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German Pages 281 [286] Year 2015
Gesichter des Ersten Weltkrieges e
von Melanie Ruff MedGG-Beiheft 55
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Gesichter des Ersten Weltkrieges
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 55
Gesichter des Ersten Weltkrieges Alltag, Biografien und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Soldaten von Melanie Ruff
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2015
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH
Coverabbildung: Krankenbett: Die Westdeutsche Kieferklinik zum 9. Januar 1928, Stadtarchiv Düsseldorf, Signatur 5_0_2_632.0000
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11058-7 (Print) ISBN 978-3-515-11059-4 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ........................................................... Zusammenfassung ........................................................................................... Abstract ............................................................................................................ Vorwort.............................................................................................................
8 11 12 13
1. Einleitung ................................................................................................... 1.1 Fragestellung....................................................................................... 1.2 Forschungsstand ................................................................................. 1.3 Methode .............................................................................................. 1.4 Quellen ............................................................................................... 1.5 Aufbau.................................................................................................
15 16 17 23 24 26
2. Rahmenbedingungen: Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges .............................................................. 2.1 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor dem Ersten Weltkrieg ................................................................................. 2.2 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 1914–1918.................... 2.2.1 Das Sanitätswesen ................................................................... 2.2.2 Die Waffen ............................................................................... 2.2.3 Die Behandlungsmethoden ................................................... 2.2.4 Die Zahl der Verwundeten..................................................... 2.2.5 Die Behandlungsorte .............................................................. 2.2.6 Wissenschaft und die Rolle der Patienten als Versuchsobjekte ...................................................................... 2.3 Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie ........................................................................ 3. Der gesichtsverletzte Soldat: Darstellungen von Gesichtsverletzten in der Medizin und Öffentlichkeit ........................................................... 3.1 Fachzeitschriften................................................................................. 3.1.1 Darstellungsstile ...................................................................... 3.2 Der Gesichtsverletzte als Patient und Soldat in medizinischen Schriften .............................................................................................. 3.3 Die Verletzung als Bedrohung für das weitere Leben .................... 3.4 Wiederherstellungsangebote der Medizin ....................................... 3.5 Der erfolgreiche Abschluss der Behandlung ................................... 3.6 Die Medizin informiert: Darstellungen von Gesichtsverletzten in populären Medien ......................................................................... 3.6.1 Die Umschau. Über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik ............................................................................. 3.6.2 Wiener Illustrierte Wochenschrift ......................................... 3.7 Kriegsgegner und die Rolle des gesichtsverletzten Soldaten in bildender Kunst, Literatur und Ausstellung................................
27 27 35 35 36 37 37 38 40 50 52 55 57 63 67 72 76 78 79 82 84
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Inhaltsverzeichnis
3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4
Andreas Latzko: Menschen im Krieg ........................................ 84 Otto Dix: die Figur des Gesichtsverletzten .......................... 89 Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege ............................................ 93 Der Anti-Kriegsheld in den Ausstellungen im 21. Jahrhundert ........................................................................ 98 Exkurs: Der Wegsperrmythos........................................................... 101 3.8 Resümee: Der gesichtsverletzte Soldat ............................................ 104 4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten ......... 4.1 Verwundung – Verbandsplatz – Feldlazarett ................................... 4.1.2 Erste Behandlungsschritte ........................................................ Exkurs: Kriegszahnklinik in Lublin ..................................................... 4.2 Behandlung im Hinterland ............................................................... 4.2.1 Ankunft in den Kliniken ........................................................ 4.2.2 Einverständniserklärungen .................................................... 4.2.3 Gesichtsverletzte berichten von ihren Operationen............ 4.2.4 Tagesablauf .............................................................................. 4.2.5 Die Nachbehandlung.............................................................. 4.3 Körperpraktiken ................................................................................. 4.3.1 Das Essen ................................................................................. 4.3.2 Die Sprache ............................................................................. 4.3.3 Die Epithese ............................................................................ 4.4 Beschäftigungskonzepte..................................................................... 4.4.1 Freizeitgestaltung außerhalb des Lazarettes ......................... Exkurs: Soziale Auswirkungen einer Langzeitbehandlung ........... 4.4.2 Lohnarbeit ................................................................................. 4.5 Die Bemessung des Behandlungserfolges........................................ 4.5.1 Die Bewertungspraxis in Wien .............................................. 4.6 Resümee: Das Lazarett als Ort der ‚Wieder-Vermännlichung‘ .....
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern ..................................................................................................... 5.1 Briefe und Bildpostkarten ................................................................. 5.2 Fotoalben und Fotografien ................................................................ 5.2.3 Motive und Quantität ............................................................. 5.3 Erlebnisberichte ................................................................................... 5.4 Die Verletzung ..................................................................................... 5.4.1 Der Verband ............................................................................ 5.5 Die Behandlung ................................................................................. 5.6 Die Nahrungsaufnahme .................................................................... 5.7 Die Erholung ...................................................................................... 5.8 Die Unterhaltung ............................................................................... 5.8.1 Das Schachspiel....................................................................... 5.8.2 Die Musik ................................................................................ 5.9 Maskulinität und Soldatentum.......................................................... 5.9.1 Rauchen ...................................................................................
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Inhaltsverzeichnis
5.9.2 Humorvolle Darstellungen .................................................... 5.9.3 Kameradschaft ........................................................................ 5.10 Gesichtsverletzte berichten über ihre Kriegserlebnisse.................. 5.11 Resümee: Gesichtsverletzte Soldaten und ihre Interpretation des Geschehenen ............................................................................... 6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung ......................................... 6.1 Kurt P.: Die Behandlungszeit als Richtungsweiser ......................... 6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis ................................................... 6.2.1 Bezugspersonen....................................................................... 6.2.2 Verletzung und Öffentlichkeit ............................................... 6.2.3 Körperpraktiken im familiären Alltag .................................. 6.3 Josef N.: Familiäre Gewalt ................................................................ Exkurs: Das Reichsversorgungsgesetz ............................................. 6.3.1 Wie wurde im sozialen Umfeld über häusliche Gewalt gesprochen? ............................................................................. 6.3.2 Die Perspektive der Ärzte ...................................................... 6.4 August H.: Die Reaktion des privaten Umfeldes ........................... 6.4.1 Die Ehefrau sucht nach einer Erklärung .............................. 6.4.2 Wahrnehmung des sozialen Umfeldes.................................. 6.5 Karl K.: Ernährer der Familie .......................................................... 6.6 Josef K.: Das soziale Umfeld als Ersatzfamilie ................................ 6.7 Resümee: Lebensläufe .......................................................................
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7. Zusammenfassung und Perspektiven: Patienten mit Entstellungen zu Beginn des 20. Jahrhundert und jetzt ................................................. 257 8. Quellen und Literatur ............................................................................... 8.1 Archivalien ......................................................................................... 8.2 Gedruckte Quellen ............................................................................ 8.3 Literatur .............................................................................................. 8.4 Internetseiten ......................................................................................
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Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Abbildungen Abb. 1:
Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16:
Abb. 17:
Abb. 18:
Fotodokumentation der Behandlung. Von links nach rechts: Operativer Eingriff zur Gewinnung eines gestielten Lappens für den Weichteilersatz des Gesichts; Systematische Zeichnung des gestielten Hautlappens mit Nahtlinie; Patient nach fünf Operationen frontal und im Profil. Quelle: Gunnar Nyström (1912) S. 1001. ................................................... Bildunterschrift: „Ersatz der vernarbten Nasenhaut, Ohrenmuschelplastik“. Quelle: Lexer (1931) S. 219, Abbildung Nr. 595. ....................... Juljan Zilz in seinem Arbeitszimmer, 1914–1918. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).................................................................... Vier Abbildungen eines gesichtsverletzten Soldaten. Quelle: Heinrich Salomon (1916b), Tafel III. ............................................ Abbildung eines frisch verletzten Soldaten. Quelle: Athanas Puljo (1914) S. 337. ........................................................... Röntgenbild mit Projektil und Einschussrichtung. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).................................................................... Anatomische Zeichnung der Verletzung. Quelle: Juljan Zilz (1916a), Tafel II. ............................................................ Bilderserie von einer Gipsbüste und der dazugehörigen Patientenfotografie. Quelle: Juljan Zilz (1916a), Tafel V. .......................................... Herstellung von Moulagen in der Klinik Zilz. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).................................................................... Gesichtsverletzter bei der Ankunft im k. u. k. Reservespital Nr. 17. Quelle: Rudolf Weiser (1917) S. 19. ............................................................ Gesichtsverletzter bei der Ankunft im k. u. k. Reservespital Nr. 17. Quelle: Rudolf Weiser (1917), S. 13, Abbildung 6c. .................................. Fotoserie von gesichtsverletzten Männern in unterschiedlichen Stadien der Behandlung. Quelle: Heinrich Salomon (1916a), S. 149. ..... Links: Vorher-Nachher Abbildungen mit und ohne Prothese; Rechts: Theodor Henning bei der Anfertigung einer Prothese. Quelle: Wiener Illustrierte Wochenzeitung (1914–1918), S. 8. ................. Otto Dix, Die Skatspieler, 1920 .................................................................. Links: Otto Dix, Kriegsverletzter, 1922. Quelle: Maria Tatar (2000), S. 114; Rechts: Aquarell eines frisch Verletzten. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).................................................................... Links: Fotografie des Soldaten R. vom 27.9.1914. Quelle: Friedrich (2004), S. 213; Rechts: Derselbe Soldat in einer Vorher-Nachher Darstellung. Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland. ........ Rechts: Abbildung einer Kieferverletzung. Die Bildunterschrift lautet: „Die Zange des Arztes“. Quelle: Friedrich (2004) S. 214; Links: Verwundeter mit medizinischem Instrument im Mund. Quelle: Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 233. ................................................... Foto des Zahnmuseums Wien etwa 1937. Bis 2007 waren die Gipsbüsten der Gesichtsverletzten fast unverändert in dieser Form ausgestellt. Quelle: Fotonachlass Juljan Zilz (1914–1918). ............................................
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Abbildungen
Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30:
Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36: Abb. 37: Abb. 38: Abb. 39: Abb. 40: Abb. 41: Abb. 42: Abb. 43: Abb. 44:
„Eintreffen Kieferschussverletzte in der Kriegszahnklinik“. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).................................................................... „Skizze einer Aufstellung von Zahnärztlichen Anstalten im Felde“. Quelle: Juljan Zilz (1915b), S. 5. .................................................................. „Sonnenbestrahlung der Wunden“. Quelle: Christian Bruhn (1917) S. 33. ......................................................... Patient bei der Nahrungsaufnahme. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918). ..... Patient bekommt die Nahrung verabreicht, daneben, Patient flößt sich selbst die Nahrung ein. Quelle: Christian Bruhn (1917), S. 52–53. ................................................. Fotografie von Verwundeten in einer Kirche. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).................................................................... „In der Schreibstube des Lazarettes (Abt. Sternstraße)“. Quelle: Bruhn (o. J.), S. 7. ............................................................................. „Wissenschaftliche Aufnahmen (Abt. Sternstraße)“. Quelle: Bruhn (o. J.), S. 8. ............................................................................ links Schuhmacherwerkstatt, rechts Korbmacherei. Quelle: Bruhn (o. J.), S. 9–11. ...................................................................... Christian Bruhn (1917), S. 63. ...................................................................... „Im Garten der Lazarettabteilung Sternstraße“. Quelle: Christian Bruhn (1917), S. 64–65. ................................................. Margarethe Huß, Andenken an ihre Tätigkeit im Lazarett für Gesichtsverletzte. Text auf der Rückseite der Bildpostkarte: „An Schwester Deta: Düsseldorf, 12. Juni 1915, Zum Dank für Ihre aufopfernde u. liebenswürdige Tätigkeit, die Sie allen hier befindlichen Verwundeten zuteil kommen lassen. Möge Ihnen dies Geschenk ein bleibendes Andenken werden. Wilf. H.“. .................. Verwundete, Margarethe Huß (15. April 1915–24.März 1916). ............... „Schwerkrankenzimmer in der Kriegszahnklinik“, entnommen aus den Nachlass Zilz im Zahnmuseum Wien. ................................................ Margarethe Huß (15. April 1915–24.März 1916). ...................................... Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).......................................................... Brief Kurt P. an Frau Jaeckel, Charlottenburg, 14.4.1917, Kurt Post (1917b), S. 36. ............................................................................... Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916)...................................... Fotos aus dem Kapitel „Körperliche Übungen“. Quelle: Christian Bruhn (1917), S. 58–59. ................................................. Bildausschnitte zu den Abbildungen 32..................................................... Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).......................................................... Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).......................................................... Kurt P. (rechts auf dem Bild) vor seiner Verwundung, Tagebucharchiv Emmendingen, Sign.: 1578/I 1, S. 1. .............................. Karl H. mit seiner Frau am Hochzeitstag. Quelle: Karl H....................... Jacques Joseph (1918a), S. 465. ................................................................... Hans Behrbohm (2008), S. 52. ....................................................................
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Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3:
Behandlungsorte Deutschland und der k. u. k. Monarchie ....................... Liste der recherchierten Publikationen ...................................................... Motive auf den Fotografien und Bildpostkarten .......................................
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Zusammenfassung Im Zuge der Kampfhandlungen an den Fronten des Ersten Weltkrieges kam es durch den Einsatz neuer Geschosse zu spezifischen Gesichtsschussverletzungen, auf welche die militärische Führung und das Sanitätswesen nicht vorbereitet waren. Ärzte nahmen an, dass neben den Schmerzen, den Schwierigkeiten beim Essen und dem Unvermögen zu Sprechen, die Entstellungen im Gesicht besonders demoralisierend und auch oftmals traumatisierend auf die Soldaten wirkten. Untersucht werden in diesem Dissertationsprojekt die Handlungsspielräume und Biografien von gesichtsverletzten Soldaten des Ersten Weltkrieges in Zentraleuropa. Anhand eines heterogenen Quellenkorpus (Patienten-, Renten- und Verwaltungsakten, Selbstzeugnisse, Nachlässe von Ärzten, medizinische Fachliteratur und Fotografien) können die Handlungsräume aus sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten rekonstruiert werden. Diese setzen sich zusammen aus dem medizinischen Wissen der Zeit, den Intentionen der Akteure, dem Diskurs über die entstellten Gesichter, dem Alltag in den Lazaretten, den Selbstbildern der Patienten während der Behandlung sowie den, aufgrund der Verletzung im Gesicht neu zu erlernenden Körperpraktiken (Sprechen, Mimik, Essen und Körperpflege). Von den konkreten Umgangsweisen Betroffener und den daraus folgenden Biografien handelt schließlich der letzte Abschnitt. Es zeigte sich, dass die Gesichtsverletzten auf sehr individuelle Weise lernten, mit den ihnen zugefügten Verletzungen am Körper und der daraus resultierenden neuen Lebenssituation umzugehen. Aus diesem Umstand ergab sich die leitende Fragestellung: Kann das Bild des unter der Entstellung leidenden Gesichtsverletzten aufrechterhalten werden oder zeigen Selbstzeugnisse eine andere Perspektive auf?
Abstract The specific warfare and the fighting in trenches during the First World War lead to face injuries even doctors were shocked by. Thus, the military administration decided to reform the medical support in order to treat facial injuries more efficiently. Doctors assumed that in addition to pain, problems with food intake, the inability to speak and the disfigurement of the face were particularly demoralizing and traumatizing for the soldiers. This dissertation focuses on the scope of action and biographies of face injured soldiers during the First World War in Germany and the Habsburg Monarchy. On the basis of a heterogeneous corpus of sources (patient, retirement and administrative records, personal notes or documents, inheritance of doctors, medical publications and photographies) the life of face injured soldiers can be reconstructed from very different points of view. The topics covers are the medical knowledge of the time, the intentions of the actors, the discourse on the disfigured faces, everyday life in the hospitals, the self-images of the patient during treatment as well as body practices that had to be relearned (talking, facial expression, eating and personal care) due to the injury on his face. Builting upon the Analysies on the mentured topics, the last part deals with the main question: How did the injured soldiers deal with disfigurements? A review of existing patient files and autobiographical notes reveals different approaches soldiers took to come to terms with their facial injuries. There were patients whose complete resignation culminated in suicide and others who drafted self-confident designs for living.
Vorwort Mein erster Dank geht für die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die freundliche Begleitung der Dissertation an Prof. Dr. Robert Jütte vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) in Stuttgart. Ein Promotionsstipendium zur Patientengeschichte (Sozialgeschichte der Medizin), gefördert vom IGM, ermöglichte es mir, meine Archivrecherchen in verschiedenen deutschen und österreichischen Städten (Berlin, Düsseldorf, Emmendingen, Freiburg im Breisgau und Wien) durch zu führen. Ich danke in diesem Zusammenhang den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Archive und Institutionen, die mir das historische Material zugänglich gemacht haben. Für einige Hinweise bezüglich medizinhistorischer Methoden und Literatur danke ich Prof. Dr. Martin Dinges vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Für die persönlichen Gespräche, ohne die meine Arbeit um viele Aspekte ärmer gewesen wäre, danke ich der Zeitzeugin und Tochter eines Soldaten des Ersten Weltkrieges, Elisabeth Stader. Geduldig beantwortete sie meine Fragen, stellte Archivmaterial für mich zusammen und gab mir nützliche Tipps. Außerdem danke ich den Kolleginnen und Kollegen aus Wien und Stuttgart, mit denen ich über die Jahre Zwischenergebnisse des Arbeitsprozesses diskutieren konnte, die Textteile lasen und wertvolle Anmerkungen gaben. Im Besonderen möchte ich hier Dr. Mag. Evi Genetti, Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Dr. med. Sonia Horn, Mag. Jenny Linek, Mag. Birgit Nemec, Mag. Katrin Pilz, Dr. Reneé Winter und Dr. Jens Gründler danken. Mag. Dr. Gabriele Dorffner und Mag. Sabine Hannakampf haben dankenswerterweise die Endkorrektur übernommen. Ich danke weiterhin meinen Eltern, Sissi und Hubert Ruff, und meinen beiden Tanten Elfi und Gabi Ruff für ihre nicht enden wollende ideelle Unterstützung. Simone Melda danke ich herzlich für ihren andauernden liebevollen Rückhalt. Zum Schluss möchte ich mich ganz besonders bei ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Johanna Gehmacher vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien bedanken. Sie begleitete meine Arbeit, zuerst als Betreuerin und später als Mentorin, über viele Jahre. Ohne ihre kritische Lektüre und die vielen Hilfestellungen wäre die Arbeit nicht das, was sie jetzt ist. Ihr gilt mein tiefer Dank. Publikationen zum Thema Gesichtsrekonstruktionen, die nach dem Jänner 2014 erschienen sind, konnten für die vorliegende Studie nicht mehr berücksichtigt werden.
1. Einleitung „Lieber, verehrter Heinz Knobloch!1 Überflüssig, ,zu vermerken, daß ich Ihr Fan bin seit zwei Jahrzehnten. Ich will keine Phrasen loswerden. Vielmehr möchte ich versuchen, zur Abwechslung nun einmal Ihnen eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte meines Vaters, einen Teil davon, den gravierendsten seines Lebens: Mein Vater wurde als 24jähriger zwischen Arras und St. Quentin ‚16.6.15, Freitag, 3 Uhr 30, verwundet. Querschläger. Auge verletzt, Backenknochen zertrümmert, Nase halb ab. 5 Uhr 30 erster Verband im Schützengraben, zweiter in der Ferne, bewußtlos nach dem Feldlazarett sofort Operation.‘ (Tagebuch) Es war die erste von 20 Operationen. Er landete für Jahre in der Berliner Charité, wo ihm ein elfenbeinerner Oberkiefer und ein elfenbeinernes Nasenbein eingesetzt und durch Hauttransplantationen vom Oberschenkel her eine Nase und eine neue Gesichtshälfte geformt wurden. Es war keine „Schönheitsreparatur“, aber es war wenigstens ein Gesicht. Wahrscheinlich liebte mein Vater mich auch deswegen besonders, weil ich – von jeher an dieses Gesicht gewöhnt – es als selbstverständlich hinnahm, während ihn Fremde unentwegt anstarrten.“2
Dieser Auszug entstammt einem Brief von Inge M., der Tochter eines gesichtsverletzten Soldaten. Sie schrieb ihn 1985 an den Schriftsteller und Feuilletonisten, Heinz Knobloch, nachdem sie in der Wochenpost dessen Artikel über Jacques Joseph (1865–1934), plastischer Chirurg, gelesen hatte.3 Inge M.s Vater, Wilhelm M., wurde nach seiner Verletzung an der Berliner Charité behandelt und war Patient von Joseph, der später als „Wegbereiter der plastischen und rekonstruktiven Gesichtschirurgie“ Berühmtheit erlangte.4 Diese wenigen Zeilen vermitteln bereits einen ersten Eindruck von der Bedeutung einer derartigen Kriegsverletzung für das Leben eines jungen Mannes, der Behandlungszeit und dem Umgang des sozialen Umfeldes mit einer lebenslangen Gesichtsentstellung. Verglichen mit den militärischen Kampfhandlungen des 19. Jahrhunderts läutete der Erste Weltkrieg eine neue Dimension von Krieg ein. Die Massenheere, der Gebrauch von Maschinenwaffen sowie die Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte und Ressourcen brachten einen Krieg „in dem das entfesselte Destruktionspotenzial moderner Gesellschaften auf eine zutiefst erschreckende Art und Weise in Erscheinung trat“5, wie es Hans-Georg Hofer, Histo1 2 3
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Heinz Knobloch (1926–2003) war Feuilletonist und Schriftsteller. Er schrieb vor allem für die Wochenpost, die zwischen 1953 und 1996 wöchentlich in der DDR erschien. Inge Meyer (16.5.1985). Vgl. Inge Meyer (16.5.1985); Inge M. bezieht sich auf einen Feuilletonbeitrag von Heinz Knobloch in der Wochenpost Nr. 19 aus dem Jahr 1987. Knobloch hatte die Angewohnheit, seine Feuilletons zu überarbeiten und abermals zu publizieren. Noch im selben Jahr erschien der überarbeitete Beitrag mit dem Titel Der Noseph, in den Knobloch Inge M.s Leserbrief einarbeitete, im Buch Knobloch (1987), S. 176–178. Vgl. auch eine weitere Auflage Knobloch (2000), S. 230–234. Für diesen Hinweis danke ich Helmut Mehnert, dem Betreuer der Website http://www.heinz-knobloch.de/index.html. Briedigkeit (2006), S. 8. Hofer (2004), S. 185.
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1. Einleitung
riker, beschreibt. Im Ersten Weltkrieg waren in Deutschland und Österreich nach aktuellem Stand der Forschung knapp mehr als 700.000 überlebende Soldaten von Verwundungen betroffen.6 Gesichtsverletzungen stellten zwar mit etwa fünf bis 14 Prozent der Verwundeten nur eine unter vielen Formen der Kriegsverletzung dar, ihre Auswirkungen waren jedoch für die Betroffenen umso verheerender.7 Schon während der Behandlung stellte sich heraus, dass neben den Schmerzen, den Schwierigkeiten beim Essen und dem Unvermögen zu sprechen oder mimisch zu kommunizieren, die Entstellungen im Gesicht für viele der Soldaten besonders schwer zu ertragen waren. Eine Gesichtsverletzung zwang die Betroffenen – das zeigt auch das einleitende Zitat – den Umgang mit der ihnen zugefügten Verletzung am Körper und der daraus resultierenden neuen Lebenssituation zu erlernen. Um die individuelle Bewältigung und den daraus folgenden Biografien von Gesichtsverletzten soll es in der Arbeit gehen. 1.1 Fragestellung In meiner Dissertation nehme ich einen Perspektivenwechsel in der Forschung zur rekonstruktiven (Gesichts-)Chirurgie vor. Standen bisher die medizinischen Errungenschaften der plastischen oder rekonstruktiven Chirurgie im Vordergrund der wissenschaftlichen Aufarbeitung, so richtet sich mein Augenmerk hingegen auf die Frage, welche Ressourcen den Patienten während des Krieges zur Verfügung standen (→ Rahmenbedingungen), welche Diskurse über die Andersartigkeit dieser Patienten in der Fachschaft und der Öffentlichkeit entwickelt wurden (→ Darstellungen), wie sich der Behandlungsalltag in den Lazaretten des Ersten Weltkrieges gestaltete (→ Behandlungszeit), welchen Einfluss diese Aspekte auf die Selbstdarstellungen der Patienten hatten (→ Selbstbilder) und wie sich schließlich all diese Handlungsräume auf die Biografien der betroffenen Männer auswirkten (→ Biografien). Die Akteure meiner empirischen Forschungen sind daher nicht die berühmten Ärzte mit ihren Leistungen und beruflichen Biografien8, sondern die soldatischen Patienten, und mit ihnen die Personen ihres sozialen Umfeldes. Ich untersuche einerseits, welche Diskurse über gesichtsverletzte Männer9 (Soldaten) und deren Andersartigkeit entwickelt wurden und andererseits, welche sich bei den 6 7 8
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Vgl. Hirschfeld et al. (2009), Tabelle Kriegsverluste, S. 664–665. Vgl. Kapitel 2: Rahmenbedingungen. Es handelt sich hier ausschließlich um männliche Chirurgen und Zahnärzte. Während des Ersten Weltkrieges, beispielsweise in der Kriegszahnklinik in Lublin, wurden für den Kriegsdienst vereinzelt Zahnärztinnen aus Russland eingesetzt, ihre Auffassungen zur Lehre der Zahnheilkunde bzw. der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sind jedoch nicht überliefert. Ich untersuche ausnahmslos gesichtsverletzte Männer, die als Soldaten bei Kampfhandlungen verwundet wurden. Biografien von zivilen Kriegsopfern mit Gesichtsverletzungen oder von Personen mit Gesichtsentstellungen, die aus Krankheiten resultierten, und von denen auch Frauen betroffen waren, werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.
1.2 Forschungsstand
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betroffenen Personen herausgebildet haben. In der Analyse der Prozesse, in denen sich alle beteiligten Akteurinnen und Akteure10 Konzepte von ‚Andersartigkeit‘ angeeignet haben, richte ich ein besonderes Augenmerk auf Widersprüchlichkeiten und Brüche, aber auch auf Gemeinsamkeiten in den überlieferten Aussagen und Handlungen der jeweiligen Akteure. Individuelle Erlebnisse und die daraus entstehenden Biografien eignen sich für Verallgemeinerungen kaum. Dennoch kann herausgearbeitet werden, wie Biografien durch gesellschaftliche und historische Ereignisse, Diskurse und soziale Begebenheiten strukturiert wurden. Indem ich den Blick auf die Rezeption und Aneignung medizinischer und medialer Diskurse von Patienten richte, will ich die unterschiedlichen Einflüsse auf individuelle Entscheidungen herausarbeiten. Gleichzeitig wird damit auch aufgezeigt, dass individuelles Handeln trotz schwerer Verletzung und militärischen sowie gesellschaftlichen Zwängen möglich war und auch stattfand. Ziel der Arbeit ist es, die daraus entstandenen Biografien im Kontext zeitgenössischer Vorstellungen und Konzepte von Gesichtsverletzten mittels geschichtswissenschaftlicher Methoden herauszuarbeiten. Dabei besteht – wie bereits angedeutet – die Intention darin, den Umgang der Betroffenen mit ihren Verletzungen unter dem Blickwinkel der genannten Aspekte darzustellen. Das Handeln der Patienten wird so in keinen normativen Kontext eingebettet oder Strukturen und Vorschriften gegenübergestellt, sondern als voneinander beeinflusst und sich gegenseitig konstituierend wahrgenommen. Ebenso wenig verfolgt die Arbeit die Absicht, von individuellen Erfahrungen und Entscheidungen auf allgemein gültige Handlungsmuster von Menschen mit Entstellungen zu schließen. Gleichzeitig gilt zu vermeiden, die von Ärzten getroffenen Aussagen und die gesellschaftlichen Interpretationen von Andersartigkeit getrennt von den subjektiven Befindlichkeiten gesichtsverletzter Männer zu betrachten. Daraus ergibt sich das dieser Studie zu Grunde liegende Verständnis des gesichtsverletzten Mannes als aktives und selbstbestimmtes historisches Subjekt, dessen Handeln zwar durch Strukturen oder Diskurse geprägt, aber nicht fremdbestimmt war. 1.2 Forschungsstand Les blessés de la face de la Grande Guerre11 – so lautet der Untertitel des erstmals 1996 von der Historikerin Sophie Delaporte publizierten Buches, in welchem die Autorin die Geschichte von Gesichtsrekonstruktionen in Frankreich während des Ersten Weltkrieges darstellt. Grundlage des Buches ist der medizinische Nachlass des Service de Santé des Armées12, Musée du Val-De-Grâce (Paris Ve). Das Buch beginnt mit einer Schilderung erster Behandlungsschritte 10 11 12
Gemeint sind die Betroffenen mit ihren Familien, ihrem sozialen und beruflichen Umfeld wie auch ihre behandelnden Ärzte. Vgl. Delaporte (1996). Sanitätswesen der französischen Armee.
18
1. Einleitung
nach einer Verwundung und dem Abtransport der gesichtsverletzten Soldaten in die Lazarette. Im Anschluss daran beschreibt und erklärt Delaporte die unterschiedlichen Behandlungsmethoden der beteiligten Disziplinen. Der zweite Teil handelt vom Anspruch der Mediziner, durch rekonstruktive Operationen die Identität und den Gesichtsausdruck der Männer wiederherzustellen, von der Pflege in den Lazaretten und den Reaktionen der Familien auf die Verletzung. Analog zum deutschsprachigen Raum wurden Gesichtsverletzungen von französischen Ärzten als (soziales) Handicap bewertet, die Betroffenen selbst kamen diesbezüglich nicht zu Wort. Auch Delaporte nimmt, obgleich sich der Untertitel des Buches auf die Soldaten selbst bezieht, deren Perspektive nur vereinzelt ein. Im letzten und zugleich aufschlussreichsten Abschnitt rekonstruiert sie die Tätigkeit des Hinterbliebenenvereines Union des blessés de la face Les Gueules cassées, der seit 1921 besteht und bis heute eine Vereinszeitung herausgibt.13 Eine ähnliche Studie, die sich im Speziellen mit gesichtsverletzten Soldaten der Mittelstreitkräfte beschäftigt, steht noch aus.14 Diese Arbeit soll daher den ersten Schritt zur Schließung dieser Forschungslücke leisten. Mit dem Gillies Archives vom Queen Mary’s Hospital in Sidcup (England)15 gibt es für den englischsprachigen Raum Europas eine Forschungsstätte, die sich mit den Gesichtsverletzten der British Armed Forces des Ersten Weltkrieges auseinandersetzt. Das Archiv stellt mit seinem umfangreichen Bestand und der Bibliothek die zentrale themenbezogene Anlaufstelle für Historikerinnen und Historiker dar. Im Umfeld des Archiv entstanden nicht nur Forschungsarbeiten16 zu dem Thema, sondern auch Sonderausstellungen, wie das Projekt Facade17. Ein viel zitiertes Werk von den Anfängen der westlichen Gesichtsrekonstruktion im Kontext von Schönheitsoperationen ist nach wie vor das Buch Making the body beautiful. A cultural history of aesthetic surgery18 von Sander L. Gilman. Im Kapitel Noses at War setzt sich Gilman mit gesichtsverletzten Soldaten des Ersten Weltkrieges auseinander und vertritt die These, dass die Aberhunderte von Fotografien gesichtsverletzter Männern einen Teil des visuellen Gedächtnisses des Ersten Weltkrieges ausmachen – eine These, die sich auch in
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15 16 17 18
Vgl. Union des blessés de la face Les Gueules cassées (france) (2013). In den letzten Jahren erschienen mehrere Studien, die sich mit medizinhistorischen Themen im Kontext von Gesellschaft, Monarchie und Militär während des Ersten Weltkrieges befassten. Gesichtsverletzte spielen in diesen Arbeiten eine untergeordnete Rolle. Vgl. Hofer (2004); Biwald (2002); Köhne (2009); Kienitz (2008); Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2009); Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011); Bernd Ulrich (1993); Hoffmann (2007). Vgl. The Gillies Archives from Queen Mary’s Hospital, Sidcup, http://gilliesarchives. org.uk/, 11.11.2013. Vgl. Suzannah Biernoff (2011). Vgl. The Gillies Archives from Queen Mary’s Hospital, Sidcup, http://gilliesarchives. org.uk/, 11.11.2013. Vgl. Gilman (2001), S. 157–185.
1.2 Forschungsstand
19
anderen Studien immer wieder findet.19 Eine weitere Schlüsselthese ist Gilmans Feststellung, dass diese Männer in den Siegerländern zu Helden stilisiert wurden, wohingegen dieselbe Gruppe der Betroffenen in der Weimarer Republik20 zum Symbol der Grausamkeit kriegerischer Auseinandersetzungen wurde.21 Thematisch daran anknüpfend befasst sich Sabine Kienitz in ihrer 2008 als Buch erschienenen Habilitationsschrift Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923 mit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Kriegshinterbliebenen des Ersten Weltkrieges. Kienitzs Symbiose einer auf Körperlichkeit bezogenen symboltheoretischen Perspektive mit handlungsund erfahrungstheoretischen Gesichtspunkten aus der Kulturwissenschaft eröffnet nicht nur für die Gruppe der Kriegsbeschädigten neue Perspektiven, sondern ist auch für die hier behandelten Thema des gesellschaftlichen Umgangs mit gesichtsverletzten Männern schlüssig. Kienitz zeigt auf, wie der versehrte männliche Körper in der Nachkriegszeit zum Denkmal des Krieges wurde und gleichzeitig auch auf die Wirkung, das Ausmaß und die Brutalität der modernen Kriegsführung verwies. Je nach Intention der Betrachterinnen und Betrachter konnten diese Körper auch zum nationalen Symbol des deutschen Wiederaufbaus und des Sieges deutscher Ingenieurskunst in Verbindung mit einer medizinisch-technischen Überwindung der Kriegsfolgen werden. Mit derartigen Zuschreibungen von außen sahen sich auch die gesichtsverletzten Männer konfrontiert.22 Eine Orientierung hin zur Perspektive des Patienten bzw. des historischen Subjektes, wie sie auch für diese Studie zentral ist, vollzog sich erstmals in den 1980er Jahren mit der damals neu entstandenen Patientengeschichtsschreibung. Seinen Anfang nahm der Perspektivenwechsel mit der kulturtheoretischen Wende. Damit verbunden war eine stärkere Hinwendung zum historischen Subjekt als handelndes Individuum, wobei die Hauptkritik der Dominanz strukturalistischer Konzepte galt, die den Menschen und dessen Rolle in der Geschichte als tendenziell passiv verstanden. Es ging nunmehr um die Rekonstruktion der Beweggründe für menschliches Handeln, wie sich etwa Patienten selbst und ihre Körper wahrnahmen, für welche Behandlungen sie sich entschieden und welche sie ablehnten.23 In der Medizingeschichte führte der Perspektivenwechsel zu einer Verschiebung des Forschungsinteresses, weg von Strukturen oder Biografien einzelner Personen, meist von Ärzten oder berühmten Patienten, hin zu der Sicht der Patienten und deren Körper. Als Vorreiter hierfür kann der 1985 erstmals publizierte Aufsatz The Patient’s View.
19 Vgl. Michael Hagner (2000), S. 95; Kienitz (2002), S. 196. 20 Ähnliches gilt für Österreich. Vgl. dazu: Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011). 21 Vgl. Gilman (2001), S. 161–162; Vgl. auch: Sander L. Gilman (2000); Schmölders / Gilman (2000) und im Kontext jüdischer Identität und kritischer Weißseinsforschung: Gilman (2005). 22 Vgl. Kienitz (2008), S. 65–94; Kienitz (2002), S. 197. 23 Vgl. Ankele, S. 28–29.
20
1. Einleitung
Doing medical History from Below24 angeführt werden, in dem der Medizinhistoriker Roy Porter eine patientenorientierte Geschichtsschreibung forderte.25 Den Erfolg der akteur- bzw. patientenorientierten Forschung innerhalb der Medizingeschichte ist für die Medizinhistoriker Norbert Paul und Thomas Schlich auch „eng mit dem medizinkritischen, antiautoritären Impetus der 1970er und 1980er Jahre verbunden, in deren Gefolge die Selbstbestimmung des medizinischen Laien gegenüber der Deutungsmacht der Medizin eine höhere Bewertung erfuhr“26. Um dem Anspruch dieses Zugangs gerecht zu werden, mussten neue Quellen herangezogen werden, die bis dato eher unberücksichtigt blieben: Autobiografien, Briefe, Tagebücher, Notizen, die ganze Bandbreite der Selbstzeugnisse also. Aber auch Krankenakten und medizinische Fallbeispiele sollten die Erforschung von „Patientenwelten“27 und die Konzeption einer „Kulturgeschichte der Krankheit“28 ermöglichen.29 Die diskursanalytischen Arbeiten Michel Foucaults trugen mit der daraus entstandenen linguistischen Wende maßgeblich zu einem veränderten Blick auf das Quellenmaterial bei.30 Im Linguistic Turn stand die Sprachlichkeit jedes Zugangs zur Wirklichkeit im Vordergrund, und damit einhergehend jegliche Bedeutungskonstruktion. Konzepte von Körperlichkeit, Emotion, Erfahrung, Wahrnehmung, aber auch Wahnsinn und Krankheit konnten historisiert, pluralisiert und damit als kulturelle und gesellschaftliche Konstrukte fassbar gemacht werden. Daraus ergaben sich neue Fragestellungen, die anhand der Quellen abgearbeitet werden konnten und zugleich der Forderung, den Blick auf die „Sicht des Patienten“ und dessen gelebte Praxis zu richten, nachkommen konnten.31 In der deutschen Medizingeschichte hat sich eine patientenorientierte Geschichtsschreibung inzwischen als eigenes Forschungsfeld etabliert. Konstitutiv hierfür war die Entscheidung des renommierten außeruniversitären Institutes für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, Ende der 1990er Jahre einen der Forschungsschwerpunkte auf die patientenorientierte Geschichtsschreibung zu verlagern.32 Forschungsprojekten, die sich mit der Patientengeschichtsschreibung beschäftigten, bot sich damit eine Plattform für Diskussionen, Fortbildung und Forschung, auch ein Förderprogramm für Forschungsarbeiten wurde eingerichtet.33 24 25 26 27 28 29
Vgl. Porter (1985). Vgl. Porter (1985), S. 175; Ute Frevert (1987), S. 41. Paul et al. (1998), S. 20. Vgl. Lachmund/Stollberg (1995). Lachmund/Stollberg (1995), S. 16. Vgl. zu den Quellen einer patientenorientierten Medizingeschichte: Eckart/Jütte (2007), S. 181–190. 30 Vgl. Bachmann-Medick (2006), S. 7. 31 Vgl. u. a. Duden (1987); Lachmund/Stollberg (1995). 32 http://www.igm-bosch.de/content/language1/html/index.asp, 15.10.2013. 33 Auch diese Arbeit wurde von diesem Institut finanziert und von Robert Jütte, dem Institutsleiter, als Doktorvater betreut. Vgl. dazu auch: http://www.igm-bosch.de/content/ language1/html/index.asp, 15.10.2013.
1.2 Forschungsstand
21
Der Schritt zur Institutionalisierung steht bei den Disability Studies im deutschsprachigen Raum noch aus. Die Anliegen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dieses Fachgebietes ähneln in vielen Punkten jenen der am Patienten orientierten Medizingeschichtsschreibung, beziehen jedoch im Unterschied zu letzterer auch die Auseinandersetzung mit Konzepten von Andersartigkeit, die das Aussehen und die Wirkung der Betroffenen nach außen beschreibt, mit ein. Sie sind damit für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse. In den Disability Studies werden Menschen mit Beeinträchtigungen als handelnde historische Subjekte wahrgenommen, und der Blick richtet sich auf einzelne Personen und ihre Entscheidungen. Nicht nach dem Verständnis der Medizin oder anderer Interessensgruppen über die Gruppe der Betroffenen soll gefragt werden, sondern nach deren eigenem Selbstverständnis in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten.34 Zu den Meilensteinen der Forschung zählt zweifelsohne das 1963 erstmals erschienene Buch Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität von Erwing Goffman, in dem sich der Soziologe mit dem Umgang von Menschen beschäftigt, die Träger eines Stigmas sind. Stigmata sind nicht nur weit verbreitet, sondern haben auch die unterschiedlichsten Ursachen. Dazu gehören Stigmata durch „physische[r] Deformationen“, „individuelle[r] Charakterfehler“ sowie „phylogenetische[r]“ aufgrund von „Rasse, Nation und Religion“35. Entscheidend in Goffmans Studie ist die Aufarbeitung von gesellschaftlichen Auswirkungen auf die Betroffenen selbst. Damit vollzog er wie die Vertreter und Vertreterinnen der Patientengeschichtsschreibung ebenfalls einen Perspektivenwechsel. Mittlerweile gibt es eine Unzahl von Forschungsprojekten, die sich mit der Historizität von Andersartigkeit befassen.36 Zentral ist die Annahme, dass Zuordnungen wie anders oder stigmatisiert nicht nur historisch veränderlich sind, sondern auch Informationen über die Normvorstellungen einer ganzen Gesellschaft in sich tragen.37 Bei der Gruppe von gesichtsverletzten Soldaten beispielsweise handelte es sich um Männer, die ihre Andersartigkeit durch ihren Kriegseinsatz erhielten und deren körperliche Einschränkungen primär durch ihr Erscheinungsbild und erst in zweiter Linie durch ihre körperlichen oder gesundheitlichen Defizite gekennzeichnet waren. Bei der Gruppe der Betroffenen handelt es sich darüber hinaus um Männer, deren Geschlechterrolle innerhalb der Gesellschaft mitgedacht werden muss. Das Denkmodell, auf das sich diese Arbeit explizit und an vielen Stellen implizit bezieht, ist das der Vorstellung von Geschlecht als gesellschaftlich konstruiert und historisch veränderlich. Damit knüpft diese Arbeit an die theoretische und methodische Auseinandersetzung der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit der gesellschaftlichen Rolle von Männern und deren zuge34 Vgl. Bösl et al. (2010), S. 7. 35 Goffman (2010), S. 12–13. 36 Vgl. dazu die Aufsätze in: Bösl et al. (2010); Söderfeldt (2013) sowie das Verlagsprogramm Disability Studies. Körper – Macht – Differenz von transcript (Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis). 37 Vgl. Bösl et al. (2010), S. 7.
22
1. Einleitung
ordnetes Konzept von Männlichkeit an. Bevor sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte dem Thema Militär und Männlichkeit annahm, galt das „männlich dominierte“38 Umfeld von Militär und Krieg als geschlechtsneutral.39 Nun war es aber möglich, „die Bedeutung von ‚Militär und Krieg‘ für die Konstruktion von ‚hegemonischer Männlichkeit‘“40 zu analysieren, wie es die Historikerin Karen Hagemann beschrieb. Mit hegemonischer Männlichkeit ist ein in einer spezifischen historischen Situation vorherrschendes Konzept von Männlichkeit gemeint, welches sich im Wettstreit mit anderen zeitgleich vorhandenen Männlichkeitsentwürfen wenigstens temporär durchgesetzt hat. Dieser hegemonischen Männlichkeit sind alle anderen Männlichkeiten wie auch alles Weibliche untergeordnet.41 Gleichzeitig versuchen alle untergeordneten Akteurinnen und Akteure dem Ideal möglichst nahezukommen, Hegemonie kann in diesem Zusammenhang daher als „regulatorisches Ideal“42 verstanden werden. Das Konzept hegemonische Männlichkeit stammt von der Soziologin Raewyn Connell, sie hatte es Mitte der 1980er Jahre in die Forschung eingeführt. Seither wird es oft aufgegriffen43 und in der Forschung finden immer wieder Diskussionen über dessen Brauchbarkeit statt.44 In der deutschen Männlichkeitsforschung wird Connell kritisiert, sie sei zu „kulturalistisch“45 und daher für die historische Forschung schlecht geeignet, solange der konkrete historische Kontext, innerhalb dessen Connells Konzept bearbeitet wird, nicht klar definiert ist.46 Martin Dinges, Medizinhistoriker, schlägt daher vor, „zwischen Modellen und Praxen ‚dominanter Männlichkeit‘, (im untechnischen Sinn ‚frühmoderner‘) ‚hegemonialer Männlichkeit‘ und der ‚modernen hegemonialen Männlichkeit‘“47 zu unterscheiden. Der Beobachtungszeitraum dieser Arbeit fällt in den Zeitraum der „(im untechnischen Sinn ‚frühmodernen‘) ‚hegemonialen Männlichkeit‘“48, die während des Ersten Weltkrieges als soldatisch und militaristisch bezeichnet werden kann, wie die Historikerin Christa Hämmerle im Fall der Habsburger Monarchie darlegt.49 Von Bedeutung ist diese
38 Hagemann (2008), S. 98. 39 Vgl. Hagemann (2008), S. 98. Vergleiche auch die Auseinandersetzung mit dem Konzept in einem militärischen Kontext bei: Hämmerle (2005). 40 Hagemann (2008), S. 98. 41 Vgl. Connell (2006), S. 97 und S. 102. 42 Hark (1999), S. 70, zitiert nach Michael Meuser / Sylka Scholz (2005), S. 213. 43 Hagemann (2008), S. 98. 44 Vgl. Christoph Schwamm (2013, 13. Juni), Die Geschichte psychischer Erkrankungen von Männern in der Bundesrepublik Deutschland: Probleme, Quellen, Fragestellung. Institutskolloquium zur Geschichte der Medizin (2013), Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart [Eigene Mitschrift]. Siehe auch: Hämmerle (2005); Dinges (2005). 45 Vgl. Michael Meuser / Sylka Scholz (2005), S. 226. 46 Vgl. Hämmerle (2005), S. 118–119. 47 Dinges (2005), S. 29. 48 Dinges (2005), S. 29. 49 Vgl. Hämmerle (2005), S. 118.
1.3 Methode
23
Zuordnung insbesondere bei → Biografien und den Entwürfen der → Selbstbilder von im Gesicht verletzten Soldaten. 1.3 Methode Wenn es um die Herausarbeitung der Erfahrungen von einzelnen Menschen geht, stellt sich wie auch bei der Frage nach den Handlungen einzelner Personen zunächst gewiss die Quellen- und Methodenfrage. Gibt es Selbstzeugnisse von gesichtsverletzten Männern und reichen diese aus, um zuverlässige Aussagen über den Alltag der Betroffenen zu machen? Handelt es sich bei den Selbstzeugnissen um ein homogenes Quellenkorpus, oder sind die Quellengattungen so verschieden wie die persönlichen Zugänge der Betroffenen oder der Forscherinnen und Forscher? Die große methodische Herausforderung dieser Arbeit besteht darin, aus den verschiedenen Quellengattungen, die auf den ersten Blick nichts mit Selbstdarstellungen oder Biografien entstellter Männer zu tun haben, Aussagen über eben diese zu treffen. Eine geschichtstheoretische Auseinandersetzung und Entwicklung methodischer Hilfsmittel im Umgang mit Quellen findet unter anderem in der Aufsatzsammlung von Roger Chartier, Historiker, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung50 statt. Chartier versteht Quellen als Berichte, die mehr oder weniger adäquate Darstellungen von vergangenen Ereignissen darstellen und damit Einblick in die Bedeutungszuschreibungen aller Beteiligten gewähren. Auf der anderen Seite stellen Quellen selbst das Produkt spezifischer literarischer, visueller, haptischer oder verbaler Praxis dar. Sie folgen jeweils eigenen historischen Regeln und bilden das dargestellte Ereignis daher nicht einfach ab, sondern konstituieren es gemäß eigener Regeln. Damit wird die schriftliche Konstruiertheit der Quellen selbst in die Analyse miteinbezogen,51 um Themen aus Quellen generieren zu können, die auf den ersten Blick nicht vorhanden sind. Abbildungen von Patienten können so etwa als Selbstdarstellungen gelesen werden. Eine weitere für die vorliegende Arbeit bedeutsame Quelle sind beispielsweise die Berichte von Gesichtsverletzten über ihre Kriegserlebnisse, die sie während ihres Lazarettaufenthaltes im Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte verfassten. Schreibanlass war ein Wettbewerb, dessen Siegerbeiträge später in einem Sammelband veröffentlicht wurden. Auf den ersten Blick zeigte sich, entgegen der mit der Forschungsfrage verbundenen Erwartung, dass die Soldaten kaum über ihre Gesichtsverletzungen und ihre neue Lebenssituation schrieben. Gleichwohl gewährte diese Quelle einen Einblick in den Umgang der Gesichtsverletzten mit ihren Kriegserfahrungen nach der Verwundung. Die Aufgabe der Forschungsfragen zugunsten der Aussagekraft der Quellen brachte unerwartete Aspekte bezüglich des Lebens der gesichtsverletzten Männer zu Tage. Chartiers Aufforderung, Quellen gegen den Strich zu lesen und Umwege zu gehen, wird 50 Vgl. Chartier (1989). 51 Vgl. Chartier (1989), S. 58–72.
24
1. Einleitung
hier aus den genannten Gründen Folge geleistet. Durch diese Herangehensweise können Quellen berücksichtigt werden, die auf den ersten Blick kaum Auskunft über den Alltag in den Lazaretten oder über das Selbstverständnis einzelner Personen zu geben scheinen. Neben den Fachtexten der Medizin ziehe ich daher auch zeitgenössische Publikationen, literarische Texte, bildliche Quellen sowie künstlerische Auseinandersetzungen und Selbstzeugnisse zur Rekonstruktion des Alltages in den Lazaretten heran. Die verschiedenen Quellengattungen werden dabei nicht in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gestellt, sondern in einem Dialog miteinander gelesen.52 Die Erkenntnisse werden verschiedenen Handlungsräumen zugeordnet (→ Rahmenbedingungen, → Darstellungen, → Behandlungszeit und → Selbstbilder). Handlungsräume beschreiben das auf Grundlage von Quellen rekonstruierbare Geschehen und dessen Bedingungen und Regeln. Sie können daher immer nur jeweils einen Aspekt des Alltages bzw. einen ganz bestimmten Blick auf den Alltag fassen. Diese Herangehensweise soll der Heterogenität der Quellen gerecht werden, ohne einzelne Quellengattungen zu priorisieren. So können die unterschiedlichen Entstehungskontexte und Intentionen der Verfasserinnen und Verfasser, wie auch die Eigenheiten der jeweiligen Quellen berücksichtigt werden. 1.4 Quellen Im Folgenden möchte ich einen Überblick über die verwendeten Quellengattungen geben. Ausgehend vom Bestand des Zahnmuseums Wien53 wurde nach Nachlässen von behandelnden Ärzten auch in anderen Archiven in Österreich und Deutschland recherchiert. Ausschlaggebend für die Aufnahme in den Quellenkorpus war die Aussagekraft bezüglich der Perspektive der Verwundeten. Unter den Quellenbeständen befand sich kein allzu umfangreicher Nachlass (wie etwa mehrere Hundert Krankenakten oder ungeordnete Selbstzeugnisse), deshalb konnten die recherchierten Quellen umfassend berücksichtigt werden. Für statistische Auswertungen ist das Korpus aus diesem Grund zwar kaum geeignet, dafür bietet es die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven empirisch auszuarbeiten. Das deckt sich mit dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Als besonders ergiebig stellten sich die verschiedenen Bestände um die Person Christian Bruhns (1868–1942), Kieferchirurg, und des Düsseldorfer
52 Näheres zu den konkreten Methoden des jeweiligen Handlungsraumes findet sich in den Einleitungen der einzelnen Kapitel. 53 Der für diese Arbeit interessante Bestand besteht zum größten Teil aus dem wissenschaftlichen Nachlass von Juljan Zilz (1871–1936), der während des Ersten Weltkrieges eine Zahnklinik in der Etappe an der Ostfront leitete. Im Nachlass sind Patientenakten, Gipsbüsten, Zeichnungen, Röntgenbilder, Präparate, Prothesen und wissenschaftliches Schriftgut enthalten.
1.4 Quellen
25
Lazarettes für Kiefer-Verletzte heraus.54 Vor allem in den Verwaltungsakten fanden sich umfangreiche Zeugnisse aus dem Alltag in der Klinik.55 Das zweite Quellenkorpus kann unter dem Schlagwort normative Quellen zusammengefasst werden und umfasst den Bestand der Rentenakten des Badischen [Militär] Versorgungsgerichtes des Staatsarchivs Freiburg56 und die Unterlagen zum Ausbau der Wiener Universitäts-Zahnklinik, der von Hans Pichler (1877–1949), Zahnarzt und Chirurg, in den ersten Nachkriegsjahren vorangetrieben wurde.57 Der dritte Quellenkorpus setzt sich aus Krankenakten und den dazugehörigen Unterlagen zusammen. Sie sind in großen Umfang in der Zahnärztlichen Abteilung der Poliklinik in Wien58 und der Kriegszahnklinik in Lublin59 enthalten, einige wenige fanden sich auch in den Beständen des Kgl. zahnärztlichen Institutes der Universität Berlin im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité60. Die jeweiligen Quellenkorpora waren nicht so umfangreich, als dass Samples hätten gebildet werden müssen oder serielle Auswertungen möglich gewesen wären. Somit konnten die recherchierten Quellen empirisch vollständig berücksichtigt werden. Der vierte Quellenkorpus lässt sich unter dem Schlagwort Selbstzeugnisse zusammenfassen. Unter diesem Begriff werden hier Patientenbriefe, der Briefverkehr mit Angehörigen, Situationsschilderungen von Patienten in Verwaltungsakten, Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Kriegsberichte subsumiert. Der Begriff Selbstzeugnisse61 ist weitgefasst und schließt die unterschiedlichsten Quellengattungen mit ein. In erster Linie sind es Dokumente, in denen eine Person meist schriftlich über sich Zeugnis ablegt. In dieser Arbeit handelt es sich diesbezüglich um Patientenbriefe, den Briefverkehr mit Angehörigen, Berichte von Verwundeten über ihre Kriegserfahrungen und nicht zuletzt um ausführliche Angaben zur eigenen Person in Verwaltungsakten. Auch Fotografien werden in dieser Arbeit zu den Selbstzeugnissen 54 Nachlass Christian Bruhn und der Westdeutschen Kieferklinik: Universitätsarchiv Düsseldorf; Stadtarchiv Düsseldorf; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland. 55 Vgl. Akten der Stadt Düsseldorf betreffend Kieferklinik (1930–1932). 56 Vgl. Badisches [Militär] Versorgungsgericht, Spruchkammer I. und [II], Versorgung der Kriegsinvaliden und Kriegshinterbliebenen, B 1086/1; 1919–1943, Versorgungsgericht Konstanz, Zugangs-Nr. 45/1978, Staatsarchiv Freiburg. 57 Vgl. Hans Pichler (31.1.1928). 58 Vgl. Bestand der Allgemeinen Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten des Zahnmuseums Wien. Aus der Zeit des Ersten Weltkrieges sind 55 Patientenakten überliefert. 59 Vgl. Juljan Zilz (1914–1918). Aus der Zeit des Ersten Weltkrieges sind 52 Patientenakten überliefert. 60 Krankenbett Gesichtsverletzung, Unterlagen Karl H., Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité. 61 Bei der Wiedergabe der Texte von Selbstzeugnissen, Krankenakten oder normativen Quellen wird die originale Orthographie, Interpunktion und Grammatik beibehalten. Etwaige Fehler in den Texten werden weder der heutigen Rechtschreibung gemäß berichtigt noch gekennzeichnet. Einfügungen in eckigen Klammern sind Veränderungen, die von der Autorin vorgenommen wurden.
26
1. Einleitung
gezählt, da das Ergebnis (das Bild) auf die (Selbst-)Inszenierung der abgebildeten Person(en) beruht. Ergänzt werden die Selbstzeugnisse von Gesichtsverletzten durch ein Interview der Tochter eines Betroffenen. Die Stärke von Selbstzeugnissen liegt in ihrer Nähe zur betrachteten Person. Bei Berücksichtigung des Entstehungskontextes und den Intentionen der meist männlichen Autoren gewähren diese Quellen einen Einblick in deren gewünschtes Selbstbild. Fragen nach dem Wahrheitsgehalt dieser Quellen werden somit in den Hintergrund gestellt. 1.5 Aufbau Beginnen werde ich mit einer chronologischen Rekonstruktion des Behandlungsalltages von der Verwundung bis zur Entlassung aus der Behandlung. Nachfolgend werde ich einige Aspekte wie Körperpraktiken, Beziehungsgeflechte im Lazarett, die dortige Freizeitgestaltung und Arbeit, wie auch die Kommunikation gesondert analysieren. Aufbauend auf der Erarbeitung der genannten Aspekte erfolgt die Auswertung der Biografien. Aus der Beschäftigung mit diesen heterogenen Zugängen wird ersichtlich, dass die Rahmenbedingungen, Darstellungen und der Behandlungsalltag von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus Eingang in die Biografien der gesichtsverletzten Soldaten fanden.
2. Rahmenbedingungen: Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges 2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie1 stand in Mitteleuropa während des Ersten Weltkrieges aufgrund der Vielzahl von Verletzten vor besonderen Herausforderungen. Schon in den ersten Kriegsmonaten zeigten sich die Schwachstellen des Sanitätswesens. Parallel dazu stiegen die Opferzahlen und damit auch die Zahl der im Gesicht verwundeten Soldaten. Das Ergebnis war, dass sich immer mehr Mediziner mit dem Fach der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie auseinandersetzten. Dieses Kapitel beginnt mit dem medizinischen Wissen über die Behandlung von Gesichtsverletzungen vor dem Ersten Weltkrieg. Es werden Behandlungsmethoden dargestellt, Überlegungen über den Behandlungsgrund der Patientinnen und Patienten ausgeführt und schließlich mit der Beschreibung von medizinischen Vorkehrungen für einen möglichen zukünftigen Krieg auf die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges übergeleitet. Dort wird es zu Beginn um militärische Themen wie Kampfstil, Waffen und deren hervorgerufene Verletzungen sowie um Fragen nach Behandlungsmethoden, der Häufigkeit der Verletzungen und deren Behandlungsorte gehen. Der letzte Teil handelt von der Rolle der soldatischen Patienten in der Wissenschaft während des Krieges sowie von den Bemühungen der Ärzte2, die an unterschiedlichen Orten angegliederten Spezialabteilungen zur Disziplin der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie umzugestalten. 2.1 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor dem Ersten Weltkrieg Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie beschäftigte sich vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich mit komplizierten Knochenbrüchen, Gesichtsschussverletzungen und syphilitischen Nasen- oder Gesichtskarzinomen. Der anachronistische Sammelbegriff3 „Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie“ schließt alle Gesichtsregionen ein. Dazu zählen Zahntransplantate ebenso wie Knochenbrüche der Kiefer und der Nase sowie Weichteiloperationen von Wange, 1
2 3
Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie ist ein relativ junger Zweig der sich ab dem 18. Jahrhundert herauszubilden begann, die institutionelle Festigung fand jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt. In Deutschland erhielt das Fach in den 1950er Jahren durch die Gründung standespolitischer und wissenschaftlicher Interessenvertretungen seine feste Form. Dazu zählte auch die Abgrenzung zu Nachbargebieten wie der praktischen Zahnheilkunde. Der Begriff wird in der Arbeit aufgrund der Verständlichkeit anachronistisch verwendet. Vgl. Hoffmann-Axthelm (1995), Vorwort. In einzelnen Einrichtungen waren Ärztinnen tätig. Wenn dies der Fall war, wird im Text von Ärztinnen und Ärzten gesprochen. Ähnliches gilt für andere Professionen sowie für Patientinnen und Patienten. Die Disziplinbezeichnung Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, hier gewählt um den Text lesbar zu machen, konnte sich in Deutschland erst 1951 durchsetzen. HoffmannAxthelm (1995), S. 277.
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2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
Kinn oder Stirn. Einige der Operationsmethoden lassen sich bis in die griechisch-römische Antike zurückverfolgen.4 Ärzte verfügten im Gegensatz zu mancherlei Aussagen von Militärärzten bereits vor dem Krieg über ein gewisses Maß an Praxiswissen.5 Von den angewandten Behandlungsmethoden und den Patientengruppen handelt das einleitende Kapitel. Eine einheitliche Behandlung von Gesichtsverletzungen gab es nicht. Die Behandlungsgründe waren ebenso vielfältig wie die Methoden. Ausschlaggebend für die Wahl der Behandlungsmethode war die Art der Verletzung oder Krankheit. So wurden Faustschläge, Hufschläge und Verkehrsunfälle, die meist einfache oder mehrfache Unterkieferbrüche zur Folge hatten, mit Drahtverbänden und Schienen behandelt.6 Verwendung fanden verschiedene Metalle, Guttapercha7 oder Kautschuk, die durch Drahtschlingen, Klammern oder Schrauben an den Zähnen befestigt wurden. Wenn diese Methode zu keiner Heilung führte, verband man die Kiefer durch Knochennähte miteinander. Dabei bohrte man Löcher in den Knochen, durch die ein Silberdraht zur Fixierung der Knochenenden gezogen wurde.8 Diese Methode wurde aufgrund des Risikos eines Fehlschlages von den Ärzten nur zögerlich angewandt.9 Verletzungen durch Schrotschüsse oder Erkrankungen durch Syphilis oder Karzinome waren umfangreicher und komplizierter zu behandeln als Knochenbrüche. Diese verletzungs- und krankheitsbedingten Eingriffe hatten einiges gemeinsam: großflächige Weichteil- und Knochenverletzungen, wodurch operative Eingriffe oder Gesichtsprothesen notwendig wurden; Entstellungen im Gesicht durch Substanzverlust der Weichteile und Knochen sowie Sprachprobleme aufgrund irreparabler Schäden an Zunge, Gaumen, Kiefer und unbewegliche Narbenstränge.10 Zentrales Anliegen war es, die Funktionen und das Äußere des Gesichts wiederherzustellen. Spätestens seit die Möglichkeit bestand, ganze Kieferteile durch Knochentransplantationen oder Prothesen zu ersetzen, wurde die Ästhetik (im Sinne einer Vermeidung von „Entstellungen des Gesichtes“11) fester Bestandteil der operativen Zahnheilkunde.12 An der Weiterentwicklung der Methoden wurde daher stetig gearbeitet. Um 1910 begann man mit dem Versuch, körpereigene Ersatzstücke aus Knochen (Osteoplastik/Knochentransplantat) zu transplantieren. Bei dieser Operationsme4 Vgl. Hoffmann-Axthelm (1995), S. 16–26. 5 Der Erste Weltkrieg wird in den Veröffentlichungen aus dem Fachgebiet der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie als Lehrmeister bezeichnet. Vgl. Lexer (1920), S. 257; Axhausen (1932), S. 114–115; Schwalbe (1916), S. 101. 6 Vgl. Roland Wolf (1996), S. 100–102; Bimstein (1911), S. 13. 7 Guttapercha wird aus dem Guttaperchabaum gewonnen und hat ähnliche Eigenschaften wie Kautschuk. 8 http://www.enzyklo.de/Begriff/Knochennaht, 2.7.2013. 9 Vgl. Schröder (1909), S. 98–99; Fritz Williger (1912), S. 349. 10 Vgl. Roland Wolf (1996), S. 111–115. 11 Vgl. Gunnar Nyström (1912), S. 1001–1002. 12 Vgl. Hans Pichler (1911), S. 423–450, 436 und 438; Matti Äyräpää (1908), S. 130–131; Ludwig Stettenheimer (1908), S. 333.
2.1 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor dem Ersten Weltkrieg
29
thode entnahm man dem Patienten ein Stück Knochen – wenn notwendig mit Haut – welches man mit eigener Blutversorgung verpflanzte. Zuvor hatte man auf künstlich hergestellte Ersatzstücke (Dauerprothesen und {vorübergehende} Immediatprothesen), wie in der Abbildung 1 dargestellt, zurückgegriffen.13 Die Weichteile (Muskeln, Haut) wurden mittels Hautlappen aus der umliegenden Körperregion, dem Hals, der Stirn oder dem Oberarm ersetzt.14 Hans Pichler (1877–1949), Zahnarzt und Chirurg, führte 1911 eine Umfrage über das Empfinden der Patientinnen und Patienten nach operativen Eingriffen durch, bei denen Kieferknochenprothesen eingesetzt worden waren. Von den neun Patienten fühlten sich fünf „wohl“ mit der Prothese, bei zweien funktionierte die Prothese nicht und zwei verstarben (ein paar Tage nach der Operation bzw. fünf Jahre danach).15 Auf dem weiten Feld der Transplantationen und Rekonstruktionen sollte der Krieg durch die große Zahl der Operationen die größten Fortschritte bringen. Eine der vor dem Ersten Weltkrieg am meisten praktizierten Operationen des Gesichts waren Nasenrekonstruktionen,16 die noch heute, hauptsächlich aus ästhetischen Gründen, zu den häufigsten Eingriffen der plastischen Chirurgie zählen.17 Bei der Rekonstruktion von Nasen standen den Ärzten dieser Zeit zwei Methoden zur Verfügung, die sogenannte italienische und die indische Methode, welche in Europa seit dem 11. Jahrhundert an Patientinnen und Patienten durchgeführt wurden, mit Konjunkturen im 15. und dann wieder ab dem 19. Jahrhundert.18 Bei beiden Methoden wurde der verlorengegangene Körperteil mittels Hautlappen19 des eigenen Körpers rekonstruiert, ähnlich der Rekonstruktion der Mundpartie auf der Abbildung 1, Bild 3 und 4. Bei der indischen Methode wurde der Hautlappen aus der Stirnregion entnommen, was sichtbare Narben zur Folge hatte. Patienten, vor allem Frauen, so die Meinung eines Wiener Operateurs 1907, würden daher die italienische Methode bevorzugen20, bei der der Hautlappen aus dem Oberarm entnommen wurde. Um anwachsen zu können, wurde der Oberarm mit einem Gestell mehrere Wochen fixiert, wie in der Abbildung 2 dargestellt ist. Für die Betroffenen war dies eine äußerst unangenehme Methode.21
13 14 15 16 17
Vgl. Hans Pichler (1907), S. 198 und 206; Rudolf Weiser (1909), S. 857 und 868. Vgl. Gunnar Nyström (1912), S. 1001–1002. Vgl. Hans Pichler (1911), S. 423–424; Gunnar Nyström (1912), S. 1013. Vgl. Heinrich Salomon (1903), S. 221. Vgl. http://www.platinnetz.de/magazin/gesundheit/medizin/die-fuenf-haeufigsten-schoenheitsoperationen, 10.6.2013. 18 Vgl. Hoffmann-Axthelm (1995), S. 224. Vgl. auch Gadebusch Bondio (2005); Gilman (2001); Ramsbrock (2011); Haiken (1997). 19 Als Lappen bezeichnet man Gewebeverbände, die verlagert werden. Zum Einsatz kommen sie bei der Deckung von tiefen Gewebedefekten, bei denen wichtige Strukturen (Knochen, Sehnen, Nerven und große Blutgefäße) frei liegen. Vgl. http://www.handchirurgie-ksm.ch/chi_spz_lpp.php, 15.1.2014. 20 Vgl. H. Leischer (1907), S. 33–34. 21 Vergleiche Biografie Karl H. in Kapitel 6: Biografien.
30
2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
Abb. 1: Fotodokumentation der Behandlung. Von links nach rechts: Operativer Eingriff zur Gewinnung eines gestielten Lappens für den Weichteilersatz des Gesichts; Systematische Zeichnung des gestielten Hautlappens mit Nahtlinie; Patient nach fünf Operationen frontal und im Profil. Quelle: Gunnar Nyström (1912) S. 1001.
2.1 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor dem Ersten Weltkrieg
31
Abb. 2: Bildunterschrift: „Ersatz der vernarbten Nasenhaut, Ohrenmuschelplastik“. Quelle: Lexer (1931) S. 219, Abbildung Nr. 595.
Eine Alternative zu operativen Eingriffen stellte die Bedeckung der beschädigten Gesichtsteile mit Prothesen dar. Mit Gesichtsprothetik wird der Ersatz von einzelnen Teilen des Gesichts mit Hilfe von künstlichen Werkstoffen umschrieben. In der Vorkriegszeit wurden sie hauptsächlich aus Kautschuk hergestellt und mit Ölfarben bemalt, um „durch eine möglichst naturgetreue Färbung der Prothese den Patienten auch ein besseres Aussehen zu verleihen“22. In erster Linie ging es darum, die Entstellungen zu kaschieren.23 Erst um 1910 gelang es, mit der Weiterentwicklung der Werkstoffe und dem Einsatz von weichen Kunststoffen zunehmend auch mimische Bewegungen zu imitieren. Fixiert wurden die Prothesen mit Klebestoffen oder Behelfen wie Brillen, an denen die Prothesen befestigt waren.24 Ein Nachteil dieser ersten beweglichen Weichteilprothesen lag in der Haltedauer von nur einigen Tagen. Danach musste sie wieder neu gegossen werden und verursachte dadurch enorm hohe Anschaffungskosten.25 Für Patientinnen und Patienten mit Gesichtsverletzungen kamen mehrere Behandlungsorte in Frage. Eine zentrale Anlaufstelle für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie gab es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht und entwickelte sich erst in den Nachkriegsjahren. Bis dahin wurden die Betroffenen je nach Art der Verletzung oder Krankheit an chirurgischen Abteilungen oder an Zahnkliniken behandelt. In der Folge werde ich mittels einer quantitativen Erhebung der Frage nachgehen, warum in der Vorkriegszeit einer der Behandlungsorte aufgesucht wurde. Aufgrund fehlender statistischer 22 23 24 25
Walther Bruck (1910), S. 400. Vgl. Matti Äyräpää (1907), S. 140. Vgl. Bruno Klein (1913), S. 180–184. Vgl. Fey (01.01.1944), S. 58.
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2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
Erhebungen werde ich die Patientenzahlen und Behandlungsgründe aus den Fallbeschreibungen der Fachzeitschriften und Monografien heranziehen. Damit sind einige methodische Probleme verbunden. Das größte Problem liegt in der Heterogenität der Darstellungsweisen wissenschaftlicher Publikationen und Klinikberichte. Die Art und Weise der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen und Behandlungsberichten lag im Ermessen der Autoren. Der gängigen Praxis, Wissen auf Grund von Fallstudien zu generieren und auch zu veranschaulichen, ist es geschuldet, dass viele Autoren Patientengeschichten publizierten, die einen Einblick über die einzelnen Behandlungsorte und deren Patientinnen und Patienten geben. Darüber hinaus wurden immer wieder Statistiken über Patienten und Behandlungsmethoden aus anderen Kliniken und Ländern als Vergleich herangezogen. Dennoch werden die folgenden Angaben dem Anspruch auf Vollständigkeit nicht gerecht. Beginnen möchte ich mit der Auswertung der publizierten Fallgeschichten von Juljan Zilz (1871–1936), einem Zahnarzt, der 1910 der Frage nachging, wie viel Prozent aller Knochenbrüche auf Kieferknochen entfielen. Zilz zog dazu Statistiken aus Krankenhäusern der ganzen Welt heran. Im Londoner Hospital betrafen 2,3 Prozent von 525 Knochenbrüchen den Unterkiefer. Ähnliches berichten Ärzte aus dem New-Yorker Hospital, in dem innerhalb eines Beobachtungszeitraumes von zwölf Jahren 66 „Frakturen des Unterkiefers“ behandelt wurden, das entsprach 3,2 Prozent aller behandelten Frakturen. Viel interessanter sind jedoch Zilz’ Beobachtungen von geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Kieferknochenbrüchen: „Geschlecht und Alter: In der Serie von 43 Fällen waren 3 Frauen, 40 Männer. Altershöchstgrenze 53, Niederstgrenze 12 Jahre. Meistens zwischen 23 bis 35 Jahren. […] 25 Prozent der Frakturen wurden aufgenommen, während die Patienten berauscht waren.“26
Auffällig ist die Überzahl der Männer und dabei wiederum die Feststellung, dass ein Viertel der männlichen Patienten „berauscht“ war, wodurch Fragen nach geschlechtsspezifischem Gesundheitsverhalten und Lebenswandel aufgeworfen werden. Die meisten Verletzungen (Krankheiten wurden in den gesichteten Quellen in keiner Statistik erhoben) resultierten aus direkten Traumata wie „Hufschlag eines Pferdes, roher Stoss und Schlag, Steinwurf, Sturz aus bedeutender Höhe, Schussverletzungen bei Selbstmördern etc.“ und „kräftigen Faustschlägen“, so Zilz.27 Auch andere Veröffentlichungen verweisen auf geschlechtsspezifische Unterschiede, die sich meist in der Unfallursache offenbaren. Hermann Schröder (1876–1942), Zahnarzt, berichtete 1911 von häufigen Verletzungen beim Arbeiten an Maschinen.28 Weitere Verletzungsgruppen stellten Betriebsunfälle in den Fabriken29 sowie Verkehrsunfälle30 dar. An dem Umstand, dass die meisten Kieferverletzungen durch Unfälle und Prügeleien verursacht wurden, änderte sich auch in den Nachkriegs26 27 28 29 30
Juljan Zilz (1910), S. 2–3. Juljan Zilz (1910), S. 3; Vgl. auch Ludwig Brandt (1908), S. 24. Vgl. Schröder (1911), S. 34. Vgl. Schröder (1909), S. 98. Vgl Ludwig Brandt (1908), S. 24.
2.1 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie vor dem Ersten Weltkrieg
33
jahren wenig. 1932 berichtete der Zahnarzt Georg Axhausen (1877–1960) aus seiner einjährigen Erfahrung als Leiter der neu errichteten Kieferklinik an der Charité, dass 74 Prozent der Verletzten „männlichen Geschlechts“ waren. 52 Prozent der Unterkieferbrüche stammten von Fausthieben aus Schlägereien. 75 Prozent der Oberkieferfrakturen dagegen resultierten aus Motorradunfällen. Es zeigt sich also ein ähnliches Bild bezüglich Verletzungsursache und Geschlechterverteilung wie vor dem Krieg.31 Die Auswertung von Fallgeschichten aus drei Fachzeitschriften im Zeitraum von 1908 bis 1913 offenbart hinsichtlich der Verletzungen ein ähnliches Bild wie die oben zitierten Einzeldarstellungen. Für diesen Teil der Arbeit habe ich drei Periodika auf die Frage hin analysiert, warum und in welcher Zahl Patienten in Behandlung waren. Für die Fachrichtung der Zahnärzte war das erstens die Österreichisch-ungarische Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde, die vierteljährlich als Organ des Centralvereins deutscher Zahnärzte erschien, und zweitens das Correspondenzblatt der Zahnärzte. Neueste Erfahrungen und Erfindungen der Zahnheilkunde und Zahntechnik, welches in Berlin vierteljährlich nur relativ kurz im Zeitraum von 1908 bis 1944 aufgelegt wurde. Herausgegeben wurde die Zeitschrift von der Dental Firma C. Ash & Sons mit Firmenhauptsitz in England. Anfänglich eher als Werbeheft zu bezeichnen, erhob die Zeitschrift zunehmend einen wissenschaftlicheren Anspruch. Für die chirurgische Fachrichtung habe ich die Wiener Ausgabe des Archivs für klinische Chirurgie mit Erscheinungsort Wien analysiert. Diese Zeitschrift erschien erstmals 1860 in Berlin als Organ der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Seit 1945 wird sie bis heute unter dem Namen Langenbecks Archiv für klinische Chirurgie weitergeführt. Die Auswertung der publizierten Fallgeschichten ergab Folgendes: 113 Krankengeschichten wurden im Beobachtungszeitraum in Artikeln beschrieben (Archiv für Klinische Chirurgie: 26; Correspondenzblatt der Zahnärzte: 22; Österreichisch-ungarische Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde: 65). Davon waren 60 Verletzungen (53 Prozent) durch Krankheiten wie Tumore, Syphilis, Lupus, Sarkom, Epullis etc. verursacht. 17 Behandlungen (15 Prozent) erfolgten wegen Schussverletzungen, davon 15 (13,3 Prozent) aufgrund von Kriegshandlungen. Aus Wirtshausschlägereien und anderen Prügeleien resultierten acht Fälle (7 Prozent) und sechs (5,3 Prozent) stammten von Arbeitsunfällen. Die übrigen fünf Verletzungen (4,4 Prozent) wurden durch Hufschläge von Pferden hervorgerufen. In 17 Fällen (15 Prozent) wurde keine Ursache angegeben. Über eine geschlechtsspezifische Verteilung lässt sich keine Aussage treffen, da derartige Angaben nicht aus allen Fallgeschichten hervorgehen.32 Zusammenfassend kann man sagen, dass Männer von Gesichtsverletzungen auch schon vor dem Krieg in großem Maße betroffen waren. Dies setzte sich durch die Kampfhandlungen und die daraus hervorgerufenen Verwun31
Vgl. Axhausen (1932), S. 45; mehr zu dem Thema Gesundheit und Männlichkeit bei: Dinges (2007). 32 Für die Analyse wurden alle Fallgeschichten aus den Schriften einbezogen, die zum Quellenkorpus dieser Arbeit gehören und von dem Autor selbst behandelt wurden.
34
2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
dungen im Krieg fort. In Bezug auf Krankheiten als Behandlungsgrund, die immerhin die Hälfte der Indikationen ausmachten, können anhand der hier verwendeten Quellen keine Aussagen getroffen werden. Im folgenden Teil werde ich der Frage nach Vorbereitungsmaßnahmen für einen möglichen zukünftigen Krieg nachgehen. Die Kriege des beginnenden 20. Jahrhunderts stellten sich in diesem Zusammenhang als willkommene Lehrmeister heraus. Der Krieg vor dem Krieg: Vorbereitungen für den nächsten Krieg Überlegungen über das Wesen eines zukünftigen Krieges begannen bereits vor dem Sommer 1914. Als Ausgangspunkt für derartige Betrachtungen wurden der Russisch-Japanische Krieg von 1904–1905 und der Balkankrieg von 1912–1913 genannt. Anhand der dort gesammelten Erfahrungen entwickelten Mediziner konkrete Vorstellungen über das Wesen eines zukünftigen Krieges. Im Jahr 1909 erschien ein ins Deutsche übersetzter Aufsatz des Japaners Vikomt T. Hashimoto (Lebensdaten unbekannt), Chirurg, der seine Erfahrungen mit Unterkieferprothesen während des Russisch-Japanischen Krieges ausführlich darlegte. Im Aufsatz wurden die Verletzungen, die durch die neuen Waffengattungen hervorgerufen wurden, ebenso beschrieben, wie die dabei angewandten Behandlungsmethoden. Verletzungen wie auch Behandlungsmethoden unterschieden sich retrospektiv gesehen wenig von den zehn Jahre später gemachten Erfahrungen in Europa.33 Um über die Erfahrungen während des Balkankrieges zu berichten, wurde Dimitrios Styl. Dimitriadis (Lebensdaten unbekannt), Zahnarzt, als Experte für Waffenwirkung und Kampftechnik bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Tagung nach England geladen.34 Mit Hilfe dieser Art von Berichten konnte man sich in den Jahren vor dem Krieg Schritt für Schritt auf diesen vorbereiten. Mediziner führten Waffentests durch und veröffentlichten Studien über mögliche Behandlungsmethoden und zur Frage der Organisation35, wie das Problem der Zuständigkeit, wer also die zu erwartenden Knochen und Weichteilverletzungen behandeln sollte. Hans Pichler und Juljan Zilz sprachen sich entschieden für eine Zusammenarbeit von Chirurgen und Zahnärzten aus, um die Effizienz der Behandlung und die Zahl der wieder einsatzfähigen Soldaten zu steigern. Viele Chirurgen reklamierten aber die Behandlung dieser Verletzungen für sich.36 Dieser Konflikt wurde während der gesamten Kriegsdauer ausgetragen und klang erst danach schrittweise ab, wie noch zu zeigen ist. Bei Ankunft der ersten Gesichtsverletzten in den Lazaretten verfügten zumindest die Experten auf diesem Gebiet über ein umfangreiches Wissen und in Einzelfällen auch über praktische Erfahrungen aus der Behandlung ziviler
33 34 35 36
Vgl. Vikomt T. Hashimoto (1909). Vgl. Dimitrios Styl. Dimitriadis (1915). Vgl. Hermann Schröder (1913), S. 11–12; Dimitrios Styl. Dimitriadis (1915). Vgl. Hans Pichler (1911), S. 436 und 430; Juljan Zilz (1912), S. 3 f.; Juljan Zilz (1913), S. 1.
2.2 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 1914–1918
35
Verletzungen, Krankheiten und Verwundungen vorangegangener Kriege.37 Erkenntnisse auf diesem Gebiet sammelten die Ärzte, wie bereits gezeigt wurde, auch mit Nasenrekonstruktionen von Syphilis- oder Karzinompatienten sowie mit der Behandlung von Verletzungen durch Hufschläge, Wirtshausprügeleien oder Schrotkugeln.38 Die Vorsorge und die Erfahrungen führten dazu, dass man sich auf den Krieg gut vorbereitet wähnte. Selbstbewusst schritt man dem nächsten Krieg mit der Erwartung entgegen, diesen in einigen Monaten siegreich beendet zu haben.39 Damit reihten sich auch die Vertreter der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in den weitverbreiteten Diskurs des schnell gewonnenen Krieges ein, der aufgrund der modernen Waffentechnik als „human“ bezeichnet wurde, „weil unsere Zeit die Wunden, die sie geschlagen hat, auch zu heilen weiß“, wie E. Jacobi-Siesmayer (Lebensdaten unbekannt), Mediziner, in der Umschau noch nach dem ersten Kriegsjahr zu berichten wusste.40 2.2 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 1914–1918 Im August 1914 brach der Krieg aus, auf den man sich bereits vorbereitet hatte. Unmittelbar danach trafen die ersten Verwundeten in den Lazaretten und vereinzelt in der Heimat ein. Von den Kampfhandlungen und den daraus folgenden Verletzungen waren Männer aus allen sozialen Schichten und militärischen Dienstgraden betroffen. Einfache Soldaten wie Offiziere erlitten durch Artillerie- und Infanteriefeuer massive körperliche und psychische Verletzungen. Nach einer kurzen Einleitung über das Sanitätswesen und die Situation zu Beginn des Krieges wird es in diesem Kapitel um die Zahl der Verwundeten gehen, deren Behandlungsorte, der Weiterentwicklung der Behandlungstechniken während des Krieges und schließlich um die Bemühungen von Seite der Ärzte, die im Krieg neu errichteten Spezialheilanstalten über den Krieg hinaus bestehen zu lassen. 2.2.1 Das Sanitätswesen Die euphorische Stimmung zu Kriegsbeginn und die Überzeugung, ausreichend auf den Krieg vorbereitet zu sein, verblassten mit der Fortdauer des Krieges zusehends. Die Vorbereitungen stellten sich als mangelhaft heraus und entpuppten sich als Fehleinschätzungen. An den Fronten füllten sich die Lazarette wesentlich schneller als alle Vorbereitungen vermuten ließen, immer mehr Verwundete trafen in den Lazaretten ein. Alle getroffenen Vorkeh37 Vgl. Hermann Schröder (1914), S. 17. 38 Ergebnis der Auswertung von Fallgeschichten in der Österreichisch-ungarischen Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde 1908–1913. 39 Vgl. Biwald (2002), S. 52. 40 E. Jacobi-Siesmayer zitiert nach: Ramsbrock (2011), S. 129.
36
2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
rungen in den Behandlungsorten – selbst auf dem Fachgebiet der Chirurgie – erwiesen sich als ungenügend.41 Der Stellungskrieg hatte zur Folge, dass sich in allen Sanitätswesen der kriegführenden Staaten ein kleinteilig gestaffeltes System medizinischer Versorgung entwickelte,42 von dem im Kapitel 4 noch ausführlicher die Rede sein wird. Da im Eiltempo neue Sanitätseinrichtungen geschaffen werden mussten, wurden die vor dem Krieg bis ins kleinste Detail entworfenen Organisationspläne obsolet. Die Ärzte der k. u. k. Armee etwa reagierten auf die Mängel im Sanitätssystem und der Pedanterie der Behörden mit Missmut, der vor allem an der Front zu einer systematischen Ignoranz der Vorschriften führte. Verschärft wurde die Situation durch den Mangel an geeignetem Personal, ein Problem mit dem sich auch das deutsche Heer konfrontiert sah. Die Zahl der eingesetzten Ärzte stieg zwar während des Krieges an, jedoch nicht in Relation zum Anstieg der Anzahl der Soldaten. Der Ärztemangel wurde mit einem gehörigen Maß an Improvisationsvermögen kompensiert. So entwickelten beispielsweise Augenärzte Pläne zur Bekämpfung von Seuchen, wie Hans-Georg Hofer in seiner Studie Nervenschwäche und Krieg ausführt.43 2.2.2 Die Waffen Die durch die neuen Waffen prognostizierten sauberen Wunden mit einfachen Knochenbrüchen erwiesen sich als, meist durch Dreck und Bakterien infizierte, großflächige Zerreißungen im Gesicht. Es kam zu Augenverletzungen, Zerstörungen der Nasen und Ohren, zu Unter- und Oberkieferbrüchen und zu massiven Weichteilverletzungen.44 Entsetzt über das Ausmaß der Verwundungen suchten die Ärzte nach Erklärungen. Da alle Kriegsteilnehmer mit derselben Zerstörungskraft konfrontiert waren, kam es zu gegenseitigen Anschuldigungen, der Gegner würde die verbotenen Dum-Dum45 Geschosse einsetzen.46 Der Glaube an die eigenen Waffen, deren Effektivität und Humanität blieb so wider besseres Wissen weiterhin bestehen. Neben dem vermeintlichen Einsatz von Dum-Dum Geschossen wurde das Kämpfen in den Schützengräben als
41 42 43 44 45
46
Vgl. Hofer (2004), S. 385; Vgl. zur Organisation des Sanitätswesens auch: Gunda BarthScalmani (2005), S. 322–325; Stölzle (2012). Vgl. Hirschfeld et al. (2009), Beitrag Sanitätswesen, S. 812. Vgl. Hofer (2004), S. 385. Vgl. zur Organisation des Sanitätswesens auch: Gunda BarthScalmani (2005), S. 322–325. Vgl. Fritz Steinschneider (1916), S. 54; Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 124; Williger/Schröder (1914), S. 19; Leopold Gadàny (1915), S. 54. Dum-Dum Geschosse, auch Teilmantelgeschosse genannt, wurden 1899 bei der Haager Friedenskonferenz aufgrund ihrer großen Zerstörungskraft verboten. Diese Geschosse zersplittern bei Eindringen in den Körper und rufen so verheerende Zerstörungen der Knochen und Weichteile hervor. Vollmantelgeschosse hingegen verursachen glatte Eintrittswunden. Hirschfeld et al. (2009), Beitrag Dumdumgeschosse, S. 450. Vgl. R. Kronfeld (1916), S. 352.
2.2 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 1914–1918
37
ursächlich für die Gesichtsverletzungen identifiziert.47 Diese Kampfposition machte den Kopf zu einem häufig getroffenen Ziel.48 1916 reagierte das Militär darauf mit der Einführung des Stahlhelmes für die Soldaten.49 2.2.3 Die Behandlungsmethoden Trotz der verheerenden Verletzungen änderte sich an den Behandlungsmethoden während des Krieges nur wenig.50 Die bereits vor dem Krieg angewandte Lappentechnik bei Gesichtsrekonstruktionen sowie die Knochennaht und die Transplantationen konnten aufgrund der großen Zahl der durchgeführten Operationen weiterentwickelt werden.51 Viele der Techniken kommen noch heute in ähnlicher Weise zum Einsatz.52 Grundlegend neue Operationstechniken wurden jedoch nicht entwickelt. Auf eine Vereinheitlichung der Behandlungsmethode konnte man sich ebenfalls nicht einigen.53 Das Sprichwort – der „Krieg sei der Vater aller Dinge“54 – trifft bei kritischem Blick auf den Ersten Weltkrieg und dessen Innovationscharakter nicht zu. Anders sieht es jedoch auf institutioneller Ebene aus. Viele Mediziner konnten die Erfahrungen des Krieges für ihre eigene Karriere nutzen.55 Bereits während des Krieges begann sich der kommerzielle Erfolg der Disziplin selbst zu verändern, an deren Existenzberechtigung nach dem Krieg niemand mehr zweifelte. 2.2.4 Die Zahl der Verwundeten Den Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges sowie den Kriegsfolgen fielen insgesamt 8,85 Millionen Soldaten und 5,95 Millionen Zivilpersonen (vor allem durch Hungersnot) zum Opfer. Allein die Mittelmächte (Bulgarien, Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei) beklagten 3,55 Millionen Todesopfer unter den Soldaten und mit 3,4 Millionen fast ebenso viele Zivilpersonen.56 47 48 49 50 51
52 53 54 55 56
Vgl. Angerstein (1932), S. 5; J. Richter (1916), S. 367; Christian Bruhn (1915) Vorwort; Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 7–8; Franz (1936), S. 350; Deutschland Heeres-Sanitätsinspektion (1934), S. 68–71. Vgl. Franz (1936), S.4. Vgl. Tönnis/Seifert (1943), S. 73. Vgl. Hoffmann-Axthelm (1995), S. 223–273. Dies schlägt sich in der Arbeit von Erich Lexer nieder, dessen Fallbeispiele des Abschnittes Erworbene Gewebslücken und ihre Beseitigung in vielen Fällen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges stammen. Lexer (1931), S. 79–436; Vgl. auch: Brief von Carl Partsch (1855– 1932), Chirurg, 1917 an Christina Bruhn, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland, S. 35–36; J. Joseph (1.7.1917), Blatt 23–24. Vgl. Hausamen (2012). Vgl. Axhausen (1940), S. 22–23. Vgl. Otto (2001), S. 287. Vgl. auch das Beispiel der Bluttransfusion: Thomas Schlich (1996); sowie der Pathologie: Prüll (2003). Vgl. Hirschfeld et al. (2009), Tabelle Kriegsverluste, S. 664–665.
38
2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
Aufgrund einer Verletzung oder Erkrankung wurden in Deutschland insgesamt 702.778 Soldaten als dienstuntauglich aus dem Militärdienst entlassen. Knapp 90.000 davon hatten zusätzlich zur Rente einen Anspruch auf eine Verstümmelungszulage, einige davon aufgrund ihrer Gesichtsverletzungen.57 Militär und Sanitätswesen erkannten schnell die Gefahr der als abschreckend wahrgenommenen Verletzungen im Gesicht und machten sich folglich mehr Sorgen über deren Wirkungen auf das Gegenüber als über deren quantitatives Ausmaß.58 Gleichwohl wurden immer wieder statistische Erhebungen veröffentlicht, die jedoch nur selten miteinander verglichen werden können, da die Erhebungsart und Kategorisierung unterschiedlich sind. Während die Einen Gesichtsverletzungen in Verletzungen des Kopfes, Gesichts und des Kiefers unterteilten, fassten die Anderen diese in einer Kategorie zusammen. Die am häufigsten zitierte Statistik stammt aus dem Sanitätsbericht über das Deutsche Heer (Deutsches Feld- und Besatzungsheer) im Weltkriege 1914/1918 aus dem Jahr 1935, bei der von 5,4 Prozent Gesichtsverletzungen und 1,5 Prozent Kieferverletzungen ausgegangen wurde.59 Ein Autorenkollektiv sprach 1943 von 14,4 Prozent Kopf- und Gesichtsverletzungen auf deutscher Seite, wohingegen von den amerikanischen Soldaten nur 13,3 Prozent von diesen Verletzungen betroffen waren.60 In einer im ersten Kriegsjahr veröffentlichten Statistik ist von 500 Verwundeten die Rede, von denen 41 (also 8,2 Prozent) in der Kopfgegend verwundet wurden. Sechs davon (= 1,2 Prozent) wurden als „schwere Schußverletzungen des Gesichtes“ gewertet, das 1,2 Prozent entsprach.61 Mit den Folgeerscheinungen der Verletzungen des Kiefers beschäftigte sich der Zahnarzt Hellmuth Angerstein 1931 (Lebensdaten unbekannt). Dem Autor zufolge bezogen 4.250 Kriegsverletzte beim Versorgungsamt in Kiel eine Rente. Davon waren 20 (= 0,47 Prozent) Kieferverletzte. Diese Zahl rechnete Angerstein hoch auf das gesamte deutsche Staatsgebiet und kam bei 838.360 Geschädigten auf insgesamt „3709 Kieferverletzte im Deutschen Reich“. Jeder 212. Rentenempfänger der „Reichsversorgung“ war demnach ein Kieferverletzter.62 Wie aus den hier zitierten Statistiken deutlich hervorgeht, schwankten die angegebenen Zahlen deutlich und können bestenfalls als Richtwert angesehen werden. 2.2.5 Die Behandlungsorte Für die Behandlung, chirurgisch oder prothetisch, wurden in Deutschland und in der k. u. k. Monarchie aus der Notwendigkeit des Kriegsverlaufes heraus spezielle Einrichtungen für Gesichtsverletzte geschaffen oder bestehende Ab57 58 59 60 61 62
Vgl. Hirschfeld et al. (2009), Beitrag zu Invalidität, S. 584, Autor Wolfgang U. Eckart. Vgl. dazu Kapitel 3: Der gesichtsverletzte Soldat. Vgl. Franz (1936), S. 344 und 350. Vgl. Tönnis/Seifert (1943). Herman Hinterstoisser (1914), S. 1656. Angerstein (1932), S. 36.
2.2 Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 1914–1918
39
teilungen ausgebaut und umfunktioniert. Aufgrund der komplizierten Behandlungsmethoden sowie der langen Genesungs- und daher Verweildauer in den Kliniken konzentrierte sich die Therapie von Gesichtsverletzten schon bald auf Spezialheilanstalten, die in den unterschiedlichsten Gebäuden untergebracht waren. Das konnten Schulen, Kirchen oder andere öffentliche Gebäude sein.63 Das Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte bestand aus der Abteilung Sternstraße (ehemals die Privatklinik Bruhn), Mannesmannhaus (zuvor ein Gebäude der Mannesmannröhren-Werke), Rheinlust (zuvor ein Tanz- und Ausflugslokal), Frauenklub (vormals ein Wohnungsbau) und Waldesheim (davor ein Sanatorium für kranke Kleinkinder), die im Stadtgebiet von Düsseldorf angesiedelt waren.64 In Berlin befand sich ein Lazarett für kieferverletzte Soldaten in der Hochschule für bildende Künstler, über die ein Patient 1916 in einem Brief schrieb: „Die äußerst günstige Lage ist allein schon was wert. Dicht am Unter- und Stadtbahnhof Zoo in einer der schönsten Gegenden von Berlin. In dem mächtigen Gebäude liegen 400 Mann. Die Kieferstation umfasst allein etwa 200.“65
Zu Kriegsbeginn gab es in Berlin und in Düsseldorf Betten für etwa 200 Gesichtsverletzte. Bis 1916 waren es auf preußischem Staatsgebiet bereits fünfzehn größere Lazarette, wie Wilhelm Pfaff (1870–1942), Zahnarzt in Leipzig, berichtete.66 Anhand der Berichte und Artikel in den Fachzeitschriften lässt sich die Entwicklung des Versorgungsnetzes in Deutschland und der k. u. k. Monarchie nachvollziehen. Im Jahr 1918 befanden sich auf deutschem Staatsgebiet 52 und in der k. u. k. Monarchie 53 Orte, an denen die unterschiedlichsten Gesichtsverletzungen behandelt wurden. Behandlungszentren waren in Ballungsräumen wie Berlin, Budapest, Düsseldorf, München, Prag und Wien angesiedelt. 1918 zählte Berlin 17 Einrichtungen, in Wien und Umgebung waren es sogar 22. Die meisten von ihnen hatten einen temporären Charakter und wurden nach dem Krieg wieder aufgelöst. Durch die regelmäßig aktualisierten Listen von Behandlungsorten in der k. u. k. Monarchie lassen sich verlässliche Aussagen über den Ausbau der Versorgung treffen.67 Im ersten Kriegsjahr verdoppelten sich die Einrichtungen, in den Folgejahren wurden diese nur noch vereinzelt erweitert. Auch im deutschen Sanitätswesen ist ein ständiger Ausbau der Versorgungsorte von Gesichtsverletzen zu erkennen, so gab es dort bei Kriegsbeginn neun Spezialheilanstalten, die im Laufe des Krieges auf 55 erweitert wurden [vgl. Tabelle 1].
63 64 65 66 67
Vgl. Fotonachlass Juljan Zilz (1914–1918). Vgl. Bruhn (1916), S. 8–20. Brief von Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 28.3.1916, Kurt P. (1916), S. 26–27. Vgl. Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 2. Im zentralen Organ des Zahnärztevereins wurde vierteljährlich eine immer wieder aktualisierte Liste von Behandlungsorten für Gesichtsverletzte veröffentlicht. Für das deutsche Staatsgebiet fehlen systematische Angaben. Hier wurden die Behandlungsorte anhand von Berichten, Artikeln oder Erwähnungen rekonstruiert. Von einer Unvollständigkeit und Ungenauigkeit der Ergebnisse muss daher ausgegangen werden.
40
2. Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie während des Ersten Weltkrieges
Tab. 1: Behandlungsorte Deutschland und der k. u. k. Monarchie68 Jahre
1914
1915
1916
1917
1918
Berlin
–
2
5
10
17
Bundesländer
9
14
21
28
32
unbekanntes Datum 35
Deutschland
9
16
26
38
49
52
Wien und Umgebung
11
21
21
22
22
22
Kronländer68
–
25
27
27
27
27
k. u. k. Monarchie
11
49
52
53
53
53
Zentrale Europa
20
65
78
91
102
105
Quelle: Alle Ortsangaben in den Schriften, die zum Quellenkorpus dieser Arbeit gehören.
2.2.6 Wissenschaft und die Rolle der Patienten als Versuchsobjekte Mit der steigenden Zahl der Verwundeten wuchs nicht nur die Notwendigkeit der Errichtung von Spezialheilanstalten, sondern auch die Möglichkeit, auf diesem Gebiet medizinische Forschung zu betreiben. Die große Zahl der Gesichtsverletzten kam Forschungsgebieten, welche ihr Wissen aus Fallbeispielen gewannen, entgegen. Über Einzelerfahrungen wurde anschließend auf allgemeine Gültigkeiten geschlossen. Viele der Ärzte sahen die große Zahl der Verwundeten als Chance, sich in ihrem Beruf und in der Wissenschaft zu etablieren. So wurde der Krieg letztlich als Lehrmeister wahrgenommen.69 Jaques Joseph (1865–1934), plastischer Chirurg, vergleicht in seinem Jahresbericht von 1917 seine Tätigkeit in der Abteilung für Gesichtsplastik mit der Situation vor dem Krieg und gibt damit einen Einblick in die Forschungspraxis: „Das vielgestaltige und im Vergleich zur Friedenspraxis zum Teil neuartige Material gab mir Gelegenheit, neue Methoden in Anwendung zu bringen und andererseits auch ältere Methoden weiter auszubauen.“70
Die Praxis, neue Behandlungsmethoden an Patienten zu erproben, zeigt sich bei einem anderen Arzt noch konkreter. Erich Lexer (1867–1937), plastischer Chirurg, hatte an der Klinik in Jena 1916 den Versuch gestartet, Haut von anderen Menschen ins Gesicht zu transplantieren (Homoplastik). Ein geglückter Versuch wäre einer medizinischen Sensation gleichgekommen. Angeregt wurde die Art der Forschung auch durch den Konkurrenzkampf mit anderen Behandlungs- oder Forschungsstätten, wie das folgende Zitat zeigt. Vor der „Naturwissenschaftlich-medizinischen Gesellschaft in Jena“71 berichtete Lexer über seine „Versuchsreihe“: 68 69 70 71
Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Ukraine, Polen. Vgl. Hofer (2004), S. 200. J. Joseph (1.7.1917). Sektion für Heilkunde Offizielles Protokoll. 22.VI.1916, Erich Lexer (1916), S. 1339.
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„Der Vortragende hat schon früher über Versuche berichtet, welche sich auf die Möglichkeit der Uebertragung von Epidermis und Haut von einem Menschen auf einen anderen beziehen. Bei der Epidermistransplantation sind, in einer großen Versuchsreihe niemals Erfolge zu erzielen gewesen. Nachdem neuerdings, namentlich bei größeren Kriegsverletzungen, von anderen Seiten günstige Erfolge mit der homoplastischen Epidermistransplantation erzielt worden sein sollen, ist abermals eine Versuchsreihe ausgeführt worden, und zwar mit der für die Epidermistransplantation als das beste Verfahren erkannten Bedeckung mit Hilbol’plättchen. […] Die vielen günstigen Berichte aus älterer Zeit, lassen sich nur durch Täuschungen erklären […]“.72
Die beiden zitierten Ärzte gelten noch heute als Pioniere und Visionäre ihres Faches, nicht zuletzt aufgrund ihrer Arbeit während des Ersten Weltkrieges.73 Entscheidend war in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten, das als paternalistisch beschrieben werden kann, sowie die politische Situation. Der langandauernde Krieg beeinflusste das ärztliche Handeln und dadurch das Verhältnis zu den Patienten. In diesem Zusammenhang lassen sich drei Handlungsrahmen erkennen, die ich in der Folge aus der Perspektive der Ärzte besprechen werde. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient Die Situation des Krieges beeinflusste maßgeblich das Handeln der Ärzte und deren Verhältnis zu ihren Patienten. Als Erstes soll daher der Frage nach dem Verhältnis der Ärzte zum Krieg nachgegangen werden. Der Historiker HansGeorg Hofer stellte fest, dass innerhalb der Ärzteschaft eine positive Haltung zur Kriegspolitik weit verbreitet war. Aus einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Ärzte entwickelte sich eine sozialdarwinistische und rassenhygienische Argumentationslinie in der Befürwortung des Krieges.74 Dabei wurde auf die Bedeutung des Versuchsfeldes Krieg mit dem daraus gewonnenen Menschenmaterial75 – hervorgerufen durch die große Zahl der Verwundeten – für den Fortschritt in der Medizin hingewiesen. Gerechtfertigt wurde diese Vorgehensweise auch mit dem Hinweis auf den Nutzen des gewonnenen Wissens für die Gesellschaft in den Nachkriegsjahren.76 In der Praxis hatte dies zur Folge, dass nur in den seltensten Fällen ein Widerspruch zwischen militärischen Interessen und ärztlicher Ethik wahrgenommen wurde. Der naheliegende ethische Konflikt, der aus der Instrumentalisierung der Medizin durch den Krieg entstand, wurde nicht diskutiert.77 Man konnte sich subjektiv auf traditionelle Moralvorstellungen, wie etwa das Patientenwohl, berufen 72 73 74 75 76 77
Erich Lexer (1916), S. 1339. Vgl. Hans Behrbohm (2008), S. 46–47; Hoffmann-Axthelm (1995) an mehreren Stellen u. a. auf S. 102 und 230. Vgl. Hofer (2004), S. 199; Wolfgang U. Eckhart, Christop Gradmann: Medizin. In: Hirschfeld et al. (2009), S. 210–219, hier 218. Menschenmaterial ist der zeitgenössische Begriff für Forschungsdaten, die den Menschen betreffen. Vgl. Williger/Schröder (1914), S.17; Juljan Zilz (1917), S. 1; Müller-Widmann (1916), S. 7–8; S. Schaar (1917), S. 21. Vgl. dazu auch die Ergebnisse in der Psychiatrie: Whalen (1984), S. 64–65.
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und blendete so die Indienstnahme der Medizin durch den Krieg im „größten Laboratorium, das die menschliche Einbildungskraft ersinnen kann“78, aus. Der humanistische Gedanke in der Medizin diente nicht dem Pazifismus, sondern stand dieser Idee unvereinbar gegenüber.79 Der Eid des Hippokrates und das damit verbundene Gebot den Kranken zu nutzen Stand im Einklang mit der Wahrnehmung, die Versorgung der Verletzten gäbe „dem Krieg ein humaneres Antlitz“80. Trotz der unzähligen Kriegsopfer und der vielen Verwundeten, denen nicht geholfen werden konnte, hielt man weiterhin an der Vorstellung des Krieges als Initiator medizinischen Erkenntnisfortschrittes fest.81 Viele der Ärzte konnten, wie erhofft, die gesammelten Erfahrungen bei der Behandlung der Verwundeten in den Nachkriegsjahren für ihre wissenschaftlichen Arbeiten nutzen. Juljan Zilz beispielsweise veröffentlichte 1925 eine Studie über Ostitis und Nekrose des Unterkiefers dentalen Ursprungs82, deren wissenschaftliche Grundlage Kieferknochen von Gesichtsschussverletzungen des Ersten Weltkrieges waren.83 Die positive Haltung dem Krieg gegenüber speiste sich aus der allgemeinen Akzeptanz kriegerischer Auseinandersetzungen und dem Vorteil hinsichtlich der eigenen Karriere. All diese Aspekte führten auch dazu, dass viele der behandelnden Mediziner den Streitkräften durch zu optimistische Prognosen in die Hände arbeiteten und Verwundete zu einer kalkulierbaren militärischen Ressource machten. Entscheidend für die Behandlung ist auch das vorherrschende und sich immer wieder erneuernde Machtverhältnis von Ärzten und Patienten, das in der Medizin als Paternalismus bezeichnet werden kann. Die Medizinhistorikerin Claudia Wiesemann definiert Paternalismus als eine Bevormundung der an sich mündigen Patienten durch des Arztes. Der Arzt trifft stellvertretend für die Patienten Entscheidungen, denen gegenüber diese verpflichtet sind, sich unterzuordnen. Forschung gilt dann als paternalistisch: „[…] wenn sie für die Versuchsperson selbst keinen Nutzen hat oder nur einen im Verhältnis zum Schaden irrelevanten Nutzen oder sogar nur Schaden und wenn sie zugleich ohne ausreichende Information und Zustimmung der Versuchsperson oder ihrer Angehörigen oder sogar gegen ihren Willen durchgeführt wird.“84
Um das Ausmaß des medizinischen Paternalismus abschätzen zu können, ist es notwendig, die Umstände der Begegnung von Arzt und Patient herauszuarbeiten und nach konkreten gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen.85 Voraussetzung dafür ist die Vorstellung, dass es „keine natürliche Bevormundungstendenz des Arztes gibt“, die paternalistisches Handeln verlangt. Viel78 79 80 81 82 83 84 85
Wolfgang U. Eckhart, Christoph Gradmann: Medizin. In: Hirschfeld et al. (2009), S. 218. Vgl. Herbert Grundhewer (1987), S. 148. Ingo Tamm (1987), S. 1. Vgl. Franz et al. (1922). Juljan Zilz (1925). Vgl. Zeichnungen aus dem Nachlass Juljan Zilz (1914–1918). Claudia Wiesemann (2002), S. 245. Vgl. Claudia Wiesemann (2002), S. 252.
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mehr können „reale soziale Bedingungen eine Abhängigkeit des Patienten oder Probanden vom Arzt und Forscher konstituieren und damit Paternalismus“86 erst ermöglichen. Claudia Wiesemann, schlägt sieben Punkte87 vor, anhand derer man Paternalismus festmachen kann. Vier dieser Punkte möchte ich in Bezug auf das Forschungsthema kurz vorstellen: Punkt eins beschreibt die „soziale Distanz zwischen Arzt und Patient“ auch durch Wissensungleichheit: Bei den Patienten der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien handelte es sich zum größten Teil um Männer, die in der Landwirtschaft tätig waren, um Handwerker oder um Männer in Dienstleistungsberufen.88 Im militärischen Kontext waren diese Männer in der überwiegenden Mehrheit Infanteristen und gehörten somit einem unteren Rang an. Ärzte hatten immer den Dienstgrad eines Offiziers (vom Leutnant bis zum General)89 und waren somit in Bezug auf Ausbildung, Wissensstand (Akademischer Grad) und militärischen Rang dem Großteil der Patienten sozial überlegen. Punkt zwei wäre die „unmittelbare Abhängigkeit des Arztes von Institutionen (wie zum Beispiel dem Militär) sowie die Verpflichtungen des Arztes gegenüber Institutionen über die Erfüllung seiner ärztlichen Aufgaben hinaus“90: Die Ärzte waren während des Ersten Weltkrieges dem Militär und somit den Interessen der k. u. k. Monarchie sowie des deutschen Kaiserreichs verpflichtet.91 Deutlich wird dies vor allem dadurch, dass Ärzte als Behandlungserfolg einen hohen Prozentsatz an wieder einsatzfähigen Soldaten angaben.92 Zum Dienst verpflichtet wurden Militärärzte wie auch zivile Ärzte. Erfahrene Operateure und Universitätsprofessoren wurden als Konsiliarärzte eingesetzt und erhielten automatisch den Dienstgrad eines Stabsarztes (Major). Diese durften in den Dienstbetrieb zwar nicht eingreifen, waren dem Militär an sich aber verpflichtet.93 Punkt drei wäre die „Anonymität von Patienten“94, die aufgrund der großen Zahl der zu behandelnden Soldaten, zumindest in der Etappe, gegeben 86 Claudia Wiesemann (2002), S. 245. 87 „Soziale Distanz zwischen Arzt und Patient: soziale Überlegenheit des Arztes (auch durch Wissensungleichheit); Unmittelbare Abhängigkeit des Arztes von Institutionen (wie zum Beispiel dem Militär), Verpflichtungen des Arztes gegenüber Institutionen über die Erfüllung seiner ärztlichen Aufgaben hinaus; Anonymität von Patienten; Zugehörigkeit des Patienten zu den untersten Schichten der Bevölkerung (medizinische Versorgung als Almosen); Stigmatisierung oder Diskriminierung von Patienten; Unmündigkeit von Patienten (Waisenkinder, Heiminsassen); Einschränkungen der bürgerlichen Rechte von Patienten (Soldaten, Gefangene)“. Zitiert aus: Claudia Wiesemann (2002), S. 245. 88 Vgl. Patientenakten aus der zahnärztlichen Abteilung der Poliklinik in Wien, Zahnmuseum Wien. 89 Vgl. Biwald (2002), S. 94–95. 90 Claudia Wiesemann (2002), S. 245. 91 Vgl. Brief, Immob. Sanitätsamt VI. A.-K. Nr, 2169, Münster 8.9.1914 an sämtliche Reservelazarette, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914a–1916), S. 47. 92 Vgl. Juljan Zilz (1917), S. 4. 93 Vgl. Biwald (2002), S. 95 und 103. 94 Claudia Wiesemann (2002), S. 245.
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war. Dies änderte sich mit der Behandlung in Spezialheilanstalten im Hinterland. Punkt vier beschreibt die „Einschränkungen der bürgerlichen Rechte von Patienten“95, wie es bei Soldaten der Fall war. Anhand dieser vier Punkte kann die Beziehung zwischen Arzt oder Ärztin und einem Gesichtsverletzten als paternalistisch bezeichnet werden. Die Ärzte Das Einbeziehen von Ärzten in Kriegshandlungen, etwa durch administrative Aufgaben96, wirft Fragen nach der Rolle der Ärzte im Sanitätswesen und in diesem Zusammenhang nach deren Selbstwahrnehmung auf – beides Themen, die sich auf das Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten auswirkten. Die ethisch schwierigste Aufgabe dabei war die Bewertung der Dienstfähigkeit der Soldaten bei Abschluss der Behandlung. Mediziner wurden „gezwungen, politisch zu handeln“97, sie wurden zu Militärärzten, „also zu Doppelwesen, sogenannte Arztsoldaten“98. Diese Anforderungen brachten einen neuen Typus Arzt hervor, „der wie seine Kameraden auch die innere Wandlung des Frontsoldaten mitgemacht habe.“99 Juljan Zilz, der auch vor dem Krieg Militärarzt war, ließ sich in diesem Sinne auf einer Fotografie darstellen. Die Szene zeigt ihn in seinem Arbeitszimmer. Er selbst trägt eine Uniform mit Verdienstkreuzen und militärischen Abzeichen. Dass es sich bei der Person auf dem Bild um einen Arzt handelt, geht erst durch die Staffage mit Gipsbüsten gesichtsverletzter Männer hervor [vgl. Abbildung 3]. Neben der Figur des Militärarztes existierte die Inszenierung der Ärzte als „Helden im weißem Kittel“100. Darüber hinaus positionierten sich gesichtschirurgisch tätige Ärzte an der Schnittstelle von Chirurgie und Kunst, sozusagen als Skulpteure der Gesichter.101 Gleichzeitig grenzte man sich entschieden von einer Chirurgie ab, die in erster Linie das Aussehen der Patienten und Patientinnen verbesserte, wie es in der plastisch-ästhetischen Chirurgie oft der Fall war.102 Aus diesen Selbstwahrnehmungen leiteten sich Erwartungshaltungen an Patienten und Patientinnen ab. Für Soldaten des Ersten Weltkrieges bedeutete dies, dass sie bereitwillig ihren Körper in den Dienst für das Vaterland stellen sollten. Die Aufopferung für den Krieg und das Vaterland wurde auch den Verwundeten abverlangt, indem sie alles dafür tun sollten, so bald wie mög95 96 97 98 99 100 101
Claudia Wiesemann (2002), S. 245. Vgl. Biwald (2002), S. 108. Böhme (2008), S. 108. Köhne (2009), S. 61. Hofer (2004), S. 281. Hans Pichler (1936), S. 351. Vgl. Telefonische Notiz, Telefonat mit Erich Lexer, Urenkel von Erich Lexer, Privatarchiv Melanie Ruff; Lange (1917); Hoffmann-Axthelm (1995), S. 269–270. 102 Vgl. Ludwig Stettenheimer (1908), S. 319 und 320.
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Abb. 3: Juljan Zilz in seinem Arbeitszimmer, 1914–1918. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
lich wieder einsatzfähig zu werden.103 Dazu gehörte auch, den vorgeschlagenen Operationen bereitwillig zuzustimmen.104 All dies schlug sich in einem Paternalismus gegenüber den Patienten nieder, der bereits vor dem Krieg Teil des Alltages im Zusammentreffen von Arzt und Patient war, sich aber durch die Situation des Krieges massiv verstärkte. Auch die Krankenpflege und deren Aufgabengebiete beeinflusste neben den Ärzten viele Bereiche des Lazarettbetriebes. Die Aufgabengebiete reichten von Verwaltungsarbeiten bis hin zur Seelsorge. Daran anknüpfend wurde dieser Berufsstand in vielen Darstellungen als Symbol für die humane Seite des Krieges verwendet. Krankenpflege Die Krankenpflege, zum größten Teil von Frauen durchgeführt, setzte sich aus professionellen Pflegerinnen und Pflegern und Kriegsfreiwilligen zusammen. Neben der professionellen Krankenpflege wurden unter dem Dach des Roten Kreuzes Kriegsfreiwillige zu Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern ausgebildet, deren Kriegsbegeisterung denen der Ärzte glich.105 Ähnlich wie Ärzte stellten sich Pfleger die ethischen Fragen nach der Rolle der Medizin im 103 Vgl. Josef König, Tagesgeschichte. Professor Dr. Wunschheim zum Doppeljubiläum, Wien 1935, Ö. Zeitschrift für Stomotologie, Heft 23, S. 1468–1469., S. 1469. 104 Vgl. Hans Pichler (1917), S. 383; mehr dazu in Abschnitt 4.2.2: Einverständniserklärung. 105 Vgl. Herbert Grundhewer (1987), S. 145; Schulte (1998), S. 100.
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Krieg nicht.106 Mit dem Fortlauf des Krieges stieg der Bedarf an Pflegepersonal vor allem in Feldlazaretten.107 Die Kriegsbegeisterung vieler Frauen und der Wunsch an der Front tätig zu sein, führten aber gleichzeitig zu Engpässen in den Lazaretten im Hinterland.108 Das Pflegepersonal übernahmen zu Kriegsbeginn die „üblichen“ Tätigkeiten und erlangte durch die „gehobenen“ Anforderungen im Krieg und die vielen verletzen Soldaten immer mehr Kompetenzbereiche.109 Qualifizierte Operationsschwestern assistierten den Chirurgen, der größte Teil von ihnen wurde in „der Verwundetenpflege, in Seuchenlazaretten sowie in Nervenabteilungen eingesetzt.“110 Um die neuen Entwicklungen in der Medizin, wie zum Beispiel die Asepsis, in der Chirurgie anwenden zu können, benötigte man qualifiziertes Pflegepersonal111, das trotz der hohen Anzahl an Freiwilligen nur schwer zu finden war.112 Durch die spezifische Art der Verletzung war das Aufgabenfeld der Pflegerinnen und Pfleger von Gesichtsverletzten sehr anspruchsvoll. Ihre Hauptaufgaben in den Spezialheilanstalten für Gesichtsverletzte waren die „Ernährung der Verletzten sowie die peinliche Reinigung der Mundhöhle und Schienenverbände“113. Das Pflegepersonal hatte auf den Alltag der Verwundeten großen Einfluss. Aufgrund der Spezialpflege und der langen Behandlungsdauer entstand eine besondere Nähe und in manchen Fällen ein besonderes Vertrauensverhältnis.114 Trotz der auch für den Wundverlauf entscheidenden Aufgabenerfüllung blieb die Pflege in wissenschaftlichen Abhandlungen unterrepräsentiert und nur in Ausnahmefällen trat das Pflegepersonal als Autorinnen oder Autoren in der Fachwelt auf.115 Diese Beobachtung deckt sich mit der Organisation der Aufgaben entlang geschlechtsspezifischer Zuschreibungen und der ihnen beigemessenen wissenschaftlichen Bedeutung. Ein Großteil der Aufgabengebiete wurde im Zusammenhang mit der vermeintlich „natürlichen“ Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter gesehen. Nicht auf einer medizinischen Ausbildung basierend, sondern aus der gesellschaftlichen Rolle und den „angeborenen“ Fähigkeiten heraus ergab sich die Qualifikation für den Beruf der Pflegerin. Gemeinsam mit dem „bürgerlichen Frauenbild des späten 19. Jahrhunderts“ wurden diese Vorstellungen in das Berufsbild der Krankenschwester eingegliedert.116 Im Mittelpunkt der weiblichen Tugend stand weiterhin das Sich-Aufopfern für die Familie, nur die Zielgruppe wurde auf potentiell alle Männer erweitert. Mit dem Konzept der „geistigen Mutterschaft“ konnten sich auch die „nichtverhei106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116
Vgl. Schulte (1998), S. 110. Vgl. Jakob Vogel (1998), S. 322. Vgl. Dorffner (2000), S. 177. Herbert Grundhewer (1987), S. 138. Schulte (1998), S. 106. Vgl. Herbert Grundhewer (1987), S. 138. Vgl. Dorffner (2000), S. 173. Juljan Zilz (1915), S. 6. Vgl. Kurt P. (1915); Unterlagen zum Fall Brand, Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927). Vgl. Tilly Weishaupt (1915). Herbert Grundhewer (1987), S. 135.
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rateten (jungen, wie alten) Frauen“ identifizieren.117 Die erhaltenen Briefe von zwei Pflegerinnen der Kriegszahnklinik in Lublin stützt dieses Bild.118 Mit dem Entwurf der „Frau als Mutter aller Kranken“ bestand „ihr Lohn nicht im Geld, sondern lag in ihrem Aufblühen angesichts des Leidens anderer.“ Daher schätzte man innerhalb des Sanitätswesens während des Ersten Weltkrieges die Leistungsfähigkeit freiwilliger Pflegerinnen (die unentgeltlich im Sinne der Natur der Frau den Soldaten helfen) höher ein, als die Leistung derer, die entlohnt wurden.119 Dies hing mitunter auch damit zusammen, das man den so genannten ‚Kriegsfrauen‘ vorwarf, sich am Krieg zu bereichern und ungebührenden beruflichen Ehrgeiz zu entwickeln. Mit diesem Vorwurf wurden nicht nur Krankenschwestern und Arbeiterinnen konfrontiert, sondern auch Soldatenwitwen, die durch den Tod des Mannes vom Erhalt der Witwenpension profitieren würden.120 Der Stand der Pfleger unterschied sich damit fundamental von dem des Ärztestandes, deren Engagement im Krieg meist beruflichen Aufstieg und gesellschaftliche Anerkennung bedeutete. Dabei stand während des Krieges noch keinesfalls fest, welche Disziplinen und welche Ärzte für die Behandlung von Gesichtsverletzen zuständig waren. Akteure in diesem Kontext waren Fachärzte der Zahnheilkunde sowie der plastischen Chirurgie. Beide Disziplinen hatten daran Interesse, dieses neue Aufgabengebiet für sich in Anspruch zu nehmen. Während des Krieges war sich ein Großteil der Ärzte darüber einig, dass es medizinisch wie organisatorisch sinnvoll war, disziplinübergreifend zusammenzuarbeiten.121 Nach dem Ende des Krieges ging es darum zu entscheiden, an wen sich die Kriegsversehrten in der Folge wenden sollten und welche Einrichtungen dafür beibehalten und der Zivilbevölkerung für Behandlungen zur Verfügung gestellt werden sollten. Institutionalisierung und die Rolle von Patienten Die 105 während des Krieges errichteten militärischen Einrichtungen wurden mehrheitlich nach Kriegsende (in manchen Fällen erst einige Jahre danach) oder nach Verlust von Gebieten wieder geschlossen.122 Der Zweck der Lazarette, Kliniken und Spezialabteilungen, nämlich die Versorgung von Verwundeten aus Frontkämpfen, war nach dem Krieg an sich nicht mehr gegeben. Viele der Lazarett-, Klinik- und Abteilungsleiter hatten jedoch weiterhin ein 117 Seiss (2002), S. 40. 118 Vgl. Brief von Fielicitas Waldmann vom 28.3.915 an Juljan Zilz. Patientenakt Stefanie R., Juljan Zilz (1914–1918). 119 Herbert Grundhewer (1987), S. 145. 120 Vgl. Claudia Siebrecht (2008), S. 260–261. 121 Vgl. A. u. (1916); Brief von Carl Partsch (1855–1932), Chirurg, 1917 an Christina Bruhn, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, S. 35–36, S. 36 ; HoffmannAxthelm (1995), S. 277–285; Paul Plowitz (1916), S. 83–84. 122 Dies war bei Juljan Zilz der Fall, dessen Kriegszahnklinik in Lublin aufgrund von Gebietsverlusten geschlossen werden musste. Juljan Zilz wurde daraufhin nach Wien an die Universität versetzt, Archiv der Universität Wien.
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Interesse daran, ihre Einrichtungen aufrecht zu erhalten. Nach Kriegsende mussten daher gegenüber den Behörden Argumente für ein Fortbestehen gefunden werden. Die größten Chancen auf eine Fortexistenz hatten die Spezialeinrichtungen bestehender Kliniken. Dabei wurden unterschiedliche Strategien gegenüber Behörden und Geldgebern angewandt, bei denen die Patientinnen und Patienten eine wichtige Rolle einnahmen. Anhand des Beispiels der Westdeutschen Kieferklinik in Düsseldorf möchte ich im Folgenden zeigen, wie die Gruppe der Patienten in die Begründungen für den Fortbestand der Klinik eingebunden wurde. Die Adressaten der 1923 von Christian Bruhn (1868–1942), Lazarettleiter in Düsseldorf, verfassten Argumentation waren die Universitätsklinik Düsseldorf, die Stadtverwaltung und die Rentenkassen, die in ihrer Funktion als mögliche Finanziers eines Klinikbetriebes von Interesse waren. Von großer Bedeutung war der Hinweis auf die moralische Verantwortung gegenüber den Kriegsinvaliden, die ein Opfer für die Gemeinschaft gebracht hatten.123 Das zweite Argument knüpfte an die zivile Nutzung der gesammelten Erfahrungen an. Das in den Kriegsjahren durch die Behandlung von Soldaten erlangte Wissen sollte zivilen Bevölkerungsgruppen in einem Zentrum für Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollten die gesammelten Unterlagen in Form einer „Kriegssammlung“ der Wissenschaft weiterhin zugänglich sein.124 Ein schlagendes Argument war der Verweis auf mögliche Kostenersparnisse. Christian Bruhn verfolgte diese Taktik bereits 1917, als er sich bezüglich des „Fortbestehens einer Klinik für Kieferund Gesichtsverletzungen“ mit einem Schreiben an die Landesversicherungsanstalten wandte, um eine finanzielle Beteiligung an den Kosten für die Errichtung der Westdeutschen Kieferklinik zu erwirken. Christian Bruhn führte in dem Schreiben an, dass Versicherungsanstalten durch eine, den wissenschaftlichen Standards entsprechende Behandlung bei Rentenauszahlungen sparen könnten.125 Ferner gebe es bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit durch eine dauerhafte Behandlungsstätte Einsparungsmöglichkeiten. Sparpotential sah er auch in der Vermeidung von Rentenzahlungen an „Simulanten“, die Ärzte durch eine Langzeitbetreuung sofort erkennen würden. Betroffen seien davon in der Hauptsache Patienten mit Kieferklemmen, „denn hier ist erfahrungsgemäß häufiger Simulation nachzuweisen“126. Des weiteren könn123 Vgl. Düsseldorfer Oberbürgermeister (1923). 124 Die Kriegssammlung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, sofern sie überhaupt noch vorhanden ist, nicht auffindbar. Gespräche mit den Mitarbeitern des Stadtarchivs Düsseldorf 2012. Erwähnung fand sie in: Aufruf eines Mitarbeiters der Kriegssammlung an die „Lazarett-Direktoren“, Düsseldorf nach März 1918, genaues Datum unbekannt. Manuskript, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914b–1916). 125 Dies belegte er mit einer Umfrage unter Kriegsgeschädigten, welche Invalidenrente sie in welcher Höhe bezogen. Von den erhobenen 550 Kieferverletzten bezogen 108 Personen Invalidenrenten. Vgl. Christian Bruhn an die Landesversicherungsanstalten, 1917, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, S. 30–34, S. 30. 126 Christian Bruhn an die Landesversicherungsanstalten, Düsseldorf 1917, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, S. 30–34, 30–31.
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ten sich, durch eine Spezialisierung, Experten bei der Bewertung der Arbeitsfähigkeit herausbilden. Fehlbeurteilungen auf Kosten der Krankenkassen könnten auf ein Minimum begrenzt werden. Ein weiterer Kostenpunkt war die Dauer der Nachbehandlungen. Da die „Mehrzahl der Kriegsbeschädigten […] jugendliche Individuen“ waren, „die noch ein langes Leben vor sich haben“, würde man durch eine richtige Behandlung auch auf lange Sicht bei Nachbehandlungen sparen können und den Grad der Invalidität einschränken.127 Als letzten Punkt hinsichtlich der Kostenersparnis sprach Bruhn den Umstand an, dass viele Gesichtsverletzte auf Nachbehandlungen verzichteten, wenn diese in militärischen Einrichtungen stattfanden, wodurch sich das Ausmaß der Invalidität erhöhen würde. Eine zivile Behandlungsstätte wie die in Düsseldorf sollte hier Abhilfe schaffen: „Man könnte einwenden, dass es sich um Kriegsbeschädigungen handelt, und der Staat daher auch zu der Nachbehandlung verpflichtet ist. Gewiss, aber viele Kriegsbeschädigte werden es ablehnen, sich wieder in ein Militärlazarett mit dessen strenger Zucht und Lazarettordnung aufnehmen zu lassen, und die Versicherungsanstalt hat dann kein Mittel, den Eintritt der Invalidität zu hindern. Anders, wenn ihr andere Anstalten zur Verfügung stehen! Nicht nur, dass mancher Verwundete sich leichter zur Nachbehandlung entschliessen wird, die Versicherungsträger haben vor allem dann auch die Möglichkeit, nach § 1272 R. V. O. die Rente ganz oder teilweise dem zu versagen, der sich ohne triftigen Grund dem Heilverfahren entzieht.“128
Bruhn versicherte, dass schon allein das Vorhandensein einer solchen Klinik den Druck auf die Verletzten, sich weiter behandeln zu lassen, erhöhen würde. Um die Chancen auf ein Weiterbestehen zu steigern, setzte er neben rationalen Argumenten auch auf die Unterstützung von namhaften Persönlichkeiten aus dem Bereich der Medizin.129 Seine Bemühungen waren erfolgreich, 1923 kam es zu einem Vertrag mit den Versorgungsämtern und der Stadtverwaltung, in deren Verwaltung die Westdeutsche Kieferklinik schließlich überging.130 Damit war das Weiterbestehen gesichert. Ähnlich wie Christian Bruhn handelte Hans Pichler in Wien. Auch seine Abteilung konnte nach dem Krieg erfolgreich aufrechterhalten werden.131 Beide Einrichtungen bestehen bis heute.132 Das Erfolgsrezept für die Erhaltung der Klinik bestand aus mehreren Faktoren: medizinische Versorgung, Wissenschaft, Ausbildung und Finanzierbarkeit. Christian Bruhn verstand es, die Bedeutung der Klinik für die medizinische Versorgung der Bevölkerung hervorzuheben. Daneben wurde in Schriften aus und über die Klinik immer wieder auf deren Leistungen wäh127 Christian Bruhn an die Landesversicherungsanstalten, Düsseldorf 1917, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, S. 30–34, 30–31. 128 Christian Bruhn an die Landesversicherungsanstalten, Düsseldorf 1917, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, S. 30–34, S. 31. 129 Vgl. Brief Christian Bruhn, Düsseldorf 1923, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925), S. 94– 115. 130 Vgl. Vertrag mit dem Versorgungsamt NRW, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925), S. 70– 76. 131 Vgl. Archiv Universität Wien. 132 Vgl. Geister (2004); http://www.meduniwien.ac.at/maxillo-facial/, 10.6.2013.
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rend des Krieges und die Notwendigkeit von Folgebehandlungen der Kriegsinvaliden verwiesen, die je nach Interessenlage als Kostenfaktor, wissenschaftliches „Material“, Almosenempfänger, Verletzte oder Kranke wahrgenommen wurden.133 2.3 Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie Auf der Tagung Medizin und Krieg in historischer Perspektive, die 2008 in Düsseldorf stattfand, kommentierte ein Chirurg den Innovationsgehalt von Kriegen wie folgt: „Eine große Quantität an Operationen sagt noch lange nichts über deren Qualität aus.“134
Dieser treffende Kommentar beschreibt den Umstand, dass die Qualität der Behandlungen unter der großen Zahl an Operationen und den mangelnden Ressourcen litt. Thomas Schlich, Medizinhistoriker, interpretierte die Rationalisierung der Behandlung während des Ersten Weltkrieges als Teil einer Gesamtentwicklung, die sich durch einen „Trend zur Militarisierung“ in der Medizin festmachen lässt. In den letzten beiden Jahrhunderten, so Schlich, entstand aus dem Konzept einer möglichst weitreichenden Effizienz bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten ein „‚Biomilitarismus‘“, der militärischen Zielsetzungen entlehnt wurde und sich noch heute in der Sprache der Medizin findet. Man liest vom „‚Kampf‘ gegen Krankheiten oder Bakterien, von ‚Invasion‘, Kolonisierung“ und Ähnlichem.135 Ziel der Kriegsmedizin war es in diesem Zusammenhang, Bedingungen zu schaffen, „die es erlaubten, in Zukunft noch effizienter mit Gewalt gegen Gesundheit und Leben des Feindes vorzugehen.“ Die Gesundheit des Einzelnen verschwand so aus dem Blickfeld der Interessengruppen (Militär und Medizin).136 Das sich daraus entwickelnde System der Krankenzerstreuung oder Triage (= Diagnose, Beurteilung der Dringlichkeit des Eingriffes, Beurteilung des Grades der Transportfähigkeit und Entscheid des Behandlungsortes) gewann durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges an Effizienz.137 Auf die medizinische Praxis und schließlich auch auf das Anforderungsprofil der behandelnden Ärzte und später auch Ärztinnen hatte dieser Umstand massive Auswirkungen. Schnelles Handeln, Effizienz unter Zeitdruck und vereinfachte Behandlungsmethoden standen und stehen höher im Kurs als das Abwägen unterschiedlicher Lösungsansätze und Behandlungsmetho133 Vgl. Brief mit Vertragsentwurf für die Erhaltung der Westdeutschen Kieferklinik an die Stadtverwaltung Düsseldorf, Düsseldorf 1923, Christian Bruhn (1917), S. 4. 134 Vgl. Melanie Ruff, Mitschrift bei der Tagung Medizin und Krieg in historischer Perspektive, 18.–20.9.2009, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 135 Thomas Schlich (1996), S. 129. 136 Thomas Schlich (1996), S. 130. 137 Vgl. Axhausen (1940), S. 25–33.
2.3 Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie 51
den oder Geduld und Empathie gegenüber Patienten und Patientinnen.138 Julius Steinberg (Lebensdaten unbekannt), Chirurg, der unter anderem Gesichtsverletzte behandelte, sprach 1915 daher vom „Zeitalter der Rekordoperateure“139. Der Erste Weltkrieg brachte andererseits aber auch eine Vielzahl von Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen hervor, deren Leistungen während des Krieges noch heute als Meilensteine wahrgenommen und in den Fachliteratur hochgehalten werden.140 Die hier besprochenen Aspekte der Disziplin und ihrer Akteurinnen und Akteure beschreiben einige Rahmenbedingungen von Gesichtsverletzten, innerhalb derer sie sich im Lazarettalltag bewegten. In der folgenden Diskursanalyse soll dem Bild des gesichtsverletzten Soldaten in der Fachwelt sowie der breiteren Öffentlichkeit nachgegangen werden. Die dort entworfenen Bilder hatten, ähnlich den Rahmenbedingungen, Einfluss auf den Alltag von gesichtsverletzten Männern.
138 Thomas Schlich (1996), S. 129. 139 Julius Sternberg (1915), S. 754. 140 Vgl. Horch/Bier (2007), Kapitel: Plastische und rekonstruktive Mund-, Kiefer-Gesichtschirurgie, S. 753; Vorlesungsunterlagen von Prof. DDr. Günter Lauer an der Medizinischen Universität Wien, Vorlesungen Block Z8 2012, http://www.meduniwien.ac.at/maxillo-facial/PlastischeChirurgie.pdf, 2.7.2013.
3. Der gesichtsverletzte Soldat: Darstellungen von Gesichtsverletzten in der Medizin und Öffentlichkeit Das Aussehen der Männer und die Wirkung auf Dritte spielte in der öffentlichen und in der wissenschaftlichen Debatte immer wieder eine Rolle. Letztendlich wurde das Aussehen zu einem wichtigen, wenn nicht sogar zum wichtigsten Merkmal in der Beschreibung von gesichtsverletzten Soldaten. In den medizinischen Texten wurde die Figur des Gesichtsverletzten in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht mit Konzepten von Andersartigkeit gekoppelt. Dabei ist festzustellen, dass Andersartigkeit in den Beschreibungen eng mit den Vorstellungen eines normalen männlichen Lebenslaufes verwoben wurden. In populären Darstellungen wurde dieses Bild übernommen, um die Figur des Gesichtsverletzen als Antikriegshelden erweitert und politisch funktionalisiert. Zeitgenössische Konzepte von Männlichkeit hatten eine große Auswirkung auf die militärmedizinische und gesellschaftliche Wahrnehmung gesichtsverletzter Männer. Um diese Koppelung von Männlichkeit, Aussehen und Andersartigkeit theoretisch zu verorten, soll im Weiteren ein Einblick in Konzepte von Männlichkeit und Andersartigkeit gegeben werden. Im Sammelband Männer-Macht-Körper1, herausgegeben vom Historiker Martin Dinges, historisieren die Autorinnen und Autoren Männlichkeitsbilder vom „Mittelalter bis heute“2. Als roter Faden dieses Buches wird das Konzept der hegemonialen Männlichkeit der Soziologin Raewyn Connell auf dessen Aussagekraft hin untersucht und diskutiert. Unter dem Titel Gender and Power3 veröffentlichte Connell die in der Folge oft zitierte These des Systems hegemonialer Männlichkeit, in der Männlichkeit mit Macht und sozialen Konstruktionen verknüpft wird. Männlichkeit stellt für Connell nicht eine individuelle Geschlechtszugehörigkeit einzelner Männer dar, vielmehr versteht sie darunter Handlungsmuster, anhand derer sich Männer im Geschlechterverhältnis positionieren.4 In diesem Zusammenhang kann Männlichkeit als Produkt eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, als ein Diskurs und eine soziale Praxis zugleich verstanden werden, die, wie Sabine Kienitz vorschlägt, in ständiger Wechselwirkung zueinander stehen.5 Der Körper der Verletzten ist für Kienitz ein Produkt von Diskursen und Zuschreibungen, sozusagen ein „zentrales Medium der Kommunikation über den Krieg“. Gleichzeitig stellt er in seiner „konkreten Materialität“ einen „Gegenstand der Zurichtung und Rekonstruktion“ dar, in den die Medizin, aber auch politische Akteure oder die Betroffenen selbst miteinbezogen waren. Wie Kienitz zudem feststellte, wird 1 2 3 4
5
Dinges (2005). Vgl. Dinges (2005). Vgl. die deutsche Ausgabe, Connell (1999). Vgl. Christoph Schwamm (2013, 13. Juni), Die Geschichte psychischer Erkrankungen von Männern in der Bundesrepublik Deutschland: Probleme, Quellen, Fragestellung. Institutskolloquium zur Geschichte der Medizin (2013), Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart [Eigene Mitschrift]. Vgl. Kienitz (2008), S. 255–256.
3. Der gesichtsverletzte Soldat
53
mit dem „Auseinanderbrechen von scheinbar festen Gewissheiten“ der Konstruktionscharakter der Vorstellung von Männlichkeit ersichtlich. Inszenierungen werden dadurch greifbar und durch den „offensichtlichen Bedarf an rekonstruktiven Maßnahmen auch thematisierbar. Erst im Moment der [körperlichen, RM] Zerstörung zeigte sich der Zusammenhang zwischen einer als männlich begriffenen Identität und der materiellen Leiblichkeit, die dieser Identität zugrunde liegt“6 und bringt ein Gebilde von Selbst- und Fremdzuschreibungen zu Tage. Männlichkeit als Kategorie ist zum Einen kulturell konstruiert und kann zum Anderen durch große soziale Differenzierungen und zeitlich-räumliche Variationen gekennzeichnet sein. Die kulturelle Konstruktion von Männlichkeit und deren kulturell vermittelte Deutungen können dabei als gelungener „Vergesellschaftungsprozess innerhalb des symbolischen Systems der Geschlechterordnung“ gedeutet werden7, was sich schlussendlich am deutlichsten in den Biografien der Männer niederschlug.8 Die Historikerin Julia Köhne beschäftigte sich in ihrer Dissertation mit „Kriegshysterikern“ und deren bildlichen und medialen Repräsentationen in der Militärpsychiatrie. Im Gegensatz zu Sabine Kienitz, die kulturwissenschaftliche Ansätze verfolgte, nimmt Barbara Köhne eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive ein und befragt einen Fotobestand einer psychiatrischen Einrichtung des Ersten Weltkrieges nach den darin enthaltenen wissenschaftlichen Denkfiguren und deren Bedeutung für die Erzeugung medizinischen Wissens. In der Zusammenschau von Patientenakten, Fotografien und Filmen spricht sie von einem „Dogma der unbedingten Heilung“ der Kriegsversehrten, welches „gerade in den visuellen Medientechniken hervortrat“9. Dieser These nachzugehen lohnt sich auch für die vorliegende Arbeit. Wie schon an mehreren Stellen angedeutet, spielte das Aussehen der Männer eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung der Betroffenen. In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob der Sitz der Versehrtheit Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Männer in der Öffentlichkeit hatte. Oder anders formuliert: Wurde über Männer mit Beinamputationen anders gesprochen als über Männer mit Gesichtsentstellungen? Ein theoretisches Erklärungsmodell dazu bieten die Ansätze der Disability Studies und deren Konzepte von Andersartigkeit. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zu Forschungen zur körperlichen Andersartigkeit als Differenzkategorie, deren gemeinsame Grundannahme eine Auffassung von Behinderung als gesellschaftlich konstruiert und historisch veränderbar ist.10 Die Annahme, dass diese Zuordnungen Auskunft über die Normvorstellungen einer ganzen Gesellschaft in sich tragen, die zugleich auf die Handlungsräume der Betroffenen rückwirken, ist im Rahmen der Disability Studies eine Selbstverständlichkeit, in weiten Teilen der Patienten- und 6 7 8 9 10
Vgl. Kienitz (2008), S. 13, 257 und 346. Kienitz (2002), S. 192–193. Vgl. Kapitel 6: Biografien. Köhne (2009), S. 300. Vgl. Bösl et al. (2010), S. 7.
54
3. Der gesichtsverletzte Soldat
Medizingeschichte jedoch keineswegs. Bei der Gruppe der Gesichtsverletzten handelte es sich um Männer, die ihre Andersartigkeit durch ihren Kriegseinsatz erwarben, und deren körperliche Einschränkungen in erster Linie durch ihr Aussehen und erst in zweiter Linie durch körperliche oder gesundheitliche Einschränkungen wie Sprachprobleme, Atemprobleme, Schwierigkeiten bei der Ernährung oder der Verdauung gekennzeichnet waren. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer sozialen oder gesellschaftlichen und nicht von einer körperlichen Andersartigkeit sprechen. Obwohl die Gesichtsverletzungen nicht versteckt werden konnten und für jedermann immer sichtbar waren, musste in der Gesellschaft das Bewusstsein für die sozialen Folgen dieser Verwundung, von der nun nicht Syphilis- oder Karzinomkranke sondern Soldaten betroffen waren, erst geweckt werden. Im nächsten Kapitel wird daher folgenden Forschungsfragen nachgegangen: Wie wurde der Gesichtsverletzte konstruiert, welche sprachlichen und bildlichen Repräsentationen von Gesichtsverletzten existierten und wurden in der Öffentlichkeit verbreitet, und welche Akteure und Akteurinnen waren für diese Konstruktionen verantwortlich? In den Abschnitten „Der Gesichtsverletzte als Patienten und Soldat“, „Die Bedrohung“, „Die Wiederherstellung“ und „Die Medizin informiert“ werden die Zugänge der Mediziner erörtert, dekonstruiert und Muster (Diskursstränge) herausgearbeitet. Im zweiten Teil werden diese Diskursstränge populären Medien wie Zeitschriften, künstlerischer Auseinandersetzung in Form von Gemälden und Romanen oder musealen Aufarbeitungen gegenübergestellt und nach deren Kontinuitäten und Funktion befragt. Methode Im ersten Teil dieses Kapitels (Abschnitt „Der Gesichtsverletzte als Patient und Soldat“, „Die Bedrohung“, „Die Wiederherstellung“, „Am Ende der Behandlung“) wird den Denkfiguren und Diskurssträngen in medizinischen Fachschriften anhand der Methode der Diskursanalyse nachgegangen. Auf Grundlage der Ergebnisse der Diskursanalyse wird im weiteren Schritt die Kontinuität der Diskursstränge im Sprechen über Gesichtsverletzte vergleichend anhand ausgewählter Beispiele (populäres Wissen, Kunst und Ausstellungswesen) erarbeitet. Der hier verwendete Diskursbegriff orientiert sich an dem von Achim Landwehr vorgeschlagenen Verständnis, Diskurse als historische Phänomene zu fassen, die in ihrer „Gesamtheit als Menge all jener textlichen, audiovisuellen, materiellen und praktischen Hervorbringungen beschreiben, welche das Thema des Diskurses in irgendeiner Weise behandeln oder auch nur nebenher streifen“11. Durch die rege Publikationstätigkeit mit ihren vielfältigen Veröffentlichungsstilen eignen sich Publikationen der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen im besonderen Maße für diese Methode, auch wenn die Mate11
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3.1 Fachzeitschriften
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rialität des Themenfeldes und die praktischen Hervorbringungen anhand dieser Quellen nicht berücksichtigt werden konnten. Die Ergebnisse der Analyse der Fachpublikationen werden anschließend mit Darstellungen von Gesichtsverletzten in Literatur, Journalismus und bildender Kunst verglichen. Letztere werden auf deren Bezüge zu medizinischen Diskursen und deren jeweiligen Interpretationen von medizinischen Darstellungen und Wissen befragt. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zu Tradierungen der Darstellungsformen und deren mögliche Auswirkungen auf die gegenwärtige Wahrnehmung von Gesichtsverletzten. In der Folge werden in diesem Abschnitt die Quellenkorpora formal und inhaltlich ausgewertet, um die Funktionsweisen und Strukturen der Quellen darzulegen, die, so die Ausgangthese, entscheidend sind bei der Konstruktion der Wissensfigur des gesichtsverletzten Mannes. 3.1 Fachzeitschriften Während des Ersten Weltkrieges erschien in Zeitschriften eine Vielzahl von Artikeln, Rezensionen sowie Tagungs- und Versammlungsberichten. Daneben wurden regelmäßig Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte in Monografien und Sammelwerken veröffentlicht. Die wichtigsten Zeitschriften im Bereich der Zahnheilkunde und der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie stellten die Österreichisch-ungarische Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde dar, herausgegeben vom Centralverein deutscher Zahnärzte und nach der Gründung eines eigenen Vereins in Österreich das Organ für diesen war. Die Zeitschrift erschien vierteljährlich in Wien. An ein breiteres Fachpublikum richteten sich die beiden Zeitschriften Wiener Klinische Wochenschrift, Erscheinungsort Wien, und die Deutsche Medizinische Wochenschrift, Verlegungsort Stuttgart. Sie erschienen, wie der Titel bereits ankündigt, wöchentlich. Bei den Periodika handelt es sich um Schriften, die regelmäßig aufgelegt wurde und somit eine Konstante und Regelmäßigkeit der Veröffentlichungen gewährleisteten. Die „Wiederholung und Gleichförmigkeit von immer wieder ähnlich Gesagtem oder Geschriebenem“, ein wichtiges Kriterium für die Korpusbildung, ist daher gegeben.12 Aufgrund der regen Publikationstätigkeit und der oftmaligen Schwerpunktsetzung auf den Bericht von Arbeitsabläufen aus dem Lazarettalltag, treten viele Autoren und nicht nur Koryphäen des Faches in Erscheinung. Dadurch geben sie auch den aktuellen Stand der Forschung und Praxis wieder und können durch das regelmäßige Erscheinen schnell auf neue Ideen und Methoden reagieren. Bei Monografien treten meist nur prominente Ärzte als Autoren auf, in den Zeitschriften jedoch veröffentlichen auch Mitarbeiter. Somit kann ein breites Spektrum der Ideen- und Mentalitätsgeschichte abgedeckt werden. Darüber hinaus finden sich ausführliche Berichte über einzelne Patienten. Die Sitzungsprotokolle medizinischer Tagungen lassen ebenfalls Rückschlüsse auf den Praxisalltag und das aktuelle 12
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
medizinische Wissen zu. Des Weiteren kann man von einer gewissen Aktualität ausgehen, da alle analysierten Zeitschriften im Beobachtungszeitraum regelmäßig vierteljährlich bzw. wöchentlich erscheinen, was mit dem Anspruch der Herausgeber, am neuesten Stand der Wissenschaft zu sein, übereinstimmt. Die Auswahl der in diesem Abschnitt behandelten Primärliteratur wurde anhand folgender Schlagworte getroffen: Chirurgie, Gesicht, Gesichtsverletzung, Kiefer, Kieferheilkunde, Kriegschirurgie, Nase, Oberkiefer, Oberlippe, Prothese, Rhinoplastik, Sanitätswesen, Unterkiefer, Unterlippe, Verwundung, Wange, Zahn, Zahnheilkunde. Insgesamt konnten 253 Titel recherchiert werden, davon wurden 154 Titel während des Krieges, 31 Titel vor dem Krieg und 66 Titel in den Jahren nach dem Krieg publiziert. Von den insgesamt 253 Titeln wurden 207 analysiert, um allgemein gültige Aussagen treffen zu können und einer Überbewertung einzelner Autoren bzw. Aufsätze vorzubeugen [vgl. Tabelle 2]. Tab. 2: Liste der recherchierten Publikationen Publikationstyp
Gesamt/davon vor 1914/davon 1914–18/davon 1919–49/davon bearbeitet bearbeitet bearbeitet bearbeitet
Beitrag in Sammelbänden
27/25
3/1
16/16
8/8
Monografien
81/43
2/–
31/11
48/33
Hochschulschriften
2/2
–
1/–
1/–
Sonderhefte
6/6
3/3
3/3
–
136/131
23/23
103/100
10/8
253/208 (82 %)
31/28
154/130
67/49
Zeitschriftenaufsätze Summe
Der Umfang der Veröffentlichungen variierte stark und hing größtenteils von dem gewählten Publikationstypus und der Seitenformatierung ab. Beiträge in Sammelbänden konnten sich über fünfzig oder noch mehr Seiten erstrecken. Ähnlich verhielt es sich mit Zeitschriftenaufsätzen. Handelte es sich dabei um Tagungs-, und Sitzungsberichte oder Rezensionen, so waren diese nur selten mehr als zwei Seiten lang, Erstveröffentlichungen von Forschungsergebnissen wiederum umfassten bis zu zwanzig Seiten. Die Autorinnen und Autoren verfügten über eine medizinische Ausbildung, mit einigen Ausnahmen waren sie Zahnärzte und Chirurgen. Die Arbeiten waren an ein Fachpublikum adressiert, prinzipiell jedoch auch einem Laienpublikum zugänglich.
3.1 Fachzeitschriften
57
3.1.1 Darstellungsstile Text Bei der wissenschaftlich-publizistischen Darstellung von Gesichtsverletzten wurde auf unterschiedliche Medientechniken zurückgegriffen, die dann in Zeitschriften und Monografien in Form von Fallstudien, Erfahrungsberichten aus den Kliniken, Tagungsberichten (international und national ausgerichtet) oder Rezensionen (international und national ausgerichtet) veröffentlicht wurden. Der Erste Weltkrieg war dabei das Verbindende und zugleich der Anlass von Behandlung, Forschung und Publikationstätigkeit. Ein verbreitetes Stilmittel war es, die aktuelle Kriegssituation zu kommentieren und den Nutzen des Krieges für die Wissenschaft hervorzuheben. Explizit genannt und in einem Absatz besprochen wurde dies in 29 Abhandlungen vor, während und nach dem Krieg. In einigen Fällen wurde die Verletzung in eine Schlachtengeschichte eingebettet.13 Ihnen allen gemein ist die positive Haltung zu kriegerischen Auseinandersetzungen und die Wahrnehmung, der Erste Weltkrieg sei ein Verteidigungskrieg gewesen.14 Bild Die untersuchten Publikationen beinhalten eine vergleichsweise überdurchschnittliche Anzahl an Bildern mit durchschnittlich ein bis zwei Abbildungen pro Seite.15 Diese dienten dazu, das im Text propagierte medizinische Wissen auch auf visueller Ebene zu generieren und Behandlungserfolge anschaulich zu dokumentieren. Der Einsatz von Fotografien erfreute sich mit zunehmenden technischen Verbesserungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts einer ständig wachsenden Beliebtheit in der Medizin. Neben dem Anstieg der Bildqualität trug die immer einfacher werdende Bedienung der Aufnahmegeräte hierzu bei. Immer öfters wurden die anfänglich eingesetzten Fotografinnen und Fotografen von den publizierenden Ärztinnen und Ärzten ersetzt, die in Folge einen Großteil der Bilder selbst anfertigten.16 Fotografien galt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „als Garant wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit und als Motor des Fortschritts und der Erkenntnisvermehrung“17. Sie wurden als Eins-zu-eins-Wiedergabe der Realität18 angesehen, obwohl es sich um s/w Fotografien handelte, die entweder nachkoloriert werden mussten oder mittels alternativen Darstellungsmethoden, allen voran die Zeichnung als Ergänzung für die fehlenden Farben (Er13 14 15 16 17 18
Vgl. Athanas Puljo (1914), S. 337; B. Mayrhofer (1916), S. 125. Vgl. Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 1. Vgl. Rudolf Weiser (1917), 160 Seiten Umfang, „274 Figuren“; Pfaff/Schoenbeck (1916), 292 Seiten Umfang, 182 Abbildungen. Vgl. Bömelburg (2007), S. 18 und 35. Bömelburg (2007), S. 34. Zur Geschichte der Objektivität in der Wissenschaft und der Historizität des Begriffes vgl.: Daston/Galison (2007). Vgl. Bömelburg (2007), S. 34.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
gänzung zur Realität) komplettiert wurden. Fotografien stellten einen zentralen Bestandteil der medizinischen Wissensproduktion dar,19 auf Grund dessen wurde den fotografischen Abbildungen mehr Bedeutung beigemessen als etwa den Zeichnungen. Dies trifft im Besonderen Maße zu Beginn und am Ende der Behandlung zu.20 Sie waren Teil der Anamnese, ein diagnostisches Hilfsmittel und dienten der Dokumentation des späteren Behandlungserfolgs. Die Aufnahmen beim Eintreffen der Verwundeten in den Lazaretten stellten den Ausgangspunkt für die Behandlung und Entwicklung neuer Behandlungsmethoden dar. Darüber hinaus waren sie fixer Bestandteil der Konstruktion des gesichtsverletzten Mannes. Die Aufgabe der (professionellen) Fotografinnen und Fotografen war es, den Vorgang der medizinischen Rekonstruktion von Normalität zu unterstreichen. Mit diesen Bildern zeigte man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Verletzten und vermittelte den Wandel von normal über nicht normal bis hin zu rekonstruiert.21 Dargestellt wurde dies in Vorher-Nachher Sequenzen. Um den direkten Vergleich zu ermöglichen wurde das abweichende neben dem normalen Porträt positioniert [vgl. Abbildung 4]. Interessant für die Frage nach der Konstruktion von Andersartigkeit ist auch das Zusammenspiel von Bild und Text. Bildern kommt hier oft die Aufgabe zu, die Aussagekraft des Beschriebenen zu verstärken oder zu beweisen. Ein Beispiel dafür ist die Rezension des Chirurgen von Schwiening (Lebensdaten unbekannt) eines Artikels des Chirurgen Theodor Völker (Lebensdaten unbekannt), mit dem Titel Plastische Operationen bei Gesichts- und Kieferverletzungen22 aus dem Jahr 1918, der über den Erfolg der Behandlung im Kieferlazarett schreibt: „Wie weit man hier gekommen ist, zeigen die ausgezeichneten Abbildungen von Patienten vor und nach der Operation.“23
Johannes Fredericus Samuel Esser (1877–1946), Spezialist für plastische Chirurgie, verzichtete ganz auf die Beschreibung der abgeschlossenen Behandlung und überließ das Sprechen den Abbildungen: „Die Abbildungen der Operierten mögen das Weitere zeigen.“24
Ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 1914 hat die psychische Belastung der Soldaten durch die Verletzung zum Inhalt. Athanas Puljo (Lebensdaten unbekannt), Zahnarzt im serbischen Zemun, berichtete in einem 32-seitigen Artikel über Fallgeschichten aus dem serbisch-türkischen und serbisch-bulgarischen Krieg. Gegen Ende des Artikels zitierte er einen serbischen Soldaten, der den Hergang seiner Verwundung folgendermaßen beschrieb:
19 20 21 22 23 24
Vgl. Köhne (2009), S. 145. Vgl. Bömelburg (2007), S. 17–18. Vgl. Carden-Coyne (2009), S. 99. Vgl. Schwiening (1918). Schwiening (1918). Esser (1917), S. 1343.
3.1 Fachzeitschriften
Abb. 4: Vier Abbildungen eines gesichtsverletzten Soldaten. Quelle: Heinrich Salomon (1916b), Tafel III.
59
60
3. Der gesichtsverletzte Soldat „Die Bulgaren kamen angerückt und einer von ihnen fragte ihn: ‚Brüderchen, hast du Geld?‘ – ‚Ja‘, antwortete er, ‚4 Dinars.‘ – ‚Gieb sie her.‘ – ‚Ich wollte das Geld geben und begann meinen Rock aufzuknöpfeln. Als er sah, wo ich das Geld verwahrt hatte, riss er mir den Rock auf, nahm das Geld zu sich und sagte: ‚Und nun sollst du sehen, wie ein Bulgare schiesst!‘ Auf nächster Nähe gab er auf mich einige Schüsse ab. Eine Kugel traf meinen Unterschenkel, eine den rechten Arm, eine die Brust und eine den Unterkiefer. Ich fiel zur Erde. Er meinte, ich sei tot, packte mich bei den Füssen und schleifte mich herum. Da habe ich das Bewusstsein verloren und weiss nicht, was weiter geschehen ist.“25
Das Zusammenspiel von Bild und Text ist in diesem Fall besonders interessant, denn der Verweis auf die einzige Fotografie [vgl. Abbildung 5] in diesem Artikel steht an der Stelle, wo der Autor die Aussagen des Soldaten kommentierte: „Der arme Mann war ganz verzweifelt ob seiner Lage. Ich tröstete ihn und liess ihn hoffen, dass der Kiefer wieder vollkommen gesund werden könne (Fig. 8).“26
Der offene Mund des Verwundeten unterstützt die Beschreibung des Soldaten als armen und verzweifelten Mann. Der Arzt selbst inszenierte sich als Trostspender und emotionale Bezugsperson, der man seine Sorgen mitteilen kann. Interessant ist die vom Arzt entgegengebrachte Empathie für den Soldaten, der sich Sorgen „ob seiner Lage“ machte. Welche „Lage“ dies war, wurde nicht ausgeführt, diese Botschaft blieb subtil und wurde der Aussagekraft des Bildes überlassen.
Abb. 5: Abbildung eines frisch verletzten Soldaten. Quelle: Athanas Puljo (1914) S. 337.
25 Athanas Puljo (1914), S. 337. 26 Athanas Puljo (1914), S. 338.
3.1 Fachzeitschriften
61
Den Patienten selbst kam in den Publikationen eine wichtige Rolle zu, denn sie waren es, die den Beweis für den Behandlungserfolg an ihrem Körper trugen. Immer wieder werden daher Soldatenschicksale erzählt und deren Handeln und Verhalten kommentiert. Der Leser wird in Form klassischer Patientenfallgeschichten Schritt für Schritt durch die Behandlung geleitet. Dabei berichten die Autoren über Erfahrungen mit neuen Behandlungsmethoden.27 Sollte etwas dargestellt werden, das mit freiem Auge nicht sichtbar war, wurde auf Röntgenbilder und anatomische Zeichnungen zurückgegriffen [vgl. Abbildung 6 und 7]. Auf diesen Darstellungen waren Knochenbrüche, Knochensplitter, Projektile, aber auch sogenannte Sekundärgeschosse28 zu sehen. Der Vorteil von Zeichnungen gegenüber Fotografien und Röntgenbildern bestand in der Möglichkeit, die Verwundung in Farbe darzustellen, selbst bei Blicken unter die Haut.
Abb. 6: Röntgenbild mit Projektil und Einschussrichtung. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
Abb. 7: Anatomische Zeichnung der Verletzung. Quelle: Juljan Zilz (1916a), Tafel II.
Um die Verletzungen plastisch zu dokumentieren, fertigte man Moulagen29 von den Gesichtern der Verwundeten an [vgl. Abbildung 8]. Der Patient Karl H. erinnerte sich an die Herstellung dieser Büsten: „Die Wachsköpfe wurden nach jeder großen Operation gemacht. Ein Faden wurde über die Gesichtsmitte gelegt und dann von beiden Seiten schnell erhärtender Gips aufgetragen. Ein Atemröhrchen kam in den Mund, die Gesichtshälften wurden vorsichtig zusammengesetzt und nach dem Erhärten mit Wachs gefüllt. Ich musste dann Modell sitzen bis die Fäden und die Farben naturgetreu hergestellt waren.“30 27 Vgl. Rudolf Weiser (1917). 28 Werden durch das Projektil Knochen getroffen, können deren Trümmer sogenannte Sekundär-Geschosse erzeugen. Das können im Fall von Kieferschüssen auch Zähne sein. 29 Unter Moulagen versteht man möglichst naturgetreue, dreidimensionale Abformungen von pathologisch veränderten Körperregionen. Oft wurden diese auch als Lehrmaterial eingesetzt. Vgl. dazu allgemein: Thomas Schnalke (1995). 30 Karl H.
62
3. Der gesichtsverletzte Soldat
Abb. 8: Bilderserie von einer Gipsbüste und der dazugehörigen Patientenfotografie. Quelle: Juljan Zilz (1916a), Tafel V.
Der Bezug zu dem Patienten bzw. dessen Fallgeschichte erfolgte durch die Vergabe von Nummern, wie etwa beim Beispiel der Moulagen. Auf dem Foto trägt der Verwundete eine Tafel um den Hals, auf der groß eine Nummer zu sehen ist. Darunter steht sein Name mit Charge und dessen Regiment [vgl. Abbildung 8, Bild rechts]. Bei dieser Darstellungsform trat der Patient als zu studierendes Objekt im besonderen Maße zu Tage.31 Michael Hagner, Historiker, zweifelt daher an dem wissenschaftlichen Nutzen dieser Darstellungsform, sie ist für ihn eher Ausdruck eines Verlangens des Arztes, sich durch das Anlegen einer Sammlung – epistemologisch sinnvoll oder nicht – in der Wissenschaft ein Denkmal zu setzen. Dabei ging es, getreu der Tradition des Sammelns und Verzeichnens im 19. Jahrhundert, um das Bewahren und Vervollständigen.32 Das Bild, welches Hagner von den Wissenschaftlern der Jahrhundertwende zeichnet, passt zu dem Verhalten Juljan Zilz, der seine an der Front angelegte Sammlung nach den Gebietsverlusten der k. u. k. Armee 1918 mit nach Wien übersiedelte [vgl. Abbildung 9]. In Wien beschäftigte er sich aber praktisch wie auch wissenschaftlich nicht mehr mit dem Thema Gesichtschirurgie, sondern mit Zahn- und Zahnfleischerkrankungen.33 Die Sammlung selbst übergab Juljan Zilz der Universität Wien.34
31 32 33 34
Vgl. Carden-Coyne (2009), S. 98. Vgl. Michael Hagner (2000), S. 83–84. Vgl. Juljan Zilz (1925). Juljan Zilz (1914–1918).
3.2 Der Gesichtsverletzte als Patient und Soldat in medizinischen Schriften
63
Abb. 9: Herstellung von Moulagen in der Klinik Zilz. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
3.2 Der Gesichtsverletzte als Patient und Soldat in medizinischen Schriften Gesichtsverletzte im Ersten Weltkrieg sind beides, schwer verwundete Patienten und Soldaten. In medizinischen Publikationen der Jahre 1914–1918 werden sie nicht nur als zerstörte, verletzte Menschen, sondern auch in ihren Eigenschaften als Langzeitpatienten beschrieben und abgebildet. Von den behandelnden Medizinern werden sie häufig als speziell zu bedauernde Verwundete, aber auch als vorbildliche, als ideale Patienten beschrieben. In folgendem Abschnitt soll das Bild dieser idealen Patienten, wie es in medizinischen Publikationen entworfen wurde, und das Bild des idealen Soldaten, wie es sich in breiteren gesellschaftlichen Diskursen wiederspiegelt, in einer vergleichenden Analyse gegenüberstellt und auf Gemeinsamkeiten befragt werden. Eine Gemeinsamkeit wäre die Forderung, den Körper in den Dienst für das Vaterland zu stellen. Dies wurde den Soldaten, sowie den Patienten nach der Verwundung abverlangt. Ähnlich wie bei den Arzt-Soldaten, deren Doppelfunktion durch die Begriffspaarung zum Ausdruck kommt35 kann bei den Gesichtsverletzten von soldatischen Patienten gesprochen werden.36 Auch die im Gesicht verletzten Patienten waren in erster Linie Soldaten, die so bald wie möglich wieder an den Frontkämpfen teilnehmen sollten. Daraus ergab sich, dass trotz der Verletzung weiterhin ein soldatisches Anforderungsprofil an die Männer gestellt wurde. Doch was waren diese Anforderungen an Soldaten der k. u. k. Monarchie während des Ersten Weltkriegs? Hans Georg Hofer, Historiker, beschrieb den idealen Soldaten aus zeitgenössischer Perspektive als diszipliniert, der über „psychische und emotionale Stabilität“ sowie „Willenskontrolle“37 verfügte. Nach Sabine Kienitz sollte der Soldat des Ersten 35 Der Bezeichnung Arzt-Soldaten bringt die Doppelfunktion von Ärzten im Militär zum Ausdruck. Diese waren dem Militär und gleichsam dem Ärzte-Ethos unterstellt. Mehr zur Rolle des Arztes im Sanitätswesen siehe Kapitel 2: Rahmenbedingungen. 36 Vgl. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 377–378. 37 Hofer (2004), S. 41.
64
3. Der gesichtsverletzte Soldat
Weltkrieges ein „reibungslos funktionierender Teil einer modernen Kriegsmaschinerie, entindividualisiert, maskenhaft emotionslos und zugleich hochaggressiv“38 sein. Barbara Köhne beschreibt die Soldaten in ihrer Studie als „tapfer, diszipliniert und siegesgewiss“39. Der soldatische Körper sollte des Weiteren gesund, attraktiv und „jung aussehend[en]“40 sein, wie Gadebusch Bondio, Historikerin, anmerkt. Doch die soldatischen Tugenden verschmelzen, wie aus der Analyse der medizinischen Publikationen hervorgeht, mit den Vorstellungen darüber, wie sich die Verwundeten zu verhalten hatten. Das folgende Zitat aus dem Jahresbericht des k. u. k. Reservespitals Nr. 17 in Wien, erschienen 1917, ist ein gutes Beispiel für diese Verschmelzung. Der Verfasser, Rudolf Weiser (1859–1928), der im Reservespital als Chefarzt der chirurgisch-prothetischen Abteilung tätig war, schreibt im Begleittext zur Abbildung 10: „Weit trostloser lagen die Verhältnisse in dem Falle Franz K. (Fig. 11a,b,c). Durch Explosion einer Mine verlor dieser beklagenswerte, wegen seines tapferen Verhaltens von einem seiner Vorgesetzten mit einem ebenso rührenden als ihn auszeichnenden Schreiben bedachte Soldat die Weichteile und das Knochengerüst der Nase, die ganze Oberlippe, die vordere Hälfte beider Wangen, ferner das vordere Knochengerüst des Oberkiefers, das Mittelstück des Unterkiefers und obendrein noch das rechte Auge. Es fragt sich bei diesem Unglücklichen, der sein Schicksal mit Ruhe und Fassung trägt, zu unseren geduldigsten und vertrauensvollsten Patienten zählt, sich sogar im Verbandsaale auf alle erdenkliche Art nützlich macht und Pflegerinnen wie Patienten daselbst durch seine humorvollen Einfälle in heitere Stimmung erhält.“41
Die Abbildungen und der Text zeigen deutlich, wie die Verletzung in eine Geschichte von Tapferkeit, Kameradschaft und Soldatentum eingebettet wurde, ohne auf die dargestellte Verletzung im eigentlichen Sinne Bezug zu nehmen. Auffallend ist die Betonung der Charaktereigenschaften des Patienten, die mit der Behandlung selbst nur wenig zu tun hatten. Die hervorgehobenen Eigenschaften waren Tapferkeit, Gefasstheit, Geduld, Vertrauen in die Medizin, Hilfsbereitschaft und Humor. Die Eigenschaften, die in Weisers Augen einen vorbildlichen Patienten ausmachten, entsprachen im Großen und Ganzen denen eines vorbildlichen Soldaten. Neben den positiv beschriebenen Charaktereigenschaften wurde durch das Zusammenspiel von Bild und Text bei den Betroffenen Empathie geweckt. Die Bilder dienen hier lediglich der Bestärkung der Erzählung und sollten die furchtbare Situation des Verwundeten bildlich unterlegen und dessen Durchhaltevermögen unterstreichen. Ein Jahr zuvor berichtete der Zahnarzt Mayerhofer (Lebensdaten unbekannt) von der Heldentat eines seiner Patienten: „Ungleich schwierigere Verhältnisse bot der nächste Fall (Fig. 12). Dieser tapfere Tiroler hatte – ich kann mich nicht enthalten, seine treue Heldentat hier einzuflechten – mit seinen Kameraden durch eine russische Uebermacht zur Flucht gezwungen, noch einmal Kehrt gemacht, den nachrückenden und nachschiessenden Feinden entgegen, um seinen 38 39 40 41
Kienitz (2008), S. 188. Köhne (2009), S. 29. Gadebusch Bondio (2005), S. 14. Rudolf Weiser (1917), S. 16–17.
3.2 Der Gesichtsverletzte als Patient und Soldat in medizinischen Schriften
65
Abb. 10: Gesichtsverletzter bei der Ankunft im k. u. k. Reservespital Nr. 17. Quelle: Rudolf Weiser (1917) S. 19.
verwundet hingesunkenen Hauptmann auf die Schultern zu nehmen und fort aus dem Getümmel zu tragen.“42
Die Verletzung wurde nicht weiter beschrieben, unter dem Wortlaut „schwierigere Verhältnisse“ wurde stattdessen auf die Porträtaufnahme des in der Behandlung ankommenden Verwundeten verwiesen. Neben dem Heldentum wurden wieder die soldatischen Tugenden der Geduld und des Durchhaltevermögens der Verwundeten thematisiert und, wie das Zitat des Zahnarztes Julius Steinberg (Lebensdaten unbekannt) zeigt, bei den Beschreibungen der Patienten hervorgehoben: „Wir selbst legen grosses Gewicht darauf, dass die Soldaten die gegebenen Befehle gern und willig befolgen und dass unter ihnen das kameradschaftliche Gefühl ausgebildet wird und erhalten bleibt.“43
Befehle zu befolgen meint in diesem Kontext den projektierten Behandlungen der Arzt-Soldaten ohne Widerspruch zu begegnen, auch wenn es sich bei den Operationen um nur wenig erprobte Methoden handelte.44 Die zweite geforderte Eigenschaft, die mit den Anforderungen an Soldaten korrelierte, war die Geduld – erforderlich durch die lange Behandlungszeit.45 Im Marienhospital in Leitmeritz traf Paul Plowitz (Lebensdaten unbekannt), Leiter der dort ansäs42 43 44 45
B. Mayrhofer (1916), S. 125. Bernhard Steinberg (1916), S. 329. Vgl. Eduard Kränzel (1917), S. 217. Vgl. Madelung (1915), S. 1536.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
sigen Zahnärztlichen Abteilung, Maßnahmen zur Steigerung des Behandlungswillens der Patienten: „Besonderen Wert lege ich darauf, dass die Patienten sich viel im Freien bewegen. Frühmorgens werden die Patienten, welche untertags zur Behandlung kommen, bestimmt, die anderen können spazieren gehen. Auf diese Weise erhalte ich mir willige, gut genährte und vor allem geduldige Patienten, welche sich den Strapazen der Behandlung willig unterziehen.“46
Abschließend war es dann auch die Dankbarkeit über den Behandlungsausgang, die man bei den Verwundeten zu schätzen wusste: „Freilich, leicht ist diese Chirurgie nicht, und die Erfolge sind oft erst nach schwerer Mühe und nach manchen Misserfolgen zu erkämpfen, aber kein Lohn, keine Anerkennung als der bescheidene Dank eines wiederhergestellten Schwerverletzten, der wieder im Felde oder in der Arbeit steht.“47
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele der an Soldaten geforderten Eigenschaften auch von den Verwundeten erwartet wurden. Sie sollten demütig, tapfer, geduldig, optimistisch und leidensfähig sein und sich weiterhin als Soldat zur Verfügung stellen, sofern es die Verletzung zuließ. Der Handlungsraum eines soldatischen Patienten war im Spannungsfeld zwischen Militär und Medizin angesiedelt. Der soldatische Patient vereinte die soldatischen Tugenden mit den medizinischen Forderungen nach der bestmöglichen Wiederherstellung des Körpers, die wiederum auch Teil der militärischen Anforderungen waren. Zentral ist hier die geforderte Bereitschaft, die Verantwortung über den eigenen Körper an Militär und Medizin abzugeben und gleichzeitig angeordnete Pflegemaßnahmen zur Optimierung des Heilungsverlaufes bereitwillig und pflichtbewusst umzusetzen. Verlangt wurde in diesem Zusammenhang uneingeschränktes Vertrauen in die medizinische Forschung und die Bereitschaft, den eigenen Körper in den Dienst der Wissenschaft zu stellen, im Besonderen bei der Anwendung von neuen Behandlungsmethoden. Eine erfolgreiche Behandlung bedeutete aber auch, die Einsatzfähigkeit als Soldat wiederzuerlangen. Somit war die Durchführung der Behandlung auch immer Teil des soldatischen Pflichtenkanons. Vereinfacht gesagt wurde vom Soldaten erwartet, sich als vorbildlicher Patient zu verhalten und als solcher sollte er im selben Moment den Anforderungen des Militärs als Soldat entsprechen. Der Körper des soldatischen Patienten wurde also in doppelter Weise in die Pflicht genommen. Mit „Bedrohung“ ist der nächste Abschnitt betitelt, in dem es um die Beschreibung der Ärzte bei Ankunft der Verwundeten in der Behandlung geht. In der Rhetorik der Texte steht dieser Abschnitt meist in der Einleitung, vor den Konkreten Fallgeschichten. Nicht selten wurde dort der Zustand als bedrohlich für das weitere Leben aufgefasst. Welche Lebensbereiche waren aus der Sicht der Ärzte durch die Verletzung bedroht, oder anders formuliert, aus welchen Aspekten setzte sich die Bedrohung zusammen? Welche Auswirkun46 Paul Plowitz (1916), S. 86. 47 Erich Lexer (1920), S. 1.
3.3 Die Verletzung als Bedrohung für das weitere Leben
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gen hatte die Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung, ausgehend von der Verletzung der Patienten, auf die Behandlung und in der Folge auf das Forschungsinteresse dieser Disziplin? 3.3 Die Verletzung als Bedrohung für das weitere Leben Otto Walkhoff (1860–1934), Zahnarzt, zahnärztliches Institut der Universität München, warnte 1915 davor, dass der vormalige „Held“ des Krieges davon bedroht war, zum „Schrecken und Grauen seiner meisten Mitmenschen“ zu werden, mit der Folge „[…] dass dem Betroffenen häufig dadurch sein ganzes späteres Leben verbittert wird“48. Die Bedrohung der Verletzung ging nicht nur von den körperlichen Beeinträchtigungen aus, sondern auch von der Reaktion des sozialen Umfeldes auf das Aussehen der Soldaten. Dieser Meinung schloss sich 1916 Heinrich Salomon (Lebensdaten unbekannt), an, der an der zahnärztlichen Universitäts-Klinik Budapest als Prothetiker tätig war. Er sah die „Repräsentationsfähigkeit“49 der Männer gefährdet, die letztlich das Männlichkeitsbild mit all seinen Aufgaben als Ganzes bedrohte. Damit wurde etwas ausgesprochen, das in der Folge immer wieder Anlass für Diskussionen war: das Aussehen der Männer und deren Wirkung auf das jeweilige Gegenüber. In der zentralen Behandlungsstätte für gesichtsverletzte Soldaten in Wien, dem 1915 gegründeten k. u. k. Reservespital Nr. 17, machte man ähnliche Beobachtungen wie in Budapest oder München. Dort hatte man 1917 bereits 1425 Soldaten mit mehr oder weniger ausgeprägten Gesichtsverletzungen operiert. Im Namen aller Chirurgen und Ärzte des Lazarettes äußerte Rudolf Weiser, Chefarzt der chirurgisch-prothetischen Abteilung, dass man trotz des „erschreckenden Anblick[s]“ die „Ruhe und Fassung nicht verlieren“50 dürfe und gerade wegen der eigenen Unbeholfenheit alle notwendigen Vorkehrungen und Behandlungsmethoden „zielbewußt“ gewählt werden sollten.51 Um unmissverständlich klarzumachen, von welchen Verletzungen er sprach, verwies Weiser an dieser Stelle des Textes auf das Foto eines Verwundeten bei der Ankunft im Spital [vgl. Abbildung 11]. Wegen der vermutlich bleibenden Entstellungen im Gesicht und deren Folgeerscheinungen sollten soziale Aspekte bei der Wahl der Behandlungsmethode noch vor den ersten Eingriffen Berücksichtigung finden. Dieser Schritt sollte die gesellschaftlichen Risiken für die Betroffenen nach der Entlassung aus der Behandlung auf ein Mindestmaß reduzieren. Ein Lösungsansatz, den man auch anderen Ortes verfolgte, wie die Fachliteratur zeigt.52 Für die Chir48 49 50 51 52
Otto Walkhoff (1915), S. 346. Heinrich Salomon (1916b), S. 221. Rudolf Weiser (1917), S. 12. Rudolf Weiser (1917), S. 12. Vgl. J. P. Haberern (1917), S. 1481; Paul Adloff (1914), S. 2062; Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 124; August Lindemann (1915), S. 15.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
Abb. 11: Gesichtsverletzter bei der Ankunft im k. u. k. Reservespital Nr. 17. Quelle: Rudolf Weiser (1917), S. 13, Abbildung 6c.
urgen stellte sich damit die Frage, operativ oder prothetisch zu behandeln. Folglich wurde entlang gesellschaftlicher Aspekte über das Für und Wider der jeweiligen Behandlungsmethode diskutiert. Der Konsens lautete, dass die Gesichter nach Möglichkeit operativ behandelt werden sollten, da mit Prothesen die Gefahr verbunden war, „daß die Patienten bei Abnahme künstlicher Gesichtsprothesen zum Zwecke der Reinigung mehrmals des Tages durch den Anblick ihres durch die Scheußlichkeit des Krieges verstümmelten Antlitzes immer wieder tief deprimiert werden“53. Zusätzlich waren diese Männer „für den Rest ihres Lebens der Spottlust des Gemütspöbels aller Klassen der Gesellschaft ausgesetzt“, sodass man sich fragen musste, „ob die Unglücklichen wohl den Mut, den Kampf ums Dasein weiter zu führen, auf längere Zeit werden aufbringen können“54. Über nachfolgende Aspekte wurde dabei ständig diskutiert. Erstens befürchtete man, dass die Patienten wegen der Entstellung an einer Depression erkranken würden. Ärzte wie Weiser hielten das für sehr wahrscheinlich, denn er und andere konnten sich nur schwer vorstellen, dass es den Betroffenen gelang, einen Weg zu finden, mit der veränderten Lebenssituation und den nun erforderlichen Körperpraktiken umzugehen. Der Blick in den Spiegel präsentierte die eigenen körperlichen Defizite Tag für Tag aufs Neue. Eine Anpassung und die Aufnahme von notwendigen neuen Körper-
53 Rudolf Weiser (1917), S. 16. 54 Rudolf Weiser (1917), S. 16.
3.3 Die Verletzung als Bedrohung für das weitere Leben
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praktiken in den Alltag, wie von Betroffenen selbst beschrieben,55 konnte sich Rudolf Weiser nicht vergegenwärtigen. Diesem Zugang ist es geschuldet, dass sich Weiser auf die Reaktion der anderen und deren „Spottlust“ konzentrierte, die Menschen mit Entstellungen im Gesicht davon abhalten würde, sich in das gesellschaftliche Gefüge zu (re-)integrieren. Nach dem Selbstmord eines gesichtsverletzten Soldaten schlussfolgerte er, dass dieser sich wegen seiner Entstellung und der Angst vor der Rückkehr in den Alltag das Leben nahm.56 Die Kriegserlebnisse an sich wurden bei Traumata oder Depressionen nicht bedacht. So versagten die Männer nicht in ihrer Aufgabe als Soldat, ein bedeutender Faktor bei der Bewertung von Selbstmorden unter Soldaten, sondern an dem äußeren Erscheinungsbild der Verwundung. Es ist daher zwar bemerkenswert aber nicht weiter verwunderlich, dass gesichtsverletzten Soldaten bei „melancholische[r] Verstimmung“57, wie Anton Ritter von Wagner eine Folge der Entstellung nannte, eine ungewöhnliche Toleranz entgegengebracht wurde. Wie das folgende Zitat aus dem k. u. k. Reservespital Nr. 17 zeigt, wurde den Verletzten Empathie und Verständnis entgegengebracht: „Während eines vielmonatlichen Kontakts mit Kieferverletzten in unserem Spezialspitale ist mir wiederholt aufgefallen, daß Kiefer- und Gesichtsverletzte, ungleich anderen Schwerverletzten, trauriger Gemütsstimmung sind, oft stundenlang dahin brüten und auf freundliches Zureden kaum achten; auch Besuche von Verwandten oder Bekannten zerstreuen sie nicht besonders und sind ihnen in vielen Fällen gar nicht erwünscht. Geht man der Sache näher auf den Grund, so zeigt sich als Hauptursache der melancholischen Verstimmung die augenfällige Entstellung, die solche Verwundungen bewirken, und die Unmöglichkeit, die durch Verbände dem bekannten Besucher minder abschreckend zu gestalten.“58
Mit derartiger Nachsicht und Einfühlungsvermögen konnten viele andere Verletzte, allen voran die sogenannten Kriegszitterer,59 nicht rechnen. Diese scheiterten nach Ansicht der Ärzte nicht an einem Unglück, das ihnen geschah, sondern an einem eigens zu verantwortenden Unvermögen und psychischer Schwäche.60 Schwierig war es gerade für ledige Männer, die sich um ihre Chancen bei der Partnersuche Sorgen machten: „Der junge, sonst gesunde und vor der Verletzung wohlgestaltete Krieger fühlt sich häßlich und abstoßend geworden und weiß, daß er beim weiblichen Geschlechte keine Eroberungen mit seinem verunstalteten Gesicht mehr machen kann.“61
Somit bestand bei Entstellungen im Gesicht auch Handlungsbedarf, wenn keine funktionellen Störungen vorlagen. Psychische Probleme wurden dabei nicht als Baustein einer konstruierten Andersartigkeit gesehen, sondern als Charakteristikum, dessen Ursache anderswo zu finden war. Die Andersartig55 56 57 58 59 60 61
Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). Vgl. Rudolf Weiser (1917), S. 114. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1. Zur Debatte der Kriegsneurosen von Soldaten des Ersten Weltkrieges: Hofer (2004). Vgl. Köhne (2009), S. 11. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
keit erklärte sich aus der physischen Differenz zum vormals „wohlgestaltete[n]“ männlichen Körper mit einem stimmigen Gesicht, das es vermag, (zukünftigen) Partnerinnen zu imponieren. Die Verletzung ließ den „Krieger […] häßlich und abstoßend“ wirken und bedrohte dessen Psyche gleichermaßen wie die Gründung einer Familie als Teil der männlichen Biografie.62 Die Gefährdung der Rolle des Mannes als Ernährer der Familie stellt das letzte der hier besprochenen Bedrohungsszenarien dar. Nach Ernst Eitner, bestand kein Zweifel darüber, dass „in vielen Berufen entstellter Gesichtsdefekt seinem Träger ebenso im Fortkommen hinderlich sein kann, wie der Mangel einer Extremität oder dergleichen“63. Die Sorgen Eitners waren berechtigt, wie ein Zitat von August Borchard (1864–1940), Chirurg, aus dem Jahr 1937 zeigt. Seiner Beobachtung nach traf das ein, vor dem alle warnten: die „Verunstaltungen im Gesicht“64 waren „trotz voll erhaltener Arbeitskraft“ für die Betroffenen in „sozialer Beziehung empfindlich“ schädigend. Entstellungen verschlechterten im Gegensatz zur „Verkrüppelung einer Extremität“ erheblich die Aussicht, sich im „Kampfe ums Dasein“ durchzusetzen.65 Die Kontinuität der Debatte führt das folgende Zitat von Hugo Ganzer (1869–1970), während des Ersten Weltkrieges Leiter einer Kieferstation in Berlin, vor Augen. Im Buch Die Kriegsverletzungen des Gesichts und Gesichtsschädels und die plastischen Operationen zum Ersatz der verloren gegangenen Weichteile u. Knochen m. bes. Berücksichtigung der Kieferverletzungen schildert Ganzer seine eigenen Erfahrungen (Untertitel des Buches) mit der Behandlung von Gesichtsverletzten des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Ein Abschnitt behandelt den Zusammenhang von Aussehen, Erwerbstätigkeit und dem gesellschaftlichen Leben der Männer nach dem Ende der Behandlung: „Defekte des Gesichts rufen Entstellungen hervor. Entstellungen des Gesichts aber sind von größter sozialer Bedeutung. Sie hemmen den Träger häufig in seinem Erwerb, manche Berufsarten kann er überhaupt nicht ausüben. Weniger jetzt als später, wenn das Verständnis für diese Folgen des Krieges nachgelassen haben wird, wird er gesunden Menschen gegenüber sicher auf manchen Posten unbewußt zurückgestellt werden, er wird Entstellungen als schwere, anderen Menschen ohne weiteres auffallende Last empfinden und damit moralisch gehemmt sein.“66
Wie bereits Rudolf Weiser 1917 sorgte sich auch Hugo Ganzer im Jahr 1943 um das zukünftige Leben der Gesichtsverletzten, denn er wusste aus Erfahrung, dass das soziale Kapital, den Körper für das Vaterland geopfert zu haben, in der Gesellschaft schnell abnahm. Wegen der unentwegt sichtbaren Entstellung begegneten viele Menschen den gesichtsverletzten Männern „moralisch gehemmt“. Das wirkte sich oftmals negativ auf das berufliche Fortkommen aus, womit auch die Selbstständigkeit der Männer bedroht war.
62 63 64 65 66
Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1. Ernst Eitner (1919), S. 245. Borchard (1937), S. 356. Borchard (1937), S. 356. Ganzer (1943), S. 16.
3.3 Die Verletzung als Bedrohung für das weitere Leben
71
Was hinderte die Betroffenen daran, ihre beruflichen Ziele umzusetzen? Was unterschied diese Männer von den „gesunden Menschen“67, mit denen sie in Konkurrenz standen? Mit dieser Frage setzte man sich bereits einige Monate nach dem Ersten Weltkrieg auseinander. Der vom Staatsamt für soziale Fürsorge beauftragte Adolf Deutsch (1867–1943), Sozialmediziner, schlussfolgerte 1919, dass all jene „erwerbsfähig“ waren, die als arbeitsfähig bezeichnet werden konnten. Dazu zählten aber auch jene, die „zur Arbeit fähig“ waren, deren „Arbeitskraft“ jedoch „keine Verwertung“ fand, weil sie „niemand beschäftigen konnte oder wollte (gehäufte epileptische Anfälle, abschreckende Gesichtsentstellungen)“68. Das Krankmachende war demnach das Aussehen. Mit der Frage nach der Arbeitsfähigkeit von Kriegsversehrten setzte sich Deutsch ein Jahr darauf abermals auseinander. In dieser Veröffentlichung merkte er an, dass neben dem Aussehen auch die Unterernährung und eine mit ihr verbundene „Körperschwäche“ durch Ernährungsprobleme bei fehlendem Gebiss negative Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit haben konnte.69 Entscheidend dabei war die Art der Tätigkeit, denn einige Berufsgruppen wie etwa die des Lehrers oder Kellners waren hierbei im besonderen Maße Benachteiligungen ausgesetzt.70 1932 befasste sich der angehende Zahnarzt Hellmuth Angerstein (1895–unbekannt) in seiner Promotionsschrift mit der Frage Wie und in welcher Höhe sind Kriegsdienstbeschädigte durch Kieferschußverletzungen versorgungsberechtigt?71 und fasst wie folgt zusammen: „Die durch Kieferschüsse herbeigeführten entstellenden Narben im Gesicht fallen bei der Beurteilung der allgemeinen Erwerbsfähigkeit wenig ins Gewicht. Sie können allerdings von erheblicher Bedeutung werden bei Personen, die wegen ihres Berufes ein gutes Aussehen haben müssen, wie z. B. Schauspieler oder Sänger. Nach ausgedehnten Lippenplastiken bleibt zuweilen außer der Entstellung eine mangelhafte Beweglichkeit der Lippen zurück, sodaß die Verletzten den Speichel schlecht halten können. Diese sind in der Arbeit mit vorwärtsgeneigtem Kopf schwer gestört, wie z. B. Schreiber, Buchhalter, Schumacher, Schneider u. s. w. Auch die Nahrungsaufnahme ist in solchen Fällen erschwert.“72
Eine Reduzierung der Symptome auf das äußere Erscheinungsbild, wenn dieses auch in erster Linie wahrgenommen wurden, greift also zu kurz. Das ist ein wichtiger Punkt, denn wie die spätere Analyse der Biografien Betroffener zeigt, waren es gerade die nicht sichtbaren Nebenwirkungen der Verletzung, die den Alltag und das Leben mit der Verletzung massiv beeinflussten. Dazu zählten beispielsweise Probleme beim Essen, die zu Unterernährung führten und in manchen Fällen die Betroffenen berufsunfähig machten.73 Hilfsmittel beim Essen, wie beispielsweise Fleischscheren oder Schnabeltassen, die wegen fehlender Kieferknochen oder Zähne, durch Narbenstränge in der Mundgegend oder nicht verheilenden Weichteilverletzungen benötigt wurden, er67 68 69 70 71 72 73
Ganzer (1943), S.16. Deutsch (1919), S. 11. Vgl. Deutsch (1920), S. 14. Vgl. Grunwald (1939), S. 5; Victor Frühwald (1932), S. 1–2. Zur Debatte Sozialversicherung und Rentenversorgung mehr in Kapitel 6: Biografien. Angerstein (1932), S. 31–32. Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten.
72
3. Der gesichtsverletzte Soldat
weckten zusätzlich Aufmerksamkeit.74 Andersartigkeit bedeutete in diesem Kontext, an kulturellen Praktiken wie dem gemeinsamen Essen unter Umständen nicht teilnehmen zu können bzw. zu wollen. Wie die Beispiele zeigen, hatten sich die Zuschreibung von Defiziten und die damit verknüpften medizinischen Praktiken im Beobachtungszeitraum nur wenig verändert. Das Befinden und das Aussehen der Verletzten bei der Ankunft in der Behandlung wurden als Bedrohung für das weitere Leben wahrgenommen. In den Schützengräben hatten die Soldaten, das zeigen die Reaktionen der Ärzte, weit mehr verloren als Kieferknochen, Nasen, Wangen oder ihre Gebisse. Die Verletzung nahm ihnen die Fähigkeit zu kommunizieren oder durch den Gesichtsausdruck Gefühle zu äußern – beides zentrale Aspekte in der Interaktion mit anderen Menschen. Dieser Umstand bewegte das Gegenüber dazu, die Männer als unmenschlich wahrzunehmen. Aussagen, sie hätten durch ihre Verletzung die Menschlichkeit verloren, waren gang und gäbe. Wiederholt wurde auch auf die durch die Entstellung hervorgerufenen Probleme hingewiesen. Für die Gesichtsverletzten fing das Dilemma damit an, das eigene Spiegelbild zu akzeptieren. Es setzte sich mit den daraus folgenden psychischen Problemen, der zu erwartenden zwischenmenschlichen Enttäuschung sowie den nachfolgenden Problemen am Arbeitsmarkt fort. Was diese Männer von einem normalen Leben abhielt, war ihr Aussehen, beschreibbar als Differenzkategorie, die über den weiteren Lebenslauf der Betroffenen mitbestimmte. Die Chirurgen und Zahnärzte hatten, nicht zuletzt um das eigene berufliche Fortkommen nicht zu behindern, ein Interesse daran, dafür zu sorgen, dass die gesichtsverletzten Männer der beschriebenen Abwärtsbewegung entkamen. Die Konzentration der Ärzte auf das Aussehen und die Wirkung auf Dritte zeigt sehr gut, wie die Aufmerksamkeit der Mediziner auf ein Thema gelenkt war, dass nicht zwangsläufig auch im Mittelpunkt der Interessen des Patienten stand. Es stellt sich nun die Frage, was die Ärzte durch ihre Eingriffe wiederherstellen sollten? Welche Ansprüche stellten sie an die Disziplin oder an sich selbst? 3.4 Wiederherstellungsangebote der Medizin Nach den einleitenden Passagen in den hier analysierten Texten wurden die Behandlungsziele formuliert. Ein Behandlungsziel war, den Zustand vor der Verletzung wieder her zu stellen. Was darunter zu verstehen ist, zeigt Otto Walkhoffs Aufsatz mit dem Titel Über die Notwendigkeit sofortiger und ausreichender Hilfe bei Kieferverletzten aus dem Jahr 1915, aus dem zuvor bereits zitiert wurde. Damit die Betroffenen nicht zum „Schrecken der übrigen Menschheit“75 wurden, bestand Walkhoffs oberste Prämisse darin, die Männer, wenn die Verletzung schon nicht ungeschehen gemacht werden konnte, wenigstens 74 75
Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). Otto Walkhoff (1915), S. 347.
3.4 Wiederherstellungsangebote der Medizin
73
„strassenfähig“ wiederherzustellen.76 Für ihn galt es primär, beim Gegenüber möglichst wenig Aufmerksamkeit auf die Entstellung zu lenken, die Männer sollten sich nach der Rekonstruktion des Gesichtes in der Öffentlichkeit wieder ohne Handicap bewegen können. Erneut standen die möglichen Reaktionen der Umgebung und nicht die physischen Folgeerscheinungen der Verletzung im Vordergrund. Für Juljan Zilz war die Behandlung dann gelungen, wenn die Soldaten „nach einigen Monaten wieder ganz menschlich“77 aussahen. Ähnlich äußerte sich Ernst Eitner (Lebensdaten unbekannt), plastischer Chirurg, in dem Aufsatz Gesichtsplastiken an Kriegsverletzten, der kurz nach Kriegsende in der Wiener Medizinischen Wochenschrift erschien. Dort stellte er fest, dass durch „die große Menge von Gesichtsverletzungen, die der moderne Schützengrabenkrieg mit sich bringt“, von den Chirurgen erwartet wurde, „plastische Operationen im Gesichte vorzunehmen, teils um gestörte Funktionen der Gesichtsorgane wiederherzustellen, teils um den Verletzten wieder zu einem menschlichen Aussehen zu verhelfen“78. Zeitgleich gab es formulierte Behandlungsziele, welche auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes abzielten. So forderte Hugo Ganzer in einem Aufsatz, man müsse mit den Eingriffen der „ursprünglichen“ Form möglichst nahezukommen. Als „voller Erfolg“ konnten aus seiner Sicht ausschließlich Operationen bezeichnet werden, bei denen es gelang, den „ursprünglichen Zustand“ „restlos“ wiederherzustellen. Dem gegenüber stand der „volle Mißerfolg“, welcher „keine Verbesserung des Zustandes der Verletzung“ brachte und „womöglich [s]eine Verschlechterung“ des anfänglichen Zustandes zur Folge hatte. Das anzustrebende Ziel lag zwischen den beiden Extremen, eine objektive Beurteilung der Behandlungserfolge war nach Ganzer jedoch nicht möglich, sie würde „vielmehr immer subjektiv gefärbt bleiben“79. Bereits 1920 problematisierte Erich Lexer das Fehlen von objektiven Maßstäben bei der Bewertung des Behandlungserfolges: „Ungemein verschieden ist aber auch die Beurteilung eines Erfolges. Mancher ist schon da zufrieden, wo ein anderer erst mit der Modellierung beginnt. Ich verlange von einem guten Erfolg im allgemeinen, daß die Gesichtsformen den normalen möglichst wieder nahe gebracht sind, ohne das die Hinterlassenschaften der Operationen auffällig hervortreten, und verlange weiterhin, dass es ein Dauererfolg ist, der nicht mehr durch Schrumpfung oder Einsenkungen hinfällig werden kann.“80
Das formulierte Ziel der Gesichtschirurgie etwas wiederherzustellen, dem Patienten sozusagen etwas zurückzugeben, das schon einmal in dessen Besitz war, brachte den Gesichtschirurgen einen klaren Vorteil gegenüber der plastisch-ästhetischen Chirurgie, die etwas erzeugte, das zuvor nicht vorhanden war. Mit dem Leitgedanken, dem Aussehen vor der Verwundung durch operative Eingriffe wieder nahe zu kommen, konnte man sich erfolgreich von der 76 77 78 79 80
Otto Walkhoff (1915), S. 347. Juljan Zilz (1916b), S. 3. Ernst Eitner (1919), S. 245. Ganzer (1943), S. 217. Lexer (1920), S. 242.
74
3. Der gesichtsverletzte Soldat
Schönheitschirurgie, die eine Nachbardisziplin darstellte und von der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie medizinisch nur schwer zu trennen war, abgrenzen. Das Behandlungsziel, den vorhergehenden optischen Zustand der Patienten wieder herzustellen, stand in engem Zusammenhang mit den Debatten über den normalen Körper und dessen Proportionen, die im 19. Jahrhundert im medizinischen Mainstream angelangt waren. Die Diskussion um das normale Aussehen von Patienten hatte ihren Ursprung in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, die ab diesem Zeitpunkt als Teilbereich der Medizin anerkannt wurde. Quantitative Werte waren durch den Wunsch nach der Festlegung eines normalen und gleichzeitig idealen Körpermodells im Vormarsch. Die Ergebnisse von Körpermessungen wurden in Durchschnittswerte übertragen und Schemata entworfen. Durch diese Methode gelangte die Idee eines Durchschnittskörpers im 19. Jahrhundert zu einer vermeintlichen Objektivität. Begeistert von der nun erreichten Vermessbarkeit und Kategorisierung des Körpers wurde die Idee vom Mittelmaß oder Normalität im 19. Jahrhundert an die Spitze getrieben. Bei plastisch-ästhetischen Eingriffen entstanden dabei immer wieder Diskussionen, ob das chirurgisch Machbare aber medizinisch nicht Notwendige tatsächlich an Patienten umgesetzt werden sollte. Diese schon seit den Anfangsjahren diskutierten ethischen Fragestellungen haben nichts an Aktualität eingebüßt.81 Die Frage ist nun, inwieweit die Gesichtsverletzten des Ersten Weltkrieges von dieser ethisch hoch brisanten Frage betroffen waren. Die Mund-, Kieferund Gesichtschirurgen wichen ihr gleich auf mehreren Ebenen aus. Zum einen formulierten sie als Behandlungsziel, das ursprüngliche Aussehen wiederherzustellen statt verbessern zu wollen, zum anderen verwiesen sie auf den vermeintlich real existierenden Umstand, diese Menschen seien sozialen Benachteiligungen ausgesetzt. Die in der plastisch-ästhetischen Chirurgie weit verbreiteten Versuche, den idealen Körper durch Messungen zu optimieren, blieben folglich in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie aus. Mit einigen Ausnahmen blieben daher auch Vergleiche mit einem „griechischen Profil“82 aus, ein Ideal, das in der Schönheitschirurgie im Beobachtungszeitraum großen Zuspruch fand.83 In einem Aufsatz verwies Anton Ritter v. Wagner, Kommandant der Spezialheilanstalt für Kieferschussverletzte in Wien, auf einen weiteren Aspekt bei der Bewertung des Behandlungserfolges. In dem bereits zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1917 Beobachtungen über den Einfluß der Kiefer- und schweren Gesichtsverletzungen auf die Psyche gab er an, dass plastische Operationen „oft nur aus kosmetischen Rücksichten unternommen“ wurden, wodurch die „Psyche […] dank der kosmetischen Operationen wieder ihr Gleichgewicht gefunden“84 hätte. Für den Zeitraum des Krieges ist dies der einzige auffindbare Aufsatz, 81 82 83 84
Vgl. Gadebusch Bondio (2005), S. 13–16 und 25. Ries (1916), S. 30–31. Vgl. Gilman (2001), S. 144–156. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1.
3.4 Wiederherstellungsangebote der Medizin
75
der sich dezidiert mit den Auswirkungen der Verletzung auf die Psyche der Betroffenen befasste. Mit diesem Behandlungsziel knüpfte Anton Ritter v. Wagner an ein weit verbreitetes Ideal in der Medizin an, das ein Leben im Gleichgewicht, in der Mitte, anstrebte und Extreme zu verhindern versuchte. Nach dem Aussehen wurde mit der Berufsfähigkeit ein zweites gesellschaftlich motiviertes Behandlungsziel formuliert. Ein repräsentatives Aussehen sollte Diskriminierungen am Arbeitsmarkt abwehren, die nach Heinrich Salomon alle Berufsgruppen in gleichem Maße betrafen.85 Damit findet sich die Argumentation, wie es im Abschnitt „Die Bedrohung“ formuliert wurde, direkt in den gesetzten Behandlungszielen wieder. Durch eine geglückte Behandlung sollten die Verletzten wieder „zu produktiven Mitgliedern der Gesellschaft und des Staates“ werden, wie es Josef v. Bodò (Lebensdaten unbekannt) 1918 formulierte. Der Lohn eines Berufsleben war „frische[r] Lebensmut“ und die Verhinderung eines „jammervollen Daseins“86. Dem Ziel entsprechend formulierte man auch die Ansprüche an die Epithesen. Heinrich Salomon sah sich dafür verantwortlich, die Soldaten „mit den besten Prothesen zu versehen, um sie dadurch für ihren zukünftigen bürgerlichen Beruf möglichst tauglich zu machen“87. Eine gute Epithese war für ihn beim „Wettbewerb zur Erlangung der Arbeitsgelegenheit nicht nur für die höheren Berufe, sondern auch für die allerniedrigsten von erstklassiger Wichtigkeit“88. Bereits kurz nach dem Kriegsende 1919 machten sich die ersten Autoren Sorgen über die tatsächliche Reintegration der Gesichtsverletzten in den Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund könne die „Forderung“ ein möglichst gutes Aussehen zu erzielen, „heute nicht mehr in Zweifel gezogen werden“89. Der Gedanke war nicht neu, denn der gesellschaftliche Nutzen wurde in der Medizin schon immer berücksichtigt.90 Die Arbeitsfähigkeit als Behandlungsziel bedeutete für die sich gerade institutionalisierende Disziplin der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie die Einflussnahme in einem sozial-politisch wichtigen Terrain. Bei der Bedeutung der medizinischen Gutachten im Zuge der Rentenbescheide war dies stark bemerkbar, denn über die Ansprüche der Antragsteller wurde auf Grundlage der von den Ärzten geschätzten Erwerbsfähigkeit verhandelt. Hiermit und mit den angekündigten Einsparungsoptionen bei Behandlungsund Versorgungskosten erweiterten diese Ärzte ihren Einflussbereich sehr erfolgreich.91 Die Ziele der hier besprochenen Ärzte waren dabei sehr ambitioniert, so wurde nichts weniger als die vollständige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in Aussicht gestellt. In der Realität ging es vorerst natürlich darum, die85 86 87 88 89 90 91
Vgl. Heinrich Salomon (1916b), S. 211. Josef v. Bodò (1918), S. 177. Heinrich Salomon (1916b), S. 211. Heinrich Salomon (1916b), S. 211. Vgl. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2009), S. 142. Vgl. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2009), S. 142. Vgl. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Blatt 30. Vgl. auch Diskussion um Institutionalisierung Kapitel 2: Rahmenbedingungen.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
sem Ziel möglichst nahezukommen und den Männern das zurückzugeben, was sie einmal ihr Eigen nannten: menschliches Aussehen, Menschlichkeit und die Fähigkeit, einen Beruf auszuüben. Die Andersartigkeit wurde nach Meinung der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen durch die operativen Eingriffe beseitigt, womit die ganze Disziplin als Erfüllungsgehilfe eines erfolgreichen, zufriedenen und produktiven Lebens auftrat. 3.5 Der erfolgreiche Abschluss der Behandlung In den abschließenden Aussagen zu den Behandlungsergebnissen mehrten sich positive Stellungnahmen zum Gesamteindruck der Patienten auf die Ärzte. So erklärt sich auch die überschwängliche Stimmung von M. Kraus (Lebensdaten unbekannt) in einem Artikel aus dem Jahr 1915 zum Thema Ueber geheilte mit umfangreichen Weichteilverletzungen verbundene Kieferschussfrakturen. Am Beispiel eines Tiroler Soldaten skizzierte er in Text und Bild dessen psychische Genesung mit einem Vorher-Nachher Vergleich. Dieser Textausschnitt zeigt sehr gut und kompakt die Argumentationslinie des Autors auf, die sich auch in anderen hier analysierten Aufsätzen wieder findet. Kraus spannt in der kurzen Passage den Bogen von der Bedrohung, über die Wiederherstellung bis schließlich zum Erfolg. Vor den Operationen beschrieb er den Zustand des Patienten folgendermaßen: „Status praesens: Pat. von starkem Knochen- und Körperbau, fühlt sich sehr geschwächt und befindet sich in einer sehr deprimierten, verzweifelten Stimmung, hat angeblich seit seiner Verletzung an Körpergewicht bedeutend abgenommen.“92
Nach der erfolgreichen Behandlung bemerkte Kraus eine eindeutige Verbesserung des psychischen Zustandes: „Seine echte Tiroler-Laune kehrte wieder, die Niedergeschlagenheit sowie die Angst vor jeder Nahrungsaufnahme schwanden, sein Aussehen besserte sich täglich.“93
Die Verbesserung der Lebensqualität der Männer durch die Fähigkeit der selbstständigen Nahrungsaufnahme war unbestritten, wenngleich sich Autoren damit inhaltlich kaum auseinandersetzten. Juljan Zilz war neben M. Kraus einer der wenigen, der 1916 das „funktionelle Resultat“ betonte: „Es wird also so bald als möglich zu erreichen versucht, dass mit eingesetzter Prothese gesprochen und gegessen werden kann. Damit wird ein funktionelles Resultat erreicht, das auch von grossem psychischem Einfluss ist. Der Verletzte bekommt frischen Lebensmut und Kraft, er findet sich mit seiner Verwundung ab […].“94
Für Ludwig Warnekros (1888–1920), Prof. für Zahnheilkunde an der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin, war die Kriegstrauung eines Gesichtsverletzten während dessen Urlaub Beweis für einen wiedergewonnenen „Lebensmut des 92 M. Kraus (1915), S. 577. 93 M. Kraus (1915), S. 578. 94 Juljan Zilz (1916b), S. 6–7.
3.5 Der erfolgreiche Abschluss der Behandlung
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Verwundeten“ und die (Re-)Integration in ein soziales Umfeld.95 Anton Ritter v. Wagner stellte die Psyche der Verwundeten nach den „kosmetischen Operationen“ als sich wieder im „Gleichgewicht“ befindend dar.96 In einer Rezension des Beitrages aus dem Jahr 1917 legte Viktor Frey (Lebensdaten unbekannt), Kieferchirurg, von Wagners Ausführungen folgendermaßen dar: „Wie die anfängliche Gemütsdepression über die erlittene Verunstaltung im Laufe der Behandlung neuem Lebensmut und neuer Lebensfreude weicht, insbesondere dann, wenn durch ausgedehnte plastische Eingriffe das Antlitz sich wieder rekonstruiert, ist direkt herzerquickend zu lesen.“97
Deutlich tritt hier die Botschaft der Überwindung der Verletzung und somit die Überwindung der Zerstörungskraft das Krieges hervor. Rückschläge oder Fehlbehandlungen wurden nicht besprochen.98 Zunächst wurden diese und ähnliche Berichte von einem medizinisch geschulten Publikum gelesen. Im Zuge der Verhandlungen mit möglichen Finanziers zur Errichtung von Kliniken oder Abteilungen in bestehenden Einrichtungen vergrößerte sich der Leserkreis zunächst um die Gruppe des Verwaltungspersonals der Kliniken und staatlichen Einrichtungen, da bei den Verhandlungen aus diesen Berichten zitiert wurde.99 In den Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkrieges, als die Berichte auch in medizinhistorischen Abhandlungen publiziert wurden, erweiterte sich die Leserschaft zudem auf Geschichtsinteressierte.100 Das allen Berichten übergeordnete Überwindungsnarrativ wurde damit am Leben erhalten und weiterentwickelt, aktuell findet es sich noch in Lehrbüchern der plastischen oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.101 Während des Krieges kamen die behandelnden Ärzte immer wieder zu demselben Schluss über den Zustand der Patienten, egal ob dieser durch physische Fähigkeiten oder durch das rekonstruierte Gesicht erzielt wurde – aus der Behandlung wurden nur gut gelaunte, lebensfrohe und optimistische Männer entlassen, die Andersartigkeit war überwunden. Die Quellenausschnitte zeigen, dass in zahlreichen Texten tatsächlich eine Art Prototyp des gesichtsverletzten Mannes konstruiert wurde. In ihrer Argumentationen griffen die Autoren der Texte, die zum größten Teil der Ärzteschaft angehörten, durchaus auf zivile Männlichkeitsdiskurse zurück, die sie in die Bewertung des Behandlungserfolges integrierten. Auch wenn sich die Aussagen oftmals auf die Entstellungen der Männer bezogen, wurde eigentlich über Männlichkeitskonzepte verhandelt. In der Argumentation der Ärzte gehörte zu einem menschlichen und männlichen Leben, arbeits- und reproduk95 96 97 98
Warnekros (1915), S. 26. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1. Frey (1917), S. 563. Die einzige Ausnahme im Beobachtungszeitraum stellt Die Überbrückung von Pseudarthrosen in der Kinngegend durch einfache Zahnersatzstücken dar. Vgl. Eduard Kränzel (1917), S. 217. 99 Im Fall der Kieferstation des Wiener Allgemeinen Krankenhauses bestand die Leserschaft aus dem Professorenkollegium und dem Bundesministerium für Unterricht. Vgl. Hans Pichler (31.1.1928). 100 Vgl. Hoffmann-Axthelm (1995), S. 145–166 und 223–273. 101 Mehr dazu im Kapitel 7: Zusammenfassung und Perspektiven.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
tionsfähig zu sein, und eine der Voraussetzungen dafür war ein ansehnliches Gesicht mit all seinen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Definition der Andersartigkeit über das Aussehen der Männer beeinflusste so von Beginn an die medizinische Behandlung der soldatischen Patienten. Selbst bei der Entscheidung operativ oder prothetisch zu behandeln, das einen massiven Einfluss auf den zukünftigen Alltag der Verwundeten hatte, konzentrierte man sich weniger auf die Wahrnehmung und Wünsche der Betroffenen als auf die mögliche Reaktion des Umfeldes und entschied nach dessen vermeintlichen Idealen. Der Diskursstrang über männliche Gesichter reihte sich somit in den Diskurs über Männlichkeit ein und ergänzte diesen um die Vorstellung eines angemessenen männlichen Gesichtes als Teil des männlichen Körpers. Das Gesicht war, neben dem Körper als Ganzes, der Ort, an dem physische und gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit und Andersartigkeit in den Texten ausgehandelt wurden. Daraus ergab sich für diese Gruppe von Männern die Zuschreibung der Differenzkategorie über deren Makel im Gesicht. Psychische Probleme und Arbeitsunfähigkeit waren lediglich Symptome und nicht ausschlaggebend bei der Kategorisierung als unmenschlich, abstoßend und entstellt. Dieser Logik folgend gestalteten sich die Anleitungen und Ratschläge der Ärzte für den Umgang mit der Verletzung nach dem Ende der Behandlung. Die Patienten wurden nicht dazu ermutigt, selbstbewusst mit den Entstellungen umzugehen und individuelle Lebensentwürfe zu kreieren. Vielmehr wurden Handgriffe und Tricks entwickelt, um die Entstellung bestmöglich zu verstecken. Das reichte vom Druck, rekonstruktiven Operationen widerstandslos zuzustimmen102 bis ein ansehnliches Resultat erzielt wurde, bis hin zu Modetipps, Kleidung mit Stehkragen zu tragen, damit zumindest der untere Teil des Gesichtes verdeckt war.103 Der Topos gesichtsverletzter Soldat wurde nicht nur in medizinischen Texten verhandelt, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Dazu zählen aufklärende Texte in populären Zeitschriften mit einer breiten Leserinnen- und Leserschaft genauso wie Auseinandersetzungen in der bildenden Kunst, in Romanen oder musealen Aufarbeitungen. Am Anfang der folgenden Analyse steht der Aufsatz des Arztes Heinrich Salomon in der Umschau, der als Vermittler zwischen medizinischer Sichtweise und öffentlicher Debatte gesehen werden kann. 3.6 Die Medizin informiert: Darstellungen von Gesichtsverletzten in populären Medien 3.6 Darstellungen von Gesichtsverletzten in populären Medien Während des Ersten Weltkrieges gab es nicht viele populäre Darstellungen von Gesichtsverletzten, insbesondere nicht, wenn es um Berichte aus den Lazaretten für Gesichtsverletzte und der dort ausgeführten Arbeit ging. Was ver102 Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917), S. 6. 103 Vgl. Otto Walkhoff (1915), S. 347.
3.6 Darstellungen von Gesichtsverletzten in populären Medien
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wundert, denn wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt wurde, griffen die Ärzte in Ihren Publikationen großzügig auf Fotografien zurück. Ein Bildbestand der öffentlich einfach zugänglich gewesen wäre. Eine der wenigen Beschreibungen ist eine Bildreportage aus der Zeitschrift Die Umschau aus dem Jahr 1916, die in der Folge näher betrachtet wird. Die Umschau: Über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik war eine Zeitschrift, die sich mit der populären Aufbereitung neuer Entwicklungen in Technik, Naturwissenschaft und Medizin befasste. Die Umschau erschien in Frankfurt am Main, verlegt vom Breidenstein Verlag und erschien 1897–1958 sowie 1982– 1986. Die Umschau war deutlich kriegsbejahend und berichtete während des Ersten Weltkrieges regelmäßig über kriegstechnische Fortschritte und Innovationen.104 Das zweite hier vorgestellte Beispiel stammt aus der Wiener Illustrierten von 1918 (bis 1917 wurde die Zeitschrift unter dem Namen Österreichische Illustrierte Zeitung verlegt) die im Beobachtungszeitraum wöchentlich veröffentlicht wurde. Die Zeitschrift erschien in Wien in den Jahren 1894–1938 und richtete sich an die bürgerliche Schicht als Familienunterhaltung. Als Ergänzung dazu erschienen Beilagen wie die Illustrierte Jugend Zeitschrift (ab 1898).105 Beide waren populäre Zeitschriften, in denen die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bzw. die Epithetik Informationen über ihre Tätigkeit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte. 3.6.1 Die Umschau. Über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik 1916 veröffentlichte Heinrich Salomon im wöchentlich erscheinenden Magazin Die Umschau acht Abbildungen von frischen „Kiefer- und Gesichtsverletzungen“106. Aufgrund des leichten Zugangs wird dieser Artikel auch in der aktuellen Forschungsliteratur rege zitiert.107 Dadurch wie auch durch die Tatsache, dass dieser Artikel darüber Aufschluss gibt, welche Themen die Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgie für ein breiteres Publikum als wissenswert erachtete, wird diese Quelle für den nachfolgenden Abschnitt in dem die Frage nach den Eigenschaften des Gesichtsverletzten gestellt wird im hohen Maße interessant. Heinrich Salomon tritt in der Zeitschrift als Experte für alle Belange von Kieferschussverletzungen auf. Zuerst diskutierte Salomon die Anspruchsberechtigung auf staatliche Versorgung von Gesichtsverletzten, bzw. hier Kieferverletzten. In diesem Zusammenhang plädierte er dafür, dass ein Kieferverletzter ebenso zu den Kriegsbeschädigten zähle und daher denselben Anspruch auf Leistungen des Staates habe wie ein „Arm oder Bein Verstümmelte[r]“108. Im zweiten Abschnitt informierte Salomon darüber, wie 104 105 106 107 108
Vgl. Ramsbrock (2011), S. 129–130. Vgl. http://anno.onb.ac.at/info/oiz_info.htm, 9.11.2013. Heinrich Salomon (1916a). Vgl. Bernd Ulrich (1993) S. 121; Ramsbrock (2011), S. 108. Heinrich Salomon (1916a), S. 148.
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Abb. 12: Fotoserie von gesichtsverletzten Männern in unterschiedlichen Stadien der Behandlung. Quelle: Heinrich Salomon (1916a), S. 149.
man sich eine Kieferschussverletzung vorzustellen habe. Für die Illustration und als Ergänzung oder Erläuterung des Geschriebenen verwies er auf drei Fotografien mit folgender Bildunterschrift: „Frische Kiefer- und Gesichtsverletzungen.“109
109 Heinrich Salomon (1916a), Abbildungen S. 149.
3.6 Darstellungen von Gesichtsverletzten in populären Medien
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Im Gegensatz zu den (Militär-) Ärzten war der zivilen Bevölkerung 1916 noch nicht klar, dass es diese Verletzungen gab. Salomon informierte daher im nächsten Absatz über bestehende Lazarette mit Spezialabteilungen in Deutschland und der k. u. k. Monarchie. Diese Abteilungen oder Lazarette seien dazu da, „Entstellungen des Gesichts zu verhindern [und, RM] die gestörte Kaufunktion wieder herzustellen“110. Die Reihenfolge verwundert nicht, wie bei medizinischen Publikationen wurden auch hier die optischen Momente des Behandlungszieles denen der Funktion vorangestellt. Die Besonderheit dieser Verletzung, indirekt auch das Hauptargument des Aufsatzes, liege nach Salomon in der „Einbuße in ästhetischer Hinsicht“ also in einer „Minderwertigkeit in der äußeren Erscheinung“. Demnach sei die Gesichtsentstellung „unleugbar in jedem [Hervorhebungen im Original, RM] Berufe ein arger Hemmschuh nicht nur des Fortkommens, sondern überhaupt gleich im Wettbewerb um die vorkriegszeitliche Arbeitsgelegenheit. Zudem gibt es nicht wenige Berufe, deren Kieferinvalide für die alte Beschäftigung von vornherein untauglich sind und sich deshalb für neue – leider herabgeminderte Lebensansprüche – einrichten müssen, z. B. Schauspieler, Lehrer, Kellner u. a. Die Kieferinvaliden dürfen daher mit Recht erwarten, daß innerhalb der allgemeinen Invalidenversorgungsmaßregeln die Besonderheit ihrer Verletzung und infolgedessen ihres künftigen friedenszeitlichen Schicksals Würdigung finden.“111
Salomon folgt ähnlichen Argumentationen und Wissensfiguren wie die Fachartikel. Der Aufsatz schließt mit einem Appell an das soziale Gewissen der Gesellschaft und des Gesetzgebers: „Die Kieferinvaliden dürfen daher mit Recht erwarten, daß innerhalb der allgemeinen Invalidenversorgungsmaßregeln die Besonderheiten ihrer Verletzung und infolgedessen ihres künftigen friedenszeitlichen Schicksals Würdigung finden. (gens. Frkft.)“112
Zum Abschluss noch ein paar Worte zu Salomons Umgang mit Abbildungen, in diesem Fall Fotografien [vgl. Abbildung 12] von gesichtsverletzten Männern. Ohne im Text darauf einzugehen, zeigte er zwei „veraltete entstellende Gesichtsnarben“113 mit dem Hinweis, diese könnten durch eine „sachgemäße Behandlung verbessert werden“114. Die letzten drei Fotos in der untersten Bildreihe zeigen einen Verwundeten und dessen Status quo bei der Ankunft, während und nach Abschluss der Behandlung. Das Ergebnis zeige, „wie gut der Erfolg der plastischen Operation ist“115. Beachtenswert ist der Gesichtsausdruck der Männer. Kann man die Mimik der fünf Männer in den beiden ersten Reihen noch als ernst und nachdenklich bezeichnen, so lacht der Patient der dritten Bildreihe der Leserin und dem Leser entgegen. Unmissverständlich wird hier eine Erfolgsgeschichte erzählt – ermöglicht durch eine sachgemäße Behandlung. Die für die breite Öffentlichkeit bestimmte Information lässt sich damit zu einem gewissen Grade auf das eigene Interesse der neuen 110 111 112 113 114 115
Heinrich Salomon (1916a), S. 148. Heinrich Salomon (1916a), S. 148–150. Heinrich Salomon (1916a), S. 150. Heinrich Salomon (1916a), S. 149. Heinrich Salomon (1916a), S. 149. Heinrich Salomon (1916a), S. 149.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
Disziplin reduzieren. Wieder wurden die Entstellungen der Soldaten und ihr vermeintlich schwerer Schicksalsschlag in allen Lebensbereichen dafür eingesetzt, die Leistungen der eigenen Disziplin zu unterstreichen. 3.6.2 Wiener Illustrierte Wochenschrift Gegen Ende des Krieges erschien eine Bilderreihe aus den Wiener Institut für Moulagen und Gesichtsprothesen des Allgemeinen Krankenhauses Wien, bei der es sich wieder um die Inszenierung einer Erfolgsgeschichte handelte. Mit der üblichen Vorher-Nachher Darstellung wurde die Nasenprothese eines Soldaten sowie die Ohrenprothese eines zivilen Mannes gezeigt, um die Arbeit des Moulageurs Theodor Hennings (1897–1946) und die Ergebnisse am Patienten vorzustellen.116 Theodor Henning war der Sohn und Nachfolger des plastischen Chirurgen und Moulageurs Karl Henning (1860–1917), der mit seiner Henning – Prothese aus „Elastinen“ – die verglichen mit anderen Prothesen als besonders naturgetreu und Nutzerfreundlich galt – berühmt wurde.117 Theodor Henning studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien, war in Italien Soldat und kehrte 1917 nach Wien zurück wo er das Wiener Institut für Moulagen und Gesichtsprothesen gründete, das 1920 privatisiert wurde.118 Auf Bilder von Wunden, wie sie in der Umschau abgebildet waren, wurde in diesem Bericht verzichtet, stellvertretend für die Verletzung sieht man eine Prothese in Hennings Händen [vgl. Abbildung 13]. In der Wiener Illustrierten Wochenschrift ging man mit Berichten aus Lazaretten im Allgemeinen sehr zurückhaltend um. Nur vereinzelt wurde im Zeitraum von 1914 bis 1918 aus Lazaretten berichtet. Die Darstellung zielte eher auf das Lazarettleben und die Partizipation der Bevölkerung ab als auf medizinische Entwicklungen. zu sehen waren daher meist Verwundete mit sauberen Verbänden. Vermittelt werden sollte ein geordneter Alltag in den Lazaretten, so zeigte man Rot-Kreuz-Pflegerinnen bei der Arbeit am Krankenbett oder Näherinnen bei der Anfertigung von Socken und Ähnlichem für Soldaten.119 Diese beiden Beispiele aus Zeitungen mit einer großen Auflage zeigen, dass zum einen in den Massenmedien wenig bis gar keine Fotografien von Gesichtsverletzten veröffentlicht wurden und zum anderen der Diskurs aus den medizinischen Schriften fortgesetzt wurde. Daraus ergibt sich die Frage, warum es so wenige Abbildungen von rekonstruierten Gesichtern in der Öffentlichkeit gab, wo diese doch aus der Sicht der Ärzte als Inbegriff des medizinischen Fortschrittes galten? Einige Historikerinnen und Historiker erklären 116 Vgl. Fotoreihe in: Wiener Illustrierte Wochenzeitung (1914–1918), 29.9.1918, Nr. 39, S. 8. 117 Mehr zu Karl Henning und Epithetik in Kapitel 4: Behandlungszeit. Körperpraktik. Die Epithese. 118 Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Eintrag Henning, Theodor, Mediziner, Bd.2 (Lfg. 8, 1958), S. 274. 119 Vgl. Wiener Illustrierte Wochenzeitung (1914–1918).
3.6 Darstellungen von Gesichtsverletzten in populären Medien
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Abb. 13: Links: Vorher-Nachher Abbildungen mit und ohne Prothese; Rechts: Theodor Henning bei der Anfertigung einer Prothese. Quelle: Wiener Illustrierte Wochenzeitung (1914–1918), S. 8.
sich diesen Umstand mit dem Verbot seitens der Militärbehörden, Aufnahmen in den Lazaretten zu machen,120 eine Erklärung, die mit Blick in die medizinischen Publikationen nicht stand hält. Eine andere Erklärung wäre die Reaktion der Betrachterinnen und Betrachter auf die Bilder. Denn obwohl die Ärzte mit dem Fingerzeig auf das rekonstruierte Gesicht ihre Erfolge belegen wollten, reagierte das Laienpublikum mit Schrecken. Aber weshalb konnten die Ärzte die Öffentlichkeit nicht von ihrer Wahrnehmung überzeugen? Eine interessante Erklärung für den englischsprachigen Raum, die auch für den deutschsprachigen Raum überzeugend ist, liefert Ana Carden-Coyne, Historikerin, indem sie Fotos von operierten Gesichtern als Zeugen der Gewalt und der Zerstörungskraft des Krieges ausmacht.121 Die Narben im Gesicht wurden von Laien als Entstellung und nicht als Zeugen einer erfolgreichen Operation wahrgenommen, wodurch zwischen Bildtext und gezeigten Abbildungen ein Widerspruch entstand. In der Medizin hielt man trotzdem an der Bildsprache fest, den man war sich darüber 120 Vgl. Ramsbrock (2011), S. 135; diese zitiert Bernd Ulrich (1993), S. 115–129. 121 Vgl. Carden-Coyne (2009), S. 100–101.
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einig, dass die Fotos Erfolge, nicht Leid und Verstümmelung zeigten.122 Diese Unstimmigkeiten in der Wahrnehmung begegnen uns auch im folgenden Abschnitt, da dort schließlich auch die Kritik am modernen Krieg ansetzte. Zwei Jahre nach dem Artikel von Heinrich Salomon in der Umschau erschien 1917 im schweizerischen Zürich ein Roman mit dem Titel Menschen im Kriege. Der Autor, Andreas Latzko (1876–1943), wählte die Figur des Gesichtsverletzten um den individuellen Schrecken des Krieges herauszuarbeiten. 1920 setzte sich der Maler Otto Dix (1891–1969) in einer Bilderserie mit seinen Kriegserlebnissen auseinander, und 1924 wetterte der Pazifist Ernst Friedrich (1894–1967) im Buch Krieg dem Kriege gegen Militarismus und Gewalt. Allen dreien ist gemein, dass sie, um ihre Interesen zum Ausdruck zu bringen ein bestimmtes Bild des gesichtsverletzten Soldaten zeichnen. 3.7 Kriegsgegner und die Rolle des gesichtsverletzten Soldaten in bildender Kunst, Literatur und Ausstellung 3.7 Gesichtsverletzte Soldaten in bildender Kunst, Literatur und Ausstellung In den medizinischen Schriften häuften sich die Patientengeschichten, die über erfolgreiche Behandlungen von schwer gesichtsverletzten Männern berichteten. Mit der angemessenen Geduld während der Behandlung und dem Vertrauen auf die medizinischen und operativen Fortschritte konnten diese Patienten angeblich ihrer unheilvollen Zukunft entkommen. Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen waren zwar erschrocken über das Ausmaß der Behandlungen, boten aber mit den rekonstruktiven Operationen aus ihrer Sicht ein Angebot an, um der sozialen Isolation aufgrund der Entstellung zu entkommen. Die Frage stellt sich, warum bedienten sich Kriegsgegner besonders gerne dieser Gruppe von Männern, die doch die Gräuel des Krieges bereits überwunden hatten, um ihre politischen Interessen zu artikulieren? Wie kam es zu der entgegengesetzten Bewertung des Behandlungserfolges der gleichen Gruppe von Menschen, und welche Rolle spielte die Figur des Arztes in pazifistischen Schriften? Um eine möglichst breites Bild zu zeichnen, werden drei verschiedene Zugänge in der Auseinandersetzung mit Krieg und Zerstörung gewählt. Den Beginn macht Andreas Latzko mit dem Roman Menschen im Krieg. 3.7.1 Andreas Latzko: Menschen im Krieg Während des Krieges war Andreas Latzko Soldat der k. u. k. Armee an der Isonzo-Front. 1917 wurde er als Kriegszitterer in ein Sanatorium nach Davos in der Schweiz eingeliefert, wo er während seiner Rekonvaleszenz Menschen im Krieg sowie fünf weitere Novellen verfasste. Die erste Auflage des Buches erschien 1917 in Zürich, jedoch anonym. Ein Jahr darauf erschien im selben Verlag (Max Rascher) die hier analysierte Ausgabe, dieses Mal trat Latzko als 122 Vgl. Fotografien in: Lexer (1920).
3.7 Gesichtsverletzte Soldaten in bildender Kunst, Literatur und Ausstellung
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Autor auf. In der Folge wurde das Buch in 19 Sprachen übersetzt, international bekannt und von den kriegsführenden Staaten zensiert. Latzko wurde vom k. u. k. Militär degradiert, jedoch ohne weitere Konsequenzen.123 Die erstmalige Einberufung aller Bevölkerungsschichten bewirkte, dass am Ersten Weltkrieg mehr Künstler und Intellektuelle teilnahmen als an den bisherigen Kriegen. Das wirkte sich auf die Veröffentlichungen über den Krieg aus. Neben dem bekannten Antikriegsromanen von Latzko oder Erich Maria Remarque124 erschien eine Vielzahl von soldatischen Tagebüchern, Romanen und Kriegserinnerungen.125 Eine wichtige Rolle bezüglich deren Beliebtheit spielten die „explicit, graphic descriptions“ in den Romanen, deren Autorinnen und Autoren mitunter auf die Wirkung von Gesichtsverletzungen setzten.126 Über das Buch von Latzko schrieb Karl Kraus 1931 in der Fackel: „Andreas Latzko muß in der Tat unvergessen bleiben: seine Novellenfolge Menschen im Krieg, die zu einer Zeit erschien, da es noch lebensgefährlich war, gegen den Weltirrsinn Protest anzusagen. Freilich in der Schweiz und für die erste Auflage anonym, aber gewürdigt im Oktober 1917 in der Fackel, als Herr Kreutz noch nicht einmal wußte, daß es jedenfalls zensurgefährlich war, in Österreich auf das Buch – als menschliches Dokument – hinzuweisen.“127
Andreas Latzko selbst schrieb weitere Antikriegsromane,128 Menschen im Krieg blieb allerdings sein erfolgreichstes Buch. Aus verschiedenen Blickwinkeln beschreibt Latzko in diesem Buch das Grauen des Krieges. Der Roman beginnt in einem Lazarett in einer habsburgischen Provinzstadt. Einige der dort behandelten Verletzten hatte das Schicksal besonders hart getroffen. Exemplarisch für diese Männer wählt Latzko im Roman die Figur eines Majors, der von der Front mit einem Kriegstrauma zurückkehrt und nicht mehr in die Normalität zurückfindet. Die zweite Episode handelt von der Schwierigkeit eines Majors der k. u. k. Armee, seiner Mannschaft einen tödlichen Marschbefehl zu erteilen. Von Gewissensbissen geplagt wird der Offizier zusehends unfähiger, Entscheidungen zu treffen. Er empfindet es als Verrat, seine Männer, die ihr Leben in seine Hände legten, in das Trommelfeuer laufen zu lassen. Im dritten Teil übt Latzko Kritik an der Bourgeoisie, die vom Kriegsalltag nichts mitbekommt und sich an den Schlachtengeschichten eines Generals erheitert. Um den Schein für die gute Gesellschaft aufrechtzuerhalten, wird den Verwundeten der Stadt untersagt, sich auf den Straßen zu bewegen. In der darauf folgenden Geschichte setzt sich Latzko mit der Kriegsbegeisterung und dem 123 Vgl. Herbert Gantschacher (2003). 124 Vgl. Remarque (1999); Remarque (2007). Das Buch Im Westen nichts Neues zählt bis heute mit über zwanzig Millionen verkauften Exemplaren, Übersetzungen in fünfzig Sprachen und erfolgreichen Verfilmungen zu den erfolgreichsten Antikriegsromanen des Ersten Weltkrieges. 125 Vgl. Mosse/Rennert (1993), S. 87. 126 Carden-Coyne (2009), S. 74. 127 Karl Kraus (1931). Der im Zitat erwähnte Beitrag erschien in: Karl Kraus Die Fackel Nr.462 (Wien 1917), S.175. 128 Vgl. Friedensgericht, Rascher-Verlag Zürich 1918; Der wilde Mann, Rascher-Verlag Zürich 1918; Frauen im Krieg, Rascher-Verlag Zürich 1918; Sieben Tage, 1931.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
Umgang mit kritischen Stimmen auseinander, indem er einen Soldaten berichten lässt, wie es zu seinem Kriegstrauma kam. Als Versorgungssoldat, der für den Abtransport der Verwundeten vom Verbandsplatz in die Etappen-Lazarette zuständig war, hatte er oft Kontakt mit Verletzten. Einer unterschied sich von den Anderen: „Erst als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, hob er den Kopf, -- und das Gesicht, das er mir zeigte, warf mich zurück, wie ein Faustschlag vor der Brust. […] Was war das? … Solches Grauen hatte auch diese Wiese, dieser Warteraum zum Jenseits noch nicht gesehen. Selbst die schaurige Erinnerung an einen anderen, der wenige Tage vorher, genau an der gleiche Stelle, in den wie schöpfend zusammengefügten Händen behutsam die eigenen Gedärme gehalten hatte, --versank beim Anblick dieses Januskopfes, der links ganz Frieden, ganz milde Menschlichkeit; -- rechts ganz Krieg, ganz verzerrtes, geblähtes Haßgebilde schien… Das war nichts Menschliches mehr!“129
Mit diesem Anblick ändert sich für den Versorgungssoldaten alles. Die Unmöglichkeit, mit dem Geschehenen umzugehen führt zu Wahnvorstellungen und der Versorgungssoldat muss in ein Lazarett eingeliefert werden. In der nächsten Episode macht sich ein an einer Kopfwunde sterbender Major in seinem Krankenbett Gedanken über das Wesen des Militärs und dessen Angehörige. Kurz vor seinem Tod kommt er zu dem Schluss, dass Soldaten jeglichen Dienstgrades ihre Befehle ohne Kopf und Verstand ausführen und niemand über die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns nachdenkt – auch er nicht. Der letzte Abschnitt schließlich handelt von der Rückkehr des Soldaten Johann Bogdáns in seine Heimat. Dieser war aus dem Militärdienst aufgrund einer Gesichtsverletzung entlassen worden. Latzko stellt die Behandlungszeit nicht als Überwindung der Zerstörungskraft des Krieges dar, wie es die Ärzte vielerorts taten. Auch die medizinischen Fortschritte aus der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden beschreibt er als nichts anderes als ein weiteres schmerzhaftes Martyrium für die Soldaten. Besonders harsche Kritik übte Latzko am (Militär-) Ärztestand und dem ungebremsten Ehrgeiz der Ärzte, immer neue Behandlungsmethoden an Patienten zu testen: „Über die linke Seite hatte er sich was aufschwatzen lassen von der verdammten Großstadtsippschaft, die im Krieg, genau wie in Friedenszeiten, doch nur darauf aus war, arme Bauersleute zum Narren zu halten. Schurken waren sie miteinander, der großartige Herr Professor sowohl wie die feinen Damen, mit den schneeweißen Mänteln und den albernen, geschraubten Redensarten. Es war, weiß Gott, kein Kunststück, einen einfältigen Kutscher, der mit Ach und Krach das Lesen und Schreiben erlernt hatte, in eine Falle zu locken. Da haben sie ihn angegrinst und ihm schön getan, und ihm das Blaue vom Himmel herunter versprochen, und nun saß er da, hilflos, sich selbst überlassen, -- ein verlorener Mann.“130
Das Behandlungsergebnis bewertet die Romanfigur wenig überraschend als völlig unzureichend: „War das ein menschliches Gesicht? War es erlaubt, einen Menschen so herzurichten? Die Nase wie aus kleinen, verschiedenfarbigen Würfeln zusammengestückelt, der Mund
129 Latzko (1918), S. 147–148. 130 Latzko (1918), S. 172.
3.7 Gesichtsverletzte Soldaten in bildender Kunst, Literatur und Ausstellung
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verzogen, die ganze linke Wange aufgedunsen, wie rohes Fleisch, so rot, und kreuz und quer von tiefen Narben durchzogen. Abscheulich!“131
In diesem Fall zerstörte nicht der Krieg das Gesicht, sondern die Arbeit der Chirurgen. Weiter im Text werden die Schmerzen bei den Operationen angesprochen, die in den Fachschriften nicht thematisiert wurden: „Dafür hatte er sich siebzehnmal, wie ein geduldiges Schaf, in das verfluchte Zimmer mit den Glaswänden, und den vielen blitzenden Messern hineinlocken lassen. Ein heißer Schauer lief ihm heute noch über den Rücken bei der Erinnerung an die Qualen, die er zähneknirschend ertragen hatte, nur um wieder ein menschliches Aussehen zu kriegen, und heimkehren zu können zu seiner Braut.“132
Auch hier tritt die Figur des Arztes wieder als Verführer auf, dessen Lockrufe der Patient nicht widerstehen kann. Der Wunsch nach einem menschlichen Aussehen und der damit verbundenen sozialen Reintegration waren die Motive, in die Eingriffe einzuwilligen. Aus der Behandlung entlassen, wird Johann Bogdán klar, dass er nun ein Leben mit einer Entstellung führen muss. Das Wunder der Chirurgen ist für den Laien nicht erkennbar,133 Johann Bogdán beurteilt das tatsächliche Ergebnis deutlich anders als die Ärzte. Die Operationswunden eignen sich nicht als Beweis für eine ausgezeichnete Arbeit der Chirurgen. Vielmehr erkennt Bogdán beim Blick in den Spiegel wie abstoßend sein Gesicht ist. So wächst die Angst vor der Heimkehr und vor der Reaktion seines sozialen Umfeldes ins Unerträgliche, je näher die Zusammenkunft kommt: „Aber ein instinktives Unbehagen, das feindselige Mißtrauen, das ihn übermannte, sagte ihm deutlich genug, daß er Enttäuschungen und Kränkungen entgegenging, von welchen er sich im Spital nichts hätte träumen lassen.“134
Bereits während der Zugfahrt nach Hause malt sich die Figur Bogdán die Reaktion seines sozialen Umfeldes aus, sodass er schließlich mit ausgeprägten Selbstzweifeln am Bahnhof ankommt. Gleich bei der ersten Begegnung werden die schlimmsten Befürchtungen wahr, denn die Bewohner erkennen ihn nicht wieder: „Schon wollte er stehen bleiben, da merkte er, daß ihre Lippen bebend ein lautloses ‚Jesus Maria‘ stammelten, als wäre er der leibhafte Gottseibeiuns. Und taumelnd, gekränkt, ging er weiter. -- Nicht erkannt! -- hämmerte das Blut ihm in den Ohren, -- Nicht erkannt. Nicht erkannt!“135
Die schwierige Situation der Heimkehr und das erste Zusammentreffen der Patienten mit den Angehörigen wird in den medizinischen Publikationen nicht besprochen, was der weit verbreiteten Überzeugung, mit den Operationen wären auch alle Kriegstraumata und Zukunftsängste verschwunden, entsprach. Ganz anders verhält es sich im Genre des Anti-Kriegsromans. In Der 131 132 133 134 135
Latzko (1918), S. 172–173. Latzko (1918), S. 173. Vgl. Latzko (1918), S. 174–175. Latzko (1918), S. 175. Latzko (1918), S. 177.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
Weg zurück (1931),136 dem Fortsetzungsroman von Im Westen nichts Neues (1929),137 wählte der Schriftsteller Erich Maria Remarque eine ähnliche Geschichte, um die Heimkehr von jungen Soldaten und ihr erstes Zusammentreffen mit vertrauten Personen zu schildern. Zuhause angekommen, erzählt sich eine Gruppe junger Männer gegenseitig von ihren Kriegserlebnissen. Die Sorge Paul Rademachers, der Romanfigur von der der Abschnitt handelte, gilt seiner Berufsfähigkeit mit der Verletzung, eine etwaige zwischenmenschliche Enttäuschung spielt hier keine Rolle.138 Anders bei der Geschichte Latzkos und dessen Romanfigur. Je näher dieser dem Dorf und damit auch seiner Verlobten kommt, und je mehr Personen er begegnet, desto desillusionierter wird er. Der ganze Frust entlädt sich schließlich an der Person des Chirurgen: „Wenn er jetzt den Professor hätte in die Krallen kriegen können! Photographiert hatte ihn der Betrüger, -- und nicht einmal nur, -- ein dutzend Mal wenigstens, von allen Seiten; nach jeder Schinderei von neuem; als wäre ihm weiß Gott was für ein Kunststück gelungen. Und nun hatte ihn nicht einmal die Bahnwärterin Juli erkannt -- die Bahnwärterin Juli -- -- ein Nachbarskind!“139
Der abermalige Blick in den Spiegel bringt dann die endgültige Gewissheit: „Was hatte dieses Affengesicht, dieses zerflickte, scheckige Gefries, das ihm der verdammte Gauner, der Betrüger, der sich einen berühmten Professor schimpfen ließ, da zusammenschustert hatte, mit Johann Bogdán zu tun, mit dem Johann Bogdán, dem die Marcsa die Ehe versprochen […] hatte.“140
Als Bogdán schließlich seine Verlobte trifft, erschrickt diese beim Anblick seines Gesichtes und läuft davon. Dem nicht genug, muss Johann Bogdán auch noch feststellen, dass seine Braut in der Zeit, in der er weg war, ein Verhältnis mit seinem früheren Dienstgeber angefangen hat. Aus Verzweiflung über die Zurückweisung, ermordet er die beiden im Zorn und begeht schließlich Selbstmord.141 Mit großem Erfolg kreierte Andreas Latzko in diesem Roman die Figur des Anti-Kriegshelden durch die entstellende Verletzung im Gesicht. Obwohl von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen geplagt, gibt sich der Verwundete nicht auf und wagt die Rückkehr in die Heimat. Dort angekommen, wird die befürchtete Andersartigkeit jedoch zur bitteren Realität und er durch sein unkenntliches Gesicht somit zum Kriegsopfer schlechthin. Der Blick in die erhaltenen Patientenakten zeigt,142 dass im Gegensatz zu den Darstellungen in der Kunst und der Literatur, die meisten Soldaten keine furchtbaren und abschreckenden Wunden, sondern eher unsichtbare körperliche oder psychische Verletzungen hatten. Den Künstlern und Autoren ging es 136 Remarque (1999), das 1931 erstmals erschienene Buch wurde in 25 Sprachen übersetzt. 137 Vgl. Remarque (2007), das 1929 erstmals erschienene Buch wurde in 40 Sprachen übersetzt und etwa 12. Millionen mal verkauft. 138 Vgl. Remarque (1999), S. 110–111. 139 Latzko (1918), S. 182. 140 Latzko (1918), S. 179. 141 Vgl. Latzko (1918), S. 197–200. 142 Mehr dazu in Kapitel 6: Biografien.
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aber darum, auf die Wirkungsmacht des modernen Krieges aufmerksam zu machen und so kriegerische Auseinandersetzungen endgültig aus der Gesellschaft zu verbannen. Eine Überhöhung bestimmter Verletzungen diente daher häufig als Ausgangspunkt einer generellen Kritik am Krieg und zählte zu den gängigen Darstellungsstilen wie Robert Weldon Whalen, Historiker, feststellte.143 Vor allem Künstler, die selbst als Soldaten dienten und die Realität in den Schützengraben miterlebten, wählten die abschreckenden Bilder von grausam verletzten Männern, um den Krieg darzustellen und ihn zu kritisieren.144 In diesen Kontext sind auch die in der Folge analysierten Bilder von Otto Dix zu sehen, in denen er sich mit seinen Kriegserlebnissen auseinandersetzte. 3.7.2 Otto Dix: die Figur des Gesichtsverletzten In geschichtswissenschaftlichen Studien liest man vom Ersten Weltkrieg als „visual war“, der Körper hervorbrachte, die im Nachkriegseuropa Symbolhaftigkeit erlangten.145 Für Michael Hagner, Historiker, stellen die Abbildungen von Gesichtsverletzten sogar einen „charakteristischen Bildbestand der Weimarer Republik“146 dar. Dazu zählte er neben medizinischen Darstellungen gerade auch die Collagen von Georg Grosz, Otto Dix, Max Beckmann oder John Heartfield sowie Ernst Friedrichs Buch Krieg dem Kriege.147 Die Bilder von Otto Dix (1891–1969), Maler und Grafiker, Bilder aus der Nachkriegszeit – um die es in der Folge gehen wird – sind von seinen Kriegserlebnissen geprägt. Ähnlich wie die beiden Maler Max Beckmann (1884– 1950) und Georg Grosz (1893–1959) wählte Dix die Malerei als Weg im Umgang mit Erinnerungen und den gemachten Erfahrungen. Wie bei keinem anderen Maler wurden seine Arbeiten zum Kanon des Bildbestandes der Weimarer Republik. Dies drückt sich gerade auch in der wissenschaftlichen Rezeption seiner Bilder aus.148 In der Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegserfahrungen griff er immer wieder auf die Darstellung von Gesichtsverletzten zurück. Zwei seiner Bilder (Die Skatspieler von 1920 und Der Kriegsverletzte von 1922) werden nachfolgend analysiert, indem Fragen nach dem enthaltenen medizinischen Wissen, den Patientengeschichten und den Bezügen zu den Darstellungen in der Medizin gestellt werden.
143 144 145 146 147 148
Vgl. Whalen (1984), S. 56. Whalen (1984), S. 56. Vgl. Carden-Coyne (2009), S. 109. Michael Hagner (2000), S. 78. Vgl. Michael Hagner (2000), S. 78. Vgl. Schmölders/Gilman (2000); Strobl/Dix (1996); Metzger/Brandstätter (2006); Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart, Kollwitz – Beckmann – Dix – Grosz. Kriegszeit. Laufzeit 30.4.–7.8.2011.
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3.7.2.1 Die Skatspieler: Überzeichnung der Wiederherstellungschirurgie Das Ölgemälde [Abbildung 14] entstand 1920 als erstes Bild einer Reihe von Darstellungen von gesichtsverletzten Soldaten.149 Als Otto Dix im April 1919 aus dem Krieg heimkehrte erlebte er mit, wie erzürnte Kriegsheimkehrer den sächsischen Wehrminister Neuring in die Elbe stießen und anschließend auf ihn schossen. Ein Jahr darauf wurden auch im Alltag von Dix die bettelnden Kriegsversehrten auf der renommierten Prager Straße traurige Realität. Diese Bilder und seine Kriegserlebnisse verarbeitete er in den Monaten März bis Juni 1920 zu der vier Bilder umfassenden Folge Der Kriegskrüppel, wovon eines das hier vorgestellte Bild Die Skatspieler ist. Vorbild für diese Kollage waren Kartenspielende Kriegsversehrte in einem Hinterzimmer eines Dresdner Cafés. In den Jahren 1984/85 restaurierte der Sohn von Otto Dix – Ursus Dix (1927–2002) – das Bild, das sich im Besitz einer süddeutschen Privatsammlung befand. Seit 1994 ist das Gemälde in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen.150 Das bis ins Groteske überzeichnete Ölgemälde ergänzte Dix mit einer Collage aus Spielkarten, Zeitungen und Textilluminationen. Es gilt als Hauptwerk des Dresdner Dadaismus und frühen Verismus. Dem Spieler links auf dem Bild fehlen beide Arme und ein Bein. Als Ersatz für eine Hand trägt er eine Prothese aus Holz, mit der er die Karten ausspielt, die Karten selbst hält er mit seinem Bein. Der Kopf des Mannes ist schwer entstellt, ihm fehlen ein Auge, ein Ohr und die Wange, wodurch das Mundinnere freigelegt ist. Die restliche Gesichtsund Schädelhaut ist stark vernarbt. An der Stelle, an der sich das Ohr befand, ragt ihm als Hörgerät ein Schlauch aus dem Kopf. Am Beinstumpf trägt der Spieler einen Holzstab wie der Spieler in der Mitte des Bildes, den es noch härter getroffen hat. Dieser hat beide Beine und beide Arme verloren. Seine Karten befinden sich in einer Halterung am Tisch und werden mit seinen Zähnen ausgespielt. Auch er hat ein Auge verloren, welches Dix durch ein Glasauge ersetzte. Die rechte Schädelhälfte ist durch ein Transplantat ersetzt, das mit groben Nadelstichen am Kopf vernäht ist. Sein Ohr wird von einem Trichter ergänzt. Unbehandelt hingegen blieb die Nase, weshalb ihm die linke Nasenwand fehlt. Zu einem Mischmenschen aus lebendigem Organismus und Apparatur wird der Spieler durch das Kiefertransplantat, das einem Maschinenteil gleicht. Das Kiefergelenk ersetzte Dix durch einen runden Gegenstand, der an ein Kugellager erinnert. Ähnlich dargestellt ist die Kieferprothese des Spielers rechts auf dem Bild, allerdings mit der Besonderheit, dass sich Otto Dix auf dem Kieferast mit einem Fotoporträt verewigte. Der Text auf der Kieferprothese lautet: „Unterkiefer: Prothese Marke: Dix. Nur echt mit dem Bild des Erfinders.“151 149 Vgl. Otto Dix: Die Skatspieler (1920), Kriegsverletzter (1922), Dirne und Kriegsverletzter (1923), Transplantation (1924) und als Teil des Bildensembles beim Triptychon Großstadt (1927/28). 150 Roland März, Otto Dix. Die Skatspieler (Kartenspielende Kriegskrüppel), http://www. freunde-der-nationalgalerie.de/de/projekte/ankaeufe/1995/otto-dix.html, 17.1.2014. 151 Vgl. Bildausschnitt Abbildung 11.
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Abb. 14: Otto Dix, Die Skatspieler, 1920.
Die fehlende Nase wird hinter einer schwarzen Binde, ähnlich einer Augenklappe, versteckt. Bei diesem Spieler ist nicht nur die Kieferprothese eigenwillig, sondern auch die Armprothese, die er anstelle der rechten Hand trägt. Sie besteht aus Zahnrädern und Seilzügen und mit ihr spielt er die Karten aus. Damit bedient sich Dix der Mensch-Maschinen Metapher als Motiv, ähnlich wie es der Arzt und Verfasser von populärwissenschaftlichen Büchern Fritz Kahn (1888–1968) in seinen Publikationen tat.152 Die linke Hand ist erhalten, die Finger jedoch scheinen ebenfalls verwundet worden zu sein. Dem Spieler fehlen nicht nur beide Beine, sondern auch der Rumpf, somit liegen die Geschlechtsorgane gut sichtbar auf der Sitzfläche des Stuhles. Spätestens bei dieser Figur wird klar, dass hier Chirurgen und Prothetiker am Werk waren, die ehrgeizig die unterschiedlichsten Operationsmethoden und Prothesen an ihren Patienten austesteten. Otto Dix führt uns mit diesem Bild die substanzielle Verwundbarkeit des menschlichen Körpers vor Augen und fordert so zwingt die Betrachterin und den Betrachter dazu auf, das Dogma der technischen Reduzierbarkeit des menschlichen Körpers kritisch zu betrachten. Durch die Konfrontation der Betrachter mit der massenhaften Zerstörungskraft des Krieges, mit Entstellung und Verstümmelung, soll die Sinnhaftigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen von den Betrachtern in Frage gestellt werden.153 Durch Dix’s Darstellun152 Vgl. Debschitz et al. (2013). 153 Vgl. Kienitz (2008), S. 11. Dazu auch: Bernd Ulrich (1993); Michael Hagner (2000); Sander L. Gilman (2000); Maria Tatar (2000).
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gen der rekonstruktiven Eingriffe an den Körpern der Männer werden die von der Medizin als Fortschritt gepriesenen Operationstechniken ins Gegenteil verkehrt. Durch den Bezug zu technischen Konstruktionen werden die Invaliden auf den Bildern zu Cyborgs, zu Maschinenmenschen. Diese Körper sollen schockieren und erschüttern154, aber auch zeigen, dass der Krieg nicht ungeschehen gemacht werden kann, dauerhaft ist er in die Gesichter der Männer eingeschrieben. Die Kritik Dix’s galt dabei auch immer dem in der Weimarer Republik weiterlebenden wilhelminischen Militarismus. Gleichzeitig war Dix fasziniert vom Durchhaltevermögen der Kriegsversehrten, die trotz massiver körperlicher Einschränkungen ihr Leben meisterten.155 3.7.2.1 Der Kriegsverletzte: Annäherung an das Original In drei anderen Bildern Otto Dix’s, Kriegsverletzter von 1922, Dirne und Kriegsverletzter von 1923 und Transplantation von 1924, in denen er sich mit Gesichtsverletzten auseinandersetzte, wählte der Maler – im Gegensatz zum dadaistischen Bild Die Skatspieler – einen auffallend realistischen Stil. Das hier besprochene Bild Kriegsverletzter aus dem Jahr 1922156 wurde äußerst selten rezipiert. Für diese Arbeit interessant ist das Bild aufgrund der auffallenden Ähnlichkeit zu Darstellungen von Gesichtsverletzungen aus den Lazaretten [vgl. Abbildung 15]. Die von Michael Hagner formulierte These, diese Bilder seien aus der Begegnung Dix’s mit Gesichtsverletzten heraus entstanden157, ist durch die in vorliegender Arbeit konsultierten Quellen nicht abschließend zu bestätigen. Fest steht allerdings, dass es auf dem Bild einige Bezüge zu Bildern aus den Lazaretten gibt, wie ich in der Folge herausarbeiten werde. Auf dem Bild ist das Porträt eines Mannes dargestellt, dessen melancholischer Blick die Betrachterin und den Betrachter fesselt. Der Mann sieht den Betrachtern direkt in die Augen und fordert zur Auseinandersetzung mit seiner großflächigen Verletzung der rechten Gesichtshälfte auf. Er hat kurzgeschnittenes Haar und trägt Krankenhauskleidung. Das Bild ähnelt Darstellungen von Gesichtsverletzten unmittelbar nach der Ankunft in den Lazaretten, wie die rechts abgebildete Zeichnung aus der Kriegszahnklinik in Lublin, die im Zeitraum von 1915 bis 1918 entstand. Auch auf diesem Bild hat der Mann eine ausgedehnte Weichteil- und Kieferverletzung und auch er trägt die Haare kurz und hat Krankenhauskleidung an. Die Bilder unterscheiden sich lediglich durch die Blickrichtung und die Farbgebung des dargestellten Verletzten. Wobei bei beiden Portraits auf die Darstellung von Blut verzichtet wurde, obgleich es sich um frisch Verletzte handelte. Beide tragen saubere Kleidung.
154 Vgl. Maria Tatar (2000), S. 113. 155 Vgl. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte. 156 Im selben Jahr malte Otto Dix ein weiteres Bild eines Gesichtsverletzten mit demselben Titel. 157 Vgl. Michael Hagner (2000), S. 86.
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Abb. 15: Links: Otto Dix, Kriegsverletzter, 1922. Quelle: Maria Tatar (2000), S. 114; Rechts: Aquarell eines frisch Verletzten. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
Im Bild Die Skatspieler kritisiert Dix den Glauben der Medizin, Verwundungen ungeschehen machen zu können. Hier hingegen verweist er auf die Hilflosigkeit einer ganzen Gesellschaft gegenüber der Zerstörungskraft der eingesetzten Waffen. Nüchtern und realistisch wird der Krieg mit seinen Folgen dargestellt, was nicht zuletzt durch die nüchterne und reduzierte Darstellung des Verwundeten in Krankenhauskleidung gelingt. Der Gesichtsverletzte ist hier die Chiffre – die Metapher für den Krieg. Ähnliches findet sich im Werk Ernst Friedrichs, dessen Ziel darin bestand, „to blame the military and political authorities of the war disasters“158. 3.7.3 Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege Als Ernst Friedrich, politisch aktiver Pazifist und Autor, 1924 Krieg dem Kriege veröffentlichte, gingen die Wogen hoch. Militaristen sahen sich darin persönlich angegriffen, Pazifisten hingegen fühlten sich verstanden und erhoben das Buch zu einem Manifest. Friedrich selbst ging es in erster Linie darum, die Gräuel des Krieges aufzuzeigen und das möglichst wirkungsmächtig, „Fotografie als Schocktherapie“159 sozusagen, wie Susan Sontag, Essayistin, Friedrichs Arbeit kommentierte. 158 Beatriz Pichel (2010). 159 Sontag (2010), S. 21.
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Friedrich ging davon aus, „wenn man das Grauen nur anschaulich genug darstelle, würden die meisten Menschen die Ungeheuerlichkeit und den Wahnsinn des Krieges schließlich begreifen“160. Die Verkaufszahlen bestätigten seine Herangehensweise. Das Buch erschien mit viersprachigen Texten und Bildunterschriften und schon die erste Auflage verkaufte sich 70.000 Mal. Bis 1930 wurde es insgesamt zehn Mal aufgelegt und in weitere 50 Sprachen übersetzt. Die letzte Ausgabe erschien 2004 mit einem Vorwort von Gerd Krumeich.161 Kurt Tucholsky rezensierte das Buch nach dem Erscheinen der zweiten Auflage 1926 in der Weltbühne: „Das Buch, das fast zweihundert der entsetzlichsten und grausigsten Dokumente wiedergibt, sollten wir bestellen und verbreiten. Die Fotografien der Schlachtfelder, dieser Abdeckereien des Krieges, die Fotografien der Kriegsverstümmelten gehören zu den fürchterlichsten Dokumenten, die mir jemals unter die Augen gekommen sind. Es gibt kein kriminalistisches Werk, keine Publikation, die etwas Ähnliches an Grausamkeit, an letzter Wahrhaftigkeit, an Belehrung böte. Das böse Gewissen, mit dem die Offiziere und Nationalisten aller Art verhindern und natürlich verhindern müssen, dass das wahre Gesicht des Krieges bekannt werde, zeigt, was sie von solchen Veröffentlichungen zu befürchten haben. Geschriebene Bücher schaffen es nicht. Kein Wortkünstler, und sei es der größte, kann der Waffe des Bildes gleichkommen.“162
Das Kapitel Das Antlitz des Krieges, in dem unter anderem 24 Fotos von gesichtsverletzten Männern gezeigt werden, trug maßgeblich zu dessen Erfolg bei. Zur Verstärkung der gewünschten Wirkung ergänzte Friedrich die Bilder gekonnt mit provozierenden Bildunterschriften, welche die „Niedertracht der militaristischen Ideologie“ Bild für Bild deutlicher machen sollten.163 Diese Bilder zeigen, im Gegensatz zu den Behauptungen einer humanen Wirkung der Waffen seitens der Ärzte und dem Militär keine sauberen Wunden, sondern abstoßende großflächige Zerreißungen. Die Leistung der Ärzte tritt somit weit in den Hintergrund. Sie werden zu Mittätern und Handlangern der Militärs stilisiert, deren Operationen unmenschliche Gesichter hervorbringen. Es waren meist die Fotografien Gesichtsverletzter aus diesem Buch, die in der (Geschichts-) Wissenschaft regelmäßig rezipiert wurden.164 Die einflussreichste Arbeit dazu stellt Susan Sontags Das Leiden anderer betrachten165 dar. In dem Essay geht es Sontag um die Auslotung der Grenzen des Darstellbaren und dessen Wirkung auf die Betrachterin und den Betrachter. In der Auseinandersetzung mit erschreckenden Kriegsfotografien stellt sie die Frage nach der Eignung solcher Bilder zur Verbreitung einer Antikriegsstimmung in der Bevölkerung. Ist es nicht vielmehr so, wie Sontag anmerkt, dass die meisten Bilder durch die häufige Betrachtung abgenutzt, die Betrachter abgestumpft werden und sich die erwünschte Wirkung daher nicht mehr entfalten kann? 160 161 162 163 164
Sontag (2010), S. 21. Vgl. Friedrich (2004). Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky) (1926). Sontag (2010), S. 22. Vgl. Michael Hagner (2000), S. 79; Carden-Coyne (2009), S. 109; Winter et al. (2012), S. 124–144; Kienitz (2008), S. 28. 165 Vgl. Sontag (2010).
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Für den Großteil der Kriegsfotografie trifft das nach Sontag zu, einigen Bildern jedoch gelingt es auszubrechen und sie schreiben sich in die Köpfen ein. Beispielhaft dafür sind Fotografien von zerstörten Gesichtern, „die immer von etwas Ungeheuerlichem zeugen, dass jemand um jeden Preis überlebt hat“166. Doch trotz der großen Wirkungsmacht, die Sontag gerade auch jenen Bildern zusprach, die Ernst Friedrich wählte, sieht sie hier eine Grenze überschritten. Die einzigen Menschen, denen Sontag ein Recht zur Betrachtung dieser Bilder einräumt, sind jene, die etwas dagegen unternehmen konnten wie etwa die Chirurgen in den Lazaretten. Alle anderen, wir inbegriffen, sind nach Sontag Voyeure.167 Zweifel an der Wirkungsmacht von Bildern äußerte hingegen Jay Winter, Historiker. Für ihn wirkten diese nur bei jenen, die sich bereits zuvor gegen kriegerische Auseinandersetzungen entschlossen hatten.168 Bisher nicht erforscht ist die Herkunft der von Friedrich verwendeten Bilder, deren ursprüngliche Verwendung und ihr (nicht) enthaltenes medizinisches Wissen. Mit der folgenden Analyse der Fotografien, die, aus den Lazaretten der Mittelstreitkräfte stammen, soll diese Lücke geschlossen werden. 3.7.3.1 Die Herkunft und Verbreitung der Bilder Friedrichs Die ‚Totalität‘ des Krieges kommt bei den Bildern, die den Füsilier R. abbilden, besonders zu tragen. Die Fotografie zeigt einen jungen Mann, dem beinahe die ganze untere Hälfte des Gesichtes weggerissen wurde [vgl. Abbildung 16, rechts]. Die Bilder entsprechen den üblichen Porträtaufnahmen aus den Klinikbetrieben, die am Anfang des Kapitels vorgestellt wurden. Wie die Recherche im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (NRW) in Düsseldorf ergab, handelt es sich bei dem porträtierten Soldaten um einen Patienten des Düsseldorfer Kieferlazarettes. Das von Friedrich ausgewählte Bild wurde 1914 aufgenommen, als der Patient in das Lazarett zur Behandlung kam. Anders als in Friedrichs Buch findet sich im Bestand der Westdeutschen Kieferklinik169 ein Bild desselben Patienten aus dem Jahr 1916, auf dem sich deutliche Behandlungserfolge erkennen lassen [vgl. Abbildung 16, links]. In der Bildunterschrift des Fotos erfährt man, dass die Behandlung zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht beendet war: „Füsilier R., verwundet 22. September 1914. links Aufnahmestadium am 24. Sept. 1914, rechts Zustand am 31. August 1916 Behandlung noch nicht abgeschlossen.“170
Mit dem Fehlen des zweiten Bildes in Krieg dem Kriege und einer geschickten Montage der Bildunterschrift, die bei Friedrich „Füsilier R., verwundet 166 167 168 169 170
Sontag (2010), S. 97. Vgl. Sontag (2010), S. 51 Vgl. Winter (1995), S. 161. Vgl. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland. Fotografie aus dem Nachlass der Westdeutschen Kieferklinik, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland.
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Abb. 16: Links: Fotografie des Soldaten R. vom 27.9.1914. Quelle: Friedrich (2004), S. 213; Rechts: Derselbe Soldat in einer Vorher-Nachher Darstellung. Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland.
27.9.1914. Behandlung noch nicht abgeschlossen“171 lautet, wird bei den Betrachtern der Eindruck erweckt, das Bild stelle einen Dauerzustand dar. Ernst Friedrich nimmt hier, wie meist in diesem Band, Aufnahmen aus Lazaretten, entkontextualisiert sie und ‚friert‘ sie ein. Damit werden die schrecklichen Wunden für die Betrachter konserviert und durch den rückgreifenden Anachronismus in einen zeitleeren Raum erhoben. Diese Inszenierung verstärkte die Wirkung der ohnehin aussagestarken Bilder und machte sie so zu Ikonen des Pazifismus – zum Antikriegshelden. Das Leiden des Krieges bekam ein ‚Gesicht‘. Das gleiche Bild wählte Brigitte Hamann, Historikerin, in ihrem Buch Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten, um die pazifistische Arbeit von Friedrich und dessen Buch vorzustellen. Die Text zu dem Bild lautet: „Bei diesem Schwerverletzten handelt es sich um den Leutnant Oskar Wendtland. Er verlor 1918 sein Kinn, sämtliche Zähne und die halbe Zunge, aber überlebte. Er lernte wieder sich zu verständigen, und brachte es als Beamter bis zum Verwaltungsdirektor von Gelsenkirchen (mit Dank an seinen Sohn Dr. Klaus W.).“172
Aufgrund der persönlichen Einsicht in den Bestand, der dieses Bild enthält, kann ausgeschlossen werden, dass es sich hier um den im Zitat erwähnten Oskar Wendtland handelt. Interessant ist Hamanns Beispiels, auch wenn die Fakten nicht ganz korrekt sind, trotzdem, weil sie die anhaltende Faszination dieser Bilder vor Augen führt. Darüber hinaus ähnelt die Darstellungsweise Hamanns, die eine Erfolgsgeschichte erzählt, denen der Ärzte bezüglich, Ernst Friedrichs Interpretation des Schreckensbildes des Krieges findet sich hier nicht wieder.
171 Fotografie aus dem Nachlass der Westdeutschen Kieferklinik, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland. 172 Brigitte Hamann (2008), S. 253.
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3.7.3.2 Medizinisches Instrumentarium Ein sehr prominentes Stilmittel Friedrichs war die Inszenierung medizinischer Instrumente, um seine Leseweise der Bilder zu unterstreichen. Mit der Bildunterschrift „Die Zangen des Arztes“ versah Ernst Friedrich das hier vorgestellte Bild. Auf zwei weiteren Bildern zeigt er Verwundete in Verbindung mit medizinischem Instrumentarium.
Abb. 17: Rechts: Abbildung einer Kieferverletzung. Die Bildunterschrift lautet: „Die Zange des Arztes“. Quelle: Friedrich (2004) S. 214; Links: Verwundeter mit medizinischem Instrument im Mund. Quelle: Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 233.
Innerhalb der medizinischen Fachwelt waren diese Instrumente keine Besonderheit, auch auf den Bildern zu den Patientengeschichten sind sie oft zu sehen. Das liegt an deren Funktion. Mit den Haken konnten (Knochen-) Verletzungen und chirurgische Eingriffe dargestellt werden [vgl. Abbildung 17]. In Friedrichs Darstellung symbolisieren die ‚Zangen‘ allerdings das schmerzhafte und gewaltsame Eindringen in den Körper, sie reißen die Wunden auf. Als Diagnoseinstrument sind sie nicht mehr erkennbar, harmlose medizinische Instrumentarien werden so zu gewaltsamen Gegenständen. Friedrichs Kritik wandte sich, ähnlich wie die von Dix, nicht nur gegen Militär und den Militarismus innerhalb der Bevölkerung, sondern auch ganz konkret gegen die Ärzteschaft. Durch die Art und Weise der Inszenierung wurde Ernst Friedrich zum „zeitgenössischen Vertreter einer gezielten Visualisierung des Kriegsgrauens“173 173 Kienitz (2008), S. 28.
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wie es Sabine Kienitz formulierte. Friedrichs Inszenierungen erschufen damit bildlich – wie Andreas Latzko in Menschen im Krieg bereits schriftlich – die Figur des Gesichtsverletzten als Anti-Kriegshelden. Diese Intention setzte er in dem von ihm ins Leben gerufenen Anti-Kriegs-Museum 1925 fort [vgl. Abbildung 15], in dem er die für sein Buch Krieg dem Kriege recherchierten Unterlagen ausstellte. Das Museum selbst wurde 1933 durch die SA geschlossen und von Ernst Friedrichs Enkel Tommy Spree 1982 wieder eröffnet.174 84 Jahre nach der ersten Ausstellung und 26 Jahre nach der Wiedereröffnung des Museums finden sich wieder Gesichtsverletzte in größeren Ausstellungshäusern in Deutschland. Einige dieser Ausstellungen werden in der Folge schlaglichtartig besprochen, um die Kontinuität der Darstellungsweisen vor Augen zu führen und das Thema Gesichtsverletzte des Ersten Weltkrieges in die Gegenwart zu transportieren. 3.7.4 Der Anti-Kriegsheld in den Ausstellungen im 21. Jahrhundert Die Ausstellung Krieg und Medizin, die gemeinsam von der Wellcome Collection in London und dem Deutschen Hygiene Museum in Dresden 2008 organisiert und in beiden Städten gezeigt wurde, beschäftigte sich mit dem Verhältnis des scheinbar ungleichen Paares Zerstörung und Heilung. In der Ausstellung kommt auch immer wieder die Thematik des Vorteils von Kriegszeiten für den medizinischen Fortschritt vor, die in vielen Fällen ethische Schranken aufbrachen und Missbrauch am Patienten möglich machten. Nicht immer wurde die Frage, ob der Krieg entscheidende Weiterentwicklungen in der Medizin mit sich brachte, mit Ja beantwortet. Vielmehr zeigte die Ausstellung auf, dass die Beantwortung dieser Frage auch immer eine politische Angelegenheit ist, insbesondere wenn es um die Bewertung des Nutzens und den Ursprung neuer Behandlungsmethoden geht. Der zeitliche und thematische Schwerpunkt der Ausstellung lag bei den Kriegen des 20. Jahrhunderts in Europa und den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten bis 2009. Teil der Ausstellung waren auch Gipsbüsten von Gesichtsverletzten der k. u. k. 4. Armee, die in der Kriegszahnklinik in Lublin während des Ersten Weltkrieges angefertigt wurden [vgl. Abbildung 18]. Ihre Aufgabe in der Ausstellung bestand darin, die Zerstörungskraft des Krieges zu zeigen. Wie Ernst Friedrich erschienen auch den Ausstellungsmachern Gesichtsverletzungen dafür als besonders geeignet. Bis 2007 waren diese Büsten Teil der Dauerausstellung des Zahnmuseums Wien [vgl. Abbildung 16]. Im Zuge des Umbaus wurde aus Gründen der Rücksichtnahme gegenüber Kindern auf die weitere Ausstellung der Objekte verzichtet.175 Im Gegensatz zur Ausstellung in Dresden ging es zuvor in Wien 174 Vgl. Tommy Spree. 175 Gesprächsprotokoll mit dem Museumsleiter Johannes Kirchner, Privatarchiv Melanie Ruff, Wien 2007.
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Abb. 18: Foto des Zahnmuseums Wien etwa 1937. Bis 2007 waren die Gipsbüsten der Gesichtsverletzten fast unverändert in dieser Form ausgestellt. Quelle: Fotonachlass Juljan Zilz (1914–1918).
um die Dokumentation der Leistungen der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Kritische Fragen bezüglich der Herkunft der Büsten und dem Verhältnis der Ärzte zum Ersten Weltkrieg wurden nicht gestellt. Dazu passend erschien 2005 ein Reiseführer von den beiden Autoren Wolfgang Regal und Michale Nanut mit dem Titel Medizin im Historischen Wien. Von Anatomen bis zu Zahnbrechern176. Im Umschlag sind ein anatomisches Wachsmodell der Sammlung des Josephinums in Wien und zwei Büsten von Gesichtsverletzten aus dem Zahnmuseum Wien zu sehen. In dem Kapitel, in dem die Autoren auf das Museum zu sprechen kommen, werden auch die Büsten unter der Überschrift Grausige Moulagensammlung vorgestellt: „Ein besonderer Leckerbissen für Fachleute ist die für Laien eher grauenvolle Moulagensammlung.“177
Etwas zurückhaltender, aber trotzdem hervorhebend beschrieb Berndt Anwander die Sammlung in seinem Wiener Museumsführer178 aus dem Jahr 1995, auf Abbildungen verzichtete er: „Ganz besonders beeindruckend ist eine wertvolle Sammlung von rund 50 Moulagen von Kopfverletzungen im Hals- und Kieferbereich, die sich Soldaten im Ersten Weltkrieg zuzogen. Die ‚kriegschirurgischen Nachbildungen‘, die pathologische oder therapeutische Situationen im Bereich des Gesichtsschädels darstellen, die meist durch Geschosse oder Granatsplitter verursacht waren, wurden ebenfalls als Anschauungsobjekte angefertigt. Der Großteil der dargestellten Verletzungen trug tödliche Folgen, zumindest aber schwere Entstellungen der Soldaten nach sich.“179
Die Art der Darstellung ergänzt die Frage nach dem Nutzen des Krieges für die Medizin um die Frage nach dem Nutzen von verletzten Soldaten oder 176 177 178 179
Vgl. Regal/Nanut (2005). Regal/Nanut (2005), S. 44. Vgl. Anwander (1995). Anwander (1995), S. 172.
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spektakulären Verletzungen im Allgemeinen für die Gewinnung von Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern. Die beteiligten Akteure gehörten allesamt dem Berufsstand der Ärzte an. Der Leiter des Museums ist Zahnarzt, die Autoren Wolfgang Regal und Michael Nanut sind Anästhesisten. Wie es scheint, verläuft die Frage nach der Bewertung des Verhältnisses von Krieg und Medizin nicht nur anhand der politischen Meinung, sondern hängt auch davon ab, wie die jeweils eigene Disziplin und deren Leistungen in der Vergangenheit an Dritte vermittelt werden sollen. 2010 fand in Dortmund, im selben Jahr Kulturhauptstadt Europas, die Ausstellung Helden. Von der Sehnsucht nach was Besonderem statt. Das LWL-Industriemuseum und das Westfälische Landesmuseum für Industriekultur begaben sich auf die Suche nach Helden und gingen der Frage nach ihrer Funktion in der Vergangenheit bis in die Gegenwart nach. Dabei unterschieden die Veranstalter zwischen Helden der Politik, des Sportes, der Arbeit und schließlich des Krieges. In Opposition zum Kriegshelden wurde der Anti-Kriegsheld gezeigt wofür die Kuratoren ebenfalls die Gipsbüsten von Gesichtsverletzten aus der Kriegszahnklinik in Lublin wählten, wie schon ihre Dresdner Kollegen zuvor. Das Deutsche Historische Museum (DHM) präsentiert Fotografien von Gesichtsverletzten um den Besucherinnen und Besuchern die „Brutalität“180 des Ersten Weltkrieges zu verdeutlichen. In einer Glasvitrine werden vier Fotografien ausgestellt, drei von Verletzten bei der Ankunft und eine nach einer Hautlappentransplantation. Die Fotos wurden in einem Behandlungsraum aufgenommen und gleichen jenen in den Fachschriften. Die ursprüngliche Verwendung der Bilder, das legt der medizinische Kontext der Aufnahmen nahe, bestand in der Dokumentation des Behandlungsfortschritts und -erfolgs. Die Fotostrecke trägt den Titel Fotografien von Gesichtsverwundeten aus dem Felde.181 Aus dem Begleittext erfährt man Folgendes: „Die modernen Waffen verursachten schwere Verletzungen. Bis zur Unkenntlichkeit entstellte Gesichter waren die häufige Folge unzureichenden Schutzes. Die Brutalität des Krieges wird hier eindringlich dokumentiert.“182
Hinter den Bildern sieht man Abzeichen, die an Soldaten mit „mehrfache[n] Verwundungen“ verliehen wurden, ein Dokument zur Aufforderung von Kriegsspenden sowie eine Handprothese.183 Im Darstellungsstil ähnelt diese Inszenierung jener Ernst Friedrichs, auch hier werden die Verwundungen in einen zeitlosen Zustand gehoben. Die Botschaft des DHM ist unmissverständlich – die im Gesicht verletzten Männer sind die Kriegsopfer schlechthin. Bereits bei den Beschreibungen der Ausstellungen wurde die unterschiedliche Wahrnehmung von Medizinern und Nichtmedizinern deutlich. Während die 180 181 182 183
Deutsches Historisches Museum. Deutsches Historisches Museum. Deutsches Historisches Museum. Deutsches Historisches Museum.
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Medizin die Leistungen ihrer Disziplin hochhält, werden Gesichtsverletzte des Ersten Weltkrieges heute der breiteren Öffentlichkeit in der Diktion Ernst Friedrichs und des Anti-Kriegs-Museums präsentiert und diskutiert. Das zeigt auch die Forschungsliteratur zu diesem Thema. Sie sind die Verlierer des Krieges, die Anti-Helden. Mit Schrecken über das Ausmaß der Verletzungen blicken wir noch heute auf die in Moulagen, Gipsbüsten oder Fotografien visualisierten zerstörten Gesichter. Der Grund, warum immer wieder die Gesichtsverletzten des Ersten Weltkrieges und nicht die des Zweiten Weltkrieges gezeigt werden, liegt an den Darstellungsverfahren der Medizin. Gipsbüsten und Moulagen von Gesichtsverletzten wurden während des Zweiten Weltkrieges nicht mehr angefertigt. Auch Zeichnungen wurden weniger und später durch die immer schärfer werdenden Fotografien und schließlich durch die Farbfotografie und digitale Darstellungstechnik endgültig ersetzt. Die Darstellungsstile in den Ausstellungen zeigen eine gewisse Kontinuität in der Inszenierung von Gesichtsverletzten. Als Kriegshelden funktionierten die Gesichtsverletzten nie, als Anti-Kriegshelden und medizinische Wunder auch hundert Jahre nach Kriegsbeginn dafür umso überzeugender. Anders formuliert kann man sagen: Kriegsgegner wie Mediziner benutzten Gesichtsverletzte dazu, ihren Anliegen – beispielweise die Institutionalisierung der Disziplin – Gehör zu verschaffen. Angesichts der weit verbreiteten Rezeption von Gesichtsverletzten als die Kriegsopfer im deutschsprachigen Raum184, stellt sich die Frage, wie in Ländern, die den Krieg gewonnen hatten, über diese Gruppe von Männern gesprochen wurde. Wie in Deutschland und Österreich wurden auch in Frankreich Bilder von Gesichtsverletzten dafür verwendet, um politische Ziele zu artikulieren – politisch links wie rechts. Anders als in Zentraleuropa, dessen Staaten den Krieg verloren hatten, wurden die wiederhergestellten Gesichter zum Inbegriff der Überwindung der schrecklichen Verletzungen des Krieges und damit zum Symbol der Wiederherstellung einer ganzen Nation.185 Exkurs: Der Wegsperrmythos Parallel zu den Darstellungsstilen in den Ausstellungen entwickelte sich ab den 1990er Jahren in den historischen Fachschriften ein Diskurs über Gesichtsverletzte, der als Wegsperrmythos bezeichnet werden kann und seine Fortsetzung auch in der populären Literatur sowie im Journalismus fand.186 Seinen Anfang nahm dieser Mythos mit dem Zeitungsartikel Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten187 von Erich Kuttner (1887–1942), Be184 Vgl. Wolfgang U. Eckhart (19.5.2010). 185 Vgl. Beatriz Pichel (2010). 186 Vgl. Wolfgang U. Eckhart (19.5.2010); Bernd Ulrich (1993), S. 115–117; Ramsbrock (2011), S. 134–135; Ulrich/Ziemann (2008), S. 57–58 und 64–65; Oppelt (2002), S. 266– 267; Wolfgang U. Eckhart (2011), S. 109–110. 187 E. Kuttner, Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten, in: Vorwärts, 8.9.1920; zitiert nach: Bernd Ulrich (1993), S. 64.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
gründer der Kriegshinterbliebenenfürsorge Reichsbund und SPD Politiker, der 1920 im Vorwärts erschien. Nach einem Besuch Kuttners in einem Berliner Lazarett in der Thüringer-Allee (Westend) stellte er den Leserinnen und Lesern des Vorwärts folgende Frage: „Wieviel Berliner ahnen überhaupt, daß es noch ca. 20 Lazarette in Berlin mit über 2000 Insassen gibt, gefüllt mit Opfern des nun schon seit fast zwei Jahren beendeten Krieges? Und wie viele von denen, die es wissen, haben sich jemals die Frage vorgelegt, wie der Körper eines Menschen aussehen muß, der nach zwei-, drei-, nach fünf- und sechsjähriger Behandlung noch immer nicht entlassen werden kann, obwohl bei der Entlassung der Kriegsbeschädigten alles andere als zimperlich verfahren wird. Das sind keine Kriegsbeschädigten mehr, das sind die Kriegszermalmten!“188
Ernst Friedrich festigte wenig später das Gerücht von weit abgelegenen und von der Öffentlichkeit abgeschiedenen Lazaretten, in denen Soldaten mit schweren Gesichtsverletzungen versteckt untergebracht waren, indem er in Krieg dem Kriege 1924 Kuttners Bericht folgendermaßen umwandelte: „Es gibt allein in Deutschland immer noch 48.000 Lazarettinsassen, die weltabgeschieden, fern von ihrer Familie, fern von Freunden und Bekannten dahinleben in der Hoffnung, daß sie vielleicht nach Jahren ein menschenähnliches Aussehen wieder erhalten.“189 Darüber hinaus bestärkten Erich Kuttner und Ernst Friedrich damit auch die weitverbreitete Hoffnung in der Bevölkerung, ein vermisstes Familienmitglied sei möglicherweise doch noch am Leben. Wie Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, beide Historiker, anhand von Quellen zeigen, war bereits während des Krieges im südlichen Teil Deutschlands ein Gerücht im Umlauf, wonach es geheimgehaltene Lazarette gab, in denen Schwerverletzte vor ihren Angehörigen versteckt wurden. Das Gerücht war so populär, dass sich die Zentralpolizeistelle Bayern 1917 damit befassen musste. Auslöser dafür war die verzweifelte Suche einer Frau nach ihrem Bruder, die meinte, während einer Zugfahrt von „Geheimlazaretten“ gehört zu haben. Daraus schloss die Frau, dass ihr Bruder nicht gefallen sei, sondern in einem dieser Lazarette versteckt wurde, woraufhin ein Polizeibeamter eingesetzt wurde, um den Sachverhalt zu prüfen. Der Tod des Bruders konnte bestätigt werden und der Frau wurde erklärt, dass die Verbreitung von derartigen Gerüchten nach Auffassung des Kriegsministeriums München strafbar sei.190 Ein Nährboden für diese Art von Gerüchten entstand aus der großen Anzahl von vermissten Soldaten. Noch 15 Jahre nach dem Krieg belief sich ihre Zahl in Deutschland auf etwa 100.000 Menschen.191 Noch schrecklicher machte die Geschichte, dass sich die Betroffenen nach Aussagen von Ernst Friedrich selbst auch verstecken wollten, weil sie Angst vor der Reaktion ihrer Angehörigen hatten: 188 E. Kuttner, Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten, in: Vorwärts, 8.9.1920; zitiert nach: Bernd Ulrich (1993), S. 64. 189 Friedrich (2004), S. 209. 190 Vgl. Ulrich/Ziemann (2008), S. 57. 191 Vgl. Bernd Ulrich (1993), S. 115.
3.7 Gesichtsverletzte Soldaten in bildender Kunst, Literatur und Ausstellung
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„Einige Kriegskrüppel verweigerten nähere Angaben, andere Verletzte, insbesondere die ganz grauenhaft Verstümmelten, ließen sich nicht photographieren, weil sie fürchteten, daß ihre Angehörigen, die sie bisher noch nicht wiedergesehen haben, beim Anblick ihres Elends zusammenbrechen oder sich für immer voll Ekel und Entsetzen von ihnen abwenden würden.“192
In Friedrichs Darstellungen wählten die Verwundeten den Rückzug in die Abgeschiedenheit, selbstbewusstes Handeln der Betroffenen war für ihn, ähnlich wie in den medizinischen Schriften, nicht denkbar. Bernd Ulrich übernahm 1993 die Interpretation Ernst Friedrichs: „Viele dieser Kriegsopfer trauen sich nicht nach Hause, aus Angst vor der Reaktion ihrer Angehörigen, die sie sich nicht anders als entsetzt vorstellen können. Im Lazarett selbst wird sorgsam darauf geachtet, dass sich kein Spiegel in erreichbarer Nähe befindet. Fotografien von sich selbst dürfen sie nicht besitzen.“193
Anton von Wagner, Leiter der Spezialheilanstalt für Kieferschussverletzte in Wien, in der unter anderem besonders schwere Verletzungen des Gesichtes behandelt wurden, berichtete Folgendes und bringt damit besonders deutlich die verschiedenen Perspektiven auf ein und dieselbe Gruppe von Patienten zum Ausdruck: „Beobachtet man weiter diese Verunstalteten, so bemerkt man, daß sie nicht genug im Spiegel sich ansehen können; ihre Bitte bei Spenden von Liebesgaben meistens ein kleiner Handspiegel, in dem sie sich oft und oft begucken.“194
Was erfahren die Leserin und der Leser eigentlich über die Behandlung in den Lazaretten? Kuttner schilderte die Behandlung als grauenhaftes Experiment, dem sich die Betroffenen jahrelang ausliefern mussten: „In das kleine Geschäftszimmer tritt ein Mann, der quer über die Mitte des Gesichts eine Binde trägt. Er nimmt sie ab und ich starre in ein kreisförmiges Loch von der Größe eines Handtellers, das von der Nasenwurzel bis zum Unterkiefer reicht. Das rechte Auge ist zerstört, das linke halb geschlossen. Während ich mit dem Mann rede, sehe ich das ganze Innere seiner Mundhöhle offen vor mir liegen: Kehlkopf, Speiseröhre, Luftröhre wie bei einem anatomischen Präparat. Aber was ist das für ein seltsam behaarter Klumpen, der lose an ein paar Sehnen und Bändern wie ein Glockenklöppel in dem Hohlraum pendelt? Man erklärt es mir: eine verunglückte Nase, die dem Unglücklichen eingesetzt werden sollte. Einstweilen hat der Mann seine achtzehnte Operation überstanden. Aber das ist noch kein Rekord. Bald darauf lerne ich Leute mit 30 und 36 überstandenen Operationen kennen.“195
Was macht die Faszination dieser Geschichten aus? Für den englischsprachigen Raum kommt Ana Carden-Coyne zu dem Schluss: „Violated bodies may have shocked the classical canon, but the continued desire to inform and be informed about modern war was one of its most charged legacies, invoking remembrance and yet also generating cultural attractions both disturbing and entertaining.“196 192 193 194 195
Friedrich (2004), S. 201. Bernd Ulrich (1993), S. 117. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1. E. Kuttner, Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten, in: Vorwärts, 8.9.1920; zitiert nach: Bernd Ulrich (1993), S. 117. 196 Carden-Coyne (2009), S. 93.
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
Möglicherweise trifft dieses Forschungsergebnis auch auf den deutschsprachigen Raum zu. Fest steht, dass der spezifische Ort der Verletzung, nämlich das Gesicht, Platz für vielfältige Interpretationen bietet. Die Darstellung des verletzten Gesichtes wurde einerseits zur Demonstration des medizinischen Fortschrittes und andererseits zur Demonstration der Zerstörungskraft des Krieges benutzt. Die heldenhafte Verklärung der Gesichtsverletzten ist im deutschsprachigen Raum im Gegensatz zu den Gewinnerstaaten nicht feststellbar. 3.8 Resümee: Der gesichtsverletzte Soldat In den medizinischen Fachzeitschriften wurde ein ganz spezifisches Bild des gesichtsverletzten Soldaten entworfen, im Mittelpunkt stand die Überwindung der Verletzung. Verletzte wurden daher immer wieder in Vorher-Nachher Darstellungen gezeigt und in den Texten war stets von deren Heilung die Rede. Der Veröffentlichungskontext zeigt, dass es gerade bei den Bildern nicht darum ging, den Schrecken des Krieges zu zeigen, sondern Forschungsergebnisse zu präsentieren und Kolleginnen und Kollegen zu informieren. Die Fotografien der Gesichtsverletzten am Ende der Behandlung sollten die Betrachter nicht verschrecken sondern vielmehr beruhigen, sie sollten zeigen, dass durch die Weiterentwicklung der Operationsmethoden auch diesen schrecklich Verwundeten ein normales Leben ermöglicht werden konnte. Je nach Kontext wurden die Verwundeten dem Publikum wie namenloses Menschenmaterial vorgeführt, deren Lebensläufe auf den Kriegseinsatz und deren Verletzung auf die Rekonstruktion ihrer Gesichter durch die Chirurgen reduziert war. Um die Darstellung der Überwindung und der Leistung der Soldaten zu betonen, wurde die Wissensfigur des bedrohten Soldaten entworfen, den es wiederherzustellen galt. Am Ende der Behandlung stand ein erfülltes Leben, privat wie beruflich, was jeder Einzelne den Leistungen der Chirurgen zu verdanken hatte. Durch die öffentliche Präsentation ihrer Gesichter sollte der Erfolg der Bewältigung der Kriegsfolgen effektvoll bestätigt werden, wie Sabine Kinietz auch für andere Gruppen von Kriegsbeschädigten feststellte.197 Erfüllungsgehilfe war also die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie mit ihrem Anspruch, die Entstellungen zu beseitigen. Mit der Beseitigung der Entstellung verschwanden auch die Gemütsdepressionen. Als handelnde Subjekte – entsprechend dem damaligen Verständnis in der Medizin – wurden die Verwundeten in diesem Kontext nicht dargestellt. Interessanterweise konnte sich dieses Bild in der Öffentlichkeit nicht durchsetzen. Vielmehr ist es so, dass Gesichtsverletzte nur in der Medizin als Erfolgsgeschichte inszeniert wurden, nirgends sonst findet sich dieser Zugang. Während die Medizin weiterhin an der aus ihrer Perspektive heraus nachvollziehbaren Erfolgsgeschichte festhält, nahm und nimmt die breitere Öffentlichkeit Gesichtsverletzte als die Kriegs-Opfer schlechthin wahr. Im kulturellen 197 Vgl. Kienitz (2008), S. 344.
3.8 Resümee: Der gesichtsverletzte Soldat
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Gedächtnis über den Ersten Weltkrieges hat sich das bis heute weit verbreitete Bild vom Anti-Kriegshelden durchgesetzt. Gleichzeitig lebte das Bild des medizinischen Wunders in den Fachzeitschriften fort. Somit ist die Wissensfigur des gesichtsverletzten Mannes ein gutes Beispiel dafür, wie aus einem Quellenkorpus je nach Interesse ein Symbol des Fortschrittes oder das Sinnbild von Zerstörung gemacht werden kann. Es gab jedoch auch Überschneidungen. Wie im Abschnitt Der bedrohte Soldat gezeigt wurde, sparten die Ärzte nicht mit eindringlichen Worten, um in der Gesellschaft ein Bewusstsein für die Entstellungen und deren soziale Auswirkungen zu schaffen. Das führte schließlich dazu, dass Aussehen bzw. nicht angemessenes Aussehen als Rentengrund in die Gesetzgebung einfloss. Diese Beschreibungen unterschieden sich kaum von denen Andreas Latzkos oder Ernst Friedrichs. Der Unterschied lag in einem Lösungsangebot, das die einen boten und die anderen ignorierten. Die unterschiedlichsten Akteure hatten ein Interesse an der Gruppe der Gesichtsverletzten. So nutzten die Ärzte diese um das eigene Fach zu etablieren und ihre Karrieren voranzutreiben. Andere, meist Kriegsgegner, nutzten sie, um damit ihre Gesellschaftkritik zu illustrieren. Gesichtsverletzte blieben dabei immer ein Spielball unterschiedlichster Interessen, die Betroffenen selbst spielten in beiden Interpretationsmustern keine Rolle. Vielmehr wurde über deren Köpfe hinweg ein Bild des Lebens mit einer Gesichtsentstellung auf der einen Seite und einem rekonstruierten Gesicht auf der anderen Seite entworfen. Neben dem bedrohten Soldaten wurde eine weitere Wissensfigur geschaffen, die des normalen Mannes. Aus der Reflexion über Gesichtsverletzte ist einiges über die Vorstellungen von Männlichkeit und Norm, vor allem in der Medizin, herauszulesen. Der Diskursstrang über männliche Gesichter reiht sich somit in den Diskurs über Männlichkeit ein und ergänzt diesen um die Vorstellung eines angemessenen männlichen Gesichtes als Teil des männlichen Körpers. Männlichkeit wurde nicht nur über körperliche und psychische Stärke wahrgenommen, sondern auch über die sogenannte Repräsentationsfähigkeit, die sich an den Diskurs über das Aussehen anschließt. Dabei ging es nicht darum, ein Ideal wie etwa in der Schönheitschirurgie zu erreichen, sondern darum, Normalität herzustellen, indem man Entstellungen vermied. Ein normales Leben, oft mit einem menschlichen Leben gleichgesetzt, konnten diejenigen führen, die arbeits- und heiratsfähig waren. Vorrausetzung dafür war nach Meinung der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen ein ansehnliches Gesicht, das auf die Mitmenschen nicht abschreckend wirkte. Wie gezeigt werden konnte, lohnt es sich, die bisherigen Forschungsergebnisse zu Männlichkeitsvorstellungen und -konstruktionen um den Faktor Gesicht und dessen Aussehen zu erweitern. Vergleicht man allerdings die Fotografien in den Patientenakten198 mit jenen, die in der Medizin bzw. von den Kriegsgegnern verwendet wurden, stellt 198 Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten; Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915); Patientenakten, Juljan Zilz (1914–1918).
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3. Der gesichtsverletzte Soldat
man fest, dass hier über Extreme verhandelt wurde. Die Lebensrealität der gesichtsverletzten Männer sah anders aus. Trotz der vielen Operationen hatten einige Männer ausgedehnte Entstellungen im Gesicht, taten sich schwer, eine Arbeit zu finden und machten sich große Sorgen über ihre Wirkung auf das andere Geschlecht. Vor dieser Tatsache konnten selbst die optimistischsten Ärzte die Augen nicht verschließen.199 Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen allerdings hatte zwar Narben im Gesicht, die jedoch weit von den Darstellungen der medizinischen Sonderfälle oder dem Anti-Kriegshelden entfernt waren. Der gesichtsverletzte Mann war eine Kunstfigur, an der man gesellschaftliche Themen wirkungsmächtig abhandeln konnte, wie der Vergleich mit den Patientenakten deutlich zum Vorschein bringt. Das hier gezeichnete Bild scheint demnach aus mehreren Gründen problematisch und sollte nur mit Vorsicht auf die Alltagsrealität und Wahrnehmung der Betroffenen umgelegt werden. Das Bild der verzweifelten Gesichtsverletzten ist in vielerlei Hinsicht stark reduzierend, wie die Alltagsdokumente aus der Behandlungszeit zeigen, die im folgenden Abschnitt ausgewertet werden. Die in den Texten und Bildern entworfenen Wissensfiguren und Männlichkeitskonzepte stellen gerade wegen der Verbreitung des Bildes des Anti-Helden trotz alledem einen Handlungsrahmen für die Betroffen dar.
199 Mehr dazu in Kapitel 6: Biografien.
4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten Am 16. Dezember 1915 wurde Heinrich Friedrich R. im Schützengraben von einem Granatsplitter im Gesicht getroffen und verlor sein rechtes Auge. Sein restliches Leben hatte er mit Augenproblemen zu kämpfen, die er durch eine aufwendige und kostspielige Pflege einzudämmen versuchte.1 Schlimmer traf es Wilhelm M., der zwischen Arras und St. Quentin an einem Freitagmorgen im Juni 1915 im Alter von 24 Jahren schwer verwundet wurde. Ein Querschläger verletzte sein Auge, zertrümmerte einen Backenknochen und riss ihm die Nase ab. Zwei Stunden nach dem Treffer wurde er, mittlerweile bewusstlos, mit einem Verband versorgt und zur Behandlung in ein Feldlazarett gebracht, aus dem er nach 20 rekonstruktiven Operationen entlassen wurde. An die Menschen, die unentwegt auf sein entstelltes Gesicht starrten, konnte er sich nur schwer gewöhnen.2 Mit einem komplizierten beidseitigen Splitterbruch am Kiefer, starken Schmerzen und ausgedehnten Narben im Gesicht kam Karoly T. sieben Monate nach seiner Verwundung im Juli 1915 in einer Wiener Spezialheilanstalt an. Bis Oktober 1917 versuchten seine Ärzte durch Knochentransplantate und Weichteiloperationen eine lebenslange Invalidität zu verhindern, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Karoly T. war nur noch zu 50 Prozent berufsfähig und musste lernen, mit seiner stark verminderten Kaufähigkeit umzugehen.3 Durch die Verwundung traten die Soldaten in eine komplexe Welt der medizinischen Versorgung ein, die in den Schützengräben mit der Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit begann und mit der Erkenntnis der körperlichen Versehrtheit endete. Diese meist jungen Männer verbrachten mehrere Monate bis einige Jahre in Behandlung, die für viele ein Ersatz der Schul- oder Lehrzeit war. Durch den Kriegseinsatz und die Verletzung aus dem gewohnten Alltag entrissen, wurde diese, in den Einrichtungen im Lazarett ersetzt. Zum Beginn der Behandlung standen medizinische und logistische Aspekte im Vordergrund, auf die in den Abschnitten „Verwundung-VerbandsplatzFeldlazarett“ und „Behandlung im Hinterland“ näher eingegangen wird. Im Hinterland angelangt, wurde die Behandlung, die in der Rekonvaleszenz immer weniger Zeit in Anspruch nahm, Schritt für Schritt durch „Beschäftigungskonzepte“ abgelöst. Ein ständiger Begleiter, wenn man dies so nennen möchte, waren die (wieder) zu erlernenden „Körperpraktiken“ wie Essen, Sprechen oder das Tragen einer Epithese (Gesichtsprothese). Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur „Bemessung des Behandlungserfolgs und der Dienstfähigkeit“ ab, ohne die eine Entlassung aus der Behandlung nicht denkbar gewesen wäre und die wiederum Fragen nach Männlichkeitsvorstellungen implizieren. 1 2 3
Vgl. Versorgungsgericht Konstanz 1919–1943 (= Badisches Militärversorgungsgericht (April 1923–August 1923). Vgl. Inge Meyer (16.5.1985). Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11. Juli 1915–19. Oktober 1917).
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Abgeschlossen wird daher mit der Frage, welchen Einfluss der Lazarettalltag, insbesondere das Handeln der Patienten auf das Konzept von Männlichkeit hatte. Im Vordergrund steht, wann immer es die Quellen ermöglichen, die Perspektive der Verwundeten. Umsetzbar und sinnvoll ist dieser Zugang, weil das Personal der Lazarette in großer Zahl Berichte mit vergleichbaren Inhalten und Ergebnissen veröffentlichte, in denen es seine Erfahrungen mit Gesichtsverletzten niederschrieb. Mit diesen Reports, in denen man sich auch gegenseitig rezensierte, wurde sozusagen in gemeinschaftlicher Arbeit an einem Behandlungs- und Beschäftigungskonzept gearbeitet. Eine Möglichkeit, sich der Perspektive der Betroffenen im Lazarettalltag zu nähern, ist der Versuch, konkrete Handlungen von Patienten zu rekonstruieren. Diese finden sich in Selbstzeugnissen, aber auch in Patientenakten oder Alltagsfotografien. Über Umwege und der Veränderung der Blickachse lässt sich Alltägliches auch aus den Hausregeln oder medizinischen Publikationen herausfiltern. Eine weitere Möglichkeit, die Perspektive der Patienten einzunehmen, ist das Handeln der Patienten hinter den Notizen der Ärzte sichtbar zu machen. Denn das Handeln der Akteure in den Lazaretten strukturiert nicht nur Gesellschaft, sondern gibt auch immer Auskunft über die bereits bestehenden Gesellschaftssysteme und deren Wertvorstellungen. So steht hinter dem scheinbar einfachen Satz im Patientenakt „Patient lehnt die projekt. Weichteilplastik ab“4 nicht nur eine konkrete Handlung des Patienten, nämlich die Behandlungsverweigerung, sondern auch ein komplexer Weg hin zur Entscheidungsfindung. Aber auch bereits bestehende Gewohnheiten oder Handlungsmuster wurden in den Lazaretten fortgesetzt sowie verändert und den neuen Umständen angepasst. Beispiele dafür wären Fragen nach dem Speiseplan oder der zeitintensiven und teuren Körperpflege. Dies alles fand in einem Handlungsraum statt, der durch ermöglichende und begrenzende Faktoren gekennzeichnet ist, wie es die Historikerin Monika Ankele beschrieb: „Die Konzeption der Praxis als ermöglichendem und begrenzendem Feld erwies sich vor allem auch deshalb als sinnvoll, da sie einerseits davor bewahrte, die Handlungsweisen der Akteurinnen zu heroisieren oder ihre Marginalität zu fetischisieren, wie es den Culturel Studies oft vorgeworfen wird. Andererseits verunmöglichte sie es auch, die Wirkmächtigkeit, Eigenwilligkeit und Effektivität der alltäglichen Praktiken auszublenden, wie es in strukturalistischen Analysen zwangsläufig der Fall ist.“5
Die Methode einer „radikalen Kontextualisierung soll dabei helfen, die kontextuellen Besonderheiten des alltäglichen Tuns und Handelns“ der soldatischen Patienten während der Behandlung in einem Netz von „übergreifendenden strukturellen Faktoren“6 zu analysieren. Durch das minutiöse Nachzeichnen des Alltages und den Aktivitäten, sollen die Praxen in den Lazaret4 5 6
Krankblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917) Ankele (2009), S. 294–295. Ankele (2009), S. 295.
4.1 Verwundung – Verbandsplatz – Feldlazarett
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ten zugänglich werden. Wo diese Umwege nicht gegangen werden können, muss die Rekonstruktion des Alltages in den Lazaretten auf die Perspektive der Ärzte oder Behörden beschränkt bleiben. Im Folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, wie die Soldaten ihre Verletzungen und die ersten Behandlungsschritte erlebten. 4.1 Verwundung – Verbandsplatz – Feldlazarett „Die noch lebenden verletzten Kameraden gerieten nun in Gefangenschaft. Ich wurde auch bis in das nächste Haus geschleppt. Man ließ mich, weil durch den Blutverlust so erheblich geschwächt, dort bei mehreren verwundeten Franzosen zurück. […] Noch eineinhalben Tag lag ich in diesem Hause, bis es unseren Truppen gelungen war, das Dorf zu nehmen. So blieb mir denn gottlob das Los der Gefangenschaft erspart. In einem Feldlazarett bekam ich den ersten Verband, wurde dann nach Sedan ins Lazarett befördert und von hier aus in die Heimat überführt.“ Gerhard Simon 19157
Die ersten Minuten nach der Verletzung waren entscheidend. Wie es Gerhard Simon beschrieb, erging es vielen Verwundeten. Die Bedürfnisse des Krieges, in diesem Fall die Kampfhandlungen, hatten Priorität vor den Verwundeten. Nach der Verwundung musste zuallererst dafür gesorgt werden, dass die Blutung gestillt wurde. Jeder Soldat führte deshalb einen Verband mit sich, den er sich selbst anlegte oder einen „Kameraden“ darum bat.8 Dass dies nicht immer machbar war, zeigt auch die Geschichte von Wilhelm M., dessen Lebenslauf kurz in der Einleitung geschildert wurde. Er lag zwei Stunden im Schützengraben, bis der Verband angelegt werden konnte.9 Gerhard Simon hatte das Glück, trotz Blutverlusts und fehlender Behandlung eineinhalb Tage überlebt zu haben. Über Leben und Tod entschied dabei oft nur der Zufall oder das mitgeführte Verbandspäckchen, wie auch der folgende Erlebnisbericht zeigt. Der vierundzwanzigjährige Infanterist Stanislaus C., im zivilen Leben Kutscher, wurde bei einem Sturmangriff von einem Granatsplitter aus 500 Meter Entfernung aus „schräger Richtung von oben als Querschläger auf das Kinn“ getroffen. Seinem Arzt in Berlin schilderte er, was danach passierte: „Blutung […] 1 Std lang in Deckung im Schützengraben gelegen, dann Notverband von Kammeraden. Dann 6 km lang bis zum Notverbandsplatz gegangen. Da Arzt genäht. […] 2 Tage lang in Langweg in der Kutsche.“10
Stanislaus C. hatte dreieinhalb Tage weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich genommen, bevor er im Lazarett versorgt wurde.11 Dieses Beispiel zeigt sehr gut, wie sich der wahrgenommene Schrecken des medizinischen Personals und die Angst, bei der Nahrungszufuhr etwas falsch zu machen, wie in Kapitel 7 Gerhard Simon (1915). Die Namen der Personen werden ausgeschrieben, da diese als Autoren in dem Sammelband in Erscheinung traten. 8 Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915d). 9 Inge Meyer zitiert in einem Brief aus dem Tagebuch ihres Vaters Wilhelm Mö., Inge Meyer (16.5.1985). 10 Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915b). 11 Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915b).
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
3: Der gesichtsverletzte Soldat beschrieben, unmittelbar auf die Verwundeten auswirkten. Der Soldat Kurt P., verwundet an der Westfront, erinnerte sich an die ersten Momente nach der Verwundung und der ersten Versorgung in einem Brief an seine spätere Frau: „Spät in der Nacht vorher war ich bei der Sanitätskompanie eingeliefert worden u. beim Verbandswechsel wurde mir aus dem Kieferbruch im Munde der Granatsplitter herausgeholt. Ich hatte viel Blut verloren, hatte Schmerzen und nahm das Stück ziemlich gleichgültig und packte es in die Tasche. Dann führte mich jemand durch die stockdunkle Nacht in eine Scheune zu andern Verwundeten und dort erwachte ich ziemlich früh am nächsten Morgen. Ich kroch aus dem Stroh und der Scheune heraus und setzte mich auf eine Leiter in die Sonne. Ich nahm einen Spiegel heraus und besah mich: verbrannt, schmutzig, die Haut klebrig von Blut und Schweiß, quer über’s Gesicht einen nassen, durchbluteten Verband, die rechte Backe dick geschwollen, blau und das rechte Auge fast geschlossen. Dazu im Mund widerlichen Geschmack, andauernden Speichelfluß, mit Blut stark gemischt.“12
In diesem szenischen Zitat schilderte Kurt P. das nach der Verwundung befremdende Gefühl seinem Körper gegenüber. Erst der Blick in den Spiegel machte das Geschehene greifbar. In einem späteren Brief beschrieb er, wie er mit der Zunge das Ausmaß der Verletzung ertastete.13 Neben dem Sehen spielte der Geschmacksinn eine wichtige Rolle. Kurt P. kämpfte mit einem „widerlichen Geschmack, andauernden Speichelfluß, [der] mit Blut stark gemischt“14 war. Auch wenn er Adjektive in der Beschreibung nicht sparsam einsetzte, beschrieb er sich selbst nicht als hässlich, abschreckend oder gar als unmenschlich, wie es die Ärzte taten. Ähnliches gilt für die Aussagen in den anderen Selbstzeugnissen.15 Die Außenwahrnehmung geht hier einen deutlich anderen Weg als die Eigenwahrnehmung der Betroffenen. Die Verwundeten reagierten auf die mangelnde Versorgung einfallsreich und mit einer gehörigen Portion Eigeninitiative. Im Gegensatz zu den Ärzten und dem Sanitätspersonal zeigten sie sich beim Anlegen der Verbände weit weniger schockiert. 4.1.2 Erste Behandlungsschritte Nach der ersten Versorgung wurden die Soldaten zu Fuß oder mit der Hilfe von Krankenträgern zum nächstgelegenen Verbandsplatz gebracht, an dem sich in der Regel das Sanitätspersonal befand.16 Fußmärsche von ein paar hundert Metern17 bis zu sechs Kilometern18 kamen auf die Soldaten zu, bis sie 12 13 14 15 16 17 18
Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, Juni 1916, Kurt P. (1916), S. 55–56. Vgl. Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 2.7.1915, Kurt P. (1915), S. 40–41. Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, Juni 1916, Kurt P. (1916), S. 55–56. Vgl. Bruhn (1915); Karl H. (15.11.1973); Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). Die Transportmittel sowie auch andere organisatorische Aspekte waren in der k. u. k. Monarchie sowie im Deutschen Reich ähnlich organisiert. Vgl. Biwald (2002), S. 54–115; Beitrag Christoph Gradmann: Sanitätswesen, Hirschfeld et al. (2009), S. 812. Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915a). Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915b).
4.1 Verwundung – Verbandsplatz – Feldlazarett
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am nächstgelegenen (Truppen-) Verbandsplatz eintrafen. In Einzelfällen konnte es aufgrund andauernder Gefechte oder Schwächeanfällen zu zusätzlichen Verzögerungen kommen. Ein Patient des Kgl. zahnärztlichen Institutes der Universität Berlin schilderte, dass er eineinhalb Tage mit einem selbstangelegten Notverband bis zum Truppenverbandsplatz ging.19 Gerade in den ersten Kriegsmonaten gab es große Schwierigkeiten im Verwundetentransport, wie diese Beispiele, aber auch viele Ergebnisse aus der Sekundärliteratur zeigen. Dieses Problem bekamen die Mittelstreitkräfte nur mühsam im Laufe des Krieges in den Griff.20 Erschwerend hinzu kamen die andauernden Kriegshandlungen. So mussten die Verwundeten aufgrund der Befeuerung der Verbandsplätze und deren Zugangswegen „im Wesentlichen in der Nacht“ behandelt werden, wie die beiden Zahnärzte Fritz Williger (1866–1932) und Herman Schröder (1876–1942) im Jahr 1914 berichteten. Auch die Behandlung selbst litt unter den Kriegsbedingungen, denn für die „kunstgerechte Versorgung von Kieferbrüchen ist hier weder Zeit noch der Ort vorhanden. Man wird sich daher mit Kopf-Halsverbänden, zuweilen mit einer einfachen Kinnschleuder begnügen müssen“21. Ähnliches berichtete 1915 der Frontzahnarzt R. Kronfeld (Lebensdaten unbekannt). Die bei ihm ankommenden Kieferverletzten hatten keine Verbände, so dass Kieferteile lose herunterhingen oder durch Notverbände „mühsam zurückgehalten“ wurden. Auch ihm waren aufgrund der mangelnden Ressourcen die Hände gebunden. So entschloss er sich, auf jede Behandlung zu verzichten und schickte die Verwundeten mit einem festen Notverband ins Hinterland.22 Der Weg zu den Zügen ins Hinterland oder den nächstgelegenen Feldlazaretten erfolgte mit pferdebespannten Krankenwagen und, wenn vorhanden, in Krankenautos,23 wie in der Kriegszahnklinik in Lublin [vgl. Abbildung 19]. Die Feldlazarette selbst waren mobile Einrichtungen, in denen die Verwundeten über das Anlegen von Verbänden hinaus medizinisch und chirurgisch versorgt wurden. Diese sollten möglichst in der Nähe der Hauptverbandsplätze, jedoch in ausreichender Entfernung von der Frontlinie errichtet werden. Störungen durch Gefechtshandlungen, wie sie Schröder und Williger beschrieben haben, sollten so vermieden werden. Mussten die Feldlazarette aufgrund von Gebietsverlusten aufgegeben werden, wurden sie abgebaut und weiter in die Etappe versetzt. Für den Auf- und Abbau waren die Traintruppen24 zuständig. Nur die bereits versorgten Verwundeten, die man aufgrund des Mangels an Kapazitäten nicht mitnehmen konnte, wurden „unter der Obhut des allernötigsten Sanitätspersonals“ zurückgelassen und „nach den Be19 20 21 22 23 24
Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915c). Vgl. Hermann Schröder (1914), S. 17. Vgl. Williger/Schröder (1914), S. 10. Vgl. R. Kronfeld (1915), S. 167–168. Vgl. Hofer (2004), S. 206–208. Mit Traintruppen sind in der deutschen und französischen Militärsprache zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert militärische Transport- und Versorgungstruppen gemeint.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Abb. 19: „Eintreffen Kieferschussverletzte in der Kriegszahnklinik“. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
stimmungen der Genfer Konvention vom Feind übernommen“. Alle anderen Patienten nahm man auf den zur Verfügung stehenden Transportmitteln mit. Jedes Feldlazarett sollte daher im Idealfall einen Gerätewagen mit „200 leere[n] Leibstrohsäcke[n] und ebenso viel[en] Kopfpolsterhüllen samt den nötigen Decken und der Wäsche mit sich“ führen. War der Sicherheitsabstand zu den Frontlinien wieder ausreichend, musste zuallererst ein geeignetes Gebäude möglichst außerhalb der Reichweite des Artilleriefeuers gefunden, übernommen und mit der Genfer Flagge gekennzeichnet werden. Für das Stopfen der Strohsäcke und die Einrichtung der Krankenzimmer war die Traintruppe zuständig, ebenso wie für die Einrichtung der Küche und des Operationszimmers. Unterstützung erhielten die Männer der Traintruppe von den arbeitsfähigen Verwundeten. In wenigen Stunden konnte so ein Lazarett für die Behandlung von Gesichtsverletzten errichtet werden.25 In den Feldlazaretten angelangt, wurden die Wunden gereinigt, erstmals behandelt (meist konservativ durch Druckverbände oder bei Knochenbrüchen durch Schienung) und mit einem bestmöglichen Verband versorgt. Danach wurde je nach Ausmaß der Verletzung über den weiteren Behandlungsort entschieden. Zu klären war, welche Behandlungsschritte bereits in den 25 Williger/Schröder (1914), S. 11.
4.1 Verwundung – Verbandsplatz – Feldlazarett
113
Feldlazaretten stattfinden sollten, wann die Verwundeten transportfähig waren, und ob man sie in der Etappe oder im Hinterland behandeln sollte. Die Verwundeten selbst waren in den Entscheidungsprozess nicht eingebunden. Aus der Sicht Paul Adloffs (1870–1944) – Leiter der zahnärztlichen Abteilung der chirurgischen Klinik der Universität Greifswald von 1911–1920 – sollten sich die Behandlungen in den Feldlazaretten auf ein Mindestmaß beschränken, da die Soldaten seiner Meinung nach ohnehin transportfähig waren und die dort tätigen Ärzte nicht über das nötige Wissen verfügten. Nur wenn die Soldaten nicht transportfähig seien, sollten Schienen angelegt und die nötigsten Eingriffe durchgeführt werden.26 Diese, in ihrer Natur medizinischen Fragestellungen, wurden durch Erlässe vom Militär, wie in der k. u. k. Armee üblich, mitbestimmt. Kieferschussverletzte sollten demnach, wenn von einer Behandlungsdauer von mehr als vier Wochen auszugehen war, laut Vorschrift so „rasch als möglich an Sanitätsanstalten“ abgegeben werden, „die für spezialärztliche Behandlungen von Kieferverletzungen eingerichtet“ waren.27 Dahinter stand der Gedanke, die zukünftig wieder einsatzfähigen Soldaten nicht länger als notwendig von dem Frontabschnitt fernzuhalten. In der Praxis stießen diese militärischen Regeln jedoch auf Probleme: „Es hat sich ergeben, dass die Absicht der Heeresverwaltung, die Kieferschussverletzten unmittelbar nach Verbinden der Weichteilverletzungen in das Heimatgebiet zu transportieren, nicht durchführbar ist, da die Verwundeten durch den starken Blutverlust, hochgradige Entzündungserscheinungen, ungenügende Ernährung infolge der Verletzung meistens nicht transportfähig sind.“28
Ähnlich sah das Juljan Zilz, der mit diesem Argument eine Kriegszahnklinik in Frontnähe errichtete, in der er die Patienten zusammen mit anderen Spezialisten behandelte. Aufgrund der „schwierigen Ernährung, peniblen Säuberung der Mundhöhle der Schienung, den häufigen Verbandswechseln, den Schmerzen bei Erschütterungen“ und der langen Transportdauer, sprach er sich gegen einen sofortigen Abtransport ins Hinterland aus. Nach Zilz entsprach dies auch den Wünschen der Patienten, die ihn „stets mit aufgehobenen Händen“ baten, „sie nicht abzuschieben, als sie sahen, daß ihre Bettnachbarn ins Hinterland abtransportiert“ wurden.29 Ärzte in den Feldspitälern waren, wie die Diskussion bereits andeutete, in erster Linie bemüht, den geordneten Krankenabtransport in den Griff zu bekommen und Schwerverwundete möglichst rasch in eine geeignete Krankenanstalt zu überstellen.30 Gerade in Angriffsperioden mit hohen Verlustzahlen kam es zu Überlastungen der Frontärzte, aber auch des Transportwesens.31 Zu den bereits beschriebenen Schwierigkeiten und Strapazen für die Verwundeten trat zudem noch das Verständigungsproblem aufgrund der Verletzungen 26 27 28 29 30 31
Vgl. Paul Adloff (1914), S. 50. Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs (17.3.1915). Pfaff/Rosenthal (1915), S. 1154. Juljan Zilz (1915a), S. 6. Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 26.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
der Gaumen, Lippen oder Zungen auf. Um trotzdem einen problemlosen und schnellen Abtransport garantieren zu können, wurden den Verwundeten der Kriegszahnklinik in Lublin Tafeln, auf denen der Zielort vermerkt war, um den Hals gehängt [vgl. auch Abbildung Nr. 17].32 Darauf stand beispielsweise: „Tarnów abladen, Zahnklinik übergeben“33. Für den für die Gesichtsverletzten äußerst strapaziösen Abtransport in die Heimat wurden alle zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel wie Eisenbahnen oder Schiffe eingesetzt. Für kürzere Strecken wurden, wenn vorhanden, auch Lastkraftwagen verwendet.34 Viele der Verwundeten hatten weite Distanzen zurückzulegen und mussten mehrmals umsteigen. An den Knotenpunkten hatte man Bade- und Desinfektionszüge aufgestellt, in denen sich die Verwundeten reinigen und ihre Kleidung wechseln konnten. Wurden die Züge für Waffentransporte gebraucht, kam es mitunter zu tagelangen Verzögerungen, bis die Fahrt fortgesetzt werden konnte.35 Soldaten der k. u. k. Armee mussten bei einer Verwundung an der Ostfront mit einem Transportweg von bis zu 800 Kilometern rechnen, wenn sie in Wien behandelt werden sollten.36 Selbst an der Westfront hatten die Verwundeten im schlimmsten Fall mehrere Hundert Kilometer zu überwinden. Das auf diesen Strecken eingesetzte Sanitätspersonal musste, wie die Erfahrungen zeigten, immer wieder darüber informiert werden, dass es trotz der großflächigen Zerreißungen und der starken Blutungen im Gesicht, des beißenden Mundgeruchs und dem häufigen Erbrechen37 möglich war, die Verletzten mit einfachen Mitteln, wie einfachen Schläuchen oder Schlundsonden zu ernähren, um zusätzliche Probleme zu vermeiden. Bei den langen Transportwegen war es für viele sogar lebensnotwendig, weil sie andernfalls den Verletzungen durch die fortschreitende Körperschwäche erlegen wären.38 Exkurs: Kriegszahnklinik in Lublin Juljan Zilz war bei Kriegsausbruch ein lang gedienter Militärarzt. 1871 in Lemberg, dem heutigen Oblast Lwiw in der Ukraine, geboren, waren ihm das ca. 200 Kilometer entfernte Lublin sowie die umliegenden Landstriche, wie anzunehmen ist, seit seiner Kindheit bekannt. Nach seinem Medizinstudium in Wien, das er 1894 als Doktor der Allgemeinen Medizin abschloss, leitete er in verschiedenen Garnisonsstädten Zahnambulatorien, vor Kriegsausbruch war er im tschechischen Carlsburg tätig.39 Seine Ortskenntnisse und Erfahrungen als Leiter anderer Anstalten erwiesen sich als Vorteil. 1914 gelang es ihm, seine 32 33 34 35 36 37 38 39
Vgl. Etappenkommando an k. u. k. Sanitätschef Zille (3. August 1915). Bild von ankommenden Soldaten, Juljan Zilz (1914–1918). Vgl. Williger/Schröder (1914), S. 8. Vgl. Hofer (2004), S. 206–208. Das entsprach etwa der Distanz von Lublin (Kriegszahnklinik in Lublin) nach Wien. Vgl. Pfaff/Schoenbeck (1916). Vgl. Tilly Weishaupt (1915). Vgl. Universität Wien.
4.1 Verwundung – Verbandsplatz – Feldlazarett
115
Pläne für die Versorgung von Kieferschussverletzten umzusetzen und eine als fortschrittlich zu bezeichnende Klinik im Etappenraum zu errichten. Als Erstes errichtete er im Dezember 1914 drei mobile Zahnambulatorien, die sich unabhängig von den Truppenkörpern bewegten und dadurch flexibel auf Kriegshandlungen reagieren konnten. Die Feldambulatorien 1 und 2 wurden an der Front entlang des Dunajecs, einem Fluss im heutigen Polen und der Slowakei, das dritte wurde in Lublin an einem Eisenbahnknotenpunkt errichtet und als Ambulatorium im Etappenraum eingerichtet. Aus diesem Ambulatorium ging später die Kriegszahnklinik der k. u. k. 4. Armee hervor.40 Zilz selbst beschrieb die Klinik als „die erste und einzige österr. ung. Kriegszahnklinik bei der 4. Armee mit einem gross angelegten klinischen Betrieb, woselbst über 3000 Kieferverletzte“41 behandelt wurden. Zum Zeitpunkt dieser Aussage wusste Zilz noch nicht, dass sich dieses Konzept nicht durchsetzte und die Klinik bis zum Kriegende in Mitteleuropa einzigartig blieb. Von Mai 1915 bis zu ihrer Schließung aufgrund der Gebietsverluste Anfang 1918 war die Klinik in einem Kloster, verschiedenen Kasernen sowie Schulen untergebracht. Im stationären Teil gab es Betten für 300 kieferverletzte Soldaten und Zivilpersonen. Die Verwundeten wurden von Juljan Zilz, drei Assistenten, fünf Praktikanten (zwei davon waren Zahnärztinnen aus Russland), je einem Apotheker, Rechnungsführer, Sanitätsoffizier, zwölf Zahntechnikern sowie „100 Mann“ der Sanitäts- und Traintruppe (darunter befanden sich Maler, Fotografen und Bildhauer) und „eine[r] Berufspflegerin im Stande“ betreut. Aufgrund der Ausstattung und des Personals konnten im Gegensatz zum üblichen Vorgehen klinische Aufgaben übernommen werden, die den sofortigen Abtransport ins Hinterland vorerst überflüssig machten. Ausgestattet war die Klinik mit 21 Fuhrwerken, einer Fahrküche und 80 Pferden (inkl. Reitpferde). Es gab eine konservativ-prothetische und eine zahnchirurgische Abteilung sowie folgende Räume: Aufnahmekanzlei, Ärztliches Inspektionszimmer, Spitalskommandokanzlei, Entlausungszimmer (Bad, Friseur), Spül- und Verbandsraum, 20 Krankenzimmer (zwei davon für Offiziere), zwei Isolierzimmer, ein Schwesternzimmer, eine Apotheke, Metalltechnik, Kautschuktechnik, Räume für den ökonomisch-administrativen Dienst (Rechnungskanzlei, Magazine), Küche, Wäscherei, Verbrennungsofen, Werkstätten (Schmiede, Schlosserei, Tischlerei, Schuster-, Schneider-, Sattler- und Riemerwerkstätte). Es war eine hoch entwickelte Klinik mit Röntgenraum, Vorrichtungen für Quarzbehandlungen der Mundhöhle mit Lampen und Quarzstäben, drei zahnärztlichen Ordinationszimmern sowie einem aseptischen Operations- und einem Sektionsraum.42 Für dieses System sprachen seitens der Militärverwaltung die Kosten- sowie Zeitersparnis und seitens der Patienten eine zeitnahe Behandlung, wodurch sich die Heilungschancen erhöhen sollten, die mit einer schnellen Rückkehr an die Kampflinien verbunden waren. Das lag auch im Interesse des Klinikleiters, der den Erfolg seiner Klinik an der 40 Vgl. Juljan Zilz (1915b), S. 4. 41 Universität Wien. 42 Vgl. Juljan Zilz (1915b), S. 7.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Abb. 20: „Skizze einer Aufstellung von Zahnärztlichen Anstalten im Felde“. Quelle: Juljan Zilz (1915b), S. 5.
Anzahl der frontdienstfähigen Soldaten festmachte. Die streng militärische Ausrichtung der Klinik zeigte sich auch am Selbstverständnis des Klinikleiters, der sich selbst gerne als Feldherr und die Klinik als Stützpunkt inszenierte.43 1915 und dann nochmals 1916 veröffentlichte Juljan Zilz einen Lageplan der Klinik, der von Lageplänen der Armee kaum zu unterscheiden ist. Darin sind wichtige Versorgungswege eingezeichnet (Flüsse, Straßen, Bahngleise) und militärische Räume (Etappenraum, Operationsgebiet, Front, Korpsabschnitte) und Einrichtungen (Armee-Kommando) dargestellt. Man erkennt die medizinischen Einrichtungen wie mobile zahnärztliche Ambulatorien, Reservespitäler, Divisionssanitätsanstalten, Feldspitäler oder stabile Krankenanstalten. Die Klinik selbst war als Zentrum der Versorgung in der Mitte des unteren Randes positioniert [vgl. Abbildung 20]. Neben der Versorgung der Patienten und Patientinnen betrieb Juljan Zilz, unüblich für eine Klinik an der Front, ausgiebig Forschung.44 Patienten und deren Verletzungen wurden umfangreich, meist auch bildlich, dokumentiert. So entstanden in großer Zahl Fotografien, Zeichnungen und Moulagen, darunter auch wissenschaftliche Notizen zu den Patientenakten.45 Für die Rekonvaleszenz standen den Verwundeten Aufenthaltsräume zur Verfügung, in denen sie Karten spielten, Bücher lasen oder anderen Beschäftigungen nachgingen. Damit ähnelte die Klinik in vielen Punkten den Behandlungsräumen im Hinterland, um die es in der Folge gehen wird. Der Großteil der Gesichtsverletzten verbrachte einige Monate bis mehrere Jahre in den La43 Vgl. Fotografien Juljan Zilz (1914–1918). 44 Vgl. Publikationsliste, Archiv der Universität Wien. 45 Vgl. Juljan Zilz (1914–1918).
4.2 Behandlung im Hinterland
117
zaretten, Krankenhäusern oder Sanatorien. Von einigen Behandlungsorten sind die verschiedenen Aufgabengebiete und deren tatsächliche Umsetzung gut überliefert, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, einige der Alltagspraktiken in den Lazaretten detailliert zu rekonstruieren. 4.2 Behandlung im Hinterland Die Behandlung im Hinterland begann mit der Zuteilung in die Kliniken. Wie im Kapitel 2: Rahmenbedingungen beschrieben, befanden sich vor allem in den städtischen Ballungsräumen eine Vielzahl von Spezialeinrichtungen. Die Zuteilung nahm das Sanitätspersonal in den Ankunftsbahnhöfen vor.46 Grundsätzlich wurde nach dem Einsatzgebiet zugeteilt und nicht nach dem Wohnort,47 was sich gerade im Kontext der familiären Versorgung nachteilig für die Verletzten auswirkte. Die weiten Anreisewege und die damit verbundenen hohen Reisekosten erschwerten den Besuch der Familienangehörigen. Dabei kam es auch in einem durchgeplanten System zu Ausnahmeregelungen, wie die Patientengeschichte von Franz P. zeigt. Dieser am Kiefer schwer verwundeter Soldat wollte in einer anderen als der ihm zugeteilten Klinik behandelt werden. Dazu kontaktierte er schriftlich einen einflussreichen Arzt, der ihm half, seinen Wunsch durchzusetzen. Der im Vorfeld zuständige Mediziner ließ allerdings nicht locker und setzte wiederum alle Hebel in Bewegung, den Patienten in seine Klinik zurückzuholen. Dafür hatte er einige Gründe, wie der Brief an den Kollegen zeigt: „Lieber Freund! Einer von meinen Fällen von Transplantation der Tibia namens P. wurde über seinen Wunsch nach Kallwang transferiert, von wo er alle 4 Wochen zur Weiterbehandlung und Kontrolle bei uns hätte erscheinen sollen. Nun wurde das Reservespital in Kallwang aufgelöst und der Patient kam auf deine Abteilung. Es liegt mir an dem Fall sehr viel und möchte ich Dich daher bitten, ihn so bald als möglich wieder nach Wien zurück zu transferieren und zwar in das Reservespital Nr. 17 […] Es ist dies einer der wenigen Fälle, wo Aussicht vorhanden ist, daß das Transplantat einheilen und eine knöcherne Vereinigung zustande kommen wird.“48
Dem Gesuch wurde stattgegeben und ein paar Tage nach diesem Brief war der soldatische Patient Franz P. wieder in Wien in Behandlung. Die oben angesprochene Operation fand am 10. August 1915 statt, jedoch ohne Erfolg. Nachdem sein Transplantat trotz des Optimismus des behandelnden Arztes nicht anheilte, wurde der Patient abermals aktiv und entschied sich für eine Behandlung bei Hans Pichler an der I. Chirurgischen Universitätsklinik („Klinik Eiselsberg“) in Wien.49 Auch wenn man davon ausgehen kann, dass es sich 46 Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 175–176. 47 Ausnahme Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Nov. 1914–30. Juli 1915). 48 Korrespondenz zwischen der Poliklinik und dem Zahnärztlichen Universitäts-Institut in Graz, 22.3.1916, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (08.09.1914–02.04.1917). 49 Vgl. Krankenblatt Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (08.09.1914–02.04.1917), S. 9.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
hier eher um eine Ausnahme als um die Regel handelte, konnten soldatische Patienten trotz strikter Abläufe und Normierungsbestrebungen Einfluss auf ihren Behandlungsort nehmen. Für die Mehrzahl der Verwundeten galt jedoch, was Robert Weldon Whalen in seinem Buch Bitter wounds feststellte: „Others make the decisions“. Der Verwundete wurde gefahren, verschifft, verbunden, eingekleidet, aufgeschnitten, wieder zugenäht „and through it all, he was, unavoidably, an object. Only gradually was the wounded man able to assert himself again“50. 4.2.1 Ankunft in den Kliniken In den Anstalten angekommen, wurden die Verwundeten, wie in der Kriegszahnklinik in Lublin, nach der administrativen Aufnahme „gebadet, dann gereinigt und, wenn nötig, entlaust“. Anschließend erhielten sie die Krankenhauskleidung und ihnen wurde ein Bett zugeteilt. Dann folgten, „wenn es der Kräftezustand zuläßt sogleich, sonst aber innerhalb der nächsten zwölf Stunden“ die genauen Untersuchungen.51 Dies übernahmen die Sekundarärzte oder die Chefärzte. Sie stellten so schnell wie möglich einen Behandlungsplan auf.52 Nach den ersten Untersuchungen begannen die Visualisierungsarbeiten, teils für die Diagnose, teils für die Dokumentation des Zustandes bei Ankunft in den Behandlungsstätten.53 Die Aussagen der Patienten spielten bei der Diagnose gegenüber den Röntgenaufnahmen eine untergeordnete Rolle. Konnten Knochensplitter oder Schusskörper aufgrund der schlechten Röntgenaufnahmen nicht lokalisiert werden, tastete der Arzt die Wunden ab. Erst im letzten Schritt, wenn man den Buchautoren Pfaff und Schönbeck (Pfaff war Leiter eines Kieferlazarettes in Leipzig) Glauben schenkt, wurde der Patient um Unterstützung gebeten.54 Des Weiteren gab es Verletzungen, wie etwa Krepitationen,55 die nur „vom Verletzten selbst wahrgenommen und auch häufig durch die bei jeder Bewegung auftretenden Schmerzen richtig gedeutet“ wurden. Pfaff und Schönbeck kamen daher zu dem Schluss, „die Angaben des Patienten sorgfältig zu registrieren und zu beachten“56. Dazu kam die Bedeutung des Schmerzes als Krankheitssymptom. Dieser steigerte sich nicht nur bis zur „Unerträglichkeit“, sondern hatte auch die oft beschriebenen Funktionsstörungen beim Schlucken, Sprechen oder Kauen sowie einen unkontrollierbaren Speichelfluss zur Folge.57 50 51 52 53 54 55
Whalen (1984), S. 54. Vgl. Rudolf Weiser (1917), S. 5. Vgl. Max Gratzinger (1915), S. 342–344. Vgl. Juljan Zilz (1916), S. 5. Vgl. Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 53. Mit Krepitation ist das schmerzhafte sowie hör- und fühlbare Aneinanderreiben von Frakturteilen gemeint. 56 Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 55. 57 Vgl. Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 45.
4.2 Behandlung im Hinterland
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In den Patientenakten notierte man zusätzlich persönliche Angaben wie Namen, Stand, Alter, Wohnort und Beschäftigung. Bei der Anamnese wurde dann nach dem „früheren Leben, den Ursachen der Erkrankung, dem Beginn der Erkrankung und Art der Erscheinungen, bisheriger Verlauf, Verhalten benachbarter Organe, Status praesens, Körpergröße, allgemeiner Ernährungszustand, allgemeines Aussehen, Beschaffenheit der Wangen, Zunge, Gaumen, Zähne, Beschaffenheit der Sekrete und Exkrete, Beschaffenheit des Blutes“58 gefragt. Die hier gesammelten Daten verwendeten die Mediziner nicht nur für die Behandlungen, sondern auch für Forschungsarbeiten59 oder für die Bewertung der Rentenansprüche.60 Die größten Schwierigkeiten zu Beginn der Behandlung bereiteten den Ärzten die späte Ankunft der Verwundeten in den Spezialheilanstalten61 – ein Problem, mit dem beide Heere mit ihren ähnlichen Sanitätssystemen zu kämpfen hatten.62 Das allein war es jedoch nicht. Schon im Vorfeld häuften sich die Fälle von Fehlbehandlungen durch mangelndes Verständnis und Wissen über die Besonderheit der Verletzungen unter den Ärzte in den Lazaretten.63 Jacques Joseph kommentierte in einem Jahresbericht von 1917 die Arbeit seiner Kollegen folgendermaßen: „Was die Art der Deformitäten anbetrifft, welche in der Abteilung behandelt wurden, so handelt es sich meist um schwere Entstellungen des Gesichts und großenteils um Fälle, die bereits von anderen Chirurgen ohne jeden, oder mit mangelhaftem Erfolg plastischen Operationen unterzogen worden sind. So ist z. B. ein junger Offizier mit großem Nasendefekt vor dem Eintritt in meine Abteilung 16 Mal mit durchaus ungenügendem Erfolg operiert worden.“64
Ähnlich sah das der Zahnarzt und spätere Leiter der Universitätszahnklinik in Wien Rudolf Weiser (1859–1928). Für ihn waren es „die unzulänglichen Versuche, in einer peripheren Anstalt der Kieferverletzung und ihrer Folgezustände Herr zu werden“65, welche das Eintreffen der Verwundeten in eine Spezialanstalt verzögerten.66 So wurde nur die Hälfte der Patienten in den ersten 30 Tagen nach der Verwundung eingeliefert, ein weiteres Viertel erst nach vier Monaten. Ein großes Problem waren auch die sogenannten „Austauschinvaliden“, die mehrere Verwundungen hatten und bei denen man sich zuerst für die Behandlung der anderen Verletzungen entschied.67 Die größten Schwierigkeiten bei den spät angekommenen Verwundeten bereitete die be58 Angerstein (1932), S. 23; Vgl. auch Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 65–66; Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten; Juljan Zilz (1914–1918). 59 Vgl. Juljan Zilz (1914–1918). 60 Vgl. Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 61. 61 Vgl. August Lindemann (1915), S. 18–20. 62 Vgl. Hermann Schröder (1914), S. 34. 63 Vgl. Paul Plowitz (1916) S. 83–84; Juljan Zilz (1916). 64 Bei dem Patienten handelte es sich wahrscheinlich um Karl H., dessen Lebensentwurf in Kapitel 6: Biografien besprochen wird. J. Joseph (1.7.1917). 65 Rudolf Weiser (1917), S. 5. 66 Vgl. Rudolf Weiser (1917), S. 5. 67 Vgl. Max Gratzinger (1915), S. 349.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
reits eingesetzte Wundheilung der Weichteile. Darunter verbargen sich, in vielen Fällen für das Auge nicht erkennbar, unverheilte Knochenbrüche, sogenannte Pseudoarthrosen,68 die nur schwer beseitigt werden konnten. Die folgende Patientengeschichte von Franz Z.69 kann daher als typisch für einen im Gesicht verletzten Soldaten des Ersten Weltkrieges angesehen werden. Franz Z. wurde 1893 in Spytihněv (Spitinau), Mähren, geboren. Bevor er als Infanterist am Feldzug gegen Russland im Ersten Weltkrieg teilnahm,70 war er, vermutlich in Wien, als Feinmechaniker tätig. Am 19. Oktober 1914 wurde er im Alter von 21 Jahren am San, einen Monat nach dem ersten Einsatz seines Regiments in der Woiwodschaft Lublin, durch einen Granatsplitter im Gesicht schwer verletzt. Die erste Behandlung fand im Notspital Preworzk statt, das etwa 100 Kilometer Luftlinie vom Verletzungsort entfernt stationiert war. Von dort aus ging es weiter Richtung Westen in das Landesspital Teschen, wo er bis zur Überstellung im Juni 1915 wegen fehlender Fachkräfte unsachgemäß behandelt wurde.71 Bei Verletzungen im Gesicht im San-Gebiet wäre die im Exkurs beschriebene Kriegszahnklinik in Lublin zuständig gewesen, die zwei Tage vor Franz Z.’s Verwundung am 17. Oktober 1914 im etwa 60 Kilometer Luftlinie entfernten Lancut stationiert wurde. Auf dem Weg nach Preworzk (Notversorgung) hätte er die Kriegszahnklinik passieren müssen. Mit dem Landesspital Teschen als Behandlungsort wurde die zweite Fehlentscheidung getroffen. Selbst nach der Notversorgung und trotz der Bewegungen der Kriegszahnklinik wären alle vier Stationierungsorte der Klinik näher am Verwundungs- und Erstversorgungsort gelegen gewesen als das Landesspital. Eine Erklärung für diese Fehlentscheidungen könnten die Gebietsverluste am San72 und der damit verbundene ungeordnete Rückzug der k. u. k. 4. Armee sein, der Franz Z. und die Kriegszahnklinik angehörten.73 In Teschen wurde an Franz Z. im März 1915, sechs Monate nach der Verwundung, eine „Plastik der Unterlippe“ vorgenommen.74 Wie in der Patientenakte der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien vermerkt, waren diese und die zuvor durchgeführten Eingriffe Fehlschläge: „Patient wurde bisher 6mal operiert und wurden ihm auch angeblich Teile des Unterkiefers herausgenommen […] Patient wurde die ganze Zeit über in Teschen behandelt, leider mit negativem Erfolg.“75
Besonders schwer wog die Entfernung einzelner Teile des Unterkiefers, die eine Pseudoarthrose des Unterkieferknochens zur Folge hatte, mit der er zur 68 Der Terminus Pseudoarthrose bezeichnet ein falsches Gelenk an der Bruchstelle bei nicht geheilten Knochenbrüchen. 69 Die Patientengeschichte wurde von der Autorin bereits an anderer Stelle veröffentlicht. Vgl. Ruff (2010). 70 Vgl. Hauptgrundbuchblatt Franz Z., k. u. k. Kriegsministerium. 71 Vgl. k. u. k. Kriegsministerium. 72 Vgl. Manfred Rauchensteiner (2009), S.66–68. 73 Ruff (2010), S. 102–103. 74 Vormerkblatt der Rudolf Stiftung, k. u. k. Kriegsministerium. 75 Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten.
4.2 Behandlung im Hinterland
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Behandlung im 900 Kilometer entfernten Wien ankam.76 Bevor er neun Monate nach seiner Verletzung in der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien in Zusammenarbeit mit der Spezialheilanstalt für Kieferschussverletzte (k. u. k. Reservespital Nr. 17) behandelt wurde, durchlief Franz Z. noch zwei Kliniken (Kaiserin Elisabeth Spital, Rekonvalescentenheim vom Roten Kreuz in Simmering), die an seinem Gesundheitszustand nichts verbessern konnten.77 Wie Franz Z. erging es auch dem Großteil der anderen Gesichtsverletzten, die mit einiger Verzögerung in die Poliklinik in Wien verlegt wurden.78 Dass es sich hierbei nicht um ein spezifisches Problem der k. u. k. Armee handelte, zeigen die erhaltenen Patientenakten des kgl. Zahnärztliche[n] Institut[es] der Universität Berlin.79 Zusätzlich kam es vor, dass Nachbehandlungen früher abgebrochen werden mussten, weil der soldatische Patient wieder an die Front geschickt wurde.80 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Hellmuth Angerstein, der sich 1932 im Zuge seiner Dissertation Wie und in welcher Höhe sind Kriegsbeschädigte durch Kieferschußverletzungen versorgungsberechtigt?81 mit der Versorgungslage und Effizienz der Behandlung auseinandersetzte. Das Urteil fiel nüchtern aus. Auf Grundlage der Rentenversorgungsakten des Versorgungsamtes der Stadt Kiel wertete er Patientenakten aus und evaluierte die Behandlung. Von den 20 Fällen mit Rentenanspruch aufgrund von Kieferverletzungen wurden seiner Beurteilung nach acht Fälle falsch und einer teilweise falsch behandelt, das entspricht 44,4 Prozent. Den Grund sah Angerstein in der Kriegssituation sowie den langen Transportwegen und Zeitspannen bis zum Beginn einer speziellen Behandlung.82 4.2.2 Einverständniserklärungen Bevor die ersten Eingriffe, insbesondere operative, durchgeführt werden konnten, musste von den Patienten (zumindest nach der österreichischen und deutschen Rechtsprechung) eine Einverständniserklärung eingeholt werden, welche nur in Ausnahmefällen umgangen werden konnte. Als Ausnahme wur-
76
77 78 79 80 81 82
Divisions Sanitäts Chef. Für die heute etwa elfstündige Zugfahrt benötigte man 1915 mindestens etwa 30 Stunden reine Fahrzeit. Die Krankentransporte wurden mehrmals angehalten, um eine mögliche Frontdiensttauglichkeit zu überprüfen und Soldaten, denen ein langer Transport schaden würde, in eine näher gelegene Sanitätseinrichtung zu überstellen. Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten, S. 1. Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915d). Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11. Aug. 1915–17. Aug. 1916), S. 6. Vgl. Angerstein (1932). Vgl. Angerstein (1932), S. 39.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
den in diesem Zusammenhang häufig lebenserhaltende Eingriffe angeführt, die bei Gesichtsverletzten im Hinterland nur noch äußerst selten vorkamen.83 Wie bereits an mehreren Stellen in der Arbeit angesprochen, war der männliche Körper in einem militärischen Kontext auch immer ein soldatischer, über dessen Verfügungsgewalt oft und gerne diskutiert wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die folgende Diskussion über den Zwang zur Behandlung zu sehen. Eine Gruppe von Militärärzten erörterte bei einer Sitzung im November 1913 das Für und Wider von Zwangsbehandlungen von Soldaten. Das Impulsreferat hielt Regimentsarzt Urbach zum Thema: Die Verpflichtung des Soldaten, sich zur Herstellung der Diensttauglichkeit der militärärztlichen – insbesondere der chirurgisch-operativen Behandlung zu unterziehen. In dem Recht auf Behandlungsverweigerung sah Urbach die Wehrfähigkeit der Armee an sich gefährdet.84 Da Militärärzte in ihrer Funktion als Offiziere prinzipiell die Befehlsgewalt über Mannschaftspersonen hatten, sah Oberstabsarzt Scheidl, der sich als Nächster zu Wort meldete, in dem Recht auf Operationsverweigerung eine „Subordinationsverletzung“, die er nicht gewillt war zu dulden. Stabsarzt Raschofsky lenkte mit dem Argument ein, dass man bei einer Operation ohne Einverständnis des Patienten auf den fehlenden Versicherungsschutz achten sollte. Würde ein solcher Eingriff schiefgehen, müsse man selbst dafür haften, weshalb von einem solchen Vorgehen abzuraten sei. Des Weiteren führte er an, dass es für ihn aus ethischen Gründen nicht machbar sei, ohne Einwilligung zu operieren. Er befürchtete, dass durch ein derartiges Vorgehen das Vertrauen zum Arzt dauerhaft geschädigt werden würde. Als Lösung schlug er vor, die Verwundeten psychologisch zu beeinflussen. Danach würde der Patient „gar keiner Behandlung Widerstand leisten, um von seinen Schmerzen oder Gebrechen befreit zu werden“85. Die Praxis, Behandlungen unter Zwang durchzuführen, hätte nach Stabsarzt Prof. Reuter, der als nächster Redner das Wort ergriff, das Vertrauen der Soldaten in die Militärmedizin bereits nachhaltig geschädigt. Auch wenn die Einführung einer „zwangsweisen operativen Behandlung“ von einem militärischen Standpunkt „wünschenswert“ sei, könne man nach Reuters Ansicht dieses Vorgehen „vom militärärztlichen Standpunkt“ nicht unterstützen. Stabsarzt v. Bogusz hielt diesem ethischen Argument entgegen, dass die „Abneigung vieler Soldaten, sich einer Operation zu unterziehen“ darin begründet sei, „daß es den betreffenden wohl bekannt ist, daß ihr Leiden einen Militärbefreiungsgrund abgibt“. Die Angst vor den Eingriffen oder andere Bedenken seien nicht die Motive. Seiner Meinung nach müsse man daher die Anreize, sich einer Operation zu verweigern, dadurch vermindern, dass die soldatischen Patienten trotzdem für tauglich erklärt werden würden. Als Beispiel gab er Trachompatienten an, unter denen es keine Operationsverweigerer gab, weil diese trotz Erkrankung als diensttauglich eingestuft wurden.86 So debattierten die Teilnehmer über die 83 84 85 86
Vgl. Alfred Gebert (1915a). Vgl. Urbach (1914). Urbach (1914), S. 58. Vgl. Urbach (1914), S. 58.
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Köpfe der soldatischen Patienten hinweg über deren Körper und die Verfügung über diesen und stellten bestehende Regelungen immer wieder zur Diskussion. Auch zivile Ärzte waren vor solchen Diskussionen nicht gefeit. So fragte 1915 Paul Ritter ein gerichtlicher Sachverständiger, „inwieweit die Genehmigung des Patienten bezw. des gesetzlichen Vertreters notwendig“ sei, um Eingriffe vorzunehmen. Grundsätzlich hätte der Arzt oder Zahnarzt nicht das Recht, „Kranke ohne ihre bezw. ihrer gesetzlichen Vertreter ausdrücklichen Genehmigung zu heilen oder Operationen zu ihrer Heilung vorzunehmen. Vielmehr hat jede geschäftsfähige Person kraft ihrer persönlichen Freiheit selbst zu bestimmen, ob sie geheilt oder operiert werden will“.87 Aus der Sicht Alfred Geberts (Lebensdaten unbekannt), der eine Rezension des vorhin zitierten Textes verfasste, waren einige Patientengruppen von dieser Regel ausgenommen. Dazu zählten Waisenkinder, für welche „die Gemeinden gewissermassen Elternpflichten übernommen haben“ sowie Gefangene und Soldaten. Unter welchen Umständen die Ausnahme von Militärärzten geltend gemacht werden konnten und Zwangsbehandlungen durchgeführt werden durften, führte Alfred Gebert nicht an. Allerdings merkte er an, dass seiner Meinung nach nicht jeder Arzt mit den Bestimmungen und den Rechten der Patienten vertraut war.88 Wie die Anmerkungen der Ärzte in den Publikationen zeigen, machten die soldatischen Patienten von ihrem Recht, Eingriffe zu verweigern, vor allem bei riskanten Eingriffen Gebrauch. Wie Rudolf Weiser 1917 beklagte, konnten Knochentransplantationen deshalb nur selten durchgeführt werden, „da sich ein großer Teil der Patienten weigert, zur Entnahme von Knochen aus einem anderen Körperteile zum Zwecke der Transplantation in den Kiefer die Einwilligung zu geben“. Zu beklagen sei auch „der Umstand, daß wir in Österreich-Ungarn im Dienstreglement keine Handhabe finden, die Patienten zu diesem Schritte zu zwingen“89. Dass sich auch die Soldaten der Deutschen Armee weigerten, Eingriffe durchführen zu lassen, zeigt das folgende Zitat Albert Waskönigs aus dem Jahr 1938, in dem er sich auf seine Erfahrungen während des Ersten Weltkrieges bezieht: „Selbstverständlich wird man bemüht sein, den Defekt auf chirurgische Weise zu beseitigen, aber auch hier sind Grenzen gesetzt. Oft weigern sich die Patienten eine solche Operation ausführen zu lassen.“90
Auslöser für die Verweigerung waren oft Ängste vor der schweren Operation und deren unsicheren Ausgang. Diese Ängste wollte man den Verwundeten durch die Anwesenheit von bereits Operierten nehmen, die mit unterstützenden Worten den noch zu operierenden Patienten mit Rat und Tat zur Seite stehen sollten. Nach Meinung von Hugo Ganzer reichte oftmals deren bloße Anwesenheit aus, um die Moral zu heben und den Patienten zur nötigen Behandlungen zu bewegen, „vor der er sonst wegen der mit ihr verbundenen 87 88 89 90
Paul Ritter zitiert nach Alfred Gebert (1915b); mehr dazu bei: Noack (2004). Vgl. Alfred Gebert (1915b). Rudolf Weiser (1917), S. 154–155. Waskönig (1938), S. 4.
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Unannehmlichkeiten eine nicht zu verleugnende Scheu hatte“91. Das Beobachten des Behandlungserfolges bei anderen Patienten konnte sich auch negativ auswirken, wie Eduard Kränzel, der zusammen mit Rudolf Weiser als Operateur im Reservelazarett Nr. 17 tätig war, zu bedenken gab. Durch die auftretenden Fehlschläge bei Transplantationen käme es selbstverständlich zu Verweigerungen und man könne Patienten daher nicht zu den Eingriffen „zwingen“92. Die von den Ärzten geschilderten Operationsverweigerungen finden sich auch in den Patientenakten wieder.93 Die Akten zeigen, dass sich die Soldaten ein eigenes Bild ihres Körpers machten und daraus Schlüsse über notwendige Operationen zogen. Im Patientenakt des Infanteristen Adalbert W. ist dazu vermerkt: „7.V. [1917, RM] Patient ist mit dem Stück [Prothese, RM] zufrieden und will auf die plastische Operation verzichten.“94
Auch wenn sich die behandelnden Ärzte der Kliniken in den Schriften verständnisvoll gaben, so wurde im Behandlungsalltag durchaus Druck auf die soldatischen Patienten ausgeübt. Vier Tage nach der Operationsverweigerung von Adalbert W. ist im Patientenakt Folgendes zu lesen: „11.V. [1917, RM] Nachgesehen. Patient will von einer weiteren plastischen Operation nichts wissen.“95
Ein letztes Mal drängten die Ärzten zwölf Tage später zu einer Operation: „23.V. [1917, RM] Patient lehnt die Projekt. Weichteilplastik ab.“96
Adalbert W. blieb standhaft und die Ärzte entließen in schließlich mit einer Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent aus der Behandlung.97 Wie diese Beispiele zeigen, entschieden letzten Endes die soldatischen Patienten selbst, zu welchen Operationen sie bereit waren, zu welchen nicht und welches Risiko sie auf sich nahmen. Wenngleich die Ärzte zu diesen Entscheidungen ein ambivalentes Verhältnis hatten, akzeptierten sie diese, und auch militärisch zogen die Entscheidungen keine Konsequenzen nach sich. Das hauptsächliche Argument für die Entscheidungsfreiheiten im Kontext von 91 Ganzer (1943), S. 114–115. 92 Eduard Kränzel (1917), S. 217. 93 In den Krankenakten aus der Poliklinik finden sich in den Unterlagen der 1930er Jahre Einverständniserklärungen. Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten Akt, Nr. 3440. 94 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). 95 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). 96 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917); In einem anderen Fall von Operationsverweigerung reagierten die behandelnden Ärzte ähnlich. Vgl. Krankenblatt Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (2. Jan. 1916–28. Aug. 1917), S. 5. 97 Vgl. militärärztliches Zeugnis, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917).
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Transplantationen war allerdings weniger die Akzeptanz und Anerkennung der Patientenautonomie und Entscheidungsfreiheit, sondern vielmehr der Umstand, dass sich selbst die optimistischen Operateure eingestehen mussten, nicht zu wissen ob die Transplantationen auch tatsächlich glückten. Hans Pichler (1877–1949) – Kieferchirurg in Wien – machte ähnliche Erfahrungen und reagierte darauf mit der Entwicklung einer alternativen Behandlungsmethode. Er entnahm das Transplantat nicht aus dem Schienbein, wie in der Klinik üblich, in der Rudolf Weiser tätig war, sondern aus einem umliegenden Körperteil. Über seine Beweggründe schrieb er: „Ein weiter Vorteil ist der, dass es doch wesentlich einfacher ist, wenn man nur an einem Ort zu operieren hat. Das scheinen auch die Patienten zu empfinden. Es ist mir aufgefallen, dass sie sich viel leichter zur Operation entschliessen, wenn man ihnen in Aussicht stellen kann, bloss am Kiefer selbst zu operieren. Obwohl Eingriffe am Bein gewiss geringfügig sind, scheuen sie sich davor, und das ist menschlich begreiflich.“98
Hans Pichlers Vorgehen zeigt, dass Patienten durch ihre Entscheidungen Einfluss auf die Behandlungsmethoden hatten und so über chirurgische Entwicklungen mitentschieden. Pichler selbst sah sich in seinem Vorgehen bestätigt, da unter den „154 nach Unterkieferbruch entlassenen Patienten bloss 18 waren, welche eine Knochenplastik verweigert hatten, einer, bei dem sie mir nicht angezeigt schien. Dem stehen 27 im gleichen Zeitabschnitt operierte Fälle gegenüber“. Das waren immer noch 40 Prozent Verweigerungen, trotzdem schloss er daraus, dass die Mehrzahl der Patienten im Falle eines medizinisch annehmbaren Angebots den „Willen zur Heilung“99 hätten. Der Patientenakt eines der 27 Patienten, die sich für eine Operation bei Hans Pichler entschieden, ist überliefert. Franz Km. wurde Anfang 1915 durch einen Streifschuss am Kiefer und am Schultergelenk verwundet. Weil die Schulterverletzung zuerst behandelt wurde, bildete der Kieferbruch eine Pseudoarthrose aus.100 Wie üblich versuchte man diese durch eine Transplantation zu beheben, die von Pichler nach der Zustimmung von Franz Km. im Jahr 1917 gleichzeitig mit einer Wangenplastik durchgeführt wurde. Bereits im Juni desselben Jahres zeichneten sich die ersten Erfolge der Behandlung ab, und im Herbst konnte man bereits eine knöcherne Verheilung des Implantates erkennen. Nach einer elfmonatigen Rekonvaleszenz wurde Franz Km. aus der Behandlung entlassen. Das Fehlen militärärztlicher Zeugnisse legt die Vermutung nahe, dass Franz Km. im Mai 1918, dreieinhalb Jahre nach der Verletzung, wieder in den aktiven Dienst gestellt wurde.101
98 Hans Pichler (1917), S. 383–384. 99 Hans Pichler (1917), S. 383. 100 Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (21. Juli 1915–2. Mai 1917). 101 Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (16. Juli 1915–5. Febr. 1918).
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4.2.3 Gesichtsverletzte berichten von ihren Operationen Die Gesichtsverletzten, Kurt P. und Karl H., berichteten in ihren Selbstzeugnissen über die Erlebnisse und Erfahrungen mit der Behandlung und den Operationen. Kurt P. schrieb seine Empfindungen zeitnah nieder und schickte sie in Briefform an seine Partnerin, die er erst kurz vor Kriegsbeginn kennengelernt hatte. Mit ihr tauschte er sich auch sonst über persönliche Themen aus und wählte sie immer wieder als Ansprechperson für private Angelegenheiten und Entscheidungen. Nach einer Operation im Juli 1915 klagte er in einem Brief über die Schmerzen durch den Eingriff, bei dem lose Teile des Unterkieferknochens entnommen wurden: „Die Operation, anfänglich besonders die Folgen der Narkose, nachher die Schmerzen, hatten mich ziemlich angegriffen. Bis heute habe ich auch noch einen ganzen Kopfverband tragen müssen. Doch nun merke ich schon gute Fortschritte. Die Wunde wird bald geheilt sein. Den Mund kann ich aber noch immer nicht öffnen, jetzt noch schlechter als vor der Operation. Wie schwierig und unangenehm da die Ernährung wird, können Sie sich nicht denken.“102
Nachdem er das Schlimmste überstanden hatte, zeigte er sich optimistisch und erleichtert, kritisierte jedoch die Verschlechterung der Mundöffnung nach der Operation. Entgegen den Hoffnungen von Kurt P. war ein weiterer Eingriff nötig. Dazu wurde ein „Erfurter Chirurg“ mit der Operation im Lazarett beauftragt. Bei dieser Operation, die im Dezember 1915 durchgeführt wurde, holte der Chirurg zwei Knochensplitter aus der Operationswunde. Zum Entsetzen von Kurt P. begann der Arzt, der „es immer eilig hat, schon zu schneiden […] ehe ich noch ganz weg war“103. Das war aber nicht das Einzige, das Kurt P. beschäftigte. Detailliert beschrieb er im folgenden längeren Zitat, wie es ihm während der Narkotisierung und beim Aufwachen erging, was er fühlte und wie er seinen Körper wahrnahm: „Diese Operation hat mich mehr mitgenommen, als die erste. Die Schmerzen sind jetzt auch viel anhaltender und stärker. Und die Narkose liegt mir noch immer in den Gliedern. Diese Betäubung ist überhaupt das Schlimmste bei der ganzen Sache – sowohl das Einschlafen, als auch das Aufwachen. Wenn man auf dem Operationstisch angeschnallt ist, und dann das Singen, Rauschen und Knallern in allen Blutgefäßen des Kopfes und in den Ohren beginnt, wünscht man sich wirklich von Herzen wo anders hin. […] Und beim Erwachen ekelt mich dieses Rauschgefühl direkt an. Es ist das richtige Betrunkensein, nur ohne eigene Schuld. Dieses Mal gingen mir die Gedanken besonders wild und konfus durcheinander. Ich war in’s Bett gebracht worden – noch fast ganz bewusstlos – und begann dann allmählich zu hören. Ein merkwürdiges Gefühl, ein Gemisch von Angst und Verlassen sein überkam mich, und ich wollte aufstehen. Aber die Glieder waren noch schwer wie Blei und machten nicht mit. Doch mit der Hand faßte ich eine andere. Die Augen hatte ich noch immer geschlossen. Da durchfuhr mich plötzlich der Gedanke, das müßte ja Ihre Hand sein. Ja, gewiß, Sie wußten ja, daß ich operiert werden würde und wären sicherlich zu mir gekommen. Sie sind ja auch Helferin.“104
102 Kurt P. an Charlotte J., Langensalza 16.8.1915, Kurt P. (1915), S. 62–63. 103 Kurt P. an Charlotte J., Langensalza 13.12.1915, Kurt P. (1915), S. 100–101. 104 Kurt P. an Charlotte J., Langensalza 13.12.1915, Kurt P. (1915), S. 100–101.
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Mit den Auswirkungen der Narkose, den Ängsten und den Schwindelgefühlen, die für Kurt P. ein einschneidendes Erlebnis darstellten, beschäftigten sich die Ärzte in den wissenschaftlichen Arbeiten nicht. Diese Erfahrungswelt war vielmehr dem unwissenschaftlichen Bereich der Pflege zugeordnet. Die wiederkehrenden Eingriffe zehrten aber auch zusehends an den physischen Kräften, wie Kurt P. im Sommer 1916 berichtete: „Der Tag der Operation, die in lokaler Betäubung gemacht wurde, war natürlich unangenehm, da nachher ziemliche Schmerzen auftraten, aber jetzt geht’s schon besser. Man wird halt alles gewohnt, auch das jetzt wieder mal recht komplizierte Essen.“105
Durch die Schmerzen beim Essen verloren viele Patienten massiv an Gewicht, so auch Kurt P., der ein Mal fünf Kilogramm106 und ein anderes Mal zehn Kilogramm107 abnahm. Zusätzlich waren die frischen Wunden und die nicht verheilten Kieferknochen äußerst schmerzhaft, wie Kurt P.108 und viele andere Verwundete erfahren mussten. So beklagte sich der soldatische Patient Stefan Tr. im Zeitraum vom 1. Oktober 1914 bis zum Ende der Behandlung im Januar 1918 (3 Jahre und 4 Monate) immer wieder über heftige Schmerzen im Kieferbereich, die ihm auch nach seiner Entlassung immer noch Sorge bereiteten.109 Darüber hinaus bedurfte es oft mehrerer Operationsversuche, bis sich ein Erfolg einstellte. In den nächsten Monaten stellte sich zum Nachteil von Kurt P. heraus, dass auch die vorhin beschriebene Operation ohne Erfolg blieb und weitere Eingriffe nötig waren. Kurt P. wurde aufgrund des mäßigen Erfolges der vorhergehenden Eingriffe zusehends nervöser. In einem Brief an seine zukünftige Frau berichtete er über seine Ängste, die er aufgrund der bevorstehenden Operation hatte: „[…] Wenn man auch nicht gerade Angst hat, so kribbelt doch im ganzen Körper eine nervöse Unruhe.“110
Diese Operation verlief erfolgreicher. Bis zum Ende der Behandlung hatte er zwar noch mit Entzündungserscheinungen zu kämpfen, die aber keine größeren Eingriffe zur Folge hatten.111 Das zweite Beispiel ist einem selbst verfassten Lebenslauf entnommen, der mehr als fünfzig Jahre, nachdem die Operationen stattfanden, entstanden ist. Im Gegensatz zu Kurt P. berichtete Karl H. nicht unmittelbar nach dem Geschehen, sondern erinnerte sich an diese Zeit auf Bitten eines plastischen Chirurgen, der eine Arbeit über den Chirurgen Jaques Joseph verfasste, des105 Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, Juni 1916, Kurt P. (1916), S. 51. ; Kurt P. an Charlotte J., Langensalza 16.8.1915, Tagebucharchiv Emmendingen, Kurt P. (1915), S. 62–63; Kurt P. an Charlotte J., Langensalza 2.7.1915, Kurt P. (1915), S. 40–41. 106 Vgl. Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg 28.3.1916, Kurt P. (1917a), S. 27. 107 Vgl. Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 26.1.1916, Kurt P. (1916), S. 13–14. 108 Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten, S. 4. 109 Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (28. Sept. 1914–18. Jan. 1918). 110 Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 9.11.1916, Kurt P. (1916), S. 103. 111 Vgl. Lebenslauf, Kurt P. (1917b).
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sen Patient Karl H. war.112 Dementsprechend unterschieden sich die beiden Berichte in einigen Punkten. Die Gefühlswelt, Ängste und Empfindungen blieben bei Karl H. weitgehend unerwähnt, dagegen berichtete er sehr detailliert, welche Eingriffe in seinem Gesicht vorgenommen wurden: „Ein grosser Hautlappen wurde gestielt aus der Stirn heruntergeklappt und der grosse Stirndefekt ebenfalls gestielt alles mit Berücksichtigung der Schrumpfung aus dem Hinterkopf gedeckt. Er sagte, er habe die Kopfhaut über die Hälfte aufgespalten und dann mit Kraft zusammengezogen.[…] Nach Anheilen des Nasenhautlappens und Rücktransport der Stiele wurden Knochenstücke aus beiden Schienbeinen seitlich eingeschoben und aus beiden Ohren Knorpel in die Nasenflügel eingebracht. Joseph sägte die Knochenstücke und das rechte Nasenbein, suchte mit der Lupe genau nach Splitterchen ab und schimpfte über das Knochenmeisseln, wie es in Bonn [der früheren Behandlungsstätte von H., RM] gemacht worden war.“113
Um der Schwere der Operation Ausdruck zu geben, verwies er auf die Dauer („über fünf Stunden“), aber auch darauf, dass Joseph ihn „immer wieder neu betäuben“ musste.114 Seine Nase wurde mit einem Hautstiel aus dem Oberarm wieder aufgebaut. Dazu musste der Oberarm über mehrere Wochen hinweg fixiert werden, was Karl H. solche Schmerzen verursachte, dass er von dieser Zeit als der Schlimmsten seines Lebens sprach und mit Selbstmordgedanken spielte.115 Darauf ging auch die im Düsseldorfer Lazarett geführte Diskussion über psychische Probleme bei Gesichtsverletzten ein. Auf die Beobachtung, dass sich die Verletzten mit den an sie gestellten Anforderungen überfordert zeigten, reagierte man dort mit der Hinzuziehung eines „Spezialisten für Nervenerkrankungen“. Zwei Mal pro Woche hatten die Verletzten die Möglichkeit, mit dem „Landespsychiater der Rheinprovinz, Geh. Sanitätsrat Dr. Neuhaus“116 über ihre Ängste, Sorgen oder Erlebnisse zu sprechen. Trotz dieses als fortschrittlich zu bezeichnenden Modells wurden die bekannten Denkmuster nicht überschritten. Nach Christian Bruhn waren die „zurzeit so häufigen hysterischen Erkrankungen“ in seinem Lazarett so gut wie nicht vorhanden: „Von zwei Psychose Fällen glaubten wir nur den einen mit der Kieferverletzung in Beziehung bringen zu dürfen.“117
Wenn die anstrengende und bedrückende Operationsperiode überstanden war, begann die tägliche Routine im Lazarett.
112 113 114 115 116 117
Vgl. Natvig (1982); Karl H. (15.11.1973). Karl H. (15.11.1973). Karl H. (15.11.1973). Vgl. Elisabeth Stader (26.10.2011). Christian Bruhn (1917), S. 23. Christian Bruhn (1917), S. 39.
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4.2.4 Tagesablauf Ein gewöhnlicher Tag im Lazarett begann für die soldatischen Patienten früh morgens und war bis ins kleinste Detail durchgeplant. Vergleichbar mit Bemühungen in anderen Lazaretten versuchte man die Abläufe in den Spezialeinrichtungen zu optimieren bzw. zu rationalisieren. Dies lag zum Einen an der „modernen wirtschafts- und verwaltungswissenschaftliche[n] Sichtweise“, wie es der Medizinhistoriker Heinz-Peter Schmiedebach nannte,118 zum Anderen aber auch an der großen Anzahl der Verletzten, die es zu behandelmn galt. Kaum wurden die Kliniken erweitert, wurden die Betten auch schon wieder knapp. Der Verwundetenstrom schien in einigen Einrichtungen nicht enden zu wollen.119 Einige Ärzte zeigten sich bei der als notwendig empfundenen Rationalisierung der Behandlung besonders einfallsreich. Lorenz Böhler (1885–1973), Chirurg, belegte, um ein Beispiel zu nennen, die Betten in den Krankenzimmern nach der Art des Beinbruches, auf deren Behandlung er sich spezialisierte. Er normte die Behandlungsschritte, dokumentierte alles akribisch, wertete später die gesammelten Daten aus und schrieb die wichtigsten Informationen über die Behandlung und die Patienten gleich auf den Gipsverband. Damit sparte er Zeit und Geld und legte somit die Grundlage für seinen späteren Erfolg.120 Der Nachteil dieser rationalisierten Behandlungsschritte war, dass die einzelnen Patienten und deren individuelle Bedürfnisse zunehmend zurückgedrängt wurden.121 Gesichtsverletzungen jedoch verwehrten sich einer generellen Rationalisierung, da es von Fall zu Fall bei jeder Operation unterschiedlicher Methoden bedurfte. Die Tagesabläufe in den Lazaretten und Kliniken widersetzten sich den Normierungsversuchen allerdings nicht. Um den Alltag in den Lazaretten zu vereinheitlichen, wurde in der Düsseldorfer Stadtverwaltung eine Hausordnung für Krankenanstalten eingeführt, die auch im Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte übernommen wurde. Interessant sind die Paragraphen 11–27, die das gewünschte Verhalten der Patienten genau festhielten und regelten, wo und wann sich die Patienten aufhalten durften. Dazu gehörte auch, dass um eine Behandlungsunterbrechung ersucht werden musste, wenn man Verwandte besuchen wollte. Glücksspiel und Musik waren in den Krankenanstalten prinzipiell verboten, doch gerade diese letzten beiden Punkte wurden in den Lazaretten stark aufgeweicht, wie später noch gezeigt wird. Von den Patienten verlangte man, das Pflegepersonal bei der Essensausgabe und anderen Tätigkeiten zu unterstützen und sie wurden dazu angehalten, sich selbstständig zu pflegen, sofern es der Gesundheitszustand zuließ. Gegessen werden durfte nur die Krankenhauskost und es gab Anwesenheitspflicht bei der Essensausgabe und bei der Visite. Ein Zuwiderhandeln konnte die Entlassung zur Folge haben.122 In Para118 119 120 121 122
Heinz-Peter Schmiedebach (2001), S. 60. Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 177. Vgl. Thomas Schlich (2010). Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach (2001), S. 60. Vgl. Hausordnung für die Kranken der allgemeinen Krankenanstalten der Stadt Düsseldorf. Düsseldorf 1916. § 11–27, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925), S. 33.
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graph 11 wurde gefordert, dass die Patienten „mit Rücksicht auf den Zweck des Hauses sich ruhig und gesittet benehmen, insbesondere gegenüber dem Pflegepersonal ein bescheidenes und ihren Mitkranken gegenüber ein gefälliges Benehmen“ an den Tag zu legen hatten. Des Weiteren läge es im Interesse aller Kranken, wie im Paragraph 12 verkündet, „daß über das Befinden und die Verhältnisse der Mitkranken nicht gesprochen wird. Von dem etwaigen Ableben eines Kranken wird die Anstalt den Angehörigen sofort Mitteilung machen“123. Bei schlechten Nachrichten sollte die Kommunikation unterbrochen werden. Eine Begründung dieser Regel wurde nicht angeführt. Paragraph 27 regelte Aufsteh-, Ruhe- und Schlafenszeiten sowie Haarpflege und andere Körperpraktiken: „Wenn den Kranken das Aufstehen gestattet ist, haben sie in der Regel um 6 Uhr, jedenfalls aber so zeitig aufzustehen, daß sie um 7 Uhr gewaschen und vollständig angezogen sind. Soweit ihnen dies vom Abteilungsarzt nicht ausdrücklich untersagt ist, haben sie zunächst ihr Bett selbst zu machen, dann sich an dem hierfür angewiesenen Ort zu waschen und zu kämmen. Die Mundspülung hat nicht in den Waschräumen, sondern im Bett, unter Benutzung der hierzu bestimmten Gläser, zu erfolgen. Die Badewannen dürfen nur auf Grund besonderer Verordnung seitens der Ärzte benutzt werden. Während der Tagesstunden darf das Bett nicht als Sitz benutzt werden. Wenn Kranke sich während des Tages stundenweise legen dürfen, so haben sie zuvor Kleider und Schuhe abzulegen und nach dem Aufstehen das Bett wieder in Ordnung zu bringen. In der Zeit zwischen 1/2 9 und 9 Uhr abends legen sich die Kranken zu Bett. Um 9 Uhr wird das Licht in den Krankenzimmern bis auf eine Nachtlampe gelöscht.“124
Im Düsseldorfer Kiefer-Lazarett wurde jeder Verwundete ein Mal pro Tag von einem Arzt untersucht bzw. behandelt. Gewöhnlich fand dies vormittags zwischen 8 und 12:30 Uhr sowie nachmittags zwischen 15 und 18 Uhr statt.125 Für Notfälle hatte immer ein Arzt Bereitschaft. Ansonsten ging der Klinikleiter ein Mal in der Woche mit einem Zahnarzt und einem Chirurgen von Bett zu Bett, um die nächsten operativen Schritte zu planen, die dann im „Tagebuch“ notiert wurden.126 Max Gratzinger (1892–1968), Zahnarzt im k. u. k. Reservespital I in Wien, schilderte Ähnliches. 1915 berichtete er, dass „alle Patienten, die zum Verbandswechsel, zur Bestrahlung, Massage u. dgl. zu erscheinen haben, in der entsprechenden Verbands-, Bestrahlungs- resp. Massageliste namentlich angeführt“ werden. Die tatsächliche „Durchführung der angeordneten Massnahmen“ wurde durch die „eigenhändige Unterschrift des ausführenden oder beaufsichtigenden Organs bestätigt“127. Großen Wert legte man dabei auf die Mundhygiene.128 Von Anfang an litten die Verwundeten129 an dem schlechten 123 Hausordnung für die Kranken der allgemeinen Krankenanstalten der Stadt Düsseldorf. Düsseldorf 1916. § 11–27, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925), S. 33. 124 Vgl. Hausordnung für die Kranken der allgemeinen Krankenanstalten der Stadt Düsseldorf. Düsseldorf 1916. § 11–27, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925), S. 33. 125 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 22. 126 Christian Bruhn (1917), S. 23. 127 Max Gratzinger (1915), 347. 128 Vgl. Juljan Zilz (1917b), S. 1–3. 129 Vgl. Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, Juni 1916, Kurt P. (1916) S. 55–56.
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Geschmack und dem Mundgeruch, auch die Wundheilung kam so nicht voran. Durch den Speichelfluss und die Blutungen kam es immer wieder zu Entzündungen im Mundraum. Durch die Mundhygiene wurde ebenfalls der durch die Verwundung und ungünstige Verdauung hervorgerufene „schlechte[n] Geschmack“130 vermindert. Um einem Bakterienbefall vorzubeugen, bekam jeder Verwundete eine „frische, mittelweiche Zahnbürste und ein Fläschchen Franzbranntwein“. Damit musste „zweimal täglich das Zahnfleisch und die Zähne nach Anweisung gründlich“ geputzt werden.131 In den Abteilungen in Düsseldorf gab es für die Mundhygiene in jedem Schlafsaal „in besonderen Räumen Spülvorrichtungen, die es gestatteten, dass zahlreiche Kranke gleichzeitig dieser Vorschrift genügen“132. In der Abteilung Mannesmannhaus teilten sich 141 Verwundete einen Aufenthaltsraum und ein Badezimmer. Ähnlich sah es in den anderen Abteilungen des Düsseldorfer Kiefer-Lazarettes aus, nur den Offizieren stand mehr Platz für die Körperpflege zur Verfügung.133 Neben den Läsionen war der Verband eine Quelle für Bakterienbefall. Durch die Weichteilverletzungen gelangten Speisereste vom Mundinneren nach außen in den Verband und entwickelten sich dort sehr schnell zu Keimherden.134 Daneben waren es die Patienten selbst, die den Verband mit ihren Händen verschmutzten, wie Rudolf Weiser beklagte: „Leider wurde in diesem Stadium der recht ungebärdige Patient, der die üble Gewohnheit hatte, an seinem Verbande mit nichts weniger als entsprechend gepflegten Händen Verbesserungen anzubringen, von Erysipel befallen und mußte in ein Infektionsspital abtransportiert werden.“135
Aufgrund dessen wurde vom Personal großer Wert auf Hygiene und saubere Verbände gelegt, die man regelmäßig kontrollierte.136 4.2.4.1 Mehrere Behandlungsorte In Städten wie Berlin und Wien gelang es nicht, eine zentrale Behandlungsstätte wie beispielsweise in Düsseldorf zu schaffen.137 Das hatte zur Folge, dass die Gesichtsverletzten mehrmals ihre Behandlungsorte wechselten oder zur Therapie in ein anderes Lazarett fahren mussten, in denen Spezialisten für komplizierte Eingriffe betätigt waren. In Wien wollte man dem immer chaotischer werdenden Behandlungssystem und der ständig wachsenden Zahl der 130 Krankenblatt Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (28. Sept. 1914–18. Jan. 1918), S. 4. 131 Brief der Allgemeinen Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten an das Verwundetenspital Am Steinhof, 12. Oktober 1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (26.3.–17.12.1915). 132 Christian Bruhn (1917), S. 49. 133 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 9–19. 134 Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 66. 135 Rudolf Weiser (1917), S. 14. 136 Vgl. Max Gratzinger (1915), S. 348. 137 Vgl. J. Joseph (1.7.1917).
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Verletzten mit der Errichtung einer Spezialheilanstalt entgegenwirken. Deren Kapazitäten waren jedoch bald erschöpft, sodass die Verwundeten weiterhin an mehreren Orten gleichzeitig behandelt wurden. Das Wiener Modell, welches dem in Berlin in vielen Punkten glich, werde ich in der Folge näher betrachten. Die Ruhe-, Schlaf- und Freizeit verbrachten die Verwundeten dort meist in Reservelazaretten oder Kliniken, die von den Plätzen getrennt waren, an denen sie operiert wurden. Die Poliklinik im neunten Wiener Stadtbezirk war eine dieser Ruhestätten mit dem Vorteil, dass einfache zahnmedizinische Eingriffe auch vor Ort vorgenommen werden konnten. Für Operationen mussten sich die Gesichtsverletzten dann in der zwei Kilometer entfernten Spezialheilanstalt für Kieferschussverletzte (k. u. k. Reservespital Nr. 17)138 einfinden. Die öffentliche Verkehrsanbindung und die Entfernung legen nahe, dass die Verwundeten entweder zu Fuß oder mit der Straßenbahn in die Klinik fuhren. In Ausnahmefällen wurden „Tramwayfahrkarten“ ausgeteilt, wie im Falle von Paul K., der auf dem Weg „wiederholte Ohnmachten erlitt“139 und dadurch auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war. Adalbert W., der am 8. April 1915 in den Karpaten schwer verwundet wurde, kam zur Behandlung seines Kieferschusses nach Wien in das Reservespital Nr. 9. Vier Monate später hatte er sich für die Anfertigung einer Zahnprothese zur ambulanten Behandlung in der Zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien einzufinden. Dort sollten der offene Gaumen und die fehlenden Zähne durch eine Prothese ersetzt werden. Adalbert W. fuhr schließlich täglich von der Mariahilferstraße 87 zweieinhalb Kilometer mitten durch die Wiener Innenstadt in die Höfergasse 1. Nachdem es nicht gelang, den Defekt mit einer Prothese zu decken, beschloss man, diesen operativ zu beseitigen. Dazu erschien es sinnvoll, dass der Verwundete in eines der Krankenzimmer der Poliklinik überstellt wurde. Dr. Dussek, Adalbert W.s behandelnder Arzt, veranlasste im November 1915 die Verlegung. Nach der Eröffnung der Spezialheilanstalt für Kieferschussverletzte (k. u. k. Reservespital Nr. 17) wurde Adalbert W. dort ein Bett zur Verfügung gestellt.140 In manchen Fällen war dieses „Wandern“ nicht der Organisation geschuldet, sondern dem persönlichen Interesse der Ärzte141 oder der Patienten.142 Das System bot nicht nur ein gewisses Maß an Flexibilität und Individualität, sondern auch ein großes Potential an Absprache und Koordinationsschwierigkeiten. Die mangelnde Kommunikation zwischen den Kliniken und Lazaret138 Die Adresse lautete: Leitermayergasse 45, 1180 Wien, S. Schaar (1917), S. 264. 139 Dienstzettel vom Reservespital Nr. 3, Juni 1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (18.2.–9.9.1915). 140 Vgl. Briefwechsel Dr. Dussek mit dem Reservespital Nr. 9, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). 141 Vgl. Brief von Wunschheim an das Kommando der Kriegsheilsspitales der Technischen Hochschule Wien, 25. November 1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (21. Juli 1915–2. Mai 1917). 142 Vgl. Vermerk im Krankenblatt: „Patient geht seit einigen Tagen ambulatorisch zu Herrn Dr. Pichler (Klinik Eiselsberg), da er entschlossen ist, sich operieren (lokale Knochenplastik) zu lassen“. In: Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (8.9.1914–2.4.1917).
4.2 Behandlung im Hinterland
133
ten führte dazu, dass Verwundete zu früh aus der Behandlung entlassen wurden oder dass Urlaube gewährt wurden, obwohl Operationen geplant waren. Als Richard L. ohne Absprache zu früh aus der Behandlung entlassen wurde, schrieb ein Arzt der Poliklinik einen wütenden Brief an das k. u. k. Vereinsfilialspital Nr. 9, in dem er untergebracht war: „Wir haben den Mann, der eine sehr schwere Fraktur hatte, monatelang behandelt, uns sehr viel Mühe mit ihm gegeben und uns dadurch wohl das Recht erworben, zu bestimmen, wann er aus unserer Behandlung zu entlassen wäre.“143
Diese und ähnliche Probleme konnten bis zum Kriegsende in Wien nicht gelöst werden. Dazu hätte es wahrscheinlich einer grundlegenden Reform des Sanitätswesens bedurft. Das Thema Mobilität während der Behandlung ist allerdings auch aus einem ganz anderen Grund von Bedeutung. Wie bereits in Abschnitt „ Exkurs: Der Wegsperrmythos“ beschrieben, gab es immer wieder Gerüchte, dass Verwundete mit Entstellungen im Gesicht in geheimen Lazaretten dahinvegetierten. Wie die Beispiele Wien und Berlin zeigen, war genau das Gegenteil der Fall. Der Bettenmangel in den Spezialheilanstalten zwang die Verwundeten dazu, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Sie waren, wie auch die anderen Verwundeten, sichtbarer Teil des Stadtgefüges. 4.2.5 Die Nachbehandlung Hatten die Patienten die Operation(en) überstanden, galt es, die Wundheilung zu optimieren. In der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien bezog man das Befinden der soldatischen Patienten in die Planung der weiteren Behandlungsschritte mit ein. Fühlten sich die Verwundeten nicht wohl oder hatten Schmerzen, wurden alternative Behandlungsmethoden angewandt.144 Die Wundbehandlung selbst erfolgte in Wien durch tägliche „Essigsauretonerde-Umschläge“145. In Düsseldorf nutzte man zur Linderung von Schwellungen und zur Unterstützung einer schnelleren Heilung die Kraft der Sonne: „Es ist ein glücklicher Umstand hervorzuheben, daß im Spätsommer und Herbst des Jahres 1914 und ebenso auch im Sommer 1915 besonders viele sonnige Tage zu verzeichnen waren, die es möglich machten, die offenen Wunden unserer Kranken täglich viele Stunden dem Sonnenlichte auszusetzen.“146
143 Briefwechsel Poliklinik mit dem k. u. k. Vereinsfilialspital Nr. 9, 7.12.1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (2.7.–7.12.1915). 144 Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917), S. 3 und 5; Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11. Juli 1915–19. Oktober 1917), S. 2. 145 Anweisung von der Allgemeinen Poliklinik in Wien an das k. u. k. Reservespital Nußdorf, 1.3.1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11.9.1914–3.5.1916). 146 Christian Bruhn (1917), S. 32.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Abb. 21: „Sonnenbestrahlung der Wunden“. Quelle: Christian Bruhn (1917) S. 33.
Um die Sonne optimal nutzen zu können, wurden die Schwerverwundeten „früh morgens in ihren Betten in die Lazarettgärten getragen und verblieben, ebenso wie die Leichtverletzten, oft bis zum Abend im Freien“147 [vgl. Abbildung 21]. Im Winter wurden die Sonnenstrahlen durch Quarzlichter ersetzt,148 eine Methode, die auch in der Lubliner Kriegs-Zahnklinik sowie in abgeänderter Form im Reservespital Nr. 1 praktiziert wurde.149 Lief alles nach Plan, heilten die Wunden ohne Probleme. Zu Schwierigkeiten kam es bei einem Bakterienbefall oder wenn der Patient durch die Krankheit geschwächt war, wie Kurt P.: „Mehrere Tage war ich dann auch ganz matt, zumal noch Ohren- und Mandelentzündung die Influenza vervollständigen halfen. In den letzten Tagen ist es mir nun schon besser gegangen. Das Fieber tritt nur noch abds. auf und an die Schienen habe ich mich, so gut es geht, auch gewöhnt, besonders da die großen Schmerzen nachgelassen haben.“150
Gerade das Anpassen der Prothesen stellte einen langwierigen Prozess dar und erforderte oft mehrere Nachbehandlungen. Viele der Verwundeten wurden jedoch vor der Beendigung dieser Arbeiten aus der Behandlung entlassen, um unter anderem wieder aktiv als Soldat zu dienen. In der zahnärztlichen Abteilung der Poliklinik konnten sich die ehemaligen Patienten bei Bedarf 147 Christian Bruhn (1917), S. 32. 148 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 33. 149 Vgl. Fotografie von einer Quarzlampenbehandlung, Juljan Zilz (1914–1918); Vgl. Max Gratzinger (1915), S. 346. 150 Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg 28.3.1916, Kurt P. (1917a), S. 27.
4.2 Behandlung im Hinterland
135
brieflich an die Ärzte wenden. Einige der Patienten nutzten die Gelegenheit auch, um über ihr Befinden nach der Entlassung zu berichten151 oder Ersatzteile zu besorgen.152 4.2.5.1 Urlaub als Teil der Nachbehandlung Für die noch kämpfenden Soldaten stellte der Heimaturlaub eine Erholungsphase dar, in der sie ihre Fronterlebnisse und die permanente Lebensgefahr vorübergehend in den Hintergrund drängen konnten, um sich „ihre[m] Wunsch nach Familie, zivilen Lebensverhältnissen und gewohnten Tagesrhythmen“ zu widmen.153 Für die Mediziner war der Urlaub ein wichtiges Instrument, die Stimmung der Patienten zu erhöhen, um die Heilung zu beschleunigen und so die Behandlungszeit zu verkürzen. Urlaube sollten dabei helfen, „trübe Gemütsstimmungen“154 zu zerstreuen. Anton Ritter von Wagner, Kommandant des k. u. k. Reservelazarettes Nr. 17, berichtete, dass dort bei „melancholischen Verstimmungen“ ausgiebig von dieser Option Gebrauch gemacht wurde, denn „längere Urlaube – in den Pausen zwischen zwei Operationen – werden, dank der Gewährung unserer höheren Behörden, in der Regel erteilt“155. Ein ähnliches Modell verfolgte man in Berlin, wo Behörden mitunter ganze Abteilungen schlossen und auf Urlaub schickten.156 In der Poliklinik, von der diese Urlaubspraxis überliefert ist, nahmen alle Verwundeten während der Behandlung Urlaub, meist mehrere Male und einige Wochen am Stück. Ein häufig angegebener Grund war „Anbauurlaub“, der auch mehrmals in Anspruch genommen werden konnte.157 Dafür wurde im äußersten Notfall auch eine Operation nach hinten verschoben.158 Bei der Vergabe von Ernte- oder Anbauurlauben zeigte man sich großzügig, weil die 151 Vgl. Brief von Samuel Kastner an die Allgemeine Poliklinik in Wien, 22.2.1916, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (19.2.1915–22.2.1916). 152 Vgl. Briefwechsel A. mit Gustav Wunschheim, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11.9.1914–3.5.1916); Briefwechsel Adalbert W. mit Ärzten der Allgemeinen Poliklinik in Wien, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahnund Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917); Briefwechsel Stefan Ry. mit der Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915–19.7.1915); Briefwechsel Samuel Ka. mit der Allgemeinen Poliklinik in Wien, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (19.2.1915–22.2.1916); Briefwechsel Emil W. mit der Allgemeinen Poliklinik in Wien, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 153 Wisthaler (2010), S. 72–73. 154 Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 2. 155 Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 2. 156 Vgl. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 31.5.1917, Kurt P. (1917b), S. 54–55. 157 Vgl. Dienstanweisungen bezüglich Urlaubsvergabe und Eintragungen im Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11. Juli 1915– 19. Oktober 1917). 158 Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11. Juli 1915–19. Oktober 1917).
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
dadurch gewonnenen Arbeitskräfte zur Sicherstellung der Volksernährung beitrugen. Die Gewährung von Urlaub war auch von der Situation am jeweiligen Hof abhängig. Gab es Hilfskräfte oder Verwandte, welche die Arbeiten erledigten, standen die Chancen schlechter. Bessere Erfolgsaussichten auf Urlaub bestanden dann, wenn die Ehefrau verstorben war und der Hof stillgelegt werden musste.159 Auch in Familienangelegenheiten war es nicht schwierig, Urlaub zu erhalten.160 Nicht immer waren die Verwundeten beim Ausfüllen des Urlaubsscheines ehrlich, so benutzte Kurt P. seinen Urlaub dazu, sich heimlich mit seiner Freundin zu treffen.161 Auch wenn einige Tricks angewandt wurden, um zu einem Urlaub zu kommen, waren die Patienten grundsätzlich auf die Kooperationsbereitschaft der Behörden und Ärzte angewiesen, die letzten Endes über die Gewährung entschieden. Eine weitere Möglichkeit, mit den Angehörigen in Kontakt zu bleiben, war der Besuch der Familienmitglieder in den Lazaretten, der in Düsseldorf stark gefördert wurde. Dort versorgte die Zentralstelle für freiwillige Liebestätigkeit die weit angereisten Verwandten während der Besuchszeit.162 Darüber hinaus gab es „große Fahrpreisvergünstigungen auf der Eisenbahn“, wie Adalbert Oehler (1860–1943), Oberbürgermeister in Düsseldorf, berichtete.163 Die überwiegende Mehrheit der in der Kieferklinik behandelten Verwundeten stammte aus Preußen (August 1914–August 1915 waren es 1249 von 1748 Patienten), der Rest aus allen Teilen des Deutschen Reiches (zum Beispiel aus Bayern 122, aus Württemberg 55).164 Die zurückzulegende Strecke der Verwandten bei Besuchen variierte daher stark. 4.3 Körperpraktiken Das Schicksal der körperlichen Versehrtheit teilten die im Gesicht verletzten Männer beispielsweise mit 2,7 Millionen anderen deutschen Verwundeten. Viele der Verwundeten mussten durch den Verlust von Gliedmaßen oder die Beschädigung von Körperfunktionen den eigenen Körper neu kennen- und mit ihm umgehen lernen. Die Selbstverständlichkeit der Funktionstüchtigkeit 159 Vgl. Wisthaler (2010), S. 73. 160 Adalbert W. bekam vier Urlaube zugesprochen, Krankenblatt Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (21. Juli 1915–2. Mai 1917); militärärztliche Zeugnisse Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (28. Sept. 1914–18. Jan. 1918). Des Weiteren gab es die Möglichkeit, einen Urlaub zu bekommen und die Kontrolle der Wunde in einem naheliegenden Krankenhaus vorzunehmen. Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11.9.1914–3.5.1916). 161 Vgl. Kurt P. an Charlotte J., 29.5.1916, Kurt P. (1916), S. 41–44; Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 28.3.1916, Kurt P. (1916), S. 28; Charlotte J. an Kurt P., Stargart 4.4.1916, Kurt P. (1916), S. 30. 162 Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 170. 163 Adalbert Oehler (1927), S. 195. 164 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 28.
4.3 Körperpraktiken
137
und Leistungsfähigkeit, die auf einen männlichen Körper projiziert wurden, standen nun plötzlich in Frage.165 Die Männer mussten das Essen und Sprechen wieder lernen und sich an das Tragen einer Gesichtsprothese (Epithese) gewöhnen, deren Wartung und Pflege viel Zeit in Anspruch nahm. Viele der Gesichtsverletzten hatten keine andere Wahl, als sich an die verminderte Attraktivität für das andere Geschlecht zu gewöhnen und/oder auf der Straße von Fremden angestarrt zu werden. All die Momente der konstruierten Andersartigkeit mussten in den Alltag und in die Erwartungshaltung an den eigenen Körper integriert werden. Einigen der Verletzten gelang dies sehr gut, andere wiederum litten lebenslang an den Folgen des beschädigten (männlichen) Körpers. 4.3.1 Das Essen Menschen müssen essen und die Nahrungsaufnahme muss den physiologischen Anforderungen genügen.166 Das bedeutete für jemanden, der über alle Zähne verfügte, den Mund ohne Schmerzen öffnen konnte und keine zertrümmerten Kieferknochen hatte, natürlich etwas ganz anderes als für jemanden, der eben mit genau diesen Problemen zu kämpfen hatte. Unterscheidet man zwischen dem ‚Essenden‘ und dem zu ‚ernährenden Körper‘, wie es Marin Möhring vorschlägt167, schließen sich der Ernährungsfrage weitere Aspekte an. Wie esse ich in einer Tischgemeinschaft, wenn ich nur Flüssignahrung zu mir nehmen kann? Richten sich neugierige Blicke auf mich, wenn ich eine Fleischschere zur Zerkleinerung der Nahrung benutze? Neben den Bemühungen, Unterernährung168 zu vermeiden, mussten auch gesellschaftliche Praktiken neu erlernt werden. 4.3.1.1 Der essende Körper Die Ernährungsprobleme begannen bereits in den ersten Stunden nach der Verletzung. Aus Angst, etwas falsch zu machen, wurden die Verwundeten nicht selten ohne Ernährung in die Lazarette überstellt, wie die Pflegerin Tilly Weishaupt berichtet. Diese war, als Krankenpflegerin im Reservelazarett des Kgl. Zahnärztlichen Instituts der Universität Berlin tätig. Sie reagierte auf den Zustand der ankommenden Verwundeten mit Entsetzen. Manche der Verletzten hatten nach ihrer Einschätzung seit vier bis fünf Tages nichts gegessen oder getrunken, und die ersten Unterernährungserscheinungen seien bereits vorhanden gewesen. Die erschöpften Soldaten hätten zusätzlich unter starkem 165 166 167 168
Vgl. Kienitz (2008), S. 109. Vgl. Barlösius (2011), S. 38. Vgl. Maren Möhring (2012), S. 47. Vgl. Juljan Zilz (1917b), S. 154; Hans Pichler (1936), S. 351–353; Pfaff/Schoenbeck (1916), S. 226.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Speichelfluss gelitten, und ein großer Teil der Wundabsonderung sei in den Magen gelangt, wodurch deren Appetit meist mäßig war.169 Dabei würden die „primitivsten Mittel[n] ihnen das Nötige einflössen“170, so Weishaupt. In einem Aufsatz veröffentlichte der Ernährungsspezialist Martin Pollak eine Statistik, in der er das Gewicht der verwundeten Soldaten bei Ankunft und während der Behandlung notierte. Auch ihm fiel das niedrige Gewicht der Verwundeten bei der Ankunft in den Behandlungsstätten auf. Das Durchschnittsgewicht der Soldaten bei Einlieferung lag bei einer Durchschnittsgröße von 1,70 Metern im Gegensatz zum empfohlenen Mindestkörpergewicht (schmal) von 63 Kilogramm171 bei nur 57,5 Kilogramm,172 also 5,5 Kilogramm unter dem Mindestgewicht. Das entspricht einem Untergewicht von knapp 9 Prozent. Die, auch durch den Schützengrabenalltag oft unterernährten Soldaten, mussten für größere Heilungschancen stark an Gewicht zunehmen, nach Pollak zumindest ein bis zwei Kilogramm pro Woche. Dazu bedurfte es ausgeklügelter Ernährungspläne in Verbindung mit der peniblen Einhaltung von Essensmengen und Essenszeiten.173 In Lublin ernährte man die Schwerverletzten mit „täglich dreimal eine[m] Liter Speisebrei, bestehend aus Suppe, Gemüse, zerhacktem Fleisch (meist Pain174) und zwei Eiern“175. Diese Kraftnahrung wurde durch die schwindenden Ressourcen während des langen Krieges immer kostspieliger und gerade Milch, das Grundnahrungsmittel der flüssig zu Ernährenden, wurde immer knapper. Spezialnahrung war nicht nur teuer, sondern auch schwierig zuzubereiten.176 Von Versorgungsschwierigkeiten berichtete auch Kurt P. während seiner Behandlung in Langensalza.177 Abhilfe schafften, wie im Falle des Düsseldorfer Lazarettes für Kiefer-Verletzte, die eigene Landwirtschaft und Viehzucht oder wie in Wien, Essenspenden von Firmen.178 Im Idealfall nahmen die Verwundeten schnell an Gewicht zu. Jedoch halfen alle Ernährungspläne und Spezialzubereitungen der Nahrung nichts, wenn sich die Patienten weigerten, diese zu sich zu nehmen. Probleme bei der Essensaufnahme traten meist durch die Abscheu und Abwehrhaltung des Patienten sowie den auftretenden Brechreizen beim Einführen der Schläuche in die Speiseröhre auf. Infolge der Schmerzen verweigerten manche die Nahrung grundsätzlich.179 Das Hauptproblem lag in der Art und Weise der Nahrungsaufnahme, die durch einen Schlauch in die Speiseröhre erfolgte und so die
169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179
Vgl. Tilly Weishaupt (1915), S. 699–700. Tilly Weishaupt (1915), S. 699. Vgl. Metropolitan Life Insurance Company (1983). Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 178–179. Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 69–72. Semmelmehl. Juljan Zilz (1916), S. 6. Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 66. Vgl. Kurt P. (1915), S. 42. Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 181. Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 66.
4.3 Körperpraktiken
139
oben beschriebenen Schmerzen und Ängste verursachte.180 Diese Methode war bei Verwundeten, deren Kiefer, Mund oder Gaumen von der Verletzung betroffen waren, in den ersten Wochen notwendig [vgl. Abbildung 22 und 23]. Mit beruhigenden Worten und einem sicheren Auftreten des Personals sollte das Vertrauen des Patienten erlangt werden.181 Tilly Weishaupt beobachtete, dass sich der Brechreiz mit der Routine der täglichen Wiederkehr legte und „Geübte“ ohne nennenswerte Schwierigkeiten Nahrung aufnehmen konnten: „[U]nsere Patienten nehmen nach einigen Tagen anstandslos den Schlauch in sitzender Stellung“182 [vgl. Abbildung 22 und 23]. Traten trotzdem Probleme auf, so sollte die „geschickte freundliche Hand“183 der Pflegerin dem Patienten helfen, indem sie ihn in die richtige Sitzposition brachte. Eine bequeme Nahrungsaufnahme „vermag dem Kranken viel leichter eine reichliche Menge einzuflößen wie eine gleichgültige Hand; auch durch Zuspruch und Bitte kann von Seiten der Schwester viel getan werden, um den Eßunlustigen immer wieder zu veranlassen, etwas zu sich zu nehmen“.184 War es geglückt, den Patienten zu beruhigen und saß dieser in einer bequemen Lage, konnte mit dem Einführen des Schlauches begonnen werden. Die Pflegerinnen und Pfleger versuchten, dies ohne Berührung des Gaumens zu bewerkstelligen, um Brechreize zu verhindern. Nachdem der Schlauch durch die Mundhöhle gebracht war, wurde der Rest „rasch ganz hinter“ geschoben. Danach gab der Patient das Zeichen zum Eingießen der Nahrung. Eine zweite Person schüttete dann „die in einer Schale mit Ausguss vorbereitete und auf zirka 40° erwärmte Nahrung auf einmal in den Trichter, so dass ein Dazwischentreten von Luftblasen vollständig vermieden wird. Der Trichter darf dabei nur knapp über der Mundspalte stehen, so dass der Magen nicht zu rasch gedehnt wird. Denn das ist eine der häufigsten Ursachen des so oft auftretenden Brechreizes. Streng zu vermeiden sind jede aktive Beteiligung des Patienten, alle Schluckversuche, die der Patient gerne macht, und natürlich vor allem jedes Pressen der Bauchmuskulatur“. Wenn alles nichts half oder die Mundgegend zu stark geschwollen war, musste durch die Nase „oder gar Klysmen per Rectum“ ernährt werden. Davon wurde aber nur im äußersten Notfall Gebrauch gemacht, da derartige Methoden „von den Patienten sowohl physisch als auch insbesondere psychisch [als] derart unangenehm empfunden [wurden], dass sie am besten nur für ganz verzweifelte Fälle aufgespart bleiben“.185 Ein Mittel, den Verwundeten das Essen schmackhaft zu machen, war dessen ansprechende Zubereitung, wovon Tilly Weishaupt überzeugt war. Sie legte bei der Ernährung nicht nur auf deren Gehalt Wert, sondern versuchte auch, Abwechslung in die Speisefolge der Spezialnahrung zu bringen, um den Appetit der Verwundeten zu steigern. Geschirr und Aussehen des Essens spiel180 181 182 183 184 185
Vgl. Rudolf Weiser (1917), S. 12. Vgl. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 67. Tilly Weishaupt (1915), S. 700. Tilly Weishaupt (1915), S. 700. Christian Bruhn (1917), S. 50–51. MUC. Ludwig Pollak (1915), S. 67–68.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Abb. 22: Patient bei der Nahrungsaufnahme. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
Abb. 23: Patient bekommt die Nahrung verabreicht, daneben, Patient flößt sich selbst die Nahrung ein. Quelle: Christian Bruhn (1917), S. 52–53.
ten dabei ebenso eine Rolle wie der Duft, der den Appetit anregen sollte. Weishaupt berichtete, dass die Soldaten nur kurze Zeit mittels Schlauch ernährt werden müssen und, wenn man sich die „Mühe“ macht, schnell lernen zu schlucken. Des Weiteren stellte sie fest, dass sich mit dem Schlucken auch der Geschmack wieder einstellte und „damit auch wieder Freude an der Ernährung“.186 Der mangelnde Appetit war zum Leidwesen der Betroffenen nicht das einzige Problem, wie von den Ärzten bald festgestellt wurde. Weil die Ver186 Tilly Weishaupt (1915), S. 699–700.
4.3 Körperpraktiken
141
wundeten das Essen nicht ordentlich kauen konnten oder ungeeignete Nahrung zu sich nehmen mussten, kam es immer häufiger zu Verdauungsproblemen und beißendem Mundgeruch.187 Bei manchen war die Kaufähigkeit dauerhaft herabgesetzt. Das konnte zu Magenkatarrhen oder, im schlimmsten Fall, Krebserkrankungen führen.188 Versorgungsschwierigkeiten traten gerade bei jenen Verwundeten auf, die trotz heftiger Schmerzen beim Essen wieder an die Frontlinien geschickt wurden.189 Hatten die Leidtragenden Glück, wie beispielsweise Viktor Bö., wurden ihnen Sonderrationen zugewiesen, die aus einem „doppelten Mehlquantum[s] sowie 1 Liter Milch pro Tag“ bestanden.190 4.3.1.2 Die Tischgemeinschaft Nahrungsaufnahme bedeutet für viele Menschen mehr als nur schmerzfreies Essen und Kauen. Dem gesellschaftlichen Wie wird eine ähnlich hohe Bedeutung beigemessen, denn Essen ist, gerade mit Blick auf die Tischgemeinschaft, auch ein soziales Ereignis, an dem man teilnimmt oder eben auch nicht. Die Institution der Tischgemeinschaft repräsentiert ebenso die soziale Ordnung, das gemeinschaftliche Essen integriert und vergemeinschaftet, folglich kann es auch ausgrenzend sein. Davon abgesehen dient gutes Essen in angenehmer Umgebung auch der Lustbefriedigung. Die Körperpraxis Essen kann folglich als integraler Bestandteil dessen bezeichnet werden, was der Soziologe Pierre Bourdieu Habitus nannte. Für Maren Möhring ist „Essen – je nach Kontext in unterschiedlichem Maße – zugleich eine ethic, gender und class performance, welche den Zusammenhang von Essen, Körper und Macht sichtbar werden lässt“.191 Gender und class performance spielen bei Gesichtsverletzten eine wichtige Rolle, wie ich nachfolgend zeigen werde. Hinsichtlich gender lassen sich zwei Aspekte feststellen. Zum einen werden die als „Schlauchköster“ beschriebenen Patienten in den Beschreibungen gezielt in die Nähe von Kindern gerückt. Wie diese sollten die „recht missgestimmten und unter ihrer Entstellung leidenden Menschen“ durch „freundliches zu reden“ zum Essen bewegt werden. Durch eine spezielle Zubereitung herkömmlicher Gerichte „mit Lust und Liebe“ könne man dem „«Säugling»“ genügend Abwechslung gewähren und ihm so die Freude am Essen zurückgeben.192 Sabine Kienitz beobachtete in ihrer Studie Ähnliches im gesellschaftlichen Umgang mit Kriegsbeschädigten. Diese wurden, je nach Grad der Versehrtheit, „auf den kulturellen Entwicklungsstand und damit auch auf den so187 Vgl. Otto Walkhoff (1915), S. 346. 188 Vgl. Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 189 Stefan R. verfasste den Brief auf Tschechisch, eine Übersetzung liegt dem Akt bei. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915– 19.7.1915). 190 Militärärztliches Zeugnis, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 191 Maren Möhring (2012), S. 54. 192 Tilly Weishaupt (1915), S. 701.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
zialen Status von Kindern“ zurückgeworfen, da sie „in ihrer körperlichen Unbeholfenheit so zentrale Kulturtechniken wie Schreiben, Lesen oder Sprechen von Grund auf neu lernen mussten und in die Routinen des Alltagslebens auf der Basis ihrer veränderten körperlichen Bedingungen neu eingewiesen werden mussten“.193 Allgemein ist zu den Quellen zu sagen, dass Essen als wissenschaftliches Thema in den medizinischen Schriften eine untergeordnete Rolle spielte. Dieses Gebiet fiel in die Zuständigkeit der Pflegewissenschaften. Aussagen über Nährwerte oder dem fehlenden Geschmack eines Gerichts wurden nur in den Texten der beiden PflegerInnen getroffen. Der dritte Aspekt hinsichtlich gender findet sich in den Diskussionen um die Zubereitung der Spezialnahrung. Der zeitgenössischen Organisation des Haushalts entsprechend waren vor allem die weiblichen Familienmitglieder für die Essenszubereitung zuständig. Aus diesem Umstand resultierte die Vorstellung, dass verheiratete Männer einen leichteren Zugang zu Spezialnahrung hatten als unverheiratete, die eine Versorgung in Gaststätten wählten oder sich gegebenenfalls das Essen selbst zubereiten mussten. Dies hatte zur Folge, dass der Familienstand eines Verwundeten bei dessen Bewertung der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt wurde. Auch bei der Vergabe der Renten fand diese Anwendung, wie ein Beispiel aus einer Versorgungsakte zeigt: „Der Beschädigte ist ledig, Angehörige oder Verwandte hat er in Erzingen nicht. Das Mittagessen nimmt K. in einem Gasthof ein, dessen Wirt bei Zubereitung der Speisen sehr viel Rücksicht auf ihn nimmt, da K. ja nichts Hartes essen kann. Durch diesen Zustand entstehen natürlich auch Mehrausgaben. […] Aus all diesen Gründen haben wir für Kaiser die Vollrente nach RVG beantragt.“194
Probleme bei der Nahrungsaufnahme bestimmten auch das Auftreten in der Öffentlichkeit (class performance). Es gab nämlich Verletzte, aus deren offenen Wunden Speichel und Essensreste flossen. Betroffen davon waren nicht ausschließlich Verletzte in den Lazaretten sondern auch Männer, deren Wunden nicht verheilten oder deren Lippen sich aufgrund der Narben nicht vollständig schließen ließen. Von dem unkontrollierten Speichel- und Essensfluss waren auch die Epithesenträger betroffen, die für die Mahlzeiten ihre Ersatzstücke abnehmen mussten. Ein Prozess, dem sich viele nur ungern aussetzten. Einige Männer behalfen sich mit vorgehaltenen Taschentüchern, „weil sonst reichliche Speichelmengen in seinen Teller rinnen würden“195, wie ein Patient berichtete. Als hinderlich für das soziale Leben wurden auch andere „Kunstgriffe“196 beim Essen empfunden. In einem Interview berichtete mir Elisabeth Stader von den Schwierigkeiten des Vaters, dem die Zähne fehlten. 193 Kienitz (2008), S. 194–195. 194 Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen, Gau Baden, Berufung an das Versorgungsgericht Konstanz, 17.10.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 195 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten, S. 2. 196 Ganzer (1943), S. 16.
4.3 Körperpraktiken
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Seit seiner Entlassung aus der Behandlung trug er eine Zahnprothese. Trotzdem konnte er harte Lebensmittel nur essen, wenn er sie mit einer Fleischschere zerkleinerte. Diese führte er auch bei den Familienessen in Gaststätten mit sich. Karl H. lernte mit dem Handicap umzugehen und selbst die Familie gewöhnte sich mit den Jahren an die Essgewohnheiten des Vaters bzw. Mannes und an die Blicke der Anderen.197 Bei einem sozialen Ereignis wie dem gemeinsamen Essen bedeutete ein Handicap wie unkontrollierter Speichelfluss auch immer die Gefahr des Scheiterns in Hinblick auf gesellschaftliche Erwartungen und Rollenbilder. Die Fähigkeit, sich angemessen ernähren zu können, war demnach viel mehr als „eine Frage des privaten Umgangs mit einem Handicap“198. Das gemeinsame Essen und das Teilen der Nahrung stellen Gemeinschaft her und festigen die soziale Zugehörigkeit. Das gemeinschaftliche Essen ist somit auch immer eine Leitlinie für eine gelungene Sozialität, ob nun in der Gesellschaft oder im privaten Umfeld.199 Nach der Soziologin Eva Barlösius greift die Tischgemeinschaft dabei „auf habitualisierte und standardisierte Verfahren der Nahrungsaufnahme, die Tischregeln (Tischmanieren) zurück, an die alle Beteiligten (freiwillig) gebunden sind“.200 Die Andersartigkeit von Gesichtsverletzten zeigt sich an der Schwierigkeit, die eigene Selbstständigkeit bei der Ernährung aufrechtzuerhalten, die über den Esstisch hinaus den gesellschaftlichen Status des Mannes definiert. Wie der Soziologe Erving Goffman feststellte, bemühen sich viele Träger eines Stigmas darum, ihren erworbenen gesellschaftlichen Status nicht zu verlieren.201 Bei den Praktiken der Gesichtsverletzten, in der Öffentlichkeit möglichst unauffällig zu essen, lässt sich dies ebenfalls erkennen. 4.3.2 Die Sprache Es wurden bereits einige Probleme angesprochen, mit denen sich Gesichtsverletzte konfrontiert sahen. Ein großes Problem war der teilweise oder gänzliche Verlust der Sprache, mit dem viele der Verwundeten auch nach der abgeschlossenen Behandlung zu kämpfen hatten. Bei Menschen ist die Existenz von Sprache für die Selbstorganisation, die zwischenmenschliche Kommunikation und die Evolution der Ideen von außergewöhnlich großer Bedeutung. Dazu müssen wir die Fähigkeit besitzen, Symbole eindeutig zuzuweisen sowie die physiologische Voraussetzung haben, Laute von uns zu geben. Das Kommunizieren im Zusammenspiel von Mund, Kehlkopf, Zunge, Lippen und Stimmbändern in Verbindung mit den Händen und dem Körper als Ganzes202 fiel vielen der Verletzten schwer, einige behielten einen lebenslangen Sprach197 198 199 200 201 202
Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2011). Barlösius (2011), S. 174. Vgl. Barlösius (2011), S. 174 und 178. Barlösius (2011), S. 184. Vgl. Goffman (2010), S. 53–63. Vgl. Arne Klawitter (2012), S. 127.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
fehler zurück. Die Narben im Gesicht schränkten darüber hinaus die mimischen Fähigkeiten der Versehrten ein. Sie sprachen zudem meist sehr undeutlich. Ihr Sprechen wurde oft als rasselndes Geräusch oder „undeutlich und näselnd“203 wahrgenommen. Grund dafür waren Schussverletzungen des Oberkiefers, wodurch der Gaumen meist stark beschädigt, die Nase zerrissen und der Kieferknochen zertrümmert wurde. Durch die Wiederherstellung des Gaumens ergaben sich für den soldatischen Patienten eine Vielzahl von Erleichterungen bei alltäglichen Körperpraktiken,204 wenngleich nicht alle Sprachstörungen durch operative Eingriffe behoben werden konnten. Der Lehrer Karl H. beispielsweise hatte damit Probleme, Laute auszusprechen. Das Langziehen der Laute brachte ihm den Spitznamen „H.’s Kaal“ ein, wie sich ein ehemaliger Schüler erinnerte.205 Neben der Lautsprache waren durch die Verletzung und die dadurch bedingten Narben auch der Gesichtsausdruck und das Blickverhalten auf Dauer massiv gestört. Die Narbenstränge, hauptsächlich in der Mundgegend, erschwerten die Muskelbewegungen, die Gesichter wirkten daher starr und ausdruckslos.206 Hermann Gußmann, Leiter des Ambulatoriums für Stimm- und Sprachstörungen in Berlin, machte sich 1916/1917 als einer der wenigen, wie er anführte, über die sozialen Auswirkungen bei Sprachproblemen Gedanken. Sprachstörungen charakterisierte er als „antisozial oder, vielleicht besser ausgedrückt, extrasozial“, weit mehr als andere seien sie „Abweichungen von einem normalen Zustande des Körpers und seiner Leistungen“. Denn der „sprachgestörte Mensch ist des ihn mit der Gesellschaft verknüpfenden Bandes mehr oder weniger ledig“, er wurde von der Gemeinschaft ausgeschlossen und letzten Endes „zur traurigen Erscheinung[en]“207. Die Konsequenz daraus, also den Zusammenschluss von Menschen mit Sprachstörungen, kritisierte Gußmann heftig, da er in ihnen nichts anderes als die mangelnde Fähigkeit der Gesellschaft sah, mit diesem Handicap umzugehen.208 Jene, deren Sprechorgane nur verletzt und nicht zerstört waren, konnten ihre Aussprache durch gezieltes Üben verbessern. Einige Körperpraktiken mussten dazu neu erlernt werden. Im Düsseldorfer Lazarett wurde zur Ergänzung der Behandlung daher ein „Sprechunterricht mit gymnastischen Übungen“ angeboten, dessen Ziel es war, die mimischen und sprachlichen Fähigkeiten so gut und so früh wie möglich wiederherzustellen. Zu Beginn übernahm dies ein Verwundeter, der in seinem zivilen Beruf Schauspieler war und eine Sprachschule leitete.209 Später wurden für dieses Training „fachlich aus203 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917), S. 2. 204 Rudolf Weiser (1917), S. 15. 205 Vgl. Werner Ph. Trunk (2006). 206 Vgl. Rudolf Weiser (1917), S. 108; Eduard Urbantschitsch (1908), S. 522; Krankenblatt, Abschrift aus dem k. k. Festungsspital Mostar, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Nov. 1914–30. Juli 1915). 207 Hermann Gußmann (1916–1917), S. 89–90. 208 Vgl. Hermann Gußmann (1916–1917), S. 90. 209 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 36–37.
4.3 Körperpraktiken
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gebildete Künstler und Künstlerinnen des Düsseldorfer Schauspielhauses“ eingesetzt. Den Unterricht kann man sich wie folgt vorstellen: „[…] die Sprachschüler saßen da, jeder mit einem Spiegel, in dem sie beim Sprechen die richtige Bewegung, Zusammenziehung der Muskeln bei den einzelnen Vokalen und Konsonanten, beobachteten und so lange übten, bis sie die richtigen Bewegungen heraus hatten. Zungenbrechende Worte und Sätze, wie sie auch der gesunde Mensch nicht leicht über die Lippen bringt, wurden hier stundenlang gesprochen, bis sie fließend herauskamen.“210
Mehr als 5.000 Verletzte behandelte man auf diese Weise in Düsseldorf.211 Letzten Endes wurden Sprachstörungen bei der Bewertung des Rentenanspruchs ähnlich wie Essstörungen berücksichtigt. Als hinderlich stellte sich dabei der Umstand heraus, dass eine „äußerlich deutlich sichtbare Kriegsbeschädigung im allgemeinen wesentlich höher“ bewertet wurde „als Störungen an Stimme und Sprache oder am Gehör“212. Gußmann beklagte damit die offensichtliche Hierarchie der Sinne und eine damit einhergehende Überbewertung des Sehsinnes. Zu berücksichtigen sei auch die soziale Stellung der Betroffenen. Je höher diese sei, desto stärker müsse auch deren Beeinträchtigung bewertet werden, denn ein „Lehrer wird sehr schwer geschädigt“ sein, „der Lohnarbeiter auf dem Lande, ein Gärtner weit weniger“.213 Die größten Probleme mit der Sprache und dem Essen hatten jene Männer, die auf das Tragen von Gesichtsprothesen angewiesen waren. 4.3.3 Die Epithese Gesichtsprothesen, auch Epithesen genannt, kamen bei Menschen zum Einsatz, um einen sichtbaren Defekt im Gesicht zu verdecken.214 Der Hauptzweck bestand darin, kosmetische Fehler zu korrigieren, wobei das alte Gesicht in Aussehen (Form und Farbe) und Anatomie möglichst detailgetreu imitiert werden sollte. Primär ging es bei dieser Art der Prothese nicht um den Ersatz verlorengegangener Körperfunktionen, sondern um den Erhalt der Repräsentationsfähigkeit. Noch heute wird die Qualität einer guten Prothese an deren Unsichtbarkeit gemessen. Das Hauptproblem mit den frühen Epithesen war, dass sie eben nie mehr als eine Imitation waren und kaum als körperliches Ersatzstück bezeichnet werden konnten. Zunehmend war man daher bemüht, Epithesen herzustellen, die es vermochten, Gesichtsbewegungen mitzumachen. Generell wurde auf Epithesen erst dann zurückgegriffen, wenn man bei der Wiederherstellung des Gesichtes operativ nicht mehr weiter kam.215
210 211 212 213 214 215
Adalbert Oehler (1927), S. 182. Adalbert Oehler (1927), S. 182. Hermann Gußmann (1916–1917), S. 90–91. Hermann Gußmann (1916–1917), S. 90–91 und 93. Vgl. Warnekros (1915), S. 35–36. Vgl. M. Kraus (1914) 1383; Rudolf Weiser (1917), S. 17.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Die Epithesen wurden meist in den Lazaretten vor Ort angefertigt. Einige Lazarette hatten dafür eigene Werkstätten.216 Herkömmliche Prothesen wurden anhand eines Gipsabdruckes der „gesunden“ Gesichtshälfte aus Kunststoff hergestellt. Die größte Herausforderung bestand in der Imitation der Gesichtszüge, die durch flexible Gummistoffe nachgeahmt werden sollten. Für die möglichst naturgetreue Nachbildung wurden nach Möglichkeit Künstler beauftragt, die mit Ölfarben die Rohlinge bemalten.217 Große Probleme verursachte die wechselnde Hautfarbe durch Sonneneinstrahlung.218 Jede Epithese war eine Einzelanfertigung, da sie nicht in Serie, wie etwa Armprothesen, angefertigt werden konnten. Aber nicht nur die Herstellung, auch die Wartung war mit großem Aufwand verbunden, da die Spezialisten für die Produktion der Prothesen meist in den Ballungsräumen angesiedelt waren. Verwundete aus ländlichen Gebieten wurden daher mit technisch möglichst einfachen und leicht zu reparierenden Prothesen versorgt.219 Nach Kränzl (Lebensdaten unbekannt), Arzt im Reservespital Nr. 17, sollten die Prothesen so einfach gebaut sein, dass es im Notfall sogar einem Mechaniker möglich wäre, sie zu reparieren.220 Eine Alternative zu den herkömmlichen Prothesen stellten die bereits erwähnten Epithesen dar, die von den Verwundeten selbst angefertigt werden konnten. Ein sehr bekanntes Studio betrieb der Moulageur Karl Henning (1860–1917) in Wien, der hauptsächlich für das Allgemeine Krankenhaus in Wien anfertigte.221 Seine Arbeit setzte ab 1917 sein Sohn Theodor Henning (1897–1946) fort.222 Wollte man eine Henning-Prothese, so musste man sich vor Ort einfinden, denn Henning weigerte sich strikt, das Material auszuliefern.223 Die Gesichtsprothesen kann man sich als eine Art Bausatz vorstellen: die Prothese konnte je nach Bedarf mit Form und Füllmasse modelliert werden. Bevorzugt wurde Gelatinemasse verwendet, da diese, im Gegensatz zu Prothesen aus Kautschuk, Platin, Porzellan, oder Zelluloid, die Bewegungen des Gesichtes mitmachen konnten. Etwa alle acht Tage musste die Epithese, die auch in der Nacht getragen werden konnte, erneuert werden, weil die Gelatinemasse durch das Tragen einen gräulichen Farbton annahm. In den ersten acht Tagen konnte man die Verfärbungen, die auch von Staub usw. herrührten, mit einer in heißes Wasser getauchten Watte entfernen. Dazu strich man die Watte von der Mitte solange zum Rand, bis das gewünschte Resultat erzielt war. Falls notwendig, konnte man die Farbgebung erneuern. Das Gießen und Warten der Prothese sollte so einfach gestaltet sein, dass es ein jeder 216 217 218 219 220 221 222
Juljan Zilz (1915b), S.7. Vgl. Otto Walkhoff (1915), S. 347. Vgl. Warnekros (1915), S. 35. Vgl. Wunschheim (1917), S. 197. Vgl. Eduard Kränzel (1917), S. 219. Vgl. Rudolf Weiser (1917), S. 17. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Eintrag Henning, Karl, Mediziner, Bd.2 (Lfg. 8, 1958), S. 274. 223 Vgl. Warnekros (1915), S. 37.
4.3 Körperpraktiken
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mit etwas Übung fertigbringen konnte.224 Eine derartige Prothese bekam Karl H. nach den fehlgeschlagenen Nasenrekonstruktionen. Hierzu konnte er sich aus acht künstlichen Nasen eine aussuchen, die ihm am besten gefiel. Davon erhielt er eine Messingform, mit der er etwa ein Jahr lang jeden Morgen seine Nase aus „Gelatine u. Glyzerin goss mit Mastixlösung aufklebte und an den Seiten glatt strich“. Die Nase sah seiner Meinung nach „ganz gut aus“. Allerdings „erleuchtete die Nase durchsichtig“, wenn man das Licht aufdrehte. Wenn das geschah, musste H. „ein Wattebäuschchen aus der Tasche holen“ und sich „mit Krapprot und Zinkoxyd-Puder die Nase pudern“. Als dann auch noch das Glyzerin knapp wurde, entschloss er sich, nach Straßburg zu fahren, um sich eine künstliche Nase anfertigen zu lassen, die mehrere Tage hielt. Dort wurde ihm geraten, sich „mal in Berlin bei dem Nasen-Joseph225 vorzustellen, der viel Erfahrung mit Nasenkorrekturen habe“.226 H.s Epithese konnte aufgrund dessen Eigeninitiative schlussendlich durch eine sachgerechte operative Rekonstruktion der Nase ersetzt werden. All jene, die lebenslang auf Gesichtsprothesen angewiesen waren, mussten die aufwendigen Wartungsarbeiten in den Alltag integrieren. Zusätzlich galt es, die Materialien zu besorgen, die oft teuer und nur in Ballungsräumen erhältlich waren. Aber auch das Aufsetzen erforderte Übung. Die Verwundeten mussten sich mit dem Fremdkörper erst vertraut machen. Den Patienten der Poliklinik in Wien wurde daher geraten, das Tragen der Prothese vor dem Spiegel zu üben.227 4.3.3.1 Verstecken als Körperpraktik Je besser die Prothese, desto schwieriger war es, sie zu erkennen. Das oberste Qualitätsmerkmal war also deren Unsichtbarkeit,228 das im Übrigen dem Anliegen der Chirurgen, Gesichter ohne Narben und Unregelmäßigkeiten modellieren zu wollen, sehr ähnlich war. Heinrich Salomon zitiert einen Patienten, der seine Prothese als so gut beschrieb, dass „jeder, der sie sieht, glaubt, sie ist aus Fleisch und Blut“229. Ein anderer Arzt empfahl seinem Patienten, sich einen Vollbart wachsen zu lassen, damit dieser zumindest den Übergang von der Epithese auf die Haut verdecken konnte. Der Patient weigerte sich, die Haare wachsen zu lassen und entschied sich stattdessen, von nun an nur 224 Vgl. Warnekros (1915), S. 77–78. 225 Gemeint war Jaques Joseph, Gesichtschirurg in Berlin, der unter dem Spitznamen „Nasen-Joseph“ berühmt wurde. 226 Karl H. (nach 1957). 227 Vgl. Brief von der Allgemeine Poliklinik in Wien an die II. chirurgische Abteilung des Allgem. Krankenhauses, 9.9.1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten; Korrespondenz, 9.6.1917, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (21. Juli 1915–2. Mai 1917); Krankenblatt Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (19.11.1914–29.7.1915), S. 4. 228 Vgl. Otto Walkhoff (1915), S. 346–347; Leopold Gadàny (1915), S. 58; Redaktion (1916). 229 Heinrich Salomon (1916), S. 231.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
noch Kleidung mit hohem Stehkragen zu tragen. Der Arzt war von dem Ergebnis begeistert, denn vom „Übergang der Maske zu der eigenen Haut am Halse“ war „nichts zu sehen“, womit die „Täuschung […] auf eine Entfernung von 4 bis 5 Schritten vollkommen“ war.230 Die beiden Beispiele geben einen guten Einblick in die Vorstellungswelt der Ärzte von einem Leben mit optischen Makeln. Statt die Patienten auf die Konfrontation mit der Öffentlichkeit vorzubereiten, konzentrierten sie sich auf Tipps und Tricks, wie die Makel zu verstecken seien. Ein selbstbewusster Umgang mit der Entstellung sowie darauf aufbauende individuelle Lebensentwürfe waren innerhalb dieses medizinischen Konzepts nicht vorgesehen. Dabei wurde willentlich in Kauf genommen, dass die „Täuschung“ nur mit großem Aufwand und Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit einigermaßen aufrechtzuerhalten war. Dadurch wurde jedoch die Lebensqualität deutlich herabgesetzt. Verwundete, die sich der Strategie des Versteckens verweigerten, waren, sofern sie keinen privaten Rückhalt hatten, auf sich allein gestellt. Selbsthilfegruppen wie die Fondation des ‚Gueules Cassées‘ in Frankreich, die von gesichtsverletzten Soldaten 1921 ins Leben gerufen wurde und bis heute existiert,231 gab und gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Wie am Beispiel der Familie H. zu sehen ist, reagierten Personen des sozialen Umfeldes aufgeschlossener als Mediziner. Sie waren in der Lage, die körperlichen Einschränkungen des Vaters und Mannes gut in den Alltag zu integrieren.232 Bei den Körperpraktiken stand immer im Fokus, den männlichen Körper mit all seinen Funktionen wiederherzustellen. Dazu gehörten die Fähigkeiten, an gemeinsamen Essen teilzunehmen, kommunizieren zu können oder ein repräsentatives Aussehen zu haben ebenso, wie der Wunsch nach Bildung oder die Befähigung, einer Lohnarbeit nachzugehen – allesamt Aspekte des Alltages in den Lazaretten, um die es in der Folge gehen wird. 4.4 Beschäftigungskonzepte „Ich lese jetzt ziemlich viel. Und freue mich darüber. Jetzt hat man auch Zeit, mal dieses und jenes zu lesen, wozu man später nicht kommt.“ Kurt P., 1915.233
Kurt P. genoss sichtlich die Ruhe und die Freizeit im Lazarett, die er, wie er in einem Brief berichtete, oft mit Lesen verbrachte.234 Das Thema Freizeitgestaltung im Lazarett war jedoch keine Privatsache wie das einleitente Zitat von Kurt P. vermuten lässt. Vielmehr wurde sie von den behandelnden Ärzten initiiert, die von der Vorstellung getrieben waren, die Zeit im Lazarett müsse bestmöglich genutzt werden. Je nach Behandlungsstadien entwickelten sie Be230 Otto Walkhoff (1915), S. 347. 231 Der Verein unterhält eine vierteljährige Zeitschrift, die auch online publiziert wird: http://www.gueules-cassees.asso.fr/lng_FR_srub_42-le-magazine.html, 1.7.2013. 232 Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). 233 Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 16.8.1915, Kurt P. (1915), S. 64. 234 Vgl. Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 16.8.1915, Kurt P. (1915), S. 64.
4.4 Beschäftigungskonzepte
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schäftigungskonzepte für die Verwundeten. Von der anfänglichen Ruhephase über Lernzeiten bis zur Arbeitstätigkeit war jeder Schritt durchgeplant. Aufgrund der guten Quellenlage dient das Düsseldorfer Kiefer-Lazarett erneut als Beispiel, das sich aber, wie die Hinweise bei anderen zeitgenössischen Autoren zeigen, durchaus verallgemeinern lässt. Ausgangspunkt ist das Buch Und die Arbeit half uns. Die Publikation erschien etwa 1916 als 4. Band der Schriftenreihe Kulturarbeit im Lazarett und wurde von der Zentralstelle für freiwillige Liebestätigkeit235 in Düsseldorf publiziert. Die Leserschaft setzte sich aus soldatischen Patienten, einem interessierten Publikum, anderen Lazarettleitern und etwaigen Geldgeberinnen und Geldgebern zusammen.236 Diese Bücher sollten an alle Lazarette verteilt werden, da „die Schrift manche wertvolle Anregung“ enthalte: „Auch den Ärzten und Pflegepersonen wird das Studium dieses Heftchens empfohlen, da es auch für sie in mancher Weise ein Ratgeber für die Beschäftigung, Belehrung und Unterhaltung der Kranken sein kann.“237
Die Art und Weise der Einleitung von Christian Bruhn deutet darauf hin, dass ein ziviles Publikum angesprochen wurde. Ausführlich beschrieb er die Opferbereitschaft und Kriegsbegeisterung der Soldaten, die durch die Verwundung keinesfalls geschmälert sei. Die Verwundeten seien immer noch Soldaten und hätten daher Anspruch auf patriotische Hilfeleistungen. Wie auch andere Autoren von Ratgeberliteratur, die sich mit Möglichkeiten für eine angemessene Lebensweise beschäftigten, wählte Bruhn einen „patriarchal-vertraulichen Tonfall, indem [er] die ehemaligen Soldaten und Vaterlandsverteidiger [duzte] und aus der Perspektive väterlicher Autorität mit alltagstechnischen Anweisungen reglementierte“238. In den ersten Monaten der Behandlung, in denen die Verwundeten noch operiert wurden, bestand in den Operationspausen das Hauptziel darin, wieder zu Kräften zu kommen. Das war nicht nur eintönig, sondern auch sehr langwierig. Nach Vorstellungen der Ärzte war diese Ruhe zwar unbedingt notwendig, um den Heilungsverlauf zu optimieren, jedoch wirkte sich die Langeweile gleichzeitig negativ auf den Gemütszustand der Verwundeten aus. Um dem entgegenzuwirken, entwickelten die Ärzte Beschäftigungskonzepte, die sich meist an einem bürgerlichen Ideal orientierten. In Düsseldorf errichtete man Bibliotheken, die für die Weiterbildung genutzt werden sollten. Der damalige Oberbürgermeister von Düsseldorf, Adalbert Oehler, erinnerte sich in seiner Chronik über die Stadt während des Krieges an Sammelaktionen für 235 Die Zentralstelle schloss sich mit den Vereinen des Roten Kreuzes zusammen und organisierte gemeinsam die Verwundetenversorgung. Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 167. 236 Das Lazarett wurde von einem Verein getragen, der sich durch Spenden finanzierte. Vgl. Vereinssatzungen, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925). 237 Brief des Vorstandes der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz an sämtliche von der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz benutzen Heilstätten, Krankenhäuser und Invalidenheime der Rheinprovinz, Düsseldorf, 5.2.1915, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 170 238 Kienitz (2008), S. 260.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Bücher und Zeitungen, die den Lazaretten zur Verfügung gestellt wurden. Die Düsseldorfer Tageszeitung General Anzeiger versorgte das Lazarett zusätzlich mit Gratiszeitungen.239 In jeder Abteilung (jedem Haus) gab es eine Bibliothek, die von Buchspenden getragen und von Christian Bruhn sorgsam aussortiert wurde, denn der „wahllos geschenkte Unterhaltungs- und Lesestoff bedarf einer sorgsamen Sichtung […], wenn die Anregung, die man den Verwundeten geben möchte, eine für dieselben nützliche und nachhaltige werden soll“240. Im folgenden Abschnitt wurde Christian Bruhn deutlicher und schrieb von einer verpassten Chance, würde man den Soldaten, die „sonst wenig zum Lesen kommen“, während der langen Behandlungszeit nur „leichte Unterhaltung“ bieten. Stattdessen sollte man mit guten Büchern auf die Verwundeten einwirken, denn viele unter ihnen seien „ernste[r], strebende[r] Naturen“ und griffen „wo es sich bietet, gern nach dem Guten“. Bruhn sah es daher als seine Pflicht an, die Bibliotheken mit einem Lesestoff auszustatten, mit dem die Verwundeten „ihren Gesichtskreis zu erweitern und ihr Wissen zu bereichern vermögen“. Kraft dieses Bildungsanspruches mussten Lehrbücher aus den unterschiedlichen Disziplinen angeschafft werden, wozu sich die Berufsverbände und Firmen bereit erklärten. Für jene, die sich den autodidaktischen Bemühungen widersetzten – „und das sind unter einer so großen Anzahl Verwundeter naturgemäß nicht wenige“ – wurden Vorträge zu Themen wie die „Verfassung des Deutschen Reiches und des Preußischen Staates“ oder „Die Reichsbank und ihre Bedeutung für das Wirtschaftsleben“ abgehalten.241 Zusätzlich wurden Vortragsabende zu Themen wie Hygiene, venerische Krankheiten, Geschichte oder die Aufgaben eines Soldaten veranstaltet sowie Schreib- und Leseunterricht für Analphabeten organisiert.242 Mit zunehmender Nachfrage – auch aus anderen Lazaretten – organisierte man Fortbildungsveranstaltungen, an denen regelmäßig 1.000–1.200 Verwundete teilnahmen. Die Kontrolle von Anwesenheit und Ordnung während der Veranstaltung oblag den verwundeten Offizieren.243 Neben Bemühungen, die Verwundeten mit Lesestoff zu versorgen oder sie zum Besuch von Vortragsabenden zu bewegen, setzte man in Düsseldorf auch auf Unterhaltung durch Musik. Wie Christian Bruhn berichtete, organisierten die Verwundeten Theaterabende oder wirkten daran mit. Dabei achtete Bruhn penibel auf das Unterhaltungsniveau der „kunstsinnigen Veranstaltung[en]“, bei „denen hohe, edle Musik und vornehme Vortragskunst zu unseren Leuten sprach und auf sie wirkte“. Bruhn zeigte sich dabei überrascht über die hohe Partizipation und das Niveau der Verwundeten, von denen er annahm, „daß klassische Musik den Leuten nichts zu sagen habe, daß sie ihnen fremd und unverständlich bliebe. Das ist nur sehr bedingt der Fall. […] Oft musizieren 239 Vgl. Brief der Hauptgeschäftsstelle des Düsseldorfer Generalanzeigers an die städtischen Krankenanstalten, 16.1.1915, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 156. 240 Bruhn (1917), S. 71. 241 Christian Bruhn (1917), S. 72. 242 Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 195. 243 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 72.
4.4 Beschäftigungskonzepte
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die Musikbegabten unter den Verwundeten stundenlang für sich. […] Da klangen Bach und Beethoven feierlich durch die Räume, und ein großer Kreis saß andächtig lauschend um die Musizierenden. Das war auch ein Stückchen Kulturarbeit im Lazarett, das sich hier durch die Verwundeten selbst vollzog“244. Musik sollte dabei nicht nur Unterhaltung bieten, die Verwundeten sollten auch „tiefere Eindrücke wirklicher Kunst“ geboten bekommen, an der sie sich „zu bereichern Gelegenheit fanden“245. Alternativ zum eigenständigen Musikmachen wurden verwundete Musiker in die Lazarette geschickt, um dort Konzerte zu geben und „ins Lazarettleben eine reiche Abwechslung“ zu bringen.246 Finanziert wurde dies aus dem Spendentopf der Zentralstelle für freiwillige Liebestätigkeit.247 Zusätzlich gab es Gesangvereine, die „es unter der Leitung eines Lehrers zu recht guten Leistungen gebracht hatte[n]“.248 Von Christian Bruhn nicht erwähnt, auf den Alltagsfotografien aus dem Lazarett jedoch ersichtlich, sind Karten- oder andere Gesellschaftsspiele, die bei den Verwundeten „sehr begehrt“ waren und „eifrig benutzt“ wurden, wie sich der damalige Bürgermeister Adalbert Oehler erinnerte.249 Zu Bruhns Bildungskonzept mit der Inszenierung von Bürgerlichkeit hätte dies jedoch nicht gepasst. 4.4.1 Freizeitgestaltung außerhalb des Lazarettes Zur Unterhaltung und Freizeitgestaltung während der Behandlung stand den Patienten in Düsseldorf auch außerhalb der Lazarettmauern ein Angebot zur Verfügung, das ebenfalls gerne genutzt wurde.250 Zuerst jedoch musste eine Ausgangserlaubnis von der Polizei eingeholt werden. In Düsseldorf hatte jedes Gebäude eine: „[…] Polizeistube, in der der Polizeiunteroffizier untergebracht ist, eine von der Truppe abgestellte Militärperson, der in erster Linie die Aufrechterhaltung der Ordnung im Lazarett, insbesondere die Überwachung der das Lazarett betretenden und verlassenen Militär- und Zivilpersonen obliegt“.251
Zur Unterstützung wurde jedem Polizeiunteroffizier ein verwundeter Unteroffizier aus dem Lazarett zugeteilt.252 Waren diese ersten Hürden geschafft, konnten die Verwundeten das Unterhaltungsangebot nutzen. 244 245 246 247 248 249 250 251 252
Bruhn (o. J.), S. 5. Christian Bruhn (1917), S. 71. Bruhn (o. J.), S. 5. Die Zentralstelle schloss sich mit den Vereinen des Roten Kreuzes zusammen. Gemeinsam organisierten sie die Versorgung Verwundeter in Düsseldorf. Vgl. (Adalbert Oehler, 1927), S. 167. Adalbert Oehler (1927), S. 195. Adalbert Oehler (1927), S. 195. Vgl. Brief der Abteilung XII Unterbringung von Verwundeten, Kranken und Genesenden an die Reserve- und Vereinslazarette, Düsseldorf am 6.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914– 1916), S. 26. Christian Bruhn (1917), S. 22. Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 22.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Das Residenz-Theater und andere „Lichtspieltheater“ in Düsseldorf boten Gratisvorstellungen für Verwundete an.253 Das Residenz-Theater bot zum Beispiel ein „vorzüglich[es] patriotische[s]“254 Programm, das „Freitag nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr“ stattfand.255 Die allgemeinen städtischen Krankenanstalten organisierten sonntägliche „Gesangsvorträge“ „zwischen dem Badehaus und Bau XXI“, zu denen Verwundete der Lazarette eingeladen waren. Die Konzerte fanden vormittags und nachmittags statt.256 Für Unternehmungslustige gab es kostenlose „Rheindampfschifffahrtsgesellschaften“ oder die Möglichkeit, die Museen der Stadt bei freiem Eintritt zu besuchen, „so daß sie die vielen Schätze der Kunststadt betrachten und genießen konnten“257. Auch Kurt P. und Karl H. berichteten von regelmäßigen Museumsbesuchen mit Freunden während ihrer Behandlungszeit in Berlin.258 Entgegen Bruhns Wunschvorstellung nutzten viele der Verwundeten ihre Freizeit jedoch nicht dazu, „kunstsinnigen“ Veranstaltungen beizuwohnen, sondern für Wirtshausbesuche, bei denen einige „das rechte Maß“ nicht einhielten, wie der ehemalige Bürgermeister rückblickend beklagte.259 Die Errichtung von „Erholungsstätten“ wirkte dem entgegen, da es die Verwundeten auch außerhalb des Lazarettes unter Aufsicht stellte, wenn sie sich „mit Freunden und Bekannten aus anderen Lazaretten“ trafen. In den „Erholungsstätten“ wurde, unter der Leitung der Frau des Bürgermeisters, für (kontrollierte) Unterhaltung und Verpflegung gesorgt. Anstandsdamen hatten die Aufgabe, den Verwundeten ein gemäßigtes Konsumverhalten beizubringen. Zu ihren weiteren Pflichten gehörte zudem, ein „williges Gehör“ für die Sorgen der Verwundeten zu haben.260 Kurt P. nutzte seine freie Zeit neben den Museumsbesuchen und Stadtspaziergängen dazu, die in dieser Arbeit zitierten Briefe zu verfassen oder Bekannte und Verwandte zu besuchen, die in Berlin lebten.261 Den Verwundeten stand es frei, die sonntäglichen Gottesdienste zu besuchen [vgl. Abb. 24]. Grundsätzlich sollte es für alle Glaubensrichtungen ein Seelsorgeangebot geben, so hat man in der Kriegszahnklinik in Lublin sowie im Düsseldorfer Kiefer-Lazarett die Möglichkeit, christlichen und evangelischen Gottesdiensten beizuwohnen.262 Für Verwundete jüdischen Glaubens 253 Vgl. Ausschreiben Ausschreibung der Abteilung XXI: Bücherei und Heimatpost, Düsseldorf 4.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 25; Brief der Abteilung XII Unterbringung von Verwundeten, Kranken und Genesenden an die Reserve- und Vereinslazarette, Düsseldorf am 6.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 26. 254 Residenz-Theater an die Städtischen Krankenanstalten, 9.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 27. 255 Vgl. Residenz-Theater an die Städtischen Krankenanstalten, 9.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 27. 256 Konzertplan, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 51. 257 Adalbert Oehler (1927), S. 201. 258 Vgl. Elisabeth Stader (Oktober 2012); zu Kurt Po vgl. Kapitel 6: „Lebensentwürfe“. 259 Adalbert Oehler (1927), S. 182. 260 Adalbert Oehler (1927), S. 199. 261 Vgl. Kurt P. an Frau J., Charlottenburg, 29.5.1916, Kurt P. (1916), S. 41–44. 262 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 70; Fotografie von Verwundeten in einer Kirche, Juljan Zilz (1914–1918).
4.4 Beschäftigungskonzepte
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Abb. 24: Fotografie von Verwundeten in einer Kirche. Quelle: Juljan Zilz (1914–1918).
kam regelmäßig ein Rabbiner in das Lazarett.263 Das Angebot, die eigene Religion auszuüben, galt auch für Kriegsgefangene. Die Seelsorger hatten die Aufgabe, den Verwundeten bei der Überwindung ihrer Kriegserlebnisse beizustehen, sie wieder „aufzurichten“ und „tröstende Worte“ zu finden, wie Christian Bruhn beschrieb.264 263 Vgl. Brief des Rabbiners Dr. Eichelbacher an die Lazarette in Düsseldorf, 18.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916). 264 Christian Bruhn (1917), S. 70.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Die unterschiedlichen Beispiele der Freizeitgestaltung zeigen, dass viele Lebensbereiche von der Lazarettleitung organisiert und durch das Lazarettpersonal überwacht wurden. Welche längerfristigen Auswirkungen auf den Alltag eines jungen Mannes damit verbunden waren, soll im Folgenden am Beispiel des Verwundeten B. gezeigt werden. Exkurs: Soziale Auswirkungen einer Langzeitbehandlung Der im Ersten Weltkrieg am Kiefer verletzte Patient B. befand sich noch 1923 in Nachbehandlung in der Westdeutschen Kieferklinik, der Nachfolgeinstitution des Düsseldorfer Kiefer-Lazarettes. Aufgrund seiner Kriegsversehrtheit wurde sein Aufenthalt vom zuständigen Versorgungsamt bezahlt. Während der mehrjährigen Behandlung hatte B. ein Verhältnis mit der dort arbeitenden Krankenpflegerin Maria S. Die Zimmerkollegin von Maria S. fühlte sich von den beiden gestört und legte bei ihren Vorgesetzen eine Beschwerde ein, die einen Disziplinarfall ins Rollen brachte. Der Auslöser war ein Besuch von B. im Zimmer der beiden Krankenpflegerinnen.265 Die Beschwerde hatte weitreichende Konsequenzen: Maria S. musste ihre Stellung aufgeben und B. wurde am 29. Dezember 1923 aus der Behandlung entlassen. Stationär sollte er erst wieder aufgenommen werden, wenn die nächste Operation anstünde.266 Zwei Monate nach dem Vorfall wandte sich B. an Christian Bruhn mit der Bitte um Wiederaufnahme in die Klinik: „Am 29. Dezbr. 1923 mußte ich, da ich gegen die Hausordnung verstoßen, aus der Westdeutschen Kieferklinik entlassen werden. Meine Behandlung ist noch nicht abgeschlossen. Da ich schon einige Jahre in ärztlicher Behandlung stehe, möchte ich keine Zeit versäumen mich vollständig heilen zu lassen. In dem gegenwärtigen Zustande ist es mir auch nicht möglich einer Beschäftigung nachzugehen. Meine Mutter hat auch kaum Erwerbslohn zu Hause.“267
In dem Zitat wird deutlich, welche sozialen Auswirkungen eine Langzeitbehandlung auf den Lebenslauf und die Selbstständigkeit eines Mannes haben konnte, denn B. sah sich aufgrund der langjährigen Behandlung außer Stande, sich selbst zu versorgen. Obwohl Christian Bruhn die Wiederaufnahme bewilligte, verweigerte der Direktor der Allgemeinen städtischen Krankenanstalten diese mit der Begründung, dass „B. zunächst noch nicht operiert werden müsse und eine Aufnahme daher vorläufig noch nicht in Frage komme. Darüber hinaus empfahl er eine Zurückstellung, weil B. sich auch vor dem Vorgang, der zu seiner Entlassung geführt hatte, ordnungswidrig betragen habe“268. Die Reaktion des Vorstandes auf das Handeln von B. kann in diesem Kontext als paternalistische Bestrafung gewertet werden. Darüber hinaus verweigerte der Direktor B. die notwendigen Papiere für das Rentenverfahren. Als eine Büroange265 Vgl. Aussageprotokoll Ida Kl. am 24.12.1923. Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 2. 266 Vgl. Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 2–3. 267 Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 4. 268 Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 5.
4.4 Beschäftigungskonzepte
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stellte den Bitten von B. auf Ausstellung der Unterlagen nachgab, musste sie sich gegenüber dem Direktor der Allgemeinen städtischen Krankenanstalten verantworten.269 Im April 1924 gelang es B. schließlich, die Wiederaufnahme in die Behandlung zu erwirken. Dazu musste er eine schriftliche Erklärung abgeben, dass er die „Vorkommniße“270 bedauere, sich zukünftig an die Regeln halte und bei Verstoß umgehend aus der Behandlung entlassen werden konnte. Reumütig verfasste B. am 17. April 1924 das Schreiben: „Für die Genehmigung der Wiederaufnahme in die Westdeutsche Kieferklinik bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich werde mein Betragen künftig so einzurichten wissen, daß Sie zu irgendwelchen Klagen keinen Anlaß haben werden. Es ist mir bekannt, daß bei dem geringsten Verstoß gegen die Hausordnung jederzeit ohne Rücksicht auf meinen Zustand eine Verlegung in die Chirurgische Klinik der Allgemeinen Krankenanstalten erfolgen kann, welche Maßnahmen ich als bindend anerkenne.“271
Das Verhalten von B. wurde in der Folge in regelmäßigen Abständen kontrolliert und protokolliert.272 Wie dieses Beispiel zeigt, konnten Langzeitbehandlungen weitreichende Folgen für die Lebensentwürfe der Betroffenen haben. Im Fall von B. wird ersichtlich, dass sein gesamtes soziales Leben innerhalb des Lazarettes stattfand, die Disziplinierung und Entlassung aus der Behandlung machten seine Unselbständigkeit augenfällig. Durch den langen Lazarettaufenthalt hatte er weder einen Wohnort noch einen Arbeitsplatz und war auf die Unterstützung seiner Mutter bzw. auf staatliche Versorgung angewiesen. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Ärzte selbst nach dem Krieg keine Scheu hatten, disziplinierend auf die Verwundeten einzuwirken. Hier kommt das gesamte Ausmaß von Kontrolle, Fremdbestimmung und der finanziellen Abhängigkeit der Betroffenen zum Ausdruck. Ein gewisses Maß an Selbstständigkeit konnten die Verwundeten allerdings durch Lohnarbeit während der Behandlung erlangen. 4.4.2 Lohnarbeit „Sorgende Liebe den Schwerkranken und Schwachen, Arbeit den wieder Kräftigen und Gesunden, dann weht ein guter Geist im Lazarett!“ Juljan Zilz, 1917.273
Mit dem hier zitierten programmatischen Satz endete die Rezension von Juljan Zilz über die Beschäftigungskonzepte im Düsseldorfer Lazarett für KieferVerletzte, in der er besonders die im Lazarett eingerichteten Werkstätten her269 Vgl. Protokoll ausgestellt für Christian Bruhn am 8.4.1924, Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 7. 270 Brief B. an den Direktor der Städtischen Krankenanstalten am 12.4.1924, Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 8. 271 Brief an B., 14.4.1924, Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 8–9. 272 Es finden sich Eintragungen bis zum Februar 1925. Unterlagen zum Fall B., Stadtarchiv Düsseldorf (1925–1927), S. 11. 273 Juljan Zilz (1917a), S. 420.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
vorhob. Das Konzept der Lohnarbeit im Lazarett als Teil der Beschäftigung von Verwundeten fand auch in Wien im dortigen Reservelazarett Nr. 17 Anwendung.274 Ähnlich dem Modell der Unterhaltung während der Behandlung stand auch bei den Beschäftigungskonzepten der medizinische Nutzen im Vordergrund. Vertraut man den Worten von Bruhn, hatte die Arbeit primär einen psychologischen Wert. Sie sollte eine bei den Schwerkranken noch nicht vorhandene, bei den Genesenden jedoch immer deutlicher hervortretende „Disharmonie“ vermindern. Wenn „der Gesamtorganismus sich völlig erholt hat und förmlich schreit nach der gewohnten Ausnutzung aller Kräfte“, sollte die Beschäftigung durch Arbeit einsetzen. Arbeit als „mächtige Helferin“ schuf nach Bruhns Ansicht die „besten und gesündesten Impulse des Alltags“, indem sie das Selbstwertgefühl der Verwundeten hob, die unter der Angst von Nutzlosigkeit litten. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn beschäftigte man die Verwundeten durch „unterhaltende Arbeit“, bei der sie „unter Leitung in Kunstgewerblichen Arbeiten erfahrener Damen“ mit „viel Freude […] sehr hübsche Dinge“ anfertigten. Von deren Nutzen war man allerdings bald nicht mehr überzeugt, denn diese hatten „für die noch nicht wieder Leistungsfähigen ihren hohen Wert, bring[en] aber dem wieder zu Kräften Gekommenen nicht diejenige Befriedigung, die jeder tüchtige Mann durch die richtige Anwendung seines Könnens in seiner Arbeit sucht“275. Diese Wahrnehmung war für Bruhn der Startschuss zur Errichtung von Lazarettwerkstätten, landwirtschaftlichen Nutzflächen und Versorgungseinrichtungen. In ihnen sollten die „wieder zu Kräften Gekommenen […] ernster Arbeit“276, sprich männlicher Arbeit nachgehen, denn der „einfache Mann, der primitiv empfindet, kann nicht auf dem Umweg über die Erkenntnis eines inneren Nutzens für seine Persönlichkeit zu einer Befriedigung“ durch die Tätigkeit selbst kommen, wie Bruhn feststellte.277 Im Idealfall sollten die Verwundeten die Möglichkeit bekommen, sich in ihrem angelernten Beruf zu betätigen. 4.4.2.1 Medizinische Berufe Ein mögliches Betätigungsfeld bot sich in der Unterstützung des medizinischen Personals bei administrativen Aufgaben, um den Normalbetrieb im Lazarett trotz ständiger Expansion gewährleisten zu können [vgl. Abbildung 25 und 26].278 Daneben wurden Verwundete auch für die Dokumentation der 274 Vgl. Krankenblatt Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (28. Sept. 1914–18. Jan. 1918); Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (7.8.1917–27.8.1917), S. 1; Bernhard Steinberg (1916), S. 329; S. Schaar (1917), S. 267. 275 Bruhn (o. J.), S. 4–5. 276 Christian Bruhn (1917), S. 60. 277 Christian Bruhn (1917), S. 60. 278 Jede Abteilung hatte ein „Geschäftszimmer“ mit jeweils einer Schreibkraft und einem „geeigneten Verwundeten“, Christian Bruhn (1917), S. 22; Vgl. auch Reservelazarett Nr. 1 in Wien; Max Gratzinger (1915), S. 345.
4.4 Beschäftigungskonzepte
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Abb. 25: „In der Schreibstube des Lazarettes (Abt. Sternstraße)“. Quelle: Bruhn (o. J.), S. 7.
Abb. 26: „Wissenschaftliche Aufnahmen (Abt. Sternstraße)“. Quelle: Bruhn (o. J.), S. 8.
Behandlungen eingesetzt, welche die Grundlagen für nachfolgende medizinische Forschungen stellten. Hierbei kamen vor allem kaufmännisch ausgebildete Patienten, die auch für das Verfassen der von der Militärverwaltung ver-
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
langten Listen, Berichte und Schriftsätze zuständig waren, zum Einsatz. Darüber hinaus galt es, das „sich täglich mehrende wissenschaftliche Material zu sammeln und zu sichten, das sich auf dem großen und gewissermaßen neu erschlossenen Arbeitsgebiet“ ergab. Die Verwundeten transkribierten Aufnahmebefunde und Krankengeschichten nach dem Diktat der Ärzte und hielten, wie Bruhn anmerkte, die „Ergebnisse unserer Arbeit in übersichtlicher Ordnung“.279 Ergänzend dazu halfen Verwundete bei bildgebenden Verfahren. Gleich nach den ersten Kriegsmonaten wurde in Düsseldorf eine fotografische Abteilung eingerichtet, die mit der Aufnahme von „interessanten Bilder[n] der verschiedenen Kieferverletzungen in allen Stadien des Heilverlaufs“280 betraut war. In dieser Abteilung arbeitete als Fotograf ein Verwundeter, der vor dem Krieg als Zeichner tätig gewesen war [vgl. Abbildung 26]. Geleitet wurde die Abteilung von einer Berliner Fotografin.281 Die Fotografien und Zeichnungen wurden 1931 für den „I. Internationalen Stomatologenkongress in Budapest“ aus Mitteln des „städtischen Hilfsfond der Akademie“ restauriert und später als Sammlung Bruhn zum fixen Bestandteil des klinischen Unterrichts.282 Verwundete, die über medizinisches Wissen verfügten oder vor dem Krieg im Begriff waren, ein Medizinstudium zu absolvieren, wurden mit medizinischen Aufgaben in den Lazarettbetrieb eingebunden. So übernahm ein Patient im Wiener k. u. k. Reservespital 1 die Röntgenaufnahmen283. Kurt P., der sein Medizinstudium während der Behandlung weiterführte, wurde vom medizinischen Leiter des Lazarettes in Langensalza mit medizinischen Aufgaben betraut. Seiner späteren Frau berichtete er brieflich über seine Tätigkeit im Lazarett: „Dr. K. beschäftigt mich, wo er kann, und ich helfe ihm auch sehr gerne. Er verlangt nämlich nicht nur Hilfe, sondern hilft einem auch selber, was man nicht versteht, erklärt er einem in sehr liebenswürdiger Weise – so lerne ich bei ihm ziemlich viel. Ich helfe beim Verbinden, beim Bewegen, Massieren etc. der vielen steifgewordenen Finger, Ellenbogen, Schulterbeingelenke und auch bei den öfter vorkommenden Operationen.“284
Nach dem Krieg schloss P. sein Medizinstudium ab und spezialisierte sich als Zahnarzt. Wie er selbst schrieb, war das während der Behandlung erlernte Wissen an seinem beruflichen Werdegang maßgeblich beteiligt.285 Der Großteil der Verwundeten wurde nach Talent und vorheriger Berufstätigkeit in den verschiedenen Handwerken im Lazarett beschäftigt.
279 280 281 282
Bruhn (o. J.) S. 7. Bruhn (o. J.), S. 8. Vgl. Bruhn (o. J.), S. 8. Vgl. Korrespondenz zwischen Christian Bruhn und verschiedenen Empfängern, 2.7.1931–2.3.1932, Stadtarchiv Düsseldorf (1932–1933). 283 Vgl. Max Gratzinger (1915), S. 345. 284 Kurt P. an Frau J., Langensalza, 26.1.1916, Kurt P. (1916), S. 13–14. 285 Vgl. Kurt P. an Frau J., Charlottenburg, 29.5.1916, Kurt P. (1916), S. 41–44; Vgl. Kurt P. an Frau J., 26.1.1916, Kurt P. (1916), S. 13–14.
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4.4.2.2 Handwerkliche Berufe Die Idee, im Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte Werkstätten einzurichten, entstand aus der Notwendigkeit der Wartung und Instandhaltung der Einrichtungsgegenstände des Lazarettes. Ohne den Einsatz der Arbeitskraft der Verwundeten wäre dies nicht zu bewerkstelligen gewesen, wie Christian Bruhn verklärend schilderte: „[W]o Arbeit war, fanden sich kräftige Hände, sie zu verrichten. So hatten wir bei Einrichtung einer neuen Lazarettabteilung hundert eiserne Bettstellen, die in ihrem rostigen Unschönen den Augen der Schwestern mißfielen, deren Sinn nach gleichmäßig blanker Sauberkeit steht. Ein Freund des Lazarettes schenkte uns weiße Farbe, und einige Anstreicher fanden sich schnell unter unseren Verwundeten, die Betten in tadelloser Weise zu streichen. Zu ihnen gesellte sich eine Anzahl ungelernter Leute, so daß bald eine ganze Anstreicherkolonne fleißig am Werk war und es gar nicht lange dauerte, bis unsere hundert Betten im schönen Weiß erstrahlten.“286
Das System der (freiwilligen) Partizipation von Verwundeten zur Aufrechterhaltung des Lazarettbetriebes wurde nach der „Anstreicherkolonne“ sukzessive auf andere handwerkliche Berufe ausgedehnt. So errichtete man auf dem Lazarettgelände eine Tischlerei, deren Einrichtungsgegenstände, Werkzeuge und Rohstoffe zum Teil durch Spenden und zum Teil durch die Eigenmittel des Lazarettes finanziert wurden. Unter den mehreren Hundert Verwundeten befanden sich einige „richtige Tischler“, die „gern zugriffen“287 und nicht nur die vorhandenen Möbel warteten, sondern diese im Bedarfsfall auch bauten, wie Bruhn stolz berichtete: „Bald mußte die Operationsschwester einen Schrank für ihr Verbandszeug haben, bald bat das Wirtschaftsfräulein um ein Regal für die Vorratskammer. Tischlerarbeit war stets vonnöten. Von früh bis spät flogen die Hobelspäne und ächzte die Säge.“288
Mit Schwung und Elan, so die Intention des Verfassers, wurden die Möbelstücke und schließlich auch Einrichtungsgegenstände für weitere Werkstätten von den Verwundeten selbst hergestellt. Als Nächstes wurde eine Schuhmacherei errichtet, in der fünf Kieferverletzte die Schusterarbeiten für die Soldaten und das Personal ausführten. Größtenteils wurden Uniformstiefel repariert, die durch den Einsatz an der Front verschlissen waren. Kriegszwecken noch dienlicher war die Korbmacherei des Lazarettes, in der Munitionsbehältnisse für große und Halteklappen für kleinkalibrige Geschosse angefertigt wurden. Bei den Mitarbeitern handelte es sich meist um ungelernte Arbeitskräfte, die vor Ort eingewiesen wurden [vgl. Abbildung 27]. Leiter der Werkstätten war ein Verwundeter, der zuvor Taubstummenlehrer gewesen war und in „seiner Friedenstätigkeit in der Anstalt, an der er tätig war, Werkstätten geführt und die Beschäftigung der Zöglinge geleitet hatte“. Neben betriebswirtschaftlichen Aufgaben übernahm er auch das Personalwe286 Bruhn (o. J.), S. 9. 287 Bruhn (o. J.), S. 9–10. 288 Bruhn (o. J.), S. 9–10.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Abb. 27: links Schuhmacherwerkstatt, rechts Korbmacherei. Quelle: Bruhn (o. J.), S. 9–11.
sen. In diesem Kontext bedeutete das, sich darum zu kümmern, „die Leute gut an die Arbeit zu bringen und an ihr zu halten“289. Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, jedoch nicht abschließend beantwortet werden kann, ist die nach der Freiwilligkeit der Beteiligung an der Arbeit in den Werkstätten. In Christian Bruhns Schriften ist vom „guten Geist“ in den Lazaretten die Rede, der von allen durch ihre Arbeitskraft gefördert wurde. Verena Pawlowsky und Harald Wendelin analysierten in einer historischen Studie zum Versorgungswesen in der k. u. k. Armee die Situation in den österreichischen Invalidenschulen, welche direkt an die Reservespitäler angegliedert waren. Die beiden Einrichtungen sind vergleichbar, weil die Klinikleitungen prinzipiell davon ausgingen, dass die Verwundeten ihre Arbeitskraft freiwillig zur Verfügung stellten. Verwundete in Österreich, die noch nicht aus dem Heeresdienst entlassen waren (superarbitriert), standen jedoch weiterhin unter militärischer Befehlsgewalt. Die Behörden waren davon überzeugt, dass es ohne den dadurch ausgeübten Druck „ungleich schwieriger gewesen [wäre], die einerseits mutlosen, andererseits widerstrebenden Verletzten überhaupt zur Aufnahme einer Beschäftigung zu bewegen“290. In Düsseldorf setzte man neben der geäußerten Erwartungshaltung der Klinikleitung, sich an den Maßnahmen zu beteiligen, auch auf Entlohnung der Arbeit. Für die Verwundeten wurde damit neben der Solidarität mit den Soldaten an der Front ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, sich an den Arbeiten in den Werkstätten zu beteiligen. Die Entlohnung wurde durch den Verkauf der im Lazarett hergestellten Produkte finanziert, die in der Abbildung 26 aufgelistet sind. Den größten Ertrag erzielten die kriegswirtschaftlich wichtigen Korbmacherarbeiten. Im Zeitraum vom 1. Mai 1915 bis zum 15. August 1916 nahmen die in dieser Abteilung tätigen 56 Verwundeten 18.664,63 Mark ein, wovon 14.405,45 Mark auf die Sparbücher der Verwundeten eingezahlt wurden. Im Vergleich dazu erwirtschafteten die Schuhmacher im selben Zeitraum 2.104,00 Mark und die Schneider lediglich 729,36 Mark [vgl. Abb. 28].291 289 Bruhn (o. J.), S. 10. 290 Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 377. 291 Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 63.
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Abb. 28: Christian Bruhn (1917), S. 63.
Ausschlaggebend für die finanzielle (Un-)Abhängigkeit war allerdings das von Christian Bruhn entwickelte Auszahlungssystem. Wie in der Tabelle ersichtlich, wurde bei den Einkünften zwischen einem erwirtschafteten Brutto-Betrag (Gesamtverdienst) und einem Netto-Betrag, der auf Werkstätten-Konten eingezahlt wurde, unterschieden. Den Arbeitern stand der größte Teil des erwirtschafteten Netto-Betrages zu. Frei verfügen konnten sie über diesen jedoch nicht, wofür Christian Bruhn mit einem paternalistischen Entlohnungssystem sorgte. Er beschloss, den Arbeitern lediglich einen Teil ihres Gehaltes auszuzahlen und den anderen Teil auf ein für jeden Arbeiter angelegtes Sparkassenbuch zu überweisen, um damit zu verhindern, dass die Verwundeten „ihren Verdienst leichthin aus[zu]geben“. Verwendet werden sollte das Geld für „Anschaffungen oder für Unterstützungen ihrer Angehörigen“ und nicht für Wirtshausbesuche bzw. unsachgemäßen Konsum im Allgemeinen.292 Das hätte seiner Meinung nach für die „Erhaltung der Disziplin im Lazarett eine große Gefahr bedeutet“293. Darüber hinaus gab es auch Verwundete, die einer Lohnarbeit außerhalb des Lazarettes nachgingen. Sie arbeiteten hauptsächlich in Betrieben, die der Kriegswirtschaft dienten oder in Werkstätten, die ihre FacharbeiterInnen
292 Bruhn (o. J.), S. 11. 293 Christian Bruhn (1917), S. 67.
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durch den Fronteinsatz verloren hatten.294 Mit Fortdauerdes Krieges wurde die Arbeitskraft der Verwundeten immer begehrter, 1916 wurde vom Stellvertretenden Generalkommando des VII. Armeekorps diesbezüglich angeordnet, dass all jene, die arbeitsfähig seien, in Betrieben tätig werden sollten. In der Kiefer-Klinik war man von Anfang an darum bemüht, möglichst viele arbeitsfähige Verwundete in kriegswichtigen Betrieben unterzubringen, allerdings mit der Einschränkung, dass die Verwundeten für ärztliche Behandlungen jederzeit freigestellt werden konnten und es ihnen ermöglicht werden musste, sich entsprechend der Vorgaben aus dem Lazarett zu ernähren. Die Höhe des Lohnes wurde zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer ohne Einfluss der Lazarettleitung vereinbart. Ähnlich dem Entlohnungssystem im Lazarett wurde ein Teil des Geldes ausbezahlt und der Rest auf ein Konto transferiert, über das Christian Bruhn bzw. das Verwaltungspersonal verfügten. Der Bargeldverdienst belief sich auf fünf Mark in der Woche, jeder Verdienst darüber wurde auf die Sparkonten überwiesen.295 Die auswärtigen Arbeitsplätze verursachten jedoch Probleme und wurden bald aufgegeben. Der ausschlaggebende Konfliktpunkt war die Höhe der Entlohnung, wie sich der ehemalige Bürgermeister erinnerte. Die Handwerksmeister der Betriebe wollten einen niedrigeren Lohn veranschlagen, weil die Verwundeten freie Kost und Logis im Lazarett hatten und zudem nicht voll leistungsfähig waren.296 Von den Diskussionen im April 1916 waren 144 Arbeiter betroffen, die in den Betrieben außerhalb des Lazaretts tätig waren sowie 87 im Lazarett Beschäftigte. 44 Verwundete nahmen an Weiterbildungsprogrammen teil und 73 gingen einer Arbeit in den krankenhauseigenen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieben nach.297 4.4.2.3 Landwirtschaftliche Berufe Neben handwerklichen und administrativen Berufen bestanden weitere Betätigungsfelder im Garten- und Gemüsebau sowie in der Viehzucht [vgl. Abbildung 29] und den damit zusammenhängenden Berufen wie der Metzgerei. Wie die Werkstätten, erwies sich auch der landwirtschaftliche Betrieb als durchaus erfolgreiches Projekt. So konnten in einem Jahr „1000–1200 Zentner“ (das entspricht 50 bis 60 Tonnen) Kartoffeln geerntet werden.298 Der erwirtschaftete Ertrag aus der Landwirtschaft wurde anhand der jeweiligen Arbeits- und Stundenbeteiligung jedes Verwundeten verteilt und ausbezahlt. Für den Gemüsebedarf des Lazarettes mietete man am Rheinufer ein Grundstück an. Man fand dabei Unterstützung von der Bevölkerung und bei einer „tatkräftige[n] Gönnerin“, die darüber hinaus die Leitung des Anbaus 294 295 296 297 298
Vgl. Bruhn (o. J.), S. 11. Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 66. Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 190. Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 68. Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 64–65.
4.4 Beschäftigungskonzepte
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Abb. 29: „Im Garten der Lazarettabteilung Sternstraße“. Quelle: Christian Bruhn (1917), S. 64–65.
übernahm. Angebaut wurden hauptsächlich Kartoffeln. Auf den restlichen Anbauflächen pflanzte man Erbsen, Bohnen, Kohlrabi, Spinat, Salat, Radieschen, alle Kohlsorten und Wintergemüse.299 In der landwirtschaftlichen Arbeit erkannte Bruhn neben dem betriebswirtschaftlichen Nutzen auch einen für die Heilung: „Wer der fröhlichen Arbeit unserer Verwundeter dort zuschaut, wird uns sicher darin beistimmen, daß auch diese Arbeit helfen muß, die körperliche Gesundung der Leute zu fördern und den Geist im Lazarett gesundzuhalten. Und darauf kommt es uns an.“300
In der Düsseldorfer Stadtverwaltung war man von dem Konzept der Eigenversorgung des Lazarettes überzeugt. Bedenken äußerte man hingegen hinsichtlich der schwierigen Kontrolle der Verwundeten während der Arbeit auf den Feldern. Zudem würden sich der „Verkehr von weiblichen Personen [und] auch der Alkoholkonsum bald einstellen“301. Dieses Problem bestand bei der direkt am Lazarettgelände angesiedelten Viehzucht nicht. Die große Menge an Küchenabfall machte es möglich, eine Schweinezucht zu unterhalten. Die Verwundeten zogen die Schweine auf und schlachteten sie in der eigenen Metzgerei. Das überschüssige Fleisch wurde verkauft, womit für die „Lazarettkasse“ ein „Reinverdienst von über tausend Mark“ erwirtschaftet wurde.302 Bis zum Jahr 1917 wurden „45 Zentner Schlachtgewicht“ (das entspricht 2,30 Tonnen) verarbeitet.303 Für all jene, die nicht in Werkstätten arbeiten konnten oder wollten, bestand die Möglichkeit, im Lazarett oder in Einrichtungen der Stadt an Weiteroder Ausbildungen teilzunehmen.
299 Bruhn (o. J.), S. 14–15. 300 Bruhn (o. J.), S. 15. 301 Der Direktor der städtischen Krankenanstalten gegenüber der Zentralstelle der freiwilligen Liebestätigkeiten Rathaus in Düsseldorf, 2.5.1916, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1916– 1917). 302 Bruhn (o. J.), S. 12. 303 Christian Bruhn (1917), S. 65.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
4.4.2.4 Lehrbetrieb im Lazarett „Ich habe durch meine Verwundung fast ganz meine Sprache verloren, und da muß ich wahrscheinlich auch einen anderen Beruf wählen.“ Fritz Koberstein, 1915304
Verwundete, die sich umschulen, aus- oder weiterbilden wollten bzw. mussten wie Fritz Ko., konnten dies in den Industriebetrieben der Stadt Düsseldorf tun. Daneben wurden Lehrplätze in den Werkstätten des Lazarettes eingerichtet305 und der Schulbesuch in den städtischen Gewerbe- und Handelsschulen oder einer der Invalidenschulen ermöglicht.306 Dieses Angebot wurde auch als Gelegenheit gesehen, die eigenen körperlichen Möglichkeiten nach der Verwundung auszuloten.307 In den Jahren 1915 bis 1916 wurden in Düsseldorf wöchentlich 700 Unterrichtsstunden gegeben, an denen knapp 2.000 soldatische Patienten teilnahmen.308 Zusätzlich gab es noch die Möglichkeit, eine der Berufsberatungsstellen aufzusuchen.309 Besonders gefördert wurden jene Kriegsversehrten, die ihre vor dem Krieg begonnene Ausbildung fortsetzen wollten, insbesondere, wenn dadurch der zunehmende Fachkräftemangel geschmälert werden konnte. Dazu zählte im Speziellen der Arztberuf. Kurt P., der während der Behandlungszeit über einen Berufswechsel nachdachte, wurde durch Anreize, eine militärische Karriere machen zu können, von einer Umschulung abgebracht. Über seine Entscheidungsgründe schrieb er in einem Brief: „Es waren mehrere Gründe. Am meisten hat mich der Erlaß dazu bewogen. Nach diesem können Medizinstudierende mit 2 Semestern im Sanitätsdienst bis zum Vizefeldwebel kommen. Da ich nun die Absicht habe, mich nach der Lazarettentlassung zum Sanitätsdienst zu melden, mußte ich zu meinem ersten Semester (S-Semester 14) unbedingt noch eins dazu haben. Die Gelegenheit war ja nun sehr günstig: ich bin in Berlin und habe Zeit und außerdem ein erklärliches Bedürfnis nach geistiger Beschäftigung.“310
Viele der Verwundeten unterlagen wie Kurt P. vor dem Krieg noch der Schulpflicht oder standen am Beginn einer Ausbildung. Die Arbeit und Ausbildung in den Werkstätten oder in den Betrieben konnte dabei als Orientierung helfen, auch jenen, die durch ihre Verletzung den Beruf nicht wechseln mussten.311 War dies aber doch der Fall, wurde den Versehrten der Besuch einer Invalidenschule nahegelegt. In der k. u. k. Monarchie litten die Invalidenschulen unter einer geringen Teilnehmerzahl, da es die Verwundeten vorzogen, so schnell als möglich in die Heimat zurückzukehren. Viele der Kriegsbeschädigten waren zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Armee entlassen. Staatliche 304 305 306 307 308 309 310
Fritz Koberstein (1915), S. 13. Vgl. Bruhn (o. J.), S. 15–16. Vgl. Adalbert Oehler (1927) S. 182–194; Bruhn (o. J.), S. 16. Vgl. Bruhn (o. J.), S. 15. Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 191. Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 182–194. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, d. 29.5.1916, Tagebucharchiv Emmendingen, Sign.: 1578/I 2, S. 41–44. 311 Brief Kurt P. an Frau J., Charlottenburg, d. 29.5.1916, Tagebucharchiv Emmendingen, Sign.: 1578/I 2, S. 41–44.
4.5 Die Bemessung des Behandlungserfolges
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Stellen hatten daher keine Handhabe mehr, die soldatischen Patienten in den Invalidenkursen festzuhalten.312 Aus der Poliklinik in Wien sind zumindest zwei Fälle überliefert, bei denen die Umschulungsmaßnahmen erfolgreich waren. Bei dem einen handelte es sich um den am Unterkiefer schwer verwundeten Adalbert W., der während seiner Behandlung eine gewerbliche Ausbildung in einer Invalidenschule absolvierte. 1917, als er bereits wieder in der Heimat war, schrieb er in einem Brief an seinen behandelnden Arzt: „Gleichzeitig bin ich in der glücklichen Lage, Euer Hochwohlgeboren mitteilen zu können, daß es mir gut geht. Ich habe eine sehr schöne Anstellung gefunden und ich kann die, während meiner Behandlung gesammelten und durch recht fleißigen Besuch der Invalidenschule erworbenen Kenntnisse, sehr gut gebrauchen.“313
Als anderes Beispiel für eine erfolgreiche Umschulungsmaßnahme kann Franz Z. angeführt werden, der an Unterkiefer und Kinn verletzt worden war. Der gelernte Feinmechaniker ließ sich in einer Wiener Invalidenschule zum Maschinenzeichner umschulen. Das dort erworbene Wissen und seine Vorkenntnisse als Feinmechaniker nutzte er für die Konstruktion eines eigenen Therapiegerätes. 1916 wurde dazu in der Krankenakte vermerkt: „Patient hat sich nach unseren Angaben den im Bruhn’schen Werk angeführten Lippenerweiterer angefertigt und übt damit.“314
Biografisches in Bezug auf die tatsächliche Umsetzung der Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen ist aus dem Düsseldorfer Kiefer-Lazarett nicht überliefert. 4.5 Die Bemessung des Behandlungserfolges Nach abgeschlossener Behandlung und festgestellter (teilweiser) militärischer Untauglichkeit stellten die Ärzte in den Kliniken der k. u. k. Monarchie militärärztliche Zeugnisse für die Entlassung aus dem Dienst (Superarbitrierung) aus, in denen sie den allgemeinen Gesundheitszustand, den Behandlungserfolg, die Militärtauglichkeit und die bürgerliche Erwerbsfähigkeit bewerteten. Diese Zeugnisse wurden dem Patienten- und Superarbitrierungsakt beigelegt.315 Der Grad der Wehrfähigkeit wurde in vier Stufen bewertet. Nach dem Abschluss der Behandlung beurteilten die Ärzte, „ob der Mann gegenwärtig zu jedem Dienste (A-Befund), oder nur zu gewissen Diensten – Hilfs- und Bewachungsdiensten – (C-Befund), oder zu keinem Dienste (D-Befund) geeignet ist“316. In der Praxis stellte sich jedoch schnell die Schwierigkeit solcher ein312 Vgl. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 377. 313 Brief Adalbert W., Aussig, 25.10.1917, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahnund Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). 314 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 315 Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 316 Der Befund B kam im militärärztlichen Zeugnis nicht vor. Vgl. Militärärztliches Zeugnis, 7.6.1918, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
heitlichen Bemessungsmaßstäbe heraus. Die Lazarette der Mittelstreitkräfte lieferten der Militärverwaltung, die naturgemäß ein Interesse an der Anzahl der wiedereinsatzfähigen Soldaten hatte, regelmäßig ihre ermittelten Zahlen über Behandlungserfolge ab. Die optimistischen und vielversprechenden Zahlen schürten die ohnehin hohe Erwartungshaltung des Militärs zusätzlich. Der an der Ost-Front tätige Juljan Zilz sprach von „80 % geheilte[n] Kieferverletzte[n,] [die] in relativ kurzer Zeit als diensttauglich an die Sammelstelle und von da an die Rekonvaleszentenabteilung des zuständigen Kaders entlassen“317 werden konnten. Christian Bruhn in Düsseldorf versprach, von 1.081 (= 100 Prozent) soldatischen Patienten 210 (= 19,5 Prozent) frontdienstfähig und 481 (= 44,5 Prozent) garnisonsverwendungsfähig318 zu machen. Aus dem k. u. k. Reservespital Nr. 17 in Wien wurde eine Frontdiensttauglichkeit von 71 Prozent in Aussicht gestellt.319 Nach Max Gratzinger vom Reservespital Nr. 1 in Wien waren 84 Prozent der 117 Soldaten mit abgeschlossener Behandlung wieder kriegdiensttauglich, „was bei der Schwere der Kieferverletzungen im Allgemeinen als ausserordentlich günstiges Resultat angesprochen werden kann“320. Christian Bruhn warnte jedoch davor, die kieferverletzten Soldaten gleich nach Abschluss der Behandlung wieder an die Front zu schicken, da Brüche und Weichteilwunden zwar nach außen verheilt sein konnten, eine Sicherheit über deren tatsächliche Heilung aber erst nach einigen Monaten zu erwarten sei. Er empfahl daher, diese Verwundeten garnisonsdienstfähig zu schreiben.321 In den militärärztlichen Zeugnissen wurde neben der vierstufigen Wehrfähigkeit auch die Arbeitsfähigkeit nach dem Grad der Verwundung abgeschätzt. Obwohl fast jede Einrichtung ihre eigene Bewertungspraxis entwickelte, wurden Gesichtsverletzungen vergleichsweise hoch bewertet. Die Angaben erfolgten in Prozentzahlen. Richtlinien dafür mussten jedoch erst entwickelt werden. In Wien setzte sich der Arzt Alfred Deutsch mit der Frage der Bewertung der Arbeitsfähigkeit auseinander. In der Praxis lag die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit bei dem Verlust eines Großteils der Zähne vor. Noch bedeutender war die Bewertung hinsichtlich nicht verheilte Knochenbrüche (Pseudoarthrosen) des Kiefers, da sie die Lebensqualität der Betroffenen massiv einschränkten. Wie die folgende Analyse der Patientenakten zeigt, bewerteten Deutsch und auch die anderen behandelnden Mediziner solche Pseudoarthrosen hoch, und zwar vergleichbar mit dem Verlust eines Unterschenkels (50–60 Prozent Erwerbsminderung), dem Verlust der Hand (60 Prozent links, 70 Prozent rechts), einer inkompletten Querschnittläsion (Querschnittlähmung) nach einer Rückenmarkverletzung (50–80 Prozent Erwerbsminderung), einer mittelschweren progressiven (aktiven) Tuberkulose (50–70 Pro-
317 318 319 320 321
Juljan Zilz (1917b), S. 4. Vgl. Mayer (1967), S. 15. Vgl. S. Schaar (1917), S. 263–268. Max Gratzinger (1915), S. 349. Vgl. Christian Bruhn (1917), S. 26.
4.5 Die Bemessung des Behandlungserfolges
167
zent) oder einer Herzmuskelerkrankung (35–100 Prozent).322 Abhängig vom Beruf der Betroffenen wurden bei der Bewertung auch „Verunstaltungen“ berücksichtigt, die bis zu 30 Prozent Erwerbsminderung bedeuten konnten. Ebenfalls vom Beruf abhängig waren Sprach- oder Stimmstörungen323 sowie Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme, mit der sich Gustav von Wunschheim, Arzt im Reservespital Nr. 17, auseinandersetzte. Entscheidend war für ihn, der viele solcher Zeugnisse ausstellte, in welcher Form und Qualität sich die Verwundeten ernähren konnten.324 Angehörige der Mannschaft sollten daher gegenüber Offizieren bevorzugt werden, da er davon ausging, dass Offizieren im Gegensatz zu einfachen Soldaten eine Schonkost im Dienst zugänglich sei. Offiziere konnten deshalb „zu leichten Diensten“ herangezogen werden und wurden nicht zur Superarbitrierung entlassen.325 Im zivilen Leben waren es nach Wunschheim verheiratete und selbständig tätige Männer, die weniger unter der Verletzung zu leiden hatten, da diese einerseits von ihren Frauen mit der arbeitsaufwendigen Schonkost versorgt werden konnten, und ihnen andererseits durch die Selbstständigkeit ein flexiblerer Alltag möglich war.326 Da sich die berufliche wie private Lage jederzeit ändern konnte, plädierte Wunschheim bei einer Unmöglichkeit, sich ohne Hilfsmittel oder Spezialnahrung ausreichend ernähren zu können, aber schließlich auch hier für eine einheitliche Bewertung von 50 Prozent Erwerbsunfähigkeit. Richard Wagner, der Kommandant des Reservelazaretts, schlug deshalb sogar vor, den Familienstand bei der Bewertung der Arbeitsfähigkeit zu berücksichtigen.327 Die Angaben der behandelten Ärzte stellten nur einen Teil der Bewertung im Superarbitrierungsverfahren dar. Mit dem Zeugnis in der Hand mussten sich die Verwundeten bei den Vertrauensärzten des Invalidenamtes und den Amtsärzten vorstellen. Dort wurden die Verwundeten ein weiteres Mal begutachtet. Aus diesem mehrteiligen Beurteilungsverfahren entstand ein Problem, das in der k. u. k. Monarchie nicht aufgelöst werden konnte: die unterschiedliche Bewertung der Ärzte. In den widersprüchlichen Angaben in militärärztlichen Zeugnissen sah Adolf Deutsch, neben Fehlurteilen von Ärzten und einem fehlenden Urteilsvermögen Kriegsbeschädigter selbst, daher auch den wesentlichen Grund für das wachsende Misstrauen der Invaliden gegenüber den Behörden.328 Deutsch berichtete aus seinem Berufsalltag von Fällen, bei denen eine „Schußfraktur im Oberschenkel mit 2 ½ Zentimeter Verkürzung der Extremität mit 80 Prozent, eine Amputation im Oberschenkel mit 50 Pro-
322 Vgl. Tabelle, Deutsch (1920). 323 Vgl. Tabelle, Deutsch (1920). 324 Vgl. militärärztliches Zeugnis, 6.9.1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten; militärärztliches Zeugnis, 2.5.1917, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (21. Juli 1915–2. Mai 1917). 325 Vgl. Wunschheim (1917), S. 197. 326 Mehr dazu Abschnitt „Essen“ in diesem Kapitel. Vgl. dazu Abschnitt „Essen“ in diesem Kapitel 327 Vgl. Anton Ritter v. Wagner (1917), S. 1. 328 Vgl. Adolf Deutsch (1919), S. 14.
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
zent Berufsunfähigkeit geschätzt wurde“329. Verbindliche Regelungen in Dienstbüchern, wie sie von den Militärbehörden in Deutschland herausgegeben wurden, blieben zum Leidwesen aller Beteiligter in der k. u. k. Monarchie aus.330 4.5.1 Die Bewertungspraxis in Wien Die ersten beiden im folgenden angeführten Kasuistiken331 handeln von zu optimistischen Prognosen von Ärzte gegenüber militärischen Behörden hinsichtlich der Wiedereinsatzfähigkeit der Verwundenden. Die erste Patientengeschichte ist die von Franz Z., dessen Fall eingangs bereits geschildert wurde. Nach der Behandlung im Etappenraum wurde Franz Z. im Juni 1915, acht Monate nach seiner Verwundung, Patient in der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien und im März 1916 schließlich auch des k. u. k. Reservelazaretts Nr. 17.332 Kurz nach Z.s erstem Behandlungsurlaub ging am 13. April 1916 in der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien ein Dienstzettel mit der Frage nach dessen Einsatzfähigkeit ein. Die dritte Abteilung des k. u. k. Reservespitals Nr. 17 drängte auf eine Wiedereingliederung in den aktiven Dienst, weil Franz Z. „eine Anstellung bei [der] K. u. K Marine, Flugzeugstation in Pola, in Aussicht hätte“. Der zuständige Arzt der Poliklinik, Gustav Wunschheim, antwortete optimistisch: „Die Behandlung des Genannten wird beiläufig noch zwei Monate dauern“333. Zu diesem Zeitpunkt dauerte Franz Z.s Kieferknochenpseudoarthrose noch an, die plastischen (= kosmetischen) Operationen der Narben und Weichteile standen noch aus und die selbständige und uneingeschränkte Ernährung war nicht gewährleistet. Aus diesen Gründen war Franz Z. entgegen der Ankündigung Wunschheims noch weitere zwei Jahre in Behandlung, bevor er im Juni 1918 als „zu jedem Dienst ungeeignet“ und mit einer Berufsunfähigkeit von 60 Prozent334 aus der Behandlung entlassen wurde.335 Die Superarbitrierungskommission setzte die Bewertung der behandeln329 Adolf Deutsch (1919), S. 6–7. 330 Vgl. Adolf Deutsch (1919), S. 6–7. 331 Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten; im Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs sind Superarbitrierungsakten erhalten. Diese sind strichprobenartig nach Assentierungsjahr überliefert und nicht nach Superarbitrierungsgrund oder der Behandlungsstätte. Auf die Auswertung der Akten wurde daher verzichtet. Vgl. Superarbitrierungsliste, k. u. k. Kriegsministerium. 332 Vgl. militärärztliches Zeugnis, 7.6.1918, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 333 Dienstzettel, 13.4.1916, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 334 Die Berufsunfähigkeit bezieht sich auf den erlernten bzw. den zuvor ausgeübten Beruf. Im Vergleich dazu bezieht sich die Erwerbsfähigkeit auf die Fähigkeit, berufstätig sein zu können, unabhängig vom zuvor ausgeübten oder erlernten Beruf. 335 Vgl. militärärztliches Zeugnis, 7.6.1918, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten.
4.5 Die Bemessung des Behandlungserfolges
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den Ärzte jedoch nicht um und verminderte mit dem Beschluss vom 9. August 1918 die Berufsunfähigkeit auf 25 Prozent. Z. stand damit eine Invalidenpension auf Lebenszeit von jährlich 72 Kronen sowie eine Verwundungszulage von jährlich 96 Kronen zu.336 Wie das Beispiel und die Erfahrungen von Alfred Deutsch zeigen, hatte die Einschätzung der behandelnden Ärzte eine zugegebenermaßen eingeschränkte Aussagekraft, denn diese Schätzung stellte für die spätere Begutachtungskommission allenfalls einen ersten Richtwert dar. Die häufig undurchsichtigen und verwirrenden Bewertungen der Erwerbs- bzw. Berufsfähigkeit und die schlussendliche Herabsetzung der Bezüge von Franz Z. waren beispielhaft für den Umgang der Behörden mit den Betroffenen und führten zu dem vorhin beschriebenen Unmut. Bei Stefan T. wurde ebenfalls eine Pseudoarthrose im Unterkiefer diagnostiziert. In seinem Fall war man bezüglich der Heilungschancen jedoch pessimistischer. Stefan T. wurde am 29. August 1914 in St. Nicolaje (Galizien, Ukraine) von einem Schrapnell337 im rechten Unterkiefer getroffen. Nach der Erstversorgung wurde er in Saluvalia-Ujhely (Ungarn) behandelt, von wo aus er am 1. Oktober 1914 in das Reservespital Nr. 5 überstellt wurde. Von da an wurde er bis zu seiner Entlassung am 18. Jänner 1918 in der Poliklinik behandelt. Mehr als ein Jahr vor der tatsächlichen Entlassung am 20. November 1916 wurde im militärärztlichen Zeugnis von Stefan T. unter Behandlungserfolg „vielleicht in mehreren Monaten“ eingetragen. Fünf Monate später zeigte man sich schon weniger optimistisch und das vorläufige Therapieende wurde im Eintrag auf „unbestimmte[r] Zeit“ verlängert. Grundsätzlich war man auch bei ihm weiterhin von einem Erfolg der Behandlung überzeugt.338 Stefan T. wurde im Gegensatz zu Franz Z. mit derselben medizinischen Prognose im Juni 1918 mit einem „Befund C (zum Dienste ohne Waffe geeignet)“ aus der Behandlung entlassen.339 Der Grad der Erwerbsfähigkeit wurde in den Akten nicht verzeichnet, vermutlich rückte er wieder ein. Die unterschiedlichen Beurteilungen hatten für die Betroffenen selbst weitreichende Folgen. Franz Z. konnte nach dem Ende der Behandlung in die Heimat zurückkehren und dort einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wohingegen Stefan T. wieder in den aktiven Dienst geschickt wurde. Die strenge Handhabung hinsichtlich der Dienstfähigkeit traf viele der Verwundeten, insbesondere ab dem zweiten Kriegsjahr, als durch die hohen Verluste immer mehr Soldaten an der Front gebraucht wurden. Neben der strengen Handhabung der Dienstfähigkeit wurde ein dichtes Netz von Kontrollen in den Lazaretten eingeführt, um die Defizite der Musterungen, die den Mannschaftsstand spätestens ab 1916 nicht mehr beheben konnten, auszugleichen. Dazu sollte die Krankenabgabe 336 Vgl. Superarbitrierungsliste, k. u. k. Kriegsministerium. 337 Als Schrapnelle wurden Streugeschosse der Artillerie bezeichnet, die in ihrer Wirkung den Kugeln eines Schrottgewehrs ähnelten. Vgl. Dieter Storz (2009), S. 820. 338 Militärärztliches Zeugnis, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (28. Sept. 1914–18. Jan. 1918). 339 Militärärztliches Zeugnis, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (28. Sept. 1914–18. Jan. 1918).
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
tunlichst gering gehalten werden und die Entlassungen aus der Behandlung möglichst schnell stattfinden.340 In diesem Zusammenhang wurden medizinische Entscheidungen nicht immer nach dem Wohl des Verwundeten getroffen, sondern oft im Sinne des Militärs.341 Das bekam auch der nächste der hier vorgestellten Patienten zu spüren. Wenn ab 1916 aus den militärärztlichen Zeugnissen eine Diensttauglichkeit hervorging, wurden die Betroffenen umgehend der ambulanten Kommission zugestellt und zur Einheit beordert. Einer dieser gemusterten Verwundeten war Stefan R. Im Alter von 32 Jahren wurde er im Oktober 1914 beim Kampfeinsatz in der Nähe von Przemyśl (Premissel, Woiwodschaft Karpatenvorland, Polen) durch einen Gewehrschuss am rechten Unterkiefer verletzt. Die Röntgenaufnahmen vom 2. Oktober 1915 – R. befand sich bereits in der Behandlung der Poliklinik – zeigten das volle Ausmaß der Verletzung. Vom rechten Unterkieferast fehlte „ein grosses Stück“ und „am aufsteigenden Ast“ wurden Metallsplitter lokalisiert. Die äußeren Wunden waren „etwas eingezogen“, aber ansonsten „vollkommen verheilt“. Der Splitterbruch hingegen hatte sich zu einer Pseudoarthrose herausgebildet, weil Stefan R. zu spät in die Behandlung kam. Da auch die sechsmonatige Schienung des Bruches keine Verbesserung brachte, wurde er im Juli 1915 mit einer Prothese, die es ihm ermöglichen sollte, „ordentlich zu kauen“342, aus der Behandlung entlassen. Wunschheim bewertete seine Dienstfähigkeit mit „D, zu keiner“ Zeit mehr militärdiensttauglich.343 Auf seine Superarbitrierung wartete Stefan R. im k. u. k. Barackenlager in Gmünd (Niederösterreich), von wo aus er sich im September desselben Jahres das erste Mal mit einer Bitte an seinen Arzt wandte: „Sehr geehrter Herr Professor! Ich komme mit einer großen Bitte zum Herrn Professor. Seit der Zeit wo mich Herr Professor zur Superarbitrierung bestimmt und vom Kader aus mich nach Gmünd geschickt haben, leide ich heftige Zahnschmerzen. Ich empfinde dadurch Schmerzen im ganzen Kopf und kann ganze Tage hindurch nichts essen. Ich wollte dem Herrn Professor nichts schreiben und habe bisher geduldig gelitten. Aber jetzt hat mich die k. u. k. Kommission assentiert, mein Leiden gar nicht berücksichtigt und ich werde in Kürze wieder einberufen. Darum ersuche ich höflichst den geehrten Herrn Professor um neue Zähne, denn mit diesen kann ich absolut nicht essen. Ich bitte vielmals um Einsenden der Zähne denn am 14. dieses Monats fahre ich schon zum Kader.“344
Wunschheim reagierte auf den Brief von Stefan R. unverzüglich mit einem Antwortschreiben an das Kommando des k. u. k. Barackenlagers in Gmünd, Niederösterreich: 340 Vgl. Hofer (2004), S. 340–341. 341 Vgl. Dienstzettel, 11.8.1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (11. Aug. 1915–17. Aug. 1916); Adolf Deutsch (1919), S. 2–3. 342 Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915–19.7.1915). 343 Vgl. Militärärztliches Zeugnis, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915–19.7.1915). 344 Brief an Gustav Wunschheim, Gmünd, 3.11.1916, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915–19.7.1915).
4.5 Die Bemessung des Behandlungserfolges
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„Der Korporal stand vom 14. Jänner 1915 bis 19. Juli 1915 wegen einer schweren Splitterfraktur des rechten Unterkiefers an unserer Abteilung in ambulatorischer Behandlung und wurde, da die Fraktur mit einer Pseudoarthrose endigte, als zu jedem Dienste ungeeignet mit einer unteren Prothese und beiliegenden Superarbitrierungszeugnisse (Abschrift) entlassen. Nach dem klinischen Befunde bei der Entlassung ist es sehr unwahrscheinlich, daß die Pseudoarthrose unterdessen von selbst zur knöchernen Verheilung gelangt sein sollte und ist daher seine Angabe, daß er wieder ‚assentiert‘ worden sei, nicht recht glaubwürdig.“345
Aber auch die Barackenverwaltung reagierte unverzüglich und bestimmte: „Stefan R. ist assentiert und rückt ein“346. Das Krankenblatt endet am 19. Juli 1915. Im Gegensatz zu den ärztlichen Empfehlungen wurde Stefan R. mit einer Pseudoarthrose, schmerzenden Zähnen, einer ungenügenden Prothese und daraus folgenden massiven Essproblemen von der Barackenverwaltung in Gmünd wieder in den aktiven Kriegsdienst geschickt.347 Die restriktiven Maßnahmen des Militärs und die organisatorischen Schwierigkeiten hatten zur Folge, dass die Betroffenen selbst die Leistung der Ärzte in den Lazaretten entschieden positiver bewerteten als die der Amtsärzte und Militärbehördenärzte. Kritik wurde meist nur gegen verbeamtete Mediziner geäußert.348 Adalbert W. kam „nicht umhin, Ihnen nochmals meinen besten Dank zu sagen, für den hervorragenden Anteil, welchen Sie an meiner Wiederherstellung haben“, wie er in einem Brief an seinen Arzt schrieb. Am Ende des Briefes vermerkte W., er habe während seiner „Behandlung die Überzeugung gewonnen, daß alles was getan werden konnte, auch getan wurde“349. Interessant ist diese Passage auch, weil Adalbert W. die projektierten plastischen Operationen verweigerte.350 Elisabeth Stader, die Tochter von Karl H., erinnerte sich in einem Interview, ihr Vater habe immer betont, dass er „Joseph [dem Operateur, RM] sein soziales Leben verdanke und […] wieder unter Leute“ treten konnte.351 Die endgültige Superarbitrierung warteten die Soldaten in den Lazaretten oder im Urlaub ab.352 Im Deutschen Reich wurde dies ähnlich gehandhabt. 345 Gustav Wunschheim an das k. u. k. Barackenkommando Gmünd, Wien, November 1916, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915– 19.7.1915). 346 k. u. k. Barackenkommando Gmünd an Gustav Wunschheim, Dezember 1916, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (14.1.1915–19.7.1915). 347 Vgl. Militärärztliches Zeugnis, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. 348 Vgl. Angerstein (1932), S. 39. 349 Anlass für den Brief war die Frage nach Ersatzteilen für die Prothese. Vgl. Brief an die Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten Aussig, 1.11.1917, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). 350 Vgl. Krankenblatt, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917). 351 Melanie Ruff (Oktober 2012). 352 Vgl. Dienstzettel, 2.5.1917, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (21. Juli 1915–2. Mai 1917).
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4. Die Behandlungszeit: Alltag und Behandlung in den Lazaretten
Dort waren die soldatischen Patienten bei ihrer Entlassung aus dem Heeresdienst „ihrem Ersatztruppenteil [zu] überweisen, der die Dienstbrauchbarkeitseingaben oder Rentenlisten nach P. V. aufstellt und dem stellvertretenden Generalkommando auf dem Dienstweg einreicht“. In Ausnahmefällen konnten die Soldaten die Entlassung in der „Heimat“ abwarten und zwar dann, wenn eine medizinische Behandlung nicht mehr notwendig war und der Heimatort näher am Lazarett lag als die Ersatztruppe.353 Das gewohnte soziale Leben begann nach der Entlassung aus der Behandlung und der (Re-)Integration in den beruflichen Alltag als Teil eines männlichen Lebensentwurfes. Was sich während des Krieges durch den Arbeitskräftemangel verhältnismäßig leicht gestaltete,354 wurde in den Nachkriegsjahren zu einem immer größer werdenden Problem.355 Wie vielen der Gesichtsverletzten der berufliche (Wieder-)Einstieg mit welchem Erfolg gelang, kann nicht gesagt werden. Das nötige Rüstzeug, einen funktionierenden Körper und das wieder hergestellte männliche Erscheinungsbild, hatten sie in den Lazaretten, zumindest theoretisch, wiedererlangt. 4.6 Resümee: Das Lazarett als Ort der ‚Wieder-Vermännlichung‘ Das in den Lazaretten vorherrschende Männlichkeitskonzept steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit nach einer Verwundung. Denn aus der Sicht der Behörden wie auch der Mediziner galten Verwundete so lange als „sozial nicht geheilt, solange diese nicht die bürgerliche Erwerbsfähigkeit wieder erlangt hatten, da über die Erwerbsarbeit auch die Rolle des männlichen Familienerhalters definiert wurde“, wie Verena Pawlowsky und Harald Wendelin treffend formulierten.356 So lässt sich von Lazaretten als Orten der Wiedervermännlichung sprechen. Bereits in den Beschreibungen der Verletzung und den ersten Behandlungsschritten begegnet man einem Überwindungsnarrativ, das beinhaltete, dass es den Verwundeten trotz widriger Umstände, der schlechten Versorgungslage und im schlimmsten Fall unter Feindbeschuss gelungen war, auszuharren, sich selbst zu versorgen und schließlich, zu Fuß oder von Kameraden getragen, einen Verbandsplatz zu erreichen. Die Erfolgsgeschichte setzte sich in den Lazaretten mit den geglückten Gesichtsrekonstruktionen und den (wieder-)erlernten Körperpraktiken fort und erreichte ihren Höhepunkt in den Werkstätten der Lazarette. Einzig Operationsverweigerungen und Selbstmorde von Patienten kratzten an der schimmernden Oberfläche dieser ReMaskulinisierungsfabriken. Sie entwickelten aber nie die Stärke, das Überwindungsnarrativ zum Wanken zu bringen, wohl auch, weil Selbstzweifel, Depres353 Heeressache No. 417, Datum unbekannt, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 56. 354 Vgl. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 380. 355 Vgl. Bernd Ulrich (1993), S. 123. 356 Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 372.
4.6 Resümee: Das Lazarett als Ort der ‚Wieder-Vermännlichung‘
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sionen und Ängste der Verwundeten durchaus ihren Platz im Behandlungskonzept fanden. Wie die Beispiele der unterschiedlichen Alltagsbereiche zeigen, wurde das von den Ärzten sowie militärischen und zivilen Behörden entworfene Dogma der unbedingten Heilung357 den Patienten oktroyiert. Von ihnen wurde erwartet, die Kriegserlebnisse zu überwinden und stetig an der Genesung mitzuwirken, um schließlich ihre Arbeitskraft wiederzuerlangen und somit ein normales Leben führen zu können.
357 Ähnliches stellte Barbara Köhne bei „Kriegszitterern“ fest. Vgl. (Köhne, 2009), S. 300.
5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern Selbstbilder und Selbstdarstellungen sind wichtige Kommunikationsmittel zur Erschaffung und Verbreitung gesellschaftlich wirksamer Konstruktionen von Männlichkeit, vor allem wenn sie visuell als Fotografien oder schriftlich in Form von Selbstzeugnissen publiziert werden. Die Stärke dieser beiden Darstellungsformen liegt in ihrer Nähe zur erzählenden Person (auch Bilder erzählen eine Geschichte), wodurch den Lesern oder Betrachtern ein breites Angebot an Identifikationsmöglichkeiten geboten wird. Konkret geht es in diesem Abschnitt um die Selbstdarstellungen der Verwundeten während ihrer Behandlungszeit. Selbstbilder, verstanden als Vorlage für Selbstdarstellungen, beruhen auf Wahrnehmungen der eigenen Person und orientieren sich an einem gesellschaftlichen Idealbild bzw. an einer Wunschvorstellung von sich selbst.1 Zwischen dem Publikum und der Autorin oder dem Autor entsteht dadurch ein Dialog, der Selbstbilder als Quellen für die Frage nach dem möglichen Einfluss von konstruierter Andersartigkeit und dem Narrativ der Wiederherstellung der Männlichkeit so spannend macht. Die Frage in diesem Abschnitt lautet daher auch: Finden sich die Fremdwahrnehmungen bei den Selbstdarstellungen wieder, oder zeigen sie eine andere Perspektive auf? Im Vorfeld werde ich die im Text verwendeten Quellen kurz vorstellen, da sie sehr unterschiedlich sind und sich daraus einige Einschränkungen hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit ergeben, die zu beachten sind. 5.1 Briefe und Bildpostkarten Das Verschicken von Postkarten aus Lazaretten war während des Ersten Weltkrieges sehr beliebt. In Deutschland wurden täglich durchschnittlich 6,8 Millionen Briefe, Pakete etc. von Soldaten versandt. In die andere Richtung, von der Heimat an die Front, waren es 9,9 Millionen Sendungen.2 Mit den Postkarten und Briefen wurden wichtige Informationen ausgetauscht und über das gegenseitige Wohlergehen berichtet. Zusätzlich gab es auch noch Vordrucke, auf denen die Soldaten ankreuzen konnten, ob sie „[l]eicht verwundet, verwundet, schwer verwundet, krank [oder] schwer krank“3 waren. Dabei ging es in erster Linie darum, die Kommunikation mit der Familie oder dem privaten Umfeld aufrechtzuerhalten. Oft wussten die Angehörigen nur durch die Postkarten, ob ihr Bruder, Sohn, Partner etc. noch am Leben war, und wo er sich aufhielt. Für die Soldaten wiederum hatte das Schreiben von Briefen eine „Ventil Funktion und half bei der Bewältigung des Alltages“4, insbesondere im 1 2 3 4
Vgl. Jasmin Nowak (2011), S. 1. Vgl. Rebhan-Glück (2010), S. 26. Vgl. auch Wolfgang U Eckart (2013). Siehe Abbildungen in: Norbert Rainer (2005), S. 92. Wisthaler (2010), S. 72.
5.1 Briefe und Bildpostkarten
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Falle einer Verwundung.5 Gleichzeitig konnten Briefe von Verwandten die Stimmung der Verwundeten heben und einen positiven Einfluss auf deren Heilung ausüben, wie es Kurt P., ein am Kiefer verletzter Soldat beschrieb: „Ihre beiden Briefe, glaube ich, haben viel dazu beigetragen, daß es mit mir schneller und besser geht. Die Freude darüber hat die schlechte Krankheitsstimmung ganz verjagt; und ist die Stimmung mal erst gut, dann ist das Spiel schon gewonnen. Nicht wahr?“6
Nachrichten aus dem sozialen Umfeld wirkten beruhigend und erleichterten den Umgang mit der Verletzung. Christian Bruhn, Leiter des Düsseldorfer Kieferlazaretts, erkannte schnell die Bedeutung der Kommunikation mit dem sozialen Umfeld für die Patienten. In den Lazaretten wurde dem Schreiben von Briefen und Postkarten daher große Aufmerksamkeit zugemessen. Die Ärzte wurden aufgefordert, den Angehörigen „aller bedenklichen erkrankten Krieger brieflich bzw. telegrafisch von dem Zustand des Kranken zu benachrichtigen“7. Aufgrund der großen Zahl der Verwundeten richtete man in Düsseldorf eine zentrale Stelle für die organisatorischen Abwicklungen ein. Von jedem Verwundeten wurden „Karten angelegt und nach dem Namen alphabetisch geordnet“, damit man Angehörigen im Bedarfsfall möglichst lückenlos Auskunft über einen Verwundeten geben konnte.8 Um die Schreibbegeisterung der Soldaten anzukurbeln, wurde an das Pflegepersonal die Empfehlung herausgegeben, die „Kranken anzuhalten, dass sie öfters ihren Angehörigen schreiben“9. All jenen, die nicht selbst Briefe oder Postkarten verfassen konnten, kamen Freiwillige zu Hilfe und übernahmen das Schreiben. Meist waren es Verwundete oder Pflegekräfte aus dem Lazarett selbst.10 Initiativen kamen aber auch von der zivilen Gesellschaft. So bot ein Reisebürobesitzer aus Düsseldorf an, seine beiden Angestellten nachmittags in die Lazarette zu schicken, um an „Angehörige Briefe schreiben zu lassen“11, wofür er kostenlose Ansichtskarten zur Verfügung stellte.12 Ein anderer bot „seine Dienste“ ab 5:30 nachmittags an. Mit einer Schreibmaschine ausgestattet könne er sich dazu in die Lazarette begeben.13 Beim Schreiben entschieden sich die Verwundeten für die unterschiedlichsten Formate. Versandt wurden gewöhnliche Ansichtskarten, Postkarten mit dem eigenen Porträt und einem kurzem Text oder auch seitenlange Briefe 5 Vgl. Kurt P. (1916) und Kurt P. (1915). 6 Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, d. 10.4.1916, Kurt P. (1916), S. 32. 7 Die Düsseldorfer Stadtverwaltung „An die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf“, 10.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 39. 8 Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 204. 9 Die Düsseldorfer Stadtverwaltung „An die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf“, 10.9.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 39. 10 Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 195. 11 Reisebureau Emil Meyer an die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf, 24.8.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916),S. 21. 12 Reisebureau Emil Meyer an die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf, 24.8.1914, Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916), S. 21. 13 Vgl. Düsseldorfer Stadtverwaltung (1914–1916) Franz Krause an die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf, 11.9.1914. S. 36.
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
mit beigelegten Fotografien. Den Großteil der hier als Quellenmaterial zur Verfügung stehenden Sendungen stellen Ansichtskarten dar, 55 stammen von Margarethe Huß und 22 von Kurt P. Ein kleiner Teil besteht aus Bildpostkarten mit Porträts der soldatischen Patienten (Huß versandte: drei).14 Kurt P. verschickte Briefe, Bildpostkarten und Fotografien, die er den Briefen beilegte. Die Fotografien zeigen ihn beim Schachspiel, bei militärischen Übungen, bei besonderen Ereignissen (Besuch der Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg {1858–1921}) oder im Kreis vertrauter Personen.15 5.2 Fotoalben und Fotografien Anders als bei Postkarten, deren Hauptzweck darin bestand, zu informieren und zu kommunizieren, dienten Fotoalben der Erinnerung an etwas Erlebtes. Als „biografisches Ordnungssystem“16 können sie als Entwurf einer subjektiven Geschichte17 einzelner Personen oder einer Gruppe (Fotoalbum als Geschenk) gesehen werden. Die Materialität des Fotoalbums ermöglicht die Konservierung dieser subjektiven Geschichte, es entsteht ein privates Archiv mit als wichtig erachteten Erinnerungen, ein sogenannter „Gedächtnisspeicher“18. Die Anordnung, der Begleittext und die Auswahl der Fotografien sind in diesem Zusammenhang ebenso bedeutend wie die Motive selbst. Die Inszenierung der Fotografien in den Alben erzeugt Wissen, welches das Foto allein nicht preisgeben würde. Mit der Annahme und Aufbewahrung eines geschenkten Fotoalbums übernimmt die Besitzerin oder der Besitzer die Intentionen des Gestalters. Dies schließt die Deutungsoffenheit oder Imaginationsfreiheit über die Fotografien nicht aus. Neben Fotoalben gelangten auch lose Fotografien, die im Lazarett aufgenommen wurden, in Umlauf. Inge Mayer, Tochter eines Gesichtsverletzten, berichtet: „Meine Mutter hat die Fotos vernichtet, die nach den stufenweise vorgenommenen Operationen in der Charité aufgenommen wurden, und von denen vielleicht sogar eines sich in dem von Ihnen zitierten Lehrbuch befinden könnte.“19
Aussagen über die Produzentinnen und Produzenten der Fotografien können nur vereinzelt getroffen werden. Noch schwieriger gestalten sich Aussagen über die Verbreitung und das Auswahlverfahren der Fotografinnen und Fotografen, da ein Kontrollkorpus mit allen gemachten Aufnahmen fehlt. Die Wirkmacht der Quellen liegt vor allem in ihrer Aussagekraft hinsichtlich des gewünschten Bildes der Verwundeten, da diese, wie die folgenden Beispiele im Text zeigen, auf diesen Fotobestand zurückgriffen. 14 15 16 17 18 19
Vgl. Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916); Kurt P. (1915). Vgl. Kurt P. (1916); Kurt P. (1915); Kurt P. (1917a); Kurt P. (1917b). Anton (2001), S. 47. Für den Literatur-Tipp danke ich Vida Bakondy, Historikerin. Jürgen Stehen (1983), S. 55. Für den Literatur-Tipp danke ich Vida Bakondy, Historikerin. Maja Naef (2010), 83. Für den Literatur-Tipp danke ich Vida Bakondy, Historikerin. Inge Meyer (16.5.1985).
5.2 Fotoalben und Fotografien
177
Analysiert werden sechs Quellenkorpora aus drei Lazaretten für Kieferverletzte. Bei den Lazaretten handelt es sich um die Kriegszahnklinik in Lublin (Etappe), das Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte (Hinterland) und das Kgl. zahnärztliche Institut der Universität Berlin (Etappe). Die Quellen setzen sich aus Fotografien und Bildpostkarten zusammen, die in den genannten Lazaretten entstanden sind. Bei dem Bildmaterial aus Lublin handelt es sich um Aufnahmen, die der Klinikleiter Juljan Zilz sammelte, bei Kriegsende nach Wien mitnahm und schließlich der Medizinischen Fakultät der Universität Wien übergab.20 Die Fotografien enthalten neben den hier analysierten Aufnahmen größtenteils Porträtfotografien von Patienten zur Dokumentation der Behandlungsschritte.21 Auf den Bildern zu sehen sind Verwundete in den Krankenräumen und bei der Behandlung, oder das medizinische Personal im Porträt und bei der Arbeit. Hinzu kommen Fotografien von alltäglichen Begebenheiten [vgl. Tabelle 3]. Die Produzentinnen und Produzenten der Bilder sind nicht belegt, es ist aber anzunehmen, dass Juljan Zilz in der Funktion als Klinikleiter die Aufnahmen in Auftrag gab. Aus dem Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte sind zwei Fotoalben erhalten. Eines davon war im Besitz des Klinikleiters Christian Bruhn und wurde zum fünfjährigen Bestandsjubiläum der Westdeutschen Kieferklinik im Jahr 1925 angelegt, von wem ist nicht überliefert.22 Die 50 darin enthaltenen Bilder stammen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und zeigen die Gründerzeit der Klinik. Nur auf sechs Seiten wurden Bildunterschriften hinzugefügt, die mit einer Schreibmaschine auf weißem Papier geschrieben und anschließend in das Album geklebt wurden. Die eher nüchternen Unterschriften lauten beispielsweise: „Im Garten von Haus Sternstr. 29; Die ersten Verwundeten; Im Garten Sternstr. 29“ oder „Der Verbandsraum in der Garage Sternstr. 29“. Es ging vorrangig um eine geografische Verortung und die Zuweisung der Raumfunktionen. Nur bei einer Bildunterschrift wurden die Personen namentlich genannt, darunter der Klinikleiter Christian Bruhn. Diese entpersonalisierte Gestaltung legt die Vermutung nahe, dass das Album für ein breiteres Publikum als nur für die im Lazarett tätigen Personen gedacht war. Die Fotografien wurden auf graues Papier geklebt, meist zwei Abbildungen pro Seite. Das Fotoalbum hat einen braunen Lederumschlag und trägt die Aufschrift: „Die Westdeutsche Kieferklink zum 9. Januar 1928“23, was sich in Bezug auf die gezeigten Bilder aus dem Ersten Weltkrieg als unrichtig erweist. Das zweite Album gehörte Margarethe Huß, die von 1915 bis 1916 als Krankenpflegerin im Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte tätig war und die sich als Erinnerung an diese Zeit ein Album, bestehend aus 31 Bildpostkar20 Vgl. Melanie Ruff (2011). 21 Einige der Abbildungen wurden von Juljan Zilz in wissenschaftlichen Abhandlungen verwendet. Diese und ähnliche Fotografien wurden nur dann in der Analyse berücksichtigt, wenn sie auch in den Erinnerungsalben, auf Postkarten etc. Verwendung fanden. 22 Vgl. Universitätsarchiv Düsseldorf (1928). 23 Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
ten und 25 Ansichtskarten von Verwundeten, anlegte. Auf den Bildpostkarten, sechs davon wurden ihr zugesandt, den Rest hat sie selbst ausgewählt, sind Gruppenfotos von Patienten und Arbeitskollegen sowie Alltagsmotive und Patientenporträts zu sehen [vgl. Tabelle 3]. Der Umschlag des Albums trägt den Titel „Feldpostkarten“ und zeigt ein Porträt des deutschen Kaisers Wilhelm II.24 Im Gegensatz zum Fotoalbum von Christian Bruhn deuten die Gestaltung (Bildbeschreibungen fehlen) sowie der Inhalt (private Korrespondenz) des Albums auf eine private Nutzung hin. Esdiente sozusagen als Gedächtnisspeicher der Margarethe Huß. Trotz der unterschiedlichen Nutzung ähneln sich die Motive in den Alben stark. Zu den beliebtesten zählten Gruppenfotos von Patienten oder dem medizinischen Personal, mit oder ohne die jeweils andere Gruppe [45 Aufnahmen, Tabelle 3]. Ergänzend zu den beiden Alben werden dem Quellenkorpus zwei Publikationen von Christian Bruhn angefügt. Beide Bücher wandten sich an ein Laienpublikum und an die Verwundeten selbst. Das 1915 veröffentlichte Buch mit dem Titel „Und die Arbeit half uns!“: Bilder aus d. Düsseldorfer Lazarett f. Kiefer-Verletzte25 handelt von den Beschäftigungskonzepten in den Lazaretten. Das zweite Buch ist ein Tätigkeitsbericht aus dem Lazarett und trägt den Titel Bericht über eine zweijährige Tätigkeit des Düsseldorfer Lazarettes für Kieferverletzte. Es erschien 1917.26 Für beide Bücher griff der Autor auf den Fotobestand des Lazarettes zurück („Und die Arbeit half uns!“: 13 Abbildungen; Bericht über eine zweijährige Tätigkeit des Düsseldorfer Lazarettes für Kieferverletzte: 31 Abbildungen). Eine der Fotografien aus „Und die Arbeit half uns!“27 findet sich auch im Fotoalbum von Christan Bruhn wieder. Darauf sind Verwundete in einem Freizeitraum zu sehen. Die Autorinnenund Autorenschaft der Bilder ist nicht belegt, es kann aber auch hier angenommen werden, dass Christian Bruhn in der Funktion als Lazarettleiter den Auftrag für die Aufnahmen gab. Im Vergleich der Fotoalben mit den Bildern aus dem Briefnachlass von Kurt P. (18 Fotografien, 22 verschickte Ansichtskarten sowie ein Telegramm) wird ersichtlich, dass sich die Motive, größtenteils Gruppenaufnahmen, stark ähneln [vgl. Tabelle 3]. 5.2.3 Motive und Quantität Aus der quantitativen Erhebung geht hervor, dass etwas mehr als ein Drittel der Fotografien Alltagsituationen zuzuordnen sind (70 Abbildungen; 37,4 Prozent; Themenbereich dunkelgrau unterlegt). Etwas seltener, aber immer noch in großer Zahl wurden Gruppenbilder aufgenommen (64 Abbildungen; 34,2 Pro24 25 26 27
Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916). Bruhn (o. J.). Christian Bruhn (1917). Vgl. Abbildung „Hausmusik (Abt. Sternstraße)“, Bruhn (o. J.), S. 4.
179
5.2 Fotoalben und Fotografien Tab. 3: Motive auf den Fotografien und Bildpostkarten28 Motiv
FotoFotoFotosammlung album album Juljan Zilz Christian Margare(Lublin) Bruhn the Huß (Düssel- (Düsseldorf) dorf)
Gruppenfotos soldatische Patienten
10
26
8
Gruppenfotos Personal
1
5
6
11
31
14
Summe Porträtaufnahmen soldatischer Patient
„Und die Bericht Brief- Gesamt Arbeit half Christian nachuns!“ Bruhn lass Christian (Düssel- Kurt P. Bruhn dorf) (Berlin) (Düsseldorf)
2
1
Summe
2
1
7
Alltagsfotografien soldatische Patienten
7
9
4
Alltagsfotografien Personal (= soldatische Patienten bei der Behandlung)
11
4
5
18
13
Innen- und Außenaufnahmen von Gebäuden
2
5
religiöse Motive
2 35
9
1
51
1
13
7
64 (34,2 %)
18
25
31
6
18
28 (15 %)
1
26
4
24
12
4
1
17
1
11
1
70 (37,4 %)
1 50
6
3
Alltagsfotografien soldatische Patienten bei der Arbeit
Summe
1
7
Porträtaufnahmen Personal
Summe
1
13
14
21 (11,2 %)
1
4 (2,1 %)
31
27
187 (100 %)28
Legende: Gruppenfotos: Bilder auf denen Personal und soldatische Patienten abgebildet sind. Porträtaufnahmen: Aufnahmen von Einzelpersonen. Die zusammengehörigen Themenbereiche sind in unterschiedlichen Graustufen markiert.
28 0,1 Prozent davon sind Rundungsungenauigkeiten.
180
5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
zent; hellgrau unterlegt). 28 Mal handelte es sich um Porträtaufnahmen (15 Prozent; mittelgrau unterlegt) und 21 Mal wurden Fotografien von Räumen und Außenansichten gemacht und aufbewahrt (11,2 Prozent; schwarzgrau). Religiöse Motive (weiß unterlegt) waren vier Mal abgebildet, das entspricht 2,1 Prozent aller Bilder. 5.3 Erlebnisberichte Im Sammelband „Und wenn die Trompeten blasen…!“ Selbsterlebtes aus dem Kriege erzählt von Verwundeten des Düsseldorfer Kieferlazaretts29 wurden 19 Erlebnisberichte von soldatischen Patienten veröffentlicht. Das Buch wurde an Weihnachten 1915 im Lazarett als Geschenk an die Verwundeten verteilt und bei Interesse auch nach draußen weitergegeben.30 Eingereiht werden kann dieses Buch in die große Anzahl veröffentlichter Kriegserlebnisse von Soldaten in der Tagespresse und in Zeitschriften. Diese dienten der „propagandistische[n] Mobilisierung und der Diffusion idealisierter und ideologisch überhöhter Bilder vom Krieg“31. Die Kriegserlebnisse hier sind sehr spezifisch, da es sich um Soldaten handelt, die durch die Kampfhandlungen schwer im Gesicht verwundet wurden. Für den genannten Sammelband forderte Christian Bruhn 1915 die Verwundeten in seinem Lazarett auf, an einem Schreibwettbewerb teilzunehmen, bei dem die besten Arbeiten abgedruckt werden sollten. Über seine Motivation zur Gestaltung des Buches schrieb Bruhn: „Die Freude, die ich oft empfand, wenn ich den Erzählungen unserer Kranken zuhören konnte und ihre Augen leuchten sah, gab mir den Wunsch ein, möglichst viel von dem festzuhalten, was sie an Erinnerungen besitzen, und zwar gerade von dem, was jedem einzelnen von ihnen besonders lieb war und wertvoll erschien.“32
Der Wettbewerb und die damit in Aussicht gestellte Anerkennung können als Schreibanlass gesehen werden, bei dem gleichzeitig die Richtung des Textes vorgegeben war. Da das Auswahlverfahren nicht transparent war, können keine Aussagen über Berichte getroffen werden, die nicht im Interesse des Herausgebers lagen und daher wahrscheinlich nicht veröffentlicht wurden. Es ist anzunehmen, dass die Darstellungen in den Texten hinsichtlich Soldatentum und Männlichkeit mit den Vorstellungen Bruhns übereinstimmen. Das bedeutet nicht, dass diese Quelle für die Frage der Selbstdarstellung uninteressant wird, aber es gilt, diese Einschränkung zu berücksichtigen und klarzustellen, dass die Aufsätze den Wahrnehmungen und Interpretationen der Verwundeten nur zu einem Teil entsprachen. In der Analyse der Bilder werden die abgebildeten Soldaten als Akteure behandelt, die sich für die Kamera in Szene setzten, um ein Bild von sich selbst zu entwerfen. Aus den wiederkehrenden Motiven wurden Beispiele aus29 30 31 32
Bruhn (1915). Vgl. Bruhn (1915), Vorwort. Oliver Janz (12.4.2005), S. 2. Bruhn (1915), Vorwort.
5.4 Die Verletzung
181
gewählt und für die Analyse beschlagwortet und gebündelt. Die zweigeteilte Analyse gliedert sich in folgende Schritte: • •
formale Bildbeschreibung Syntheseleistung (Analyse des Bildinhaltes und dessen gesellschaftlichen Kontext)
Die Erlebnisberichte werden, auf ihre Konstruktion von Männlichkeit[en] bezogen, seriell befragt. 5.4 Die Verletzung Auf 151 von insgesamt 187 Bildern sind Verwundete abgebildet, aber nicht auf allen Bildern ist die Verletzung im Gesicht sofort erkennbar. Das liegt zum einen an der schlechten Aufnahmequalität der Bilder, zum anderen an der fehlenden Kolorierung, die typische Merkmale von Weichteilwunden wie beispielsweise Narben oder Farbveränderungen der Haut erkenntlich gemacht hätte. Als Beispiel dafür wurde eine Bildpostkarte mit dem Porträt eines Verwundeten aus dem Fotoalbum von Margarethe Huß ausgewählt. Der Abgebildete selbst schickte das Bild zur Erinnerung an seine Person an Margarethe Huß [vgl. Abbildung 30, Kartentext auf der Rückseite, in der Bildbeschreibung transkribiert].33 Auf dem Bild aus der Abteilung Mannesmannhaus des Düsseldorfer Lazarettes für Kiefer-Verletzte ist der Gesichtsverletzte Wilf. H. zu sehen, der auf einem Sessel an einem Tisch im Garten sitzt. In der Hand hält er eine Tafel mit der Inschrift: „Zur Erinnerung a. d. K. L. Mannesmannhaus Düsseldorf 1915“. Der Text ist mit einem Blätterkranz umrahmt und oberhalb der Inschrift befindet sich das Eiserne Kreuz, mit dem der Bezug zu militärischer Leistung und Ehrung hergestellt wird. Der Abgebildete selbst trägt weder das Eiserne Kreuz noch eine militärische Uniform, sondern die Lazarettbekleidung für Mannschaftspersonen.34 Die Abbildung und der Text wurden auf ein Blatt Papier gemalt und auf die Tafel genagelt, die eigens für die Fotografie hergestellt wurde und für die Aufnahme leicht zu positionieren war. Ergänzt wurde das sorgfältig inszenierte Bild durch eine Kiste (Verpackungskiste), auf der Stoffschleifen drapiert waren. Die aufwendige Produktion deutet darauf hin, dass die Tafel nicht nur für dieses Bild, sondern für eine Serie derartiger Erinnerungsfotografien verwendet wurde. Das Gesicht des soldatischen Patienten selbst ist Zeuge seiner Krankengeschichte. Die Narbenstränge in der Mundgegend zeigen eine Weichteilrekonstruktion der Ober- und Unterlippen, eine chirurgisch aufwendige Operation, die mit mehreren Arbeitsschritten (Operationsgängen) und langen Rekonvaleszenzzeiten von bis zu mehreren Monaten verbunden war. Die Behandlung 33 Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916). 34 Vgl. Hausordnung 1916, Stadtarchiv Düsseldorf (1923–1925).
182
5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 30: Margarethe Huß, Andenken an ihre Tätigkeit im Lazarett für Gesichtsverletzte. Text auf der Rückseite der Bildpostkarte: „An Schwester Deta: Düsseldorf, 12. Juni 1915, Zum Dank für Ihre aufopfernde u. liebenswürdige Tätigkeit, die Sie allen hier befindlichen Verwundeten zuteil kommen lassen. Möge Ihnen dies Geschenk ein bleibendes Andenken werden. Wilf. H.“.35
schien zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen, der nicht verschließbare Mund deutet darauf hin.36 Darüber hinaus wäre der soldatische Patient bei Abschluss der Behandlung in eine Sammelstelle oder dergleichen überstellt worden. Obwohl die Behandlung noch nicht beendet war, zeigt das Foto bereits eine medizinische Erfolgsgeschichte, an der der soldatische Patient etwa durch Einwilligung zu den riskanten Transplantationen maßgeblich beteiligt war. Wilf. H. entschied sich also noch vor dem Ende der Behandlung dafür, ein Foto von sich aufnehmen zu lassen, auf dem die Entstellung deutlich erkennbar ist. Durch die Bildtafel referiert er gleichzeitig militärische Leistungen und inszeniert sich so als Soldat. Die Fotografien aus den Lazaretten können als Wegbereiter des Zusammentreffens mit dem sozialen Umfeld gesehen werden. Wilf. H. wählte hierfür trotz sichtlicher Entstellung im Gesicht ein Porträt von sich selbst. In diesem Zusammenhang leisteten Bildpostkarten wesentliche Vermittlungsarbeit. Sie 35 Vgl. Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916). 36 Die Vorher-Nachher-Bilder in den Publikationen der Klinik dokumentieren die Behandlungsschritte, anhand der sich die hier gezeigte Behandlung einordnen lässt. Des Weiteren war diese Spezialheilanstalt im Hinterland nicht mit einer großen Zahl von gleichzeitig eintreffenden Verwundeten konfrontiert, Behandlungen konnten daher in Ruhe abgeschlossen werden. Vgl. Bruhn (1916).
5.4 Die Verletzung
183
ermöglichten den Verwundeten, ihre Verletzung und das damit Erlebte selbst in Szene zu setzen. 5.4.1 Der Verband Ein wichtiges Accessoire bei der Darstellung einer Verwundung auf den Bildern war der weiße Verband. Am Beispiel der Abbildung 29 aus dem Album von Margarethe Huß werden nachfolgend die Darstellung von Wunden, ihrer Verbände und deren Funktionen erläutert. Dieses Bild ist deshalb so interessant, weil es Schwerverwundete mit und ohne Verband zeigt. Auf der rechten Seite des Bildes in der ersten Reihe sitzt ein soldatischer Patient mit deutlich sichtbaren Narbenzügen auf der rechten Gesichtshälfte [vgl. Bildausschnitt zu Abbildung 31]. Ihm fehlt das rechte Auge, die rechte Seite der Nase ist deformiert und die Oberlippe ist eingezogen. Ob die Deformationen noch operativ behandelt wurden oder der soldatische Patient auf eine Prothese wartete, geht aus dem Bild nicht hervor. Jedenfalls machte die bereits eingesetzte Wundheilung das Tragen eines Verbandes überflüssig. Er blickt in die Kamera und wirkt durch die verschränkten Arme und Beine gleichgültig und entspannt zugleich. Sein Nachbar in der Mitte des Bildes trägt einen an den Ohren befestigten Kinnverband. Auch er blickt in die Kamera, jedoch etwas ernster. Der offene Mund könnte zufällig sein, denn die auf dem Bild sichtbare Verletzung würde ein Schließen desselben zulassen. Seine Körperhaltung – ein Bein etwas verkrampft nach unten mit einer zur Faust geballten Hand auf dem Oberschenkel, das zweite Bein nach hinten und die Hand daneben am Stuhl abgestützt – macht im Vergleich zu den Personen links und rechts einen unsichereren Eindruck. Der Patient auf der linken Seite des Bildes hat ebenfalls einen Kinnverband und trägt zudem eine Binde um sein linkes Auge. Sein Habitus – die Beine am Boden überkreuzt und die Hände auf dem Schoß – wirkt entspannt und selbstsicher. Alle drei soldatischen Patienten tragen die Lazarettkleidung und Hausschuhe, zwei davon (links und rechts) auch ihre Uniformkappen. In der zweiten Reihe stehen vier Personen des medizinischen Personals, rechts zwei Ärzte, erkennbar an den weißen Kitteln, dem Symbol der Ärzteschaft, links daneben zwei Soldaten, die an den Uniformen erkennbar sind und im Gegensatz zu den soldatischen Patienten Stiefel statt Hausschuhe tragen. Im Hintergrund ist eine Glasfassade zu sehen, die auf ein großes Gebäude hindeutet. Die drei Stühle, auf denen die soldatischen Patienten sitzen, stehen auf einem steinernen Untergrund. Fassade wie auch Untergrund legen nahe, dass das Foto draußen aufgenommen wurde. Das Bild könnte für alle sechs Abgebildeten als Erinnerung aufgenommen worden sein, da die Art der Darstellung mit den Bildern korreliert, die sowohl von Ärztinnen oder Ärzten, vom Pflegepersonal wie auch von Patienten verschickt oder aufbewahrt wurden. Diese Inszenierung kann somit als Standard beim Entwurf einer subjektiven Geschichte gesehen werden. Die Verbände wurden getragen, um die Wunden vor äußeren Einflüssen zu schützen oder, wie bei Kieferbrüchen oft der Fall, um Fehlstellungen zu
184
5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 31: Verwundete, Margarethe Huß (15. April 1915–24.März 1916).
korrigieren und Knochen zu stabilisieren, damit die Bruchenden korrekt zusammenwachsen konnten. Nur bei der Nahrungsaufnahme nahmen die Verletzten die Verbände ab. Fotografien mit Verletzen ohne Verband gibt es folglich nur, wenn es darum ging, die Verletzung abzulichten oder wenn die äußere Wundheilung bereits abgeschlossen war. Ein Nebeneffekt der Verbände war, dass die Verletzungen durch die Verbände überdeckt wurden und die Verwundeten somit weniger abschreckend wirkten. Die verborgenen Wunden der Gesichtsverletzten bekamen Besucherinnen und Besucher und andere Personen so nie zu Gesicht. Für sie wirkten die Verletzungen durch die meist strahlend weiß gezeigten Verbände hygienisch, ordentlich und unblutig. Auch die Bildbetrachterin und der, betrachter werden durch diesen Anblick beruhigt und Vorstellungen von der grauenhaften Zerstörung unter den Verbänden abgemildert. Selbst auf Fotos von der Nahrungsaufnahme, die als schmutzig beschrieben wurde,37 strahlen die Gewänder und der Verband.38 In diesem Zusammenhang kann der Verband als Teil der Krankenhauskleidung gesehen 37 Tilly Weishaupt (1915). 38 Ähnliches beobachtete Ulrike Oppelt bei Dokumentarfilmen aus Lazaretten des Ersten Weltkrieges. Auch dort wurden nur „saubere Kranke“ gezeigt. Vgl. Oppelt (2002), S. 273.
5.5 Die Behandlung
185
werden und der Darstellungsstil der Wundversorgung als Synonym für die grundsätzliche Sauberkeit und Hygiene bei der medizinischen Versorgung in den Lazaretten. Dem gegenüber stand der noch unbehandelte verletzte Frontsoldat – dreckverschmiert und mit blutiger Uniform. Das änderte sich mit Inszenierungen wie jenen von Ernst Friedrich, der mit seinem 1924 erschienenen Buch Krieg dem Kriege!39 erstmals Fotografien von frisch Verwundeten in Umlauf brachte. 5.5 Die Behandlung Bilder aus Krankenzimmern waren ein beliebtes Motiv.40 Sie standen stellvertretend für die Behandlung und die medizinische Versorgung der Verletzten und ermöglichten den Außenstehenden einen Blick in das Innere des Lazarettes, der den meisten sonst verwehrt blieb. Bilder von Patienten in Krankenzimmern kamen 24 Mal vor und Bilder von Patienten in einem Behandlungskontext weitere 26 Mal [vgl. Tabelle 3, dunkelgrau unterlegt: Alltagsfotografien soldatische Patienten und Alltagsfotografien Personal]. Die unten gezeigte Fotografie stammt aus der Kriegszahnklinik in Lublin, die im Etappenraum der Ostfront stationiert war. Zu sehen sind neun Verwundete und eine Pflegerin im „Schwerkrankenzimmer in der Kriegszahnklinik“ [vgl. Abb. 32]. Die dargestellten Personen füllen knapp die Hälfte des Bildes aus. Alle Patienten haben einen Kurzhaarschnitt, der die Behandlung und das Anbringen des Verbandes erleichterte. Die Kleidung ist unterschiedlich, zwei Personen tragen eine Uniform, die anderen Klinikkleidung. Der soldatische Patient am linken Bildrand hat eine Unterkieferverletzung und kann seinen Speichelfluss nicht kontrollieren. Um den Hals trägt er daher einen Auffangbehälter aus Stoff (Lätzchen). An einem Tisch sitzend liest er eine Zeitung und raucht dabei eine Zigarette, der Blick ist von der Kamera abgewandt. Die Person neben ihm liest ebenfalls. Sie ist durch die Zeitung teils verdeckt, die Nasenverletzung ist daher nur schwer erkennbar. Auch dieser Patient blickt nicht in die Kamera. Anders die Krankenpflegerin und der soldatische Patient rechts daneben. Sie lächeln in die Kamera, wodurch der Eindruck entsteht, das Bild handle von den beiden. Darüber hinaus stehen sie hinter dem Tisch und heben sich so von den anderen Abgebildeten ab. Dieser Soldat hat eine Unterkieferverletzung, und bei der Aufnahme floss gerade Speichel aus seinem Mund. Auch er trug daher einen Auffangbehälter aus Stoff. Rechts daneben sitzt ein Verwundeter, der erschrocken oder verärgert in die Kamera blickt und einen Verband in den Händen hält. Im Hintergrund sind fünf weitere Verwundete zu sehen, die abwechselnd in den Krankenbetten liegen oder danebenstehen. Vom Verwundeten links im Bett ist nur der Kopf, ein Teil des rechten Armes und der Verband auf der linken Gesichtshälfte zu sehen. Er 39 Friedrich (2004). 40 Vgl. dazu Abbildungen in: Norbert Rainer (2005), S. 140; Küster (2008), S. 24 und Delaporte (1996).
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 32: „Schwerkrankenzimmer in der Kriegszahnklinik“, entnommen aus den Nachlass Zilz im Zahnmuseum Wien.
blickt an der Kamera vorbei, so auch der stehende Verwundete rechts daneben, der mit leicht geöffnetem Mund ziellos bzw. apathisch auf den Boden blickt. Im Bett rechts liegt ein Mann, dessen Kopf mit einem Verband umwickelt ist. Sein Gesicht ist erkennbar, die Augen sind geschlossen und nach vorne gerichtet, der Rest des Körpers befindet sich unter einer Decke. Wieder rechts daneben steht ein Verwundeter, der links an der Kamera vorbeiblickt. In der rechten Hand hält er eine nicht brennende Zigarette. Die linke Hand ist um 90 Grad abgewinkelt und an den Körper gelegt. Seine Verwundung ist auf dem Bild (nicht mehr) erkennbar. Die neunte Person auf dem Bild ganz rechts liegt zeitungslesend im Bett, eine Kiefer- und Lippenverletzung ist deutlich zu sehen. Der Raum erfüllt zwei Funktionen, er ist zugleich Kranken- und Aufenthaltsraum. Der Aufenthaltsraum ist durch den Tisch und dessen Inventar (Stühle, Tischdecke, Vase mit Schnittblumen, zwei Gläser mit Untersatz und Teelöffel) auf der linken Seite des Bildes dargestellt. Dahinter befinden sich fünf Krankenbetten (eines davon ist vollständig verdeckt) mit weißer Bettwäsche und Bettlaken. An den Wänden hinter den Betten sind personalisierte Tafeln und Haken mit Handtüchern angebracht, der Text auf den Tafeln ist jedoch nicht lesbar. Im Gegensatz zum Tisch mit den sehr voluminösen Tischbeinen sind die Krankenbetten schlicht und funktional gehalten.
5.6 Die Nahrungsaufnahme
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Auch wenn durch die Anordnung der Betten im Raum (ein Bett steht vor einer Flügeltür) und den nutzungsfremden Gegenständen (Tisch und Stühle) erkennbar ist, dass es sich hier nicht um einen Raum eines Krankenhauses, sondern um eine nutzungsorientierte Adaption eines Wohnhauses oder Ähnlichem handelt, wirkt der Raum geordnet und steril wie ein Krankenzimmer. Bettwäsche, Handtücher und Verbände sind so strahlend weiß wie die Kleidung der Verwundeten und der Pflegerin, die Wände und der Boden sind sauber. Unterstrichen wird die suggerierte Fürsorge und der Eindruck eines Krankenzimmers durch die Schnittblumen in der Vase. Auch auf den Bildern von Krankenzimmern des Düsseldorfer Kiefer-Lazarettes werden die Krankenräume sauber, aufgeräumt und weiß dargestellt. Meist ist auf dem Bild auch eine Krankenpflegerin oder ein Arzt zu sehen. Die Verwundeten zeigten sich gepflegt und gaben Privates großzügig preis. Im Gegensatz zu den verschmutzten Verbandsplätzen und Feldlazaretten ging hier alles ordentlich vonstatten. Die Armee und das Sanitätswesen versorgen die Verwundeten angemessen – so lautete die Botschaft. 5.6 Die Nahrungsaufnahme Auf dem Bild ist ein Patient im Krankenbett zu sehen und links daneben eine Person mit einer Schnabeltasse in der Hand – eine Szene, die üblicherweise zu Beginn der Behandlung stattfand, wenn sich die Soldaten noch nicht selbst ernähren konnten. Der Mann weist Verletzungen an Wange und Kiefer auf und hat für die bald folgende Nahrungsaufnahme eine Serviette zum Schutz der Krankenhauskleidung umgebunden. Auf der rechten Seite des Krankenbettes befindet sich ein Nachttisch mit Schnittblumen, einem Trinkglas und zwei Kannen. Am Kopfende des Krankenbettes hatte jemand einen Bilderrahmen mit fünf Fotografien angebracht. Rechts und links ist die Figur einer Frau zu sehen. Vermutlich handelt es sich um ein und dieselbe Person, möglicherweise die Partnerin des Verwundeten [vgl. Abbildung 33]. Auf den drei restlichen unscharfen Fotografien sind ein Männerporträt, eine weitere Frau und eine sitzende Figur, erkennbar. Links neben dem Bilderrahmen ist am Stahlrahmen des Krankenhausbettes eine Taschenuhr angebracht. Der Raum selbst wirkt sauber und steril. Im Hintergrund der Szene sind ein Pfleger und ein Patient in seinem Bett sichtbar. Im Zentrum des Bildes stehen der Patient im Krankenbett und der Pfleger, der auf einem Stuhl an der rechten Seite des Bettes sitzt. Der Pfleger hält eine Schnabeltasse in der Hand und trägt einen Schutzmantel, wie es für Pflegerinnen und Pfleger bei der Essenzuführung üblich war.41 Seine Hand stützend an den Kopf des Verwundeten gelegt, blickt er mit vorn übergebeugtem Oberkörper auf den Patienten. Dieser schaut abwartend und geduldig in die Richtung der Kamera. 41
Vgl. Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916); Universitätsarchiv Düsseldorf (1928); Juljan Zilz (1914–1918).
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 33: Margarethe Huß (15. April 1915–24.März 1916).
Auffallend ist die körperliche Nähe der beiden Personen als Ausdruck der durch die lange Behandlungszeit aufkommenden Intimität und Vertrautheit des medizinischen Personales mit den Patienten. Ungewöhnlich und interessant an dem Bild ist, dass zwei Männer so körperlich (zärtlich) miteinander vertraut sind, eine Szene die üblicherweise zwischen weiblichen Pflegekräften und (männlichen) Patienten stattfand. Szenen der Nahrungsaufnahme sind aufgrund ihrer Bedeutung am Anfang der Behandlungszeit Bestandteil des Bildarchives der Lazarette. Das abgebildete Foto allerdings wurde für die Aufnahme inszeniert, denn der Patient konnte sich bereits wieder selbst ernähren, wie das Wasserglas und die Kanne auf dem Nachttisch vermuten lassen. Die Körpersprache und die Position der gezeigten Personen vermitteln der Betrachterin und dem Betrachter ein Gefühl von Fürsorglichkeit und Ordnung. Dazu braucht es die Nähe der beiden Personen ebenso wie das weiße Umfeld (Bettwäsche, Krankenhausbett, Wand), das Nachtkästchen und den Bilderrahmen des Verwundeten. Anfangs, als die Verwundeten bei der Ernährung auf eine zweite Person angewiesen waren, war die Autonomie des Patienten erheblich eingeschränkt. Auf den Bildern wird diese Hilfsbedürftigkeit durch die Person der Pflegekraft, die den Verwundeten nährt, ausgedrückt. Für Sabine Kienitz, Historikerin, wird in der konkreten Situation des Aufbrechens einer anscheinenden Konstante, wie hier der Autonomie des Mannes, der Konstruktionscharakter von Männlichkeit ersichtlich.42 Das Bild des kämpfenden Mannes wurde durch die Versehrtheit des Gesichtes zumindest vorübergehend verworfen. 42 Vgl. Kienitz (2002), S. 257.
5.7 Die Erholung
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5.7 Die Erholung
Abb. 34: Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).
Als Beispiel für die Darstellung von Behandlungszeit als Erholungszeit kann das oben gezeigte Bild gesehen werden [vgl. Abb. 34]. Das Foto stammt aus einem Erinnerungsalbum von Christian Bruhn. Es zeigt, wie sich soldatische Patienten im Garten auf Liegen ausruhen. Auf einem anderen Bild wurden die Liegen durch Krankenbetten ersetzt. Aufnahmen von Verwundeten auf Sitzoder Liegestätten finden sich im Quellenkorpus fünf Mal.43 Vier davon wählte Adalbert Oehler, Bürgermeister von Düsseldorf, während des Krieges für die Illustration seiner Chronik über den Ersten Weltkrieg aus.44 Von oben fotografiert zeigt das Bild eine Gruppe von 25 Personen in einem Garten. Sechs davon, einer sitzend und fünf auf Korbstühlen halb liegend, haben etwas zum Lesen in der Hand. Neben den Patienten, von denen neun einen Gesichtsverband tragen, sind fünf Pflegerinnen und ein Arzt auf dem Bild zu sehen. Ein wichtiges Element auf diesem Bild ist der Bildhintergrund, der mehr als die Hälfte des Bildes ausmacht und den Garten zeigt. Die Bildgeschichte selbst ist zweigeteilt. Zum einen sollen die Verwundeten auf den Stühlen den Eindruck erwecken, dass sie nur kurz für die Fotografie aufblicken und ihren Lesestoff beiseitelegen. Zum anderen stehen 19 Personen um diese Gruppe herum, zwei davon posieren in liegender Stellung, was auf eine gestellte Szene hinweist. 43 Vgl. Universitätsarchiv Düsseldorf (1928). 44 Vgl. Adalbert Oehler (1927), S. 176; Christian Bruhn (1917), S. 9 und 52–53.
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Durch die Anordnung der Szene im Freien – der Garten ersetzt das Krankenzimmer – wird der Eindruck erweckt, die soldatischen Patienten befänden sich in einem Sanatorium oder bei einem Kuraufenthalt. Die Behandlungszeit wird damit als Erholungszeit angesehen und das Lazarett wird, weit weg von Krieg und Bedrohung, als Ort der Ruhe und Entspannung dargestellt. 5.8 Die Unterhaltung Im Folgenden soll es um die Darstellung von Gesellschaftsspielen und Musik gehen – beliebte Motive von Verwundeten bei der Dokumentation ihres Alltages. Die Freizeitgestaltung nahm in den Lazaretten für Kiefer- und Gesichtsverletzte wegen der langen Rekonvaleszenzzeiten einen wichtigen Stellenwert ein. Dies spiegelt sich nicht nur in den gewählten Motiven wider, sondern auch in der Zahl der erhaltenen Fotografien zu diesem Thema. Auf 26 Bildern sind Szenen der Freizeitgestaltung dargestellt, weitere 24 zeigen die Männer bei der Behandlung und 17 Bilder handeln von der Arbeit.45 5.8.1 Das Schachspiel Die folgende Fotografie ist dem Briefnachlass von Kurt P. entnommen und zeigt ihn beim Schachspiel in einem Krankenzimmer. Er legte sie 1917 einem Brief an seine Partnerin bei [vgl. Abb. 35].46 Auf dem Bild sitzen Kurt P. und ein Freund an einem Tisch und spielen Schach. Die Beine von Kurt P. sind überkreuzt, der rechte Arm liegt auf dem Tisch, der linke stützt sich an der Tischkante und am Oberschenkel ab. Beide Personen tragen Lazarettkleidung. Das Schachbrett befindet sich auf einem weißen Tisch mit zwei Schubladen und einer Abstellfläche darunter. Die zwei Krankenbetten auf der rechten Seite des Bildes weisen den Raum als Krankenzimmer aus. Der Hintergrund des Bildes ist durch die Unschärfe der Aufnahme nur undeutlich erkennbar. In dem zur Fotografie gehörenden Brief nahm Kurt P. auf das Bild an der Stelle Bezug, an der er seinen Alltag im Lazarett skizzierte: „Von den vielen Soldaten, die ich im Lazarett kennengelernt habe, ist dieser der einzige bis jetzt, der mir so zugesagt hat, daß ich mich an ihn anschließen konnte. Und das will bei mir wohl viel sagen. Da B. seit über 2 Jahren hier auf der Aula im Lazarett liegt – er hat einen sehr schweren Kieferschuß – ist er mit dem Hause, den Schwestern, den Ärzten ganz vertraut und verwachsen; und so ergab es sich ganz von selbst, daß ich durch ihn auch mit Allem viel schneller bekannt wurde. Und jetzt als ich wieder in’s Lazarett kam, konnte ich auch gleich wieder seine Hilfe verspüren; er sorgte dafür, daß ich wieder auf die Aula kam, besorgte mir durch seine langjährigen Beziehungen öfter Urlaubskarten, daß ich zu den Verwandten gehen konnte, spielte mit mir Schach, kurz – ich fühlte so recht, daß ich mich nicht in ihm geirrt hatte und daß er sich auch freute, daß ich wiedergekommen war.“47 45 Vgl. Tabelle 3. 46 Vgl. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 14.4.1917, Kurt P. (1917b) S. 36. 47 Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 14.4.1917, Kurt P. (1917b), S. 36–37.
5.8 Die Unterhaltung
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Abb. 35: Brief Kurt P. an Frau Jaeckel, Charlottenburg, 14.4.1917, Kurt Post (1917b), S. 36.
Diese Bildpostkarte ist eines der wenigen Beispiele, bei der Nutzung und Verbreitung des Objektes überliefert sind. Im ersten Teil des Zitates spricht Kurt P. die Bedeutung von Bezugspersonen in einer Lazarettgemeinschaft an. Sich mit anderen Patienten kameradschaftlich und freundschaftlich verbunden zu fühlen, konnte auch bedeuten, sich im Alltag gegenseitig zu unterstützen und sich dadurch Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Der Textausschnitt legt offen, dass das viel beschworene Wir-Gefühl in der Realität weniger auf die soldatische Gemeinschaft im Ganzen zutrifft, sondern stattdessen ähnlich wie in der Zivilgesellschaft auf eine Gruppe ausgewählter Bezugspersonen beschränkt bleibt. Im zweiten Teil kommt P. auf die gemeinsame Beschäftigung des Schachspielens zu sprechen, dem er große Bedeutung für sein Wohlergehen beimaß. 5.8.2 Die Musik Eine weitere Möglichkeit, in der behandlungsfreien Zeit einer Beschäftigung nachzugehen, war das Musizieren. Demzufolge gibt es auch Fotografien, die Instrumente als Accessoires zeigen. An ein derartiges Motiv kann sich die Tochter von Wilhelm M. erinnern: „P. S.: ich besitze auch noch ein Bild von einem Krankenzimmer der Charité: Mein junger Vater (mit der Geige) und ein Mitpatient (mit Mandoline) sitzen in Anstaltskleidung, mit Augenverbänden neben den Betten. Einretuschierte Überschrift: Fröhliche Ostern!“48
Das hier vorgestellte Bild stammt ebenfalls aus dem Fotoalbum von Margarethe Huß und zeigt eine Gruppe von 68 Personen, darunter drei Ärzte und acht Krankenpflegerinnen [vgl. Ab. 36]. Aufgenommen wurde das Bild auf einem 48 Inge Meyer (16.5.1985).
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 36: Margarethe Huß (15. April 1915–24. März 1916).
Gehweg vor einer Hausmauer. In der ersten Reihe am Fußboden sitzen vier Personen mit ausgestreckten Beinen, drei von ihnen halten Saiteninstrumente in den Händen. Eine fünfte Person befindet sich ebenfalls am Boden, halb liegend und mit der linken Hand abgestützt. In der zweiten Reihe ist ein Tisch erkennbar, an dem vier Personen sitzen und Karten spielen. Ein soldatischer Patient mit verschmitztem Gesicht und Zigarillo im Mund ist gerade dabei eine Karte auszuspielen. Rechts und links daneben sitzt jeweils ein soldatischer Patient. Sie werden wiederum von zwei Pflegerinnen beidseitig flankiert. In der Mitte der dritten Reihe stehen eine Pflegerin und ein soldatischer Patient, deren Körper sich einander zuneigen. Ihr Blick ist auf die Kamera gerichtet. Die Pflegerin hält ein Tablett in den Händen, was darauf liegt, ist nicht zu erkennen. Die restlichen Personen reihen sich hinter der beschriebenen Gruppe auf und das Bild schließt mit der letzten Reihe auf einem Fenstersims. Manche der Personen haben Dienstkleidung oder Uniform an, der Großteil jedoch trägt Lazarettkleidung. Dass einige Personen auf dem Bild noch schwer entstellt sind, ist am Foto selbst kaum zu erkennen. Der Aufnahmewinkel, die Entfernung zur Kamera und nicht zuletzt die Bildqualität verbergen die schweren Verletzungen der Männer. Die Intention, ein derartiges Bild aufzunehmen, bestand zum einen darin, die vielschichtige Lazarettgemeinschaft abzubilden, zum anderen wollte man aber auch zeigen, dass es im Lazarett lustig zuging. Dies wird durch die Gegenstände auf den Bildern wie dem Kartenspiel und den Musikinstrumenten dargestellt. Die Abbildung der Musikinstrumente vermittelt hier einen heiteren Eindruck, ja sogar Geselligkeit. Die Erfahrung der körperlichen Versehrtheit wird durch diese Darstellungen bagatellisiert, nicht zuletzt deshalb, weil auf diesen Bildern das Ausmaß der Verwundungen nicht erkennbar ist.
5.9 Maskulinität und Soldatentum
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Stattdessen wurde auf den Fotografien immer wieder auf soldatische bzw. maskuline Codes Bezug genommen, wie in der Folge gezeigt wird. 5.9 Maskulinität und Soldatentum Aussagen über Männlichkeitsvorstellungen finden sich, mal als Subtext, mal als Motiv, auf allen Bildern wieder. Die beiden hierfür ausgewählten Bilder zeigen die Verwundeten bei körperlicher Betätigung. Das eine Bild dokumentiert Verwundete bei einem „Croquetspiel in der Abteilung Waldesheim“, das andere eine Gruppe von Verwundeten bei Reckübungen. Insgesamt wurden Verwundete drei Mal bei sportlicher Betätigung abgebildet. Alle Abbildungen, auch die hier gezeigten, wurden der Publikation von Christian Bruhn entnommen.49 Das erste Bild zeigt zwei parallel verlaufende „Croquetspiele“ in der Gartenanlage der Abteilung Waldesheim in Düsseldorf [vgl. Abb. 37]. Die Personen auf der Fotografie befinden sich im Zentrum des Bildes, der obere und untere Rand ist mit einer Grünfläche sowie einer Abgrenzungsmauer und Bäumen ausgefüllt. Im Vordergrund stehen zwei Personen mit Schlägern in den Händen und etwas versetzt dahinter zwei weitere, die den Spielzug beobachten. Auf dem Bild ist links im Hintergrund ein zweites Spiel zu erkennen, das von Personen verfolgt wird, die noch weiter hinten stehen. Im Zuschauerbereich sind soldatische Patienten, Ärzte und Krankenpflegerinnen abgebildet, die das Spiel teils auf Stühlen sitzend, teils im sonnigen Wetter stehend beobachten. Die Ausrüstung wirkt professionell. Aufgenommen wurde das Bild von einem Fotostudio [vgl. Bildbeschriftung rechte Ecke unten auf Abbildung 35 und nicht wie die anderen Aufnahmen von der lazaretteigenen Fotoabteilung. Das zweite Bild zeigt eine Gruppe von Männern, die sich in zwei Reihen gegenüberstehen. Die zwanzig stehenden und der eine turnende Verwundete werden von zwei Personen beaufsichtigt. Die Szene findet in einem Garten statt. Im Hintergrund des Bildes sieht man ein Gebäude, vor dem zwei symmetrisch angeordnete Bäume stehen. Die deutlich erkennbare Symmetrie der Inszenierung wird nur durch die Aufnahmeachse aufgehoben. In den Lazaretten legte man, neben Fortbildungsmaßnahmen und einem angemessenen Unterhaltungsangebot, starken Wert auf die körperliche Betätigung der Rekonvaleszenten. Dahinter verbarg sich das medizinische Konzept von Bewegung zur Unterstützung der Genesung. In der zahnärztlichen Abteilung der allgemeinen Poliklinik in Wien schätzte man Spaziergänge an der frischen Luft.50 Im Düsseldorfer Kiefer-Lazarett setzte man hingegen auf Turnübungen, Spiele im Freien und militärische Übungen (Exerzieren), auch auf dieser Fotografie ist der militärische Zweck der Turnübungen unschwer zu er49 Christian Bruhn (1917), S. 58. 50 Vgl. Brief von Gustav von Wunschheim an das Reservespital Nr. 9, Oktober 1915, Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915–5. Nov. 1917).
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 37: Fotos aus dem Kapitel „Körperliche Übungen“. Quelle: Christian Bruhn (1917), S. 58–59.
kennen. Der militärische Charakter kam nicht von ungefähr. Nach einer Verfügung des Sanitäts-Amts VII. Armeekorps vom 17.5.1916 Nr. 16731 sollten in Düsseldorf all jene, denen es physisch und gesundheitlich möglich war, an „körperlichen Übungen“ teilnehmen. Zusätzlich zum Angebot im Lazarett wurden die Verwundeten „gruppenweise in die Städtischen Badeanstalten und in das Rheinbad zum Schwimmen geführt“. Bewegung sollte an jedem Tag stattfinden, denn die „Wirkung ist eine im militärischen und ärztlichen Sinne gleich vorzügliche. Daneben ist dafür gesorgt, daß die Leute sich in den freien Stunden eifrig Spielen widmen können, die eine gesunde körperliche Bewegung im Freien mit sich bringen“51, so Christian Bruhn. Dazu besaß das Lazarett „Croquet- und Schlagballspiele, Fußbälle usw.“, die „fleißig“ benutzt wurden.52 5.9.1 Rauchen Neben sportlicher Betätigung war die Praxis des Rauchens eine Konstante in der Darstellung von Verwundeten – die Zigarette wurde zum wichtigen Accessoire bei der Inszenierung von Männlichkeit. Als Beispiel dienen hier zwei Bildausschnitte aus einer bereits gezeigten Fotografie der Kriegszahnklinik in Lublin [vgl. Abbildung 38]. Beide Patienten befinden sich im Krankenzimmer. Der Verwundete im linken Bildausschnitt raucht im Moment der Aufnahme und misst dem Geschehen keinerlei Bedeutung bei. Der zweite Verwundete hält seine Zigarette unangezündet als eine Art Ausstattungsgegenstand in der Hand. Rauchen gehörte zum soldatischen Habitus, wie der Historiker Nils Büttner in seiner Studie Avantgardisten im Schützengraben53 feststellte. Als berühmtes Beispiel aus der Bildenden Kunst führt Nils Büttner Ernst Ludwig Kirchners 51 Christian Bruhn (1917), S. 59. 52 Christian Bruhn (1917), S. 59. 53 Nils Büttner (2010).
5.9 Maskulinität und Soldatentum
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Abb. 38: Bildausschnitte zu den Abbildungen 32.
Selbstbildnis mit Zigarette aus dem Jahr 1915 an. Dieses Selbstporträt Kirchners mit einer Zigarette im Mundwinkel fand weite Verbreitung und wurde damit Teil des Bildarchives der Zeit.54 Auch im Quellenkorpus dieser Arbeit fand sich eine Erzählung, in der „sechs tapfere[n] Reiter mit einer Zigarette im Munde“ in den Kampf zogen.55 Die Daheimgebliebenen (gleichzeitig auch die Betrachterinnen und Betrachter der Bilder) waren von dieser Art der Darstellung irritiert. Rauchen in der Öffentlichkeit galt immer noch als Zeichen des sittlichen Verfalles und der Genuss von Tabak war in Anwesenheit von Frauen verboten. Selbst innerhalb des Militärs waren Regeln zu beachten. Es war untersagt, während des Dienstes zu rauchen und auch außerhalb der Dienstzeit mussten die Soldaten in Gegenwart eines Vorgesetzten die Pfeife oder Zigarre aus dem Mund nehmen.56 Der Verstoß gegen diese Verhaltensregeln eignete sich daher gut für die Inszenierung des Lässig-Coolen,57 wie die beiden Bildausschnitte zeigen.
54 55 56 57
Vgl. Nils Büttner (2010), S. 121. Georg Rist (1915), S. 18. Zitiert nach Nils Büttner (2010), Fußnote 46. Vgl. Nils Büttner (2010), S. 121–122.
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
5.9.2 Humorvolle Darstellungen
Abb. 39: Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).
Alternativ zur inszenierten Coolness finden sich auf den Bildern auch humorvolle Darstellungen. Das unten abgebildete Foto ist eines von 18 Gruppenbildern aus dem Fotoalbum von Christian Bruhn [vgl. Abbildung 39]. Die Aufnahme habe ich wegen der originellen Inszenierung als Beispiel für die Darstellung der heiteren Stimmung unter den Männern im Lazarett gewählt. Auf der Fotografie ist eine Gruppe von 35 Personen im Garten eines Lazarettgebäudes in Düsseldorf abgebildet. Im Zentrum des Bildes stehen zwei Männer inmitten eines Teiches auf jeweils einem Stein. Für die Inszenierung wurde vom Teichufer ein Brettersteg zu den Steinen gelegt. Jeder der beiden Männer hat einen Arm um die Schulter des anderen gelegt und stemmt die Hand des anderen Armes angewinkelt in die Hüften. Beide grinsen in die Kamera. Im Hintergrund sitzen drei Personen auf dem Erdboden um den Teich herum, hinter und neben ihnen stehen soldatische Patienten und, rechts im Bild, fünf Pflegerinnen. Am linken Bildrand steht eine Person in der Nähe der Kamera und beobachtet die Szene. Eingerahmt wird das Bild von einer Kulisse aus Sträuchern. Gegenstände aus den Lazaretträumen sind auf dem Bild nicht zu sehen. Die Szene hinterlässt bei der Betrachterin und dem Betrachter einen amüsierten und lockeren Eindruck. Die beiden Männer wirken wie eine Parodie auf militärische „Schneid und Lässigkeit“58, die beide ihren Ursprung in der 58 Nils Büttner (2010), S. 109–110.
5.9 Maskulinität und Soldatentum
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militärischen Grundausbildung hatten. Dort lernten die Soldaten, wie ihre Haltung auszusehen hatte, die auch nach dem Befehl „Rührt Euch!“ einzunehmen war. Wie Nils Büttner feststellte, waren humorvolle Szenen gängige Motive in fotografischen Soldatenporträts, bei denen es auch immer darum ging, sich lässig-cool und gleichzeitig männlich sowie kameradschaftlich zu inszenieren.59 5.9.3 Kameradschaft An die Inszenierung des lässig-coolen Soldaten knüpft die nächste Fotografie [vgl. Abbildung 40] aus dem Fotoalbum von Christin Bruhn an. Dieses Bild zeigt noch stärker als das vorhergehende die enge Beziehung der Soldaten untereinander, gerade auch durch die dargestellte körperliche Nähe der Männer zueinander. Die gezeigten Personen auf dem Foto sitzen sehr eng gedrängt beisammen. Wie auf den meisten der Gruppenfotos wird auch hier versucht, die Szene symmetrisch zu gestalten. In der ersten Reihe sitzen drei Schwerverletzte Arm in Arm auf einer Grasfläche, die beiden Männer links und rechts mit ausgestreckten Beinen, der Verwundete in der Mitte im Schneidersitz. Alle drei blicken in die Kamera. In der zweiten Reihe befinden sich sieben Personen auf Stühlen und auf einer Bank. In der Mitte sitzt eine Frau in einem schwarzen Kleid, Arm in Arm mit einem Verwundeten. Am linken und rechten Rand sitzt jeweils ein Verwundeter auf der Stuhllehne eines anderen. Da der Verwundete rechts legt zudem seinen Arm um den anderen Mann. In der letzten Reihe stehen fünf Verwundete und zwei Pflegerinnen, die beide, im Gegensatz zu allen anderen Personen auf der Fotografie, nicht in die Kamera blicken. Insgesamt befinden sich 19 Personen auf dem Bild, neun davon haben ein verbundenes Gesicht. Auffällig ist die offen dargestellte Nähe unter den Männern. In der ersten Reihe umarmen sie sich freundschaftlich. Die Umarmungen der beiden Männer rechts dahinter wirken geradezu intim. Für den Historiker Robert L. Nelson stellt die Vorstellung von „Kameradschaft“, die wie hier eine enge Beziehung zwischen den Soldaten zum Ausdruck bringt, eine „komplizierte Mischung aus männlichen und weiblichen Komponenten“ dar, denen in den „virilen, militärisch-heroischen“ Männlichkeitsbildern und dem Kameradschafts-Mythos „bemerkenswert viel Raum eingeräumt“ wurde, vor allem in der Darstellung der „Soldatischen-Beziehungen“60. Vielen Soldaten mit einer Kamera ging es weniger darum, das Kriegsgeschehen zu dokumentieren, sondern die kameradschaftliche und militärische Gemeinschaft.61 In diesem Kontext kann die dargestellte Masse der Personen auf dieser und anderen Fotografien als Platzhalter für Kameradschaft und männliches Gemeinschaftsgefühl 59 Vgl. Nils Büttner (2010), S. 113. 60 Robert L. Nelson (2002), S. 94. 61 Vgl. Nils Büttner (2010), S. 109.
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Abb. 40: Universitätsarchiv Düsseldorf (1928).
gedeutet werden. Das wird auch mit der großen Anzahl von Gruppenfotos (51 Bilder) deutlich. Der Akzent bei Aufnahmen der Frontkameradschaft lag jedoch immer „auf jenen Anteilen, die als die wahrhaft männlichen angesehen wurden: Wehrwilligkeit, Pflichterfüllung, Ehrgefühl, Arbeitsbereitschaft, Ehrlichkeit und Treue“62. 5.10 Gesichtsverletzte berichten über ihre Kriegserlebnisse Kriegserfahrung, Verwundung und Kameradschaft sind wiederkehrende Themen in Berichten von Verletzten über ihre Kriegserlebnisse im Buch „Und wenn die Trompeten blasen“. Selbsterlebtes aus d. Kriege erzählt von Verwundeten d. Düsseldorfer Kieferlazaretts.63 Ähnlich wie in dem letzten hier vorgestellten Bild, werden in den Texten spezifische soldatische Eigenschaften der Männer hochgehalten und glorifiziert. In den Geschichten begegnet man Männern, die den drohenden Tod gemeinsam überleben, oftmals nur, weil sich ein Soldat für die Gruppe heldenhalft aufopfert. Die Kameradschaft war das „Leitbild der ‚Zwangs‘-, ‚Leidens‘-, ‚Opfer‘-, ‚Schicksals‘- und ‚Kampfgemeinschaft‘“64 der Verwundeten und Soldaten. Die Sogwirkung der Kameradschaft konnte Her62 Robert L. Nelson (2002), S. 94. 63 Bruhn (1915). 64 Eintrag zu Kameradschaft verfasst von Thomas Kühne, Hirschfeld et al. (2009), S. 602– 603.
5.10 Gesichtsverletzte berichten über ihre Kriegserlebnisse
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kunft, Klassenunterschiede, ja sogar militärische Rang- und Hierarchieebenen überwinden.65 Die Verwundeten berichten über Flugzeugangriffe, lustige Erlebnisse, Kämpfe, Angriffe und soldatische Auszeichnungen (Seite 47 und 70); über den Alltag an der Front und die Versorgung (Seite 49, 18, 21 und 27); über die Schützengräben (Seite 47 und 53); über Soldatenkult, Heldenverehrung und von anonymen Gefallenen oder Verwundeten (Seite 7, 9, 10, 12, 17, 47, 53, 54, 69, 74 und 94). Nur die wenigsten (in elf Geschichten erwähnt) der ausgewählten Berichte handeln von der eigenen Verwundung und der am eigenen Körper erfahrenen Zerstörungskraft des Krieges. Die Frage nach den dargestellten Männlichkeitsbildern stellt sich daher hier ganz besonders. Einleitend dazu ein Zitat von Christian Bruhn aus dem Buch: „Unsere Verwundeten stehen, wenn sie zu uns kommen, noch ganz im Banne der Bilder, die sie im Wachen und Träumen vor sich sehen. Zuerst sind manche schweigsam, die Wucht des Erlebten lastet auf ihrer Seele, doch wenn die Tage gehen und die Kräfte wiederkehren, löst sich auch ihre Zunge und sie berichten gern und mit Begeisterung von dem, was sie mitmachten.“66
In Bruhns Augen bekamen die Verwundeten durch den Wettbewerb die Möglichkeit, ihre Kriegsbegeisterung und ihr Soldatentum zu inszenieren. Gleich im ersten Aufsatz Aus meinem Tagebuch67, verfasst von Fritz Koberstein, werden diese Motive aufgegriffen. Die Geschichte handelt von einem Angriff auf eine französische Stellung oder, mit den Worten des Autors, um die Tage, „an denen die Franzosen sich Beweise von deutscher Kraft und Einigkeit holen konnten.“68 Dieser heroischen Tonart der wild vorstürmenden deutschen Soldaten, die dem „heißersehnten Ruhm“69 entgegenlaufen, lassen sich noch fünf weitere Aufsätze aus dem Buch zuordnen. Massenhafte Opferzahlen auf beiden Seiten70 werden wohlwollend toleriert, wenn es um den Sieg über die Gegner geht: „Furchtbar mähen und lichten sie unsere Reihen. Einer sinkt neben dem anderen, von der tödlichen Kugel getroffen, nieder – aber es geht voran, ungeachtet der Geschosse […]. So ging es uns am 10. November, während unsere Kameraden neben uns in den feindlichen Graben eindrangen, die einen singend und siegend, die anderen siegend und sterbend. Auch wir brauchten uns nicht zu schämen, denn wir hatten unsere Pflicht getan.“71
Das hier gezeichnete Bild der Kameradschaft besitzt die Kraft, den Gegensatz zwischen Leben und Tod zu überwinden. Sie ist gleichbedeutend mit einer selbstlosen und sakralisierten Auslöschung des Selbst, besonders deutlich skizziert in der Passage, in der sich die eigenen Reihen „lichten“ und trotz des 65 Vgl. Eintrag zu Kameradschaft verfasst von Thomas Kühne, Hirschfeld et al. (2009), S. 602–603. 66 Bruhn (1915), Vorwort. 67 Fritz Koberstein (1915). 68 Fritz Koberstein (1915), S. 9. 69 Wilhelm Zißler (1915), S. 71. 70 Vgl. Unteroffizier Kändler (1915), S. 88. 71 Wilhelm Zißler (1915), S. 73–74.
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
anhaltenden Feuers weitergekämpft wird.72 Der Soldat Gerhard Simon berichtet in seiner Geschichte Verwundet, gefangen und befreit von einem Angriff, für den er sich freiwillig meldet. Obwohl die Truppe in der Unterzahl ist, rennen die Soldaten den Franzosen mit einem „Hurra“73 entgegen, „singend und siegend“ sozusagen, wie Wilhelm Zißler in der Geschichte Der zehnte November 191474 beschreibt. In dem Text des Unteroffiziers Kändler mit dem Titel Bei La Bassée im Schützengraben schreien selbst die Verteidiger in den Schützengräben „Hurra“, als sich die französische Soldaten nähern: „Auf einmal ein donnerndes Hurra! Aber nicht Stürmende drücken so ihren Siegeswillen aus, die Verteidiger, die erste sich heranwälzende Menschenfeindesflut gewahren, rufen es. Jetzt gibt es Arbeit, harte blutige Kampfesarbeit, darum ihre Freude. Und ich, der ich bei der Beobachtung von einer feindlichen Kugel getroffen werde, gehe äußerlich müde und kraftlos, innerlich aber voll heißen Jubelns zurück; ich sage unterwegs nur das trotzig: Dresche haben sie doch gekriegt!“75
Ähnlich entschlossen gehen der vorhin zitierte Gerhard Simon und seine Kameraden gegen die feindlichen Soldaten vor. In „heller Verzweiflung“ schießen sie ohne konkretes Ziel in die gegnerische Richtung, worauf sich so „manche Rothose“ im Staub wälzt, „bis schließlich durch die Übermacht fast alle von einer Kugel getroffen oder durch Bajonette erlegen waren“76. Auch Simon wird von einer „Kugel aus nächster Nähe“ am Unterkiefer getroffen. Den sich direkt vor ihm befindlichen Gegner kann er zuvor „noch niedermachen“.77 Die Beschreibung vom eigenen Töten bei Kampfhandlungen ist gefühlskalt und gewalttätig. Von zivilen Kriegsopfern und brennenden Dörfern wird gleich teilnahmslos berichtet,78 wie von der Erschießung und Hinrichtung französischer Soldaten oder Heckenschützen.79 Robert Berwein treibt dies in seiner Geschichte auf die Spitze, indem er die Erschießung gegnerischer Soldaten zum Höhepunkt seines Schwankes macht.80 Diese Art der Erzählung fügt sich nahtlos in populäre Darstellungen des Krieges ein, die davon berichten, dass die Soldaten „ihre Aggressionen gegen den Feind beim Sturmangriff auf grauenhafte Weise“ entladen, wie Benjamin Ziemann feststellt, wenngleich das „Töten als Handarbeit“ nur in den seltensten Fällen der Kriegsrealität entsprach.81 Dem Alltag an der Front und der Schützengrabenrealität entsprechen eher die Geschichten von passiven, abwartenden Soldaten, die zu jeder Zeit bereit
72
Vgl. Eintrag zu Kameradschaft verfasst von Thomas Kühne, Hirschfeld et al. (2009), S. 602–603. 73 Gerhard Simon (1915). 74 Wilhelm Zißler (1915). 75 Unteroffizier Kändler (1915), S. 92. 76 Gerhard Simon (1915). 77 Gerhard Simon (1915). 78 Vgl. Kuno Weisenburg (1915), S. 30. 79 Vgl. Hermann Korte (1915), S. 75. 80 Robert Berwein (1915), S. 29. 81 Benjamin Ziemann (2009), S. 157.
5.10 Gesichtsverletzte berichten über ihre Kriegserlebnisse
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sind, sich zu verstecken.82 Kalt und berechnend geben sich auch Franz Weiß und seine Kameraden, wie er in Vorstoß und Abwehr in Ypern schreibt: „Granaten auf Granaten schlugen in unsere Stellung ein, doch wir blieben ruhig und kalt vor unseren Beobachtungslöchern liegen, jeden Augenblick eines neuen Angriffs gewärtig.“83
In einigen wenigen Geschichten berichten die Männer über ihre Verletzungen. Diese wurden als etwas Temporäres beschrieben und das Handicap als etwas zu Überwindendes.84 Bezeichnend in den Geschichten ist der Umstand, dass die Verwundeten das Ausmaß der Verletzung durchgehend unterschätzten. Den wenigsten waren, ähnlich wie den Ärzten, welche die militärärztlichen Zeugnisse ausstellten,85 die Behandlungsdauer und die Folgen der Verletzung bewusst. Die in der Pluralform von Fritz Koberstein verfasste Geschichte Wir legten gemeinsam an und weg waren die Köpfe86, thematisiert an mehreren Stellen die Rolle der Kameraden in Verbindung mit dem Verwundungserlebnis. In bildgewaltiger Sprache berichtet er von einer Schrapnellkugel, die ihn „am Kopfe traf“, sodass „das Blut nur so herabströmte.“87 Der Höhepunkt der Geschichte setzt bei der Verabschiedung von seinem Kameraden und Freund ein: „Ich tappte zurück, mit dem Taschentuch die Wunde zuhaltend, bis zum Sanitätsunterstand. Mein Freund Loserer stahl sich eine Minute weg und drückte mir die Hand. Sprechen konnte ich nicht, aber ich sah wie nahe ihm das Weinen stand. Wir haben immer jeden Bissen miteinander geteilt.“88
Angesichts des Todes waren Gefühlsbekundungen unter Männern legitim. Dazu gehörte auch, die eigene Verletzung herunterzuspielen und im Gegenzug dazu die Opfer der Truppe emotional zu überhöhen und in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen, wie das folgende Zitat zeigt: „Aber wie viele Kameraden sind viel schlimmer dran als ich. Und wie viele sind überhaupt nicht mehr. Für Deutschlands Ehr’ in Kampf und Müh’ starben sie zu früh. Das Vaterland vergisst sie nie!“89
Mit dem Glauben an den ewig währenden Ruhm und der Dankbarkeit des „Vaterlandes“ endet der Aufsatz. Ein weiterer Soldat, der seine Verwundung ausführlich beschreibt, ist Wilhelm Olgemann. Als Einziger erwähnt er in seinem Beitrag das medizinische Personal. Nach einem „gewaltigen Schlag an den Schädel“ fliegt er „mit einem Ruck zur Seite“. Was dann geschieht, beschreibt er folgendermaßen: 82 83 84 85
Vgl. Bruhn (1915), S. 62, 45 und 80. Franz Weiß (1915), S. 96–97. Vgl. Fritz Koberstein (1915). Vgl. Militärärztliche Zeugnisse in den Patientenakten der Allgemeinen Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten, Zahnmuseum Wien. 86 Fritz Koberstein (1915), S. 11. 87 Fritz Koberstein (1915), S. 13. 88 Fritz Koberstein (1915), S. 13. 89 Fritz Koberstein (1915), S. 13.
202
5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern „Dann sehe ich nur noch feurige Funken vor meinen Augen tanzen und fühle es heiß über meine rechte Wange fließen. Meine rechte Hand greift instinktiv dahin.“90
Die Kämpfe gehen weiter, und erst nachdem ein „wackerer bayrischer Kamerad“91 sein Leben rettet, bemerkt Olgemann, dass er auch am Bein eine Schussverletzung hat: „Ich sehe das zerfetzte Hosenbein und den zerfetzten Stiefel von hervorquellendem Blute rot gefärbt. Auch mein Rock ist bereits von der aus Nase und Mund sprudelnden Flüssigkeit rot gefärbt. Wiederum greift meine Hand an die Backe und konstatiert, daß wenigstens der Schädel nicht auseinander ist, was ich im ersten Entsetzen schon glaubte. […] Doppelt unheimlich klingt einem in solcher Lage, man mag noch so beherzt sein, das Heransummen und Krepieren der Granaten. Ich höre noch andere Hilferufe von Getroffenen und sehe durch einen roten Schimmer meinen Oberjäger heranspringen. Mit vereinten Kräften tragen mich beide in einen etwas tiefer gelegenen Unterstand.“92
In dieser Notsituation, in der Wilhelm Olgemann dem Feuer der Kriegsgegner schutzlos ausgeliefert ist, eilen ihm seine Kameraden zu Hilfe und retten ihm dadurch das Leben. Wieder in Sicherheit, wird er in eine stabile Lage gebracht und von den Soldaten mit einem Verband erstversorgt. Trotz des offensichtlich dramatischen Erlebnisses ist die Verletzung für Olgemann kein ausreichender Grund, an der Sinnhaftigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen zu zweifeln. Vielmehr bedauert er die ihm entgangene militärische Auszeichnung durch die frühzeitige Beendigung des Fronteinsatzes: „Es ärgerte mich nur, daß meiner Tätigkeit im Feindesland nun fürs erste ein Ende gemacht worden, und daß es mir nicht vergönnt war, mit dem Eisernen Kreuze geschmückt aus der Front heimzukehren.“93
Vor dem Abtransport in ein Lazarett am Ende der Geschichte verabschieden sich seine Kameraden von ihm – für Olgemann ein bewegender und erzählenswerter Moment: „Meine bekannten Kameraden drängten sich an mich heran, um mir die Hand zum Abschied zu drücken, manche von ihnen hatten, wie sie mir vor kurzem schrieben, geglaubt, es sei der letzte gewesen. Auch mein Kompanieführer war zugegen, um mir Lebewohl zu sagen. Er fragte mich, ob ich wohl glaubte, durchzukommen, worauf ich prompt erwiderte: „Natürlich, Herr Leutnant, Unkraut vergeht nicht.“ Und ich habe recht behalten. Augenblicklich erfreue ich mich wieder tadelloser Gesundheit, und hoffe ich, mich bald wieder in den Dienst des Vaterlandes stellen zu können.“94
Mit einem lockeren Spruch demonstriert er seinen Optimismus und inszeniert sich gleichzeitig als tapferer und widerstandsfähiger Mann, der auch durch die schwerste Verletzung keine Zweifel an seiner Aufgabe fürs Vaterland aufkommen lässt. Für die Soldaten stellen neben dem vermeintlichen Heldenmut vor allem Treue und Verbundenheit bis in den Tod einen wichtigen Aspekt beim Mythos 90 91 92 93 94
Wilhelm Olgemann (1915), S. 46. Wilhelm Olgemann (1915), S. 46. Wilhelm Olgemann (1915), S. 47. Wilhelm Olgemann (1915), S. 47. Wilhelm Olgemann (1915), S. 48.
5.10 Gesichtsverletzte berichten über ihre Kriegserlebnisse
203
Kamerad dar.95 Ein Teil davon besteht darin, sein eigenes Leben für die Rettung des anderen zu riskieren, wie Hermann Korte zur Krönung der Geschichte erzählt: „Er bat den Feldwebel, seine Sachen seiner Frau zu schicken; gern erfüllte dieser ihm den Wunsch. Als er damit beschäftigt war, die Sachen zu nehmen, wurde er selbst von einer Kugel getroffen und war sofort tot.“96
In solchen Geschichten, wie auch in der, wo heraneilende Kameraden die Soldaten vor dem Feuer der Kriegsgegner in Sicherheit bringen,97 wurde der Tod für den anderen romantisiert und zur Heldentat verklärt. Rettungsgeschichten konnten auch im Niemandsland zwischen den Fronten stattfinden, wobei es keine Rolle spielte, ob der Soldat, meist ein Offizier, lebendig oder bereits tot war.98 Wilhelm Zißlers Geschichte handelt interessanterweise von der Unmöglichkeit, den eigenen Heldenmut durch die Rettung von Kameraden unter Beweis zu stellen. In seinem Fall können die Kameraden zwar auf sich aufmerksam machen, durch das anhaltende Feuer aber nicht gerettet werden: „[…] und zu diesem Getöse [Geschosse, RM] kommt das Stöhnen und Jammern der Verwundeten, die draußen auf dem Felde liegen, denen aber niemand helfen kann, denn sobald sich einer regt, wird von feindlicher Seite auf ihn geschossen. Und doch gelingt es einigen, in den Ackerfurchen heranzukriechen und so, geschützt gegen das feindliche Feuer, in den Graben hereinzukommen.“99
Das verbindende Moment dieser und folgender Geschichten ist der Verweis auf das Jammern der Soldaten, um auf sich und ihre ausweglose Situation aufmerksam zu machen. Es sind abgeänderte Formen von Rettungsgeschichten, die auch das Scheitern inkludieren und damit, so scheint es, eine grundlegende Angst der Soldaten aufgreifen: hilflos und langsam in den Kampflinien zu sterben, dem Kriegsgegner ausgeliefert zu sein oder unbeachtet im eigenen Schützengraben verschüttet und verletzt zu liegen. Ein Motiv, das auch Erich Maria Remarque in Im Westen nichts Neues aufgreift, um die Schrecken des Grabenkampfes und die Hilflosigkeit der Soldaten darzustellen.100 Zu den Glücklichen zählten diejenigen, die auf sich aufmerksam machen konnten, wie Franz Weiß in seiner Geschichte beschreibt: „In diesem Augenblick krepierte die dritte Granate auf derselben Stelle und ein Splitter zerschmetterte mir die Lippen, Zähne, Zunge und Kiefer. Zuerst war ich betäubt, kam aber bald wieder zur Besinnung. Durch mein Jammern aufmerksam geworden, kamen einige Kameraden heran und befreiten mich, der Gefahr nicht achtend, aus meiner schlimmen Lage. Dann legten sie mir einen Notverband an.“101
Nicht allen Verwundeten gelang es, sich bemerkbar zu machen und dadurch gerettet zu werden, wie der Autor weiter berichtet: 95 96 97 98 99 100 101
Vgl. Robert L. Nelson (2002), S. 94. Hermann Korte (1915), S. 77. Wilhelm Olgemann (1915), S. 47. Vgl. Robert L. Nelson (2002), S. 94. Walter Kramm (1915), S. 64. Carden-Coyne (2009), S. 74. Franz Weiß (1915), S. 97.
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5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern „Zahlreiche Tote bedeckten das Feld vor unserer Stellung, einige Schwerverwundete jammerten und ergaben sich, konnten aber nur mit großer Mühe in unsere Gräben kommen. Dort wurden sie von unseren stets hilfsbereiten Sanitätern aufgenommen und aus der Feuerlinie gebracht.“102
Interessant ist folgende Geschichte, die von der Humanität französischer Soldaten handelt. Der Textausschnitt zeigt, dass sich aus der auf beiden Seiten erlebten Situation des Ausgeliefertseins tatsächlich so etwas wie eine soldatische Solidarität über die Frontlinien hinweg entwickelte: „Schon während der Nacht hatten wir oft vor uns Stöhnen und Klagen hören. Es war anscheinend ein Verwundeter. Nun sahen wir, daß es ein Kamerad von uns war, doch konnten wir ihm keine Hilfe bringen, da der Feind heftig feuerte und wir das vor uns liegende Gelände nicht kannten. Aber am Nachmittag geschah das Unglaubliche: Das Infanteriefeuer vor uns hörte auf und man rief uns aus dem feindlichen Graben zu: ‚Holt doch euren armen Kameraden, holt ihn, wir schießen nicht!‘ […] Darauf liefen einige von uns vor und holten den Ärmsten, der achtundzwanzig Stunden zwischen zwei Feuern gelegen hatte. […] In der Nacht hatte er noch zwei leichtere Schüsse erhalten. Doch wie glücklich war der arme Kerl wieder bei uns zu sein.“103
In dem letzten etwas längeren Textausschnitt berichtet der am Kiefer verletzte Soldat Walter Reith in seiner Geschichte Notre Dame de Lorette von seiner Wahrnehmung der Kriegshandlungen. Eindrucksvoll schildert er, wie der Dauerbeschuss und das „Wirrwarr“ an der Front bei einem zum Wahnsinn, beim anderen zu zügelloser blinder Gewalt führen kann: „Notre Dame de Lorette, oder, wie wir sagten, Lorettobuckel. Es überkommt mich jetzt noch ein Grausen, wenn ich die Erinnerung, die sich an dies Wort knüpfen, wieder durchlebe. Wahnsinniges Artilleriefeuer, Rattern der Maschinengewehre, Stöhnen der Verwundeten Röcheln der Sterbenden. Unsere Sinne waren gegen all diesen Lärm abgestumpft. Seit drei Tagen hatten die französischen schweren Batterien ihr Feuer nicht unterbrochen. Gräben hatten wir nicht mehr. Hinter Haufen von Leichen, Franzosen, Deutsche, Schwarze und Weiße, alles durcheinander, lagen wir. Mir war, als dauere dieses Feuer, dieser Wirrwarr, ewig, als hätte ich niemals anderes gesehen, fast, als müsse das so sein. Meinem Kameraden neben mir stand der Schaum vor dem Munde. Hier hockte einer, der blöde vor sich hingrinste. Unter den Leichen rührte sich ein anderer; er war nur verwundet – wir konnten nicht helfen. […] Plötzlich wird es still. […] Wir wissen was kommt: jetzt werden sie in dichten Scharen auf uns losstürmen. Und doch macht die augenblickliche Stille die gepeitschten Nerven ruhiger. Jetzt kommt uns erst die Besinnung wieder. Mein Kamerad neben mir summt vor sich hin – er ist wahnsinnig geworden. Wie kommt es nur, daß ich über all das noch nachdenken kann? Da tritt auch blitzartig der Gedanke an die Heimat auf … ich sehe den Zürichsee mit den Alpen … unsere Berglihütte … meine Mutter … sie kommt mir entgegen – ein unendlich bitteres Gefühl steigt mir in der Kehle hoch: wie hab ich doch so manchmal meinen Lieben durch unbesonnene Worte wehe getan und wie waren sie doch immer so gut zu mir und dann – daß ich alles nicht wieder gutmachen kann – daß es unmöglich ist, aus diesem Wirrwarr lebend herauszukommen. […] Ich umkralle mein Gewehr fester und schieße, schieße, nun wieder ruhiger geworden. Nur nicht lebendig diesen Hunden in die Klauen fallen! Auch rechts und links von mir haben sich Kammeraden aufgerafft und feuern wahnsinnig.“104 102 Franz Weiß (1915), S. 96. 103 Walter Kramm (1915), S. 64–65. 104 Walter Rieth (1915), S. 35–37.
5.11 Gesichtsverletzte Soldaten und ihre Interpretation des Geschehenen
205
Im Zentrum der Geschichte steht die gedankliche Heimkehr des verzweifelten Frontsoldaten im Moment der größten Verzweiflung, in dem dieser sich auf die Familie besinnt und, „nun wieder ruhiger geworden“, den soldatischen Pflichten gerecht werdend losschießt. Der Historiker Benjamin Zieman stellte fest, dass gerade zu Beginn des Krieges die Kampf- und somit auch die Gewaltbereitschaft unter den Soldaten besonders hoch war. Das führte, wie in dem Erlebnisbericht geschildert, zu hohen Verlusten auf beiden Seiten. So beliefen sich die Verluste an der Westfront in den ersten Kriegsmonaten zwischen 12,4 und 16,8 Prozent der Gesamtzahl der Soldaten. Die Durchschnittsverlustrate über den ganzen Kriegsverlauf betrug nur 3,5 Prozent der gesamten Kampftruppen. In besonderem Maße waren junge, familiär noch ungebundene und dadurch risikobereitere Männer, die die Mehrheit der Infanteristen stellten, betroffen.105 Auffallend ist die emotionale Distanz bei Berichten über Verluste in der eigenen Mannschaft solange sie anonym blieben. Wie Sigrid Wisthaler, Historikerin, feststellte, lag dies am „notwendigen mentalen Schutz“ vor zu viel Empathie als „Teil der eigenen Überlebensstrategie“106. Gleichzeitig fanden die Soldaten durch den Mythos vom ehrenhaften Tod „für Gott und Vaterland“, so der Historiker George L. Mosse einen Weg, mit den großen Verlusten von oftmals auch nahestehenden Personen und den Schreckensbildern der Kriegserlebnisse umzugehen.107 Die Darstellungen lassen sich folglich in einen bis weit nach dem Krieg gültigen Diskurs über Vaterland, Krieg, Kameradschaft und Gefallenenkult einordnen.108 Die hier vorgestellten Geschichten sind sehr unterschiedlich, thematisch wie stilistisch. Gemeinsam ist ihnen das Narrativ der Überwindung, mit dem diese Geschichten an die Inszenierungen aus dem Lazarett anknüpften. Mental wie körperlich wurde damit die eigene Angst, der Respekt vor dem Leben des als Feind wahrgenommenen Gegenübers, aber auch die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit überwunden. 5.11 Resümee: Gesichtsverletzte Soldaten und ihre Interpretation des Geschehenen 5.11 Gesichtsverletzte Soldaten und ihre Interpretation des Geschehenen Zur Selbstdarstellung wählten die Verwundeten entweder Porträts, auf denen sie mit ihren Verletzungen zu sehen waren oder Aufnahmen, die sie in ihren Krankenbetten zeigten. Sie ließen sich bei Behandlungsschritten sowie bei der Erholung im Garten fotografieren. Sie inszenierten sich als Musiker oder Schachspieler und blieben dabei doch immer auch Soldat und Mann, mit oder ohne Zigarette, humorvoll oder kameradschaftlich. Dies findet sich in ähnlicher Form in den Selbstbildern aus den erzählten Kriegserlebnissen wieder. 105 106 107 108
Vgl. Benjamin Zieman, Soldaten. In: Hirschfeld et al. (2009), S. 155–168, hier 156–157. Wisthaler (2010), S. 70. Mosse (1991), S. 64–65. Vgl. Mosse/Rennert (1993), S. 133.
206
5. Selbstbilder und Selbstdarstellungen von gesichtsverletzten Männern
Auf den Bildern begleitet man die Verwundeten auf ihrem Weg zur Genesung und dem sich verändernden Männlichkeitsbild. Fotografien der Nahrungsaufnahme vermitteln ein Bild der Hilfsbedürftigkeit und Verletzlichkeit der Soldaten. Auf dem Weg zur Besserung nahmen die Verwundeten eine andere Rolle ein, sie sollten durch die dargestellten Tätigkeiten (Lesen, Musizieren, Weiterbildung) die von der Lazarettleitung (Düsseldorf) gewünschte Bürgerlichkeit auch in den Lazaretten verkörpern. Gegen Ende der Rekonvaleszenz wurde die Rolle abermals getauscht – nun galt es, die wiedergewonnene Arbeitskraft in Szene zu setzen. Gleichzeitig passierte aber auch noch etwas anderes. Nicht nur der verwundete Soldat wurde inszeniert – mit den idealisierten Aufnahmen bei der Verletzung, der Pflege, der Behandlung, der Erholung, der Unterhaltung und schließlich der soldatischen Tugenden wurde auch eine Visitenkarte des Lazarettes entworfen. Das Lazarett wurde so zum Ort, an dem die Kriegstraumata, die Verletzungen, die Entstellungen sowie die Schrecken des Krieges überwunden wurden. Das Lazarett brachte wieder wehrfähige oder zumindest arbeitsfähige Männer hervor, wodurch der Wert des Ortes militärisch wie auch zivilistisch stieg. Die Fotografien dienten in diesem Kontext als „Objekte der Übersetzung und Vermittlung von kulturellen Werten, Idealen und Selbstdarstellungen“109. Verbreitung fanden diese Inszenierungen in Berichten, Briefen, Bildpostkarten sowie in Chroniken für eine breite Öffentlichkeit, wie die des ehemaligen Bürgermeisters von Düsseldorf. In dem knapp 700-seitigen Buch beschrieb Adalbert Oehler auf 40 Seiten das Sanitätswesen der Stadt Düsseldorf während des Krieges.110 Die Nachkriegsgesellschaft sollte sich an „große Leistungen aus der Zeit des Weltkrieges“ erinnern können. Die Gruppe der Gesichtsverletzten und deren Weg zur wiedergewonnenen Menschlichkeit wählte er als Beispiel für das Durchhaltevermögen der Verwundeten und die „Wunder“, die Mediziner der Zeit verrichteten: „Wer gesehen hat, in welchem Zustande, mit zerschossenen Kinnbacken, durch Granatsplitter aufgerissenen Gesichtsteilen die Verletzten eingeliefert wurden und wie nach und nach durch die verschiedensten Operationen die zerschossenen Teile durch andere ersetzt oder ergänzt, mit neuer Haut überzogen, Nase und Mund wieder in menschliche Form gebracht, die Kinnbacken beweglich gemacht, das Essen und Kauen wieder ermöglicht, mit größter Sorgfalt und Mühe vielen Verletzten, die nicht schlucken und kauen konnten, das Essen flüssig durch Schlauch oder Magensonde zugeführt, die Speisen danach bestimmt und hergerichtet wurden, wird sagen, das hier wahre Wunder verrichtet wurden.“111
Der Versuch, dem Krieg Positives abzugewinnen, wurde in der Nachkriegszeit durch die Erinnerung an vollbrachte Leistungen für einige hochgehalten, die es besonders schlimm erwischt hatte – die Gesichtsverletzten. Naturgemäß sind diese spezifischen Darstellungen in den Texten der Pazifisten nicht zu 109 Kathrin Busch (2007), S. 141. 110 Vgl. Adalbert Oehler (1927). 111 Adalbert Oehler (1927), S. 181.
5.11 Gesichtsverletzte Soldaten und ihre Interpretation des Geschehenen
207
finden – sie wählten eine andere Strategie für die Erinnerung an den Krieg und kehrten das Bild der Leistungen in jenes Bild um, das heute die Wahrnehmung von Gesichtsverletzten des Ersten Weltkrieges prägt.112 Die Trennlinie entlang der Inszenierung als Schreckensbild des Krieges und der Überwindung der Schrecken des Krieges erfolgte nicht zwischen Ärzten, Militär, Behörden und den soldatischen Patienten, sondern entlang der politischen Haltung gegenüber Kriegshandlungen. Gesichtsverletzte inszenierten sich nicht als Opfer, sondern eher als Verwundete auf dem Weg zur Besserung, begleitet von Ärzten, Kameraden und dem Pflegepersonal. Das lag neben der Selbstwahrnehmung auch an der Art der Quelle. Berichte aus den Lazaretten sollten die Angehörigen beruhigen und ihnen versichern, dass es ihrem Sohn, Freund, Kind oder Partner gut ging. Das beste Beispiel dafür ist die von Kurt P. versandte Postkarte mit folgendem vorgedruckten Schüttelreim: „Es bleibt zum Schluss vom Kieferschuss im schlimmsten Fall ein schiefer Kuss“113.
Auch sonst zeigte sich P. als Soldat, Schachspieler, Student oder Familienmitglied. Das Ergebnis der Behandlung in den Lazaretten sollte ein voll funktionsfähiger, männlicher Körper sein, auch in den Augen der Betroffen selbst. So finden bei Selbstdarstellungen auf den Bildern aus den Lazaretten ähnliche Prozesse der Re-Maskulinisierung statt wie bei den Inszenierungen des Behandlungsalltages.
112 Vgl. Kapitel 3: Der gesichtsverletzte Soldat. 113 Postkarte an die Familie P., Charlottenburg, 4.7.1917, Kurt P. (1917a).
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung In diesem Abschnitt werden die Biografien gesichtsverletzter Männer nach ihrer Entlassung aus der Behandlung und dem Militärdienst1 analysiert. Hatten die Männer alle Behördenwege überstanden, mussten sie sich wieder sozial und beruflich in die Gesellschaft integrieren. Dieser Herausforderung begegneten die Männer auf sehr unterschiedliche Weise. Bislang gibt es noch keine historische Arbeit, die sich mit der Re-Integration von Gesichtsverletzten und der Frage nach dem Einfluss der Verletzung auf den Alltag dieser Männer auseinandersetzt.2 Dieses Desiderat resultiert zum einen aus der Art der Fragestellungen in bisherigen Forschungsarbeiten, die sich meist auf medizinische Entwicklungen oder biografische Werdegänge einzelner Medizinerinnen und Mediziner beschränkten. Kulturwissenschaftliche Arbeiten kritisieren diese Zugänge zwar prinzipiell, weisen den Gesichtsverletzten nichtsdestotrotz eine bestimmte Rolle zu: die des (lebenslangen) Kriegsopfers.3 Zum anderen erklärt sich die Forschungslücke aus dem Umstand, dass es außerhalb eines medizinischen Kontextes kaum Selbstzeugnisse von Gesichtsverletzten gibt. Vergleichsweise umfangreich überliefert sind dagegen Patientenakten aus den unterschiedlichsten Einrichtungen, die neben Krankenblättern und Verwaltungsunterlagen auch Selbstaussagen von Patienten4 sowie vereinzelt Korrespondenz enthalten5. Die Biografien ehemaliger Patienten der Spezialheilanstalten blieben daher weitgehend im Dunkeln, gerade sie ermöglichen aber wesentliche Einblicke in den Umgang der Betroffenen mit ihrer Kriegsversehrtheit. Rückgriffe auf den Briefwechsel eines Verletzten oder die Erinnerungen einer Angehörigen sollen die Selbstzeugnisse in den normativen Akten, wie Renten- und Patientenakten der Betroffenen, ergänzen und die Lücken schließen. Durch diese Quellen gewinnt man einerseits Informationen über die Lebensläufe der ehemaligen Patienten und deren (geglückte) Re-Integration in die geforderte soziale Rolle. Andererseits sind durch diese Quellen aber auch plausible Aussagen darüber möglich, warum manche Personen an der Herausforderung, mit den Folgen der Verwundung zu leben, scheiterten, während sich andere wiederum in ihrem Werdegang kaum behindern ließen. In einzelnen Fällen lassen sich sogar vollständige Biografien und die darin enthaltenen Lebensentwürfe rekonstruieren. Wie Johanna Gehmacher, Historikerin, in einem Interview anmerkte, sind Biografien „Fallstudien, in denen in besonderer Weise analysiert werden kann, 1 2 3 4 5
Eine Ausnahme stellt Kurt P.s Lebensentwurf dar, da dieser zum größten Teil dessen Behandlungszeit beinhaltet. Die ausführliche Studie Les Gueules Cassées von Sophie Delaporte beschränkt sich in diesem Punkt auf die Vereinstätigkeit der betroffenen Männer. Vgl. Delaporte (1996), S. 199–214. Vgl. Michael Hagner (2000). Vgl. Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin (1915). Vgl. Allgemeine Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten (5. Aug. 1915 – 5. Nov. 1917).
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
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wie Gesellschaft zu einem spezifischen Moment funktioniert hat“6. Diese Feststellung dient als Ausgangspunkt für die nachfolgende Analyse der Biografien gesichtsverletzter Soldaten. Dabei ist zu beachten, dass die Lücken in der Überlieferung der Selbstwahrnehmung von Betroffenen (Ich-Konstruktion) mit einer fragmentarischen Nacherzählung eines Lebensentwurfes nicht geschlossen werden können. Einem Lebensentwurf kann man sich daher lediglich annähern, und trotzdem sieht der Historiker Robert Jütte, in der „Geschichte von Einzelschicksalen“ das Potential, „vom Besonderen zum Typischen“ zu gelangen.7 Dabei spielen die Forscherin und der Forscher selbst eine wichtige Rolle, wie Johanna Gehmacher festgestellt hat. Denn ihre oder seine Nähe oder Distanz zum Forschungsgegenstand ist gerade in der Biografieforschung, die einen intimen Einblick in das Leben anderer gewährt, unbedingt erforderlich. Eine Lösung sieht Gehmacher im „Nebeneinanderstellen von mehreren möglichen Deutungen“, womit eine „Scheinintimität“ verhindert werden kann.8 Darüber hinaus ermöglicht der Perspektivenwechsel von den Betroffenen auf die Behörden oder die Familie je nach Ausgangspunkt unterschiedliche Wahrnehmungen auf ein und dieselbe Biografie. Schlussendlich bleibt noch die Frage nach der Aussagekraft von Selbstzeugnissen, denen oft irrtümlicherweise besonders viel Authentizität und Wahrheitsgehalt zugesprochen werden.9 Selbstzeugnisse werden hier weder als zweckfreie Dokumente noch als von unterschiedlichen Akteuren fremdgesteuerte Narrationen verstanden.10 Durch die Gegenüberstelllung verschiedener Wahrnehmungen und Perspektiven kann ein heterogenes Bild des jeweiligen Sachverhaltes gezeichnet werden. Damit wird der Gefahr einer einseitigen [Über]-Interpretation entgegengewirkt, die aufgrund der wenigen Selbstzeugnisse besteht. Zudem entsteht aus Brüchen in Biografien, Krisensituationen oder anderen Veränderungen oft erst der Schreibanlass, ohne den das Erlebte nicht festgehalten worden wäre. In den vorliegenden Fällen gehören auch Forderungen an Behörden dazu, die die Gesichtsverletzten dazu veranlassten, über ihre Lebenssituation zu berichten. Die Stärke der Selbstzeugnisse ist im Hinblick auf den Schreibanlass daher auch gleichzeitig ihre Schwäche. Die Quellen geben zwar einen guten Einblick in den Umgang der Betroffenen mit ihrer Andersartigkeit, gleichzeitig werden diese Themen dadurch überrepräsentiert und reduzieren die rekonstruierten Biografien auf die Krisensituation. Im Mittelpunkt der Analyse stehen der Umgang mit der Verletzung und die dadurch veränderte Lebenssituation für die Männer. Durch diese Perspektive auf das Leben der Gesichtsverletzten entstehen folgende Forschungsfragen: Bedeutete die Verwundung und die damit einhergehende Gesichtsentstellung zwangsläufig einen Bruch im Lebenslauf der Betroffenen, wie der Blick von außen (vgl. der Diskurs über die Andersartigkeit von Gesichtsver6 7 8 9 10
Marion Wittfeld (13.3.2011). Jütte (1991), S. 12. Marion Wittfeld (13.3.2011). Vgl. Petra Fuchs (2010), S. 108–110. Vgl. Kienitz (2008), S. 308, Fußnote 64.
210
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
letzten) vermuten lässt? Hatte die lange Aufenthaltsdauer in den Lazaretten einen Einfluss auf die Biografien und die Körperwahrnehmungen der Männer? Waren es die „massiven Verwundungen“, die über das „individuelle Schicksal der Kriegsinvaliden“ entschieden11, wie die Historikerin Sabine Kienitz feststellte, oder waren auch andere Aspekte für die Entscheidungsfindungen der Männer von Bedeutung? Inwieweit beeinflusste der Diskurs über die Andersartigkeit der Verletzten die Bemühungen der Re-Maskulinisierung in den Lazaretten und wie stark waren die Biografien von den Selbstbildern der Verwundeten geprägt? Unter Berücksichtigung der spezifischen Quellenlage werden sechs Biografien analysiert. Kurt P.s Entscheidungen und Handlungen, mit dessen Lebensentwurf dieser Abschnitt beginnt, lassen sich anhand seines umfangreichen Briefnachlasses nachvollziehen.12 Im Fall von Karl H. gibt die Tochter mit ihren Erinnerungen an den Vater und dessen Umgang mit der Verletzung interessante Einblicke in den gemeinsamen Alltag der Familie.13 Die Biografien von Josef N., August H., Karl K. und Josef K. wurden anhand von normativen Quellen rekonstruiert. Es stellte sich heraus, wie Sabine Kienitz bereits bemerkte,14 dass in den Rentenanträgen des Versorgungsamtes Konstanz unzählige Selbstzeugnisse und Alltagsberichte der Antragstellerinnen und -steller enthalten sind.15 So konnten die täglichen Probleme und die Gewaltbereitschaft von Josef N., der sich letztendlich das Leben nahm, analysiert werden. August H. gelang es nicht, seine Kriegserlebnisse in sein Leben zu integrieren und er wurde zunehmend depressiver. Karl K. scheiterte an der Rolle als Ernährer der Familie – durch seinen unkontrollierten Umgang mit dem Haushaltsgeld brachte er die Familie nahe an den Ruin. Den Grund für seine Unfähigkeit hauszuhalten, sah er selbst in seiner Verletzung. Josef K. schließlich war alleinstehend und mit zunehmendem Alter immer weniger dazu imstande, für sich selbst zu sorgen, worauf die Arbeits- und Dorfgemeinschaft als Familienersatz einsprang. 6.1 Kurt P.: Die Behandlungszeit als Richtungsweiser Kurt P. wurde am 5. April 1896 in Tilsit (deutscher Name der ehemals ostpreußischen Stadt Sowetsk {Kaliningrad}) geboren [vgl. Abb. 41]. Direkt nach dem Abitur meldete er sich im April 1914 als Einjährig-Freiwilliger beim Kaiser 11 12 13 14 15
Kienitz (2008), S. 345. Vgl. Tagebucharchiv Emmendingen (1914–1933). Vgl. Werner Ph. Trunk (2006); Elisabeth Stader (8.3.2006), Elisabeth Stader (26.10.2011), Elisabeth Stader (6.6.2012a), Elisabeth Stader (6.6.2012b), Elisabeth Stader (20.8.2012), Elisabeth Stader (Oktober 2012); Melanie Ruff (Oktober 2012). Vgl. Kienitz (2008), S. 239. Es handelt sich im Zeitraum von 1919 bis 1943 um 875 Einzelfallakten. Davon betreffen 54 den Bereich des Gesichtes, das entspricht 6,18 Prozent der Gesamtakten. Versorgungsgericht Konstanz 1919–1943 (= Badisches Militärversorgungsgericht (April 1923–August 1923).
6.1 Kurt P.: Die Behandlungszeit als Richtungsweiser
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Abb. 41: Kurt P. (rechts auf dem Bild) vor seiner Verwundung, Tagebucharchiv Emmendingen, Sign.: 1578/I 1, S. 1.
Alexander-Garde-Grenadier-Regiment, mit dem er im August desselben Jahres in den Krieg zog. Während seines Kriegseinsatzes wurde P. zweimal verwundet, das erste Mal bereits einen Monat nach Kriegsbeginn, Anfang September 1914. Im nahe gelegenen Bonn wurde er eine Woche lang behandelt und dann in das knapp 900 Kilometer entfernte Samter (deutscher Name für die westpolnische Stadt Szamotuły) in ein Reserve-Lazarett überstellt. Der weit entfernte Abtransport Richtung Osten lässt sich auf den neuen Einsatzort seines Regimentes am San (Fluss im heutigen Polen) zurückführen. Aus der Zeit der ersten Verletzung ist nur überliefert, dass P. seine spätere Frau Charlotte J. kennenlernte, die an seinem Behandlungsort als Krankenpflegerin tätig war. Welche Verwundung er in der viereinhalbmonatigen Behandlungszeit auskurierte, ist nicht bekannt. Wieder im aktiven Dienst, wurde P. fünf Monate später im Juni 1915 ein weiteres Mal getroffen, dieses Mal am Kiefer: „Gestern bei einem Sturm traf mich ein Sprengstück in die rechte Backe und schlug bis in den rechten Unterkiefer. Die Verwundung ist wohl schließlich nicht so schlimm, wie sie jetzt aussieht.“16 16
Postkarte an Med. Rat. J., 15. Juni 1915, Kurt P. (1917a).
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Wie das Zitat zeigt, nahm Kurt P. seine Verwundung zuerst gelassen hin, da er, wie auch die Ärzte von einer baldigen Heilung ausging. In diesem Kontext muss auch das Verhältnis zu Charlotte J. berücksichtigt werden. Die Bagatellisierung der Verletzung könnte damit zusammenhängen, dass Kurt P. Charlotte J. nicht beunruhigen wollte. Erst knapp ein Jahr nach der Verletzung setzte er sich in einem Brief mit dem Geschehenen auseinander. Wie es scheint, wurde ihm erst da bewusst, welcher lebensbedrohlichen Situation er im Schützengraben ausgesetzt war.17 Wie sich in der Folge herausstellte, war die Verletzung komplizierter als die Ärzte zunächst annahmen. Nach neun Monaten Behandlung im Langensalzer Lazarett wurde er nach Berlin in das Reserve Lazarett der Hochschule Charlottenburg überstellt, wo er bis Februar 1917 in Behandlung war. Im Februar 1917, 20 Monate nach seiner Verwundung am Kiefer, entließ man Kurt P. aus der Behandlung und stellte ihn abermals in den aktiven Militärdienst.18 In einem Brief kommentierte er: „Der Arzt schrieb mich gleich k. v. [kriegsverwendungsfähig, RM]– also bleibe ich nicht lange. Die Luft ist in dieser Beziehung so dick wie möglich. ‚Raus, raus‘ das ist die Devise.“ 19
Aus dem aktiven Militärdienst wurde allerdings nichts, denn die Wunden heilten nicht und mussten immer wieder neu versorgt werden. Berlin konnte P. daher erst wieder im April 1918 verlassen, als er mit seiner Kompanie zu Fuß an die Westfront marschierte20 und dort an den letzten Kämpfen teilnahm. Dieser Einsatz brachte ihm die Beförderung zum Sanitäts-Vice-Feldwebel ein, eine Offizierslaufbahn blieb ihm allerdings verwehrt. Nach dem Kriegsdienst setzt Kurt P. sein Medizinstudium an der Universität in Halle an der Saale fort, wechselte dann aber zum Studium der Zahnheilkunde, das er 1920 abschloss. 1921 promovierte er, und noch im selben Jahr eröffnete er eine Zahnarztpraxis in Oschersleben/Bode. Dort war er acht Jahre lang selbständig tätig,21 bis er 1929 hauptamtlicher Zahnarzt beim Gesundheitsamt in Magdeburg wurde und vier Jahre lang für die Versorgung der Schulkinder zuständig war. 1922 heiratete er seine langjährige Partnerin Charlotte J. – die beiden hatten drei Kinder und verbrachten ihre Freizeit gerne im Kreis der Familie.22 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde P. im Zuge der Neuorganisation der zahnärztlichen Versorgung in den Schulen23 ab 1933 die Koordination und Leitung dieser Versorgung übertragen, und 1937 wurde er schließlich als Leiter der zahnärztlichen Abteilung des Gesundheitsamtes bestätigt. Mit 17
Vgl. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, Ende Juni 1916, Kurt P. (1916), S. 55– 56. 18 Vgl. Kurt P., Lebenslauf, Kurt P. (1915), S. 1–2, Vorwort. 19 Brief Kurt P. an seine Eltern, Charlottenburg, 12.1.1917, Kurt P. (1917a), S. 11. 20 Vgl. Kurt P., Lebenslauf, Kurt P. (1915), S. 1–2, Vorwort. 21 Vgl. Kurt P. (1921) und Kurt P. / Charlotte P. (1924–25). 22 Vgl. Kurt P. / Charlotte P. (1924–25) und Kurt P. / Charlotte P. (1924–25). 23 Die nationalsozialistische Bewegung fand bei den Zahnärzten großen Zuspruch, da sich diese durch die Neuorganisation des Standes machtpolitische Verbesserungen erhofften, die unmittelbar nach der Machtergreifung der NSDAP auch umgesetzt wurden. Wündrich, Einleitung.
6.1 Kurt P.: Die Behandlungszeit als Richtungsweiser
213
Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 wurde Kurt P. abermals in den aktiven Militärdienst einberufen und er nahm am „Polenfeldzug“24 teil. Wie P.s militärische Laufbahn weiterging, bleibt in seinen biographischen Angaben unbeantwortet. Auch erfährt man nichts von seinem Verhältnis zum nationalsozialistischen Gedankengut und einer möglichen (Mit-)Täterschaft. In den Jahren 1942 bis 1945 arbeitete er, der während des Ersten Weltkrieges selbst am Kiefer verletzt worden war, als Zahnarzt in „einer Lazarettabteilung für Kieferund Gesichtschirurgie“25. Nach P.s Entnazifizierungsverfahren Ende 1946 wurde er von der Zahnärztekammer Niedersachsen als Zahnarzt im Strafgefängnis Wolfenbüttel eingesetzt, wo er von 1948 bis zu seinem Tod 1963 auch eine eigene Praxis führte.26 Während der Lazarettzeit in Berlin setzte sich Kurt P. intensiv mit seinem zukünftigen Leben, der Beziehung zu seiner Partnerin sowie politischen und gesellschaftlichen Themen auseinander. Brieflich diskutierten seine Partnerin und er nicht nur seine, sondern auch ihre Berufspläne und eine mögliche universitäre Ausbildung der beiden.27 Bereits vor dem Krieg hatte er ein Medizinstudium begonnen, das er während des Lazarettaufenthaltes in Berlin fortsetzen konnte. In manchen Fällen ließen sich Lazarettalltag und Ausbildung trotz des Krieges vereinen. Entscheidend für die reibungslose Umsetzung war, dass am Behandlungsort universitäre Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung standen wie es bei Kurt P. der Fall war. Trotz der Entscheidung, das begonnene Medizinstudium fortzusetzten, dachte Kurt P. immer wieder über alternative Berufspläne nach und diskutierte diese innerhalb der Familie und mit seiner Partnerin. Alternativ zur praktizierten Medizin interessierte er sich für den Lehrerberuf. Erst ein Erlass der Militärführung28 erleichterte P. die Entscheidungsfindung, wie er im Mai 1916 an seine zukünftige Frau schrieb: „Am meisten hat mich ein neuer Erlaß dazu bewogen. Nach diesem können Medizinstudierende mit 2 Semestern im Sanitätsdienst bis zum Vizefeldwebel kommen. Da ich nun die Absicht habe, mich nach der Lazarettentlassung zum Sanitätsdienst zu melden, mußte ich zu meinem ersten Semester (S-Semester 14) unbedingt noch eines dazu haben.“29
Kurt P. sah in diesem, durch den Ärztemangel bedingten, Angebot der Militärführung die Chance, doch noch eine Offizierslaufbahn einschlagen zu können – eine Option, die ihm eigentlich durch die lange Behandlungszeit genommen worden war. Dieser Ausweg half ihm dabei, sein angeschlagenes Selbstbewusstsein aufgrund der schleppenden militärischen und zivilen Karri-
24 25 26 27
Vgl. Kurt P., Lebenslauf, Kurt P. (1915), S. 1–2, Vorwort. Kurt P., Lebenslauf, Kurt P. (1915), S. 1–2, Vorwort. Vgl. Kurt P., Lebenslauf, Kurt P. (1915), S. 1–2, Vorwort. Vgl. Brief Charlotte J. an Kurt P. Samter, Kurt P. (1915), S. 93; Brief Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 26.1.1916, Kurt P. (1917a), S. 9–11. 28 Es konnte nicht eruiert werden, um welchen Erlass es sich in diesem Fall konkret handelte. 29 Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 29.5.1916, Kurt P. (1917a), S. 42.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
ere abzulegen.30 Mit Stolz auf den eigenen Fleiß betonte P. in den Briefen immer wieder sein Weiterkommen im Studium und wurde zusehends optimistischer hinsichtlich seiner militärischen Laufbahn, die für ihn mit einem ruhmvollen Dasein gleichbedeutend war.31 Zweifel an seinen Entscheidungen und dem gewählten Lebensentwurf setzten einige Monate später wieder ein und dauerten bis zum Kriegsende an. Der Auslöser für die Unsicherheiten war das aus P.s Sicht beklemmende Lazarettleben mit der unzureichenden Privatsphäre und dem täglichen Trott sowie die Unvorhersehbarkeit der Kriegsereignisse, die eine solide Lebensplanung seiner Meinung nach unmöglich machten.32 Den eigenen Kriegseinsatz nahm P. eher als Zeit des Stillstandes wahr, im Dezember 1916 schrieb er dazu: „Ostern sind es 3 Jahre, daß ich – nichts tue. Das ist das Fürchterliche. 3 Jahre, die nicht mehr einzuholen sind, die man zurückgedrückt ist vor andern auf dem Gebiet, das zur Lebensgrundlage dient, im Beruf.“33
Das Sinnbild für Stillstand und langsames berufliches Weiterkommen war für P. der immer gleiche Tagesablauf in den Lazaretten, wie er im selben Brief betonte: „Wenn man da nur seine Pflicht tut, morgens aufsteht, ißt und trinkt, sich verbinden und mal operieren läßt und abends wieder schlafen geht – und das 1, 1 1/4 ja bald 2 Jahre – dann muß man entweder verrückt oder versumpft werden.“34
An einer anderen Stelle schrieb er dazu: „Damals war ich über zwei Jahre Soldat, zweimal verwundet, geistig und beruflich zum Stillstand verurteilt, militärisch auch zurückgeblieben, immer gebunden, unfrei, eine Ziffer, der man nur Unterkunft und Beköstigung zuzuwerfen hatte, um eine ganze Pflicht an ihr getan zu haben – kurz derselbe wie heute noch.“35
In diesem Zitat lässt Kurt P. seinem Unmut über die mangelnde Entfaltungsmöglichkeit im Lazarett freien Lauf. Die Bedingungen in den Lazaretten machte er darüber hinaus für die immer wieder ausbrechenden Entzündungen der Wunden verantwortlich. Seines Erachtens entstanden sie größtenteils durch die schlechten hygienischen Bedingungen in den Kasernen.36 Als sich die Wunden nicht schließen wollten und sich eine Speichelfistel herausbildete, wurde Kurt P. misstrauisch gegenüber den bisherigen Behandlungsmethoden und erkundigte sich nach alternativen Verfahren, unter anderem beim bekannten plastischen Chirurgen und Zahnarzt Hugo Ganzer (1879–1960), den er in dessen Wohnung aufsuchte.37 Ob dieser ihn auch tatsächlich behandelte ist nicht überliefert. 30 Vgl. Brief Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 13.9.1915, Kurt P. (1915), S. 76. 31 Vgl. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 29.5.1916, Kurt P. (1917a), S. 42; Vgl. Brief Charlotte J. an Kurt P., Posen, 14.8.1916, Kurt P. (1917a), S. 73. 32 Vgl. Charlottenburg, 9.12.1916, Kurt P. (1915), S. 115. 33 Charlottenburg, 9.12.1916, Kurt P. (1915), S. 112–113. 34 Charlottenburg, 9.12.1916, Kurt P. (1915), S. 113. 35 Charlottenburg, 13.9.1917, Kurt P. (1915), S. 76. 36 Vgl. Kurt P. (1915), S. 87–88. 37 Brief Kurt P. an seine Eltern, Charlottenburg, 15.2.1917, Kurt P. (1917a), S. 14.
6.1 Kurt P.: Die Behandlungszeit als Richtungsweiser
215
Kurt P.s Kritik am Lazarettalltag mit dem normierten Tagesablauf, den er als sinnentleert wahrnahm,38 ist auch im Kontext der Selbstwahrnehmung junger Männer zu sehen, die nach der Jahrhundertwende sozialisiert wurden. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg definierten sich die jungen Männer zusehends über einen harmonischen und wohlgeformten Körper mit einer reinen Seele, der auch in Kurt P.s Leben eine wichtige Rolle spielte. Die Jungen grenzten sich mit ihrem neuen Ideal eines jungen, vitalen, soldatischen und aktiven Körpers zunehmend von den Eltern ab, deren Leben als Stillstand sowie dekadent empfunden wurde.39 Der ideale junge Deutsche „kann sich beherrschen; er ist bescheiden, zurückhaltend, anständig und gerecht im Alltagsleben wie im Kampf und Sport und er ist ritterlich gegenüber Frauen“40. Die weit verbreitete Kriegsbegeisterung unter den jungen Männern war von dem Wunsch begleitet, aus den bürgerlichen Zwängen und der Langeweile auszubrechen. Auf der Suche nach einer Lebensreform bot ihnen der Krieg die ersehnte Gelegenheit zur Katharsis41 und die Möglichkeit, einem Abenteuer entgegenzuschreiten.42 Daher hatten sich vor allem Männer aus der Bildungsschicht, der auch Kurt P. angehörte, noch vor Abschluss der beruflichen bzw. schulischen Ausbildung freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, denn erst auf dem Schlachtfeld konnten die oben genannten Tugenden bewiesen werden.43 Nach Kurt P.s eigenem Ermessen gelang ihm dies nicht ausreichend und als bei ihm im September 1917 ein Herzfehler diagnostiziert wurde, gab er sein entworfenes Männlichkeitsideal schließlich ganz auf: „Dann mußte ich langsam lernen, daß ich krank und nicht mehr völlig gesund war, wie ich immer dachte. Der Arzt war sehr scharf. So leicht schrieb er keinen g. v. Ein schöner gesunder Körper gehört auch zu meinen Idealen. Nur nichts Krankes, Sieches, ewig Halbes. Und nun?– Die Folge dieser Wendung war dann eine Kommandierung zur Festungsbauschule auf 6 Wochen.“44
Auch wenn die bereits vorgestellten Auszüge aus den Briefen eine unbeirrbare Kriegsbegeisterung vermuten lassen, so waren Kurt P.s Weltbild und Zuspruch für den gegenwärtigen Krieg bei weitem nicht gefestigt. Trotz des Ideals der soldatischen Männlichkeit kamen ihm immer wieder Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Krieges, die er bereits im Mai 1915 äußerte: „Damals dachte ich, der Krieg würde helfen, bis jetzt tat er’s nicht.“45
Nach Kurt P.s Anschauung würde der Krieg dafür sorgen, dass „Flaumacher und Bürokraten, Schwächlinge und Protzen“46 keine politischen Funktionen 38 39 40 41 42 43 44
Vgl. Charlottenburg, 13.9.1917, Kurt P. (1915), S. 76 Vgl. Mosse/Rennert (1993), S. 78. Mosse/Rennert (1993), S. 77. Vgl. Oliver Janz (12.4.2005), S. 1. Vgl. Eintrag Augusterlebnis, Hirschfeld et al. (2009), S. 358. Vgl. Nils Büttner (2010), S. 118. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, nach 13.9.1917, genaues Datum nicht lesbar, Kurt P. (1917b), S. 74. 45 Kurt P. (1915), S. 20. 46 Brief Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 2.7.1915, Kurt P. (1915), S. 46.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
mehr innehaben werden.47 Damit bezog er sich auf die Vorstellung von der heilenden Kraft kriegerischer Auseinandersetzungen für Körper und Geist, die vor dem Krieg auf breite Zustimmung im Bildungsbürgertum stieß.48 Die romantisierenden und mythologisierenden Ansichten P.s über das Soldatenleben zeigen sich besonders an seinen kritischen Äußerungen zum Kasernenalltag. Immer wieder fühlte er sich durch den Alltag im Lazarett oder in den Kasernen in seinen Persönlichkeitsrechten beschnitten. Nicht gewohnt, seinen Privatbereich teilen zu müssen, beklagte er sich bei seiner Partnerin über die mangelnde Ruhe und Privatsphäre. Der raue Umgangston der Soldaten war ihm zuwider49 und im Kontakt mit anderen Soldaten sah er schließlich sogar seine gute Erziehung bedroht.50 Nur ein Schicksalsgenosse stellte für ihn eine Ausnahme dar, mit ihm vertrieb er sich häufig die Zeit mit dem Schachspiel.51 Als man Kurt P. in eine Schlafhalle mit 612 Betten einquartierte, wurde ihm die mangelnde Privatsphäre immer mehr zur Qual52 und er beschloss, ein Zimmer außerhalb des Lazarettes zu mieten. Zum einen, um sich seinem Studium in Ruhe widmen zu können, zum anderen aber auch, weil er viel Wert auf seine Körperhygiene legte, wie er seiner Partnerin berichtete: „Wenn ich abds. im Bett liege, denke ich sehr oft: bist Du Dir jetzt auch mit tiefstem Empfinden dessen bewußt, wie schön es ist, sich morgens waschen, je nach Wunsch sich baden und sich abends in ein reines, weißes Bett legen zu können? Ja, das ist mir das Schönste. Die anderen Annehmlichkeiten, das bessere Essen etc. das kommt alles erst in zweiter Linie.“53
Alle Beispiele verdeutlichen den Wunsch nach Veränderung und Ausbruch aus dem Alltagstrott eines jungen Mannes aus der Mittelschicht, dessen mangelndes Anpassungsvermögen jedoch das Scheitern bereits vorwegnimmt. Rückblickend gestalteten sich Kurt P.s Soldatenjahre und seine Zeit im Lazarett als Lebensabschnitt, in dem er privat wie beruflich wichtige Entscheidungen traf, wenn auch die angedachte Veränderung ausblieb. Die Zeit im Lazarett nutzte er für eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Leben. Die Prozesse der Entscheidungsfindung sind im Briefwechsel gut dokumentiert und fanden hauptsächlich im Austausch mit seiner späteren Frau statt, die als Ratgeberin und Zuhörerin in Erscheinung trat. Kurt P.s Lebensentwurf wurde durch seine Verletzung scheinbar nicht stark bedroht, denn trotz der Erfahrung von körperlicher Versehrtheit blickte er optimistisch und voller Tatentrang in die Zukunft. Die Verletzungserfahrung änderte nichts an seiner Vorstellung vom körperlichen Ideal oder an seinen Anforderungen an den eigenen Körper. Auch der Diskurs über eine eventuelle Andersartigkeit durch das Aussehen spielte 47 48 49 50 51 52 53
Brief Kurt P. an Charlotte J., Langensalza, 2.7.1915, Kurt P. (1915), S. 46–47. Vgl. Eintrag Kriegsbegeisterung, Hirschfeld et al. (2009), S. 630. Vgl. Kurt P. (1915), S. 88–89. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 13.12.1917, Kurt P. (1917b), S. 114–116. Vgl. Abbildung 38. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 21.10.1917, Kurt P. (1917b), S. 87–86. Brief Kurt P. an Charlotte J., Charlottenburg, 21.10.1917, Kurt P. (1915), S. 89.
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
217
in Kurt P.s Selbstwahrnehmung keine Rolle, nicht zuletzt auch deshalb, weil seine Narben gut verheilten und wie bei vielen anderen54 kaum sichtbare Spuren der Verwundung zurückblieben. Anders verhielt es sich mit dem diagnostizierten Herzfehler, der als Auslöser für ein Umdenken gesehen werden kann und Kurt P.s körperliche Erwartungshaltungen massiv veränderte. Der Krieg und die Verwundungszeit spielten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in den Briefen an seine Frau und seine Familie keine Rolle mehr, fortan stand die Etablierung der eigenen Zahnarztpraxis im Mittelpunkt. Somit verlief der Übergang vom militärischen in den zivilen Alltag bei Kurt P. ohne Schwierigkeiten. 6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis Wie Kurt P. befand sich auch Karl H. mitten in der Berufsfindung, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Karl H. wurde im November 1888 in Mühlheim an der Ruhr (Nordrhein-Westfalen) geboren und wuchs als einziger Sohn mit zwei Schwestern in einer bürgerlichen Familie auf [vgl. Abb. 42. Der Vater starb 1894, als Karl H. sechs alt war.55 Fortan galt die familiäre Aufmerksamkeit dem Sohn, wie dessen Tochter berichtete.56 Nach dem Schulabschluss studierte Karl H. Mathematik und Physik in Freiburg, Straßburg und Bonn, wo er 1914 promovierte und mit der Wahl des Lehrerberufes in die Fußstapfen seines Vaters trat.57 Im August 1914 wurde er als Offiziersstellvertreter in den Kriegsdienst eingezogen und kurz darauf zum Leutnant befördert.58 Drei Monate später, als H. in Courcelette bei Bapaume in Frankreich stationiert war, wurde er bei einem Bombenangriff von einem Granatsplitter im Gesicht getroffen, der Nase, Wange und Kiefer schwer verletzte.59 Zu diesem Zeitpunkt war Karl H. 26 Jahre alt. Bevor in weiterer Folge näher auf den Lebensentwurf von Karl H. eingegangen wird, werden die Quellen noch kurz beschrieben. Karl H. verfasste aus mehreren Anlässen kurze Lebensläufe, in denen er meist von seiner Verletzung und der Behandlung bei dem Chirurgen Jaques Joseph berichtete. Eine besondere Quellenlage ergibt sich aus dem Umstand, dass sich Karl H.s Tochter Elisabeth Stader zu mehreren Interviews bereiterklärte. Ergänzt werden die Selbstzeugnisse der Familie durch schriftliche Erinnerungen eines Schülers von Karl H. Im Oktober 2011 traf ich mich das erste Mal zu einem Gespräch mit Elisabeth Stader. Das Treffen entpuppte sich als wahre Fundgrube von Impressio54 Vgl. Patientenakten der Allgemeinen Poliklinik in Wien. Abteilung für Zahn- und Kieferkrankheiten. Zahnmuseum Wien. 55 Vgl. Karl H. (nach 1957). 56 Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). 57 Vgl. Karl H. (nach 1957). 58 Vgl. Karl H. 59 Vgl. Melanie Ruff (2012), S. 272.
218
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Abb. 42: Karl H. mit seiner Frau am Hochzeitstag. Quelle: Karl H.
nen, Erinnerungen und Episoden aus dem Leben der Familie H., weil Elisabeth Stader ganz offen über ihren Vater, dessen Verwundung und den Umgang innerhalb der Familie sprach. Im August 2012 traf ich Elisabeth Stader zu einem weiteren Interview.60 Beide Interviews wurden initiativ geführt, da sich bereits in den im Vorfeld geführten Telefonaten abzeichnete, dass Fragen einschränkend gewirkt hätten. Elisabeth Stader schöpfte ihre Erinnerungen zum Teil aus Familiengesprächen, da einige der Geschehnisse vor ihrer Geburt stattfanden. Das Erzählte folgt daher eigenen Mustern und Kriterien des Erzählbaren, ein Gegenstand mit dem sich Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in einer Studie mit dem Titel Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis61 auseinandersetzten. Ausgehend von den theoretischen Überlegungen in der Studie verstehe ich das Familiengedächtnis als Teil des kommunikativen Gedächtnisses, als „ein lebendiges Gedächtnis, dessen Wahrheitskriterien an Wir-Gruppenloyalität und -identität orientiert“ ist.62 Das kommunikative Gedächtnis selbst ist „im Vergleich zum „kulturellen“ so etwas wie das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft, 60 Da Elisabeth Stader eine Tonaufnahme ablehnte, stammen die hier wiedergegebenen Inhalte aus Mitschriften des Gesprächs und Erinnerungsprotokollen, die ich unmittelbar nach den Gesprächen anfertigte. Einige Handzettel hatte Elisabeth Stader bereits nach den Telefonaten schriftlich vorbereitet und mir beim Treffen überreicht. 61 Vgl. Welzer et al. (2002). 62 Welzer et al. (2002), S. 13.
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
219
es ist an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrungen gebunden“63, im Speziellen an deren Alltagserlebnisse. Die Geschichten selbst entstehen aus Familiengesprächen, die immer wieder erzählt, abgeändert und/oder weiterentwickelt werden.64 Mit dem Ritual des wiederholten Erzählens werden Einstellungen zu wichtigen Themen des Lebens als Bestandteil der Familie bestätigt. Gleichzeitig haben die Erzählungen einen kulturellen, sozialen und historischen Rahmen, in den sie eingebettet sind, weshalb die gemeinsamen Familiengeschichten auch immer „individuell und kollektiv zugleich sind“65. Beim Erzählten handelt es sich also um die Erinnerung an Erinnertes, die den normativen und emotionalen Anforderungen der Erinnerungsgemeinschaft66 der Familie Stader/H. entsprechen. Um Einzug in den Geschichtenpool einer Familie zu finden, müssen die Erzählungen, wie das Autoren-Team der Studie feststellte, drei Kriterien erfüllen: Das Erzählte muss „offen und fragmentarisch sein“ und damit „Raum für Ergänzungen und Hinzufügungen durch die Zuhörer bieten, sie müssen mit eigenen Erfahrungen der Zuhörer assoziierbar sein und schließlich muss die Erzählsituation selbst Erlebnischarakter, d. h. emotionale Bedeutung für die Zuhörer haben“67. Im Kontext der Verwundung des Vaters und dessen Umgang damit spielten folgende Geschichten im Familiengedächtnis eine Rolle: die Beziehung zum Freund Seki, Karl H.s Weggefährte während der Behandlungszeit, der ebenfalls schwer am Gesicht verletzt war; das Zusammentreffen H.s mit seiner späteren Frau, die er nach der Verwundung kennenlernte; dessen Berufsleben als Lehrer und schließlich die notwendigen Körperpraktiken als Teil des Familienalltages. Unter Berücksichtigung von Auslassungen oder Überhöhungen aufgrund der Entstehungskontexte der hier zitierten Quelle,68 wird im Vorfeld die Verwundungsgeschichte Karl H.s vorgestellt. Im Anschluss daran werden einzelne Aspekte des Familiengedächtnisses einer näheren Betrachtung unterzogen. Die Fragestellungen zielen abermals auf den Umgang des Betroffenen mit der Verletzung ab, hier mit dem Schwerpunkt auf die Perspektive der Familie bzw. deren familiäres Zusammenleben. Insgesamt 29 Mal69 wurde Karl H. in zwei verschiedenen Lazaretten operiert, die ersten 19 Operationen fanden in der Königlichen chirurgischen Kli63 64 65 66 67 68
Welzer et al. (2002), S. 12. Vgl. Welzer et al. (2002), S. 12 und 18–19. Welzer et al. (2002), S. 23. Vgl. Welzer et al. (2002), S. 195–196. Welzer et al. (2002), S. 196. Elisabeth Stader war über das Thema meiner Forschung informiert und wusste bereits im Vorfeld über die Verwendung der Gesprächsinhalte Bescheid. Es ist daher anzunehmen dass die Geschichten von Frau Stader aufgrund meiner Forschungsfragen ausgewählt wurden. Sie erzählte mir nur das, von dem sie meinte, dass es für mich von Interesse sein würde und dies zudem in einer Form, von der sie annahm, dass ich sie mir erwartete. Dieser Umstand ist bedeutend, da Frau Stader zwischen dem ersten und dem zweiten Gespräch einen Aufsatz von mir las, in dem die Themen des ersten Interviews eingeflossen sind. 69 Vgl. Karl H. (ca. 1918).
220
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
nik Bonn statt. Sie misslangen jedoch, weshalb ihm eine Nasenprothese angefertigt wurde. In einem Brief erinnerte sich H. an die Operationen: „Vor dem 1. Weltkrieg hatte ich schon promoviert und das Staatsexamen gemacht und wurde als Leutnant am 15.II.15 durch Granatsplitter schwer verwundet ‚Zertrümmerung von Nase und Oberkiefer durch Granate‘. Es folgten Feldlazarett in Bapaume, 19 Operationen in der Klinik in Bonn von Dr. Capellen mit Transplantationen aus beiden Oberarmen, beiden Schienbeinen und Brustbein mit notdürftiger Deckung der Löcher, und nach nervlichem Zusammenbruch trug ich etwa 1/2 Jahr lang eine künstliche Nase“.70
Für die beschriebenen Transplantationen musste Karl H.s Arm zwei Mal für fünf Wochen „über der Nase mit Drahtgestell“ befestigt und gehalten werden. Noch 58 Jahre nach dem Ereignis beschrieb er diese Zeit als die wohl „schlimmste Zeit meines Lebens, dabei Nervenzusammenbruch mit Erholungszeit in Bertrich“71. Es stellte sich heraus, dass der Operateur „zu schlechte Erfahrungen“ hatte und die operative Rekonstruktion, nachdem auch der „Knorpel aus dem Brustbein“ nicht einheilte, schlussendlich zugunsten einer Prothese aufgegeben wurde. Resümierend stellte Karl H. fest: „Der Defekt war wohl geheilt, aber ganz ohne Nase.“72
Die Nase wurde durch eine selbst anzufertigende Prothese ersetzt. An den Vorgang der Herstellung konnte sich H. auch viel später noch sehr genau erinnern: „In der Zinnerschen Klinik in Köln war eine geschickte kleine Schwester, die mich vor einem Tisch mit etwa 8 künstlichen Nasen führte und mir riet, die Nase auszusuchen, die mir am besten gefiel. So erhielt ich eine Messingform, mit der ich mir etwa 1 Jahr lang jeden Morgen eine künstliche Nase aus Gelatine u. Glyzerin goss, mit Mastixlösung aufklebte und an den Seiten glatt strich. Die Nase sah ganz gut aus, aber abends, wenn das Licht angesteckt wurde, erleuchtete die Nase durchsichtig und ich musste mir ein Wattebäuschchen aus der Tasche holen, mit Krapprot und Zinkoxyd-Puder die Nase pudern, ausserdem wurde Glyzerin knapp und die Arbeit arg.“73
Da die Rohstoffe während des Krieges immer knapper wurden, suchte H. nach alternativen Behandlungsmethoden. Ein Arzt im Bonner Lazarett riet ihm, sich in Berlin bei dem „Nasen-Joseph vorzustellen, der viel Erfahrung mit Nasenkorrekturen habe“74. Unter Nasen-Joseph erlangte, wie bereits in der Einleitung geschildert, der plastische Chirurg Jacques Joseph in Berlin Bekanntheit, der sich während des Ersten Weltkrieges auf die Rekonstruktion von Gesichtern schussverletzter Soldaten spezialisierte. Mit zehn Eingriffen gelang es Joseph, die Nase von Karl H. zu rekonstruieren. Drei Jahre nach der Verwundung kehrte H. zunächst als Artillerie-Unteroffizier nach Kassel zurück, wo er als „nicht mehr felddienstfähig Ostern 1918 für den Schuldienst“ als Lehrer entlassen wurde. Für seine Verwundung bekam er 70 71 72 73 74
Karl H. (15.11.1973). Karl H. (nach 1957). Karl H. (ca. 1918). Karl H. (ca. 1918). Karl H. (ca. 1918).
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
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eine „50 % Erwerbsunfähigkeit“75 zugesprochen. Ob er auch tatsächlich eine Invalidenrente bezog, konnte mir die Tochter nicht beantworten. Trotz der Erwerbsunfähigkeit von 50 Prozent, einigen gesundheitlichen Schwierigkeiten und des durch die Entstellung hervorgerufenen Handikaps war Karl H. bereits 1920 wieder voll berufstätig. In einem Lebenslauf von 1918 kommentierte er sein Aussehen und das Behandlungsergebnis sehr nüchtern: „Nach 29 Operationen war ich soweit wieder hergestellt.“76
Nach der Entlassung aus der Behandlung absolvierte Karl H. ein „Seminarjahr“, um damit die Ausbildung zum Lehrer abzuschließen. 1919 wechselte er als Lehrer an das Kaiserin Auguste Gymnasium in Coblenz.77 1920 heiratete er seine Partnerin, mit der er drei Kinder hatte. Noch im selben Jahr wechselte H. nach Solingen an das dortige Gymnasium, wo er als Studienrat angestellt wurde.78 Während des Zweiten Weltkrieges war er nicht mehr als Soldat, sondern als „Oberluftschutzführer für den Luftschutz der Schulen“ tätig, was ihm in der Nachkriegszeit zum Verhängnis wurde: „Während des 2. Weltkrieges war ich neben meinem Schuldienst als Oberluftschutzführer für den Luftschutz an? Schulen tätig und wurde nach Ende des 2. Weltkrieges als Studienrat abgebaut und wegen meiner Tätigkeit als Oberluftschutzführer ohne Pension entlassen. Nach der Rehabilitation wurde die Entlassung aufgehoben und ich wurde pensioniert.“79
Eine mögliche (Mit-)Täterschaft geht aus den Quellen und H.s Angaben nicht hervor. Die Tochter allerdings berichtete mir von der nationalsozialistischen Überzeugung und antisemitischen Gesinnung des Vaters, der er auch in der Nachkriegszeit treu blieb. Nach H.s Pensionierung zog die Familie nach Kassel, wo er am 17. März 1979 im Alter von 91 Jahren starb. Damit wurde er deutlich älter als er selbst für möglich hielt, denn H. ging aufgrund seiner Verletzung davon aus, dass er nicht älter als 50 Jahre werden würde.80 Zwei Menschen begleiteten Karl H. in der Verletzungszeit: der Freund Seki und seine spätere Frau. Um die Beziehung H.s zu den beiden Bezugspersonen wird es in der Folge gehen. 6.2.1 Bezugspersonen Der Freund Seki Während der Behandlungszeit in Berlin lernte Karl H. den türkischen Soldaten Sadik Seki M.81 (Lebensdaten unbekannt) kennen, mit dem er einen großen Teil seiner Freizeit verbrachte. Wie auch Kurt P. besuchten die beiden 75 76 77 78 79 80 81
Karl H. (ca. 1918). Karl H. (nach 1957). Vgl. Karl H. (nach 1957). Vgl. Karl H., S. 4. Karl H. (ca. 1918), S. 4. Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). In der Folge auch Seki, nach dessen Rufnamen in der Familie benannt.
222
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
gemeinsam Berliner Museen, Theater, Opern, Vorträge etc. Über den Freund schrieb Karl H. 1973: „Zwischen den Operationen, ich glaube es waren etwa 25, musste ich mich erholen, aber an den Wundstellen traten keine Entzündungen auf wie später bei dem Türken Sadik Seki M., mit dem ich mich sehr anfreundete und dessen früher Tod mir sehr nahe ging. 1922 wurde er Patenonkel bei meiner ältesten Tochter Ruth.“82
Sadik Seki M. wurde die Nase „an den Dardanellen […] durch einen Granatbrocken unter Niveau eingeschlagen“. Bevor er bei Joseph behandelt wurde, hatte er bereits „40 Operationen in Konstantinopel mitgemacht“83. Mit der spektakulären Rekonstruktion des fast vollständig fehlenden Gesichtes von Sadik Seki M. gelang dem Operateur Joseph ein chirurgischer Meilenstein [vgl. Abbildungen 41 und 43]. Die Fotografien des wiederhergestellten Gesichtes gingen um die Welt und werden noch heute verwendet, um die Entwicklung der rekonstruktiven Chirurgie zu bebildern.84 Sadik Seki M. starb Mitte der 1920er Jahre an den Folgen einer Blinddarmentzündung. Auch schon während der Behandlung erregten die beiden Männer Aufsehen, wie sich H. erinnerte: „Zwischen den Operationen mussten Seki und ich uns erholen durch Theater und Ausflüge. Wir fielen natürlich sehr auf, Seki in türkischer und ich in Offiziersuniform, Seki mit weisser, ich mit schwarzer Nasenbinde.“85
An diese Geschichte konnte sich auch Elisabeth Stader erinnern. Der Erzählung des Vaters fügte sie hinzu, dass die beiden Männer lieber zu zweit unter Menschen traten, weil es ihnen so leichter fiel mit ihrer Andersartigkeit umzugehen.86 Trotzdem kann das Handeln der beiden Männer und die gegenseitige Unterstützung bei ihren ersten Auftritten in der Öffentlichkeit als ausgesprochen lösungsorientiert und selbstbewusst gewertet werden. Dass sie gerade die Berliner Museen für das Zusammentreffen mit fremden Personen wählten, lag ähnlich wie bei Kurt P. wohl am bildungsbürgerlichen Hintergrund. Alle drei Männer entschieden sich bei ihren ersten Wegen in die breitere Öffentlichkeit für ihr gewohntes Umfeld. Hinzu kommt durch die große Zahl der Kriegsopfer, dass versehrte Männer in größeren Städten wie Berlin zum Teil des städtischen Alltags gehörten.87 Wie wichtig die Beziehung der beiden Männer während ihrer Behandlungszeit war, verdeutlichen die Erinnerungen der Schwester Elisabeth Staders, die von Selbstmordgedanken des Vaters wegen der Schmerzen bei der Behandlung berichtete. Seki war in diesem Lebensabschnitt die zentrale Be82 Karl H. (ca. 1918), S. 2–3. 83 Karl H. (15.11.1973). 84 Vgl. Walter Briedigkeit, S. 10; Jacque Joseph (1918a); Jacque Joseph (22.3.1918); Jacque Joseph (1918b), S. 466 und S. 465, Fußnote 1; Friedrich (2004), S. 217; Beatriz Pichel (2010), S. 2; Ramsbrock (2011), S. 132; Hans Behrbohm (2008), S. 52; Briedigkeit (2006), S. 41. 85 Karl H. (ca. 1918), S. 2–3. 86 Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). 87 Vgl. Kienitz (2008), S. 349.
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
223
Abb. 43: Jacques Joseph (1918a), S. 465.
Abb. 44: Hans Behrbohm (2008), S. 52.
zugsperson von Karl H. und unterstützte ihn emotional.88 Der frühe Tod des Gefährten war für den Vater ein Schock und stellte durch dessen nahes Verhältnis zur Familie auch für diese ein einschneidendes Erlebnis dar. Die Erinnerungen an den Freund wurden bei Ausflügen nach Berlin hochgehalten. Die Familie besuchte dieselben Orte wie H. und Seki während ihrer Zeit in Berlin. Die Liebesgeschichte Auf dem Weg der Besserung reisten Karl H. und Sadik Seki M. nach Badsalzig und verbrachten gemeinsam mit anderen Verwundeten mehrere Wochen ihrer Rekonvaleszenz in der dort ansässigen Kuranstalt. Das Hotel wurde von Elisabeth Staders Großvater geführt, an den man sich in der Familie als Lebe88 Die ältere Schwester war beim Interview nicht anwesend. Elisabeth Stader erzählte mir davon und ergänzte, dass der Vater mit ihr nicht darüber gesprochen hatte. Melanie Ruff (Oktober 2012).
224
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
mann erinnerte. Weil er zwei Erbschaften „durchbrachte“, musste aus dem Familienanwesen das Kurhotel errichtet werden, an dessen Betrieb sich alle Familienmitglieder beteiligten. In der Manier des Großvaters, so Elisabeth Stader, wurden dort gerne Feste gefeiert, welche die Stimmung unter den Verwundeten zu heben vermochten: „Manche hatten kein Bein, manche keinen Arm mehr. Aber die konnten alle tanzen und feiern. Also die haben den Lebensmut.“89
Wie in einem Familienbetrieb üblich, halfen auch die jüngeren Mitglieder im Hotel mit. Die Tante von Elisabeth Stader war Köchin und ihre Mutter betätigte sich als Krankenpflegerin: „Sie pflegte die Patienten und die andere bekochte sie [lacht] und [alle] haben unendlich gefeiert.“90
Karl H. selbst war zu diesem Zeitpunkt verlobt. Nach dem ersten Wiedersehen mit seiner Verlobten stellte sich jedoch heraus, dass diese mit der Entstellung H.s nicht umgehen konnte und ihn schlussendlich verließ. Dies war auch Thema in vielen literarischen Bearbeitungen des Krieges. Die Hauptfigur im Anti-Kriegsroman Menschen im Krieg91 des Schriftstellers Andreas Latzko (1876–1943) erlebt Ähnliches wie Karl H. Als der im Gesicht schwer entstellte junge Protagonist nach der Verwundung in die Heimat zurückkehrt, bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen bereits am Bahnhof, denn er wird nicht erkannt.92 Die erste Enttäuschung entlädt sich an der Person des behandelnden Arztes: „Wenn er den Professor hätte in die Krallen kriegen können! Photografiert hatte ihn der Betrüger, -- und nicht einmal nur, -- ein Dutzend Mal wenigstens, von allen Seiten; nach jeder Schinderei von neuem; als wäre ihm weiß Gott was für ein Kunststück gelungen. Und nun hatte ihn nicht einmal die Bahnwärter Juli erkannt – die Bahnwärter Juli -- -- ein Nachbarskind! …“93
Auf den nächsten Seiten begleitet der Leser den Soldaten auf dem Weg zu seiner Partnerin, der gleichzeitig auch ein Weg der Selbstfindung ist. Immer wieder trifft er im Dorf auf Personen, anhand deren gesellschaftlicher Stellung er abzuwägen versucht, welche Rolle ihm durch seine Entstellung zukünftig zukommen wird: „Mit dem Buckligen aber wollte er nichts zu tun haben. Jetzt schon gar nicht! Der Kerl bildete sich am Ende ein, einen Kameraden an ihm gewonnen zu haben, und war wohl froh, nicht mehr der einzige Krüppel im Ort zu sein.“94
Der Protagonist setzt seinen Weg fort, bis er schließlich auf seine Verlobte trifft. Im Moment des Erkennens „kam ein Grauen in ihre Augen, sie schlug 89 90 91 92 93 94
Melanie Ruff (Oktober 2012). Melanie Ruff (Oktober 2012). Vgl. Latzko (1918). Vgl. Latzko (1918), S. 255. Latzko (1918), S. 182. Latzko (1918), S. 183.
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
225
die Hände vors Gesicht und lief davon, so schnell ihre Füße sie trugen“95. Das weitere Geschehen im Roman findet sich auch in der Familiengeschichte von Karl H. wieder. Der Soldat in Latzkos Werk nimmt es seiner Verlobten nicht übel, dass sie sein Aussehen nicht ertragen kann und reagiert besonnen auf ihr Handeln: „Gefiel er ihr nicht mehr, so wie er geworden war, nun dann konnte sie sich einen Anderen suchen, und er würde schon auch Eine finden, darum war ihm nicht bange. Das wollte er ihr auch sagen.“96
Die Geschichte nimmt erst eine Wendung, als der Heimkehrer von dem Verhältnis seiner Verlobten mit seinem früheren Arbeitgeber erfährt. Ganz ähnlich wie bei Karl H. lässt das verminderte Selbstwertgefühl den Protagonisten tolerant gegenüber Abweisungen werden, aber wegen eines anderen verlassen zu werden, kann er nicht ertragen. Eine ähnliche Geschichte griff die Autorin Käte Kestien (Lebensdaten unbekannt) in ihrem Roman Als die Männer im Graben lagen97 auf. Kestiens Bruder kam mit einem amputierten Bein aus dem Krieg zurück und ängstigte sich vor der Reaktion seiner Freundin, weil einer seiner Kameraden kurz zuvor von seiner Partnerin furchtbar enttäuscht wurde. In ihrem Roman verarbeitete Kestien die Erlebnisse ihres Bruders: „Einem Regimentskameraden von mir ist es so ergangen. Er war allerdings schlimmer zugerichtet, aber er hatte auch ein Mädchen. Für ganz fest sogar schon. Sie waren sich vollkommen einig. Und dann also bekam er tüchtig was ab. Bei Warschau war das. Ein Arm flog ihm weg, aber das war nicht das Schlimmste. Die eine Backe wurde ihm vollkommen aufgerissen. Er muß bös ausgesehen haben. Sein Mädchen hat ihm dann aber immer ins Lazarett geschrieben, daß das alles nicht schlimm sei, wenn er nur lebe! Aber als er dann kam, da hat sie immer nur geheult und geheult! Schließlich hat er Schluß gemacht. Und später ist ihm dann erzählt worden, daß das Mädel sich immer ekelte, immer das rote zerissene Gesicht zu sehen.“98
Geschichten über das erste Zusammentreffen mit der Partnerin entfalteten unter den Verwundeten eine große Wirkung, gerade auch, weil sie in einer Zeit stattfanden, in der die Betroffenen selbst erst lernen mussten, mit der neuen Lebenssituation umzugehen. Der Moment der Begegnung stellte in diesem Kontext einen ersten Gradmesser für die zukünftige gesellschaftliche Identität dar. Die Angst der Soldaten vor den Reaktionen ihrer Frauen blieb auch den Vertretern des „Reichsausschusses für Kriegsbeschädigtenfürsorge“ nicht verborgen und sie appellierten an die Frauen, ihre kriegsversehrten Männer nicht zu verlassen und sie geduldig im Alltag zu unterstützen.99 Die schwierige Situation der Rückkehr von der Front mit einer körperlichen Versehrtheit griff auch der Schriftsteller Erich Maria Remarque (1898– 1970) in Der Weg zurück100, dem Fortsetzungsroman von Im Westen nichts 95 96 97 98 99 100
Latzko (1918), S. 194. Latzko (1918), S. 194–195. Vgl. Kestien (1935). Kestien (1935), S. 159. Vgl. Kienitz (2008), S. 243. Vgl. Remarque (1999).
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Neues101, auf. Dieser handelt vom Treffen ehemaliger Schulkollegen und Frontsoldaten, die sich über ihre Kriegserlebnisse austauschen. Auf dem Höhepunkt der Geschichte erscheint ein Mann mit einem vollkommen entstellten Gesicht. Die Hauptfigur des Romans berichtet dem Leser: „Dann kommt jemand aus der Torecke und sagt gurgelnd: ‚Mich kennt ihr wohl nicht wieder, was?‘ Ich sehe das Gesicht an, soweit es noch eins ist. Über die Stirn läuft eine breite, rote Narbe. Sie reicht bis ins linke Auge. Das Fleisch ist dort übergewachsen, so dass das Auge klein und tief liegt. Aber es ist noch da. Rechts ist das Auge starr, aus Glas. Die Nase, die darunter hervorläuft, spaltet den Mund zweimal. Er ist wulstig und schief zusammengewachsen, daher die undeutliche Sprache. Die Zähne sind künstlich. Eine Klammer ist daran sichtbar. Unschlüssig schaue ich hin. Die gurgelnde Stimme sagt: ‚Paul Rademacher.‘ Jetzt erkenn ich ihn. Das ist ja sein grauer Anzug, mit den Streifen. ‚Tag, Paul, was machst du?‘ ‚Siehst ja‘, er versucht, die Lippen zu verziehen, ‚zwei Spatenschläge. Das ist auch noch mitgegangen‘. Er hebt die Hand, an der drei Finger fehlen. Traurig blinzelt sein eines Auge. Das andere sieht starr und unbeteiligt geradeaus. ‚Wenn ich nur wüsste, ob ich noch Schulmeister werden kann. Das Sprechen ist zu schlecht. Kannst du mich denn verstehen?‘ ‚Gut‘, antworte ich. ‚Das gibt sich auch noch. Man kann das sicher weiter operieren.‘ Er hebt die Schultern und schweigt. Er scheint nicht viel Hoffnung zu haben. Wenn es ginge, hätten sie es auch schon gemacht.“102
Das Gesicht dieser Romanfigur verliert die Beweiskraft ihrer persönlichen Identität. Erst als sich der Mann mit seinem Namen vorstellt, erkennen ihn seine Freunde.103 Remarque schildert sehr eindringlich die Angst der Heimkehrenden, nicht erkannt zu werden, wie auch die Zukunftsängste eines jungen Mannes, der sich Sorgen macht, den Beruf des Lehrers aufgrund seiner Sprachstörung nicht mehr ausüben zu können.104 Die Erlebnisse Karl H.s und der Protagonisten der angeführten Romane sprechen an, was der Soziologe Erving Goffman (1922–1982) mit dem Unterschied zwischen „Post-Stigma-Bekanntschaften“ und „Prä-Stigma-Bekanntschaften“ beschrieb. Die Ergebnisse seiner Studie zeigen, dass es für Personen aus dem Umfeld im Umgang mit der Entstellung des Gegenübers entscheidend ist, ob sie den Menschen bereits vor oder erst nach der Verletzung kennen. Denn das schon vor der Verletzung bekannte Umfeld bleibt, so Goffman, oft in einer Vorstellung dessen verhaftet, wie die Versehrten vorher aussahen und sind daher oft „unfähig die Betroffenen mit formalem Takt oder mit vertrauter voller Akzeptanz zu behandeln“105. Karl H. konnte die Abkehr seiner Verlobten überwinden und lernte kurz darauf seine spätere Frau kennen. Diese kannte ihn nur mit der Entstellung und war von Beginn an von dem etwas anderen Gesicht angetan, wie Elisabeth Stader erzählte. Sie hatte keine Berührungsängste wegen der Entstellung, sondern war im Gegenteil von der Frage fasziniert, ob ein Mann mit einer derartigen Entstellung geliebt werden konnte. Sie, die selbst verlobt war, ver101 102 103 104
Vgl. Remarque (2007). Remarque (1999), S. 110–111. Vgl. Remarque (1999), S.111; Melanie Ruff (Oktober 2012). Das Zusammentreffen mit Personen aus dem persönlichen Umfeld wird auch behandelt in: Dugain (2000), S. 39, 75, 92 und 96. 105 Goffman (2010), S. 49.
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
227
liebte sich tatsächlich in Karl H. und verließ ihren Partner für ihn. Nach der schmerzhaften Erfahrung mit seiner ersten Verlobten war Karl H. seiner Frau, die ihn trotz seines entstellten Gesichtes heiratete, sein Leben lang dankbar. Denn in der Familie wurde erzählt, dass der Vater nach der Entlassung aus der Behandlung „fast unansehnlich war“: „Bis auf die schönen Augen, war also nichts mehr da. Wir haben das natürlich alles nicht gesehen. Wir haben einen fertigen Mann gesehen der – auch die ganzen Nähte, alles was da war – hier hatte er ja einen Schnurrbart drüber und das war dann eben doch nicht mehr so sichtbar.“106
Die Geschichte des Kennenlernens der Eltern, vor allem aber das Verhalten der Frau definierte ihre Rolle im Familiengedächtnis. Fortan wurde sie als offenes, neugieriges, aber auch fürsorgliches Familienmitglied wahrgenommen. In diesem Beispiel führten die ersten Erfahrungen mit dem Stigma zu einer lebenslangen Wertschätzung der Ehefrau und Mutter. In dieses romantische Happy End einer jungen hübschen Frau mit einem entstellten und vom Krieg gezeichneten Mann wurden auch die ehemalige Verlobte und ihr neuer Partner integriert. Elisabeth Stader erzählte mir von gemeinsamen Unternehmungen der beiden Paare, die dadurch ebenfalls Teil der Familiengeschichte wurden.107 Neben der Liebesgeschichte der Eltern berichtete Elisabeth Stader auch von ihren Erinnerungen an Karl H. als Mensch und Lehrer. 6.2.2 Verletzung und Öffentlichkeit Elisabeth Stader blickte im Interview stolz auf die Karriere ihres Vaters zurück, an mehreren Stellen betonte sie dessen pädagogische Leistungen, und seinen Beruf bezeichnete sie als seine Berufung.108 Den Umgang des Vaters mit den Kindern beschrieb sie als sehr ausdauernd, diese Fähigkeit führte sie auf die Behandlungszeit zurück, in der ihr Vater „Geduld hat lernen müssen“109. Außerhalb des Schulalltages nahm H. gemeinsam mit seiner Familie an Schulfesten teil. Dort wurde getanzt, und der Vater trug Gedichte vor, wie sich Frau Stader stolz erinnerte. Während eines der zahlreichen Feste gab es eine Saal-Post mit folgendem Text: „An H. Kaarl Walzerkönig. Warum lehren sie nicht Walzer statt Mathe.“110
Mit der doppelten Schreibweise des Buchstaben „a“ in Karl H.s Vornamen spielten die Schüler auf seine Sprachprobleme an, da er durch die Verletzung Laute nur schwer und meist langgezogen aussprechen konnte. Aufgrund der Aufmerksamkeit, die Karl H. zukam, schloss Elisabeth Stader auf eine große 106 107 108 109 110
Melanie Ruff (Oktober 2012). Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012). Melanie Ruff (Oktober 2012). Vgl. Elisabeth Stader (Oktober 2012).
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Beliebtheit des Vaters, sein Humor und offener Umgang mit der Verletzung wurde hoch geschätzt. Die Kinder in der Schule wollten von ihrem Lehrer wissen, warum er so aussah und wieso er nasal sprach. Wie auch im privaten Umfeld wählte H. den Zeitpunkt für die Erzählungen selbst: „Erblaßt und mit leisem Wehlaut sank der Schüler G. D. seitwärts aus der Bank. Der Verursacher dieser Ohnmacht, der Mathematiklehrer Dr. Karl H., hielt erschrocken inne. Auf Drängen der Klasse hatte er in der letzten Stunde vor den großen Ferien von den vielen Operationen erzählt, die er nach schwerer Verwundung im Weltkrieg zum Aufbau einer neuen Nase erleiden mußte. Die Schilderung war diesmal offenbar zu farbig ausgefallen. So geschehen in der Klasse meines älteren Bruders Rudolf 1934 oder 1935. […] Seine Aussprache reizte immer wieder vorlaute Burschen zur Imitation. Die war aber keinesfalls hämisch gemeint. Nein, wir waren ein wenig stolz auf diesen Lehrer, der sich in seltener Weise als Kerl bewiesen hatte. Wir nannten ihn unter uns den ‚H.’s Kaal‘, einen eigentlichen Spitznamen trug er nicht. Ab Quinta wurden wir dann für würdig befunden, erstmals vor den Ferien einen unserem Alter angemessenen Bericht über seine Verwundung im Weltkrieg zu hören. Dies war für Dr. H. keine ‚Angabe‘, kein sich Brüsten, sondern eine, vielleicht notwendige Erklärung für seine ungewöhnliche Aussprache, die u. a. durch lange Vokale gekennzeichnet war.“111
Die Schüler waren an das Aussehen und die Aussprache von H. gewöhnt, hatten aber naturgemäß ein reges Interesse daran, zu erfahren, wie ihr Lehrer zu den Narben kam. Mit der Art und Weise, wie Karl H. den Knaben die Geschichte erzählte, bot er ihnen eine Vielzahl von Identifikationspunkten. Das Zitat legt nahe, dass die Erzählungen der Kriegserlebnisse und die Überwindung der furchtbaren Verletzung den Kindern die Möglichkeit gab, ihren Lehrer als (Kriegs-)Helden eines Abenteuerromans wahrzunehmen und somit vielleicht auch als Idol. Auch sonst scheute Karl H. die Öffentlichkeit nicht. Gemeinsam mit seiner Frau und manchmal mit den Kindern besuchte er Bälle und Feiern: „Er war die Öffentlichkeit gewöhnt. Sein ganzes Leben lang.“112
Den Reaktionen der Mitmenschen auf seine Aussprache oder die Narben im Gesicht verhielt sich H. gegenüber offen, er entschied aber selbst, wann und mit wem er darüber sprach: „Er ist offen damit umgegangen, aber er hat es nicht jedem unter die Nase gerieben.“113
Über das Verhalten Dritter auf H.s Aussehen und dessen Aussprache wurde innerhalb der Familiengemeinschaft gesprochen: „Wenn mal jemand, also wenn zum Beispiel in der Klassenzeitung was erwähnt wurde, dann wurde mal darüber gesprochen. Dass er hochgenommen wurde, das passierte schon mal. Aber das war er dann auch gewöhnt.“114
Im familiären Kontext irritierte die Verletzung H.s nicht. Die Familienmitglieder hatten gelernt, mit der Andersartigkeit des Vaters umzugehen. Elisabeth 111 112 113 114
Werner Ph. Trunk (2006). Melanie Ruff (Oktober 2012). Melanie Ruff (Oktober 2012). Melanie Ruff (Oktober 2012).
6.2 Karl H.: Das Familien-Gedächtnis
229
Stader erzählte mir, dass sie selbst von H.s nasaler Aussprache nichts merkte, da sie „ihn ja nicht anders“55 kannte. Um mir seine Sprachschwierigkeiten begreiflich zu machen, berichtete sie von den einzelnen Operationsschritten und Hauttransplantationen. Der Oberkiefer wurde beispielsweise mit einem Teil einer Rippe wieder aufgebaut. Sie beschrieb mir auch seine Nase, die nach außen hin zwar zwei Öffnungen hatte, innen jedoch nur eine. Elisabeth Stader erzählte mir, dass der Vater an die Reaktionen der anderen gewöhnt war und mit der Zeit lernte, sie gelassen hinzunehmen. Eine ähnliche Geschichte im Umgang mit der Entstellung des Vaters findet sich bei Inge M. (Lebensdaten unbekannt). Ein Artikel von Heinz Knobloch (1926– 2003), Schriftsteller und Feuilletonist, in der Wochenpost war für die Tochter eines Gesichtsverletzten der Anlass, ihm die Lebensgeschichte ihres Vaters zu erzählen. Im Gegensatz zu Karl H. hatte Inge M.s Vater außerhalb der Familie Schwierigkeiten im Umgang mit seiner Entstellung. Das fehlende Selbstbewusstsein schuf ein besonderes Nähe-Verhältnis zur Tochter, wie Inge M. in einem Brief an Heinz Knobloch betonte: „Es war keine ‚Schönheitsreparatur‘, aber es war wenigstens ein Gesicht. Wahrscheinlich liebte mein Vater mich auch deswegen besonders, weil ich – von jeher an dieses Gesicht gewöhnt – es als selbstverständlich hinnahm, während ihn Fremde unentwegt anstarrten.“115
Die Tochter war sichtlich stolz über die Liebe des Vaters und ihre Fähigkeit, dessen Entstellung nicht in ihre eigene Wahrnehmung über den Vater einfließen zu lassen. Kinder und ihr Umgang mit der Andersartigkeit nahmen in H.s Leben eine besondere Rolle ein. Sein Gesicht war zumindest so auffallend, dass ihn die Kinder für gewöhnlich anstarrten, worauf er erstaunlich bemüht reagierte. Er ging auf die Kinder zu und lockerte das Eis durch das Verteilen von Bonbons, die er immer mit sich trug. Damit „lenkte er ab wahrscheinlich“, so die Erklärung der Tochter. Bezeichnend für H.s Umgang mit der Entstellung war, dass er sich im Vorfeld mit den möglichen Reaktionen seines Umfeldes auseinandersetzte, sie abwog und dann über seine öffentliche Präsenz entschied. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges beispielsweise verzichtete er auf einen Arbeitsplatz als Lehrer an einem Mädchen-Lyzeum, weil er den Schülerinnen sein Gesicht nicht zumuten wollte.116 Aus seiner Sicht ließen sich mit dieser Entscheidung Probleme am Arbeitsplatz vorbeugen. Da Jungen durch den Krieg einiges gewohnt waren und mit der Entstellung seiner Meinung nach besser umgehen konnten, entschied sich H. letztendlich für einen Arbeitsplatz in einer Knabenschule.117 Die Entscheidung H.s gegen eine Lehrstelle am Mädchengymnasium macht deutlich, welchen Einfluss die Andersartigkeit der Verwundeten auf ihre beruflichen Entscheidungen haben konnte. Um grundsätzlich weniger 115 Inge Meyer (16.5.1985). 116 Vgl. Karl H., S. 3. 117 Vgl. Melanie Ruff (Oktober 2012).
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
aufzufallen, entschloss sich H. auch, einen Schnurrbart zu tragen, der die Oberkieferverletzung mit der schief verheilten oberen Mundpartie verdecken sollte. Die Verwundungsgeschichte der Väter von Elisabeth Stader und Inge M. war Bestandteil des Familiengedächtnisses, wie die Erinnerungen der zwei Töchter zeigen. Das Erzählte veranschaulicht aber auch, wie durch die Gewohnheit eine Normalität erzeugt wurde, wodurch die Andersartigkeit für Familienmitglieder kaum noch eine Rolle spielte. 6.2.3 Körperpraktiken im familiären Alltag Die Informationskontrolle spielte auch bei den Körperpraktiken eine Rolle. So war die Familie von Karl H. zwar prinzipiell über die Verletzung und die Behandlungszeit informiert, Einzelheiten der Operationen beispielsweise sparte H. aus Rücksicht auf die Kinder aber aus. Ähnlich verhielt es sich mit den alltäglichen Hygiene-Praktiken, die H. im Verborgenen ausführte. Elisabeth Stader erzählte mir von dem „Apparat“, mit dem der Vater täglich seine Nase spülen musste, weil er nur noch eine Nasenöffnung hatte, die mit einem Taschentuch nur schwer zu reinigen war. Sie erzählte auch, dass er das Badezimmer erst aufsuchte, wenn alle schon schliefen, weil der „Apparat so schreckliche Geräusche machte“. Eine weitere Nebenerscheinung war, dass Karl H. fast im Sitzen schlafen musste, um genügend Luft zu bekommen. Seiner Tochter erzählte er, „daß die Nase die Kälte schlecht vertragen kann und sehr weh tut und rot gefroren ist“118. Ein weiteres Handikap war die tägliche Rasur der Stirn, hervorgerufen durch ein Hauttransplantat aus dem Bereich des Hinterkopfes. Die Stirnhaut wurde für die Rekonstruktion der Nase verwendet, „auf der natürlich Haare wuchsen und die ich täglich mit rasierte“119. Eine Operation hätte diese Unannehmlichkeit beheben können, H. lehnte sie jedoch ab.120 In den ersten Jahren nach der Verwundung hatte H. durch die Zahnprothese Probleme beim Kauen. Einige Lebensmittel, wie beispielweise Beeren, mussten eigens zubereitet werden. Fleischgerichte zerkleinerte er mit einer Schere, die er beim Essen immer dabei hatte, auch in Restaurants. Trotzdem hatte „er immer sehr ästhetisch gegessen“ sodass es niemanden „störte“121, wie sich die Tochter bewundernd erinnerte. Die Handikaps bewertete Elisabeth Stader ganz lapidar: „Und er musste auch immer mit Taschentüchern versorgt sein. So Kleinigkeiten. Aber jeder Mensch hat ja irgendwas.“122
118 119 120 121 122
Elisabeth Stader (8.3.2006). Karl H. (15.11.1973). Vgl. Karl H. (15.11.1973). Melanie Ruff (Oktober 2012). Melanie Ruff (Oktober 2012).
6.3 Josef N.: Familiäre Gewalt
231
Der Umgang mit der Invalidität erforderte eine enorme Selbstdisziplin, die er bis ins hohe Alter beibehielt, wie sich die Tochter erinnert, die selbst 92 Jahre alt ist und sich in diesem Zusammenhang den Vater als Vorbild nimmt. Eine ganz andere Perspektive zeigt der nachfolgende Lebensentwurf des Verwundeten Josef N., der aus der Rentenakte des Versorgungsgerichtes Konstanz rekonstruiert wurde.123 6.3 Josef N.: Familiäre Gewalt Josef N. wurde im September 1882 in Krauchenwies (im heutigen BadenWürttemberg) geboren. Mit Kriegsbeginn wurde er in den aktiven Militärdienst eingezogen und im Zuge der Kampfhandlungen bei Arras im April 1917 durch ein Artilleriegeschoss am Kopf verwundet. Dabei erlitt N. eine Gehirnerschütterung, einen Kieferbruch sowie eine schwere Verletzung am linken Auge. Die Augenhöhle eiterte über einen Zeitraum von zehn Monaten immer wieder, sodass regelmäßig Geschossstücke operativ entfernt werden mussten, bis er das Auge schließlich verlor. Zwanzig Monate später, Ende November 1918, wurde er aus der Behandlung entlassen.124 Über seine Behandlungszeit selbst ist nur überliefert, dass er von Christian Bruhn im Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte behandelt wurde.125 Als Folgeerscheinung der Verwundung litt N. an Eiterungen im Auge und starken Kopfschmerzen, die in Schüben auftraten. Trotzdem war Josef N. voll erwerbstätig und bezog als Telegrafenarbeiter „vollen Lohn“126. 1911 hatte er Luise M. geheiratet, 1912 wurde die gemeinsame Tochter geboren.127 Luise N. (geb. M.) wurde am 11. Januar 1881 in Gündelwangen (BadenWürttemberg) geboren. 1930 war sie ein bis zwei Mal pro Woche als Tagelöhnerin tätig.128 Es ist wahrscheinlich, dass sie nach dem Suizid ihres Mannes und dem damit verbundenen Wegfall seines finanziellen Beitrages zum familiären Budget auf eine staatliche Unterstützung angewiesen war. Wie Familie N. erging es vielen anderen deutschen und österreichischen Familien nach dem Krieg. Für all diese Familien und ehemaligen Soldaten wurde ein Auffangnetz installiert: die Rentenversorgung.129
123 Vgl. Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 124 Vgl. Entscheid, 22. September 1932, Konstanz, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II, S. 122–125. 125 Vgl. Bericht, 28.3.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 126 Gutachten, 17.12.1931, Verfasser: Küpper, Psychiatrische und Nervenklinik der Universität Freiburg, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 127 Vgl. Angaben zur Person aus Personaldatenblatt, 4.5.1922, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 128 Vgl. Bericht von Rechtsanwälten, 14. Juni 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 129 Auch in Österreich wurde eine Rentenversorgung für Kriegshinterbliebene eigerichtet. Mehr dazu: Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2009). Im Text wird es folglich um das deutsche Beispiel gehen.
232
6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Exkurs: Das Reichsversorgungsgesetz Schon lange vor dem Ende des Krieges debattierten „Deutungseliten in Deutschland – Mediziner, Juristen und Vertreter der Sozialfürsorge“ über die Schlüsselfrage, wer nach der Entlassung aus dem Militärdienst Anspruch auf Versorgungsleistungen aufgrund einer Kriegsversehrtheit hatte.130 Die Anspruchsberechtigung konnte im Grundsatz nur sehr schwer infrage gestellt werden, denn der Staat als Akteur sah sich in „einer wesentlich unmittelbareren Weise in die Pflicht genommen, als dies bei anderen sozialen Sicherungssystemen der Fall“131 war. Die Debatten um eine staatliche Versorgung konzentrierten sich folglich im Wesentlichen auf den Versuch, objektive Maßstäbe bei der Beurteilung körperlicher Beeinträchtigungen einzuführen. Dabei orientierte man sich an bereits vorhandenen „ökonomische[n] Körperkonzepte[n] der Invalidenversicherung“, deren Klassifizierung in Prozentzahlen ausgedrückt wurde und, in die „Logik einer Preisliste übersetzt“, körperliche Versehrtheit in Geldbeträgen benennen konnte.132 Das dahinter stehende Konzept der Rentenversorgung beruhte auf dem Ersatz verlorengegangener Arbeitskraft und nicht auf dem Ersatz körperlicher Beschädigungen.133 Gesichtsverletzte waren demnach, sofern sie nicht an Magenproblemen oder Unterernährung litten, voll arbeitsfähig. Und trotzdem schien es bei der Integration in den Arbeitsmarkt Probleme zu geben, worauf Fritz Williger (1866–1932), Kieferchirurg in Berlin, bereits 1914 hinwies. Williger beobachtete, dass Gesichtsverletzte im Dienstleistungssektor oder in kreativen Berufen aufgrund ihres Aussehens Benachteiligungen ausgesetzt waren. Daraus schloss er, dass eine physische Arbeitsfähigkeit nicht gleichbedeutend war mit der tatsächlichen Möglichkeit, dieser nachgehen zu können. Die Arbeitsfähigkeit, wie etwa bei Gesichtsverletzten, war nicht immer messbar und bedurfte daher alternativen Bewertungsmethoden.134 Zum Zeitpunkt des Aufrufes von Williger wurden die Renten- und Versorgungsangelegenheiten im Mannschaftsversorgungsgesetz von 1906 geregelt. Das Gesetz sah eine „Verstümmelungszulage“ bei dem Verlust einer Hand, eines Fußes, der Sprache, des Gehörs oder bei Erblindung beider Augen vor und sollte unabhängig von der Arbeitsfähigkeit gewährt werden. Entstellungen im Gesicht wurden nicht explizit als Verstümmelungsgrund erwähnt. Die Versorgung an sich setzte sich zusammen aus: der Rente (ab 10 Prozent Erwerbsfähigkeitseinbuße) + Zusatzrente (mehr als 33 1/3 Prozent Erwerbsfähigkeitseinbuße) + Verstümmelungszulage (unabhängig von der Erwerbstätigkeit). Zusätzlich zum Gesetzestext gab es verbindliche Dienstanweisungen zur Anwendung der Gesetzesvorgaben. Am 26. Juni 1917 reagierte man im Sanitätsdepartement des Kriegsministeriums auf die von Williger angesprochenen Lücken in der Versorgung mit einer Dienstanweisung für die Bewertung von Kieferverletzungen. Die Anweisung sah eine 130 131 132 133 134
Vgl. Kienitz (2008), S. 309. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 359. Vgl. Kienitz (2008), S. 309. Vgl. Verena Pawlowsky / Harald Wendelin (2011), S. 382. Vgl. Williger/Schröder (1914), S. 12–13.
6.3 Josef N.: Familiäre Gewalt
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Dienstuntauglichkeit bei Gesichtswunden vor, „in Fällen allergrößter Verletzungen, nach Erschöpfung aller zielbewußten Behandlungsmethoden, wenn der Endzustand eine geordnete Aufnahme selbst weichgekochter Nahrung nicht erlaubt, oder die Entstellung im Gesichte derartig ist, daß sie abschreckend auf Mitmenschen wirkt […]“135. Ein verbindliches Recht auf Entschädigung bei Gesichtsentstellungen wurde den Betroffenen erst mit dem Reichsversorgungsgesetz von 1920 zugesprochen. Bei diesem Gesetz setzte sich die Versorgung, ähnlich wie bei seinem Vorgänger, ebenfalls aus mehreren Teilen zusammen. Der wichtigste Unterschied bestand in der Unterteilung der Grundrente in die Einschränkung der Berufsfähigkeit oder der „Minderung der körperlichen Unversehrtheit“136. Ab einer Erwerbsminderung von 50 Prozent wurde eine Schwerbeschädigtenzulage ausgezahlt. Darüber hinaus gab es noch die Möglichkeit von weiteren Zulagen (Pflegezulage, Kinderzulage, Ausgleichszahlungen). Bei der „Minderung der körperlichen Unversehrtheit“ ging es nicht um den Ersatz der verlorenen Arbeitsfähigkeit, sondern um eine Ausgleichszahlung für eine sichtbare körperliche Entstellung: „Wer in seiner körperlichen Unversehrtheit schwer beeinträchtigt ist, erhält ohne Rücksicht auf den Grund der tatsächlichen Minderung seiner Erwerbsfähigkeit eine Mindestrente auf der Grundlage nachstehender Sätze.“137
Als Grund für den Anspruch auf diese Rente wurden 24 Punkte angegeben, zwölf davon betrafen den Bereich des Gesichtes: • • • • • • • • • • • •
Verlust der ganzen Kopfhaut (Skalpierung) (20/25 % von 50) Verlust oder vollständige Erblindung eines Auges (30/25 %) Verlust eines Auges (20 %) Verlust eines Kiefers oder des größeren Teiles eines Kiefers (mehr als 1/3) (30 %) Verlust des Gaumens (20/25 %) Verlust aller Zähne (20/25 %) Verlust beider Ohrmuscheln (20/25 %) Erheblicher Gewebeverlust der Zunge mit schwerer Sprachstörung (30 %) Verlust des Kehlkopfes (50 %) Völliger Verlust der Nase (50 %) Stinknase (Ozaena) (30 %) Abstoßend wirkende Entstellung des Gesichtes, die den Umgang mit Menschen erschweren (25–50 %)“138
Interessant ist die zuletzt angeführte Passage, in der die Reaktion des Umfeldes auf die Entstellungen behandelt wird. Wenn von „abstoßend wirkende[r] Entstellung des Gesichtes“ die Rede ist, die folglich „den Umgang mit Menschen erschweren“, erinnert dies im Wortlaut stark an die Argumentationslogik der zitierten Ärzte. Die dafür anberaumte Entschädigung von 25–50 Pro135 136 137 138
o. a. (1918), S. 199. Reichsregierung (5. Juni 1931), § 25. Reichsregierung (5. Juni 1931), § 25, Abs. 3. Reichsregierung (5. Juni 1931).
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
zent ist beachtlich. Nur der völlige Verlust der Sprache (Kehlkopf), des Geruchssinnes (Nase) sowie der eines Beines oder Armes (50 %)139 wurde in derselben Höhe entschädigt. Damit wurde die Fähigkeit, sozial zu agieren zu einer Kernkompetenz menschlichen Lebens erhoben und auf dieselbe Ebene wie physische Körperfunktionen gestellt. Hiermit entschloss man sich für ein Rentensystem, das sich zwar auf die Entschädigung von Arbeitskraft beschränkte, diese jedoch in körperliche und soziale Fähigkeit unterteilte. Die hier getroffenen Aussagen und Gesetzestexte waren bis zum Inkrafttreten des neuen Bundesversorgungsgesetzes von 1950 gültig und finden sich auch in abgeänderter Form im aktuellen Versorgungsgesetz wieder.140 Die Witwe von Josef N. stellte nach dessen Selbstmord 1930 einen Antrag auf eine Hinterbliebenenversorgung. Aus diesem Verfahren stammen die hier verwendeten normativen Quellen und Selbstzeugnisse. Die Dokumente beinhalten die Zeiträume von April 1922 bis Oktober 1922 (Rentenantrag Josef N.) und von August 1930 bis Dezember 1934 (Rentenantrag Luise N.). Die Kriegsversehrten, die einen Anspruch auf Rentenzahlungen erhoben, waren für die Beweisführung selbst zuständig und mussten die Folgen ihrer Verwundung gegenüber Gutachtern, Behörden und Ärzten möglichst überzeugend darlegen.141 Dieser Umstand ist bei den Schilderungen zu beachten. In Bezug auf den Entstehungskontext der Quellen ist zudem zu beachten, dass im Zuge der Datenerhebung der Rentenfälle Fragebögen an das zuständige Bürgermeisteramt verschickt wurden, die dort ohne Wissen der Antragstellerinnen und -steller ausgefüllt wurden. Mit diesen Fragebögen wurden Informationen über die Arbeitstätigkeit vor und nach dem Krieg, den Familienstand, die Gesundheit, die finanziellen Mittel der Familie und ihrem Vermögen eingeholt. Das Bürgermeisteramt gab auch darüber Auskunft, welche Arbeiten der Antragsteller „nur noch mit besonderer Anstrengung besorgen“ kann, wie sich „die Beschwerden“ äußerten und behandelt wurden, und welche Krankenstandzeiten der Antragsteller zu verzeichnen hatte.142 In manchen Fällen wurden die Bürgermeisterämter explizit dazu aufgefordert, die Nachbarn der Antragstellerinnen und -steller zu befragen. Die Rentenfälle wurden auf Grundlage dieser Angaben und Zeugenbefragungen entschieden, wodurch die Betroffenen einer dörflichen „sozialen Kontrolle“ ausgesetzt waren, die Denunziationen den Weg ebnete.143 Im März 1919 stellte N. einen Antrag auf „Versorgung und Verstümmelungszulage für den Verlust des linken Auges als Folge der Verwundung“, die 139 Reichsregierung (5. Juni 1931), § 25, Abs. 3. 140 „Für Empfänger einer Pflegezulage nach § 35 und für Beschädigte, deren Grad der Schädigungsfolgen allein wegen Tuberkulose oder Gesichtsentstellung wenigstens 50 beträgt, sowie für Hirnbeschädigte haben die Hauptfürsorgestellen die Leistungen der Kriegsopferfürsorge unter Beachtung einer wirksamen Sonderfürsorge zu erbringen.“ In: Bundesgesetzblatt I (Art. 15 G vom 1. November 2011), § 27e. 141 Vgl. Kienitz (2008), S. 341. 142 Fragebogen an das Bürgermeisteramt in Waldshut, 4. Mai 1922, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 143 Kienitz (2008).
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im September desselben Jahres bewilligt wurde. Das Versorgungsgericht sprach ihm 45 Prozent einer Vollrente zu, und zwar für: „1.) Verlust des linken Auges, 2.) geringfügige Kauschwäche nach rechtsseitigem Unterkieferbruch, 3.) geringfügige Schwäche des rechten Kniegelenks.“144
Wie bei vielen anderen Rentenbeziehern wurde auch N.s Rente durch das „Umanerkennungsverfahren“ von 1922 auf 40 Prozent der Vollrente gekürzt. Die Regierung rechtfertigte die Kürzungen mit einem ungenügenden Staatsetat und finanziellen Engpässen. N. erhob Einspruch gegen diesen Bescheid und schilderte im dafür notwendigen Schreiben ausführlich die Folgen seiner Verwundung mit den sich daraus ergebenden Einschränkungen: „Meine Leiden, hauptsächlich die linke Augenhöhle und der Unterkiefer verursachen mir bei jedem geringen Witterungsumschlag starke Schmerzen, ich kann oft nur unter Aufbietung aller Willenskraft meine Arbeit verrichten. Wegen meinem Versorgungsleiden stehe ich dauernd in Behandlung bei Herrn Dr. Baer in Waldshut, dieser Arzt wird über mein Leiden Aufschluß geben können.“145
Wie N. erging es vielen Kriegsversehrten, die nach ihrer Verwundung mit Spätfolgen in Form von chronischen Schmerzen oder Krankheiten zu kämpfen hatten.146 Durch die Schwierigkeit, einer Arbeit ordentlich nachgehen zu können, stellten sich finanzielle Probleme ein, die nicht zuletzt die materielle Grundlage der Familie bedrohten. Gerade für Männer wie N., die der Arbeiterschicht angehörten, beinhaltete die Berufstätigkeit harte körperliche Arbeit. Der Verlust dieser Fähigkeit bedeutete den „Verlust der Ernährer Rolle, die als konstitutiv für den Status und die Autorität als Mann galten“147, wie Sabine Kienitz feststellte. Dieser Argumentation entsprechend lässt sich N.s Autoritätsverlust vor allem an dessen Gewaltbereitschaft gegen seine Frau und sein Kind messen. Ein Teil der Zeugenbefragung widmete sich dem Zusammenleben der Familie N., das von der Gewalttätigkeit Josef N.s geprägt war. Welche Ursachen für N.s Übergriffe angegeben wurden, und wie das soziale Umfeld auf die häusliche Gewalt reagierte, wird im folgenden Abschnitt behandelt.
144 Entscheid, 22. September 1932, Konstanz, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II S. 122–125. 145 Josef N. an das Hauptversorgungsamt Karlsruhe, 16. August 1922, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 146 Der Antragsteller Ha. hatte ähnliche Beschwerden wie N. Er litt an einem tränenden Auge und Kopfschmerzen bei Witterungswechsel, weshalb er vermutete, dass sich noch ein Granatsplitter in der Stirn befand. Urteil, 3.3.1920, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II; Der Antragsteller Med. klagte aufgrund einer Stirnverletzung über Kopfschmerzen, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II; Der Antragsteller K. verlor im Krieg sein Auge und klagte als Spätfolge der Verletzung in den folgenden Jahren über Kopfschmerzen, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II; Der Antragsteller R. hatte Schmerzen beim Kauen und Kopfschmerzen, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 147 Kienitz (2008), S. 257–258.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
6.3.1 Wie wurde im sozialen Umfeld über häusliche Gewalt gesprochen? Nach dem Grund für Josef N.s Selbstmord befragt, gaben die Zeugen (Arbeitskollegen und der Vermieter) seine Kriegsverletzung an, die auch als Hauptgrund für die häusliche Gewalt innerhalb der Familie gesehen wurde. Die übereinstimmenden Zeugenaussagen belegen, dass allem Anschein nach N.s Kopfschmerzen zu „Erregungszustände[n]“ führten, die schließlich in tätlichen Auseinandersetzungen mündeten.148 Die Befragung der Zeugen durch das Bürgermeisteramt fand Mitte Juli 1930 statt. Als Erster wurde der Vermieter Wendelin K. befragt. Er sagte aus, dass N. zwar finanziell für seine Familie sorgte, jedoch insbesondere bei Witterungswechsel gegen sein Kind auch handgreiflich wurde: „[…] klagte N. über Schmerzen im Kopf und in den nächsten Tagen erfolgten dann die Erregungszustände, bei denen er nicht wußte, was er tat. So kam es vor, daß er sein Kind schlug und wußte nicht warum. Diese Behandlung war dann derart, daß man abwehren mußte.“149
Wendelin K. gab an, dass N. nachts mit „Zuständen“ zu kämpfen hatte, in denen er „dann fort“ wollte. Waren diese „Zustände“ vorbei, war nach der Zeugenaussage „wieder der bravste Mann“150 und konnte sich an das Geschehene kaum erinnern. Kurz vor dem Selbstmord seien die „Erregungen […] besonders hervorgetreten“. Über N.s Verhalten vor dem Krieg konnte er keine Auskunft geben, weil die Familie erst nach dem Krieg in seine Wohnung gezogen war.151 Interessant ist der Umstand, dass N.s Gewalttätigkeit hinlänglich bekannt war, der Vermieter aber im Tatbestand der häuslichen Gewalt außer der Notwendigkeit des Abwehrens keinen weiteren Handlungsbedarf sah. Als Nächstes wurde die Witwe selbst befragt. Im Gegensatz zum Vermieter kannte sie N. bereits vor dem Krieg und betonte das ruhige Gemüt ihres Mannes vor der Verwundung und den Kriegserlebnissen: „Vor dem Kriege war mein Mann sehr ruhig veranlagt; er ging seinem Berufe nach und zu Hause war er der hilfsbereite Mann bei allen Geschäften, welche er tun konnte; er arbeitete insbesondere gern im Garten. Jedenfalls war er kerngesund und er klagte nie über Kopfschmerzen und Erregungszustände waren nicht bemerkbar.“152
Mit N.s Verwundung änderte sich dies und nach dessen Rückkehr nahm Luise N. Veränderungen an ihrem Mann wahr:
148 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramt Waldshut, 15. Juni 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 149 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 150 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 151 Vgl. Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 152 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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„Mein Mann hat 1917 das linke Auge verloren und seit dieser Zeit war er nicht mehr der ruhige Mann, wie er vorher war. Dies zeigte sich in der Hauptsache darin, daß er wegen jeder Kleinigkeit gleich aufgeregt wurde. Insbesondere zeigten sich die Erregungszustände vom Jahre 1921 ab. Dort war er oft in einem solchen Erregungszustande, daß man sich fürchtete, um ihn zu sein. War er in der Erregung, so schimpfte er über alles, was um ihn vorging er sprach von Selbstmord, alles um ihn herum war zu eng und es brauchte kaum eine Ursache, daß er Schläge versetzte.“153
Die Lage, in der sich Luise N. befand, ist typisch für Frauen von Kriegsversehrten, welche die Reintegration in einen geregelten Alltag nicht schafften. Die Aussage der Witwe macht deutlich, dass sie der Gewalttätigkeit ihres Mannes schutzlos ausgeliefert war. Von einer möglichen Unterstützung von außen erwähnte sie nichts, vermutlich konnte sie damit auch nicht rechnen, denn „für mögliche Ängste, Zweifel und auch für die konkreten Belastungen der betroffenen Frauen“154 gab es keine verständnisvolle Öffentlichkeit. Vielmehr sollten sich die Frauen über die Heimkehr ihrer Männer freuen, so die öffentliche Botschaft an die Frauen. Von ihnen wurde verlangt, die „zusätzlichen Belastungen durch Pflege und Lohnarbeit selbstlos auf sich [zu] nehmen“155 und Luise N. reagierte folglich so, wie es von ihr erwartet wurde. Sie bemühte sich, Konflikte zu vermeiden und ertrug die Gewalt ihres Mannes. Aber auch Josef N. versuchte seine „Erregungszustände“ durch den Verzicht auf Alkohol einzudämmen.156 Die Probleme der Familie N. stellten keinen Einzelfall dar, denn Gewalt in der Familie spielte auch in anderen hier vorgestellten Biografien eine Rolle.157 Neben häuslichen Schwierigkeiten kam es auch am Arbeitsplatz zu Problemen. Der Vorgesetzte von Josef N. bestätigte in seiner Aussage die Angaben des Vermieters und der Witwe hinsichtlich N.s Verhalten. Auch er sprach davon, dass N. „zeitweise sehr aufgeregt war“, was er auf dessen Kriegserlebnisse zurückführte. Er gab an, dass N. „fleißig, sehr fleißig, pünktlich und gewissenhaft die ihm angewiesenen Arbeiten erfüllte“158. In einem Gespräch vertraute N. ihm an, „daß er durch den Verlust seines Auges und durch den Kopfschuß oft Schmerzen habe und daß er infolge dieser Schmerzen oft nicht weiß was er tun solle; zu den Ärzten hatte er kein Vertrauen mehr“159. Auch dem Vorgesetzten fiel auf, dass sich der Zustand N.s zusehends verschlechterte. Im letzten halben Jahr vor dem Selbstmord sei N. immer häufiger empört und zusehends misstrauischer geworden, wodurch Konflikte mit seinen Arbeitskolle153 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 154 Kienitz (2008), S. 242. 155 Kienitz (2008), S. 242. 156 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 157 Vgl. Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 158 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 159 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
gen entstanden. Um mit N. auszukommen, legten sich seine Arbeitskollegen Verhaltensmuster zurecht, wie der Vorgesetzte berichtete: „Wenn bei N. Aufregungszustände hervortraten, so mußte man ihn in Ruhe lassen; seine Mitarbeiter wußten, daß man ihm dann nichts sagen durfte; auf diese Art kam er am leichtesten wieder zu Ruhe.“160
In weiterer Folge wurde ein direkter Arbeitskollege befragt, der die Aussagen über die Kopfschmerzen und die „Erregungszustände“ bestätigte. Er erzählte auch, dass sich N. durch sein fehlendes Auge bei der Arbeit behindert fühlte und man es ihm ansah, „wenn er sich nicht wohl befand; sein Auge tränte stark und oft sah man Eiter in den Augen, ging es ihm hingegen gut, so war er ein gemütlicher Mitarbeiter“161. Als letzter Zeuge wurde N.s Kollege, Peter B., befragt, der mit ihm fünf Jahre lang eng zusammenarbeitete. Wie die anderen kannte auch er dessen Erregungszustände bei Witterungswechsel, an sich beschrieb er N. aber als angenehmen Arbeitskollegen. Körperliche Gewalttätigkeiten gegen Arbeitskollegen gab es nicht. Zwar kam es häufig zu verbalen Übergriffen, aber N. konnte sich soweit beherrschen und griff seine Arbeitskollegen körperlich nicht an. Im häuslichen Umfeld sah dies anders aus. Josef N. hatte keine Hemmungen, gegen seine Frau Gewalt anzuwenden. In N.s Verhalten lässt sich eine deutliche Unterscheidung zwischen privat und öffentlich sowie entlang der Geschlechterdichotomie erkennen. Die Zeugenaussagen offenbaren aber auch eine deutliche Toleranz gegenüber dem gewalttätigen Verhalten von N., denn keiner der Befragten schien ihn in die Schranken zu weisen. Zwölf Jahre nach der Verletzung, am 20. September 1929, nahm sich Josef N. das Leben, indem er sich im Rhein ertränkte. Davor ging er wie an jedem anderen Tag zur Arbeit. Seine Arbeitskollegen sagten aus, dass er an diesem Tag „verschiedene Aufregungszustände“ hatte und über Kopfschmerzen klagte. Als die Kopfschmerzen vorüber waren, sei er „wieder der Alte“162 gewesen. Nach der Arbeit besuchte N. ein Gasthaus und trank sich Mut an, wie der Wirt vermutete. Als N. den Gasthof ohne Abschied verließ, kam dem Wirt ein Verdacht und er schickte ihm Gäste hinterher, die den Selbstmord jedoch nicht mehr verhindern konnten. Wie bei Suizid üblich, wurden zu den Zeugenbefragungen auch Sachverständige für die Beurteilung des Geschehenen hinzugezogen. Sie sollten beurteilen, ob die Ursache für den Selbstmord in N.s Kriegserlebnis und der Verletzung lag, das einen Rentenanspruch der Witwe bedeutet hätte, oder ob andere Gründe für die Tat ausschlaggebend waren. Nach dem ersten negativen Bescheid ist in der Berufungsschrift des Anwaltes der Familie zu lesen: 160 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 161 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15. Juli 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 162 Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.3 Josef N.: Familiäre Gewalt
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„Er hatte oft Kopfweh bis zur Bewusstlosigkeit und konnte sich kaum halten. Er hat oft erklärt, dass das Leben für ihn keinen Wert mehr habe, weil er infolge der Kriegsverletzungen zum schwer kranken Mann wurde.“163
Das notwendige fachärztliche Gutachten wurde von einem Arzt namens Bernauer (Lebensdaten unbekannt) verfasst, der angab, dass N. zum Zeitpunkt des Selbstmordes „nicht mehr im Besitze seiner geistigen Fähigkeiten“164 war. Die Aussagen wurden an das Versorgungsgericht in Konstanz geschickt, wo der Fall am 5. November 1931 in der Spruchkammer des Versorgungsgerichts verhandelt wurde. Ergänzend dazu wurden psychologische Gutachten in Auftrag gegeben, die den Grund des Selbstmordes klären sollten. Auf die widersprüchlichen Inhalte und Argumentationsmuster der Gutachten wird im folgenden Abschnitt näher eingegangen. 6.3.2 Die Perspektive der Ärzte Das erste psychologische Gutachten stammte vom Facharzt des Versorgungsamtes, Dr. Simon, (Lebensdaten unbekannt). Ohne N. jemals persönlich kennengelernt zu haben, erstellte Simon ein umfangreiches psychologisches Gutachten, das sich auf „die Kenntnis der uns übersandten Akten“165 stützte. Bei den „übersandten Akten“ handelte es sich um die vorhin zitierten Unterlagen des Bürgermeisterbüros. Zusätzlich forderte Simon die Akten der Staatsanwaltschaft an, um Informationen über mögliche Selbstmorde oder „sonstige Geisteskrankheiten“166 in der Familie zu erhalten. Darüber hinaus war er an den „wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen“ von N. interessiert.167 Aus den gesammelten Informationen fertigte Simon ein siebenseitiges Gutachten an, in dem er zuerst die Frage erörterte, „ob etwa reaktive Verstimmungszustände aus Gram durch die Verletzung bezw. Verstümmelung vorgelegen haben“168. Die Antwort lieferte Simon gleich mit: „Dies wird man jedoch verneinen müssen. Zunächst war die Verletzung keinesfalls so schwer, dass die etwa seine Existenz bedroht oder ihn zur Verzweiflung getrieben hätte. Außerdem wird uns nichts über Verstimmungszustände mit einem bestimmten Inhalt, der sich auf die Verletzung beziehen könnte, mitgeteilt.“169
Dieses Urteil verwundert angesichts der Tatsache, dass hier ein Selbstmordfall besprochen wurde, bei dem die Zeugen übereinstimmend aussagten, dass N. unter den Folgen der Kriegsverletzung litt und seine Leiden zum Teil auch sehr 163 Anwaltsschreiben an Versorgungsgericht, 31. Mai.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 164 Anwaltsschreiben an Versorgungsgericht, 31. Mai.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 165 Fachärztliches Gutachten, Simon, 17.12.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 166 Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 167 Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 168 Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 169 Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
detailliert beschreiben konnte. Wie wenig es im Gutachten um den Betroffenen selbst, sondern um den Versuch ging, Rentenanträge möglichst abschlägig zu beurteilen, zeigen die weit ausholenden Erklärungsmodelle des Gutachters. Für die „Erregungszustände“ fand er die Erklärung in zwei „Antrieben“: „Nämlich Neigung zum Fortlaufen und Neigung zu sinnloser Gewalttätigkeit, zum Dreinschlagen. Dieses Bild passt nicht zur Annahme reaktiver Verstimmung, es lässt eher an epileptische, sogenannte Verstimmungszustände denken, die sich jedoch in ihrer ganzen klinischen Form von reaktiven Zuständen unterscheiden.“170
Von dieser Annahme geleitet, verwies Simon abermals auf die Symptome einer epileptischen Erkrankung und kam zu dem Schluss, dass bei N. „durchaus an epileptische Zustände [zu] denken“ sei, wenn auch „etwas sicheres“ darüber nicht ausgesagt werden könne. Die Kriegsverletzung als Ursache für den Selbstmord konnte aus dieser Perspektive jedenfalls ausgeschlossen werden und Simon suchte den Grund in einer vermeintlich erblichen Veranlagung: „Ausserdem spricht auch das klinische Bild nicht für das Vorliegen einer epileptischen Veränderung nach Hirnverletzung, sondern es spricht mehr für endogene Zustände, von denen man nicht einmal sagen kann, dass die klinisch zu Epilepsie gerechnet werden dürfen.“171
Sicher sei nur, „dass im Gleichgewicht des seelischen Lebens irgendeine Unordnung herrscht“. Darauf folgte eine Grundsatzüberlegungen über die „Triebkräfte“ des Lebens: „Fassen wir Selbstmord als eine krankhafte Störung des Lebenstriebes auf, so werden wir uns daran erinnern, dass Lebens- und Todestrieb die polaren Enden jener inneren Differenz ist, die wir das Leben nennen. Die Triebkraft, die das Leben aufrecht erhält, gliedert sich in 2 grosse Triebkräfte, die im Grunde beide der Erhaltung des Lebens dienstbar sind, nämlich in den Erhaltungstrieb und in den Aggressionstrieb, der ja auch der Sicherung der Selbsterhaltung dient.“172
In dieser abstrakten Form setzte Simon das Gutachten fort, bis er in einem Zwischenergebnis wieder auf den Fall N. und dessen Gewaltausbrüche zu sprechen kam: „Wir glauben diese Triebkraft im Falle N. in den sinnlosen Gewalttätigkeiten gegen seine Umgebung, besonders gegen seine Kinder [sic!] wieder zu erkennen, bis dann einer anderen seelischen Konstellation sich dieser Trieb gegen ihn selbst gerichtet hat. Wir müssen daher annehmen, dass es sich doch bei N. im Wesentlichen um eigentümlich seelische Abwegigkeiten gehandelt hat, die in einer Krankhaften Artung zu suchen sind.“173
Scheinbar sollte mit den Wiederholungen hereditärer Erklärungsmuster in Simons Aussagen festgemacht werden, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Selbstmord von N. und der Kriegsverletzung gab.174 N.s Verhalten erinnere vielmehr an Verhaltensweisen, „die man zu Epilepsie rechnet“ und auch sonst habe sein Handeln „eine gewisse Ähnlichkeit mit psychopathischen Zu170 171 172 173 174
Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Vgl. Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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ständen, wie sie bei Leuten mit Neigung zu primitiven Rauschzuständen auftreten.“ Die Frage, ob die Verletzung der Grund für den Selbstmord sei, müsse daher „verneint werden“175. Die Intention des Verfassers ist kaum zu übersehen, N.s Witwe sollte der Rentenanspruch mit vermeintlich objektiven psychologischen Erkenntnissen abgesprochen werden. Das dahinterstehende rhetorische Muster ist unschwer zu erkennen. Zuerst stellte Simon eine nicht belegte Behauptung auf, die er mit Argumenten, warum seine Behauptung zutreffen könnte, erhärtete. Diese Behauptungen benutzte er in weiterer Folge wiederum zur Erklärung der anfangs aufgestellten Hypothese, die er nun als belegt ansah. Auch die Gewaltbereitschaft gegen die Familie begründete Simon mit einer erblichen Vorbelastung von N., der schlussendlich allein für sein Handeln verantwortlich gewesen sei, womit der Staat keine Versorgungsleistung für die Familie übernehmen müsse. Die Kläger waren mit diesem Gutachten nicht zufrieden und beauftragten E. Küpper (Lebensdaten unbekannt), Direktor der Psychiatrischen u. Nervenklinik der Universität Freiburg, mit der Erstellung eines Gegengutachtens. Auch er zog seine Schlüsse aus den vorhandenen Akten, ohne N. persönlich jemals kennengelernt zu haben, aber im Gegensatz zu Simon sah Küpper in der Kriegsverletzung sehr wohl die Ursache für den Selbstmord. In der Folge brach eine regelrechte Gutachtenschlacht aus. Küpper betonte, dass Josef N. vor dem Krieg völlig gesund und nach der Verwundung trotz des tränenden sowie eiternden Auges und den Kopfschmerzen ein zuverlässiger und fleißiger Arbeiter war. Für ihn gestaltete sich der Tag des Selbstmordes wie folgt: „1.) Das Verhalten des N. am Tage seiner Selbsttötung mit starken Wechsel zwischen Erregung und ruhigen Zeiten, mit abschiedlosen Weggehn von zu Hause und dem Benehmen im Wirtshaus, wo er sich ‚Mut trank‘, das noch immerhin so auffällig war, daß der Wirt sich veranlasst sah, Leute hinter ihm herzuschicken, spricht eher für als gegen die Annahme einer Aufhebung der freien Willensbestimmung zur Zeit der Selbsttötung.“176
Im zweiten Punkt argumentierte Küpper, die Kriegsverletzung sei für die Kopfschmerzen ursächlich gewesen und diese wiederum für N.s Schwierigkeiten, mit seinem Leben fertig zu werden: „Andere Ursachen (erbliche Belastung) oder Motive (häuslicher Zwist) für die Selbsttötung sind nicht bekannt geworden. Ohne die Annahme eines Zusammenhangs mit dem D. B.-Leiden erscheint infolgedessen die Selbsttötung ganz unverständlich.“177
Das Gutachten Simons kommentierte Küpper folgendermaßen: „Die Erörterung im Gutachten der Untersuchungsstelle Heidelberg wirken reichlich gezwungen. Von ‚sinnloser Gewalttätigkeit‘ oder von ‚brutalem Zuschlagen‘ kann man nach 175 Fachärztliches Gutachten, 1.6.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 176 Gutachten, 17.12.1931, Verfasser: Küpper, Psychiatrische und Nervenklinik der Universität Freiburg, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 177 Gutachten, 17.12.1931, Verfasser: Küpper, Psychiatrische und Nervenklinik der Universität Freiburg, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II; D. B. meint hier Dienstbeschädigung.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung dem Inhalt der Zeugenaussagen doch wohl nicht gut reden. Vielmehr fügt sich das, was da angeführt wird, durchaus noch in den Rahmen dessen, was wir bei einer Steigerung der Reizbarkeit durch chronische Hirnhautreizung und heftige Kopfschmerzen zu sehen gewohnt sind. Für die Epilepsie haben sich ebenso wenige Anhaltspunkte ergeben wie für den Alkoholmißbrauch. Schließlich: von dem Triebleben des N., das zur Erklärung herangezogen wird, wissen wir gar nichts. Die Annahme eines ‚Aggression‘- und eines ‚Destruktionstriebes‘, die bei N. in krankhafter Weise selbständig geworden seien, ist eine reine Konstruktion.“178
Die Gewalt gegen Frau und Kind war für den Gutachter „durchaus noch im Rahmen“ und N.s Verletzung angemessen. Was hier neben der Toleranz gegenüber häuslicher Gewalt deutlich zu Tage tritt, ist die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten der Gutachter, deren Feststellungen einen großen Anteil am Ausgang der Rentenverfahren hatten. Im Fall von N. schloss sich das Gericht der Meinung Küppers an und entschied im September 1932, dass der Grund für N.s Selbstmord im Krieg zu suchen sei: „Der verstorbene Ehemann hat sich unter dem Eindruck dauernder starker Kopfschmerzen, die sicher eine Folge der D. B. waren, und unter dem Einfluss einer krankhaft gesteigerten Erregbarkeit, die wahrscheinlich Folge der D. B. war (Hirnhautreizung), das Leben genommen. Das Gutachten der Psychiatrischen- und Nervenklinik in Freiburg wird auch durch die Zeugenaussagen gestützt. Das Verhalten des Verstorbenen am Tage seiner Selbsttötung mit dem starken Wechsel zwischen Erregung und Ruhe, mit dem abschiedslosen Weggehen von zu Hause und dem Benehmen im Wirtshaus, wo er sich Mut antrank, das doch immerhin so auffällig war, dass der Wirt sich veranlasst sah, Leute hinter ihm heraus schicken, spricht eher für als gegen die Annahme einer Aufhebung der freien Willensbestimmung zur Zeit der Selbsttötung.“179
Dass die Frau und das Kind über Jahre hindurch der Gewalt des Mannes ungeschützt ausgeliefert waren, spielte in der Beurteilung des Rentenanspruchs keine Rolle. Auch sah das Gericht keine Anzeichen darin, dass der „häusliche[n] Zwist“ ausschlaggebend für den Selbstmord war. Die Gewalttätigkeit gegen die Familie entstand aus der Kriegsverletzung, weshalb das Gericht, aber auch N.s soziales Umfeld (siehe Zeugenaussagen) für sein Verhalten Verständnis aufbrachten. Die Zeugenaussagen zeigen, dass N.s Gewaltausbrüchen im beruflichen Umfeld eine erstaunlich hohe Toleranz entgegengebracht wurde. Vermutlich entstand dieses Verständnis im Zusammenhang mit der Wahrnehmung, dass die Kriegsverletzung der Grund für seine Probleme war. Josef N. selbst fand keinen Weg im Umgang mit dem Erlebten und der Verletzung. Auch das Umfeld oder das medizinische Angebot konnten ihm, wie er selbst aussagte, nicht helfen.180 Wie N. ging es vielen anderen heimkeh178 Gutachten, 17.12.1931, Verfasser: Küpper, Psychiatrische und Nervenklinik der Universität Freiburg, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Eine Stellungnahme Simons auf dieses Gutachten erfolgte am 28.5.1932, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 179 Entscheid, 22.9.1932, Konstanz, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II, S. 122–125. 180 Zeugenbefragung des Bürgermeisteramtes Waldshut, 15.7.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.4 August H.: Die Reaktion des privaten Umfeldes
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renden Soldaten,181 die nach der Rückkehr mit ihrem früheren Leben nicht mehr zurechtkamen und sich sozial und emotional von der Familie und dem sozialen und beruflichen Umfeld entfremdeten. Viele der Männer reagierten wie N. und verhielten sich gegenüber (weiblichen) Familienmitgliedern gewalttätig. Ana Carden-Coyne, Kulturwissenschaftlerin, sieht die Gründe dafür in der „Verzweiflung und Enttäuschung über den verlorenen Krieg und die ungewisse politische wie persönliche Zukunft“ der ehemaligen Soldaten, die sie im Alltag nicht verarbeiten konnten. So lebte auch in den Familien die Erinnerung an den Krieg weiter.182 Auch andere Studien zeigen, dass ehemalige Soldaten aus anderen Kriegen – unabhängig ob dieser verloren oder gewonnen wurde – aufgrund ihrer Kriegserlebnisse Schwierigkeiten hatten, in den Alltag zurück zu finden und die Traumata zu verarbeiten.183 Im folgenden hier vorgestellten Lebensentwurf von August H. hatte die Entstellung massive Auswirkungen auf dessen Selbstverständnis und war dadurch auch bei Entscheidungen von biografischer Tragweite. 6.4 August H.: Die Reaktion des privaten Umfeldes August H. wurde 1886 in München als Einzelkind geboren. Nach seinem Abitur 1905 studierte er Bauingenieurwesen an der Technischen Hochschule München. 1909 unterbrach er sein Studium, um ein „Einjährig-FreiwilligenJahr“ abzuleisten. 1913 unterbrach er sein Studium abermals und setzte es erst wieder nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fort, abschließen konnte er es jedoch nie. Nach Meinung des Familienanwaltes lag dies an den Kriegserfahrungen und den damit verbundenen psychischen und physischen Problemen.184 Während des Studiums musste August H. dem Vater im Familienbetrieb als Kleinhandwerker und der Mutter bei der Haushaltsführung helfen, wodurch er nach eigenen Angaben beim Weiterkommen im Studiums behindert wurde.185 Der Rektor der Universität berichtete von gesundheitlichen Problemen (Magen), die für Verzögerungen in den ersten Studienjahren ausschlaggebend gewesen seien.186 H.s militärische Karriere hingegen verlief reibungslos. Während des Krieges wurde er zum Oberleutnant eines PionierBataillons ernannt. Im Jänner 1917 wurde der Kriegseinsatz jedoch durch eine schwere Gesichtsverletzung plötzlich beendet, als H. während eines Kampfeinsatzes von einer Granate an Kopf und Unterkiefer getroffen wurde. 1921 181 Vgl. dazu auch: Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz, 1.4.1926, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II 182 Carden-Coyne (2009), S. 82. 183 Vgl. Maharidge (2013). 184 Vgl. Schumann an das Badische Versorgungsgericht Konstanz, 21.2.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 185 Vgl. Zacherl für das Landesversorgungsamt Baden an das Versorgungsgericht Konstanz, 16.12.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 186 Vgl. Rektorat der Technischen Hochschule München an das Versorgungsgericht Konstanz, 9.1.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
wurde ihm durch die Kriegsverletzung eine Erwerbsminderung von 30 Prozent zugesprochen, die 1923 auf 20 Prozent herabgesetzt und schließlich mit einem einmaligen Geldbetrag abgegolten wurde. Wegen der Komplikationen bei der Kieferbehandlung konnte H.s Bruch nicht heilen und es entwickelte sich wie bei so vielen anderen eine Pseudoarthrose. Diese versuchte man mit einem Knochentransplantat zur Heilung zu bringen. An der Bruchstelle bildeten sich jedoch Abszesse und das Transplantat wurde vom Körper schließlich abgestoßen. Während der gesamten Behandlungszeit hatte H. starke „Zug- und Bewegungsschmerzen bei erschwerter, teils völlig aufgehobener Kaufunktion“187. Der behandelnde Arzt Pieper, (Lebensdaten unbekannt), konnte sich als Folgeerscheinungen der Verletzung noch 1929 an „eine sehr lästige Sprachbeeinträchtigung“, „starken Speichelfluss“ und „wiederholt auffälligen Depressionen, die sich zwar zu bessern schienen aber später wieder und zwar unvermindert auftraten“, erinnern. Mit „aller Bestimmtheit“, so Pieper, wisse er noch, „dass der Patient H. gerade einer derjenigen war, bei dem Ausheilung und Wiederherstellung durch psychische Momente erschwert“ wurden. Für den Arzt stand außer Zweifel, „dass die schwere Verwundung schon etwa vorhandene „Depressionen nicht gebessert hätte“. Er schloss daraus, dass der „Patient unter seinem mitunter jämmerlichen Zustand seelisch heftig litt“ und die „psychischen Depressionen des Öfteren bedenklich wurden“. Bis ins Jahr 1929 verbesserte sich H.s physischer und psychischer Zustand nicht, wie sich ein Zeuge erinnerte. Er litt weiterhin unter „Schluckbeschwerden, die manchmal bis zum Erstickungsanfall führten“188. Zwölf Jahre nach der Verletzung nahm sich August H. das Leben. Nach H.s Selbstmord in der Nacht vom 19. auf den 20. März 1929189 stellte seine, zu diesem Zeitpunkt schwangere Witwe Irene H. (geb. W.) einen Antrag auf Hinterbliebenenversorgung, da sie seine Kriegsverletzungen als Ursache für den Selbstmord ansah.190 Während des Krieges entschloss sich August H. für eine militärische Karriere. Zuvor hatte er geplant, als Bauingenieur tätig zu sein. Ein Freund erinnerte sich an H. als zielstrebigen und sportlichen Mann, dem das „Soldatenleben“ zum neuen Beruf wurde, und dem er sich „mit beispielloser Aufopferung widmete“: „Die Freude am Soldatenberuf entwickelte sich derart, daß er mehrmals äußerte als Gem. Offizier nach dem Krieg weiter zu dienen. Da kam seine schwere Verwundung, ein Schuß ins Gesicht, der neben der Wirbelsäule den Körper verließ aber große Zerstörungen anrichtete. Der Nerv, der die Sättigung anzeigt, war durchschossen, die Geschmacksnerven hatten gelitten, eine Lehmung hinderte ihn am Sprechen und Essen.“191
In den ersten Monaten nach der Verletzung glaubte H. noch an eine schnelle Heilung mit der Rückkehr an die Front als Soldat. Auch nach dem Krieg 187 188 189 190 191
Karl Pieper, schriftliche Aussage, 13.11.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Karl Pieper, schriftliche Aussage, 13.11.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Horche, ärztliches Obergutachten, 30.9.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Vgl. Tatbestand, 12.5.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.4 August H.: Die Reaktion des privaten Umfeldes
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dachte er an die Fortsetzung seiner Offizierskarriere,192 doch daraus wurde nichts. H. musste die Offizierslaufbahn aufgeben und sich beruflich neu orientieren. An dieser Herausforderung scheiterte er, auch wenn er nach der Entlassung aus dem Militärdienst noch versuchte, sein Studium abzuschließen. Als ihm dies nicht gelang, trat er eine Stelle „in Mannheim bei der MetallMacklerfirma M. Mass & co.“193 an. Ein paar Jahre später wechselte H. seinen Arbeitgeber und wurde kaufmännischer Angestellter bei der Firma Baus & Diesfeld in Villigen (Schweiz), wo er bis zu seinem Tod im März 1929 Filialleiter war. 6.4.1 Die Ehefrau sucht nach einer Erklärung Noch an Ort und Stelle wurde die Witwe von August H. von der Polizei zu den Hintergründen des Selbstmordes ihres Mannes vernommen. Als Mutmaßung nannte sie mögliche finanzielle Schwierigkeiten, die sie allerdings im Februar 1930 mit der Begründung widerrief, zu diesem Zeitpunkt mit der gegenwärtigen Situation überfordert gewesen zu sein: „Die betreffenden Aeusserungen wurden von mir in der ersten Erregung abgegeben als mir die ganze ungeheure Tatsache noch unfassbar war. Ich suchte nach Gründen für die Tat meines Mannes und zählte auf Befragen natürlich auf, was mir an ihm in der letzten Zeit aufgefallen war. Der vernehmende Wachtmeister machte sich danach Notizen, von denen ich keine Kenntnis habe.“194
Wie sie in ihrer schriftlichen Aussage für die Verhandlung des Weiteren angab, beschäftigte sie das „Warum“ der Tat unentwegt. Dabei wurde ihr bewusst: „[…], dass sich bei meinem Mann schon seit über einem Jahr eine steigende Nervosität fühlbar gemacht habe. Im Spätsommer 1928 riet ich ihm verschiedentlich zum Arzt zu gehen, ohne jedoch den Ernst seines Zustandes zu ahnen.“195
Der gesundheitliche Zustand H.s blieb seiner Ehefrau also nicht verborgen. Dennoch blieb sie weitgehend passiv, wenngleich sie schon versuchte, einer Verschlimmerung entgegenzuwirken, indem sie ihren Mann dazu drängte, einen Arzt aufzusuchen. H. selbst verweigerte die Unterstützung seiner Frau und versuchte sogar, seinen tatsächlichen gesundheitlichen Zustand vor ihr geheim zu halten, wie sie von einem Freund der Familie erfuhr. Diesem Freund wiederum vertraute H. sich an, er suchte bei ihm Rat und sprach mit ihm über seine ständigen Kopfschmerzen und die Schwindelgefühle.196 Irene H. erklärte das Verhalten ihres Mannes mit ihrer Schwangerschaft, weshalb er sich wahrscheinlich in ihrer Gegenwart „zusammen nahm“. Trotzdem be192 193 194 195 196
Vgl. Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Irene H., 14.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Irene H., 14.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Vgl. Karl Pieper, schriftliche Aussage, 13.11.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
merkte sie seine „Nervosität und krankhafte Zerfahrenheit“ und „drängte ihn oft Urlaub zu nehmen und sich zu erholen. Er sagte stets, es werde schon wieder besser mit ihm“197. Die Durchsicht der Unterlagen des Mannes zeigte, dass er schon länger mit den alltäglichen Erledigungen überfordert war: „Sicher fühlte er seine wachsende geistige Unfähigkeit, in schwierigen Zeiten allen Anforderungen des Berufes und des Lebens gerecht zu werden, hat sich lange Zeit dagegen gewehrt und über seinen Zustand durch allerlei Betäubungsmittel wie Lesen und Rauchen sich und seine Umgebung hinwegzutäuschen gesucht.“198
Wie auch Josef N. vergaß H. beispielsweise Rechnungen zu bezahlen. Das führte zu Problemen mit der Lebensversicherungspolice, weil ihm die Versicherung wegen des Zahlungsrückstandes den Vertrag kündigte. Die Frau sah die Probleme und Versäumnisse als Beleg für H.s Krankheit an.199 Auf die Schwierigkeiten im Alltag reagierte H. mit dem vollkommenen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben. Seine Frau machte sich deshalb noch mehr Sorgen, denn sie beobachtete, „dass er ohne näheren Grund und Ursache dermaßen lebensmüde wurde, dass er nur unter Aufbietung meines ganzen Einflusses, den ich und seine Freunde und Bekannte auf ihn hatten von unüberlegten Schritten zurückzuhalten war“200. Diese und ähnliche Aussagen zeigen, dass H. schon seit Längerem mit Selbstmordgedanken spielte. Abschließend gibt sie an, dass ihr Mann vor dem Krieg „ein lustiger, lebensfroher Mensch“ war, der sich erst durch die Verletzung veränderte, weil er sich „sehr beengt und behindert“201 fühlte. 6.4.2 Wahrnehmung des sozialen Umfeldes Neben Irene H. wurde auch der langjährige Freund des Verstorbenen, J. M., zum Selbstmord befragt. Er gab in einer schriftlichen Stellungnahme an, von den Depressionen H.s gewusst zu haben, die er ebenfalls auf die Kriegsverletzung zurückführte. M. bemerkte die Veränderung seines Freundes durch dessen Desinteresse an ihm und anderen Personen des privaten Umfeldes. Aufgefallen sind ihm auch H.s Schwierigkeiten, den gewohnten sportlichen Aktivitäten nachzugehen: „Er gab auch selbst an, dass er seit dem [der Verletzung, RM] keine Lebensenergie mehr aufweisen könne; zeitweise litt er stark an Schwindelgefühl und bedauerte oft, dass er deshalb nicht mehr an Hochgebirgstouren, die er früher jedes Jahr machte, da er einer der besten Hochtouristen war, sich beteiligen konnte. Auch das er den Reitsport aufgeben musste, bedauerte er lebhaft. Oft kam es vor, dass er sich gänzlich absonderte, selbst von seinen Eltern und seinen besten Freuden. Andererseits kam es wieder des Oefteren zu Erregungszuständen über Kleinigkeiten. Zur Arbeit brachte er keine Energie mehr auf 197 198 199 200 201
Irene H., 14.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Irene H., 14.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Vgl. Irene H., 14.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Tatbestand, 12.5.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Irene H. an das Versorgungsgericht Radolfzell, 2.11.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.4 August H.: Die Reaktion des privaten Umfeldes
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und legte auf sein Aeussers keinen Wert. Er hielt sich für ein unnützes Glied der menschlichen Gesellschaft und litt dadurch an einem ausgesprochenen Minderwertigkeitsgefühl. Bei einem Besuch im Sommer 1927 musste ich noch dieselbe Feststellung an ihm machen.“202
Um ein möglichst umfangreiches Bild der Person H. und dessen Umgang mit der Verletzung zu erhalten, wurden die Angaben eines weiteren Freundes hinzugezogen. G. gab 1930 an, dass er H. als lebensfrohen, „geistig äußerst regen, Kunst- und Musik liebenden“ Menschen erlebte, der „ein großer Naturfreund“ war. Gemeinsam waren sie „in manchem Jahr monatelang in der Sommerfrische oder bei gemeinsamen Gebirgstouren“. Nach dem Krieg wohnte H. ein halbes Jahr bei ihm in seine Wohnung in München. Beim Wiedersehen nach dem Krieg war er über dessen Zustand entsetzt: „Als ich ihn sah, tat er mir leid. Ich hatte zunächst den Eindruck, daß er körperlich leidet, erfuhr aber bald von seinem Vater, daß die Schußverletzung schwere seelische Erschütterungen zur Folge hatte. Auf Wunsch der Eltern habe ich mich viel mit H. befaßt. Besonders als er bei mir wohnte. Er war keineswegs mehr der Alte. Der Mann war gebrochen.“203
Wie G. berichtete, war auch H.s Mutter über die Verfassung ihres Sohnes in den Jahren nach dem Krieg in Sorge und wandte sich deshalb mit der Bitte um Unterstützung an ihn: „Die Mutter kam zu mir und erklärte, ihr Sohn würde irrsinnig werden. Dieser Zustand hielt wochenlang an, doch trat wieder eine Besserung ein. H. nahm eine Stellung in München an, die Aussicht einen lohnenden Beruf zu finden stimmte den Mann außerordentlich freudig, seine alte Energie schien wieder zu erwachen.“204
Die berufliche Weiterentwicklung hatte die Situation vorübergehend verbessert. Daraus und aus den optimistischen Briefen, die H. an seinen mittlerweile in Berlin lebenden Freund schickte, schloss dieser, „daß die Folgen der Verwundung so gut wie überstanden seien“. Als H. schließlich heiratete, schien sein Leben einen guten Lauf zu nehmen, die „neu erwachte Lebenskraft war aber nur scheinbar“, wie der Freund bald bemerkte. Kurz nach der Hochzeit setzten die Depressionen wieder ein und G. musste den „Verfall“ seines Freundes hilflos miterleben.205 Mit Carl M. wurde ein weiterer Freund um eine Zeugenaussage gebeten. Auch dieser beobachtete, wie die Frau und die beiden Freunde M. und G., eine Veränderung an H. und berichtete über die Verletzung und den Zustand des Freundes: „Ich kann aber bezeugen, dass ihm die Folgen seines Kopfschusses (mangelhaftes Kauvermögen und Fehlen eines Stimmbandes) immer zu schaffen machten, sodass er oft Tage hatte, an denen ihn diese Mängel niederdrückten und melancholisch machten. Beim Eintritt der Revolution brach er direkt zusammen, weil er glaubte vor dem Nichts zu stehen, da er sich infolge seiner Verwundung nicht als vollwertigen Menschen ansah. 202 203 204 205
J. M., schriftliche Aussage, 22.11.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. G. schriftliche Aussage, 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. G. schriftliche Aussage, 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. G. schriftliche Aussage, 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung Schon damals war sein Zustand so, dass ich das Äusserste fürchtete und ihn möglichst wenig allein liess.“206
Die Erfahrung der Verletzlichkeit des Körpers und die Enttäuschung über die empfundene eigene Unzulänglichkeit mündeten letztendlich in Suizidgedanken, wie der Freund berichtete: „Tatsächlich kam ich auch dazu, wie er den geladenen Revolver in der Schublade versteckte. Ich nahm in damals ordentlich ins Gebet und redete ihm zu, sodass er mir versprach, keine unüberlegte Tat zu begehen.“207
Nach Tiefpunkten gab es auch immer wieder Phasen der Besserung. So bemerkte auch M. den emotionalen Aufschwung nach dem Arbeitsplatzwechsel und der Heirat: „Wie sie wissen, ging es ihm nach dem Krieg auch wirklich längere Zeit dreckig und er kam erst wieder in geordnete Verhältnisse, als es ihm gelang, in Mannheim bei der Metall-Macklerfirma M. Mass & co. auf einige Jahre unterzukommen. […] Sodass er von da ab einigermassen sorgenfrei leben und sich verheiraten konnte.“208
Aus der Sicht des Freundes fühlte sich H. in dieser Zeit „offenbar ganz wohl“, beim letzten Zusammentreffen 1928 sah es hingegen wieder ganz anders aus. Während einer mehrtägigen Wanderung um den Bodensee beklagte sich H. „aussergewöhnlich stark“ über seine körperlichen Einschränkungen. Kurz nach dem Ausflug wurde H. zum Geschäftsführer der Firma Mansfeld ernannt, aber bereits kurz nach dem Antritt der Stelle überkam ihn „das Gefühl der Unfähigkeit“, welches ihn schließlich „dazu trieb, Selbstmord zu begehen“209, wie der Freund schlussfolgerte. Bei den Zeugenaussagen gewinnt man den Eindruck, dass alle, die Veränderungen an H. bemerkten, sich trotzdem nicht zu helfen wussten. Bis auf die Frau, der er seinen Gesundheitszustand in den letzten Monaten vor seinem Selbstmord verheimlichte, teilte er dem restlichen sozialen Umfeld seine Sorgen mit und tauschte sich über seine Schmerzen, Sorgen und Minderwertigkeitskomplexe aus. Ein Freund berichtete, dass H. seine Mutter in einem Brief aufforderte: „Mutter, bete für mich“210. Des Weiteren schrieb er ihr: „[I]mmer noch nicht den Mut gefunden, das letzte Gräßliche zu tun“211. H.s Lösung, die Andersartigkeit zu verstecken, um eine normales Leben zu führen, ließ ihn letztendlich scheitern. Ergänzend zu den Aussagen des privaten Umfeldes gab das Versorgungsgericht im September 1930 ein psychiatrisches Obergutachten zur Klärung der offenen Fragen in Auftrag, besonders der Frage, ob die Kriegsverletzung
206 207 208 209 210
Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Carl M. Brief an M., 24.2.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. Franz Schumann an das Bad. Versorgungsgericht Konstanz, 5.10.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 211 Franz S. an das Bad. Versorgungsgericht Konstanz, 5.10.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.4 August H.: Die Reaktion des privaten Umfeldes
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der Grund für den Suizid war. In diesem Fall hätte die Witwe einen Anspruch auf die Hinterbliebenenrente gehabt. Angefertigt wurde das Gutachten vom Psychologen Alfred Horche (1865– 1943),212 der an der Psychiatrischen u. Nervenklinik der Universität Freiburg tätig war. Dieser hatte keinen Zweifel daran, „daß H. nach diesem Erlebnis der frühere Mensch nicht wieder geworden ist, wenn er auch das Nötige getan hat, um im Leben wieder eine Position zu gewinnen“. Die ständige Verschlimmerung seines psychologischen Zustandes, der „bis zu zweifellos wahnhaften Auffassungen in dem Sinne führte, daß ihm strafrechtliche Verfolgung drohe u. s. w.“ hatte nach Horches Meinung schließlich den Selbstmord zur Folge.213 Der Umstand, dass August H. zunehmend Probleme hatte, Alltägliches zu erledigen, sah er exemplarisch für Patienten mit einer „inneren Spannung“. Diese wollten sich durch ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit vor „Zuwachs an schmerzlichen Erlebnismaterial“ schützen. Nach Horche gehörte es auch zum Krankheitsbild, dass sich die psychischen Probleme im Laufe der Jahre verschlimmerten. Aus anfänglicher „Melancholie“ konnten sich „wahnhafte Auffassungen (Minderwertigkeitsideen) körperlich nervöse Störungen“ entwickeln, die schließlich in Angstzuständen enden konnten. Durch die Verwundung setzte bei H. „eine seelische Wandlung“ ein, die sich durch die Schmerzen verschlimmerte und das „Bewußtsein einer gewissen Krüppelhaftigkeit und Unzulänglichkeit“ verstärkte. Abschließend stellte Horche fest, dass H. „ohne die KDB [Kriegsdienstbeschädigung, RM] nicht geisteskrank geworden wäre“ und „den Selbstmord nicht begangen hätte“214. Das Gericht schloss sich der Meinung der Zeugen und des Gutachters an und gewährte Irene H. im April 1931 eine Hinterbliebenenrente.215 H.s Unfähigkeit zur Akzeptanz seines kriegsversehrten Körpers zeigt, dass die Erfahrung der eigenen körperlichen Versehrtheit für die Männer „eine krisenhafte Erfahrung im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Identität“216 bedeuteten konnte. Durch die Verletzung wurde H.s körperliche Leistungsfähigkeit und Attraktivität massiv beschnitten, sein Selbstverständnis als Mann geriet ins Wanken. Gemessen an seinen eigenen Männlichkeitsvorstellungen nahm er seinen eigenen Körper als defizitär wahr, was in Depressionen und Minderwertigkeitsgefühlen mündete. Es gelang ihm nicht, seine Männlichkeitsideale an den Zustand des eigenen Körpers anzupassen. Auch das soziale Umfeld nahm den Krieg als Zäsur im Leben H.s wahr. Der ursprünglich lebenslustige und sportlich sehr aktive Mann kam physisch versehrt und psychisch gebrochen aus dem Krieg zurück. Mit den Folgen der 212 Bekannt wurde Alfred Hoche als Mitverfasser des Buches: Binding/Alfred Erich Hoche (1920). 213 Franz Schumann an das Bad. Versorgungsgericht Konstanz, 5.10.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 214 Franz Schumann an das Bad. Versorgungsgericht Konstanz, 5.10.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 215 Vgl. Beschluss, 21.4.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 216 Kienitz (2008), S. 254.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Verletzung und der dadurch geänderten Lebenssituation war H. überfordert, sodass er beispielsweise vor dem Krieg gemachte berufliche Pläne danach nicht mehr umsetzte und sich auch aus seinem privaten Umfeld immer mehr zurückzog. Die Ehefrau, Irene H., reagierte mit der Vermeidung „jeglicher Aufregungen und Unannehmlichkeiten“, ähnlich wie Luise N. Der Fall August H. führt uns die Lücken des Versorgungsnetzes vor Augen, denn obwohl H. offen mit Selbstmordgedanken spielte und das Umfeld alarmiert war, versagten alle medizinischen wie privaten Maßnahmen, die zudem auch noch viel zu spät gerfolgten. Im nächsten hier vorgestellten Lebensentwurf weisen manche Punkte Ähnlichkeiten mit der Biografie H.s auf. Auch Karl K. scheiterte nach seiner Kriegsheimkehr an der Reintegration in die Gesellschaft. 6.5 Karl K.: Ernährer der Familie Karl K. war, wie H., im Alltag überfordert, das wird vor allem in seinen Schwierigkeiten bei finanziellen Angelegenheiten offenkundig. Der Auslöser für K.s Beschwerden war eine Kriegsverletzung, die er sich im August 1917 zugezogen hatte. Ein Granatsplitter durchdrang seinen Helm und verletzte sein Auge so schwer, dass er es verlor. In der Folge klagte er über Kopfschmerzen, Vergesslichkeit und Verwirrtheit: „Die Hauptsache geht von dem Granatsplitter aus, den ich hinter der Nase haben soll, wie von Freiburg aus festgestellt worden ist. Ich habe einen benommenen Kopf, bin vergesslich, habe manchmal kein recht klares Denken.“217
Ab 1924 klagte Karl K. zusätzlich über Schlafstörungen, er konnte kaum mehr als vier Stunden durchschlafen. Dies alles führte dazu, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, seiner Büroarbeit nachzugehen. Noch 1927 wurden ihm „kleine Granatsplitter im Ohr und in der Backe operativ (ambulant) entfernt“218. Im Juni 1930 wurde bei K. ein Krebsgeschwür im Bereich der Zunge diagnostiziert, an dem er bereits Anfang Januar 1931 starb.219 Aus K.s Sicht resultierten die Beschwerden aus der Kriegsverletzung. Sein behandelnder Arzt führte die Leiden, insbesondere die Krebserkrankung, im Gegensatz zu K. jedoch nicht auf die Kriegsverletzung zurück, sondern auf dessen Alkoholmissbrauch. Auch sah er keinen Zusammenhang zwischen K.s Kriegerlebnissen und dessen psychischen Leiden wie der Schlafstörung oder seinem Suchtverhalten. Neben dem Lebenswandel waren auch mögliche familiäre Dispositionen relevant. So rollte man als Erklärungsversuch K.s Familiengeschichte auf, um darin eventuelle psychische Krankheiten ausfindig zu 217 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 218 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 219 Vgl. Sterbeurkunde, 7.1.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.5 Karl K.: Ernährer der Familie
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machen.220 Das hatte zur Folge, dass K.s Erwerbsminderung zwar auf 80 Prozent geschätzt, davon jedoch nur 30 Prozent als Kriegsdienstbeschädigung anerkannt wurden.221 Eine Rentenerhöhung wegen des durch den Krieg hervorgerufenen „Nervenleidens“ wurde 1930 schließlich abgelehnt.222 Karl K. fühlte sich ungerecht behandelt, denn aus seiner Sicht verschlechterte sich nicht nur sein körperlicher und psychischer Zustand, auch bei der Arbeit wurde er aufgrund seines fehlenden Auges benachteiligt. Sein Arbeitgeber vor dem Krieg wollte ihn „wegen des Auges und wegen seiner Aufgeregtheit“223 nicht wieder einstellen. Auch für die Familie hatte die Verletzung weitrechenden Konsequenzen, finanziell geriet sie immer stärker unter Zugzwang, wie die Frau von K. berichtete: „Zuerst habe man es daran bemerkt, dass er falsche Namen in die Bücher eingetragen habe; auch habe er Gelder eingezogen, ohne hinterher zu wissen, wohin er sie gebracht. Seit einigen Jahren nehme er keinen Anteil mehr am Geschäft, döse vor sich hin, könne keinen Widerspruch vertragen.“224
Begonnen hatten die familiären und finanziellen Schwierigkeiten damit, dass Karl K. immer weniger befähigt war, den eigenen Kohlenhandelsbetrieb225 zu führen. Hinzu gesellten sich immer öfter gewalttätige Übergriffe gegen seine Frau Franziska K. (geb. B.), die sich von ihrem Mann zusehends bedroht fühlte, wie im fachärztlichen Gutachten zu lesen ist: „Seit 3 oder 4 Jahren habe er auch des Öfteren Wutausbrüche, wobei er grob geworden sei und die Frau schon in so ernstlicher Weise bedroht habe, dass sie ihm das Stilettmesser wegschloss und oft Anstaltsunterbringung erwog.“226
Auch am familiären Leben zeigte sich Karl K. nicht besonders interessiert. Als der Sohn 1929 schwer erkrankte, benahm sich K. „gänzlich apathisch“ und kümmerte sich nicht weiter um den Sohn, wie Franziska K. angab.227 Franziska K. und der gemeinsame Sohn übernahmen (vor der Erkrankung) zusehends Aufgaben um den Betrieb aufrechtzuerhalten, wie der Wacht220 Vgl. dazu auch: Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz, 1. April 1926, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 221 Vgl. Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II 222 Vgl. Tatbestand und Entscheidungsgründe, 11.2.1931, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 223 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 224 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 225 K. war vor dem Krieg Vertreter der Kohlenfirma Stromeyer und führte daneben ein eigenes Kohlengeschäft. Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 226 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 227 Vgl. Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
meister des Ortes im Zuge des Rentenerhöhungsverfahrens 1930 zu Protokoll gab. Durch K.s „totale Unzurechnungsfähigkeit“ waren dem Betrieb bereits große Verluste entstanden. Das größte Problem bestand in K.s unkontrollierten Umgang mit den Finanzen der Firma. Der Wachtmeister gab weiter an, dass ihm vom „Weichenwärter Emil Bieler aus Stockach über den Kohlenhändler K. mitgeteilt“ wurde, „dass dieser zeitweise total unzurechnungsfähig erscheint“. Franziska K. suchte aus diesem Grund schon mehrmals den Wachtmeister auf, weil ihr Mann dem Betrieb, der ihr schlussendlich im November 1930 überschrieben wurde, „mehr schade als nütze. Auch wisse er selbst, dass K. in seinem Betrieb seit etwa 2 Jahren eine vollständige Null bedeutet“. Resümierend stellte der Wachtmeister fest, dass K. jemand sei, „der in seinen Nerven vollständig herunter gekommen ist“ und daher als „vollständig erwerbsunfähig“ zu bezeichnen sei.228 Die Grundlage des Negativbescheides in Karl K.s Rentenverfahren bildete ein psychologisches Gutachten der Universitäts-Nervenklinik Freiburg vom November 1930. In diesem Gutachten wurde festgestellt, dass K. in „psychischer Hinsicht“ das „Bild vorzeitiger Greisenhaftigkeit“ bot. Den Grund dafür sah der Gutachter im „chronischen Alkoholismus“229. Weil K. auch schon vor dem Krieg trank, wurden dessen Alkoholsucht und die folgenden Erkrankungen nicht mit den Kriegserlebnissen in Verbindung gebracht und das Rentengesuch abgelehnt. Entscheidend für die Familie K. war, neben dem Alkoholmissbrauch, das Unvermögen des Mannes, der geforderten Rolle des Ernährers der Familie nachzukommen. Als der Mann schließlich auch noch gewalttätig wurde, sah sich Franziska K. zum Handeln veranlasst. Sie wandte sich an die örtliche Exekutive und ließ sich den Betrieb überschreiben. Von nun an kümmerte sich die Frau als Vorständin der Familie um die wirtschaftlichen und fürsorgerischen Angelegenheiten. Die gewalttätigen Übergriffe hörten indes nicht auf, weiterhin kam es zu Streit „teils aus geschäftlichen, teils aus häuslichen Anlässen“230, wie Franziska K. dem Gutachter berichtete. Wie Franziska K. erging es vielen Ehefrauen nach der Heimkehr ihrer Männer aus dem Krieg. Die Kriegsbeschädigung hinderte die Männer daran, voll erwerbstätig zu sein und die Rentenzahlungen waren in vielen Fällen nicht ausreichend. Die Einkommensdefizite wurden meist von den Frauen durch Lohnarbeit ausgeglichen, viele Frauen waren sogar für das Haupteinkommen der Familie verantwortlich. Daneben versorgten die Frauen ihre Männer weiterhin „emotional-pflegerisch“. Die Dreifachbelastung als Haupternährerin, Pflegerin und Haushaltsvorständin führte bei vielen Frauen zu Überlastungserscheinungen. 228 Meldung des Bürgermeisteramts Stockach an das Versorgungsgericht Konstanz, 30.8.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 229 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 230 Fachärztliches Gutachten, Heilanstalt bei Konstanz, 21.11.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.6 Josef K.: Das soziale Umfeld als Ersatzfamilie
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Im nächsten biografischen Beispiel gab es keine Ehefrau, die derartige Aufgaben übernehmen konnte. Der ledige Josef K. konnte auch sonst auf kein familiäres Netzwerk zurückgreifen, weshalb andere soziale Netzwerke als Akteure in Erscheinung traten, um die es in der Folge gehen wird. 6.6 Josef K.: Das soziale Umfeld als Ersatzfamilie Die Folgeerscheinungen der Verletzung bekam Josef K. unmittelbar zu spüren. Anders als bei den vorhin besprochenen Fällen gab es hier kein familiäres Netzwerk, welches die Beschädigungsfolgen abfedern konnte. Stattdessen sprang hier das dörfliche soziale Netzwerk als Ersatzfamilie ein. Josef K. wurde 1878 in Binzgen (Baden) geboren und war vor seinem Kriegseinsatz als Seidenweber in Erzingen tätig. Im September 1915 wurde er mit 37 Jahren als Landsturmmann zum Rekrutendepot II eingezogen. Während des Krieges erlitt K. zwei Verwundungen, das erste Mal im Oktober 1916 durch ein Artilleriegeschoss am Ohr. Nach einem Monat Lazarettaufenthalt wurde er wieder an die Front entlassen, wo er kurz darauf, Mitte November 1916, abermals getroffen wurde. Dieses Mal an der linken Gesichtshälfte, dem Hals, dem Unterkiefer und der rechten Wade. Diese Verwundung war wesentlich schwerer als die zuvor am Ohr. K. war deshalb etwa zweieinhalb Jahre lang bis Ende Mai 1919 in verschiedenen Lazaretten in Behandlung. Wegen der „hochgradigen Entstellung des Gesichts nach Unterkieferbruch unter Behinderung der Beweglichkeit des Unterkiefers bei fast völligem Verlust der Gehörfähigkeit beiderseits“ wurde ihm bereits fünf Monate nach seiner Entlassung aus der Behandlung eine Invalidenrente von 60 Prozent zugesprochen,231 ein vergleichsweise schneller Entscheid. 1920 kehrte K. vorerst an seinen alten Arbeitsplatz zurück.232 Wegen der Spätfolgen seiner Verletzung konnte er seinen Beruf als Weber aber ab 1927 nicht mehr ausüben und musste einer schlechter bezahlten Tätigkeit nachgehen. Die neue Situation wurde als Rentenerhöhungsgrund angesehen und K. erhielt ab 1927 einen Anspruch auf 80 Prozent einer Vollrente. Ein Jahr darauf, im Alter von 51 Jahren, war K. aufgrund wiederkehrender Schwindelanfälle bereits vollkommen arbeitsunfähig. Anfangs versuchte man in der Firma noch eine alternative Beschäftigung für ihn zu finden. Die immer öfter auftretenden Schwindelanfälle gefährdeten jedoch seine Arbeitskollegen und ihn selbst. So kam es vor, dass er bei Aufräumarbeiten von einer Treppe stürzte oder Gefahr lief, in eine der Maschinen zu geraten. Über K.s Gesundheitszustand berichtete ein Arbeitskollege, dass er „seit längerer Zeit dauernd unter Eiterabsonderungen aus dem Ohr zu leiden“ habe. Die Geschäftsführung überlegte daraufhin, K. für Büroarbeiten einzusetzen, „da er nichts hört und 231 Tatbestand und Entscheidungsgründe, 15. April 1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 232 Vgl. Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen an das Versorgungsgericht Konstanz, 18.10.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
infolge der Verletzung so schlecht reden kann, dass man nichts versteht“ – dieses Vorhaben konnte jedoch nicht bewerkstelligt werden.233 Das Bürgermeisteramt bestätigte 1929, dass K. infolge der Kriegsverletzung seinen Arbeitsplatz als Hilfskraft aufgeben musste. In dem Bericht steht auch, dass er „in keinem Betrieb mehr eine Arbeitsstelle erhalten wird“234. Ausschlaggebend für die Gewährung der Vollrente waren jedoch nicht die Zeugenaussage oder das ärztliche Gutachten, sondern K.s Auftritt vor Gericht: „Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung auf das Gericht den überzeugenden Eindruck gemacht, dass sein Zustand ein solcher ist, in welchem eine Erwerbstätigkeit für völlig und immer als ausgeschlossen zu betrachten ist. Es war daher auch vom sozialen Gesichtspunkt aus betrachtet geboten, dem Kläger die Vollrente zu gewähren.“235
K. war, da alleinstehend, auf die Unterstützung von außen angewiesen. Als Erstes bekam er diese von seinen ehemaligen Arbeitskollegen, „da er nicht im Stande ist sich selbst zu erhalten“236. In diesem Kontext kam es K. entgegen, dass seine Arbeitskollegen in den örtlichen Invalidenverbänden organisiert und gegenüber den Problemen heimkehrender Soldaten sensibilisiert waren.237 Zu seinem äußeren Erscheinungsbild trug auch bei, dass K. massive Probleme bei der Ernährung hatte. Es gelang ihm nicht, sich selbst mit geeigneter Nahrung zu versorgen, vielmehr zeigte er sich in diesem Punkt äußert unselbstständig. Das konnte an den gelebten Geschlechterrollen liegen, welche die Frau im Haushalt verorteten. So nahm K. das Mittagessen in einem Gasthof ein: „[…] dessen Wirt bei der Zubereitung der Speisen sehr viel Rücksicht auf ihn nimmt, da K. ja nichts hartes essen kann. Durch diesen Zustand entstehen ihm natürlich Mehrausgaben. Auch beschmutzt er durch den Ohrenfluss die Bettwäsche und seine Kleider. Bei dieser Sachlage muss man froh sein, dass seine Wirtin ihn noch behält.“238
Die Verletzung hatte für Josef K. weitreichende berufliche und soziale Folgen, gerade auch, weil sich sein Zustand Jahr für Jahr verschlechterte. Ihm war es immer weniger möglich, selbstständig für sich zu sorgen und als er dann auch noch seine Berufstätigkeit aufgeben musste, war er körperlich wie finanziell auf Hilfe von außen angewiesen. Das soziale Umfeld kann im Lebensentwurf von Josef K. als Ersatz für die Familie gesehen werden. 233 Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen an das Versorgungsgericht Konstanz, 18.10.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 234 Bürgermeisteramt Erzingen an das Versorgungsamt Konstanz, 11.9.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 235 Tatbestand und Entscheidungsgründe, 15.4.1930, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 236 Bürgermeisteramt Erzingen an das Versorgungsamt Konstanz, 11.9.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 237 Vgl. Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen an das Versorgungsgericht Konstanz, 18.10.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II. 238 Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen an das Versorgungsgericht Konstanz, 18.10.1929, Badisches [Militär] Versorgungsgericht, II.
6.7 Resümee: Lebensläufe
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6.7 Resümee: Lebensläufe So vielfältig wie die Verletzungen der Soldaten waren auch die Biografien der aus der Behandlung entlassenen Patienten. Eine grundlegende Erkenntnis dieser Biografien ist, dass die Gesichtsverletzungen zwar Veränderungen in vielen Bereichen des Lebens mit sich brachten, einen grundlegenden Bruch im Lebenslauf jedoch nicht zwangsläufig herbeiführten. Die Betroffenen und deren Leben auf die Verletzung zu reduzieren greift demnach zu kurz. Wie unterschiedlich sich die Kriegserfahrungen auswirken konnten, zeigen die jeweiligen Biografien der in diesem Kapitel besprochenen Männer. Kurt P. und Karl H. setzten ihren, vor dem Krieg eingeschlagenen Weg nach dessen Ende wieder fort. Für sie stellte der Kriegseinsatz mehr eine Unterbrechung als einen Bruch dar, während der sich Kurt P. beispielsweise Gedanken über seine Berufspläne machte und sich schließlich auch für einen Lebensweg entschied. Auch für Karl H. waren die Erfahrung des Krieges, die Verwundung und schließlich die bleibende Entstellung kein Grund, den eingeschlagenen Lebensentwurf zu ändern. Beiden gelang es, die gemachten Erfahrungen in ihren Alltag und Lebensentwurf zu integrieren. Für andere war die Verletzung der Beginn einer langen Auseinandersetzung mit der eigenen körperlichen Unzulänglichkeit, die das ganze folgende Leben mit beeinflusste. Der Lebensentwurf von Josef N. zeigt eine stetige Abwärtsbewegung, an der letzten Endes der Selbstmord stand. Seine Frau begleitete ihn und ertrug die gewaltsamen Übergriffe stillschweigend. August H.s Leben hingegen glich mehr einer Achterbahn denn einer geraden Linie. Auf Phasen, in denen Selbstzweifel an ihm nagten, folgten Zeiten, in denen er sich optimistisch zeigte, heiratete und beruflich vorankam. Auch er wurde von einem sozialen Umfeld begleitet, als sich die Depressionen ein letztes Mal zeigten. Karl K. starb ebenfalls früh, allerdings an den Folgen einer Krebserkrankung. Ihm gelang es nach der Heimkehr nicht, im zivilen Alltag wieder Fuß zu fassen. Nicht zuletzt die psychischen Folgen der Verletzung zwangen die Frau von Karl K. zum Handeln. In diesem konkreten Beispiel bedeutete dies die Entmündigung des Ehemannes und die Übernahme des Kohlehandelsbetriebes. Bei wiederum anderen, wie Josef K.s Lebensentwurf zeigt, erzwang die Verletzung die völlige Aufgabe der Selbstständigkeit mit einer daraus resultierenden Abhängigkeit von außerfamiliären sozialen Netzwerken. Die anfangs aufgestellte These, dass die Männer der Herausforderung ihres veränderten Lebens sehr unterschiedlich begegneten, wurde durch die Rekonstruktion der Biografien belegt. Wie die Männer mit ihren Verletzungen umgingen, hing von vielen Faktoren ab. Dazu zählte die Vorstellung von Männlichkeit der Betroffenen vor der Verwundung genauso, wie die Fähigkeit, mit veränderten Lebenssituationen umzugehen. Auch bei ähnlichen Verletzungen und Rahmenbedingungen war der Umgang mit diesen doch sehr unterschiedlich. Die Kriegserfahrung und die Verletzung allein, so zeigen die Biografien, bedeuteten nicht zwangsläufig einen Bruch im Lebensentwurf, auch wenn die Entstellungen, die Körperpraktiken oder die gesundheitlichen Nebenwirkungen einige Veränderungen mit sich brachten.
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6. Biografien: Lebensläufe nach der Verletzung
Die Kommunikation mit den Bezugspersonen stellte dabei die Basis für die Auseinandersetzung mit der eigenen Andersartigkeit und den Kriegserlebnissen dar. Die Studie der Biografien zeigt aber auch, dass die Bezugspersonen und deren Einflussvermögen, Handlungsweisen und Interessen mitentscheidend waren am Erfolg der Reintegration in die Gesellschaft und in den Arbeitsalltag von gesichtsverletzten Männern. Eine besondere Rolle kam in diesem Kontext den (Ehe-)Frauen zu, welche die Männer nicht nur emotional begleitete, sondern auch pflegerische Aufgaben übernehmen mussten. Die Bezugspersonen waren daher Weichensteller und Versorger zugleich. Dabei war es gleichgültig, ob sie der Familie, dem sozialen Umfeld, dem Sanitätswesen oder dem Arbeitskollegium angehörten. Entscheidend war deren Näheverhältnis zur betroffenen Person. Kurt P.s Beispiel zeigt, dass sich dieser mit seiner späteren Frau über seine Sorgen und Ängste austauschte. August H. wiederum versuchte, seinen tatsächlichen Gesundheitszustand vor der Ehefrau zu verbergen und vertraute sich einem Freund und schließlich auch der Mutter an. Wieder andere wandten sich gegen ihre Bezugspersonen und verhielten sich ihnen gegenüber letztlich gewalttätig.
7. Zusammenfassung und Perspektiven: Patienten mit Entstellungen zu Beginn des 20. Jahrhundert und jetzt 7. Patienten mit Entstellungen zu Beginn des 20. Jahrhundert und jetzt
Diese Arbeit nähert sich den Lebensentwürfen gesichtsverletzter Männer in konzentrischen Kreisen: Zuerst untersuchte ich die Rahmenbedingungen, welche den Lebensentwürfen eine Struktur gaben; anschließend widmete ich mich den Darstellungen von Gesichtsverletzten im Zusammenhang mit der Konstruktion von Andersartigkeit aufgrund ihres Aussehens; im weiteren Schritt ging es um den Behandlungsalltag gesichtsverletzter Soldaten in den Lazaretten, in dem sich der Diskurs um sie materialisierte und dadurch als Wegbereiter für ihr weiteres Leben gelesen werden kann; im vorletzten Abschnitt standen die Selbstdarstellungen der Betroffenen im Zentrum, die im letzten Schritt in die Lebensentwürfe der gesichtsverletzten Soldaten mündeten, die zeigten, dass selbstbestimmtes Handeln und daraus folgende individuelle Lebenswege auch unter den schwierigen Bedingungen einer Entstellung und der Erfahrung der Verletzlichkeit des eigenen Körpers möglich waren. Im Folgenden werden die zentralen Aspekte der einzelnen Kapitel noch einmal zusammengefasst. Die Ausgangpunkte des ersten Kapitels über die Rahmenbedingungen für gesichtsverletzte Soldaten vor und während des Ersten Weltkrieges waren Fragen nach dem medizinischen Wissen vor dem Kriegsausbruch und den Behandlungsgründen der Patienten. Es zeigte sich, dass die behandelnden Ärzte ihre Erfahrungen zuvor meist mit Krankheiten wie Syphilis oder Tumoren und Nasenrekonstruktionen sammelten. Schussoder andere Verletzungen, die großflächige Weichteil- und Knochenwunden zur Folge hatten, waren eher in der Unterzahl. Dieses Kapitel macht auch deutlich, dass man nicht unvorbereitet in den nächsten Krieg zog. Wissen und Erfahrung bezog man aus den kriegerischen Auseinandersetzungen im Russisch-Japanischen Krieg von 1904 bis 1905 oder auf dem Balkan von 1912 bis 1913. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, verfügten zumindest die Experten über einiges Fachwissen. Zu dem oftmals postulierten Kollaps des Sanitätswesens kam es, wie die Quellenarbeit zeigt, nicht durch mangelndes Wissen, sondern aufgrund der Schwierigkeiten innerhalb des Sanitätswesens, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Mit der ständig ansteigenden Zahl an Verwundeten wurden nach und nach Spezialabteilungen errichtet – 105 waren es bei den Mittelstreitkräften am Ende des Krieges. Organisatorisch und medizinisch profilierten sich hierbei das im Hinterland stationierte Düsseldorfer Lazarett für Kiefer-Verletzte mit seinen Direktor, Christian Bruhn, sowie die von Juljan Zilz geleitete Kriegszahnklinik in Lublin in der Etappe an der Ostfront. Im Zusammenhang von Krieg und Medizin stellt sich die Frage nach dem Nutzen des Einen für den Anderen. Wie bei der Frage nach dem Funktionieren des Sanitätswesens während des Krieges lohnt es sich auch hier, genauer hinzusehen und Verallgemeinerungen zu vermeiden. An den Behandlungsmethoden änderte sich durch die verheerenden Verletzungen des Krieges kaum etwas. Weiterhin wurden die bereits vor dem Krieg bewährten operativen Methoden angewandt, weiterentwickelt wurde kaum et-
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was. Anders sieht es mit der Disziplin als solcher und ihrer Vertreter aus. Viele der im Krieg praktizierenden Chirurgen konnten ihre Erfahrungen in den Nachkriegsjahren für ihr berufliches Fortkommen nutzen. Parallel dazu setzte bereits während des Krieges der kommerzielle Erfolg der Disziplin der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie ein, an deren Existenzberechtigung nach dem Krieg niemand mehr zweifelte. In einem nächsten Schritt widmete ich mich dem Bild des gesichtsverletzten Soldaten in der Fachwelt und der breiteren Öffentlichkeit. Das Erkenntnisinteresse galt den Fragen, wie die soziokulturelle Differenzkategorie der Andersartigkeit bei entstellten Gesichtern im Kontext von Kriegsverletzten des Ersten Weltkrieges gebildet wurde, auf welche Weise die Soldaten dieser Kategorie zugeordnet wurden und welchen Einfluss die Zuschreibungen von außen auf den Alltag von gesichtsverletzten Männer hatten. Um Antworten auf diese Fragen zu finden folgte ich dem ärztlichen Blick, wie er sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ausgebildet hatte und versuchte, ihm eingeschriebene Denkfiguren freizulegen. Es zeigte sich, dass die Vertreter der (noch nicht institutionalisierten) Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie davon überzeugt waren, mit chirurgischen Handgriffen die physischen wie psychischen Folgen der Gesichtsverletzung überwinden zu können. Anhand der Beschreibungen in den Fachschriften wurde ersichtlich, wie sich Ärzte ein normales Leben vorstellten. Die Analyse zeigte, dass der Blick der Ärzte auf ihre Patienten in Bezug auf das männliche Gesicht von bürgerlichen Verhaltensidealen, Lebensentwürfen und ästhetischen Vorstellungen geprägt war. Mit Bild und Text versuchte man, die Leser von den Erfolgen der rekonstruktiven Operationen zu überzeugen, die den Betroffenen letzten Endes ein normales Leben bescheren sollten. Die operierten Gesichter sollten zum Sinnbild von Fortschritt und medizinischer Leistung werden – auch in der Öffentlichkeit. Beim Anblick der Gesichter reagierten die Menschen allerdings anders als es sich die Ärzte erhofft hatten. Die breitere Öffentlichkeit nahm diese Männer als Kriegsopfer schlechthin wahr und machte sie zu Ikonen der Antikriegsbewegung. Dieser Abschnitt der Arbeit belegt, dass sich die Wissensfigur des gesichtsverletzten Mannes hervorragend für Instrumentalisierungen eignete und so, je nach Interesse, zum Symbol des Fortschrittes oder zum Sinnbild von Zerstörung durch den Krieg erklärt werden konnte. Neben dem Helden/Anti-Helden Topos wurde mit dem Begriff des normalen Mannes eine weitere Wissensfigur geschaffen, die einiges an Informationen über die Vorstellungen von Männlichkeit und Norm in sich trägt. Die Debatte über das Aussehen der Männer ergänzte den Diskurs über Männlichkeit um die Vorstellung eines angemessenen männlichen Gesichtes als Teil des männlichen Körpers. Daraus entstand in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie auch der Anspruch, Normalität (wieder-)herzustellen, ganz im Gegensatz zur Nachbardisziplin der Schönheitschirurgie, deren Ziel es war, den vorhergehenden Zustand zu verbessern. Dass der gesichtsverletzte Mann eine Kunstfigur war, an der man gesellschaftliche Themen wirkungsmächtig abhandeln konnte, zeigt auch der Ver-
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gleich mit den Angaben in den Patientenakten. Dort hatte die überwiegende Mehrheit der Betroffenen zwar Narben und Entstellungen im Gesicht, in ihrer Wirkung waren diese jedoch weit von den Darstellungen der medizinischen Sonderfälle oder der des Anti-Kriegshelden entfernt. Gerade wegen der Verbreitung des Bildes des Anti-Helden stellte diese Wissensfigur trotz alledem einen Handlungsrahmen für alle Betroffenen dar. Ausgangspunkt des nächsten Kapitels war der Behandlungsalltag der gesichtsverletzten Männer. Mit der Verletzung beginnend führt der Abschnitt durch die verschiedenen Behandlungsschritte bis zur Entlassung aus der Behandlung. Die Quellen dazu stammen aus den unterschiedlichen Einrichtungen der Mittelstreitkräfte. Nicht jeder Behandlungsalltag in den Einrichtungen konnte im Einzelnen rekonstruiert werden. Ich entschied mich daher, den Alltag entlang von Aspekten im Sinne von Idealtypen vorzustellen. Anhand von Erfahrungsberichten, Hausregeln, Krankenakten, Fotografien, Dienstanweisungen, Angaben von Patienten und vielem mehr zeichnete ich den Behandlungsalltag in den Lazaretten, die wieder zu erlernenden Körperpraktiken, Beschäftigungskonzepte während der Behandlung sowie die Bemessung des Behandlungserfolges nach. Der Alltag und der Behandlungsablauf in den Lazaretten waren – zumindest auf dem Papier – minutiös geplant. Die Dienstanweisungen des Militärs sowie die Haus- bzw. Tagesordnungen legten fest, wann die Patienten wo und wie behandelt werden sollten, wann diese mitentscheiden durften und wie der Tagesablauf auszusehen hatte. Behandlungs-, Arbeits- und Freizeit folgten einem festgelegten Stundenplan, auch Essensoder Waschzeiten waren festgelegt. Die Lazarettleitung bestimmte darüber, wer noch Bettruhe benötigte, wem eine Fortbildung oder Umschulung zustand und wer für Arbeiten in den Lazaretten geeignet war. Arbeit und Beschäftigung galten als wichtiges Heilmittel. In den einzelnen Lazaretten standen den soldatischen Patienten unterschiedliche Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung, wobei sich das Angebot an bürgerlichen Beschäftigungskonzepten und der Versorgungslage der Lazarette orientierte. Etwaige Versorgungsengpässe in den Lazaretten sollten durch Lohnarbeit kompensiert werden und die Patienten damit zur Aufrechterhaltung der Anstalten beitragen. Eine Fragestellung der vorliegenden Arbeit war auch, welchen Einfluss Männlichkeitskonzepte auf den Alltag in den Lazaretten hatten. Ein formuliertes Behandlungsziel war die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit. In diesem Zusammenhang spielte das sogenannte Überwindungsnarrativ eine wichtige Rolle, das bereits in den Beschreibungen des Verwundungshergangs zu finden war. Laut Berichten gelang es den Verwundeten, sich oftmals aus eigener Kraft zu den Versorgungsplätzen zu schleppen. Die Erfolgsgeschichte setzte sich, in den Lazaretten angelangt, mit den geglückten Gesichtsrekonstruktionen und den (wieder-) erlernten Körperpraktiken fort und erreichte ihren Höhepunkt in den Werkstätten der Lazarette. Das Dogma der unbedingten Heilung1 wendeten sowohl zivile Behörden wie auch das Militär auf die Verwundeten an. In 1
Ähnliches stellte Barbara Köhne bei psychisch erkrankten Soldaten des Ersten Weltkrieges, den sogenannten „Kriegszitterern“ fest. Vgl. (Köhne, 2009), S. 300.
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diesem Kontext wurde von den Männern erwartet, die Kriegserlebnisse zu überwinden und stetig an der Genesung mitzuwirken, um die Arbeitskraft wiederzuerlangen und schließlich ein normales Leben führen zu können. In dem Kapitel zu den Selbstdarstellungen wurden die Fotobestände und Selbstzeugnisse von gesichtsverletzten Soldaten nach ihrem Informationsgehalt bezüglich der Selbstwahrnehmung geprüft. Dazu führte ich die einzelnen Quellen zusammen, die sprachlich, inhaltlich oder visuell entweder das eine oder das andere Selbstbild thematisieren. Gefragt wurde nach den möglichen Einflüssen der konstruierten Andersartigkeit und dem Narrativ der Wiederherstellung auf die Selbstdarstellungen der Männer. Die gezeigten Verwundeten auf den Bildern wurden dabei wie die Fotografinnen und Fotografen als Bildautoren verstanden. Bei den Selbstdarstellungen wählten Verwundete Porträts, die sie in Krankenbetten zeigten, oder auf denen ihre Verletzungen zu sehen waren. Sie zeigten sich bei der Erholung im Garten, bei der Behandlung, oder sie inszenierten sich als Musiker oder Schachspieler und blieben dabei doch immer auch Soldat und Mann: mit oder ohne Zigarette, humorvoll oder kameradschaftlich. Ein ähnliches Bild geht aus den Selbstbildern der niedergeschriebenen Kriegserlebnisse hervor. Auf den Bildern begleitet man die Verwundeten auf ihrem Weg zur Genesung und dem sich verändernden Männlichkeitsbild. Fotografien der Nahrungsaufnahme vermitteln ein Bild der Hilfsbedürftigkeit und Verletzlichkeit der Soldaten. Auf dem Weg zur Besserung nahmen die Verwundeten eine andere Rolle ein. Durch die dargestellten Tätigkeiten (lesen, musizieren, sich bilden) sollten sie in den Lazaretten die von der Lazarettleitung (Düsseldorf) gewünschte Bürgerlichkeit verkörpern. Gegen Ende der Rekonvaleszenz wurde die Rolle abermals getauscht. Nun galt es, die wiedererlangte Arbeitskraft in Szene zu setzen. Einen maßgeblichen Einfluss auf den Bildinhalt hatte die Funktion der Aufnahmen. Fotografien, Briefe und andere Lebenszeichen aus den Lazaretten sollten die Angehörigen beruhigen und ihnen versichern, dass es ihrem Sohn, Freund, Kind oder Partner gut erging. Gesichtsverletzte inszenierten sich selbst daher nicht als Opfer oder Anti-Kriegshelden, sondern als Verwundete und Soldaten auf dem Weg der Besserung, begleitet von Ärztinnen und Ärzten, von Kameraden und dem Pflegepersonal. Das abschließende Kapitel widmete sich den vielfältigen Lebensentwürfen der Verwundeten, mit denen diese auf die jeweiligen Rahmenbedingungen, Darstellungen, Regelungen und Erwartungshaltungen reagierten. Die Schilderungen und Darstellungen in den Selbstzeugnissen gaben einen veränderten Blick auf die zuvor rekonstruierten Handlungsräume. So wurden die Selbstzeugnisse das eine Mal als Quelle für die Rekonstruktion des Behandlungsalltages und der Selbstdarstellungen, das andere Mal als Quelle für die biografische Herangehensweise verwendet. Der Fokus der vorliegenden Dissertation lag auf den sechs vorgestellten Lebensentwürfen, deren Auswahl im Zuge der Quellenarbeit erfolgte. Die je-
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weiligen Entscheidungen der Betroffenen fanden auf unterschiedliche Art und Weise Eingang in die Quellen. Die Handlungen manifestierten sich in den Selbstzeugnissen der Betroffenen, den Erinnerungen von Angehörigen und den Rentenakten; aber auch aus bereits erwähnten normativen und alltagspraktischen Quellen wie den Lehrbüchern, den wissenschaftlichen Aufsätzen sowie den Verwaltungsakten der Lazarette sind Handlungsentscheidungen herauszulesen. In den sechs Abschnitten zu diesen Lebensentwürfen wurden erneut verschiedenste Aspekte der einzelnen Quellen zusammengeführt. Den in den Lebensentwürfen abgehandelten Themen kamen nicht erst in den normativen Quellen wie der Rentengesetzgebung oder den Selbstzeugnissen, etwa dem Briefwechsel zweier junger Menschen, gesonderte Aufmerksamkeit zu. Auch die militärische und später bürgerliche bzw. Arbeiter-Gesellschaft der Nachkriegsjahre maß den behandelten Aspekten Bedeutung bei. Das zeigte sich am deutlichsten in der Rentengesetzgebung, die sich mit dem Thema Entstellung gesondert auseinandersetzte, aber auch in der Art und Weise, wie in der Familie über Kriegs- und Verwundungserfahrungen gesprochen wurde. Ein Blick hinter die Kulissen zeigte auch, dass, so vielfältig die Verletzungen der Soldaten waren, so vielfältig waren auch die Lebensentwürfe der aus der Behandlung entlassenen Patienten. Die unterschiedlichen Auswirkungen der Kriegserfahrungen auf die einzelnen Personen und deren Familienverbände zeigten die vorgestellten Lebensentwürfe. Die einen setzten ihren vor dem Krieg eingeschlagenen Weg danach unbeirrt fort. Für sie stellte der Kriegseinsatz mehr eine Unterbrechung als einen Bruch dar und beiden gelang es, ihre Kriegserfahrungen in ihren Alltag und Lebensentwurf zu integrieren. Kurt P. machte sich beispielsweise bereits während des Krieges Gedanken über seine Berufspläne und entschied sich für einen Lebensentwurf. Auch für Karl H. waren die Erfahrung des Krieges, die Verwundung und schließlich die bleibende Entstellung keine Gründe, den eingeschlagenen Lebensentwurf zu ändern. Für andere war die Verletzung der Beginn einer langen Auseinandersetzung mit der eigenen körperlichen Unzulänglichkeit, die das ganze folgende Leben mitbeeinflusste. Der Lebensentwurf Josef N.s zeigt eine stetige Abwärtsbewegung, an der letzten Endes der Selbstmord stand. Seine Frau begleitete ihn und ertrug dabei die gewaltsamen Übergriffe. August H.s Leben hingegen glich mehr einer Achterbahn als einer geraden Linie. Auf Phasen, in denen Selbstzweifel an ihm nagten, folgten Zeiten, in denen er sich optimistisch zeigte, heiratete und beruflich vorankam. Auch er wurde von einem sozialen Umfeld begleitet, das allerdings als Auffangnetz versagte, als sich die Depressionen ein letztes Mal zeigten. Auch Karl K. starb früh, allerdings an den Folgen einer Krebserkrankung. Ihm gelang es nach der Heimkehr nicht, im zivilen Alltag wieder Fuß zu fassen. Nicht zuletzt die psychischen Folgen der Verletzung bei Karl K. zwangen seine Frau zum Handeln. In diesem konkreten Beispiel bedeutete dies die Entmündigung des Ehemannes und die Übernahme des Familienbetriebes. Bei wiederum anderen, wie aus Josef K.s Le-
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bensentwurf ersichtlich wird, bedeutete die Verletzung die völlige Aufgabe der Selbstständigkeit mit einer daraus folgenden Abhängigkeit von sozialen Netzwerken. Eine grundlegende Erkenntnis der Biografien ist, dass die Gesichtsverletzungen zwar Veränderungen in vielen Bereichen des Lebens mit sich brachten, einen grundlegenden Bruch im Lebenslauf jedoch nicht zwangsläufig herbeiführten. Eine Reduzierung der Betroffenen und deren Leben auf die Verletzung greift demnach zu kurz. Wie die Männer mit der Verletzung umgingen, hing von vielen Faktoren ab. Dazu zählten die Männlichkeitsbilder der Betroffenen vor der Verwundung genauso wie die Fähigkeit, mit veränderten Lebenssituationen umzugehen. Auch bei ähnlichen Verletzungen und Rahmenbedingungen war der Umgang mit diesen doch sehr unterschiedlich. Die Kommunikation mit den Bezugspersonen stellte dabei die Basis für die Auseinandersetzung mit der eigenen Andersartigkeit und den Kriegserlebnissen dar. Die Studie der Lebensentwürfe zeigte aber auch, dass Bezugspersonen mit ihrem Einflussvermögen, ihren Handlungsweisen und Interessen für eine erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft und im Arbeitsalltag von gesichtsverletzten Männern wesentlich mitentscheidend waren. Eine besondere Rolle kam in diesem Kontext den (Ehe-)Frauen zu, die die Männer nicht nur emotional begleiteten sollten sondern auch pflegerische Aufgaben übernehmen mussten. Die Bezugspersonen waren daher Weichensteller und Versorger zugleich. Dabei war es gleichgültig, ob sie der Familie, dem sozialen Umfeld, dem Sanitätswesen oder dem Arbeitskollegium angehörten. Entscheidend war deren persönliches Verhältnis zur betroffenen Person. Die einen konnten sich ihren Partnerinnen über ihre Sorgen und Ängste austauschen. Andere wiederum versuchte, ihren tatsächlichen Gesundheitszustand vor der Ehefrau zu verbergen und vertrauten sich stattdessen einem Freund oder den Eltern an. Wieder andere wandten sich gegen ihre Bezugspersonen und wurden letztlich gegen sie gewalttätig. Die Kontextualisierung, die in der vorliegenden Arbeit vorgenommen wurde, lokalisierte die Lebensentwürfe und ihre Folgen im jeweiligen sozialen Umfeld. Folglich konnten die Entscheidungen und Handlungen der gesichtsverletzten Männer in einen größeren Kontext sowie ein größeres Bezugssystem eingebunden werden. Dies ermöglichte, den individuellen Entscheidungen und Lebensentwürfen der Männer eine Wirkmächtigkeit im sozialen Umfeld zuzuerkennen. Die anfangs aufgestellte These, dass die Männer der Herausforderung des geänderten Lebens sehr unterschiedlich begegneten, wurde durch die Rekonstruktion der Lebensentwürfe belegt. Das Ergebnis der Dissertation ist deshalb keine chronologisch-stringente Patientengeschichte von Gesichtsverletzten des Ersten Weltkrieges, sondern eine komplexe Anthropologie von Andersartigkeit, die am Beispiel der Gesichtsverletzten des Ersten Weltkrieges die verschiedenartigen Aspekte der Erfahrung von Krieg und Zerstörung am Körper exemplarisch herausarbeitet. Mit dem Blick auf die Lebensentwürfe und deren Effekte, das heißt auf die Biografie der Personen in einer bestimmten Lebenssituation, werden die sol-
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datischen Patienten als Akteure und als Handelnde in einem komplexen Feld von Regeln und Erwartungshaltungen wahrgenommen. In diesem Sinne können sie auch nicht länger als Projektionsflächen pazifistischer Kritik an kriegerischen Auseinandersetzungen dienen oder als chirurgische Wunderwerke im Sinne eines ungebändigten Glaubens an den medizinischen Fortschritt instrumentalisiert werden. Wer vertrat die Interessen der Betroffenen? Wie in der Arbeit gezeigt wurde, formierten sich in der Disziplin der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bereits nach dem Ersten Weltkrieg Interessenvertretungen. Das waren lose Gruppen von Ärzten sowie Einzelpersonen. Für die Patientengruppe der Gesichtsverletzten in Deutschland und Österreich ist ähnliches nicht feststellbar. Erst seit den 1990er Jahren bilden sich Vereine und Selbsthilfegruppen, mit dem Ziel auf die Anliegen der Betroffenen aufmerksam zu machen und deren Interessen zu vertreten. Auch, um gegen das Bild des unter der Entstellung leidenden Patienten auf zu brechen. Denn in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie selbst scheint man dem Bild der unter der Entstellung leidenden Patienten nach wie vor erstaunlich resistent gegenüber zu stehen. Auch wenn die Ärzte durch die Gesichtsverletzten des Ersten Weltkrieges einiges über derartige Verletzungen gelernt hatten, fand auch in den Nachkriegsjahren keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Folgen für die Betroffenen statt. Die Gründer des Vereines Changing Faces2 mit Sitz in London stellten sich daher die Frage: „Was geschah mit den entstellten Menschen?“3 Das erschütternde Ergebnis, zu dem auch Jonathan Cole in einer 1998 in Cambridge veröffentlichten Studie kam, bezeugt, dass die Betroffenen in England keine Hilfestellungen bekamen, „um mit ihren neuen Gesichtern zurechtzukommen“4. In Fachliteratur, Praxis und Lehre spielten Fragen nach der Mimik als wichtiger Teil der Entstellung im Gesicht auch noch 1998 keine Rolle. Cole postulierte, dass sich im Gesundheitssystem, „nachdem die plastische Chirurgie ihre Arbeit getan hatte[n]“5, dahingehend ein großes Defizit ausbreitete Eine Lese-Stichprobe der deutschsprachigen Fachliteratur zu dem Thema weist kaum Unterschiede zu den Schriften des Ersten Weltkrieges oder den oben besprochenen aktuelleren Texten aus England auf. In der Fachliteratur hat lediglich der Hinweis auf die entstellende Wirkung dieser Verletzungen und deren chirurgische Überwindung einen festen Platz.6 Vergeblich sucht man nach ernsthaften Auseinandersetzungen oder Lösungsvorschlägen für den Alltag der Betroffenen. Unverändert argumentieren die Ärzte aus der Sicht der Patienten, ohne diese Perspektive jemals wirklich einzunehmen. 2 3 4 5 6
Vgl. https://www.changingfaces.org.uk, 1.10.2013. Cole (1999), S. 226. Cole (1999), S. 226. Cole (1999), S. 15. Vgl. Austermann (1991), S. 403; Pallua/Demir (2009), S. 111.
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7. Patienten mit Entstellungen zu Beginn des 20. Jahrhundert und jetzt
Dies äußert sich auch im Fehlen von Begleit- und Nachbehandlungen bei Entstellungen als wissenschaftliches Thema in den Lehrplänen7, in formulierten Forschungszielen,8 in Publikationen9 oder im angebotenen Behandlungsspektrum.10 Demgegenüber stehen Ärzte, die sich auf die Behandlung von Brandopfer spezialisierten und mit ähnlichen Problemen hinsichtlich des Erscheinungsbildes konfrontiert werden. In dieser Disziplin wird seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit den Patienten und deren sozialen Umfeld an Beratungskonzepten gearbeitet.11 Eine Ausnahme stellt hier Frankreich dar. Dort wurde von gesichtsversehrten Soldaten bereits 1921 der Verein Union des Blessés de la Face et de la Tête / Fondation des ‚Gueules Cassées‘ gegründet, der bis heute an seinen Grundsätzen festhält.12 Der Verein setzte sich zum Ziel, das Selbstbewusstsein der Betroffenen zu stärken und die Entstellungen mit Stolz zu tragen. Von Beginn an gingen die Gesichtsverletzen auf die Straße um auf ihre Sache aufmerksam zu machen. Bis heute brachte es der Verein zu einem beträchtlichen Vermögen, welches es ermöglicht, seit 1927 eine vierteljährliche Zeitschrift13 herauszugeben und repräsentative Gebäude in Paris zu unterhalten.14 Im Berlin gab es ab 1929 eine und ab 1930 bis 1933 zwei Anlaufstellen für Menschen mit Entstellungen, von denen auch Gesichtsverletzte des Ersten Weltkrieges Gebrauch machten.15 Errichtet und geleitet wurde die erste Stelle von Martin Gumpert (1897–1955), einem Dermatologen und Schriftsteller mit einer Praxis in Berlin. An der Fürsorgestelle für Entstellungskranke beteiligten sich mehrere Ärzte. Ähnliches vollzog sich in Wien, denn auch dort wurde 1930 eine Beratungsstelle eingerichtet. Selbsthilfegruppen im engeren Sinn stellten diese Stellen allerdings nicht dar, da sie „1. die Förderung der ärztlich-kosmetischen Forschung, 2. die Ausbildung und Fortbildung der wissenschaftlichen und praktischen ärztlichen Kosmetik und 3. die Einführung der Entstellungsbehandlung in die Sozialversicherung unter besonderer Betonung sozialer Gesichtspunkte“16 zum Ziel hatten.17 Der erste Verein von Betroffenen für Betroffene in Deutschland trägt den Namen TULPE e. V., Verein zur Betreuung und Hilfe für Gesichtsversehrte. 1995 von Betroffenen, deren Angehörigen sowie Fachleuten gegründet, be7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. Oliver Ploder (13.5.2013). Vgl. Norbert R. Kübler (13.5.2013). Vgl. Klinik und Poliklinik für Mund (13.5.2013). Vgl. Robert Sader (13.5.2013). Vgl. Anna Tischer (2009). Vgl. Union des blessés de la face Les Gueules cassées (france), S. 9. Vgl. Union des blessés de la face Les Gueules cassées (france) (2013). Vgl. Website, Les Grandes Dates, http://www.gueules-cassees.asso.fr/srub_23-Les-grandes-dates.html, 2.10.2013. Neun Männer, darunter auch Kriegsverletzte im Gesicht, wandten sich an diese Fürsorgestelle für Entstellungen. Gumpert (1931), S. 209. Ramsbrock (2011), S. 251. Mehr Informationen zur Fürsorgestelle für Entstellungskranke und Martin Gumpert bei: Ramsbrock (2011), S. 251–262.
7. Patienten mit Entstellungen zu Beginn des 20. Jahrhundert und jetzt
265
steht seine Intention darin, „die Interessen von Menschen zu vertreten, die großflächige Narben oder Defekte im Gesichtsbereich haben. TULPE e. V. informiert über Behandlungsmöglichkeiten aus dem Erfahrungsbereich von Betroffenen“18. 36 Mitglieder bieten anderen Betroffenen die Möglichkeit einer persönlichen Beratung an. Daneben sieht der Verein ein weiteres Aufgabengebiet darin, „Fachleute und die Öffentlichkeit über die Problemstellungen und Nöte seiner betroffenen Mitglieder“ zu informieren. Als erweitertes Angebot wird dazu vierteljährlich eine Zeitschrift veröffentlicht.19 Neun Jahre später wurde im Jahr 2003 die zweite Interessensvertretung für Menschen mit Entstellungen gegründet. Cicatrix wurde von Regina Heeß und Petra Lubosch für Brandverletzte und Menschen mit Narben ins Leben gerufen, sie wollen damit „Lobbyarbeit“20 leisten und das Gesundheitssystem verbessern.21 Diese Entwicklung setzte vergleichsweise spät ein. Erst in den 1970er und 1980er Jahren begannen sich im Zuge der Politisierung der Öffentlichkeit in Deutschland Behindertenbewegungen zu formieren. Eltern-, Selbsthilfe und Emanzipationsbewegungen nach 1945 bilden in den USA einen eigenen Forschungsschwerpunkt. Im deutschsprachigen Raum sind die Kenntnisse über Interessensorganisationen im Vergleich dazu gering. Forschungsprojekte, welche diese Bewegungen im Blick haben, „könnten einen wesentlichen Beitrag zur bundesdeutschen Protestgeschichte, zur Geschichte der sozialen Bewegung in der Demokratie und zur Politisierung der bundesdeutschen Öffentlichkeit leisten“22, wie es Elsbeth Bösl, Historikerin, noch 2010 forderte.23 Vor allen Dingen dann, „wenn sie dem Verhältnis von Behindertenbewegung und anderen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre nachgehen“24. In dieser Dissertation wurden Menschen, die Träger einer Andersartigkeit sind, über den politischen Bereich hinaus als Konsumenten, Kulturschaffende und -rezipierende, sexuelle und expressive Wesen etc. verstanden, wie es Elsbeth Bösl in dem oben zitierten Aufsatz Was ist Disability History? Zur Geschichte der Historiografie von Behinderung einforderte. Den Gesichtsverletzten wurde eine „Pluralität von Rollen, Funktionen und Positionen in der Gesellschaft“25 eingeräumt, die verhindert, dass diese Gruppe von Personen weiterhin auf ihr Aussehen als Anti-Kriegshelden reduziert oder als medizinische Wunder wahrgenommen werden. Gezeigt wurde auch, wie Einzelpersonen auf Fremdzuschreibungen mit individuellen Selbstzuschreibungen reagierten, wie sie ihren Interessen nachgingen und am gesellschaftlichen Leben partizipierten.
18 19 20 21 22 23 24 25
Wir über uns…, http://www.tulpe.org/html/wir_uber_uns.html, 2.10.2013. Vgl. Leitlinien, http://www.tulpe.org/html/leitlinien.html, 1.10.2013. Vereinsziele, http://www.cicatrix.de/verein_ziele.html, 1.10.2013. Vgl. Vereinsziele, http://www.cicatrix.de/verein_ziele.html, 1.10.2013. Bösl (2010), S. 38. Vgl. Bösl (2010), S. 38. Bösl (2010), S. 38. Bösl (2010), S. 39.
8. Quellen und Literatur 8.1 Archivalien Archiv der Humboldt- Universität, Berlin Charité-Direktion: Nr: 850/I; J. Joseph: 1. Jahresbericht (1.7.1917), Abteilung für Gesichtsplastik, Berlin, 23–24. Deutsches Historisches Museum (DHM) Ausstellungsvitrine: Fotografien von Gesichtsverwundeten aus dem Felde. Deutschland Heeres-Sanitätsinspektion: Sanitätsbericht über das Deutsche Heer (Deutsches Feld- und Besatzungsheer) im Weltkriege 1914/1918. Berlin 1934. Kriegsarchiv: Österreichisches Staatsarchiv, Wien J. D.165, 1914/15 Div. San. Chef, Divisions Sanitäts Chef: Erlass Op. Nr. 32818, August 1915. AT-OeStA/KA Zst HKR SR Norm MI, Etappenkommando an k. u. k. Sanitätschef Zille 3, Op Nr 32818: Militärimpressen (MI), k. A. (Serie) (3. August 1915). KA,GBBL, Geburtsjahr 1893, Inhalt Z, Wien, Karton Nr. 1433, Neue Feldakten, Superarbitrierungsakten, Karton-Nr. 1.354, k. u. k. Kriegsministerium: Hauptgrundbuchblatt Franz Za., militärärztliches Zeugnis, Hauptgrundbuchblatt. NFA 165, 3.ITD.1914/15,Div San, Chef, Op. Nr. 20.388/1915, Behandlung von Kieferschussfrakturen, 17.3.1915, Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Düsseldorf BR 0007 Nr. 54575- Düsseldorfer Oberbürgermeister, Westdeutsche Kieferklinik, Finanzierung, Verwaltungsakten (1923). BR 0-0004-1385- Westdeutsche Kieferklinik, 1–115, Verwaltungsakten. Medizinhistorisches Museum der Charité, Berlin Krankenbett Gesichtsverletzung, Unterlagen Karl Hasbach: Brief an H. Weerda, 8.3.2006, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Krankenbett Gesichtsverletzung. Fotonachlass, 1915. Inge Meyer: Brief über Vater (16.5.1985). Hasbach, Karl: Brief an Paul Natvig (15.11.1973). Hasbach, Karl: Fotonachlass. Hasbach, Karl: Lebenslauf (nach 1957). Hasbach, Karl: Tabellarischer Lebenslauf (ca. 1918). Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin: Krankenakt Bachmann (1915a). Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin: Krankenakt Ceglarek (1915b). Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin: Krankenakt Holländer (1915c). Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin: Krankenakten (1915). Kgl. zahnärztlichen Institut der Universität Berlin: Krankenakten (1915d). Privat Archiv Melanie Ruff, Wien Elisabeth Stader: Anrufprotokoll Telefonat mit Schwester (26.10.2011), Stader 1. Elisabeth Stader: Brief an H. Weerda (8.3.2006). Elisabeth Stader: Brief Melanie Ruff an Elisabeth Stader (6.6.2012a und b), Stader 5. Elisabeth Stader: Erzählungen (Oktober 2012), Stader 6. Elisabeth Stader: Niederschrift Lebenslauf Karl Hasbach (20.8.2012), Stader 3. Trunk, Werner Ph.: Schulerinnerungen (2006), Stader 7.
8.1 Archivalien
267
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268
8. Quellen und Literatur
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8.2 Gedruckte Quellen
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medizin, gesellschaft und geschichte
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beihefte
Herausgegeben von Robert Jütte.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0941–5033
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