angestrebter »bürokratischer Totalität« hinausweisen.23 Denn gleichsam sind die gefundenen Antworten beschreibbar als eine Geschichte prekärer, voraussetzungsreicher, historisch verflochtener, verantworteter, prozesshafter und revidierbarer Machttechniken. Der Umgang mit feindlichen Ausländer/innen zeigte sich in einem Arsenal an modernen Techniken, die von einer Intervention der Dinge berichteten. Die An- und Abwesenheit von Telegrammen und Telefonen, Schreibmaschinen und Zettelkästen, Stempeln, Fingerabdrücken und Fotografien, Personalausweisen und Meldedokumenten bildeten eine grundlegende Voraussetzung für die Überwachung der Ausländer/innen. Heather Jones erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Geschichte der Lager im Ersten Weltkrieg eine nicht zu unterschätzende technische Innovationsgeschichte darstellte.24 Die Ergebnisse des Tätigseins militärischer und zivilstaatlicher Akteure können einerseits als eine Erfolgsgeschichte angesichts einer historisch völlig neuen Situation in einem industriell geführten, alle Bevölkerungsteile mobilisierenden Massenkrieg erzählt werden. Spionage- und Sabotageakte beeinflussten den Kriegsverlauf nicht, und die archivalischen Überlieferungen legen nahe, dass die Mehrzahl der ausländischen Staatsangehörigen ihre Situation akzeptierte und erduldete, obwohl Einsprüche und Proteste möglich blieben. Andererseits verweisen vielfältige Kon23 Jahr, Keine Feriengäste, S. 243. 24 Jones, Eine technologische Revolution?, S. 118 f.
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flikte, widersprüchliche Verfahren und überwiegend situationsabhängige Entscheidungen auf die Geschichte einer Überforderung und eines Kontrollverlustes des Staates und seiner Akteure. Zu ihren Tätigkeiten gehörte die fortwährende Übersetzung und Vermittlung von orts- wie zeitgebundenen Wahrnehmungen. In Form von Berichten und Meldungen wurden diese in den administrativen Netzwerken vereinfacht und verallgemeinert, geordnet und vervielfacht. Demzufolge ist es ebenso die Geschichte eines kommunikativen Austauschprozesses, in dem bestimmte Aneignungen der Ausländer/innen nicht-öffentlich zirkulierten und in amtliche Schriftstücke eingingen. Dem gegenüber, aber durch viele Akteure verbunden, stand ein öffentlicher Kommunikationsraum. In diesem traten feindliche Staatsangehörige innerhalb einer Geschichte der Massenmedien auf. Blattmacher, Journalisten und Leser/innen bevorzugten verkaufsfördernde Schlagzeilen, wählten Informationen aus, kommentierten politische Entscheidungen kritisch, repräsentierten lokale Vorkommnisse einer reichsweiten Öffentlichkeit und entwarfen eigene Erzählmuster. Darin firmierten ›feindliche‹ Zivilisten hauptsächlich als Denunzierte, Störer/innen und Angeklagte sowie als Spiegelbilder deutscher Staatsangehöriger im Ausland. Negative Darstellungen in Zeitungen zeitigten unterdessen während der gesamten Kriegsdauer nur einen begrenzten Einfluss auf Diskussionen und Entscheidungen in staatlichen Netzwerken. Dort erwuchs eine Beurteilung des gesellschaftlichen Umgangs mit ausländischen Zivilisten und Kriegsgefangenen nicht nur aus der Zeitungslektüre. Deshalb ist es zu überlegen, ob bezüglich feindlicher Ausländer/innen ferner von einer Geschichte des Scheiterns nationalistischer (und völkischer) Agitatoren zu sprechen wäre. Daran anschließend liegt es nahe, die gleichzeitig beobachtbaren, widersprüchlichen und sich teilweise ausschließenden Meinungen und Handlungen als eine Geschichte unabgeschlossener Kontroversen zu resümieren. Mit Blick auf die Erfahrungen der Ausländer/innen und die Praktiken der Internierung sowie der erzwungenen Arbeitseinsätze gilt es, die vielen Gewaltgeschichten zu betonen. Im Rückblick waren diese von Grenzüberschreitungen bestimmt, die in der Vorkriegszeit in Zentraleuropa nicht für möglich gehalten worden waren, obwohl Beobachter des russländisch-japanischen Krieges und der Balkankriege auf diese hingewiesen hatten.25 Bereits in den ersten Kriegstagen wurden Frauen und Kinder in Barackenlagern untergebracht und nach wenigen Wochen die systematische Internierung wehrpflichtiger britischer und französischer Männer beschlossen. Zwei Jahre später konnte die Dritte Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff Deportationen von Zwangsarbeitern in das Deutsche Reich durchsetzen. Angesichts dessen bestätigt sich Wolfgang Mommsens Resümee, dass »der Erste Weltkrieg auf der Schwelle zu einem die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit direkt oder indirekt in die Kampfhandlungen einbeziehenden Volkskrieg« stand. Dennoch gehörte zu den gewalt25 Cabanes, August 1914, S. 193 u. Garner, The International Law and the World War, S. 56–59.
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geprägten »Phänomen[en] des Übergangs«, dass weiterhin auf internationale rechtliche Standards Bezug genommen, eine rechtsförmige Behandlung nicht aufgegeben und humanitäre Mindeststandards weitgehend eingehalten wurden. »Noch galten die herkömmlichen völkerrechtlichen Vorstellungen vom Kriege als einem Kriege der Staaten und Armeen, nicht der Völker.«26 Neben den physischen Gewaltmomenten stand die psychische Tortur. Sie war in den Lagern fortwährend präsent, indem die Internierten einer strengen Lagerordnung unterstellt waren, mit Sanktionen bei Verstößen rechnen mussten, ihnen kaum Privatsphäre zugestanden wurde und eine Entlassung in ungewisser Ferne lag. Sie zeigte sich ebenso außerhalb der Lager im eingeschränkten Postverkehr, im Warten auf die Ausreise oder im als willkürlich wahrgenommenen Handeln verantwortlicher Akteure. Die Kriegsjahre brachten für Angehörige feindlicher Staaten grundsätzlich weitreichende Unsicherheiten über zukünftige Maßnahmen mit sich. Schon der nächste Morgen konnte aus ihrer Sicht unerwartete oder befürchtete Anordnungen gegen sie bedeuten. Ihr Lebensalltag blieb gleichzeitig diesseits und jenseits der Stacheldrahtzäune weiterhin sozial kodiert. Der Krieg stellte zwar den verschiedenartigen Umgang mit Bürger/innen gemeinsamer Staatsangehörigkeit in Frage, aber er hob das Denken und Handeln entlang sozialer und ökonomischer Klassengegensätze nicht auf. Schließlich gilt es im Anschluss an Panikos Panayi daran zu erinnern, dass der Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen im Ersten Weltkrieg im Verhältnis zu anderen kriegführenden Staaten zu verorten ist.27 Die Ereignisse im Deutschen Reich stellten in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar. Die untersuchten Praktiken der Kontrolle, Ausweisung und Internierung zeigten sich in unterschiedlicher Intensität und verschiedenartig begründet gleichfalls in Wien, Moskau, London, Paris, Washington und Canberra. Diese facettenreiche Geschichte feindlicher Ausländer/innen sieht Panayi als entscheidenden Schritt hin zur Verfolgung und Marginalisierung von Minderheiten und ihrem konsequenten Ausschluss aus dem Staat und der Gesellschaft. Die Zivilinternierung sei ein Puzzleteil in einer Politik ethnischer Säuberungen gewesen.28 Mit dem Blick zurück auf das Deutsche Reich weist aber der Erste Weltkrieg nicht auf den Zweiten Weltkrieg voraus, obschon die Akteure des letzteren von den Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 in unterschiedlichem Maße beeinflusst wurden.29 Am 1. September 1939 befanden sich bereits, neben deutschen Juden, 26 27 28 29
Mommsen, Der »polnische Grenzstreifen«, S. 118. Panayi, Prisoners of Britain, S. 303–307. Ebd., S. 304 f. Gunther Mai, Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001, S. 245–256. Für den Aspekt der Gerüchte und der Kommunikationskontrolle siehe: Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle, S. 307–315. Zur unterschiedlichen Gewichtung des Erfahrungswissens über Zwangsarbeit siehe: Ulrich Herbert, Was haben die Nationalsozialisten aus dem Ersten Weltkrieg gelernt?, in: Krumeich (Hg),
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politischen Gegnern und gesellschaftlichen Außenseitern, tausende Ausländer, deren Festnahme aus rassistischen, antisemitischen und politischen Kriterien erwachsen war, in Konzentrationslagern.30 Unter der Prämisse, die innere und äußere Niederlage des November 1918 nicht zu wiederholen, bedeutete der Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Ausdehnung und Radikalisierung dieser Politik. Am 5. September 1939 wurden für »Angehörige der Feindstaaten« erneut Meldepflichten, Ausreise- und Ortswechselverbote in Kraft gesetzt.31 Die Befugnisse der (Kreis-)Polizeibehörden erfuhren im Zuge dessen eine Erweiterung. Sie konnten die »Angehörigen dieser Staaten weiteren Beschränkungen der persönlichen Freiheit unterwerfen, insbesondere eine regelmäßige persönliche Meldepflicht vorschreiben oder sie in polizeiliche Verwahrung nehmen«. Zudem hatten sie das Recht, Ausländer/innen in »Internierungslager« zu überweisen. Den Betroffenen dagegen wurden Rechtsmittel per Gesetz verweigert. »Zu Beginn des Dritten Reiches hatte man die Lager als Waffen gegen Deutsche konzipiert«, skizziert Nikolaus Wachsmann diese Entwicklung, »ein Jahrzehnt später bedrohten sie die Menschen in Europa.«32 Gleichwohl gestaltete sich der Umgang mit ausländischen Staatsbürger/innen auch in dieser Kriegsgesellschaft als vielschichtiges und mitunter widersprüchliches Wechselspiel aus Distanzierung und Annäherung.33
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Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, S. 21–32 u. Jochen Oltmer, Erzwungene Mi gration: »Fremdarbeit« in zwei Weltkriegen, in: Ebd., S. 347–362. Zum Vergleich der Besatzungsherrschaft in Polen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges: Stephan Lehnstaedt, Imperiale Polenpolitik in den Weltkriegen. Eine vergleichende Studie zu den Mittelmächten und zu NS-Deutschland, Osnabrück 2017, S. 455–467. Nikolaus Wachsmann, KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 168–170. Verordnung über d. Behandlung von Ausländern, 5.9.1939, in: RGBl. 1939, Teil 1, S. 1667– 1669. Wachsmann, KL, S. 235–238, hier zit. S. 236. Silke Schneider, Verbotener Umgang. Ausländer und Deutsche im Nationalsozialismus. Diskurse um Sexualität, Moral, Wissen und Strafe, Baden-Baden 2010, S. 219–261.
10. Erinnern und Erzählen – ein Epilog
Konstantin Fedin (1892–1977) wuchs als Sohn eines Kaufmanns in Saratow, »der Hauptstadt des Wolgalandes«, auf. Obwohl es ihn in seinen Jugendjahren zur Literatur hingezogen hatte, beugte er sich widerwillig den Plänen seines Vaters. Er studierte zunächst an der Handelsschule in Koslow und wechselte 1911 an die renommierte Moskauer Handelsakademie. Um seine Fremdsprachenkenntnisse vor einer Abschlussprüfung zu festigen, entschied er sich wie viele seiner Kommilitonen für einen Auslandsaufenthalt. Im Frühjahr 1914 reiste er nach Deutschland.1 Die letzten Friedenstage verbrachte er in Nürnberg. Beim Ausruf der Mobilmachung bestieg er eilig einen Zug in Richtung Osten. »Im Grunde genommen war es schon Flucht«, schlussfolgerte er Jahrzehnte später.2 »Ich hoffte noch, über die Grenze zu ›entwischen‹. In Dresden wurde ich festgehalten und mußte alle meine Pläne, die Freiheit zu erlangen, aufgeben: es wurde eine Haussuchung bei mir vorgenommen, und ich kam als ›Zivilinternierter‹ unter Polizeiaufsicht.« Nachdem die sächsische Residenzstadt zum militärischen Sperrbezirk für feindliche Ausländer/innen erklärt worden war, verließ er sie im November 1914 in Richtung der grenznahen Stadt Zittau in Ostsachsen. Dort hatte er als russländischer Staatsangehöriger strenge Meldevorschriften zu beachten. Der Student fand gleichwohl eine Anstellung am städtischen Theater. Als Chorist und Schauspieler verbrachte er die längste Zeit des Krieges in der Provinz. Ein Lokalredakteur beschied ihm in einer Theaterkritik Talent, aber empfahl ihm fleißige Schulungen.3 Erst im letzten Kriegsjahr gelang Fedin die Übersiedlung nach Berlin. Nun dolmetschte er für russische Botschaftsmitglieder und pflegte Kontakte zu Aktivisten des Spartakusbundes. Im Zuge des Friedensvertrages von Brest-Litowsk erhielt er im Herbst 1918 die Möglichkeit, mit einem Kriegsgefangenentransport in seine Heimat zurückzukehren. Konstantin Fedin arbeitete in den folgenden Jahren als Kriegsberichterstatter und Journalist. Erst nach dem Ende der Russischen Bürger1
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Zu Fedins Biografie: Konstantin Fedin, Autobiographie (verf. 1952–1957), in: Fedin und Deutschland. Aus dem Werk. Alte und Neue Begegnungen. Stimmen der Freunde, Berlin 1962, S. 7–28; Wolf Düwel, Fedin und Deutschland, in: Ebd., S. 205–225; Richard Freeborn, Konstantin Aleksandrovich Fedin, 1892–1977, in: Reference Guide to Russian Literature, hg. von Neil Cornwell, London 1998, S. 300–302. Konstantin Fedin, Zum Roman »Städte und Jahre« (verf. 1947 u. 1951), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. X: Dichter · Kunst · Zeit. Aufsätze, Erinnerungen, übers. aus d. Russ. von Georg Schwarz, Berlin 1959, S. 354–370, hier S. 358. Düwel, Fedin und Deutschland, S. 208.
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und Revolutionskriege konnte er sich ganz und gar der Belletristik widmen.4 Der international anerkannte Romancier wurde Vorsitzender des Sowjetischen Schriftstellerverbandes und Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. 1982, fünf Jahre nach seinem Tod, wurde Fedin zum Ehrenbürger Zittaus ernannt. Er selbst war 1928 für drei Tage in die Stadt zurückgekehrt. An seine Frau schrieb er: »Ich fand dort alles beim Alten, so sehr beim Alten, daß es merkwürdig und geradezu ein bisschen unheimlich ist: Wie wenig und langsam verändern sich doch die Menschen, und welche furchtbare Gleichgültigkeit erfüllt die Natur und die Dinge.«5 Indes waren es keineswegs nur Erinnerungen, die der Schriftsteller an seine Zeit im Krieg bewahrte. Fedin hatte in einem Koffer Aufzeichnungen und einen Stapel Zeitungsausschnitte bei sich, als er 1918 nach Russland zurückreiste. Mit ihrer Hilfe ästhetisierte er seine Kriegserlebnisse und veröffentlichte den daraus hervorgegangenen experimentellen Roman Goroda i gody – Städte und Jahre 1924 in der Sowjetunion.6 Konstantin Fedin erzählt in seiner literarischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit die Geschichte des Intellektuellen Andrej Starzow. Dieser befindet sich zwischen Welt- und Bürgerkrieg auf der tragischen Suche nach sich selbst. Seine melancholische Reise führt ihn unter anderem nach dem erdichteten deutschen Bischofsberg. Der Schriftsteller schildert aus der Sicht Starzows in vier der neun Romankapitel eine mögliche Geschichte jener Menschen, die sich in den Jahren 1914 bis 1918 als zivile Angehörige feindlicher Staaten in Deutschland aufhielten. Der Protagonist sammelt ambivalente Erfahrungen.7 Er wird im August 1914 aus der scheinbar unschuldigen Welt des Erlanger Jahrmarktes gerissen und findet sich orientierungslos in Konflikten wieder, die er kaum begreift. Sein Freund Kurt Wahn wendet sich von ihm ab und droht ihn zu denunzieren: »Ich hasse dich Andrej … Ich muß Dich hassen. Geh von mir.«8 Der Intellektuelle wird unversehens verhaftet. »Auf der hellbeleuchteten, reingewaschenen Treppe vor 4 5 6
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Eine Bibliografie zu Fedins Werk findet sich bei: Berta Brainina, Konstantin Fedin, übers. aus d. Russ. von Traute Stein, Berlin 1954, S. 293–300. Konstantin Fedin an Dora Sergejewna Fedina (1895–1953), 30.7.1928, in: Fedin und Deutschland, S. 229 f. Konstantin Fedin, Städte und Jahre, übers. aus d. Russ. von Dimitrij Umanskij, Berlin 1927. Zu Fedins Roman und dessen Einordnung: Gleb Struve, Soviet Russian Literature 1917–50, Norman 1951, S. 87–91. Zum Werk des Schriftstellers in Bezug zum sozialistischen Realismus siehe: Heddy Pross-Weerth, Konstantin Fedin, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, Jg. 9 (1959), Heft 11, S. 693–700. Der Roman wurde zweimal verfilmt: Goroda i gody, Regie: Yevgeni Chervyakov (1899–1942), UdSSR 1930 u. Goroda i gody, Regie: Alexander Sarchi (1908–1997), UdSSR/DDR 1973. Leonore Scheffler, Das Bild vom häßlichen Deutschen in Konstantin Fedins Roman »Goroda i gody« und die Erzählung »Ostrovitjane« von Evgenij Zamjatin, in: Zeitschrift für Slavische Philologie, Jg. 60 (2001), Nr. 2, S. 321–336, hier S. 323 ff. Fedin, Städte und Jahre, S. 125.
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seiner Wohnungstür standen unbeweglich ein paar Menschen in langen schwarzen Mänteln und niedrigen steifen Hüten. […] Andrej bemerkte die Männer erst, als er schon von ihnen umringt war.«9 Die Meldepflicht auf der Polizeistation stellt für ihn eine tägliche Bürde dar. Die Abhängigkeit von einzelnen Beamten empfindet er als bedrückend. Sein belgischer Bekannter wird interniert, weil er »tendenziöse« Zeitungsartikel sammelte. Einzig die Liebe zu Marie Urbach gibt ihm Halt in einer fremden Welt. Unterdessen verspürt der ehemalige Student eine innere Unruhe. »Hier ist jeder meiner Schritte gefesselt. Es ist mir einfach nicht möglich, etwas zu beginnen. Ich bin hier fremd. Aber ich vermag nicht länger untätig zu sein. Ich muß fliehen, ich muß!«10 Sein verzweifelter Fluchtversuch scheitert. Im Zug nach Reichenberg (Liberec) kann er keine Papiere vorweisen. Der Oberstleutnant Markgraf von zur Mühlen-Schönau, der kurz vor seiner Rückkehr an die Front steht, greift ihn auf und vergegenwärtigt Starzow seine Hilflosigkeit. Dass Marie die beiden Männer auf verhängnisvolle Weise miteinander verbindet, ahnen sie da noch nicht. Der Protagonist wird sich zwischen Liebe und Revolution verlieren. Kurt Wahn, der ihn als Landsturmmann weggestoßen hatte, später desertierte und in Russland unter den Bol’ševiki zum Kommissar aufstieg, wird ihn erschießen. Über Städte und Jahre hinweg wird Wahn ihm schließlich zweimal zum Feind. Erst war Starzow für ihn ein russländischer ›feindlicher‹ Bürger. Alsdann verriet er die Revolution für seine Liebe zu Marie. Obwohl Andrej Starzow auch Entgegenkommen, Beistand und Freundschaften findet, leidet er an dem Leben als feindlicher Ausländer. Die Welt der Vorkriegszeit bricht für ihn auseinander. Trotz alltäglicher Begegnungen mangelt es ihm an Beziehungen.11 Die unvermeidbare Konfrontation wird zu einem alles entscheidenden Moment in seinem Leben. Fedin umschreibt dieses Zerbersten des Sozialen mit einer vielschichtigen Metapher. »Der eine Mensch«, erklärt Kurt Wahn, war vor dem Krieg »an den andern gefügt wie in der Türe ein Brett ans andere, jetzt aber ist alles auseinandergeraten, zwischen den Brettern haben sich Sprünge gebildet.«12 Als Andrej Starzow das erste Mal Marie Urbach begegnet, fragt sie ihn nach seiner Nationalität. Er vertraut ihr nicht. Sie weist von sich, ihn verraten zu wollen. Darauf entgegnet Starzow: »Es ist traurig, daß wir das einfache Leben verlernt haben. […] Was nötigte Sie, mich auszufragen, wer ich bin? Kann man denn nicht ohne das so nebeneinander gehen, wie wir es jetzt tun? […] Wozu suchen was nicht da ist? Wäre 9 Ebd., S. 126. 10 Ebd., S. 213. 11 Elizabeth Klosty Beaujour, Some Problems of Construction in Fedin’s Cities and Years, in: Slavic and East European Journal, Vol. 16 (1972), No. 1, S. 1–18, hier S. 9 f. 12 Fedin, Städte und Jahre, S. 301.
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ich Österreicher oder ihr Landsmann, Sie hätten mich mit anderen Augen angesehen.«13 Zu der Verlorenheit im »Hinterland« tritt die Abwesenheit des militärischen Konfliktes. Starzow erlebt Krieg und Bürgerkrieg erst, als er nach Russland zurückkehrt. Aber seine Zerrissenheit zwischen dem »Ekel« über das Blutvergießen und der erzwungenen wie selbstgewählten Tatenlosigkeit wird er nicht überwinden können.14 Die Menschen um ihn herum treffen Entscheidungen, sind tätig und kämpfen für ihre Überzeugungen.15 Am nahen Ende gesteht er sich ein: »Jeder, der nicht in den Krieg ging, alle, die jetzt noch nicht in den Krieg gehen, sind schuld an dem Krieg.«16 Aus seinem Stillstand will er schließlich auf der Seite der Bol’ševiki ausbrechen. »Oh, jetzt bin ich ein anderer, ein ganz anderer. […] Jetzt könnte ich nicht mehr so wie früher leben«, ruft er seinem Freund zu. »Wenn der Tod notwendig und unvermeidlich ist, dann muß man selbst, verstehst du, selbst sterben und nicht andere hinschicken.«17 An vielen Stellen bricht der Roman aus der Fokussierung auf den Protagonisten aus. Dann kommen unterschiedliche Welten um Andrej Starzow herum fragmentarisch zum Vorschein. Die Gesellschaft ist hierbei genauso ambivalent wie ihre Mitglieder. Eine »arrogante Selbstgefälligkeit, die einem übersteigerten Nationalbewußtsein entspringt und sich im Streben nach Ordnung, Sauberkeit und Disziplin, nach Harmonie und Gesinnungsgleichheit äußert, aber auch in aggressiver Ablehnung gegenüber allem Fremden kundtut«, erblickt Leonore Scheffler in den Schilderungen Fedins.18 Der Jahrmarkt in Erlangen und der Krieg seien bei Fedin der Ausdruck einer Kultur des nationalen Rausches. Der Ausländer steht in dieser Kultur als Beobachter in einem unbestimmten Abseits, weil ihm die Zugehörigkeit zum nationalen Wir versagt wird.19 Im Angesicht des Lebensweges des Helden Starzow wird aus ihm gleichwohl kein Feind, weil er das Nationale letztendlich nicht verraten kann. Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des Romans griff Konstantin Fedin seine Erlebnisse in Deutschland in der Erzählung Ich war Schauspieler20 (Erstveröffentlichung 1937)21 erneut auf. Der Krieg erscheint darin als Endlosigkeit, für die 13 14 15 16 17 18 19 20 21
Ebd., S. 177. Ebd., S. 303. Beaujour, Some Problems of Construction, S. 4 f. Fedin, Städte und Jahre, S. 399. Ebd., S. 399 f. Scheffler, Das Bild vom häßlichen Deutschen, S. 325. Vgl. ebd., S. 331. Konstantin Fedin, Ich war Schauspieler, übers. aus d. Russ. von Monica Huchel, Berlin 1956. 1937 war das Jahr des Großen Terrors in der Sowjetunion, das Jahr der Verhaftungen und Schauprozesse, der Verurteilungen und Erschießungen, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen.
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kein bestimmbares Vorher existiert – eine andauernde »Langeweile«. Die Fremdheit ist in der Verbannung längst einer Vertrautheit gewichen. »Wir kannten alle Bäcker und Pastoren von Angesicht. Der Polizeisekretär grüßte uns, als gehörten wir zu seiner Verwandtschaft.«22 Oder ist dies nur eine Selbsttäuschung? Der Polizist drohte bei der ersten Kontrollmeldung noch, dass er »uns als Angehörige einer Feindmacht, […] bei Verspätungen in ein Lager stecken werde«.23 Dem Künstler Scheer widerfährt später dieses Lager am Rande der Stadt,24 nachdem er mit einer jungen Dame gemeinsam gesehen wurde.25 Überhaupt besteht das Lager als ständige Drohung für den Erzähler. »Auch an mir wird das Lager nicht vorübergehen, weil auch mein Patriotismus nicht erloschen ist«, klagt er eines Tages.26 Es folgen Durchsuchungen nach »Antikriegsbüchern« bei einem Bekannten, der wenig später im Dresdner Polizeigefängnis in Gewahrsam kommt.27 Der Drohung des Lagers, das seine Gefangenen nur auf den Friedhof zu entlassen scheint, stehen die Befürchtungen der Ausländer zur Seite. »Aus unserem Gespräch ergab sich, daß wir den Frieden kaum erleben würden, weil der Hunger zunahm, die Einwohner geiziger wurden, weil für uns immer weniger abfiel von ihrer Gutmütigkeit und wir zum Stein an ihrem Hals wurden.«28 Die Vertrautheit kann eine entscheidende Distanz nicht überbrücken. Sie wird situativ sogar bedrohlich, als die verbannten Freunde auf einen bayerischen Landsturmmann treffen. Sie entkommen ihm gerade noch, nachdem er sie mit einer Kette an Folgerungen demaskiert hatte. »[W]ir seien jung und gesund, folglich müßten wir im Schützengraben sein; wir seien nicht im Schützengraben, also seien wir Ausländer; vielleicht Tschechen, aber auch die Tschechen seien verpflichtet, im Schützengraben zu kämpfen; […] dann aber vielleicht feindliche Ausländer und am Ende gar, Donnerwetter, so etwas Ähnliches wie Russen?!«29 Auf der Suche nach Arbeit verschlägt es den Protagonisten ans Theater. Dessen Direktor überspielt die nationalen Differenzen. »Meine Sympathien in diesem schrecklichen Krieg gingen ihn, wie er sagte, nichts an, es verstand sich aber von selbst, daß er, wie alle anderen Deutschen, auf meine Loyalität zählte.«30 So wird das Theater zu einem ungewöhnlichen, fast außerhalb von Städten und Jahren 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Fedin, Ich war Schauspieler, S. 5. Ebd., S. 11. Bezug genommen wird auf das Kriegsgefangenenlager Zittau-Gross-Poritsch. Fedin, Ich war Schauspieler, S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 75. Ebd., S. 16. Ebd., S. 25. Ebd., S. 19.
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bestehenden Ort. Mit ihm konzipiert Fedin eine ganz andere Ästhetik des Ausländers in der Kriegsgesellschaft. Der Erzähler lernt, sich zu schminken. »Vaseline am Anfang, Vaseline am Ende. Dicker, dicker!«31 Am Theater wird er eingekleidet. Der Frack verleiht ihm Achtung und Respekt. Im Ensemble muss er Erwartungen genügen. Gleichzeitig sieht er einer Beförderung entgegen und kann Stolz empfinden. Schließlich ermöglicht ihm seine Berufung zu reisen. Das Theater verwandelt den Erzähler. Der Verbannte, der feindliche Ausländer, wird zu einem Teil der Gesellschaft. Indem er aus seiner Beobachterposition heraustritt, durchbricht er den Stillstand und die Tatenlosigkeit des Krieges. Im gleichen Moment vervielfachen sich seine Rollen. Der Schauspieler betritt mit Lampenfieber eine Bühne,32 die mit ihren Kulissen und Requisiten kontinuierlich neue Welten auf eine ganz eigene Art und Weise zusammensetzt. Fedin ermöglicht diesem ein doppeltes In-der-Welt-sein, das er Andrej Starzow vorenthielt. »Ich war Schauspieler« wird zu einem (Selbst-) Bekenntnis, wenn auch in einer Welt von Gestern. »Hätte ich diese ganze Zeit in irgendeinem Atelier verbracht, die Welt erschiene mir einheitlich und unzerstörbar wie einst. Ich hätte die Menschheit und die Welt so verstanden, wie wir sie einst […] zu verstehen pflegten«, entgegnete Kurt Wahn seinem Freund.33 Und der Schauspieler wird sich schließlich schwören: »Unwiderruflich« hänge er die Bühnenlaufbahn an den Nagel.34 Denn Fedin lässt in seiner literarischen Vergegenwärtigung keinen Zweifel daran, dass die Welt der Bühne und mit ihr die Selbstermächtigung des ausländischen Schauspielers eine bittere Illusion war. Der Erzähler erkannte sich selbst gegenüber: »Allmählich beneidete ich mich selbst immer mehr, weil die Abreise näher rückte und jeden Tag, Faden um Faden, die Bänder rissen, die mich hielten.«35 Ihm wird bewusst, dass er die vergangenen Jahre als eine Marionette lebte. Die Rückkehr in die von Kriegen gezeichnete Heimat ist deshalb eine Befreiung. »Gefangenschaft und Theaterspielen lagen hinter mir[.]«36 Konstantin Fedin skizziert das Mosaik einer nationalistischen Gesellschaft, in der die Ausgrenzung und das ›Periphersein‹ fremder Staatsbürger/innen zur Alltäglichkeit werden. Damit einher geht sowohl ein abhängiges, in enge Grenzen gesetztes Leben als auch ein fremdgesponnenes Bedeutungsgewebe, in dem sich der Einzelne verfängt. Denn neben die Verordnungen und Kontrollen, Drohungen und Gefangenenlager treten die unausweichlichen Fremdzuschreibungen, unabhängig davon, wie ausländische Staatsangehörige sich selbst verstanden oder 31 32 33 34 35 36
Ebd., S. 23. Ebd., S. 61. Fedin, Städte und Jahre, S. 301. Fedin, Ich war Schauspieler, S. 126. Ebd., S. 129. Ebd., S. 135.
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wie sie gesehen werden wollten. Auch ihre zwischenzeitliche Integration muss deshalb zu einer Selbsttäuschung verkommen. Aus der Perspektive des Schriftstellers Fedin erscheinen feindliche Ausländer als ›Haltlose‹. In ihrem Fremdsein übersetzen sie fragmentarisch das nationale Eigene der Kriegsgesellschaft. Der ausländische Schauspieler stellt jene Rollen dar, die von ihm erwartet werden. Er inszeniert und reproduziert Assoziationen und Vorstellungen der Menschen, mit denen er lebt, und ihrer Institutionen. Diesen Aspekt unterstreichen in Städte und Jahre authentische Texte wie Zeitungsausschnitte und Bekanntmachungen, Briefe und andere Dokumente neben den Stimmen und Handlungen der Figuren. Diese Äußerlichkeiten umhüllen einem Mantel gleich den Ausländer. Die in den Roman montierten Kriegsüberlieferungen weisen gleichzeitig auf einen Ort außerhalb des Literarischen hin und verwischen die Grenze zwischen »Kunst und Nichtkunst«, wie Elizabeth Klosty Beaujour schreibt.37 Fedin bedient sich eines dokumentarischen Stils, bei dem einzelne Personen identifizierbar werden, und er selbst für die Authentizität der Schilderungen steht.38 Das Literarische ist in höchstem Maße politisch. Der zurückblickende Revolutionär führt den mit seiner Ankunft im Deutschen Reich 1914 begonnenen Zuschreibungs- und Übersetzungsprozess fort, indem er in seinen Texten nun die ›Deutschen‹ von außen als die Anderen beschreibt. Obwohl ihm das Geschichtsbild eines rückständigen Kaiserreiches als Kontrastfolie zum Freiheits- und Gleichheitsversprechen der Sowjetrepublik diente, konfrontierte Konstantin Fedin die Leser/innen der Städte und Jahre mit einem Stück unerzählter Vergangenheit Deutschlands. Der Roman, der 1927 in deutscher Sprache erschien und kaum ein Medienecho fand, präsentierte einen Gegenentwurf zur zeitgleich öffentlich dargestellten Geschichte feindlicher Ausländer/innen. Er setzte einen Kontrapunkt zu den juristischen und politischen Vergangenheitsauseinandersetzungen. Christian Meurer hatte im parlamentarischen Untersuchungsausschuss über Völkerrechtsbrüche im Weltkrieg eine abwägende und überlegt reagierende Führungselite nachgezeichnet.39 Von der ausländischen Propaganda verleumdet, hätte sie notgedrungen und mit Unbehagen Maßnahmen gegenüber ausländischen Staatsbürger/innen ergriffen. Aber ursächlich sei die »ungeheure Zwangslage des deutschen Abwehrkampfes«40 gewesen. Diese hätte vergeltende Völkerrechtsverletzungen bedingt, welche im Ausland bereits stattgefunden hatten. Und entschuldigte diese Sichtweise nicht auch den gesellschaftlichen Umgang
37 Beaujour, Some Problems of Construction, S. 6. 38 Das Spiel mit dem Authentischen thematisiert Fedin selbst in: Fedin, Zum Roman »Städte und Jahre«, S. 356. 39 Vgl. hierzu das Kapitel Internieren und Freilassen. 40 Weltkrieg und Völkerrecht, in: Badische Presse, 18.5.1927 (Nr. 230, Abendausgabe).
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mit feindlichen Staatsangehörigen? Entlastete sie nicht jeden Einzelnen, der Ausländer/innen im Denken und Handeln anders als in der Vorkriegszeit begegnete? »Es sind Szenen aus dem Deutschland der Kriegszeit drin, die uns unsre Romanciers schuldig geblieben sind«, urteilte Carl von Ossietzky (1889–1938) über Städte und Jahre.41 Der Rezensent mutmaßte gar, dass die »Presse, die den Erfolg macht«, das Buch »verschweigt«. Egon Erwin Kisch (1885–1948) erkannte in Andrej Starzows Geschichte »das ganze Leid der vergewaltigten, nummerierten und registrierten Menschheit«.42 Der Blick auf den Schriftsteller Konstantin Fedin und die vermiedenen wie die einseitig geführten Auseinandersetzungen zeigt demzufolge, wie die Akteure der Nachkriegszeit die Kontroversen fortsetzten, in denen feindliche Ausländer und Ausländerinnen in den Jahren 1914 bis 1918 in Geltung gesetzt worden waren. Ihre Erzählungen waren Teil des Tätigseins, das Geschichte hervorbringt und Zukunftserwartungen entwirft.
41 Carl von Ossietzky, Rezension über Städte und Jahre, in: Die Weltbühne, 5.6.1928 (Jg. 24, Nr. 23), S. 885–886, hier S. 886. Ebenso in: Fedin und Deutschland, S. 234. 42 Egon Erwin Kisch, Ein Buch, das überzeugend Stellung nimmt, in: Die Rote Fahne (Berlin), 30.12.1917, in: Fedin und Deutschland, S. 236–239, hier S. 236. Im Dritten Reich wurde der Roman verboten. Siehe: Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums (Stand Oktober 1935), hg. von d. Reichsschrifttumskammer, Leipzig 1935, S. 36.
Dank
Mit der Unterstützung von Prof. em. Dr. Karl-Heinz Schlarp sammelte ich erste Mosaiksteine für eine Forschungsarbeit über »feindliche Ausländer« im Deutschen Reich. Prof. Dr. Werner Benecke ermutigte mich, meine Recherchen fortzusetzen und unterstützte mich bei der Umsetzung meines Vorhabens. Ich freute mich, dass er als Gutachter im Promotionsverfahren zur Verfügung stand. Vielen Dank! Mein Doktorvater Prof. em. Dr. Gunther Mai begleitete die Entstehung dieses Buches streng im Urteil, aber stets herzlich und wohlwollend. Seine wertvollen Hinweise und kritischen Kommentare, sein Wissen und sein Talent, komplizierte Zusammenhänge in elegante Synthesen zu überführen, kamen meinem Denken und Schreiben zugute. Es hat Spaß gemacht! Prof. Dr. Christiane Kuller danke ich für ihre vielseitige Schützenhilfe und ihren unerschütterlichen Optimismus. Danken möchte ich darüber hinaus meinen Kolleg/innen an der Universität Erfurt und allen Menschen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen, meinen Vorträgen mit Kommentaren folgten, mir Ideen in den Kopf setzten oder Überlegungen kritisierten, geduldig waren. Vielmals danke ich den Archivmitarbeiter/innen und Bibliothekar/innen, die mich bei meinen Recherchen unterstützten, und den Verlagsmitarbeiter/innen, die aus dem Manuskript ein Buch formten. Danken möchte ich all meinen Freunden, die meinen Gedanken bei einer Tasse Kaffee lauschten, mich auf Archivreisen aufnahmen, das Manuskript aufmerksam lasen, mir Mut zusprachen und mit Unbeschwertheit und Frohsinn meine Forschungen begleiteten. Zu großem Dank bin ich meinen Großeltern Elfriede und Ralf Lindner verpflichtet. Ihre Hilfe bei Übersetzungen aus dem Russischen war überaus wertvoll. Meine Mutter Marina Seifert unterstützte ausdauernd und bestärkend meinen bisherigen Bildungsweg. Stets interessiert und mit offenem Ohr standet Ihr mir zur Seite. Dafür danke ich Euch von ganzem Herzen! Ohne Anne Hopp wäre dieses Buch ein anderes gewesen. Ohne Deine Präsenz, Deine Geduld und Ausdauer mit mir, Dein Mitdenken, Deine Anmerkungen und Korrekturen in den Manuskripten, Deine Rückendeckung und Zuversicht hätte ich meine Forschungsreise weder begonnen noch abgeschlossen. Josefine ist mit dem Recherchieren und Schreiben an diesem Buch aufgewachsen. Deine Freude und Deine unvergleichliche Art, die Welt zu entdecken, treiben mich stets an. Euch beiden ist dieses Buch gewidmet!
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Archivalische Quellen Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam Rep. 2A Rep. 8
Regierung Potsdam (Akten) Havelberg
Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 2 Reichsfinanzministerium R 43 Reichskanzlei R 67 Archiv des Ausschusses für deutsche Kriegsgefangene des Frankfurter Vereins vom Roten Kreuz/Archiv für Kriegsgefangenenforschung R 901 Auswärtiges Amt (Rechtsabteilung) R 904 Auswärtiges Amt (Waffenstillstandskommission) R 1501 Reichsamt des Innern R 3301 Reichsministerium für Wiederaufbau R 3901 Reichsarbeitsministerium
Bundesarchiv Freiburg (Militärarchiv) RM 3 RM 5
Reichsmarineamt Admiralstab der Marine
Evangelisches Zentralarchiv Berlin EZA 1 Evangelische Kirche in Deutschland und Vorgängereinrichtungen (Kirche-Staat-Beziehungen) EZA 45 Hilfsausschuss für Gefangenenseelsorge EZA 51/C Caritas inter Arma (Erster Weltkrieg)
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I. HA Rep 77 I. HA Rep. 84 a I. HA Rep. 87 I. HA Rep. 151 I. HA Rep. 191 XIV. HA Rep. 180
Preußisches Ministerium des Innern Preußisches Justizministerium Preußisches Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten Preußisches Finanzministerium Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege in Preußen Regierung zu Danzig
Generallandesarchiv Karlsruhe 236 456 F 1 456 F 8
Badisches Ministerium des Innern Armee-Oberkommando 7 (Abteilung I e) Stellvertretendes Generalkommando XIV. Armeekorps
732 456 F 43 456 F 63
Quellen- und Literaturverzeichnis
Infanterie-Regiment 170 Truppenübungsplatz Heuberg
Hauptstaatsarchiv Dresden 10717 10736 11348 11352 13451
Sächsisches Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten Sächsisches Ministerium des Innern Stellvertretendes Generalkommando XII. Armeekorps Stellvertretendes Generalkommando XIX. Armeekorps Kriegsgericht der vereinten XII. und XIX. Armeekorps
Hauptstaatsarchiv München MInn MJu
Bayerisches Staatsministerium des Innern Bayerisches Staatsministerium der Justiz
Hauptstaatsarchiv München, Abteilung IV (Kriegsarchiv) MKr Bayerisches Kriegsministerium Stv. Gkdo. I. AK Stellvertretendes Generalkommando I. bayerisches Armeekorps Stv. Gkdo. II. AK Stellvertretendes Generalkommando II. bayerisches Armeekorps Stv. Gkdo. III. AK Stellvertretendes Generalkommando III. bayerisches Armeekorps Militärgerichte 2. Division
Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 40/72 Württembergisches Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten E 130a Württembergisches Staatsministerium E 135a Landesausschuss der Arbeiter- und Bauernräte Württembergs E 151/05 Württembergisches Ministerium des Innern (Abteilung 5) M 1/4 Württembergisches Kriegsministerium (Abteilung für allgemeine Armeeangelegenheiten) M 77/1 Stellvertretendes Generalkommando XIII. Armeekorps M 77/2 Stellvertretendes Generalkommando XIII. Armeekorps (Denkschriftensammlung)
Hauptstaatsarchiv Weimar Stellvertretender Bevollmächtigter Sachsen-Weimar-Eisenach zum Bundesrat Staatsanwaltschaft beim Sachsen-Weimar-Eisenachischen Landgericht Eisenach Thüringisches Oberlandesgericht Jena
Hochschule Mittweida – Historisches Archiv 14.8 Bekanntmachungen 1906–1914 14.9 Bekanntmachungen 1915–1925
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Abteilung Rheinland) BR 0004 BR 0007 BR 0009 BR 0017 BR 0021
Regierung Düsseldorf (Präsidialbüro) Regierung Düsseldorf Regierung Köln Landratsamt Düsseldorf Landratsamt Essen
Archivalische Quellen
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Weltkrieg Nr. 1: Schutz der deutschen und fremden Untertanen und ihrer Interessen Großes Hauptquartier: Kriegsgefangene Kommission für Internierte und Kriegsgefangene (1919/20)
Staatsarchiv Hamburg 111–2 132–1 I 416–1/4
Senat (Kriegsakten) Senatskommission für die Reichs- und Auswärtigen Angelegenheiten I Landesherrenschaften (Kriegsakten)
Staatsarchiv Ludwigsburg E 170 F 160 I E 391
Zentralstelle für Gewerbe und Handel Oberamt Cannstatt Gewerbe- und Handelsaufsichtsamt
Staatsarchiv Marburg 150 Oberpräsidium der Provinz Hessen-Nassau 165 Preußische Regierung Kassel, Abteilung I (Abteilung des Innern, Präsidialabteilung) 175 Polizeipräsidium Kassel (Preußische Polizeidirektion für die Stadt Kassel)
Staatsarchiv München Pol.Dir.München
Polizeidirektion München
Staatsarchiv Wolfenbüttel 12 Neu
Staatsministerium Braunschweig
Stadtarchiv Bad Kissingen Sammlung Fotografien
Stadtarchiv Chemnitz Gemeinde Ebersdorf Rat der Stadt Chemnitz
Stadtarchiv Göttingen Polizeidirektion Göttingen
Stadtarchiv Mittweida A1–2 – Historisches Archiv
Stadtarchiv Traunstein Akten 1870–1972
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Digitalisierte archivalische Quellen ICRC Historical Archives Audiovisual Archives URL: https://avarchives.icrc.org Prisoners of the First World War URL: https://grandeguerre.icrc.org
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United States National Archives Microfilm Publications (US-NA MP) Records of the Department of State, Microcopy No. 367, Roll 289 (National Archives Identifier: 27297860) Records of the Department of State, Microcopy No. 367, Roll 296 (National Archives Identifier: 27303967) Records of the Department of State, Microcopy No. 367, Roll 313 (National Archives Identifier: 27319800) Records of the Department of State, Microcopy No. 367, Roll 353 (National Archives Identifier: 27353183) URL: https://catalog.archives.gov
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Zeitungen
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Zeitungen Badische Landes-Zeitung Badische Presse Badischer Beobachter Coburger Zeitung Dresdner Neueste Nachrichten Frankfurter Zeitung Freiburger Zeitung Gazette des Ardennes, Edition Illustrée Jenaer Volksblatt Jüdische Rundschau La guerre photographiée Le Miroir The Times Vossische Zeitung
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Zeitgenössische Darstellungen und Druckschriften
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildungen Abbildung 1: Auszug der Russen aus Bad Kissingen, 24. August 1914 . . . . 180 Abbildung 2: Auszug der Russen aus Bad Kissingen, 24. August 1914 . . . . 181 Abbildung 3: Hauptstraße des Internierungslagers Holzminden, ohne Datum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
758
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Tabellen Tabelle 1: Ortsanwesende ausländische Staatsangehörige im Deutschen Reich, 1910, 1905, 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Tabelle 2: Durch die Arbeiterzentrale legitimierte russländische Saisonarbeiter/innen im Deutschen Reich, 31. Juli 1914 . . . . . . . 74 Tabelle 3: Polizeidirektion München, Umgang mit feindlichen Ausländer/innen nach dem Kriegsmin.-Erlass vom 6. August 1914 und dem Min.-Entschl. vom 9. August 1914 (leicht gekürzte Abschrift) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Tabelle 4: Zusammenstellung der ausgewiesenen und in Dresden befindlichen Ausländer/innen, 9. Februar 1915 . . . . . . . . . . . . . . 233 Tabelle 5: Ausländische Studierende an Universitäten im Deutschen Reich, 1914 und 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Tabelle 6: Ausgewählte Verordnungen über die Behandlung ausländischer Privatpersonen und Unternehmen . . . . . . . . . . . . 425 Tabelle 7: Aufsichten, Zwangsverwaltungen und angeordnete Liquidationen in ausgewählten Bundesstaaten . . . . . . . . . . . . . . . 434 Tabelle 8: Ausländische Staatsangehörige im Deutschen Reich nach ihrem Beruf, 1. Dezember 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Tabelle 9: An ausländische Arbeiter/innen ausgegebene Legitimationskarten für die Landwirtschaft, 1914–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Tabelle 10: An ausländische Arbeiter/innen ausgegebene Legitimationskarten für die Industrie, 1914–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Tabelle 11: Französische Staatsangehörige im Deutschen Reich, Dezember 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Tabelle 12: Amtlich gemeldete internierte Zivilpersonen im Deutschen Reich, 1915–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 Tabelle 13: Belegung der Zivilgefangenenlager, Dezember 1916, August 1917 und Oktober 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Tabelle 14: Ortsanwesende Bevölkerung im Deutschen Reich, 1. Dezember 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 Tabelle 15: Entlassungen aus den Gefangenenlagern Holzminden, Havelberg, Rastatt und Ruhleben, 1. Dezember 1916 bis 15. August 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
Abkürzungen
AmhM Amtshauptmannschaft AA Auswärtiges Amt Abs. Abschrift Abt. Abteilung AK Armeekorps AHS Auskunfts- und Hilfsstelle für Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland ARH Ausschuss für Rat u. Hilfe in staats- und völkerrechtlichen Angelegenheiten für In- und Ausländer Azg. Auszug BArch Bundesarchiv BLHA Brandenburgisches Landeshauptarchiv BzA Bezirksamt Bkm. Bekanntmachung Ent. Entwurf EZA Evangelisches Zentralarchiv Gen. General Gkdo. Generalkommando Gr.H.Qu. Großes Hauptquartier GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz HVDJ Hilfsverein der Deutschen Juden HStA Hauptstaatsarchiv KdI Kammer des Innern KrhM Kreishauptmannschaft KM Kriegsministerium LAV Landesarchiv Leg.-Per. Legislaturperiode (S-)MdI (Staats-)Ministerium des Innern (S-)Min. (Staats-)Ministerium Okdo. in d. Marken Oberkommando in den Marken PAAA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes RAdI Reichsamt des Innern RHaushA Reichshaushaltsausschuss Reg.-Präs. Regierungspräsident RGBl. Reichsgesetzblatt
760
Abkürzungen
RT Deutscher Reichstag StA Staatsarchiv StdA Stadtarchiv Stv. Gkdo. Stellvertretendes Generalkommando Unterk.-Dep. Unterkunfts-Departement UKbR Unterstützungskomitee für bedürftige Russen Sten.Ber.RT Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte Sten.Ber.PHH Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses, Stenographische Berichte Werk d. UA Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages Ztga. Zeitungsausschnitt
Register
Personenregister Ackerberg, Jaan (Johann) 370 Acton, Dorothy 199 Adler, Noah 342 Agaeff, Wladimir 342 Albert, Heinrich 442 Alefeld, Hugo 198 Alfons XIII. (König von Spanien) 585 Atatürk, Mustafa Kemal 386 Augspurg, Anita 289 Backhaus, Alexander 622, 624 Baden, Maximilian von 608, 621 Bader (Rittmeister) 335 f. Baehl, Jean 399, 444 f. Balmer, Paul 218–220, 222 Bälz, Hana und Erwin 323 Bartenwerffer, Gustav von 65 Bäumer, Gertrud 285, 436 f. Bayly, William 426 Bebel, August 72 Becker, Heinrich 292 Beckerath, Gustav Adolf von 491 Bell, Winthrop P. 359 f. Belzer, Heinrich 185 Bergholz (US-amerikanischer Generalkonsul) 321 Bermühler, Anna 642 f. Bernhard (Polizeikommissar) 480–482 Bethmann Hollweg, Theobald von 58, 63, 71, 75 f., 78–80, 154, 195 f., 329, 356, 423, 427, 429, 467, 505, 553, 561, 649 Bevan Carr, Emmie 124, 235 Bey, Ali Fethi 386 Beyerle, Konrad 572 Binder, Heinrich 100 f. Bing, Henry 81 Birukov, Boris Ionovič 114, 141 f., 244, 347
Bissing, Moritz von 95 f., 261, 404, 467, 571 Blaurock, Hans 579 f. Blücher von Wahlstatt, Evelyn 96, 267 f., 292, 323 Blum, Bernhard 162 Blum, Nathan 142 Bluntschli, Johann Caspar 170 Bodel, Jules 564 Bodman, Heinrich von und zu 191, 194 f., 198, 211 f., 216, 220 f., 372, 528, 530, 533 f. Boehn, Hans von 447, 476 Bogdanowa, Nadeschda 286 f. Böhm, Franz 357 Boldt, Johanna 313, 435 Bollmer, Richard 192, 339, 341 f. Bornhak, Conrad 507 Boudinhon, André de 583 Braun, Franz und Heinrich 139 f. Brejski, Jan 494 Breslauer, Bernhard 259, 273, 448 Brettreich, Friedrich von 171–173, 178, 229 Breuer, Isaac 559 Broizem, Hermann von 120, 368, 401, 645 Buchern (San.-Sergeant) 644 Bullock Webster, F. 199 Bülow, Detlev von 72 Burgsdorff, Curt von 239–241, 367 Buttlar, Curt von 600 f., 604 f., 619 f. Büttner (Major) 172, 177, 179, 182 Cahen-Salvador, Georges 655 Canton, Mélanie 631 Carlier, Victor 580, 588 Carlowitz, Adolph von 127 f., 461, 528, 530 f., 533 Cassel, Ernest 252
762 Catalla, C. und Ludwig (Zivilinternierte) 213 Cattoire, Noël 687 Chambroux, Nikolaus 673 f. Chan[t]ton, Edmond 564 Claß, Heinrich 58 Cohen, Israel 549–551, 596 f., 671 f. Cohn, Oskar 284, 358, 386 f., 399, 430, 492, 538, 675, 677 Cole, Ernest 540 Colze, Leo 414 Cooper, Ethel 124–126, 235, 239, 321, 549, 711 Correvon, Charles 301 f. Dammann, Bruno 282 f., 285 f. Danneskiold-Samsöe, Knud Graf 611 Dannhorn, Hans 388 Dasnay, Henri 564 David, Eduard 307 f. Deedmeyer, Frank 322 Delbrück, Clemens von 22, 71, 73, 112 f., 464 Delbrück, Hans 289 Delcer, Charles 200 Delhay, Elisabeth 220 Delmer, Frederick Sefton 358, 399 Delmer, Sefton 358 f. Demesmaker, Edmund 491 Detolleneare, Eduard 94–96 Dexheimer, Paul 156 f. Dietz, Alexander 260 Dietzel, Johanne 388 Dill, Lisbeth 404, 637 Dinichert, Paul 655 Doegen, Wilhelm 140, 409, 575 Dolle, Max 118 Dörle, Hugo 128 f. Draudt, Paul 610–612 Drews, Bill 329 f., 471 Dröege, Annie 124 f., 350 f., 551, 596, 669, 677 Dryander, Gottfried von 66 Dubrowinsky, Simon 369 f. Duisberg, Carl 466, 565 Dumrath, Konrad 602 Dunger, Hermann 319 Dürholt (Mühlenbesitzer) 139 Dürrschnabel, Ernst 443 f. Dushesne (Zivilinternierter) 214
Register
Ebers, Godehard 420 Eckard, Walter 544 Ehrenberg, Richard 487 Eichstedt, Viktor von 566 Eisenhart-Rothe, Paul von 147 Ellinger, August 497 Ellison, Wallace 550 Erlandsen (dän. Inspekteur) 613 Erzberger, Matthias 494 Eßlen, Joseph 419 Eugster, Arthur 219, 299, 302, 591, 613–616, 633 Falkenhayn, Erich von 71, 91, 101 f., 546, 636 f. Faust, Israel 160 Fedin, Konstantin 719–726 Ferdinand I. (Zar von Bulgarien) 385 f. Ferrière, Frédéric 262 Feuerlein, Joseph 643 Fieser, Reinhard 379 f., 412 Fischer, August 111, 350 Fischer, Salomon 215 Fitzer (Kriegsgerichtsrat) 194 Flessa, Wilhelm 179, 223–231 Föge, Hermann 142, 162 Fontane, Theodor 509 Franklin, Benjamin 646 Franks, Imanuel und Rosa 209 f. Fransecky, Rudolf von 419, 607, 659 f. Freyer, Hektor 367, 374 Freytag-Loringhoven, Hugo von 562 f. Friedrich, Emil 212, 386 f., 422, 534, 563, 580 f., 608, 614, 621, 655, 672 f., 677 Friese, Otto 393 Frigo-Mosca, Oskar 124 f. Fuchs, Theobald von 172 f., 178 f., 183 Fuhrmann (Hauptmann) 136 Fulda, Ludwig 309, 319 f. Funck, Wilhelm 95 f. Fürstenberg, Fürstin Leontina zu 202 Gadegast, Käte 324 Gaede, Hans 72 f., 245, 336 f., 528, 555 Gaidelle, Clementine und Seduto 694 Gall, Karl Freiherr von 65 Garin (Zivilinternierter) 214 Garner, James W. 31
763
Personenregister
Gayl, Egon Freiherr von 113, 136 f., 314 f., 317, 320, 348, 404, 461 f., 473, 490, 495, 541 f., 645 f. Geigl, Ellen 643 f. Gente, Karl Ferdinand 341 Gerard, August 491 Gerard, James W. 19, 543–546, 610 f., 647, 649 f. Gerber, Clementine 693 f. Gieda, Josefa und Walka 694 Godfroy (Zivilinternierte) 213 Goldbeck (Kriminalkommissar) 93 f. Goldfeld, Leo 194 Gollek (Orchestermitglied) 376 f. Gothein, Eberhard 94 f. Grant Duff, Arthur 351 Griesinger, Julius 388 Groener, Wilhelm 26, 90, 465, 470, 472 Grosjean, Leon 157 f., 378 Grundherr, Ludwig von 110–112, 114, 128, 555 f. Grünfeld, Ernst 709 f. Grüninger (Landwehrmann) 214 Guilim, Johann 643 Günther, Richard 309, 320, 394 Gurka, Jan 482 Haase, Hugo 492 Habermaas, Hermann von 357 f. Haeck (Musiker) 379 Hagenlocher (Arbeiter) 502 Hale, Chandler 554 Hampe, Karl 92 f., 359 Hänisch, Karl Heinrich von 685 Harling, Burghard 636 Harnack, Adolf von 274 Hast (Regierungsrat) 432 Haupt, Max 340 f., 345 Häußner, Karl Josef 193 f., 336–338, 345 Heigelin, Karl 149 f., 152, 154, 160 f. Heine, Wolfgang 674 f. Heineken, Philipp 186 f. Held, Hermann J. 509–516, 520 Held, Theodor 405 f. Helfferich, Karl 146, 418 f., 467, 470 Helm, Otto 494 f. Henius, Erik 616 f. Hermanns, Friedrich 335–338, 349 Herrmann, Georg 221
Hershey, Amos S. 30 f. Hertsch, Wilhelm 502 f. Herwig (Arzt) 225 Hilferding, Rudolf 538 Hindenburg, Paul von 58, 453, 471, 565 f., 715 Hobert (Arzt) 399 Hobhouse, Emily 614 Hobhouse, Stephen 261 Hoff, von (Oberstleutnant) 334 Hoffmann, Conrad 611 Hoffmann, Ulrich 286 f. Hoffmeister, Rudolf 626, 632–635, 640, 642 Hofmann (Bezirksarzt) 388 Holzt, Alfred 366 f. Hommel, Henri 564 Hues, Otto 495 Isbert, August 136, 159 Ivers, Franz 390–393 Jägerhuber, L. (Jurist) 350 Jagow, Gottlieb von 289 Jagow, Traugott von 82, 96 f., 103, 126, 132, 183 f., 313 f., 412 f., 452, 542 f., 551 Jandot (Zivilinternierter) 214 Janiaczyk, Tomasz 480–482, 491 Jastrow, Ignaz 87 Jephson, Harriet 243 f. Jockschuss, Patronella 589 Jonas, Hans 391–393 Jung, Walther 65 Kafka, Franz 524 Kahn, Bernhard 258 f., 270, 273, 277–283, 291 f., 304 Kalmus, Sigmund 644 Karabčevskij, Nikolaj Platonovič 142, 347, 350, 399, 439, 444 Karbownik, Marianne 482 Karl I. (Kaiser von Österreich) 39 Katzenelsohn, Cäcilie 361 Keil, Karl 632 Keller, Friedrich von 655, 659 Kessel, Gustav von 71, 120, 184, 386, 462 f., 472, 529 Kessler, Harry Graf von 83, 87 Keßler (Regierungsrat) 387–389 Kisch, Egon Erwin 726
764 Klujeff (Delegierte d. Roten Kreuzes) 611 Koettig, Paul 191 f., 531 f. Kohler, Josef 522 f. Königsmarck, Otto von 325 f. Kopetoski, Johann 138 f. Krengel, Marianne 342 Kresse, Oskar 309, 319 Kreß von Kressenstein, Otto 174, 453, 527, 529 f. Kretzschmar, Hermann 385 Kriege, Johannes 287, 555, 560 Kruse, Francis 157, 315, 378, 426 f., 462 Kühlwetter, von (Major) 683 Kühn, Joachim 621 f. Kulifer, Marie 694 Kuverran, Johann 140 Laband, Paul 522 f. Lange, Rudolf 358 f. Lankisch, Linna 589 Lansing, Robert 648 Latarges, Fernand 687 Laube, Richard 401 Léderrey, Ernest 697 Lefèvre, Victor 687 Leggett, Arthur 402 Legien, Carl 496 Legler, Theodor Gustav 340 Lehr, Robert 502 f. Lepsius, Johannes 154 Levy, Hermann 539 Lewald, Theodor 64, 78, 121 f., 371, 373, 448, 469, 556 Lheurs, Karl 157 Liebknecht, Karl 399 Lindemann, Hugo 248 Linde-Suden, Wilhelm von 190 Lindley, William 540 Linsingen, Thilo von 93 f., 97 Loebell, Friedrich Wilhelm von 79, 84, 132, 319, 328, 555, 654, 664–666 Loewenfeld, Alfred von 97 Lorenz, Adolf 209 Lübke, Walter 444 Lucius, Herbert 669 f. Ludendorff, Erich 58, 284, 453, 466 f., 503, 561 f., 565 f., 645, 685 f., 715 Ludwig III. (König von Bayern) 66, 385 Lumm, Carl von 418
Register
Luzky, Ida und Lasar 160 Lyncker, Moriz von 308 Lyncker, Alfred Freiherr von 476 Macintosh, William 199 Mackenzie, John 540 Mahler, Philipp Kilian 670 Mailänder, Karl 163 f., 436, 500 Malvicini (Arbeiter) 502 Mandel, Etel 247 f. Manteuffel, Kurt von 171, 189, 232 f., 235, 244, 278, 379 f., 396, 544–547, 550, 555– 557, 664, 666 Marel, Sophie 387 Marteau, Henri und Blanche 164, 383–390 Martin, Paul 214 Marval, Carle de 614–616 Massenbach, Adolf von 65 Mayer, Kurt 644 McCarthy, Daniel J. 611, 614 f. Medwedowski, Ephraim 642 f. Mehnert, Paul 498 Melchior (Oberstleutnant) 211 f., 541 f. Meurer, Christian 400, 506, 514–519, 551, 575 f., 709, 720 Meyerhoff (Hauptmann) 189 f. Mihaly, Jo (Elfriede Alice Kuhr) 83 f., 317 f. Millet (Zivilinternierter) 214 Möhler, Ludwig 433 Möller, Ludwig 489 Möller, Rudolf 556 Moltke, Helmuth von 526 Moltke, Otto von 76 Morrison Williams, Henry 98 Moßig, Richard 307 Mosse, Rudolf 289 Mühsam, Erich 81 f., 86 Müller, Kurt Alfred und Curt Hermann 663 f. Müller, Siegfried 291 Müller (Hauptmann d. L. a. D.) 152, 499 Müller-Meiningen, Ernst 523 Muth, Albert 202 Nathan, Paul 257–259, 268, 270–273, 282, 291, 303 f. Neisser, Albert 360 f. Nekljudow, Anatoli Wassilewitsch 280 Neuhaus, Albert 431
Personenregister
Neuhof, Kurt 65 Nicolai, Walter 67, 70, 87 f., 96 f., 100–102, 525 Nicole, Albert 264, 290 f. Niedner, Johannes 515 f. Nikolai (Regierungsassessor) 190 Nizon, Victor 564 Oehler, Adalbert 132 f., 157 f., 235–237, 378, 412, 503 Oehme, Lina 369 Oer, Max von 191 Oeste (Offizier) 590 f., 599–604, 609 Ohlendorff, Heinrich Freiherr von 480 Oldershausen, Freiherr von (Major) 179 Opel, Louis 350 Oppen, Heinrich von 132, 503 Oppersdorff, Hans Georg von 145, 189 Orchechowsky (Zivilinternierter) 214 Orjewsky, Natalie 616 f. Ossietzky, Carl von 726 Otto, Paul von 632–635 Paasche, Hermann 498 Pabst von Ohain, Walter 581, 655, 659, 661 Page, Walter 546 Paquet, Alfons 299 f. Pastel (Uhrmacher) 564 Paulssen, Arnold 546 f. Pauschinger (Oberst) 160 f. Perlen, Frida 249, 267 f. Perron, Marie 693 f. Peters, Carl 413 f., 535 f., 539, 544, 553, 618 Peterson, Otto 268, 274–278, 288 f., 292 Pflugradt (Generalmajor z. D.) 599, 640 Pfordten, Theodor von der 407, 564, 590 f., 601, 603–605, 639 f., 642 f., 682, 688 f. Pilnik, Isaak 435 Pirenne, Henri 571, 588, 594 Pless, Daisy von 96 f. Ploetz, Paul von 527 f., 685 Pogge auf Möderitz, Carl 77 Powell, Joseph 606 Randartschyk (Arbeiter) 156 f. Rathenau, Walther 466, 565 Reck, Heinrich von 158, 237, 322, 338 Reid (Offizier) 602 f. Reinhardt (Oberpfarrer) 634
765 Rennenkampff, Paul von 36 Reverdys (Major a. D.) 642 Richter, Hans 385 Riezler, Kurt 329 Ritter, Konrad 399, 439 Rizoff, Dimitri 388 Roehl, Maximilian von 72, 424, 436 f., 541– 543 Rolewski (Kaplan) 265 Rolland, Romain 262 Romanow, Nikolai Nikolajewitsch 328 Rommevaux (Zivilinternierter) 214 Roscher, Gustav 107, 109, 114 Rosenthal, Joseph 266 Röthlisberger, Ernst 246 Rotten, Elisabeth 261 f., 268, 270, 284–294, 296–300, 564, 590–592 Rubin, Victor 267 f., 292, 298, 342 f., 369 Rucks, Richard 391 Sachse, Arnold 317 Safian, David 642 f. Saldaz (Zivilinternierter) 214 Saldern, Achaz von 65 f. Sarrazin, Richard 463 f. Saslawski, Moisei 139 f. Schachian, Herbert 447 Schaible, Alexander 201–205, 207–211, 213, 215–221, 224 f., 230, 346 Schelhorn, A. von (Regierungsassessor) 465 Schewtschik, Jakob 264, 292 Schilling, Karl 156 Schlayer, Max von 523 Schmidt, Bernhard 366 Schmidt, Eberhard 419 Schmidt, Friedrich 376 Schmidt, Richard 493 Scholz, Franz 33, 416 Schön, Friedrich 200, 202 f., 205, 217, 221 Schönherr, Albert 94 Schönhub, Gustav Freiherr von 564 f. Schopper, Max 449 Schröder (Beigeordneter) 133, 324 Schröder, Carl August 437 Schübe, von (Generalmajor) 574 Schücking, Walther 419, 517 Schulgin, Ch. (Zivilinternierte/r) 217 Schülin, Erwin 205–208, 211, 221 Schulte, Karl Josef 263
766 Schulthess, Anton von 616 Schultze, Carl 541 Schulze-Gaevernitz, Gerhart von 494 Schwarck (Gutsbesitzer) 480 f. Schweinitz, Georg Hermann von 428, 430, 632, 645 Schweizer (Wachkommando-Führer) 212– 215 Selcke, Emil 535 f., 542, 553, 618 Senechal, Blanche 342 Siegmund-Schultze, Friedrich 260, 291–295 Silbergleit, Paul 142 Silva Pais, Sidónio da 388 Simon, James 259, 270–273, 276, 282 Simonoff, Leonid 371 Soden(-Fraunhofen), Maximilian von 87 f., 110, 174–179, 223, 227, 356, 449 f., 458 Sommer, Lucie 127 Soskin, Gregor 390 f. Soskin, Vera 390–393 Spiegel, Karl 486, 495 Spiropulos, Jean 53, 509, 512–516, 520 Stach, Adolf 643 f. Stange, Carl 572 Stanojewitsch, Uresch 643 f. Steigertahl, Georg 309 Stein, Hermann von 476, 561, 677–680 Stengel, Karl von 513 f. Stennebrüggen, Alfons 379 f. Stinnes, Hugo 565 Stobäus, Oskar 227 Stoedten, Hellmuth Lucius von 280 Stücklen, Daniel 165, 674 Tabozisky, S. (Zivilinternierte/r) 217 Tann(-Rathsamhausen), Luitpold von der 120 f., 176, 460 f., 483, 498 f., 689 Thirion, Pauline 631 Thomas, Adrienne 631 Tigges, Eduard 581 Tirpitz, Alfred von 555 Todd, Robert 670 Tombarell (Zivilinternierter) 213 Trąmpczyński, Wojciech 473, 492–494 Trott zu Solz, August von 356, 372, 385, 389 Tülff von Tschepe, Franz 70
Register
Ullstein, Herrmann 289 Ulmer (Hauptmann) 642 Ustimenko (Zivilinternierter) 644 Vanat, Prosper 564 Vanselow, Ernst 544 Vermetten (belg. Familie) 95 Vietinghoff, Hermann von 278 f. Vieweg, Johannes 596 Vijil, César 372 Vitzthum von Eckstädt, Christoph 134, 368 f. Vogel, Minna Ida 394 f. Vogelstein, Hermann 266 Wadler (Leutnant) 474 Waitz (Major) 347 Wandel, Franz von 63, 567 f., 612 f., 672 f., 675 f. Warburg, Max 289 Weber, Hans 578, 608, 635 f., 640 f., 686, 697 Weitzel, Otto 363–366 Wermuth, Adolf 98 f. Wiaderny, Felix 482 Wicklandt, Jahn 369 f. Wikopp (Hauptmann) 640 Wild, Ursula 643 f. Wild von Hohenborn, Adolf 21, 453, 561 Wilhelm II. (Deutscher Kaiser und König von Preußen) 66, 76, 252, 270, 278, 292, 318, 385, 503, 545 Wilhelm II. (König von Württemberg) 249 Wilsdorf, Carl Viktor von 243 Wilson, Woodrow 432, 648 Wirth, Josef 690 f. Woitschick, Karl 140 Woldmann, Max 133 f. Wolff, Theodor 284 Wrisberg, Ernst von 138, 144, 453, 464, 470 Xylander, Oskar von 321 Zalik, Marie 694 Zimmermann, Arthur 273, 386, 647 f. Zweig, Stefan 262
767
Ortsregister
Ortsregister Aachen 527 Allenstein (Olsztyn) 232 Altengrabow (Gefangenenlager) 304 Amberg (Gefangenenlager) 616 Ansbach 159 Antwerpen 85 Bad Harzburg 179 Bad Homburg 141 f., 244, 347, 350, 399, 439, 444 f., 570 Bad Kissingen 171–183, 196, 223 f., 226–229, 231 Bad Nauheim 179 Bad Salzbrunn (Szczawno-Zdrój) 352 f. Bad Tölz 111 f. Baden (Baden-Baden) 179, 193 f., 198 f., 209, 217, 232, 237, 245, 254, 322, 331, 335–338, 379 f., 412, 528, 670 Badenweiler 197, 200 Ban-Saint-Martin 317 Barmen 253 f. Basel 301 Bautzen 532, 574, 616 Beeskow 87 Belgrad 258 Bentheim 245 Berlin 18, 54, 82, 87, 91, 96, 98, 101, 103, 114, 117, 122, 126, 132 f., 135, 141, 146, 148, 154 f., 164, 171, 183 f., 189, 219, 246 f., 252, 255 f., 258–261, 268, 270, 273–278, 283, 293, 296, 312–315, 322, 344, 347, 352, 354, 358, 373, 382–386, 390–393, 397, 399, 404, 410, 412 f., 439– 441, 447 f., 450, 452 f., 476, 479, 489, 498, 503, 542 f., 547–551, 610, 614, 623, 668 f., 677, 681, 712 f., 719 Bern 301, 614, 647, 651, 655 f., 662 Birkholz bei Tangerhütte 82 Bischofswerda (Gefangenenlager) 616 Blankenburg (Gefangenenlager) 385, 616 Bonn 540 Braunschweig 242 Bremen 86, 88, 99, 186 f., 232, 352, 489, 502 Bremerhaven 109 Breslau (Wrocław) 18, 84, 196, 232, 671 Brüssel 474, 684, 691, 693 Burg bei Magdeburg (Gefangenenlager) 385
Burgstädt (Internierungslager und Stadt) 239–241 Bütow (Bytów, Gefangenenlager) 297, 573 Calw 334 f. Celle (Internierungslager) 190, 386, 571, 575, 599 Chemnitz 235, 238 f., 260, 322, 344–346, 443, 449, 532 Coburg (Gefangenenlager Hassenberg) 573, 617 Danzig (Gdańsk) 232, 406 Den Haag 261, 512, 662 Diedenhofen (Thionville, Gefangenenlager) 232, 430 Dieuze 317 Döberitz (Gefangenenlager) 385, 610, 623 Donaueschingen (Internierungslager und Stadt) 191, 197–224, 240 f., 247, 254, 321, 346, 528, 548, 708 Dresden 17, 87, 92, 100, 109, 114 f., 124, 135, 161, 163, 190–192, 232–234, 267, 293, 309– 311, 319–322, 342–344, 351 f., 369, 401, 432, 435, 531 f., 540 f., 551, 637, 670, 719, 723 Düsseldorf 18, 92, 94, 132 f., 136, 157 f., 232, 235 f., 311 f., 314 f., 378, 426, 450 f., 487– 489, 491, 502 f. Eisenach 124 f., 136 Elberfeld 94 f., 152, 158 f., 253 Ensheim 156 f. Erfurt 136, 140 Erkrath 133, 136, 488 Essen 153, 232 Flensburg 140 Frankenberg i. Sa. 531 Frankfurt a. M. 123, 141, 200, 204, 211, 219, 232, 243 f., 260, 265–267, 294, 299, 300 f., 303, 312, 540, 559 Freiberg i. Sa. 192, 238, 298, 323, 339–344, 346, 395, 530 Freiburg i. Br. 152, 197 f., 200–202, 204 f. Friedrichshafen 17, 232 Genf 246, 290, 509 Gießen 141 f., 361, 368
768 Glauchau 394 f. Goldap (Gołdap) 89 Görlitz 116, 611, 633 Gotha 136, 232 Göttingen (Gefangenenlager und Stadt) 141–143, 162, 359 f., 362, 368, 373, 572 Grabow (Grabów nad Prosną) 121 Grimma 235 Gross-Poritsch (Porajów, Gefangenenlager) 569, 573, 723 Guben (Gefangenenlager und Stadt) 566, 633 Gütersloh (Gefangenenlager) 96, 571, 616 f. Haan 426 Hademstorf (Gefangenenlager) 189 f. Haderslund (Haderslev) 140 Hainichen 346 Halle (Saale) 235, 616, 709 Hamburg 18, 98, 102, 107, 109, 140, 186, 232, 247, 254, 312–314, 320, 424, 435– 437, 442, 480, 496 f., 501, 540–542, 576, 667–669 Hammelburg (Gefangenenlager) 175 Hanau 378 Havelberg (Internierungslager und Stadt) 286, 290, 297, 459, 463, 567 f., 571, 573–575, 579 f., 585, 588 f., 593 f., 620, 634, 637, 686, 693, 696 f., 708, 713 Hayes 433 Heidelberg 92 f., 191, 204, 211, 359, 368 Heilbronn (Gefangenenlager) 267 Hermsdorf 350 Heuberg (Gefangenenlager) 235, 239, 605 f. Hildesheim 124, 350, 669 Hirschberg 405 Hochemmerich 488 Hof 557 f. Hohenheim (Gefängnisanstalt) 366 Holzminden (Internierungslager und Stadt) 218, 234, 242, 290, 297, 374, 459, 482, 507, 557–559, 562, 564, 567, 570 f., 573–575, 578, 580, 583–589, 591–596, 598–607, 618–620, 622–626, 632–636, 638, 640, 642, 673 f., 686, 693 f., 696, 708 Ilmenau 139 f. Ingolstadt (Gefangenenlager) 564 f.
Register
Insterburg (Tschernjachowsk) 89 Ismaning 176 Janow (Janów Lubelski) 140 Jena 368, 515, 552 f. Karlsruhe 123 f., 164, 191, 194, 204, 211, 362–366, 450, 559 Kassel 158, 572 Kiel 188, 232 Kleve 140 Koblenz 527 Köln (Cöln) 139, 170, 232, 380 f., 462, 527, 536 f. Königsberg i. Pr. (Kaliningrad) 18, 184, 232, 265 f., 297, 399 Königsbrück (Gefangenenlager) 637 Königstein i. Sa. (Gefangenenlager) 193, 339 Konitz (Chojnice) 351 Konstantinopel (Istanbul) 63, 258 Konstanz 92, 106 f., 185 f., 188, 194, 200, 247 Kopenhagen 189, 246, 653 Krefeld (Gefangenenlager) 571 Kreuzlingen 107 Kulmbach (Festung Plassenburg) 174, 177, 179, 182, 223–231, 548, 708 Landau i. d. Pfalz 627–631 Lauban (Lubań, Internierungslager) 290, 297, 571, 573, 578, 591 f., 616 Leipzig 85–89, 124, 140, 232, 235, 239, 306 f., 312, 321, 344, 352, 433, 443, 532, 549 Lennep 133, 253 f., 324 Leuven 391 Lichtenberg 164, 384–389 Lichtenfels 224 Liegnitz (Legnica) 232, 479 f. Lindau 105, 190 f. Löbau (Oberlausitz) 238 Lockstedt (Truppenübungsplatz) 539 Lodz (Łódź) 454 London 42–44, 46, 83, 86, 261, 295, 331, 359, 511, 526, 535, 538–540, 542, 553 f., 663, 668, 716 Lörrach 128 Lübzin 77 Ludwigsburg 616
769
Ortsregister
Mainz 423 Malmedy 326 Mannheim 204, 232, 256, 694 Marienwerder (Kwidzyn) 122, 156, 159 Medjouna (Marokko) 560 Meißen 191, 486, 669 f. Merseburg (Gefangenenlager) 404, 616, 637 Metz 83, 232, 324, 631 Minden 171 Mitau (Jelgava) 559 Mittweida 242, 366–371, 374, 530, 670 Moskau 36 f., 46, 716, 719 München 13, 17, 105, 110 f., 114, 126–128, 130 f., 176, 248, 314, 361, 474, 548, 555, 628, 642, 644, 673, 690, 697, 701 München-Gladbach 332 f., 540 Neapel 46 f. Neugersdorf 94 Newbury (Internierungslager) 535, 542 Nordenham 187 Nürnberg 155, 160 f., 175 f., 353, 616, 719 Ohrdruf (Gefangenenlager) 637 Paris 48 f., 85, 170, 508, 583, 712, 716 Pforzheim 237 f. Plauen i. V. 450, 667 Posen (Poznań) 139, 232, 479, 611 Potsdam 232 Radevormwald 138 f. Rastatt (Internierungslager) 195, 219, 221, 301, 570, 572 f., 575, 577 f., 588, 591, 602, 622, 682, 686, 693–696 Reetz 385 f. Rémilly 317 Remscheid 235, 253, 636 Riesa 235 Rom 46 f. Rostock 189, 232, 292 Rotterdam 187 Ruhleben b. Berlin (Internierungslager) 54, 61, 122, 126, 234, 285, 292, 358, 399, 433, 450, 507, 547–549, 551, 569 f., 573, 575, 585, 588, 596–598, 606, 628, 650, 653, 664–669, 671 f., 674–677, 681, 693, 708
Sachsenburg (Gefängnisanstalt) 193, 366, 370, 531 f. Salzwedel 572 Sankt Ingbert 156 f., 159 Sankt Petersburg (Petrograd) 36, 94, 274, 343 f. Saratow 141, 719 Saßnitz 274, 278 Schaffhausen 245 f., 651 Schneidemühl (Piła) 83 f., 232 Schöningen 352 Schöppenstedt 352 Schweinfurt 179 Skalmierschütz (Nowe Skalmierzyce, Gefangenenlager) 573 Sofia 258, 386 Solingen 253, 486, 495 Speyer 159, 628 Stettin (Szczecin) 232, 278 f., 348, 494 f. Stockholm 246, 280 Straßburg 190, 219 f., 232, 389, 628 Stuttgart 17 f., 163 f., 247 f., 330 f., 403, 435 f., 499–501, 616 Thessaloniki 258 Thalerhof (Internierungslager) 38 f. Tilsit (Sowetsk) 324 Todtnau (Schwarzwald) 202 Torgau 616 Traunstein (Internierungslager und Stadt) 54, 152, 407, 499, 563 f., 574 f., 578, 582, 585, 590, 601, 605, 608, 622, 624, 626, 635 f., 638–645, 659, 666, 686 f., 689–691, 697, 708 Trelleborg 274 Trier 232, 527 Tübingen 377 Ulm (Gefangenenlager) 267 Untertürkheim 502 Villingen 200, 215, 217 f., 254, 362, 366, 528 Wakefield (Internierungslager) 510 Waldheim (Gefängnisanstalt) 242, 370 Warschau 146 Weinstetten 694 Wetzlar (Gefangenenlager) 572 Wieluń 138 f.
770 Wien 209, 219, 716 Wismar 370 f. Woltershausen 350 f. Wünsdorf (Gefangenenlager) 572 Würzburg 89, 172 f. Wurzen 235, 238 Zittau 573, 719 f. Zoppot (Sobot) 133 f., 136 Zossen (Gefangenenlager) 264, 572 Zürich 301 Zwickau 370, 569, 631 f.
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