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German Pages 144 [146] Year 2014
Napoleons Soldaten
[G E S C H I C H T E E R Z H LT] Herausgegeben von Kai Brodersen, Uwe A. Oster, Thomas Scharff und Ute Schneider Bd. 1, Die Welt Homers, ISBN 978-3-89678-319-6 Bd. 2, Hexenjagd in Deutschland, ISBN 978-3-89678-320-2 Bd. 3, Der knigliche Kaufmann oder wie man ein Knigreich saniert, ISBN 978-3-89678324-0 Bd. 4, Zechen und Bechern. Eine Kulturgeschichte des Trinkens und Betrinkens, ISBN 978-3-89678-323-3 Bd. 5, Hinter Klostermauern. Alltag im mittelalterlichen Kloster, ISBN 978-3-89678-321-9 Bd. 6, Krieg in der Antike, ISBN 978-3-89678-339-4 Bd. 7, CARE-Paket & Co. Von der Liebesgabe zum Westpaket, ISBN 978-3-89678-344-8 Bd. 8, Unter dem Vesuv. Alltag in Pompeji, ISBN 978-3-89678-340-0 Bd. 9, Baden, spielen, lachen. Wie die Rmer ihre Freizeit verbrachten, ISBN 978-3-89678-346-2 Bd. 10, Seide, Pfeffer und Kanonen.Globalisierung im Mittelalter, ISBN 978-3-89678-322-6 Bd. 11,Veni, vidi, vici. Caesar und die Kunst der Selbstdarstellung, ISBN 978-3-89678-333-2 Bd. 12, Napoleons Soldaten. Alltag in der Grande Arme, ISBN 978-3-89678-366-0
Karl J. Mayer
Napoleons Soldaten Alltag in der Grande Arme
[G ES C H IC H TE E R Z H LT]
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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c 2008 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermglicht. Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandabbildung: Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen (1769–1821), „Bataille d’Ina, 14 octobre 1806“ (Schlacht bei Jena und Auerstedt, 14. Okt. 1806), Gemlde von Horace Vernet (1789–1863), Inv.Nr. MV 2768. Foto: akg-images Layout: Petra Bachmann,Weinheim Gestaltung und Satz: Hagedorn Kommunikation,Viernheim Printed in Germany
www.primusverlag.de ISBN:
978-3-89678-366-0
Inhalt 7 Drei einfache Soldaten
14 Die Soldaten des Kaisers: Wehrpflicht, Disziplin, Motivation
38 Unterwegs: Auf dem Marsch und im Quartier
70 Grundbedrfnisse: Essen, Trinken, Kleidung
93 Die Schrecken des Krieges: Verwundung und Gefangenschaft
136 Ausklang: Heimkehr
140 Anmerkungen
142 Literatur
144 Bildnachweis
Drei einfache Soldaten
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er franzsische Kaiser Napoleon schickte im Som-
mer 1812 mehr als 500 000 Soldaten aus aller Herren Lnder nach Russland. Sie kamen aus Frankreich, Italien, Polen, Preußen, sterreich, Baden, Westfalen, Kroatien, aus Wrttemberg, Hessen, vom Niederrhein, aus den Niederlanden, Bayern, der Schweiz, Portugal und Spanien. Die meisten von ihnen kehrten nicht lebend aus Russland zurck. Sie verhungerten, erfroren, wurden erschlagen, in Gefangenschaft geschleppt. Ihre Namen sind weitgehend vergessen. Bekannt sind allenfalls die Namen der Marschlle und Generle. Sie leben als geschichtliche Persnlichkeiten, als Heroen des Untergangs oder des Sieges in der Erinnerung fort. Die Geschichte interessierte sich fr Napoleons Feldzge und Schlachten, seine Taktik und seine Strategie. Die Soldaten blieben dabei aber meist nur Staffage, Komparsen eines weltgeschichtlichen Ringens, anonymisiert in Strkemeldungen und Verlustlisten. Doch zumindest einige der einfachen Soldaten des Kaisers haben schriftliche Zeugnisse hinterlassen: Erinnerungen, Tagebcher, Briefe. So auch der Schwabe Jakob Walter. Im Zivilberuf war er Maurer und zu jener Zeit Soldat im 4. wrttembergischen Infanterieregiment. Das Regiment war Teil des etwa 15 000 Mann starken Kontingents, das sein Landesherr von Napoleons Gnaden, Knig Friedrich I. von Wrttemberg, fr den Russlandfeldzug stellen musste. Walter war im Jahr
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Drei einfache Soldaten
1788 geboren worden, in der Gemeinde Rosenberg in der Nhe von Ellwangen. Er war kriegserfahren, hatte schon an den Feldzgen von 1806 gegen Preußen und 1809 gegen sterreich teilgenommen. Im Januar 1812 wurde er wieder einberufen. Wenig spter marschierten die wrttembergischen Truppen Richtung Osten, wiewohl zunchst das Gercht umgegangen war, man werde nach Spanien kommen. Dort tobte seit 1808 ein grausamer Guerillakrieg gegen die franzsischen Besatzer. Doch anscheinend schreckten Walter und seine schwbischen Mitstreiter weder der mrderische Krieg auf der Iberischen Halbinsel noch die Tatsache, dass man nach Osten, Richtung Russland, marschierte: Ungeachtet [der Tatsache dass] keine guten Aussichten [bestanden] war[en] ich und alle Soldaten ganz lustig,
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sangen und tanzten immer, besonders da ber das schne Wrzburger Land die besten Quartiere und Essen und
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Trinken, besonders des vielen Weins wegen, ganz gut waren, sodass jedem seine Feldflasche freiwillig beim Abmarsch mit Wein und die Taschen mit Gebck gefllt wurden.1
Jakob Walter gehrte zu den Wenigen, die im Dezember 1812 wenn schon nicht gesund, so doch noch am Leben, Russland verließen und schließlich glcklich die Heimat wiedersahen. Der Bericht ber seine Erlebnisse in Russland gehrt zu den eindringlichsten, die Mannschaftssoldaten ber dieses Inferno verfasst haben. Ebenfalls im Frhjahr 1812 griff der Krieg in das Leben des 1787 in Neuerkirch, einer kleinen Gemeinde im Hunsrck in der Nhe von Simmern, geborenen Jakob Rhrig ein. Rhrig war Franzose. Denn im Frieden von Lunville hatte sterreich im Februar 1801 die Annexion linksrheinischer Gebiete durch
Drei einfache Soldaten
Frankreich akzeptiert. Jakob Rhrig lebte seitdem im franzsischen Departement Mont de Tonnere, Donnersberg. Dessen Prfekt residierte in Mainz. Rhrig war 1807 der Konskription, der Wehrpflicht, unterstellt worden. Da in diesem Jahr der Bedarf der Armee an Rekruten nur gering war, konnte er sich zunchst wieder seinem Zivilberuf widmen, der Ausbildung zum Dorfschullehrer. Doch im Mrz 1812 sollte auch Rhrig Soldat werden. Denn: „Als die schnste Armee, die je auf den Beinen stand, auszog, um Russland zu bekriegen, da wurde das Innere des Landes von Truppen entblßt, die natrlich wieder ersetzt werden mussten, wenn auch nicht nach der Qualitt, so doch nach der Quantitt.“ 2 Mit anderen Worten: Man begann, diejenigen, die in frheren Jahren nicht „gezogen“ worden waren oder bei der Musterung krperliche Mngel aufgewiesen hatten, doch noch zum Dienst heranzuziehen. So kam schließlich auch Jakob Rhrig zu den Soldaten, obwohl ihm die Familie und Bekannte geraten hatten, doch vor der Rekrutierungskommission zu erklren, er habe „keine gute Brust“. Wohl wre er mit dieser Lge durchgekommen, denn er kannte einige Mitglieder der Kommission, die ihm geholfen htten. Doch Rhrig wollte zu den Soldaten, wollte dem Kaiser, den er vergtterte, dienen. Im Jahr darauf, als Napoleon nach der Katastrophe in Russland eine neue Armee aus dem Boden stampfen musste, wurde Rhrig schließlich als voltigeur, als leichter Infanterist, dem 150. Linienregiment zugeteilt und marschierte nach Sachsen, um an einigen der mrderischsten Schlachten der Napoleonischen Kriege teilzunehmen. Jahrzehnte spter schrieb er seine Erinnerungen an die Zeit als Soldat des Kaisers nieder. Sie sind realistisch und unprtentis und gehren zu den informativsten ihrer Art. Rhrig wird auf den folgenden Seiten deshalb hufig zu Wort kommen.
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Die Grande Arme
G rßere Heeresabteilungen, die selbststndig auf einem Kriegsschauplatz kmpften, wurden in der franzsischen Armee mit geografischen Bezeichnungen unterschieden: Arme d’Italie, Arme du Rhin usw. Als man im Jahr 1803 Truppen zur Invasion Englands zusammenzog, hießen sie dementsprechend Arme d’Angleterre. Im August 1805 (nachdem man die Hoffnung auf eine Invasion der britischen Inseln aufgegeben hatte) wurde sie in Grande Arme umbenannt. Das hatte zwar mit ihrer Grße zu tun (ca. 200 000 Mann), war jedoch auch ein Hinweis darauf, dass zu diesem Zeitpunkt nicht klar war, auf welchem Kriegsschauplatz sie eingesetzt werden wrde. In der Folge bezeichnete der Begriff Grande Arme meist die Armee, die auf dem Hauptkriegsschauplatz kmpfte und von Napoleon persnlich kommandiert wurde. Der Begriff verschwand nach 1813 aus dem Sprachgebrauch. Die Armee, die Napoleon im Frhsommer 1815 nach Belgien fhrte, wurde als Arme du Nord bezeichnet. Schon zuvor, im Jahr 1809, war das gegen sterreich operierende Heer Arme d’Allemagne genannt worden.
Auch fr einen weiteren Landsmann Rhrigs, den Pflzer Barbier Jakob Klaus aus Haßloch, brachte das Jahr 1812 eine schicksalhafte Erfahrung. Anders als Rhrig war er, geboren 1788, bei der Losziehung weniger glcklich gewesen: [Im Jahr] 1807, da bin ich in den Milizenstand aufgefordert worden, und hier auf dem Gemeindehaus in Haßloch bin ich
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1807, den 22. Jnner, unter das Maß gestellt worden. 1807, den 7. Mai, hatten wir Konskriptionspflichtigen auf das Schießhaus in Neustadt ziehen mssen. Da hatte ich gerade die Nummer 51 gezogen.3
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Drei einfache Soldaten
Im Juli 1813 schreibt ein Soldat aus Deutschland seiner Mutter. Der Briefkopf ist mit der motivierenden Kopfzeile „Fr den Kaiser und das Vaterland“ und mit dem Portrt des Soldaten geschmckt, damit seine Mutter ihn nicht vergisst . . .
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Klaus wurde dem 8. Linienregiment zugeteilt und im niederlndischen Venlo ausgebildet. Danach wurde er nach Spanien geschickt, wo er beim 117. Linienregiment fnf Jahre lang diente. Im April 1812, als sich Jakob Walter auf den Weg nach Polen machte und Jakob Rhrig nach Boulogne marschierte, wurde Jakob Klaus vor Alicante schwer verwundet. Nur dem glcklichen Zufall, dass ein Truppenarzt aus seiner Heimat sich seiner aufopfernd annahm, verdankte er die Genesung. Im Dezember 1812 wurde er fr untauglich befunden und aus der Armee entlassen. Ein schwbischer Maurer, ein Dorfschullehrer aus dem Hunsrck, ein Barbier aus der Pfalz. Sie nahmen als einfache Soldaten an den Napoleonischen Kriegen teil. Ihre Erinnerungen zielten nicht auf ein breites Publikum, sondern waren eher fr Familie oder Freunde gedacht. Sie erschienen oft erst Jahrzehnte nach dem Tod des Verfassers. Die Texte spiegeln nicht – wie diejenigen der Generle oder gar Napoleons Erinnerungen – Ruhmsucht oder Rechtfertigungszwang, sondern zeigen ein weitgehend realistisches Bild des Krieges „von unten“. Exemplarisch soll anhand der Erfahrungen dieser Soldaten der Alltag in der Grande Arme nachgezeichnet werden. Zu Wort kommen dabei jedoch auch andere Soldaten, die unter Napoleon dienten. Die Memoiren, Tagebcher und Briefe der einfachen Soldaten erlauben es, ihren Alltag in jenen Jahren nachzuvollziehen: die Mrsche, die Biwaks, die Einquartierungen, den Hunger, das Plndern, die zerschlissene Kleidung, das Erleben der Schlacht, der Verwundung oder Erkrankung, der Gefangenschaft; aber auch das Heimweh und die Motivation, trotz aller Miseren und Strapazen weiterzukmpfen; die Stunden der Muße oder der Kurzweil; das Verhltnis zu den Offizieren oder zur Zivilbevlkerung; die Heimkehr und das Leben nach dem Krieg.
Drei einfache Soldaten
Brief des Soldaten Lebouvier, geschrieben in Straßburg im April 1812. Lebouvier war wohl auf dem Weg nach Russland. Er versichert seinem Vater, dass er bester Gesundheit sei. Neben die Soldatenfigur hat er wohl mit Stolz geschrieben: „Das ist unsere Uniform.“
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Die Soldaten des Kaisers: Wehrpflicht, Disziplin, Motivation uch wenn die Franzsische Revolution den Krieg nicht neu erfand: Er hatte sein Gesicht gendert,
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als 1792 die Revolutionskriege mit der Kanonade von Valmy begannen. Das lag weniger daran, dass die revolutionren Armeen neue Waffen einsetzten oder umwlzend neue Taktiken anwandten. Die Waffen waren weitgehend die, mit denen man schon seit hundert Jahren kmpfte. Die Taktik war wohl ein wenig anders als die des Ancien Rgime, der Zeit des Aufgeklrten Absolutismus. Die Franzosen setzten jetzt mehr auf die Wucht der tief gegliederten Angriffskolonnen und auf den Kampf in aufgelster Ordnung statt auf schmale, zerbrechliche Linien und starre, schwer zu dirigierende Reihen. Das lag aber eher an der Unfhigkeit der aus dem Boden gestampften revolutionren Bataillone, die perfekt einstudierten, maschinenhaft durchgefhrten Manver ihrer Gegner rasch nachzuahmen. So wurde taktisch die Not zur Tugend. Das wirklich Neue an den Revolutionskriegen waren die revolutionren Soldaten. Es kmpften nicht mehr Sldner des Knigs, sondern Brger einer Nation.
Andere Kriege, neue Soldaten?
Der Knig hatte seine Soldaten angeworben. Geworben wurden sie berall, wo sich Mnner in den Soldatenstand pressen ließen.
Andere Kriege, neue Soldaten?
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Sie kmpften in „Kabinettskriegen“ fr die Interessen des Knigshauses, um irgendeine Erbfolge irgendwo in Europa. Sie kmpften, weil die Disziplin sie dazu zwang und weil sie keine vernnftigere Beschftigung fanden. Ihre Offiziere waren in der Mehrzahl Adlige, die ihre Soldaten selten zu sehen bekamen. Letztere hatten kaum Aufstiegschancen. Das Beste, was sie hoffen konnten,war, nach Jahrzehnten ohne ernsthafte Blessur oder Erkrankung ein stilles Fleckchen zu finden,wo sie mehr schlecht als recht ihren Lebensabend fristen konnten. Die Soldaten hingegen, die nach 1789 die Revolution verteidigten, kmpften fr Ideen, nicht fr die Launen oder die Machtinteressen des Knigs. Die Ideen lauteten: „Gleichheit, Freiheit, Brderlichkeit.“ Und jeder Soldat war nun gleich-
Die Revolutionskriege
I m Jahr 1792, drei Jahre nach Ausbruch der Franzsischen Revolution, griffen die Mchte Europas zu den Waffen, um die Republik niederzuwerfen. An zahlreichen Fronten brachen Kmpfe aus: am Ober- und am Niederrhein, in Italien, in Spanien, ja in gypten. Es waren oft erbarmungslose Gefechte, da die Republik um ihre Existenz stritt. Aber sie behauptete sich, trotz aller militrischen Defizite und trotz Brgerkrieg und antiroyalistischem Terror im Innern. Der Sieg der Republik versetzt noch heute Historiker in Staunen. Erfochten wurde er weniger durch den berlegenen revolutionren Geist der Brgersoldaten oder durch neue Taktiken. Die Unfhigkeit und die Uneinigkeit der gegen Frankreich vereinigten Koalitionen retteten die Republik. Am Ende der Revolutionskriege war Frankreich unter Napoleon bereit, seine Macht bedeutend zu erweitern.
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Die Soldaten des Kaisers
berechtigter Brger, nicht mehr Angehriger eines Standes minderen Rechtes. Im August 1792 wurde in Frankreich die knigliche Familie gefangen gesetzt; der neu gewhlte „Nationale Konvent“ erklrte das Land im September zur Republik. Dagegen setzten die absolutistischen Mchte Europas ihre Armeen in Marsch. Das franzsische Vaterland war in Gefahr: „La patrie en danger!“ Und es war die Pflicht jeden Brgers, also aller Franzosen, das republikanische, revolutionre Vaterland zu schtzen. So entstand, wenn auch zunchst in eingeschrnkter Form, etwas wirklich Revolutionres: die Wehrpflicht als Kennzeichen des freien, gleichberechtigten Staatsbrgers.
Die Wehrpflicht
Erster Ausdruck dieser Brgerpflicht, das Vaterland zu verteidigen, war das Gesetz vom 23. August 1793. Es bestimmte, dass von diesem Augenblick an jeder Franzose bereit sein msse, in der Armee zu dienen, bis der Feind vom Boden Frankreichs vertrieben war. Junge Mnner sollten kmpfen, verheiratete Mnner Waffen herstellen, Frauen Zelte und Kleidung nhen, Kinder Verbandszeug vorbereiten und die Alten auf den Pltzen durch patriotische Reden den Mut der Mnner anfachen und den Hass auf die Knige schren. Die leve en masse war geboren. Die leve en masse – zu bersetzen entweder als Aufstand der Massen oder als massenhafte Aushebung von Soldaten – ist bis heute ein Teil des Revolutions-Mythos. Denn dem Gesetz folgte bei Weitem nicht „jeder Franzose“. Manche wurden nach Hause geschickt, nachdem die geforderte Kopfzahl lokaler Bataillone erreicht war; manche fanden sich gar nicht erst zur Registrierung in den Stdten ein; andere verschwanden auf dem Marsch zur Front.
Die Wehrpflicht
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Der leve en masse folgten weitere Massenaushebungen. Immer wieder forderte die Regierung in Paris junge Mnner auf, sich freiwillig zu melden. Und immer wieder wurden Gesetze erlassen, die Mnner zwangsweise zu den Waffen riefen. Der Menschenverschleiß an den Fronten war ungeheuer hoch. Waren die Soldaten des Knigs noch ein kostbares, teures Gut, das man nach Mglichkeit schonte, waren nun – in den Worten des britischen Militrhistorikers J.F.C. Fuller – „Menschen so billig wie Dreck“ 1 . Jedenfalls schuf die Revolution zwei Grundvoraussetzungen fr Napoleons Kriege: den Soldaten als Brger mit Nationalstolz und gleichen Rechten und die allgemeine Wehrpflicht. Letztere wurde in dem von General Jourdan entworfenen Gesetz vom 5. September 1798 festgelegt. Waren die Aufrufe
Die Marseillaise
A uf ihr Kinder des Vaterlands, der Tag des Ruhms ist da. Gegen uns wurde der Tyrannei blutiges Banner erhoben. Hrt Ihr auf den Feldern die grausamen Soldaten brllen? Sie kommen bis in Eure Arme, Eure Shne, Eure Ehefrauen zu erwrgen! Zu den Waffen Brger, formiert Eure Bataillone. Lasst uns marschieren! Damit unreines Blut unsere cker trnke!“ Die Marseillaise wurde im Jahr 1792 in Straßburg als Kampflied der Rheinarmee von Claude Joseph Rouget de Lisle komponiert und getextet. Ihren Namen erhielt sie, als im Sommer 1792 ein betrunkenes Freiwilligen-Bataillon aus Marseille, das das Lied auf dem Marsch durch das Elsass gelernt hatte, es zum ersten Mal den Pariser Brgern zu Gehr brachte. Bis auf den heutigen Tag (seit 1879) ist die Marseillaise mit ihrer mitreißenden Melodie und dem blutrnstigen Text die Nationalhymne der Republik Frankreich.
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und Gesetze davor eher momentane Notmaßnahmen („bis der Feind vom Boden Frankreichs vertrieben ist“), so wurde nunmehr grundstzlich jeder unverheiratete mnnliche Franzose mit Vollendung des 20. Lebensjahres militrdienstpflichtig. Die Aushebung des ersten Wehrpflichtigen-Jahrgangs allerdings war nicht sonderlich erfolgreich. Von 203 000 Wehrpflichtigen waren nur 143 000 diensttauglich, 97 000 marschierten zur Armee ab und nur 74 000 kamen in den Armeelagern an. 2 Ob ein junger Franzose sofort nach Erreichen des 20. Lebensjahres unter die Waffen treten musste, das hing von der Hhe des Kontingents ab, das der jeweilige Jahrgang zu stellen hatte. In Kriegs- und Krisenzeiten (etwa nach der Vernichtung der Armee im Jahr 1812) konnte dieses Kontingent sehr hoch sein. In relativ ruhigen Jahren sank die Zahl der Mnner, die das Vaterland unter die Fahnen rief. Setzte Napoleon etwa fr einen bestimmten Jahrgang fest, dass 100 000 junge Mnner Soldaten werden sollten, so wurde diese Zahl anteilsmßig auf smtliche Departements, Arrondissements und Kantone umgelegt. Dort wurden alle Wehrpflichtigen auf einer Liste erfasst (konskribiert). Danach wurden in den Brgermeistermtern so viele fortlaufend nummerierte Zettel in eine Urne geworfen, wie Mnner auf der Liste standen. Jeder der Konskribierten zog einen Zettel, und je niedriger die Nummer, desto hher die Wahrscheinlichkeit, zur Armee eingezogen zu werden. Militrrztlich gemustert wurde in den Gemeinden jeder Wehrpflichtige. War er fr den Dienst untauglich (etwa wegen krperlicher Gebrechen oder weil er kleiner war als 154 Zentimeter, spter 148 Zentimeter), musste er eine gewisse Geldsumme bezahlen. Dafr wurde er aus der Liste gestrichen. Auch waren bestimmte Personengruppen von vornherein von
Die Wehrpflicht
In Frankreich ist die Wehrpflicht eingefhrt. Ein junger Mann wird „unter das Maß gestellt“ und von einer Musterungskommission auf seine Militrtauglichkeit hin untersucht.
der Wehrpflicht befreit. Etwa Verheiratete, das einzige Kind oder der lteste Sohn einer Witwe. Es gab auch – seit dem Jahr 1800 – die Mglichkeit, andere fr sich dienen zu lassen. Betuchte Familien, deren Sohn beim Auswahlverfahren eine niedere Nummer gezogen hatte, konnten einen „Stellvertreter“ bezahlen, der dann in den Krieg zog. Die Mglichkeit der Stellvertretung lsst ahnen, dass die gehobenen Schichten in den Armeen Napoleons nicht gerade berreprsentiert waren. Von einem „Volk in Waffen“ war man noch ein gutes Stck entfernt. Es dienten eher die unteren Klassen: Bauern,Tagelhner, Handwerker. Aber auch Abenteurer, zwielichtige Charaktere, die sich ins soziale Gefge des Dorfes oder Stadtviertels nicht einbinden ließen. Viele Wehrpflichtige suchten verzweifelt nach einem Mann, der fr sie zu den Soldaten ging. Der Soldat Adam von
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der 22. Demi-Brigade (Regiment) etwa schrieb im Mai 1800 aus Genf, er wnsche sich nichts sehnlicher als einen Stellvertreter. In der Schweiz bekomme man schon fr 300 Francs einen solchen Mann. Er bat die Familie darum, ihm das Geld zu schicken: „Ich wrde den Rest meines Lebens dafr opfern, um demjenigen zu dienen, der mich aus dieser Sklaverei befreit.“ 3 Aber: Wer kein Geld hatte, der musste zu den Waffen.
Die Napoleonischen Kriege I: „Die glcklichen Jahre“
M it persnlichem Mut, Gespr fr die politische Intrige und einem unersttlichen Machthunger gelang es Napoleon Bonaparte, sich nach den Wirren der Revolution an die Spitze des Staates zu setzen. Im Jahr 1804 krnte sich Napoleon zum Kaiser der Franzosen. Von nun an hatte er uneingeschrnkten Zugriff auf smtliche Ressourcen des Landes: Die Napoleonischen Kriege begannen. Nach dem Scheitern seiner Plne einer Invasion Großbritanniens wandte sich Napoleons Grande Arme im Herbst 1805 gegen die Kontinentalmchte sterreich und Russland. Im Oktober besiegten sich die sterreicher bei Ulm selbst. Im Dezember schlug Napoleon in seiner genialsten Schlacht die sterreicher und Russen bei Austerlitz. Im Jahr 1806 griff auch Preußen wieder zu den Waffen. Im Oktober wurde die preußische Armee bei Jena und Auerstedt weitgehend vernichtet. Reste kmpften zusammen mit den Russen im Februar 1807 bei Eylau, einer blutigen Schlacht ohne Sieger. Im Juni desselben Jahres wurden die Russen bei Friedland geschlagen. Der Zar bat um Frieden. Napoleon beherrschte Zentraleuropa vom Atlantik bis Polen.
Die Wehrpflicht
Dass die Soldaten sich eher aus den rmeren Schichten rekrutierten (wobei stdtische bzw. frhindustrielle Regionen relativ strker betroffen waren als lndliche), hatte positive wie negative Auswirkungen. Fr den Staat war es insgesamt gnstig, wenn Mnner aus „gutem Hause“ ihm in der Verwaltung, Wissenschaft oder Wirtschaft dienten. Fr die Armee jedoch konnte es zu Nachteilen fhren, wenn der Bildungsgrad nur durchschnittlich war. So konnte talentierten Soldaten der Weg nach oben versperrt sein, da sie nicht lesen oder schreiben konnten, die Voraussetzung fr die Befrderung zum Unteroffizier oder gar Offizier. Viele junge Franzosen entzogen sich der Wehrpflicht. War ein junger Mann zum Wehrdienst bestimmt und fand er sich nicht beim Regiment ein, dann galt er als rfractaire (Widerspenstiger). Nach ihm wurde gefahndet. Wurde er gefasst, musste er in der Regel eine Geldstrafe bezahlen und doch noch zum Dienst antreten. Auch die Familie konnte Repressalien ausgesetzt sein. Besonders wirksam war es, bei den Familien von tatschlichen oder potenziellen Deserteuren Soldaten einzuquartieren. So war dem Sohn der Heimweg verwehrt, und auf die Eltern konnte Druck ausgebt werden, damit sie ihn zur Rckkehr unter die Fahnen berredeten. War der Mann bereits Soldat und machte sich dann aus dem Staub, so war er ein Deserteur. Da er zu diesem Zeitpunkt unter Militrstrafrecht stand, waren die Bestrafung und die Repressalien gegenber Familie und Dorfgemeinschaft oft hrter. Desertierte der Soldat whrend eines Feldzuges aus einer Fronteinheit, dann drohte gar die Todesstrafe.
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Die Soldaten des Kaisers
Ausbildung: Rekruten im Dienste des Kaisers
Die Ausbildung der Soldaten, vor allem der Infanteristen, war nach heutigen Maßstben sehr oberflchlich. Ihre Einfhrung in die Welt der Armee erhielten die Rekruten auf dem Marsch von ihrem Heimatort zur Garnison oder zum Lager. Hier wurden sie an Disziplin und Gehorsam gewhnt, aber auch an die krperlichen Herausforderungen des Marschierens oder des Biwakierens im freien Gelnde. Die neue Umgebung und die seelischen und krperlichen Belastungen waren fr viele ein Schockerlebnis und fhrten dazu, dass nicht wenige auf dem Marsch desertierten. Am Ende des Marsches wurden die Neuankmmlinge entweder sofort in Kampfeinheiten eingereiht oder aber in Kasernen und Depots eingekleidet und bewaffnet. Dort fand auch die eigentliche Ausbildung statt. Die Mnner lernten, in Reih und Glied zu marschieren und auf Kommando die Formation zu ndern. Man brachte ihnen bei, wie sie ihre Muskete zu laden hatten oder das Bajonett handhaben mussten. Kasernen und Ausbildungslager waren verhasst. Der Drill, das stumpfe, stundenlange Herummarschieren auf Befehl, dete alle Soldaten an. Viele drckten sich davor. Dem eben erst zur Truppe gekommenen Regimentsmusiker Philippe-Ren Girault etwa war das tgliche Exerzieren zu viel. Er erkundigte sich bei einem Gefreiten (caporal), wie man dem Ganzen entgehen knne. Dieser gab ihm den guten Rat, Girault solle seinem Hauptmann sagen, er habe Halsschmerzen und knne den Kopf nicht drehen: „Ich wurde bis zu meiner Heilung, die allerdings auf sich warten ließ, vom Dienst befreit.“4 Jakob Rhrig gelang es hingegen nicht, sich zu drcken. Da er wie Girault nicht sofort an die Front kam, musste er monatelang exerzieren, was ihm ußerst zuwider war:
Das Regiment
Aber das Exerzieren lernen! O, das verdammte Zeug, dachte ich, das ist ja nur da, um die Leute zu qulen. Denn mit
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geschultertem oder angeschlagenem Gewehr zu stehen, bis alle Fehler verbessert waren, dies hatte seine Flausen und
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war keine Kleinigkeit. So ging es nun von einem Tag zum anderen.5
Dabei waren lange Ausbildungszeiten in der Garnison nur in relativ ruhigen Phasen berhaupt mglich. Weder die revolutionren Armeen noch Napoleon gegen Ende seiner Herrschaft konnten es sich leisten, Soldaten fr viele Monate in Lagern oder Kasernen auszubilden. Die wirkliche Ausbildung zum Soldaten erfolgte daher nicht in den Kasernen, sondern auf den Feldzgen. Und diese „Ausbildung“ dauerte lange. Es heißt, man habe zehn Tage gebraucht, um aus einem Bauern oder Handwerker einen Soldaten zu machen. Aber es habe zehn Jahre gedauert, um aus einem Soldaten einen grognard zu machen: einen kampferprobten, grummelnden, unzufriedenen, schimpfenden, mutigen Veteranen, das Rckgrat der Armee.
Das Regiment: Die Familie des Soldaten
Militrsoziologen haben als Voraussetzung einer funktionierenden, erfolgreichen militrischen Organisation die „Primrgruppe“ ausgemacht. Gemeint sind damit die Kameraden, die den Soldaten als eine Art engere Heimat stets umgaben. Die Primrgruppe war und ist dem Soldaten Familienersatz, und er setzt sich, so die These, fr das Wohlergehen ihrer Angehrigen sehr viel motivierter ein als fr bergeordnete politische Ziele des Staates. In den Erinnerungen der Soldaten der Napoleonischen Epoche spielt diese Primrgruppe allerdings kaum eine Rolle.
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Theoretisch gehrte jeder Soldat der franzsischen Armee einer zehn bis zwlf Mann starken Korporalschaft an. Doch die Mitglieder dieser Gruppe bleiben in den Memoiren eher im Dunkeln. Jakob Rhrig etwa erwhnt immer wieder „Kameraden“. Doch meist nur dann, wenn sie in einer bestimmten Episode eine besondere Rolle gespielt hatten. Danach verschwinden sie wieder und Rhrig erscheint fast durchgngig als Einzelgnger. Die Grnde fr das seltsam verschwommene Bild der Primrgruppe bzw. der Kameraden sind nicht eindeutig zu klren. Der britische Militrhistoriker Paddy Griffith gibt einen Hinweis darauf, weshalb die Primrgruppen in Napoleons Armeen nicht sehr stabil waren. 6 Zwar wurden Rekruten gruppenweise unter Aufsicht erfahrener Soldaten zu den Garnisonen oder an die Front geschickt. Doch dort wurden sie auf die Einheiten verteilt, die Ersatz brauchten. Das heißt, die Gruppe, die sich auf dem oft wochenlangen Marsch gebildet hatte, wurde wieder auseinandergerissen. Dergleichen geschah immer wieder. Hatte eine Einheit Verluste erlitten, dann nahm man Soldaten aus anderen, um sie wieder auf die volle Kopfzahl zu bringen. Daher konnte es geschehen, dass ein Soldat innerhalb seines Regiments stndig von Korporalschaft zu Korporalschaft hin- und herversetzt wurde. Die Soldaten betrachteten daher das Regiment als ihre eigentliche Heimat, ihre militrische „Familie“, und nicht die Korporalschaft, die Kompanie oder das Bataillon. Wurden Kompanien oder Bataillone auch aufgerieben, das Regiment mit seiner ruhmreichen Geschichte blieb bestehen. Soldaten, die vorbergehend von ihrem Regiment getrennt waren, wollten nicht zu ihrer Kompanie zurck, sondern zu ihrem Regiment: „So angenehm auch meine Lage in Sevilla war, so sehnte ich mich dennoch nach einer Wiedervereinigung
Offiziere und Soldaten
mit dem Regimente, das der Soldat als seine Familie anzusehen gewhnt ist“, schreibt der hessische Leutnant Ludwig Venator. 7 Das galt nicht nur fr Offiziere. Auch der Infanterist Jakob Klaus war nach einem achttgigen Hospitalaufenthalt in Spanien enttuscht, als sein 117. Linienregiment inzwischen abmarschiert war. Er kam zunchst zum 103. Regiment, schloss sich einer Abteilung des 115. an und traf schließlich wieder sein 117. Regiment: „Ich war so froh darber, ich glaubte, ich she Vater und Mutter wieder.“8 Auch wenn die Kameraden in der nchsten Umgebung der Soldaten in deren Erinnerungen kaum eine Rolle spielen, so ist doch oft von Freunden und Bekannten die Rede. Die Armeen Napoleons waren groß. Doch nicht so groß, dass man nicht stndig auf vertraute Gesichter stoßen konnte. Jeder der Memoirenschreiber erwhnt irgendwann Kameraden, die ihm mit einem Schluck Schnaps das Leben retteten, die er im Hospital besuchte oder deren Tod er betrauerte. Doch handelt es sich hierbei oft um Bekannte aus der Zeit vor dem Militr; um Nachbarn, Verwandte, Mnner aus der gemeinsamen Heimatstadt oder zumindest der Heimatregion. Gascogner vertrugen sich eher mit Gascognern, Pflzer mit Pflzern, Elssser mit Elsssern, Polen mit Polen als mit den Zufallsbekanntschaften in der eigenen Korporalschaft.
Offiziere und Soldaten
Loyalitt und Anhnglichkeit gab es nicht nur zwischen Landsleuten. Die Offiziersburschen scheinen „ihrem“ Leutnant oder Hauptmann zumeist treu ergeben gewesen zu sein. Allerdings wird solch treue Ergebenheit eher von den deutschen Rheinbundtruppen unter Napoleons Befehl berichtet. Dort waren die Offiziere oft noch Adlige, und die einfachen Soldaten kann-
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Deutschland von Napoleons Gnaden: Der Rheinbund
U nter dem Ansturm der Franzsischen Revolution zerstob das „Heilige Rmische Reich Deutscher Nation“ und mit ihm der territoriale Flickenteppich, zu dem sich Deutschland entwickelt hatte. Napoleon schuf aus vielen kleinen Herrschaften grßere, mchtigere Staaten: so etwa die Knigreiche Wrttemberg, Bayern und Westfalen, die Großherzogtmer Hessen-Darmstadt und Baden und andere. Sie schlossen sich 1806 unter dem Protektorat Frankreichs zum „Rheinbund“ zusammen. Aus heutiger Sicht bedeutete dieser erzwungene, aber berfllige Schritt einen bedeutenden Modernisierungsschub. Doch fr Napoleon waren diese Staaten zunchst nichts anderes als Ausbeutungsobjekte, die vor allem Soldaten und Geld zu seiner Verfgung zu stellen hatten.
ten ihnen gegenber nichts anderes als Unterwerfung und Ehrerbietigkeit. Etwas anders sah es in der franzsischen Armee aus. Zwar wre es falsch, anzunehmen, dass der Adel nach der Revolution vllig aus dem Offizierkorps verschwand. Aber er hatte seine exklusive Stellung verloren. Blaues Blut war nicht mehr die Voraussetzung dafr, Offizier werden zu knnen. Mehr galten nun militrisches Talent und persnlicher Mut. In der Tat gibt es zahlreiche Beispiele dafr, dass in den Armeen des Kaisers aus einfachen Soldaten Offiziere wurden. ber drei Viertel der Truppenoffiziere sollen aus dem Mannschaftsstand aufgestiegen sein. Das Verschwinden der Standesschranken zwischen Soldaten und Offizieren als Folge der Revolution fhrte allerdings zum Aufweichen des starren Gehorsams. Nun, da jeder Soldat, der des Lesens mchtig war, theoretisch Offizier werden
Insubordination und Disziplin
konnte, fhlten sich viele auch dazu berufen. Sie hatten hufig das Gefhl, bessere Fhrer zu sein als die eigenen Vorgesetzten. Offiziere standen nun in der Kritik der eigenen Leute.
Insubordination und Disziplin
Der Militrhistoriker Rory Muir schreibt in seinem Buch Tactics and the Experience of Battle in the Age of Napoleon, dass es wenige Hinweise dafr gebe, dass unbeliebte Offiziere von den eigenen Leuten beschossen worden seien. Seine Vermutung, dass es solche Flle gegeben haben muss, kann er daher nicht belegen. 9 Genau so einen Fall jedoch schildert Jakob Rhrig in seinen Erinnerungen. Es war whrend der Vlkerschlacht von Leipzig. Die Kompanie Rhrigs stand unter starkem Beschuss feindlicher Scharfschtzen mit treffsicheren Gewehren: „Die Kerls schossen so, dass mit jedem Schuss einer [seiner Kameraden] blessiert wurde.“10 Nun erhielt die Kompanie den Befehl, vorzurcken. Kurz darauf kam die Meldung, der Hauptmann sei getroffen. Rhrig eilte zu dem Verwundeten, der ihm zurief: „Je suis bless, et mme par derrire!“ („Ich bin verwundet, und zwar von hinten!“) Die eigenen Leute hatten also die Gelegenheit ergriffen, dem verhassten Offizier in den Rcken zu schießen. Der Hauptmann war gebrtiger Franzose, whrend die Masse des 150. Regiments, dem Rhrig angehrte, Deutsche waren. Der capitaine hatte seine deutschen Untergebenen hufig schlecht behandelt, ja geschlagen. Als er nun hilflos am Boden lag, sollten ihn einige Soldaten auf einer Leiter aus der Frontlinie tragen. Es fanden sich jedoch keine Freiwilligen. Rhrig musste einem Soldaten den Befehl geben, mit Hand anzulegen. Widerwillig folgte der Mann dem Befehl und verschwand mit dem
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schimpfenden franzsischen Hauptmann: „Lieber Sergentmajor [Feldwebel]! Ihnen zum Gefallen will ich es ja tun, aber diesem Saubraten nicht.“ Allerdings kam der Infanterist schon wenig spter zu Rhrig zurck. Auf meine Frage: „Wo ist der Kapitn?“ erhielt ich die
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Antwort: „Drben, hinter dem Dorfe, liegt er im Chausseegraben, der Hundsbraten. Ich hoffe, er wird uns nicht mehr prgeln. Denken Sie sich“, fuhr er fort, „als wir jenseits des Dorfes waren, forderte er vom Bedienten [dem franzsischen Burschen des Hauptmanns] un baton. Ob ich schon nicht viel franzsisch verstehe, so weiß ich doch, dass baton Stock heißt. Er wollte mir also ein paar berhngen [verprgeln], weil ich nicht ordentlich Tritt mit dem anderen hielt […]. Den Bedienten fragte ich: ,Was sagte er?‘ ,O, niske, niske‘, war seine franzsisch-deutsche Antwort. Ich aber bedachte mich kurz und mit dem Worte: ,Ab‘ warf ich meinen Anteil
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Leiter in den Graben und machte schnellen Schritts kehrt.“
Das Fazit Rhrigs: „Hier also ein Beweis, dass die tyrannische Strenge der Herren Offiziere im Kriege nicht durchgeht.“ Von einem hnlichen Fall berichtet der Gardeunteroffizier Adrien Bourgogne. Einem unbeliebten Offizier hatte eine Kanonenkugel das Bein abgerissen. Der tdlich Getroffene flehte die Mnner an, ihn zu erschießen. Doch keiner der Mnner wollte dem verhassten Vorgesetzten diesen letzten Dienst erweisen. Schließlich ttete eine weitere Kanonenkugel den unglcklichen Mann. Diese Episoden sollen nicht belegen, dass Offiziere Freiwild waren. Es kam auf ihr Verhalten an. Waren sie tapfer und frsorglich, dann riskierten die Soldaten ihr Leben fr sie. Die Offiziere wurden jedoch genau beobachtet, und die einfachen Soldaten waren selbstbewusst geworden. Befehl und Gehorsam waren nach wie vor Grundlage militrischer Organisation.
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Aber die Mnner waren nun eher dazu bereit, sich ber Befehle, die sie nicht akzeptierten, hinwegzusetzen. Nach der Schlacht von Wagram (nrdlich von Wien) im Sommer 1809 etwa verbrderten sich franzsische und sterreichische Soldaten und die ganze franzsische Armee war betrunken. Nach dem Gemetzel hatten sich die Mnner in den Weingrten niedergelegt. Nach Elzar Blaze – dessen nchterne, zynische Erinnerungen an seine Dienstzeit als Truppenoffizier zu den realistischsten Memoiren aus Napoleonischer Zeit zhlen – htten einige tausend Feinde die vllig betrunkene Armee vernichten knnen. Dem konnten die Offiziere nicht tatenlos zusehen. Den Mnnern wurde befohlen, die sterreicher, mit denen sie tranken, zu Gefangenen zu machen und deren Waffen zu zerstren. Die Antwort der Mnner: „Halt. Es reicht, Herr Offizier. Sie wollen, dass wir diese guten Freunde ins Gefngnis stecken, diese tapferen Burschen, die uns zu trinken gegeben haben, diese wunderbaren sterreicher, die uns nichts Bses wollen!“ 11 Als der Offizier den Befehl wiederholte, wurden die Mnner deutlich: „Warte mal. Wenn Du nicht augenblicklich verschwindest, dann wirst Du sehen, was wir mit Deinen Befehlen machen!“ Natrlich war Insubordination nicht die Regel. Vor allem die deutschen Kontingente Napoleons neigten selten zu Aufruhr und Meuterei. Der hessische Leutnant Friedrich Peppler erlebte auf dem Rckzug von Moskau, wie franzsische Soldaten „unter grsslichen Verwnschungen“ mit ihren Gewehren auf ihre Generle anlegten. 12 In den deutschen Kontingenten, so zumindest die Einschtzung Pepplers, blieben die Mnner jedoch meist in der Hand ihrer Offiziere. Das beobachtete auch ein Landsmann Pepplers, der Hauptmann Franz Rder, auf dem Marsch nach Moskau. Als seine Einheit in Regen und Klte biwakierte, war er der Einzige,
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der mit den Soldaten im Freien bernachtete. Die anderen Offiziere hatten es sich in Husern bequem gemacht. Whrend die Mnner auf „nassem Gras“ schlafen mussten, verweigerten die Offiziere ihnen das wenige Stroh, das zu finden war. Rders Kommentar: Es berrascht, dass die Mnner es noch immer hinnehmen, von den Offizieren herumkommandiert zu werden. Das
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beruht nicht auf Disziplin, sondern vielmehr auf der Angst vor der Peitsche und dem Respekt, den ein Sklave seinem
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Herrn entgegenbringt. Franzsische Soldaten htten es nicht hingenommen, wenn ihre Offiziere sie so hart behandelt htten, nur um sie zu rgern.13
Aber nicht alle deutschen Kontingente waren frei von Kritik an den jeweiligen Offizieren. Der bayerische Infanterist Deifl, ein Eisenschmelzer aus Neuessing bei Kelheim, wurde zusammen mit einigen Kameraden von seinem Leutnant beim Einsatz gegen Aufstndische in Tirol 1809 im Stich gelassen. Nur mit Mhe gelangten die Mnner zur eigenen Einheit zurck. Sie ließen in den folgenden Tagen den Leutnant wissen, was sie von ihm hielten: Der Leutnant Braun musste aber gar vieles hren von denen Soldaten. Wenn er an unserer Kompanie vorbei kommt, dann heißt es: „Wer hat den ersten Zug versoffen [ein ganzer
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Zug, ca. 40 Mann, war in Gefangenschaft geraten, weil der Leutnant den Befehl zum Rckzug nicht weitergegeben hatte]? Der Leutnant Braun, Brrraun, Brrraun“, denn er hatte eine solche gereschte [barsche] Sprache, und er litt es ohne Zucken. 14
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Der große Motivator?
Der große Motivator?
Die Soldaten des Ancien Rgime brauchte man nicht eigens zu motivieren. Sie waren Sldner, es war ihr Beruf, sich der Gefahr auszusetzen. Das reichte bei Brgersoldaten nicht mehr aus. Auch wenn hier ein großer Anteil an Revolutionsmystik mitschwingt, so waren doch viele Soldaten der Revolutionskriege dadurch motiviert, dass sie fr die neuen Ideale kmpften: fr Freiheit, Gleichheit, Brderlichkeit, fr die Herrschaft des Volkes gegen die Tyrannei. Jean-Roch Coignet, der es vom Schafhirten bis zum Gardehauptmann brachte, erzhlt, dass whrend seiner Ausbildung jeden dcadi (im revolutionren Kalender anstelle des christlichen Sonntags gesetzt, allerdings nicht jeden siebten, sondern jeden zehnten Tag) die Soldaten zum Freiheitsbaum befohlen wurden. Dort schrie alles „Es lebe die Republik“, die Offiziere zogen ihre Sbel, die Kirchenglocken luteten, und die Mnner mussten „les aristocrates la lanterne“ („hngt die Adligen an die Laternen“) singen. Diese Indoktrination war durchaus erfolgreich. Die Briefe der einfachen Soldaten der Revolutionskriege geben hufig eine Mischung aus Stolz auf die Republik, Angst um das revolutionre Vaterland und Hass auf die Feinde wieder. Doch nach und nach schwand der revolutionre Elan als Motivation. Zwar blieben Freiheit, Gleichheit, Brderlichkeit auch das Motto der Nation, nachdem Napoleon sich im Dezember 1804 zum Kaiser der Franzosen gemacht hatte. Doch kmpften seine Soldaten nicht mehr fr die Verbreitung dieser Ideale. Letztendlich kmpften sie fr die Macht Frankreichs, einer Nation, die jetzt Grenzpfhle und Knige exportierte und nicht mehr Ideen. Und sie kmpften, bewusst oder unbewusst, fr die Machtgelste Napoleons. Fr viele Soldaten war es l’Empereur, der sie motivierte. Das Gefhl, einer un-
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bezwingbaren Armee unter einem militrischen Genie anzugehren, machte die Mnner stolz und bereit, sich ins Feuer zu strzen. So zumindest das gngige Klischee. Doch stimmt dieses Klischee? Der „kleine Korporal“, so Napoleons Spitzname bei den Soldaten, war in der Tat noch Jahrzehnte nach seinem Tod das Idol vieler Soldaten, die unter ihm gedient hatten. Jakob Rhrig etwa erinnerte sich, sein Herz habe nach seiner Rckkehr aus dem Feld nicht an Frankreich gehangen, sondern am Kaiser. Und der einfache Kanonier Wesemann, ein Schafmeister aus Shlde in Westfalen, wurde regelrecht bse, wenn nach Napoleons Niederlage Spottlieder auf den Kaiser gesungen wurden. Napoleon war ein Meister darin, die Mnner zu motivieren. Fr viele Soldaten gab es nichts Ehrenhafteres, als den Kaiser zu sehen, von ihm erkannt, gelobt zu werden. Napoleon nutzte dies weidlich aus. Am Abend einer Schlacht ließ er Soldaten zu sich kommen, die besonders tapfer gewesen waren. Oft erhielten sie Geldgeschenke, das Kreuz der Ehrenlegion oder die Aussicht auf Befrderung. Er sprach sie mit ihrem Namen an, den er sich vom jeweiligen Regimentschef hatte nennen lassen. Und er kniff sie – besonderes Zeichen großer Huld – anerkennend ins Ohr. Dem spteren Gardehauptmann Jean-Roch Coignet wurde eine solche Ehrung vom noch jungen, feurigen Napoleon nach der Schlacht von Montebello (im Jahr 1800 in Norditalien) zuteil. Coignet hatte in seinem ersten Gefecht eine Kanone erobert, seinem Hauptmann das Leben gerettet und noch drei sterreicher gettet. Auf Wunsch des Generals Berthier, des unentbehrlichen Chefs des Stabes Napoleons, wurde Coignet dem Korsen vorgestellt, zu diesem Zeitpunkt noch Erster Konsul.
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Im Jahr 1802 stiftete Napoleon die Ehrenlegion. In ihr Mitglied zu sein und den entsprechenden Orden tragen zu drfen, motivierte viele Soldaten, vom einfachen Rekruten bis zum General.
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Der Konsul trat auf mich zu und kniff mich ins Ohr. Ich
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dachte, er wolle mich ausschimpfen, aber ganz im Gegenteil, er war sehr freundlich; und whrend er mich noch immer am Ohr festhielt, sagte er: „Wie lange dienst Du schon?“ „Dies ist meine erste Schlacht.“ „Ah, tatschlich, das ist ein guter Anfang. Berthier, merke ihn vor fr eine Ehren-Waffe [unter der Republik verliehene Auszeichnung fr besondere Tapferkeit]. Du bist zu jung, um in meiner Garde zu dienen; dafr muss man vier Feldzge mitgemacht haben. Berthier, notiere diesen Mann […]. Du kannst jetzt gehen“, sagte er
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zu mir, „aber eines Tages wirst Du in meiner Garde sein.“15
Solche Geschichten sprachen sich herum. Und so glaubten die Soldaten oft wirklich, dass den Kaiser ihr Wohlergehen, ihr persnliches Schicksal interessierte. Doch abgesehen von einigen Mnnern seiner Alten Garde oder hohen Offizieren, die ihn seit Beginn seiner Militrkarriere begleitet hatten, war dies meist nicht der Fall. Napoleon mag gute Eigenschaften gehabt haben. Mitgefhl und Menschlichkeit gehrten nicht dazu. Sie wren ihm, der seine Ziele nur dadurch erreichen konnte, dass er Menschen opferte, auch kaum ntzlich gewesen. So waren seine großen Gesten letztlich oft hohl und berechnend. Etwa die lgion d’honneur, die Ehrenlegion, deren Mitgliedschaft – sichtbar am croix, dem auf der Brust getragenen Orden in Kreuzform – manche Soldaten mehr begehrten als Geld oder Befrderung. Napoleon selbst bezeichnete den Orden als hochet, als Firlefanz. Mit solchem „Firlefanz“ baute der Kaiser einen Kult um seine Person, dessen Zauber nicht wenige erlagen. Nicht jeder Soldat ließ sich jedoch von Orden, Adlern und Frankreichs Ruhm blenden. Jakob Rhrig schildert in seinen Erinnerungen die Verleihung des Adlers an sein 150. Linien-
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regiment im Frhjahr 1813, nach der Schlacht von Mckern (bei Magdeburg). Was in den Erinnerungen anderer Soldaten und ihnen folgend in der Napoleon verherrlichenden Literatur oft als heilige Handlung erscheint, entpuppt sich hier fast als Schmierenkomdie: Auf diesem Felde kam der Kaiser zu uns, ließ das Regiment
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in einen Zirkel um sich schwenken und hielt eine lange Rede. Nach ihr enthllte er eine reich mit Gold gestickte [sic!] Fahne, die mit dem kaiserlichen Wappen und unserer Regimentsnummer 150 und obendrauf mit einem bergoldeten Adler versehen war, und berreichte sie mit den kaiserlichen Hnden unserem Obersten. In seiner Rede sagte er unter anderem, wie wir uns jederzeit in Gefahr um diese Fahne versammeln sollten und sie nicht eher verlassen drften, bis sie von unserem Blut getrnkt sei. Was er weiter sagte, ist mir entfallen, auch habe ich nicht alles verstanden. Als er geendet, erhob er die Rechte, was er auch uns zu tun befahl. Dabei sollten wir ausrufen: „Je le jure“, zu deutsch: „Ich schwre es!“ Da rief nun einer: „Gib uns Brot!“, der andere: „Gib uns Schuhe!“, weil in diesen Artikeln Mangel
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war. Ich aber rief: „Je le jure!“ 16
Die Soldaten des Jahres 1813 waren andere als die der Feldzge in Italien, gypten oder der Jahre 1805/1806. Vor allem die deutschen Untertanen der grande nation hatten genug von der Jagd nach Ruhm. Das 150. Regiment (das dem Kaiser nicht richtig hatte zuhren wollen) trat im August 1813 mit 78 Offizieren und 2727 Soldaten den Feldzug in Schlesien an. Es hatte am 1. November 1813 eine Kopfstrke von 22 Offizieren und 254 Mann.17 Die Mehrzahl der 2500 Mnner, die nicht mehr bei der Truppe waren, drfte dabei nicht die Fahne mit ihrem Blut getrnkt haben, sondern schlicht bergelaufen sein.
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Die Adler
I m Jahr 1804 beendete Napoleon ein wildes Durcheinander an Regimentsfahnen und Standarten. Ein Standardmodell wurde eingefhrt: die Trikolore blau-weiß-rot mit 81 Zentimeter Kantenlnge. Den Abschluss des Schaftes bildete ein 20 Zentimeter hoher Adler mit ausgebreiteten Flgeln. Die Mnner nannten ihn respektlos „Kuckuck“. Die Standarte trug die Inschrift: „Der Kaiser der Franzosen an das … Regiment“, spter ergnzt durch die Schlachten, an denen das Regiment teilgenommen hatte. Neuaufgestellte Einheiten mussten sich ihren Adler durch Tapferkeit auf dem Schlachtfeld erkmpfen. Der Adler war nicht mehr nur sichtbarer Sammelpunkt in der Schlacht, sondern nationales Symbol. Die Soldaten sollten ihn bis zum Letzten verteidigen. Nichts war demtigender fr ein Regiment, als den Adler an den Feind zu verlieren.
Dass vieles, was der Napoleon-Mythos an Bildern transportiert, nachtrglicher Verklrung entstammt und nicht der Realitt jener Jahre, unterstreichen selbst franzsische Augenzeugen und Historiker. Elzar Blaze etwa besttigt zwar, dass die Anwesenheit Napoleons die Moral der Mnner verdoppelt habe. Er galt als guter General, dessen Dispositionen fr die Schlacht den eigenen Armeen stets einen beruhigenden Vorteil gegeben htten. Andererseits htten die Soldaten – so Blaze, der als Absolvent der Kriegsschule seine Umgebung kritisch beobachtete – nicht fr den Kaiser gekmpft, sondern fr Frankreich. Sie htten ebenso fr Louis XVIII. gekmpft, der nach Napoleons Sturz den Knigsthron bestieg, so lange es gegen die Russen, die Preußen und die sterreicher gegangen wre. Das vive l’empereur, „Es lebe der Kaiser“, habe er, Blaze, auf den Schlachtfeldern nur selten gehrt. Und wenn, dann sei es
Der große Motivator?
befohlen worden. Die Soldaten htten von Heimkehr und Frieden getrumt, nicht von Schlachten, Feldzgen und Biwaks. Dass Blazes nchterne Erinnerungen eines Offiziers der Großen Armee der Wirklichkeit nahe kamen, besttigt der franzsische Historiker Pierre Charri. In seinem Buch Lettres de Guerres, 1792–1815 hat er ber 400 Briefe franzsischer Soldaten jener Jahre auszugsweise verffentlicht. Sein Fazit: Der Kaiser spielte in den Briefen so gut wie keine Rolle. Und wenn, dann nur als weit entfernte Autoritt. Die Frage, ob die Mnner fr den Kaiser sterben wollten, verneint Charri. Wenn der Kaiser dennoch zum Idol vieler Soldaten wurde, so geschah dies oft aus der zeitlichen Distanz zum Erlebten heraus, im verklrten Rckblick. Von den Millionen von Soldaten haben nur wenige ihre Erinnerungen niedergeschrieben. Und wenn, so nicht selten aus dem Gefhl des Stolzes heraus, Teil einer scheinbar unbezwinglichen Militrmacht gewesen zu sein, an deren Spitze Napoleon einst gestanden hatte. Die Bedrckungen des Alltags, die sich in den Briefen der Kriegszeit eher spiegeln als in den Memoiren, waren nach Jahren und Jahrzehnten weitgehend vergessen. So wurde Napoleon erst nach dem Krieg zum Abgott der Soldaten, die oftmals ihr ziviles Leben als wenig prickelnd empfanden, verglichen mit ihrer Dienstzeit in der Grande Arme.
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Unterwegs: Auf dem Marsch und im Quartier
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ie Erfolge Napoleons als Feldherr hatten mehrere Grnde. Nicht der Geringste war die Geschwindig-
keit, mit der sich seine Armeen bewegten. Dazu Elzar Blaze: „Wir marschierten nach rechts, wir marschierten nach links, vorwrts, manchmal zurck, wir marschierten immer.“ 1 Die Franzosen galten als die schnellsten und belastbarsten Marschierer der Epoche. Ungehalten wurden sie freilich, wenn der Sinn des Marschierens nicht darin bestand, einen militrischen Vorteil zu erreichen. Blaze nennt in seinen souvenirs zwei Beispiele. Nach dem Feldzug von 1809, in dem Napoleons Armee, wenn auch mit Mhe, sterreich niederwarf, war sein Regiment in der Nhe von Passau einquartiert, in den Bergen um die Stadt, in sechs Fuß tiefem Schnee. Eines Tages kam der Befehl, dass sich die Armee in Passau zu versammeln hatte, um nach Braunau zu marschieren. Da inzwischen Tauwetter eingesetzt hatte, war der Marsch unendlich mhsam. Umso wtender waren die Soldaten, als sie feststellen mussten, dass sie sich umsonst verausgabt hatten. Man hatte sie nur abkommandiert, um die Ankunft von Napoleons zuknftiger Frau Marie-Louise, der Tochter des sterreichischen Kaisers, in Braunau wrdig zu umrahmen. Ganz anders bewertete Blaze den Marsch des III. Korps von Wien auf das Schlachtfeld von Austerlitz im Dezember 1805.
Auf dem Marsch und im Quartier
Fast 160 Kilometer legte das Korps in 36 Stunden zurck und trug zum berragenden Sieg der franzsischen Armee bei. Hier, so Blaze, hatte sich die Tortur gelohnt. Am unbeliebtesten waren Nachtmrsche; manche Soldaten schliefen buchstblich im Gehen. Mitunter trugen die Mnner Fackeln. Der lustig der Kompanie, der unverwstliche Stimmungsmacher, sang romantische Lieder, in deren Refrain die Soldaten einfielen. Auf dem Marsch erhielten die Soldaten alle Stunde eine Pause von fnf Minuten, die halte de pipe, die Rauchpause. Um die Mittagszeit herum wurde eine volle Stunde pausiert, und man aß, was man gerade zur Hand hatte. Das war meist nur das, was man unterwegs hatte aufklauben knnen. Denn das Tempo der Marschierer fhrte dazu, dass die Versorgungskolonnen sehr rasch jeden Kontakt zur Truppe verloren. Die Folge war, wie viele der Soldaten berichten, dass Mnner manchmal aus Erschpfung, vor Durst und Hunger tot am Wegesrand zusammenbrachen. Auch setzten nicht wenige ihrem Leben ein Ende, weil sie die unmenschlichen Strapazen der Gewaltmrsche ohne ausreichende Versorgung nicht mehr ertragen konnten. „Die folgenden Tage fhrten uns in bitteren Mrschen durch eisige Gewsser und ber die steilen Hhen von Guyangos, und am 18. November [1808] erreichten unsere Truppen endlich Reynosa am Ebro“, so die Erinnerung des whrend dieser Mrsche auf dem spanischen Kriegsschauplatz von Fieber geschwchten badischen Leutnants Holzing. „Meine Krfte waren erschpft und ich kmpfte oft einen bsen Streit in mir gegen die Versuchung, diese unertrglich gewordenen Leiden durch eine Kugel vor den Kopf zu enden.“ 2 Nur die Scham darber, nicht bis zum Letzten durchgehalten zu haben, hielt den vllig Erschpften vom Selbstmord ab.
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Unterwegs
bernachten unterm Himmelszelt
Whrend des Feldzuges endete der Marsch gewhnlich im abendlichen Biwak unter freiem Himmel. Das war im Sommer und bei trockenem Wetter kein großes Problem. Im Winter oder bei Regen jedoch brauchte man eine gute Konstitution, um solche Tage gesund zu berstehen. Aber die Soldaten waren es gewhnt, aus dem, was sie vorfanden, aus Zweigen, Laub, Holz oder Stroh, Unterstnde zu bauen. Waren noch nicht einmal diese minimalen Voraussetzungen fr eine Htte vorhanden, dann blieb nichts anderes brig, als es sich an einem Lagerfeuer so bequem wie mglich zu machen. Wie alte Kmpen wussten, war die wichtigste Voraussetzung fr das bernachten im Freien, nicht direkt auf dem Boden zu liegen. Auf der Erde musste zunchst eine Schicht aus Laub, Zweigen, Stroh, Gras oder Getreidehalmen ausgebreitet werden. Darauf kam die Decke, die jeder Soldat mit sich fhrte, und auf diese legte er sich. Er war in seinen Mantel gehllt, wobei er hufig die Beine in die rmel steckte, den Mantel ber dem Leib zuknpfte und so eine Art Schlafsack erhielt. Manche hatten auch eigens aus Leintchern gefertigte Schlafscke. Der Kopf ruhte auf dem Tornister, was nicht nur der Bequemlichkeit diente, sondern auch das Eigentum vor Diebstahl schtzte. Die Uniform behielten die Mnner an, denn der Feind war meist nahe und ein Angriff jederzeit zu gewrtigen. Es gab einen einfachen Grund dafr, die Truppen auch bei schlechtem Wetter biwakieren zu lassen: Htte man die Soldaten in warme Huser einquartiert, womglich auf mehrere Drfer verteilt, dann htte man bei einem berraschungsangriff die Einheiten mhsam zusammentrommeln mssen, und die Hlfte der Mnner wre nur drftig bekleidet gewesen.
Hygiene und andere menschliche Bedrfnisse
Das dauernde Biwakieren machte die Soldaten oft krank. Die hessischen Truppen auf dem iberischen Kriegsschauplatz etwa litten nicht wenig: „Auf den Durango umgebenden Hhen wurden Biwaks bezogen. Der andauernde Regen und das bernachten im Freien erzeugte vielfltig den Durchfall bei den Leuten, und es war ihnen unmglich, sich trocken und gehrig rein zu halten.“ 3
Hygiene und andere menschliche Bedrfnisse
Als im Jahr 1863 Truppen der Sdstaaten im Amerikanischen Brgerkrieg nach Norden marschierten, behauptete eine feinfhlige Lady, man habe die Rebellen-Armee schon riechen knnen, bevor man sie gesehen habe. Das mag etwas bertrieben gewesen sein. Doch auch in Napoleons Armeen war es – vor allem whrend eines Feldzuges – schwierig, ein Minimum an Krperpflege und Hygiene aufrechtzuerhalten. Sich tglich zu waschen, zu rasieren, gar die Leibwsche zu wechseln, war kaum mglich. Der Leutnant Franz Joseph Hausmann vom 7. bayerischen Infanterieregiment schrieb seinen Eltern Ende Oktober 1812, seit 16 Tagen habe keiner in seiner Einheit Gelegenheit gehabt, die Kleider abzulegen. 4 Hausmann legte großen Wert auf Krperpflege. Im Juli 1812 bewohnte er eine Strohhtte in einem Lager im russisch-polnischen Grenzgebiet. Dabei schtzte er es besonders, ein „Boudoir“ zu haben, in dem er sich ungestrt und ungesehen umziehen und waschen konnte. Zur Krperpflege gehrte auch, die Kleidung sauber und intakt zu halten. Hausmann war froh, dass er als Sohn eines Unteroffiziers in der Jugend von der Mutter gelernt hatte, Socken zu stopfen. Dass den Mnnern die Krperpflege keineswegs gleichgltig war, zeigt auch eine Bemerkung des hessischen Leutnants
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Unterwegs
Die Napoleonischen Kriege II: Stillstand
I m Jahr 1808 brach der Krieg in Spanien aus. Die franzsische Armee kmpfte gegen regulre spanische, portugiesische und britische Truppen und Guerillagruppen, die sie nicht besiegen konnte. Der Krieg auf der Iberischen Halbinsel zog sich bis 1814 hin und bedeutete fr Frankreich einen unersetzlichen Aderlass. Der Kaiser selbst war nur kurz in Spanien. Im Jahr 1809 erhoben sich die sterreicher erneut gegen die franzsische Vorherrschaft. Bei Aspern-Essling nrdlich von Wien wurde Napoleons Arme d’Allemagne im Mai 1809 um ein Haar geschlagen. Zwei Monate spter gelang es ihm in der Schlacht bei Wagram, die sterreicher nochmals zu besiegen. Fr drei Jahre war der Frieden in Mitteleuropa gesichert.
Peppler in seinen Erinnerungen an die Gefangenschaft in Russland. Auf dem Rckzug der Grande Arme habe man trotz der Unmengen an Schnee stets an Wassermangel gelitten: „Wasser war nirgends vorhanden. Ein Umstand, der auch die Reinigung des Krpers unmglich machte, was den Gesichtern ein abscheuerregendes Ansehen [sic!] gab.“ 5 Dem Rasieren kam eine besondere Bedeutung zu. Es scheint zum Ehrenkodex der Mnner gehrt zu haben, sich vor einer Schlacht zu rasieren und auch sonst ihr ußeres soweit mglich in Ordnung zu bringen. Man wollte dem Feind nicht verwahrlost entgegentreten. Am Vorabend der Schlacht von Eylau (Februar 1807) rasierte der Gardist Coignet ein Dutzend seiner Kameraden, „die es am ntigsten hatten“. 6 Das geschah in Sichtweite Napoleons und sehr zum Vergngen des Kaisers. In den Berichten der Soldaten wird selten auf die Verrichtung der Notdurft eingegangen. In den Quartieren hielt man
Hygiene und andere menschliche Bedrfnisse
Franzsische Truppen im Biwak. Vor improvisierten Htten werden Waffen gereinigt, Krperpflege wird betrieben und exerziert.
sich an die rtlichen Gepflogenheiten, im Lager gab es Latrinen, und auf dem Marsch und im Biwak war jeder Ort geeignet, sich zu erleichtern. Schwierig wurde es whrend der Schlacht. Nur aus triftigem Grund durfte man Reih und Glied verlassen. Das Austreten gehrte nicht unbedingt dazu. Oft musste man stundenlang an Ort und Stelle stehen bleiben. Wenn man bedenkt, dass die Soldaten hufig an Durchfall litten, dann kann man sich die damit verbundenen Probleme leicht vorstellen. Ein junger Adjutant, Leutnant Louis Planat de la Faye, litt whrend der Schlacht bei Borodino an akuter Diarrh: Im Laufe dieses Tages erlitt ich die schlimmsten Qualen, die man sich denken kann, weil ich weder meinen Posten
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verlassen noch vom Pferd steigen wollte. Ich wage nicht, zu beschreiben, auf welche Weise ich das los wurde, was mich so qulte, aber ich verlor dabei zwei Taschentcher, die ich diskret in die Laufgrben der Befestigungen warf, die wir passierten. 7
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Wer sich nach hinten begab, um sich zu erleichtern, geriet leicht in den Verdacht, sich ganz verdrcken zu wollen. Manche traten daher nach vorne aus dem Glied, um ihre Notdurft zu verrichten. Das konnte allerdings gefhrlich werden. In einem Gefecht in der Nhe von denburg in Ungarn, im Sommer 1809, wurde ein Kavallerieoffizier von einer Kanonenkugel gettet: Nachdem das Gefecht schon fast beendet war, stieg Rittmeister Capitant vom Pferd, um sich zu erleichtern. „Er stand da, mit gespreizten Beinen und in Richtung auf den Feind, um einem natrlichen Bedrfnis nachzugeben“, wie ein Augenzeuge berichtet.8 Die noch im Sattel sitzenden Reiter sahen pltzlich eine Kanonenkugel, die genau auf den Rittmeister zuflog. Sie riefen Capitant eine Warnung zu. Instinktiv brachte der die Beine zusammen. Im nchsten Moment wurden sie ihm von der Kanonenkugel zerschmettert, die eigentlich zwischen den gespreizten Beinen hindurchgegangen wre. Einige Augenblicke spter war der Rittmeister tot. Nicht ganz so fatal ging es fr den westflischen Leutnant Wachsmuth im russischen Winter aus. Auf der Flucht vor Kosaken bermannte auch ihn ein menschliches Bedrfnis: Eine hchst malerische Scene! Ich – am Boden hockend, und jene wilden Krieger zornig, mit funkelnden Augen und den
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auf mich gerichteten Lanzen. Ein so komischer Auftritt, dass ich, indem ich meine Kleider wieder in Ordnung brachte, mehrere Male laut auflachen musste; und die Kosaken lachten nun herzlich mit und ließen die Lanzen sinken. 9
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Im Lager
Im Lager
Lager waren eine Art Zwischending zwischen Biwak und Einquartierung. Sie wurden errichtet, wenn die Feindseligkeiten ruhten, aber der Friede noch nicht geschlossen war. Es wurden Baracken gebaut, aus Stroh oder Holz, das man aus umliegenden Drfern und Stdten zusammentrug. Zelte waren in Napoleons Armeen unbekannt. Whrend der Revolutionskriege hatte man sie abgeschafft, weil ihr Transport den Tross zu sehr belastete. Die Baracken eines Lagers waren genau ausgerichtet, sodass regelrechte Straßen entstanden. Jede Kompanie erbaute sechs Baracken, die je nach Lust und Laune der Mnner ausgeschmckt wurden. Hinter den Kompaniebaracken befanden sich diejenigen fr die Kche und die Offiziere. Ein Lager hatte denselben Vorteil wie das Biwak: Die Truppen waren beisammen und nicht auf Quartiere verstreut. So konnte man aus dem Stand kampfbereite Einheiten ins Feld stellen. Die Stimmung im Lager war allerdings weitaus besser als die im Biwak. Man hatte leichten Dienst und viel Muße. Die Marketenderinnen, die cantinires, schlugen ihre Buden auf, die man hochtrabend als Cafs bezeichnete und wo man sich beim Plaudern, Spielen, Rauchen und Trinken die Zeit vertrieb. Man hatte auch reichlich Zeit, an die Heimat zu denken. Die Post wurde verteilt, und die Soldaten schrieben selbst Briefe, die sie in eigens in den Lagern aufgestellte Briefksten werfen konnten. Da keine Kmpfe zu befrchten waren, gab es auch regelrechte Feste, so etwa, wenn der Kaiser Geburtstag hatte, am 15. August. Jakob Rhrig hat ein Lager und das Fest zu Napoleons Geburtstag im Sommer 1813, als zwischen Frankreich und seinen Gegnern Preußen und Russland Waffenstillstand herrschte, beschrieben:
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Das Lager wurde, als der Waffenstillstand abgeschlossen
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war, in einer mit Korn bepflanzten Ebene […] errichtet. Die der Reife nahen Kornhalme wurden abgemht und der Boden schn geebnet, sodass man keine Furche mehr gewahrte. Die Baracken wurden mit Stroh […] dick wie unsere Strohdcher [im heimatlichen Hunsrck], ja wohl noch dicker gedeckt, und standen in drei schnurgeraden Linien, zwischen welchen ein Raum von sechs Fuß [ca. 1,50 Meter] war. Zwischen den einzelnen Baracken war querdurch ein Fußpfad von drei und zwischen jeder Kompanie ein Raum von zwlf Fuß breit. […] Ungefhr 15 Schritte hinter den Baracken waren die Kchen zwei bis drei Fuß tief in den Boden eingegraben. […] Hinter jeder Kompanie war die Offiziersbaracke. Vor der Front des Lagers, 60 bis 70 Fuß Entfernung [sic!], war eine Allee von abgehauenen, 30 Fuß hohen Fichten eingesetzt. Vor jedem Regiment war in dieser Allee ein Rondell, worin Bnke angebracht waren, errichtet. Der Raum zwischen den Baracken und der Allee wurde alle Morgen gekehrt und darauf exerziert und manvriert. So verlebten wir nun in diesem Lager bis zum halben August
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[sic!] herrliche Tage; wir hatten nmlich zu essen. 10
Das frhliche Leben im Lager hatte nicht allzu lange Bestand. Das Ende des Waffenstillstandes nahte, und da an Napoleons Geburtstag im Jahr 1813 die Feindseligkeiten bereits begonnen haben wrden, zog man die Feierlichkeiten anlsslich des Ehrentages des Kaisers vor. Dazu wurde den Soldaten zunchst ein „glnzendes Essen mit Bier dazu“ gereicht. Die Regimentskapellen spielten, und die Dorfbewohner strmten herbei, darunter „auch Mdchen genug“, und es wurde gejubelt und getanzt und, so Rhrig, alles Ungemach war vergessen.
Kasernen und Quartiere
Nach dem Tanz fand ein Maiklettern statt. Dazu wurden an der Spitze einer zwlf Meter hohen Fichte eine Uhr und einige Taschentcher angebracht, die sich mutige Kletterer verdienen konnten. Schließlich gelang es einem der Soldaten, diese Preise zu ergattern. Rhrig ging dabei leer aus; mehr als einen Meter hatten ihn seine Kletterknste nicht ber den Erdboden befrdert. Es folgte ein „Hahnenhauen“, bei dem ein lebender Hahn mit zusammengebundenen Fßen kopfber an einer Schnur hing. Die Matadore mussten nun mit verbundenen Augen und nachdem man sie mehrfach im Kreis gedreht hatte, versuchen, diese Schnur mit dem Sbel durchzuhauen. „Da gab es nun etwas zum Totlachen, denn man glaubte, die Kordel zu treffen, war aber, weil man es gewhnlich im Umdrehen versehen, ganz weit weg vom Hahn gegangen, manchmal in entgegengesetzter Richtung, und strich dann 18 Schritte vom Hahn entfernt mit dem Sbel durch die Luft.“11 Den Abschluss der Geburtstagsfeier bildete eine Illumination, wobei Fichten mit Stroh umwickelt und angezndet wurden. Ein donnerndes „Vive l’Empereur“ – „Es lebe der Kaiser!“ und „Vive l’arme fran aise“ – „Es lebe die franzsische Armee“ beschlossen den Abend.
Kasernen und Quartiere
Im Lager und im Biwak mussten die Truppen nur whrend eines Feldzuges bernachten. Weit weg von der Front oder in Friedenszeiten kamen sie ins Quartier. Einquartiert wurden die Soldaten zumeist in Brgerhusern, seltener in Kasernen. Kasernen waren nicht sehr beliebt, da sie meist schlecht ausgestattet waren und sich die Soldaten zudem unter der laufenden Kontrolle ihrer Vorgesetzten befanden. Eintniger Wachdienst und
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Unterwegs
sinnloser Drill waren die Folge. Wie der angehende Kavallerist Charles Parquin entsetzt feststellte, mussten sich in den Kasernen zudem oft zwei Soldaten ein Bett teilen. Weitaus begehrter war das Brgerquartier. Feste Quartiere in einem reichen Land mit freundlichen Brgern schtzten die Soldaten als besonders angenehm. Denn anders als im kalten Biwak oder in den eintnigen Kasernen gab es selten Dienst, dafr viel Muße, warme Stuben und ausreichende und regelmßige Verpflegung. Die Soldaten beschreiben in ihren Erinnerungen Quartiere der unterschiedlichsten Art. Manche wurden aufgenommen wie eigene Shne. Andere bekamen kaum etwas zu essen oder mussten in Rumen schlafen, die fr Vieh nicht geeignet waren. Elzar Blaze weist in seinen Erinnerungen darauf hin, dass die Belastung fr die Deutschen durch den Durchmarsch von Napoleons Armeen groß war; man sei in Deutschland nicht gern gesehen gewesen. Doch: „Man frchtete uns in der Masse, der einzelne Soldat jedoch wurde geliebt.“12 Die Deutschen htten den offenen, ehrlichen und freien Charakter der Franzosen geschtzt. Nicht selten habe man sich mit den Quartiergebern auf Anhieb so gut verstanden, als sei man seit zehn Jahren miteinander bekannt gewesen. Auch Jean-Roch Coignet lobt die Deutschen. Whrend die Polen unmenschlich handelten, indem sie aus ihren Behausungen flohen und alles Essbare versteckten, seien die Deutschen immer brav in ihren Husern geblieben, wenn Armeen einmarschierten: „Hurra fr die Deutschen, die sich stets in ihr Schicksal ergaben und nie ihr Heim im Stich ließen!“ 13 Hufig berichten die Soldaten von sehr angenehmen Tagen und Wochen bei Bauern und Brgern. Der schwbische Infanterist Jakob Walter etwa war 1809 in Vorarlberg eingesetzt. Dort kmpften die Wrttemberger gegen Aufstndische,
Kasernen und Quartiere
die die bayerische Herrschaft abschtteln und wieder zu sterreich zurck wollten. Bei diesen Kmpfen wurde auch die Stadt Bregenz am Bodensee eingenommen und geplndert. Nach diesem Exzess wurden die Soldaten in Brgerquartiere gelegt, wo es sich aushalten ließ: Ich lag gegen drei Wochen daselbst [in Bregenz] bei einem
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Kaminfeger mit noch neun Mann, und alles hatten wir, als [da wren] Wein und Kirschenwasser, was ein jeder trinken konnte, nach Verfluss [von] drei Wochen wurde mein Regiment verlegt nach Dornbirn […], in diesem Flecken kam ich zu einem Krschner, welcher Mann noch bei den Insurgenten war [d. h. der Hausherr war mit den Aufstndischen gegen die Bayern gezogen], die Frau hatte ein kleines Kind, ungefhr ein drei viertel Jahr alt, dieses Kind hatte eine sonderliche [besondere] Schnheit, womit ich auch
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meine Freude hatte.14
Dennoch: Nicht immer waren Brger und Soldaten ein Herz und eine Seele. Als Jakob Rhrig im Frhjahr 1813 auf den Kriegsschauplatz in Deutschland marschierte, sprte er, wie sehr die Menschen der ewigen Einquartierungen berdrssig waren. So hrte er einmal, wie seine Quartiergeberin auf die Frage einer Nachbarin, ob die Soldaten denn mit dem Abendessen aus Milchsuppe und Kartoffeln zufrieden sein wrden, antwortete: „Wenn es ihnen nicht schmeckt, knnen sie es stehen lassen. Frßen sie sich nur den Tod in den Leib.“ 15 Die Frau musste fr ihren unfrommen Wunsch bitter bßen. Die Soldaten forderten Bier und Fleisch, und einer zchtigte sie mit dem flachen Sbel. Auch der Ehemann erhielt eine Tracht Prgel. Die reichte er an seine Gattin weiter, als die Soldaten ihm erzhlten, dass sie den Einquartierten den Tod gewnscht hatte.
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Unterwegs
[Der Ehemann] gab nun gute Worte und entschuldigte sich
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damit, dass er ja doch nichts dafr knne, und dass wir auch wissen wrden, wie unbesonnen Weiber, besonders mit dem
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Maule, wren. Er holte einen Schnaps und […] auf Befehl des Mannes musste die Frau noch zwei Pfannen Eier backen.
Um die Quartiergeber schon im Vorhinein gefgig zu machen, spielten die Soldaten gern eine einstudierte Komdie. Einer der Soldaten gab dabei beim Betreten des Quartiers den Wahnsinnigen, der tobte und schrie und die braven Brger mit dem Sbel bedrohte. Seine Kameraden hingegen beruhigten die entsetzten Zivilisten: Der tobschtige Soldat sei im Grunde der liebenswrdigste Mensch der Welt. Allerdings nur dann, wenn man ihm gutes Brot und sßen Wein reichte, wie berhaupt alles, was ein Krieger zum Wohlfhlen bentigte. Die bestmgliche Versorgung aller Einquartierten war nach dieser Komdie in der Regel garantiert. Das Zusammenleben mit den bewaffneten, oft betrunkenen Soldaten des Kaisers war fr die Quartiergeber nicht immer die reine Freude. Dies zeigt eindringlich die Schilderung des Pfarrers des schsischen Dorfes Großzschocher (sdwestlich von Leipzig), Ludwig Wilhelm Schlosser. Im Sommer 1813 lagen in dem kleinen Ort durchgngig Einheiten der franzsischen Armee. Nachdem die Kampfhandlungen begonnen hatten, nahm die Quartierlast zu: Am hrtesten ging es uns am Sonnabend vor dem
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16. Sonntage nach Trinitatis [25. September]. Es kamen nmlich, ganz unangemeldet, und wie man merkte, infolge eines unglcklichen Gefechts 600 wrttembergische Reiter und 600 Franzosen zu Fuß bei uns an und schlugen ihr Lager in einem großen Feldgarten vor dem Dorf und auf den
Kasernen und Quartiere
Pflanzbeeten auf. Sie holten Tische, Sthle und Bnke, Sgebcke und Bretter,Tren und Fensterlden, Holz, Stroh, Heu, Scke, Tpfe, Tiegel, Schsseln, Teller, Npfe, Schubkarren und Radwellen, Eimer und Kbel, Leuchter und Lampen aus den Husern. Sie ftterten nicht nur ihre 600–700 Pferde reichlich, sondern sie nahmen auch noch 40 Scheffel [Hohlmaß, ein schsischer Scheffel ca. 100 Liter] Hafer mit auf den Weg. Die Wrttemberger spielten den Meister, drngten die sehr verschchterten Franzosen auf die
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Seite und ließen ihnen wenig zugute kommen. 16
Der Bericht zeigt nicht nur, wie verheerend die Einquartierung auf den Menschen lastete (immerhin waren die „Gste“ Verbndete der Sachsen!). Er relativiert auch die Erzhlungen von Angehrigen der deutschen Rheinbund-Truppen, die immer wieder die Franzosen als Hauptbeltter bei Plnderungsorgien schildern. Sich selbst beschreiben sie dabei als Opfer franzsischer Großmannssucht. Die Wrttemberger etwa galten als gute, loyale Soldaten des Kaisers. Doch neigten sie mehr noch als andere deutsche Kontingente dazu, die Zivilbevlkerung hart anzufassen. Jakob Walter erzhlt auch davon, wie einer seiner schwbischen Kameraden whrend des Feldzugs gegen Preußen im Jahr 1806 auf einen Quartiergeber schoss. Der Mann war verngstigt und saß die ganze Nacht weinend auf der Ofenbank. Der Kamerad Walters, ein Soldat namens Hummel, wollte den Quartiergeber singen hren. Als der das nicht tat, spannte Hummel den Abzug seiner Muskete, und der Schuss ging los. Allerdings in die Wand, der verzweifelte Mann blieb unverletzt. Walters Kommentar: „Dieses wollte ich anfhren, um die damals verwilderten [sic!] Soldaten darzustellen.“ 17 Selbst in der eigenen Erinnerung also gestanden die Soldaten zu, dass sie
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hufig die Zivilbevlkerung drangsalierten und von einem einvernehmlichen „Miteinander“ oft nicht die Rede sein konnte.
Frauen bei der Armee
Frauen gehrten seit jeher zum Tross der Armeen. Landsknechte, die Horden des Dreißigjhrigen Krieges oder die Heere des Ancien Rgime zogen hufig mit Kind und Kegel in
Eine cantinire (Marketenderin) erfrischt einen Gardegrenadier mit einem Getrnk. Da der Grenadier eine Respektsperson ist, ist das Glas voll bis an den Rand.
Frauen bei der Armee
den Krieg. Die Frauen wuschen, flickten, kochten, beschafften Verpflegung, pflegten Kranke und Verwundete. Obwohl der revolutionre Konvent im Jahr 1793 alle „feministischen“ Bestrebungen mit dem Argument beendete, Frauen seien nicht in der Lage, verantwortlich zu regieren, fhlten immer wieder auch Frauen den Drang, die Ideale der neuen Zeit mit der Waffe in der Hand gegen die Tyrannen zu verteidigen. Wurden sie entdeckt, dann schickte man sie nach Hause. Die Zahl der Frauen, die einem Bataillon ins Feld folgen durfte, war genau festgelegt. Im Frhjahr 1793 hatte ein „Abgesandter des Volkes“ (eine Art politischer Kommissar, den die Regierung in Paris an die Front schickte, um den revolutionren Geist von Kommandeuren und Soldaten zu berwachen) festgestellt, dass die große Zahl von Frauen bei der Truppe deren Beweglichkeit einschrnkte und einen Großteil der Verpflegung aufbrauchte. Von nun an waren offiziell nur noch vier Wscherinnen und zwei Marketenderinnen pro Bataillon (etwa 500 bis 700 Mann) erlaubt. Marketenderinnen kamen auf ganz unterschiedlichem Wege zur Armee. Meist waren es Ehefrauen von Soldaten. Manche schlossen sich der Truppe an, nachdem ihr Heim durch den Krieg zerstrt worden war. Sie begannen meist einen kleinen Handel, der sich je nach Geschftstchtigkeit entwickelte. Sie trugen keine Uniform, sondern oft pittoreske Trachten aus allem, was man auf dem Marsch finden, stehlen oder kaufen konnte. Die Marketenderinnen gingen nicht der Prostitution nach. Zumeist standen sie unter dem „Schutz“ eines bestimmten Soldaten, mit dem sie – wenn beide berlebten – auch in Friedenszeiten zusammenlebten. In manchen Garnisonsstdten hingegen gab es so etwas wie ein ausgewiesenes „Rotlichtviertel“. Im Pariser Bois de Boulogne etwa stand eine Baracke fr Prostitu-
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Die Cantinires
D ie Marketenderinnen der Armee, die cantinires, hatten nicht immer den besten Ruf. Sie waren hufig auf raschen Profit aus und galten als sehr geschftstchtig. Sie hatten – besonders auf dem Marsch und in den Lagern – ein Monopol fr den Verkauf von Schnaps, Tabak oder Kaffee. Waren diese Artikel knapp, dann stiegen, sehr zum Unmut der Mnner, die Preise schnell stark an, obwohl die Marketenderinnen verpflichtet waren, ihre Waren zu einem „vernnftigen“ Preis zu verkaufen. Es gibt zahlreiche Geschichten ber Marketenderinnen, die den Mnnern Getrnke in die Kampflinie brachten und Verwundete nach hinten trugen. Der Tod solcher mutigen Frauen wurde genauso betrauert wie der von mnnlichen Kameraden.
ierte. Auch im Quartier um das Palais Royale in der franzsischen Hauptstadt gab es zahlreiche Dirnen. Hufiger als die berufsmßige Prostitution kam jedoch die Prostitution aus einer Notsituation heraus vor. So berichten Soldaten aus manchen Gegenden, die Frauen htten sich mit ihnen eingelassen, um ein Stck Brot fr ihre Kinder zu bekommen. Dies war im brigen kein Phnomen, das ausschließlich in Kriegszeiten zu beobachten war. Auch in Friedenszeiten scheint es in manchen Gegenden vor allem bei Frauen aus den unteren Schichten Gang und Gbe gewesen zu sein, ihre materielle Situation dadurch zu verbessern, dass sie der Gelegenheits-Prostitution nachgingen.
Den Krieg vergessen: Freizeitvergngen
Der Alltag der Soldaten bestand nicht nur aus Exerzierbungen, Mrschen und Gefechten. Es gab auch lange Phasen der Ruhe: im Lager, in der Garnisonsstadt oder whrend der Einquartie-
Freizeitvergngen
rung. Mitunter war der Kampf gegen die Langeweile gar nicht so leicht zu gewinnen. Doch die Mnner waren erfindungsreich. Fast berall, wo Soldaten fr eine krzere oder lngere Zeit in Ruhe waren, gab es Cafs. Manche, etwa im Lager, waren von den cantinires improvisiert. Allerdings waren diese luftigen Schanksttten recht teuer. Gleiches galt fr die Cafs in den Garnisonsstdten. Deshalb wurden sie vor allem von Offizieren frequentiert. Soldaten wichen meist in billige Kneipen aus. Ansonsten spielten die Mnner Karten, tranken Wein und rauchten. Auch Offiziere spielten hufig, standesgemß jedoch um Geld. Oder sie gingen auf die Jagd, ohne sich um die wtenden Barone zu kmmern, denen die Jagd gehrte. Das Billardspiel war besonders beliebt, wie der hessische Leutnant Venator in Spanien erlebte: Unter den Offizieren der Franzosen war Geld in Menge
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vorhanden; deshalb fanden Spiel und Trinkgelage bei Tag und Nacht statt. Spieler von Beruf waren mit der Armee gezogen, und Tausende wurden in einer Nacht auf dem grnen Teppich des Billards verloren und gewonnen. Ein Adjutant des Marschalls [Marmont] verlor in einer Nacht einen Sack voll Gold und gebrdete sich wie ein Rasender. Das veranlasste den Marschall, das ffentliche Glcksspiel zu verbieten. Allein, das Spiel begann nun in den Wohnungen der Offiziere von Neuem. Die Ausschweifung hatte
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keine Grenzen.18
Eine makabre Form der „Freizeitvergngung“ waren die zahlreichen Duelle. In den Garnisonsstdten hielten sich hufig die Waffenmeister des Regiments auf, die matres d’armes. Es waren meist zwielichtige Drckeberger, die mit dem Degen oder dem Sbel sehr gebt waren. An der Front waren diese „Helden“ selten zu finden, denn dem Zufall einer Geschossflug-
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bahn wollten sie sich nicht aussetzen. Ihr Metier bestand darin, harmlose, unerfahrene Rekruten in einen Streit zu verwickeln und sie zum Duell herauszufordern. Der Ehrenkodex verlangte es, einer solchen Herausforderung Folge zu leisten, obwohl Napoleon verschiedentlich versuchte, die Unsitte der Duelle zu beenden. Das Resultat solcher mutwillig vom Zaun gebrochener Streitereien war oft der Tod des Rekruten, weshalb die matres d’armes vielen als Mrder galten. Duelle waren keinesfalls Offizieren vorbehalten. Der soldatische Ehrenkodex erstreckte sich auch auf die einfachen Soldaten. Sptestens seit der Revolution waren auch sie stolze, gleichberechtigte Brger der Nation und damit satisfaktionsfhig. Doch waren die Anlsse, sich zu schlagen meist nichtiger Natur. Oft ging es darum, die Hackordnung herzustellen. So wies der eben zum Gefreiten befrderte Kavallerist Charles Parquin einen lteren, aber rangniedrigeren Soldaten darauf hin, dass dessen Sbel schmutzig war. Der einfache Husar namens Hayer konterte, nur ein Neuling knne den Nerv haben, einen alten Soldaten zu kritisieren. Kurz darauf fand man sich auf dem Hof der Kaserne wieder, und Parquin steckte einen heftigen Sbelhieb ein. Auch hier wird im brigen deutlich, dass die Soldaten sich nicht mehr als anonyme Masse sahen, sondern als selbstbewusste Individuen, die sich nicht mehr von jedem Vorgesetzten schikanieren oder beleidigen ließen. Nun hatten auch einfache Mannschaftssoldaten eine Ehre, die verteidigt werden musste. Das Monopol des Adels war auch hier gebrochen. Andererseits unterschieden sich die Duelle der einfachen Soldaten hufig von den ritualisierten Duellen des Adels und der Offiziere des Ancien Rgime. Mitunter hnelten solche „Duelle“ eher Wirtshausschlgereien, mit dem Unterschied, dass den Kontrahenten tdliche Waffen zur Verfgung standen.
Freizeitvergngen
Jakob Rhrig allerdings musste noch kurz vor Ende seiner Dienstzeit ein Duell bestehen, das durchaus den Regeln entsprach. Nach einem Trinkgelage am Vorabend seiner Abreise in die Heimat, ließ ihn ein Unteroffizier seiner Einheit nicht schlafen, indem er den im Bett liegenden Rhrig stndig „neckte“. Rhrig verpasste dem Mann eine saftige Ohrfeige, und unversehens fand man sich mit Sekundanten und einem Sbel in der Hand auf einem Festungswall wieder. Rhrig htte die Aufforderung zum Duell eigentlich ausschlagen knnen, denn da er seine Entlassungspapiere in Hnden hatte, galt er offiziell nicht mehr als Soldat, unterlag daher nicht mehr dem soldatischen Ehrenkodex, und htte sich auf dieses Risiko nicht einzulassen brauchen. Doch Rhrig war noch vom Vorabend betrunken und daher in Streitlust. Aber nicht nur das: Er hatte auch vor, unverletzt die Heimat wieder zu sehen. Als sein Gegner auf drei zhlen wollte, stach ihm Rhrig schon bei „zwei“ den Sbel durch den Oberschenkel, und zwar „durch und durch“. Der Gegner tobte und bezichtigte Rhrig des Verstoßes gegen die Fechtregeln. In diesem Moment bernahm Rhrigs Sekundant die Initiative und schlug dem wtenden Gegner „die halbe Kniescheibe weg. Das machte dem Streit ein Ende“. Weit verbreitet waren bei Truppen Laienschauspiele. Es fand sich stets ein Kunstbeflissener, der ein Textbuch im Tornister hatte und Regie fhrte. Aus Magdeburg berichtete der Hauptmann Dandaille vom 7. leichten Infanterieregiment im September 1810, eine franzsische Schauspieltruppe, die dort zunchst gastiert hatte, sei zwar abgereist, aber sie sei durch eine Gruppe von Amateuren ersetzt worden, die sich aus franzsischen Offizieren zusammensetzte und die zweimal die Woche Vorstellungen gebe. 19
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Romantische Liebe und sexuelle Gewalt
Die Soldaten des Kaisers waren zumeist junge Mnner zwischen 18 und 30 Jahren, die weder besonders keusch waren noch Anhnger des Zlibats. Sexuelle Kontakte zwischen Soldaten und den Frauen, denen sie begegneten, drften zahlreich gewesen sein. Vor allem die franzsischen Memoirenschreiber waren dem eigenen Bekunden nach auf diesem Gebiet sehr erfolgreich. Charles Parquin etwa lsst uns teilhaben an seinem Techtelmechtel mit der schnen Marguerite, die ihn nach einer im Duell erlittenen Verwundung gepflegt hatte. In Holland hatte es ihm eine Mademoiselle van V. angetan, die ihm zum Abschied eine Meerschaumpfeife schenkte. Im hessischen Bockenheim entflammte sein Herz fr Sarah, die Tochter seines jdischen Gastgebers. Und in Bayreuth konnte Louise, Bedienung in einem Kurzwarenladen, seinen Avancen nicht widerstehen. Ob sich alle in den Memoiren geschilderten Amouren so romantisch zutrugen, wie die Soldaten berichten, ist allerdings mehr als fraglich. Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung, vor allem dort, wo sich die Zivilbevlkerung gegen die Besatzer zur Wehr setzte, also in Spanien und Russland. Es war – zusammen mit Plnderungen und Erschießungen – ein Mittel, die Bevlkerung einzuschchtern und zu erniedrigen. Auch im deutsch-franzsischen Grenzgebiet kam es in den ersten Jahren der Revolutionskriege zu zahlreichen Vergewaltigungen. Natrlich hatten nicht alle sexuellen Kontakte gewaltsamen Charakter. Viele Verhltnisse beruhten auf beiderseitigem Interesse, manche waren gar von Dauer, vor allem, wenn Truppen lngere Zeit an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Region einquartiert waren. Und: Sie blieben oft nicht ohne Folgen. Der keineswegs als Aufschneider in Erscheinung tretende Schwabe Jakob Walter etwa erwhnt in seinen Memoiren,
Romantische Liebe und sexuelle Gewalt
sein Regiment sei vor dem Abmarsch nach Russland in Brandenburg stationiert worden. Und zwar in derselben Gegend, in der die Wrttemberger schon im Feldzug von 1807 einquartiert gewesen waren: Wir kamen nach Firstenwalde, einer mittelbedeutenden Stadt im Brandenburgischen, es war die Gegend, wo mein Regiment 1807 im Standquartier 11 Wochen lag, wobei viele
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uns besuchten ihre alten Hausherren [sic!], auch mehrere Weibsleute fanden ihre ehemals geliebten Soldaten, obgleich
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sich mehrere Ursache halber verschleiften [versteckten, verkrmelten] und dem Namen Vater wegen nicht gefunden werden wollten.
Mit anderen Worten: Viele versteckten sich, um nicht als Vater unehelicher Kinder in die Pflicht genommen zu werden. In Frstenwalde drfte sich noch heute der eine oder andere schwbische Blutstropfen erhalten haben. Die Soldaten waren mitunter erstaunlich gut darber informiert, wie groß das „Angebot“ an Frauen in einer Stadt war, die sich gegebenenfalls mit fremden Soldaten einließen. Ein Soldat des 17. leichten Regiments schrieb im Jahr 1806 ber seine Eindrcke in Dinkelsbhl: „Ich weiß nicht, was man von der Bevlkerung hier halten soll. Sie beten Tag und Nacht zu Gott, aber im Tal von Dinkelsbhl findet man 900 Mdchen, die leicht zu haben sind.“20 Ein anderer Soldat, der Hauptmann Guibert vom 30. Linienregiment, lernte, wie er in einem Brief schreibt, im Jahr 1811 in Lbeck eine Schnheit kennen, die ihm rasch zugetan war. Schon nach einer Stunde hatte er die Erlaubnis, bei ihr einziehen zu drfen. Sie nahm sich seiner an, brachte ihm die deutsche Sprache bei und schon bald konnten sich die beiden unterhalten. Doch nicht nur das: „Wir schlafen drei-
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Pierre Morell vom 1. leichten Infanterieregiment mit Damenbegleitung. Die junge Frau links im Bild war vermutlich seine Ehefrau.
mal pro Woche miteinander.“ 21 Alle Offiziere handelten, laut Guibert, so. Das Fazit des Hauptmanns: „Es gibt keine Moral mehr. […] Die Mdchen bekommen zwei oder drei Kinder von den Offizieren und heiraten dann einen Brger, die noch immer zufrieden sind, sie fr diesen Preis zu bekommen.“ Es erscheint aus heutiger Sicht seltsam, dass sich Guibert negativ ber die Moral der Deutschen auslsst. Immerhin handelte er bei Licht betrachtet nicht weniger unmoralisch als die
Homosexualitt in der Armee
von ihm Kritisierten. Auch wenn die katholische Kirche im revolutionren und im napoleonischen Frankreich nicht unbedingt einen festen Stand hatte, so waren die Mnner doch mit deren sexuellen Moralvorstellungen aufgewachsen: Monogamie, eheliche Treue, Keuschheit und Enthaltsamkeit. Hier, in Lbeck (und auch in Dinkelsbhl oder in Frstenwalde) schienen diese Moralvorschriften bei den Menschen nicht mehr zu greifen. Ob dies auf die Notzeiten des Krieges zurckzufhren war, oder ob die kirchlichen Gebote fr die Menschen damals grundstzlich wenig Bindungskraft hatte (wofr manches spricht), kann und soll hier nicht geklrt werden. Jedenfalls hatte Guibert keine Probleme damit, die Vorteile, die sich aus dieser Situation fr ihn ergaben, auch auszunutzen, obwohl er das Verhalten seiner vorbergehenden Partnerin eigentlich missbilligte. Am meisten scheint ihn verblfft zu haben, dass die deutschen Mnner sich bereitwillig damit abfanden, dass ihre Frauen (zumindest einige von ihnen) sich mit den Besatzern bedenkenlos einließen. Dass dies so war, hatte sicher damit zu tun, dass die Soldaten des Kaisers in den besetzten und verbndeten Lndern als Sieger auftraten; als unberwindlich und mchtig. Allein dadurch wirkten sie attraktiv. Aber, was noch bedeutender war: Die Zeiten waren schwer, gerade fr viele Frauen, deren Mnner und Shne oft beim Militr waren. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme, die sich hierdurch ergaben, konnte ein Versorger und Beschtzer, wenn auch nur ein vorbergehender, manche Not mildern und war von daher willkommen.
Homosexualitt in der Armee
Das Thema Sexualitt, in welcher Form auch immer, wird in den Soldaten-Memoiren der Napoleonischen Epoche selten direkt
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angesprochen. Auch fr die Napoleonischen Kriege gilt, was der amerikanische Arzt und Historiker Thomas P. Lowry ber Sexualitt im Amerikanischen Brgerkrieg festgestellt hat: Es war die Geschichte, die die Soldaten nicht erzhlten.22 Dies gilt in besonderem Maße fr die Homosexualitt. Dennoch gibt es vereinzelt Hinweise auf Homosexualitt. Einen verdanken wir etwa dem in britischen Diensten stehenden, hannoverischen Major von Coulon. Auf Sizilien stationiert, erlebte er, wie ein Hauptmann seines Bataillons wegen schlechter Fhrung nach Hause geschickt wurde. Hauptmann Gben, um den es hier geht, hatte zunchst sein Geld durchgebracht und es versumt, seine Familie finanziell zu untersttzen. Danach folgte der vollkommene Absturz, wie Coulon nach Hause berichtet: Die letzte Schandtat, so er beging u[nd] die alle seine [sic!]
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Schandtaten die Krone aufsetzte, war auffallend, nicht genug mit liederlichen Weibspersonen Umgang zu halten, ging er zuletzt soweit, einen unerlaubten Umgang mit jungen Mannes-Leuten zu treiben. Ein junger hbscher Soldat seiner Comp[anie] namens Wittram hatte er sich unter anderem zum Ziel seines Lasters erkoren, dieser, am Ende solches ueberdruessig, desertierte von Augusta, wurde aber in Messina wieder ertappt, dort examiniert [verhrt] und hatte in seinem Verhr ausgesagt, dass er deshalb desertiert sei, damit er dem Capt[ain] Gben aus dem Weg kommen und nicht ntig htte, seine schndlichen Gelste weiter zu befriedigen, dies hat er noch durch einige Briefe, die Gben
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an ihn geschrieben, bewiesen. 23
Homosexualitt, in diesem Fall verschrft dadurch, dass sie erzwungen und mit Abhngigen erfolgte, war fr die damalige Zeit der Gipfel sndiger Unmoral. Aber Gbens „Verfehlungen“
Homosexualitt in der Armee
waren kein Einzelfall. Dies besttigen Schilderungen aus Kriegsgefangenenlagern. Zwar gab es auch in Kriegsgefangenenlagern Frauen, die ihre Mnner begleiteten oder dort als Wscherinnen, Weinhndlerinnen, aber auch als Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdienten. Doch scheint – vor allem in Lagern, in denen die Mnner jahrelang eingesperrt waren – auch die Homosexualitt verbreitet gewesen zu sein. Der badische Leutnant Holzing etwa war im Jahr 1810 auf dem spanischen Kriegsschauplatz in Gefangenschaft geraten. Wie andere gefangene Offiziere auch, kam er schließlich auf eine Balearen-Insel. ber die sexuellen Vorlieben der Lagerinsassen schreibt er: Die Absonderlichkeit in den einzelnen Menschen trat von
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Tag zu Tag vermehrt in merkwrdige Erscheinung. Es zeigte sich hierbei ein tiefer Unterschied zwischen der germanischen und der welschen Sonderart. Die Franzosen, Italiener und Polen litten sehr unter einer unnatrlichen Erregung des geschlechtlichen Verlangens, sie bildeten Gruppen, die sich unaufhrlich unter wieherndem Gelchter an den Ausschweifungen der Zote ergtzten. Auch war ein Pariser Offizier unter ihnen, der große Geschicklichkeit im Zeichnen besaß, von seiner Hand waren immer erotische Bilder im Umlauf, die von einer wahrhaft satanischen Einbildungskraft schienen. Es wird keinen Kenner des Lebens verwundern, dass diese Menschen sich auch un-
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gescheut dem widernatrlichsten Laster ergaben. 24
Dieses Zitat aus Holzings Memoiren verdeutlicht nicht nur die Probleme, die sich fr die gefangenen Soldaten aus der erzwungenen sexuellen Enthaltsamkeit ergaben. Es zeigt auch die Stereotypen nationaler Vorurteile, die durch die Revolutionsund die Napoleonischen Kriege einen bedeutenden Schub erhal-
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ten hatten: der lasterhafte Franzose und der tugendreiche Deutsche. Auf den franzsischen Nationalismus folgte – nach langen Jahren bedrckender Besatzung und großer Opfer – ein ebenso vehementer deutscher Nationalismus, der zu der verheerenden „Erbfeindschaft“ zwischen Franzosen und Deutschen in den anderthalb Jahrhunderten danach beitrug.
Heimweh
Die Soldaten litten hufig unter „Heimweh“, wobei der Begriff eine ganze Reihe von depressiven Zustnden mit den unterschiedlichsten Ursachen zusammenfasste. Hauptsymptom war der Wunsch, dem Dasein als Soldat ein Ende zu setzen und nach Hause zu gehen. Zwar hatten die wenigsten Soldaten schon einen eigenen Hausstand, als sie unter die Waffen traten. Doch Eltern und Geschwister, Freunde und oft auch eine Freundin, „die Liebste“, ließen sie zu Hause zurck. Die Gedanken an ihre Familien und ihr ziviles Leben begleiteten die Soldaten. War die Ernte gut? Blieb die Freundin treu? Waren die Eltern und die Geschwister gesund? Die grßte Hoffnung der meisten einfachen Soldaten war es, gesund nach Hause zu kommen und ihr ziviles Leben weiterleben zu knnen. Aus unserer heutigen Sicht mag das Leben als Knecht oder Handwerker zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht sonderlich verlockend gewesen sein. Fr die Soldaten war es aber wohl begehrenswerter als der drckende Militrdienst. Auf dem Schlachtfeld von Smolensk, im August 1812, qulten den schwbischen Infanteristen Jakob Walter die schrecklichen Eindrcke der Schlacht, der Hunger, der fehlende Schlaf und die Furcht vor neuen Kmpfen. Das Schlimmste aber war die Sehnsucht nach seiner Familie und seinen Freunden:
Heimweh
Unter den Transalen [Drangsalen] war keines so hart und drckend als das Andenken meiner Geschwister und
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Freunde [sic!]. Dieses Gefhl war mein grßter Schmerz, welchen ich mit der Hoffnung zu unterdrcken suchte –
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Gott ist alles mglich, ich verlasse mich auf seine fernere Hilfe. 25
Heimweh konnte regelrecht krank machen. Der hessisch-darmstdtische Hauptmann Franz von Rder marschierte mit seiner Kompanie im Frhjahr 1812 an die Ostseekste, wo seine Mnner vor Beginn des Russlandfeldzuges den Kstenschutz bei Rostock bernehmen sollten. Mit dabei war ein junger Kadett namens Hensler, ein Offiziersanwrter also, den in Rostock das Heimweh bermannte und ins Bett zwang. Er erweckte bei seinen Kameraden gar den Eindruck, als werde er bald sterben. Den Vorgesetzten blieb schließlich nichts anderes brig, als Hensler wieder nach Hause, nach Darmstadt zu schicken, was zu seiner sofortigen Genesung fhrte. hnliche Vergnstigungen gab es fr einfache Soldaten nicht. Sie hatten bei der Einheit und unter dem Befehl ihrer Offiziere zu bleiben. Der bayerische Leutnant Joseph Hausmann schrieb seinen Eltern am 10. Oktober 1812 aus Russland: „Sehr viele unserer Leute sterben an Heimweh.“ 26 Hauptmann Rder wies in seinem Tagebuch darauf hin, welche außergewhnliche Belastung das Heimweh darstellte. Vor allem Mnner aus bergigen Heimatgegenden litten an der flachen Ostseekste an dieser Krankheit, so Rders Beobachtung. Irgendwo in ihrem Hinterkopf verbirgt sich die schwache
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Vorstellung, dass es ihnen in der sauberen, klaren Luft ihres Heimatlandes besser ginge, und dennoch ist den Leidenden nicht wirklich bewusst, dass sie sich nach ihrem Zuhause sehnen bis man sie daran erinnert.27
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Es gab nur wenige Mglichkeiten, das Heimweh zu lindern. Zum einen brachte die Feldpost Neuigkeiten von Daheim. Doch brauchte sie lange und blieb oft aus. Selbst Briefe zu verschicken war teuer. Zudem frchteten manche die Zensur. Leutnant Villeneuve vom 35. Linienregiment berichtete gar, die Post zerreiße die Briefe, die von der Armee kmen. Manche Soldaten bekamen Urlaub bewilligt. Als sich Jakob Rhrig im Herbst 1813 mit den erbrmlichen Resten seines Regiments bei Bingen ber den Rhein gerettet hatte, bot ihm sein Bataillonschef zehn Tage Urlaub an. Rhrig nahm dankend an. Nach einem lngeren Fußmarsch berraschte er die Familie beim Abendessen. Einige Tage danach fand sich Rhrig dann pflichtschuldig wieder bei seinem Regiment in Koblenz ein. Der Gedanke an Zuhause war oft der letzte im Leben der Soldaten. In der Schlacht bei Polotsk, im August 1812, fand die Marketenderin Catherine Peyer vom 2. Schweizer Fremdenregiment einen an einen Baum gelehnten Toten. Er hatte in seiner steifen Hand zwei Briefe: Einen seiner Eltern und einen seiner Geliebten.
Fernweh: Zum ersten Mal die Welt
Wenn es darum geht, die Motivation der Soldaten Napoleons zu erklren, wird mitunter erwhnt, dass die jungen Mnner das Dasein als Soldat auch als Abenteuer empfanden. Als Mglichkeit, der engen Heimat zu entfliehen und die Welt zu erleben. Ob die Verlockung der weiten Reisen tatschlich eine maßgebliche Rolle bei der Motivation der Soldaten spielte, ist indes ungewiss. Zumal die Mnner ja nicht immer freiwillig unter die Waffen traten, sondern gezwungenermaßen, als Wehrpflichtige. Die Erinnerungen spiegeln dennoch auch die Lust der Mnner wider, Neues, Unbekanntes zu entdecken. Der hessi-
Fernweh
sche Leutnant Ludwig Venator befand sich im Herbst 1808 auf dem Marsch von seiner Heimatgarnison nach Spanien. Kurz vor der spanischen Grenze berwltigte ihn das Naturschauspiel des gegen die Kste anbrandenden Atlantik: Als wir auf diesem Marsche in die Nhe von St. Jean de Luz
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gekommen waren, hrte ich furchtbares Brausen. Das veranlasste mich, die Hhe rechts zu ersteigen. Pltzlich stand ich wie festgebannt. Vor mir nach Sden erblickte ich die Pyrenen, deren mit Schnee bedeckte Spitzen bis in die Wolken reichten. Nach Westen zu sah ich das große Weltmeer, das durch einen Sturm in seinem Grunde erschttert, tobend seine Wellen an das Ufer warf. Durch die Brandung der Wellen wurde das Wasser auf viele hunderte von Fuß in die Hhe getrieben und fiel nun als Staubregen wieder nieder. Nie hatte ich die Schpfung in so großartigem Maßstabe gesehen, und ich segnete den Augenblick, da ich den Bund mit der Fahne schloss. Ohne ihn wrde ich vielleicht bis an das Ende meiner Tage Bume gezogen und die Grenzen des engeren Vater-
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landes nicht berschritten haben.28
Auch Jakob Rhrig lockte ein wenig das Abenteuer, als er im Jahr 1812 freudig zu den Fahnen eilte. So schildert er ausfhrlich die Besonderheiten der Stdte, die er auf seinem Weg berhrte. In den jeweiligen Orten hatten die Soldaten offenbar Zeit genug, sich umzusehen: In Cln ging ich in den Dom, der freilich in seiner Ruinenhaftigkeit seine volle Schnheit nur ahnen ließ,
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durch seine Grße und Khnheit mich aber begeisterte, ein hohes Lied in Stein. [...] In Aachen ließ ich mir im Dome das Grab Karls des Großen zeigen, dessen Statue auf einem freien Platze der Stadt steht. Ich besuchte ein warmes Bad und eine Nhnadelfabrik. Nun ging’s nach Maastricht […].29
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Unterwegs
In Tongeren und St. Trond bewunderte er die Geschicklichkeit der Spitzenklpplerinnen, und in Lwen trank er das „Petermann“ genannte Bier. bertroffen wurde diese Spezialitt jedoch vom „Pharao“, einem in Brssel gebrauten Bier. Es war herb und bitter und hchst gefhrlich, denn „wer in Brssel ein Quart [etwas mehr als ein Liter] trinkt, muss stark sein, wenn er sein Quartier wieder findet.“ In Enghien notierte er die Harmonie des Glockenspiels, in der Gegend um Lille setzte ihn die Menge der Windmhlen in Erstaunen. In St. Omer nahm er sich eine Portion des dort hergestellten Schnupftabaks mit und wre, wie er bemerkt, „beinahe zum Schnupfer geworden“, ein Laster, dass er mit dem Kaiser geteilt htte. Auch der Pflzer Barbier Jakob Klaus nahm erstaunt die Wunder der Welt zur Kenntnis. Von Haßloch verschlug es ihn auf den spanischen Kriegsschauplatz. So eintnig und lebensfeindlich Spanien ihm auch erschien, so bot das Land doch auch beeindruckende Orte. Gefhrt von einem deutschen Mnch, erkundeten Klaus und drei deutsche Regimentskameraden die Grablege der spanischen Knige im Escorial: Den andern Tag gingen wir wieder in das Stdtel hinein bis
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ans Kloster. Als wir eine Weile an der Pforte standen, kam endlich der Pfaffe zur Pforte heraus, gab uns die Hand und sagte: „Jetzt geht mit mir!“ Er fhrte uns weit in dem Kloster herum in Tunnelgngen. Endlich machte er ein Licht an und hob eine Falltr auf und sagte: „Nur mir nach!“ Dann kamen wir in ein frchterliches Gewlbe. Er sagte: „Frchtet Euch nicht!“ [...] Als wir vielleicht 200 Schritte in dem dunklen Gewlbe gegangen waren, da hob der Pfaffe eine Falltr auf. Als wir die Treppen droben waren, da waren wir in einer prachtvollen Kirche. […] Danach fhrte er uns in die Sakristei. Da kamen wir an eine Stiege, da ging
Fernweh
er mit uns hinunter. Die Stiege hatte mehr als 20 Marmortreppen bis an den Begrbnisort der Knige und Kniginnen von Spanien. ber der Tre war ein farbenes, knstliches [i. S. von „knstlerisch“] Wappen angebracht. […] Er zeigte uns auch die Kapelle. Dort waren ungefhr 20 Srge von schwarzem Marmor mit vergoldetem Zierrat. Auf jedem Sarg war ein glserner Deckel. Ringsherum um die Srge hing schwarzer Atlas, darauf war geschrieben mit vergoldeten Buchstaben, was fr eine Knigin oder Knig sie gewesen waren. Die Knige aber hatten Brte gehabt, sodass ich mich frchtete. Nachdem der Pfaffe uns alles gezeigt hatte, fhrte er uns durch das Kloster hindurch bis zur Pforte hinaus. Wir hatten aber ein prchtiges Knigsbegrbnis gesehen. Es waren viele Soldaten in Spanien, aber diesen
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Begrbnisort hatten sie nicht gesehen. 30
Die Soldaten Napoleons sahen also – gewollt oder ungewollt – tatschlich die Welt. Zumindest sehr viel mehr von ihr, als sie ohne den Krieg gesehen htten. Ein einfacher Soldat des 15. leichten Infanterieregiments, Jean-Claude Philippe, schrieb im Jahr 1808 voll Begeisterung an seine Eltern, nachdem er die Wunder der Hauptstadt Paris gesehen hatte: „Htte ich die Freuden des Reisens eher gekannt, wre ich schon seit langem Soldat.“ 31
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Grundbedrfnisse: Essen, Trinken, Kleidung akob Rhrig war ein großer Bewunderer des Kaisers, auch noch Jahrzehnte, nachdem der Lrm der
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Schlachten verstummt war. Als Rhrig seine Erinnerungen an die Zeit unter Napoleon niederschrieb, konnte er sich eine Kritik allerdings nicht verkneifen: Es sei ihm „jetzt noch unbegreiflich, dass ein doch sonst so kluger Feldherr, wie es der Kaiser war, uns so dem Hunger preisgeben konnte. Es wrde ganz gewiss ein anderes Leben in der Armee gewesen sein, wenn hinreichende Lebensmittel vorhanden gewesen wren.“1 Diese Feststellung zeigt, welche grundlegende Bedeutung die Verpflegung fr das Wohlbefinden und die Motivation der Soldaten hatte. Die Heere des 18. Jahrhunderts waren durch eine ausgeklgelte Logistik mit Lebensmitteln und sonstigem Nachschub versorgt worden. Grundlage war das Depot- oder Magazinsystem. Es wurden vor Feldzugsbeginn Nachschubdepots errichtet, aus denen Transportkolonnen den langsam vorrckenden Armeen mit dem Lebensnotwendigen folgten. Hatten sich die Armeen zu weit von den Magazinen entfernt, dann wurden diese weiter vorn neu errichtet. Damit verfolgte man zum einen die Absicht, die Bevlkerung vor plndernden, weil hungrigen Soldaten zu schtzen. Zum anderen war eine geregelte Versorgung notwendig, um die Disziplin in den Sldnerheeren des Absolutismus aufrechterhalten zu knnen.
Die Rckkehr des Hungers
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Die Rckkehr des Hungers
Von einem so kunstvollen Versorgungssystem war unter Napoleon wenig zu spren. Schon die franzsischen Heere der Revolutionskriege hatten sich von dem einengenden Magazinsystem befreit und lebten aus dem Land. Da die Bevlkerungsdichte in Europa etwa gegenber dem Dreißigjhrigen Krieg ebenso zugenommen hatte wie die Produktion von Nahrungsmitteln, konnten sich diese Heere in der Regel auch durch Requirierung versorgen. Die Revolutionskriege entwickelten sich daher rasch zu reinen Raubkriegen. Problematisch wurde diese Art der „Selbstversorgung“, wenn zu viele Truppen sich fr lngere Zeit in schwach besiedelten Gebieten bewegten, etwa in Russland und Spanien. Und selbst in bevlkerungsreichen Gegenden wie zum Beispiel Sachsen, Schlesien und Brandenburg im Jahr 1813 war die Versorgung oft schwierig.
Die Napoleonischen Kriege III: Die Katastrophe
D as Zarenreich ließ sich auf Dauer nicht in Napoleons Hegemonialsystem in Europa einbinden. Der Kaiser beschloss, es mit Waffengewalt dazu zu zwingen. Mehr als eine halbe Million Soldaten zogen im Sommer 1812 nach Russland. Die Russen, zahlenmßig unterlegen, wichen der entscheidenden Schlacht immer wieder aus. Hunger, Desertionen und blutige Verluste hatten die Grande Arme bei ihrem Einmarsch in Moskau im September 1812 bereits stark dezimiert. Im Oktober 1812 verließ die Armee Moskau. Der Rckzug wurde zur Katastrophe. Klte, fehlende Verpflegung, eine feindselige Bevlkerung und dauernde Angriffe rieben das Heer fast vollstndig auf. Anfang Dezember 1812 verließ Napoleon seine Mnner, um in Paris eine neue Armee aufzustellen.
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Essen, Trinken, Kleidung
Hunderttausende von Soldaten beider Seiten standen sich zu lange auf zu engem Raum gegenber. Es wre allerdings unfair, Napoleon vllige Gleichgltigkeit gegenber den Grundbedrfnissen seiner Soldaten vorzuwerfen. Als der Russlandfeldzug von 1812 vorbereitet wurde, wurde auch ein umfangreiches System des Lebensmittelnachschubs ersonnen. Da aber Napoleon nicht auf die Schnelligkeit und Beweglichkeit seiner Armeen verzichten wollte, brach das System rasch zusammen. Die Soldaten hungerten.
Der Krieg ernhrt den Krieg
Die Mngel der Versorgung whrend der Revolutions- und der Napoleonischen Kriege spiegeln sich in den Erinnerungen der Soldaten in aller Deutlichkeit wider. Der westflische Kanonier Heinrich Wesemann etwa nahm am Russlandfeldzug von 1812 teil. In seinem Tagebuch hielt er fest, schon in Polen, erst recht aber nach berschreiten der russischen Grenze habe ein großer Mangel an Lebensmitteln geherrscht. Nicht zuletzt, weil viele Soldaten das ihnen zugeteilte Mehl als Last empfanden und es am Weg verstreuten. Dass die franzsische Armee auf dem Vormarsch nicht auf Nachschub wartete, sondern sich durch Beutezge in die Umgebung selbst versorgte, hatte Wesemann schon 1809 erlebt. Damals hatte er gegen die Truppen des mit sterreich verbndeten Herzogs von Braunschweig gekmpft. ber die Versorgung in diesem Feldzug schrieb er: „Auf dem Zuge nach Dresden machten wir [...] in einem Dorfe einige Stunden Rast. Nach franzsischem Kriegsgesetzen suchten einzelne Soldaten umher, um fr den Biwak dies oder jenes an Lebensmitteln zu holen.“2 Denn im Biwak gab es stets nur das zu essen, was man selbst zusammengetragen hatte. Geliefert wurde nichts.
Der Krieg ernhrt den Krieg
„Herr Leutnant, ich suche Futter fr mein Pferd.“ Ein betrunkener Husar plndert eine Bauernstube auf der Suche nach Beute.
Drei Jahre nach dem Feldzug gegen den Herzog von Braunschweig, im Feldlager vor Orscha (400 Kilometer westlich von Moskau) war es fr Wesemann schon selbstverstndlich, dass die Soldaten sich skrupellos mit allem versorgten, was in der Umgebung an Ess- und Trinkbarem vorhanden war. Als er zu einem „kleinen Fouragierzug“ (eine beschnigende Bezeichnung fr bewaffneten Raub in den umliegenden Drfern) kommandiert wurde, dachte er nicht lange nach: Im Feldlager wgt ja berhaupt der Soldat nicht erst
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sorgsam Recht und Unrecht ab und entscheidet dann sein Beginnen, und am wenigsten geschah dies wohl in einem franzsischen Feldlager, wo das System der Requisition das herrschende war.3
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Essen, Trinken, Kleidung
Elzar Blaze schildert zudem eindringlich, wie verschwenderisch und egoistisch die Soldaten mit den vorgefundenen Lebensmitteln umgingen. Man habe in reichen Lndern oft zwanzigmal so viel ins Lager getragen, als man tatschlich bentigt htte. So habe eine Kompanie einmal zwei Ochsen geschlachtet, was ausreichend gewesen wre, die Mnner satt zu machen. Aber man schlachtete mitleidslos noch vier Khe, sechs Klber, ein Dutzend Schafe, weil die Soldaten Zunge essen wollten, Nieren und Hirn. 4 Der Rest wurde weggeworfen und verrottete. Die Soldaten dachten nicht an den Hunger des nchsten Tages und nicht an das Regiment, das hinter ihnen kam.
Eine teure Mahlzeit
Wie konnten sich die einfachen Soldaten in einem ausgeplnderten, buchstblich leer gefressenen Landstrich berhaupt noch etwas beschaffen, um wenigstens den grbsten Hunger und den schlimmsten Durst zu stillen? Hilfreich war mitunter Geld. Und es gehrte oft genug Glck dazu. Jakob Rhrig hatte am Abend des ersten Tages der Leipziger Vlkerschlacht, am 16. Oktober 1813, Glck und Geld. Schon vor der Schlacht von Leipzig, so erinnerte sich Rhrig, war den Truppen nichts mehr geliefert worden. Auf dem Marsch nach dem Kriegsschauplatz in Sachsen mussten die Soldaten ihre Brgerquartiere mit dem Biwak auf offenem Feld vertauschen. Nach jedem Tagesmarsch und dem anschließenden Appell schwrmten die Mnner seines 150. Linienregiments aus: „Etliche nach Holz, etliche nach Gemse, andere nach Stroh.“5 Jakob Rhrig streifte am 16. Oktober auf dem Schlachtfeld von Leipzig umher, als sich ihm unverhofft die Gelegenheit erffnete, eine Handvoll Kartoffeln zu ergattern:
Eine teure Mahlzeit
Ich kam zu einem Feuer, um welches Grenadiere der alten
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Garde lagen und saßen. Auf die Kohlen waren Kartoffeln zum Braten gelegt, nach welchen […] mir der Mund wsserte. Hunger hatte ich wie ein Haifisch, denn in den fnf Tagen, die wir in der Gegend von Leipzig zugebracht [hatten], hatten wir nicht fr zwei Tage gegessen. Ich ließ mich mit einem alten Schnurrbart [es war das Vorrecht der Grenadiere, im Gegensatz zu einfachen Infanteristen, Schnurrbrte zu tragen], der nach den chevrons, den Armschnren [eigentlich aufgenhte rmelstreifen], die auf dem Oberarm wie ein umgekehrtes V standen, seine zwanzig Jahre gedient hatte, in ein Gesprch ein, welches ich so nach und nach auf die gebratenen Kartoffeln hinlenkte, und machte dabei die Bemerkung, dass er mir einen außerordentlichen Gefallen
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erzeigte, wenn er mir etliche abgeben wrde. 6
Doch der Grenadier zierte sich. Zum einen ist sich in Hungerszeiten jeder selbst der Nchste. Zum anderen gehrten die Kartoffeln nicht dem Grenadier allein, sondern seiner Korporalschaft, die in der franzsischen Armee eine Art von Verpflegungsgemeinschaft bildete. Doch Rhrig hatte ein gutes Argument. Wie er in seinen Erinnerungen beilufig erwhnt, hatte er whrend der Schlacht „bei einem toten Kapitn [Hauptmann] zwei franzsische Kronentaler“ gefunden, was etwa fnf Gulden und damit dem halben Wochenlohn eines Handwerkers entsprach. Mit anderen Worten: Er hatte, wie fast alle Soldaten dies taten, die Toten nach Essbarem und Wertgegenstnden durchsucht. Jedenfalls fielen Rhrig diese zwei Kronentaler ein, als der Grenadier eher an seinen eigenen leeren Magen als an den des hungrigen voltigeurs dachte. Im brigen brachte Rhrig nicht nur reine Hflichkeit dazu, den Gardegrenadier „nach und nach“ auf die Kartoffeln aufmerksam zu machen. Gardisten
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Essen, Trinken, Kleidung
Die Napoleonischen Kriege IV: Die Befreiungskriege
D ie Vernichtung der franzsischen Armee in Russland war das Signal fr Preußen, Russland, Großbritannien und sterreich, Napoleons Machtstreben endgltig ein Ende zu bereiten. Beide Seiten waren im Frhjahr 1813 erschpft. Napoleon gelangen dennoch mit seiner Armee aus Rekruten und einem Stamm von Veteranen hart erkmpfte Siege. Nach einem Waffenstillstand brachen die Feindseligkeiten im August 1813 erneut aus. Nach wechselvollen Kmpfen wurde Napoleon in der Vlkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 schwer geschlagen. Er zog sich ber den Rhein zurck, die mit ihm verbndeten Rheinbundstaaten fielen von ihm ab. Deutschland war frei. Im Frhjahr 1814 kam es erstmals seit fast zwanzig Jahren zu Kmpfen auf franzsischem Boden. Napoleons Talent als General reichte nicht aus, um die berzahl der Alliierten auszugleichen. Im April 1814 dankte er ab.
waren Respektspersonen, die „Htschelkinder“ des Kaisers. Sie bekamen die besten Quartiere, hheren Sold und bessere medizinische Versorgung. Man nherte sich als einfacher Soldat einem Gardisten also mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Zurckhaltung. Doch zum Glck fr Rhrig konnten auch Gardisten der Macht des Geldes nicht widerstehen. Und so wechselten zehn gebratene Kartoffeln „in der Grße gewhnlicher Setzlinge“ zum Preis von zwei Kronentalern den Besitzer: „Wer war nun froher als ich?“
Die Taschen voller Geld?
Die Taschen voller Geld?
Die Episode um die Kartoffeln des Gardegrenadiers macht auf einen nur selten thematisierten Aspekt aufmerksam: Welche Rolle spielte Geld fr den einfachen Soldaten? Wie kam er an Geld? Wie viel hatte er zur Verfgung und was konnte er damit anfangen? Dass es wichtig, ja mitunter lebenswichtig sein konnte, Geld zur Hand zu haben, verdeutlicht bereits Rhrigs Erzhlung von den teuer erkauften Kartoffeln. In der Tat finden sich hufig Schilderungen darber, wie Soldaten mit etwas Geld selbst dann noch Nahrungsmittel beschaffen konnten, wenn das Versorgungssystem lngst zusammengebrochen war. Das gelang mitunter sogar in Gebieten, die eigentlich schon vllig ausgeplndert waren. Der wrttembergische Infanterist Jakob Walter etwa bekam auf dem Rckzug von Moskau in Wilna von jdischen Hndlern fr die zehn Ellen Mousseline-Stoff, die er als Beute mit sich trug, eine Flasche Branntwein und fr vier polnische Gulden einen Laib Brot. Silbergeschirr hatte er zuvor schon weggeworfen,weil er es nicht mehr tragen konnte. Etwas spter brachte ihm ein Silberrubel eine weitere Flasche Schnaps ein. Aber Brot war jetzt auch fr Geld nicht mehr zu haben. So teilte er die Erfahrung, die Elzar Blaze gemacht hatte: Konnte man sich mit Gold kein Brot kaufen, dann war es nicht mehr wert als Eisen. Folgt man den Erzhlungen der Soldaten und Offiziere, so waren sie selten in Geldnot. Dabei war die Haupt-„Einnahmequelle“ keinesfalls der Sold. Der wurde meist erst mit langer Verzgerung ausgezahlt. Geld kam auf andere Weise in die Taschen der Soldaten. Weit verbreitet war die Leichenfledderei, die Jakob Rhrig seine zwei Kronentaler beschert hatte. Das Ausplndern der Toten und Verwundeten galt zwar nicht als ruhmreich, war jedoch in der Regel nicht verboten.
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Essen, Trinken, Kleidung
Die Napoleonischen Kriege V: Die Schlacht von Waterloo
D er Name des belgischen Dorfes Waterloo sdlich von Brssel steht noch heute sinnbildlich fr eine vollstndige, endgltige Niederlage. Nach Napoleons Rckkehr aus der Verbannung auf die Insel Elba im Frhjahr 1815 griffen seine Feinde (sterreich, England, Preußen, Russland, Spanien, Portugal, Schweden, Dnemark, die im Jahr 1813 von Napoleon abgefallenen Rheinbundstaaten Bayern, Wrttemberg und Baden und etliche mehr) wieder zu den Waffen, um den Unruhestifter endgltig zu schlagen. Dies gelang am 18. Juni 1815 in einer der blutigsten Schlachten der Epoche mit ber 40 000 Toten und Verwundeten. Die Standhaftigkeit der britischen Soldaten, das rechtzeitige, fr Napoleon unerwartete Erscheinen der Preußen auf dem Schlachtfeld und Fehler der eigenen Fhrung machten alle Anstrengungen der franzsischen Soldaten zunichte. Am Abend der Schlacht hatte die letzte von Napoleon gefhrte Armee aufgehrt zu existieren, seine Herrschaft war endgltig zu Ende.
Bei diesem „Handwerk“ traten die Soldaten oft in Konkurrenz zu den Zivilisten der das Schlachtfeld umgebenden Ortschaften. Diese schwrmten nachts aus und stahlen, was auch immer wertvoll erschien. Am Tag nach der Schlacht fanden dann regelrechte Mrkte statt, bei denen Soldaten und Bauern ihre Schtze an den Mann brachten. Angesichts des berangebots an Uhren, Ringen, Tabaksdosen und Bekleidung aller Art waren allerdings oft keine großen Gewinne zu machen. Nach der Schlacht von Waterloo etwa waren die Gewsser des Schlachtfeldes gefllt mit den Krassen (Brustpanzern) der vielen gefallenen schweren Reiter Napoleons. Nachdem die
Die Taschen voller Geld?
Armeen weiter gezogen waren, kamen die Bauern aus ihren Htten und Husern, holten die in den Teichen deponierten Krasse hervor und verkauften sie fr zwei Francs das Stck. Manchmal halfen die Soldaten auch etwas nach, wenn ein feindlicher Soldat, der nach reicher Beute aussah, einfach nicht getroffen wurde. Ebenfalls aus der Schlacht von Waterloo werden Flle berichtet, bei denen Scharfschtzen besonders Kavallerieoffiziere aufs Korn nahmen. Sie erschossen sie,verließen eilig die eigenen Linien, beraubten die Leiche und rannten zu den eigenen Leuten zurck. Solche Handlungen wurden allerdings wenig geschtzt. Von ihren Kameraden wurden die Profiteure des Todes oft mit dem Ruf: „Schande, Schande“ bedacht. Es gab Gelegenheiten, an Geld zu kommen, die keinem der Beteiligten wirklich Freude machten. Nach der Schlacht von Medellin in Spanien, Ende Mrz 1809, wurde badischen Truppen befohlen, die Gefallenen zu beerdigen. Die einfachen Soldaten, die diesen Befehl auszufhren hatten, durften das bei den Leichen gefundene Geld behalten. Es waren nach Angaben des Leutnants Holzing 18 000 Spanier, deren Leichen (die noch lebenden Verwundeten wurden erschossen) seit drei Tagen auf dem Schlachtfeld lagen, auf das abwechselnd die warme spanische Frhlingssonne geschienen hatte und schwere Regenflle niedergegangen waren. Man kann sich die Stimmung der Truppe vorstellen. Wenigstens finanziell lohnte sich dieser Dienst. Denn als einige Zeit spter im Quartier zustzlich Verpflegung gekauft werden musste, lebten die gemeinen Soldaten besser als die Offiziere, denen die Barschaft inzwischen ausgegangen war. Offiziere durften ebenso wie die Mannschaften Beute aus einer Schlacht behalten. Etwa Pferde, die sie in einem Zweikampf „erobert“ hatten. Sie konnten die Beute verkaufen und den Gewinn einstreichen. Nicht zuletzt belohnte Napoleon, auch dies galt fr Offiziere wie fr Mannschaften, besondere
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Essen, Trinken, Kleidung
Heldentaten mit Geldgeschenken. Auch wird berichtet, dass Soldaten, die besonders gefhrliche Auftrge zu erledigen hatten, zur Belohnung Geld erhielten. Jakob Klaus bekam ebenso wie seine Kameraden zwei Francs, nachdem sie zusammen mit hundert Husaren einen Fluss bei Valencia berschritten und eine spanische Stellung gestrmt hatten. 7 Die Summen, die die Soldaten bei sich trugen, waren teilweise erklecklich. Der Pflzer Bauer und Unteroffizier des 5. rgiment de chasseurs cheval Johann Philipp Kaufmann etwa verlor bei der Schlacht von Vitoria im Juni 1813 (in der die Franzosen von den Briten und Portugiesen ber die spanischfranzsische Grenze getrieben wurden) 1460 Francs. Bedenkt man, dass der unterste Dienstgrad in der Armee monatlich neun Francs Sold erhielt, dann kann man nachvollziehen, wie es Kaufmann zumute gewesen sein muss. Nicht nur die Schlacht war verloren, sondern auch das Geld. Ein Marschall von Frankreich, dies sei nebenbei erwhnt, hatte ein Jahressalr von 40 000 Francs, ergnzt zumeist durch umfangreiches Plnderungsgut! Lngst nicht jeder Soldat hatte freilich auch die Chance auf Beute: Joseph Deifl vom 5. kniglich bayerischen Infanterieregiment stellte resigniert fest, der Feldzug in Tirol im Jahr 1809 habe ihm als Beute nicht mehr eingebracht als einige getrocknete Kirschen und ein Gesangbuch.
Der Speisezettel
Der Speisezettel der Soldaten richtete sich naturgemß nach dem, was der Kriegsschauplatz zu bieten hatte. Idealerweise aßen die Soldaten Fleisch, Brot, Reis und Gemse und tranken dazu Wein und Schnaps. In Spanien etwa waren vor allem Fleisch und Brot zu erhalten. Mitunter Kse oder, wie Jakob Klaus feststellte, Olivensuppe, Knoblauch und Feigen.
Der Speisezettel
Manches Mal bekamen die Soldaten auch Leckerbissen aus der Heimat. Aus Neuburg an der Donau, der Heimatgarnison des 7. bayerischen Infanterieregiments, schickten die Eltern des Leutnants Hausmann im Sommer 1812 ihrem Sohn Kaffee, Zucker, Schokolade, Schinken und Senf. Alles kam wohlbehalten in Polen an, selbst der Senftopf. Die bliche, einseitige Verpflegung mit Wein, Fleisch und Brot war der Gesundheit und Ausdauer der hart marschierenden Soldaten nicht eben zutrglich. Das war auch den Offizieren bewusst. Leutnant Holzing berichtete: Hier lebten wir wie der Vogel im Hanfsamen, es fehlte uns nicht am besten Wein, es gab gutes Fleisch und kstliches Weizenbrot, zu allen Mahlzeiten frisches Gemse, nach dem
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wir wie ausgehungert waren. Den wohlttigsten Einfluss aber auf unsere Gesundheit bte das viele Obst [aus], alle
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Felder waren mit Melonen bepflanzt, und der von Unregelmßigkeiten bisher fast ausgemergelte Krper bekam nach dieser Kur wieder ein blhendes Aussehen.8
Andererseits konnten ungewohnte, verdorbene oder falsch zubereitete Speisen die Gesundheit der Mnner stark beeintrchtigen. Nach der Schlacht an der Katzbach (ein Nebenfluss der Oder in Schlesien) trieben Jakob Rhrig und einige Kameraden ein Schwein auf, schlachteten es und aßen das Fleisch, das zusammen mit Kartoffeln gekocht wurde. Das hatte schlimme Konsequenzen: Was geschah? Wir htten es freilich denken knnen. Der
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frische Speck verfehlte seine Wirkung nicht. Es war eben so, als htte jeder vier bis sechs Lot [ca. zwei Drittel bis einen Liter] Rizinusl eingenommen. Waren wir nicht schon matt und elend, so wurden wir es jetzt. 9
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Essen, Trinken, Kleidung
Die Soupe
M an muss das Leben nehmen, wie es kommt, und die soupe, wie sie ist. Diese Weisheit war in der franzsischen Armee weit verbreitet, und sie beantwortet auch die Frage, was denn in eine soupe hineinkam: alles, was gerade zur Hand war. Die Soldaten besorgten Wasser und warfen Fleisch, Gemse, Reis, Mehl, Fisch, Rben oder Kraut in die marmite, den Kessel, den jede Korporalschaft mit sich schleppte. Die abendliche soupe war auf dem Marsch die Hauptmahlzeit. Hatten die Soldaten Glck, dann hatten sie nicht nur gute Zutaten, sondern auch etwas Salz bei sich. Hatten sie Pech, dann stammte das Wasser im Kessel aus einem Regenwasserbottich, in dem tote Muse schwammen, im Kessel war nur Pferdefleisch, und statt Salz mussten sie Schwarzpulver nehmen, das dem Essen einen Geschmack nach Schuhwichse gab.
Mutmacher und Strkungsmittel: Alkohol
Wo die Verpflegung knapp war, wurde vor allem Brot vermisst, aber auch der Alkohol. Bei kaltem, regnerischem Wetter sehnten sich die Soldaten nach Branntwein. Bei jeder Plnderung war es zunchst der Alkohol, nach dem die Mnner suchten. Der Alkohol spielte fr die Soldaten Napoleons, wie zu allen anderen Zeiten, eine wichtige Rolle. Das galt jedoch auch fr viele Zivilisten, vor allem fr jene, die sich vornehmere Getrnke wie Kaffee, Tee oder heiße Schokolade nicht leisten konnten. Branntwein ersetzte dem Bauern und Tagelhner den Kaffee, mit dem der Brger des Morgens seine Lebensgeister weckte. Napoleon selbst verordnete 1809, dass die in Deutschland einquartierten Truppen zum Frhstck neben ihrer Brotration ca. 0,03 Liter eau de vie, also Schnaps, erhalten sollten.
Mutmacher und Strkungsmittel
Abends im Biwak. Soldaten haben es sich um ein Lagerfeuer bequem gemacht, ber dem die soupe vor sich hinkocht.
Dass sich viele Soldaten nicht mit diesen vorgeschriebenen Rationen begngten, sondern hufig dem Alkohol in weitaus grßeren Mengen zusprachen, war der Disziplin nicht frderlich. Es hagelte Strafen fr Trunkenheit im Dienst. So war der
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Essen, Trinken, Kleidung
Stoßseufzer: „Mein Hauptmann sieht mich jedes Mal, wenn ich getrunken habe, aber nie, wenn ich durstig bin“, in der Armee hufig zu hren. Soldaten nahmen den Alkohol nicht nur wegen des Rausches reichlich zu sich. Er ließ sie auch krperliche Belastungen besser ertragen. Der Schnaps etwa, den Jakob Walter in Wilna gekauft hatte, hatte eine unerwartete Wirkung: Dieweil ich innerhalb drei Stunden drei Schoppen [ca. 1,4 Liter] Branntwein getrunken hatte, muss mancher
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glauben, [dass] ich mich ungemein damit berauscht [hatte], wozu es aber weit fehlte, obgleich der Branntwein ein
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ordentlicher Fruchtbranntwein war, so habe ich wenig im Kopf davon gesprt, da der Magen und alle Teile des Krpers leer und ausgehhlt, und keine Krfte zuvor da waren. 10
Nicht nur als „Augenffner“ am Morgen und als Stimulans fr mde Mnner diente der Alkohol, sondern auch als „Mutmacher“ vor gefhrlichen Einstzen. Als im Juni 1811 das 117. Linienregiment zum Sturm auf die belagerte Stadt Tarragona antreten musste, wurden Wein und Schnaps ausgegeben. Denn, wie sich Jakob Klaus erinnerte: „Wir, meine Kompanie Voltigeure und eine Kompanie Grenadiere [...], wir zwei Kompanien mussten als erste in die Bresche steigen.“11
Das kstlichste Nass: Wasser
Der Alkohol war allerdings nicht nur ein Segen fr die Soldaten. Hufiger und bermßiger Genuss untergrub die Gesundheit und setzte die krperlichen Widerstandskrfte herab. Aber: Alkohol gehrte zu den Grundnahrungsmitteln der Soldaten, weil er oft gesnder war als Wasser, das nicht selten verseucht oder verdreckt war.
Das kstlichste Nass
Um das Wasser dennoch trinken zu knnen, behalfen sich die Soldaten mit primitiven Filtern, die natrlich das Wasser nicht keimfrei machen konnten. Jakob Walter schildert eine solche Methode: [...] um Wasser zum Trinken und Kochen zu erhalten, wurden in die Smpfe drei Fuß [ca. ein Meter] tiefe Gruben
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gegraben, in welchen das Wasser zusammenlief, [es war] jedoch ganz warm, braunrot und [voll mit] Millionen kleiner
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roter Wrmchen, sodass das Wasser in Leinwand gebunden und mit dem Mund durchgesaugt werden musste [...]. 12
Etwas wirkungsvoller drfte die von dem Gardeunteroffizier Bourgogne berichtete Methode gewesen sein, das Wasser durch Holzkohle zu filtern. Hufig wurde dem Wasser Essig beigemischt, um es so trinkbar zu machen. Essig galt zudem als Konservierungsmittel und als Antiseptikum. Als spanische Hndler franzsischen Kriegsgefangenen auf der kleinen Balearen-Insel Cabrera ihre Waren verkauften, mussten die Franzosen ihre Mnzen in Essig tauchen, bevor sie dafr Nahrungsmittel erhielten. Die Spanier frchteten sich vor ansteckenden Krankheiten. An Gegenden mit schlechtem Wasser erinnerten sich die Soldaten genauso gut wie an solche, in denen sie hungerten. Von der Hafenstadt Ostende etwa wusste Jakob Rhrig zu berichten: Ein vortreffliches, moussierendes [schumendes] Weißbier bekommt man in Ostende […]. So ausgezeichnet nun dieses
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Bier ist, so schlecht steht es aber mit dem Trinkwasser, das nur aus in Zisternen aufgefangenem Regenwasser besteht. Steht es etliche Stunden in einem Gefße, so ist es schon mit einem grnlichen Schmante berzogen, und wer davon trinkt, dem ist auch das Wechselfieber [Malaria] ganz gewiss. 13
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In Ostende war es jedenfalls gesnder, Bier zu trinken als Wasser – fr Soldaten eine ertrgliche Alternative … Tabak: Ein wichtiges Genussmittel
Um sich einigermaßen mit seinem Los als Soldat abzufinden, brauchte der Veteran neben einer krftigen Suppe, frischem Brot, einer Flasche Schnaps oder Wein und ab und an einem Brief aus der Heimat vor allem Tabak. An den Quartieren in Deutschland schtzte Elzar Blaze insbesondere die Tatsache, dass die Mnner, anders als in Frankreich, fr Unterkunft und Verpflegung nichts bezahlen mussten. So habe man das Geld fr wichtigere Dinge ausgeben knnen, etwa Tabak. Das genussvolle Rauchen war in den Armeen weit verbreitet. Mannschaftssoldaten bevorzugten die Pfeife, Offiziere Zigarren. Nur in Spanien behalf man sich nach Landessitte mit „spanischen Zigarren“, in Papier gerollten Tabak, also Zigaretten. Wenn es an Tabak fehlte, wurde dieser Mangel ebenso stark beklagt wie der anderer Genussmittel. Der in britische Kriegsgefangenschaft geratene Leutnant Venator empfand das Fehlen von Tabak whrend seines Aufenthaltes im Lager als besonders schmerzlich: „Deshalb sammelten wir […] die berreste, die die Hospital- und Gefngnisbeamten aus ihren Pfeifen geraumt hatten. Und wie lange musste man sammeln, bis eine Pfeife gefllt war!“14 Nach der Schlacht von Eylau (im Februar 1807) wetteiferten einige franzsische Offiziere, wer von ihnen die schlimmsten Entbehrungen zu erleiden gehabt hatte. Es siegte ein alter Husarenoffizier. Whrend ein Offizier drei Tage kein Brot gegessen, der nchste von Pferdefleisch gelebt und der dritte drei Tage lang berhaupt nichts zu essen gehabt hatte, hatte der Husaren-
Die Uniformen
offizier drei Tage lang Heu geraucht. Das Mitgefhl seiner Kameraden war ihm gewiss.
Eine bunte Welt? Die Uniformen
Die Uniformen der napoleonischen Soldaten waren zunchst einmal unbequem. Der Schnitt stammte noch aus den Zeiten des Ancien Rgime. Die Soldaten trugen als Beinkleid die bis knapp unters Knie reichende culotte, darunter Unterzeug und darber lange Gamaschen, die bis bers Knie reichten. Zusammen machten diese drei Kleidungsschichten – von denen zwei seitlich geknpft waren – das Marschieren zur Qual. Natrlich behalfen sich die Soldaten schon bald damit, dass sie die Gamaschen wegließen und die Kniehose durch die lange, bequeme pantalon aus Leinen oder Wolle ersetzten. Die Kopfbedeckung war bei der Infanterie bis etwa 1806 der Zweispitz oder bicorne, oft en colonne getragen, also mit den Spitzen nach vorne und nach hinten. Denn sonst schlug einem der Nebenmann beim Gewehrdrill jedes Mal den Hut vom Kopf. Regnete es, so verwandelte sich der bicorne in einen formlosen Klumpen Filz. Der Uniformrock war ebenfalls unbeliebt. Er war ab dem Brustbein ausgeschnitten und endete in langen, nutzlosen, mitunter hinderlichen Rockschßen. Die Soldaten der Revolution beklagten sich darber, dass er die empfindliche Bauchgegend nicht vor Klte schtzte, die nur von einer einfachen Weste bedeckt war. Erst nach und nach nderte sich die Uniform zu mehr Bequemlichkeit und Schutz. Der hohe, zylindrische Tschako, der, 1806 eingefhrt, das Bild von Napoleons Soldaten stark prgt, verlor weniger schnell die Form als der Zweispitz. Er war mit Leder eingefasst und konnte mit ltuch berzogen
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Entwurf eines Tschakos fr Grenadierkompanien der Linieninfanterie aus dem Jahr 1812.
werden. Er bot zudem einen gewissen Schutz gegen Sbelhiebe, nahm persnliche Habe auf und machte den Soldaten grßer und damit furchterregender. Allerdings galt er als unbequem. Dem westflischen Leutnant Wachsmuth wurde nach seiner
Die Uniformen
Gefangennahme in Russland seine weiche Mtze gestohlen. So musste er auf seinen Tschako als Kopfbedeckung zurckgreifen, „der bekanntlich nicht eben zu den bequemsten Kopfbedeckungen gehrt und besonders als Nachtmtze die schlechtesten Dienste leistet“15 . Die lange Hose wurde ebenso durch die normative Kraft des Faktischen bald Standardausrstung. Und zu guter Letzt, 1812, wurde ein neuer Waffenrock eingefhrt, der nicht nur die Brust bedeckte, sondern auch den Oberbauch. Auf die vielfltigen Uniformen der Garde, der Kavallerie, der Gendarmen, der Matrosen, der Artillerie, der Marschlle, Generle oder gar der ußerst pittoresken aides-de-camp, der schneidigen jungen Stabsoffiziere einzugehen, die als wagemutige Meldereiter zwischen den verschiedenen Teilen der Armee hin und her galoppierten, erbrigt sich hier. Die Uniformierung orientierte sich oft weniger an den Vorschriften als am persnlichen Geschmack der Regimentskommandeure. Erstrebenswert schienen vor allem reich verzierte Husarenjacken, Mtzen aus Brenfell und mglichst viele Federn an der Kopfbedeckung. Da die Offiziere ihre Uniformen selbst bezahlen mussten, trieb die Extravaganz ihrer Regimentschefs sie mitunter an den Rand des Ruins. Ein Husarenoffizier beschwerte sich, sein Regiment habe in kurzer Zeit drei Kommandeure gehabt. Jeder habe eine nderung der Uniform angeordnet: Der Oberst hat uns gezwungen, unsere Tschakos zu ver-
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kaufen, die 160 Francs gekostet haben, und uns gezwungen, einen Kolpack [niedrige Fellmtze] anzuschaffen, obwohl
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das Ministerium das anders angeordnet hatte.16
Das schlagendste Beispiel fr die geckenhafte Prunksucht mancher Offiziere war Joachim Murat, der berhmte Reiterfhrer Napoleons. Seine Soldaten verpassten ihm den Spitznamen
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Die Kaisergarde (Garde Impriale) hatte ein eigenes Briefpapier. Geschmckt war es mit den Portrts Napoleons und seiner Gattin, der Kaiserin Marie-Louise. In der Mitte zwischen den Portrts waren Soldaten abgebildet. Hier ein chasseur-voltigeur (leichter Infanterist), auf der gegenberliegenden Seite ein chasseur cheval (Jger zu Pferde) der Garde.
„Roi Franconi“ in Anspielung auf den beliebtesten Zirkus jener Zeit. Dass der Kaiser selbst sich schlicht kleidete, mit dem grnen Rock seiner Gardejger, einem weitgehend schmucklosen Zweispitz und mit einem grauen Mantel, war Teil der geschickt und erfolgreich inszenierten angeblichen Verbundenheit mit seinen einfachen Soldaten. Alles in allem darf man sich die franzsische Armee, den Schrecken Europas, getrost als eine gut bewaffnete, kampferprobte Bande von Vagabunden vorstellen. Die Farbenpracht der Uniformtafeln hat im brigen schon deshalb mit dem Bild der Napoleonischen Armeen wenig zu tun, weil die meisten Soldaten praktisch das ganze Jahr ber Mntel trugen, die sie als Ersatz fr die abgeschafften Zelte erhalten hatten.
Die Uniformen
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L eichte und schwere Kavallerie
E s gab auf den Napoleonischen Schlachtfeldern leichte und schwere Kavallerie. Die leichte Kavallerie (Husaren, Jger zu Pferde, Ulanen) sollte vor den eigenen Linien aufklren, den geschlagenen Feind verfolgen und hinter den feindlichen Linien operieren. Die Mnner waren klein, die Pferde schnell und Ausrstung und Bewaffnung leicht. Die schwere Kavallerie (Krassiere, carabiniers, Grenadiere zu Pferde) sollte durch wuchtige Stße die feindliche Linie durchbrechen und so die Entscheidung herbeifhren. Sie saß auf starken Pferden und war teilweise durch Brust- und Rckenpanzer geschtzt. Ein Zwischending waren die Dragoner: „Dragoner ist halb Mensch, halb Vieh, aufs Pferd gesetzte Infanterie.“ Dragoner konnten sowohl als Angriffskavallerie eingesetzt werden, als auch – abgesessen – als bewegliche Infanterie.
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Essen, Trinken, Kleidung
Unentbehrlich: Die Schuhe
Das wichtigste Kleidungsstck des Infanteristen war das Schuhwerk. Die Soldaten trugen genagelte Halbschuhe, die geschnrt wurden. Nur Offiziere und die Kavallerie trugen Stiefel. Dabei waren die Stiefel der schweren Kavallerie nicht zum Laufen geeignet. Ein Garde-Dragoner auf dem Rckzug von Moskau musste sich Halbschuhe geben lassen, damit er mit den anderen mithalten konnte. Napoleon ging davon aus, dass ein Paar Schuhe nach drei Monaten verschlissen war. Andere Autoren geben eine durchschnittliche Lebensdauer der Schuhe von rund 350 Kilometern an. Abhngig war dies natrlich vom Zustand der Wege. Jedenfalls sollte jeder Soldat zu Beginn eines Feldzuges mit wenigstens einem Paar Ersatzschuhe oder mit zustzlichen Sohlen ausgerstet sein. Dennoch gingen die Mnner hufig barfuß oder mit Lumpen um die Fße, da der Verschleiß groß und die Qualitt der gelieferten Schuhe zumeist mangelhaft war. Jakob Rhrig erinnert sich an die Schuhe, die er und seine Kameraden im Frhjahr 1813 in Magdeburg erhalten hatten: Wir bekamen auch Schuhe geliefert, die aber alle so schlecht waren, dass sie noch keine acht Tage bei nassem Wetter
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aushielten, indem die Sohlen von schlechtem Kopfleder und die Oberschuhe von Lappleder [schlechtes, klumpiges Leder] waren. Wurden sie nass, so drehten sie sich um, die Sohlen nach oben und das Oberleder unter den Fuß. 17
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Die Schrecken des Krieges: Verwundung und Gefangenschaft
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n den Erinnerungen der Soldaten nehmen die Schilderungen von Kampfhandlungen oft nur wenig Raum ein. Das
liegt zum einen daran, dass große Schlachten eher die Ausnahme im Soldatenalltag waren. Der chasseur Charles Parquin etwa war vier Jahre Soldat, bevor er bei Jena zum ersten Mal den Feind zu Gesicht bekam. Dass Kampfhandlungen in den Erinnerungen nur selten geschildert werden, liegt zum anderen aber auch daran, dass die einfachen Soldaten die Schlacht meist als unberschaubares Chaos erlebten. Oft wechselte sich hilfloses Warten mit einer raschen, verwirrenden Aufeinanderfolge von Ereignissen ab. Konkrete Erinnerungen sind hufig auf besondere Eindrcke, auf ausschnitthafte Momentaufnahmen beschrnkt: die eigene Verwundung, den Tod eines Freundes, das Explodieren eines Munitionswagens, den Einsturz einer Brcke. Wie wenig der einfache Soldat von einer Schlacht wahrnahm, kann man den Erinnerungen von Jakob Walter an die Schlacht von Smolensk entnehmen: Also sobald der Tag [der 17. August 1812] kam – ging es auf
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die Stadt los, es wurde unterhalb der Stadt ber das Wasser gesetzt, die Vorstdte auf der nrdlichen Seite erstrmt und in Brand gesteckt und somit ganz abgebrannt […], auf meine Kameraden konnte ich keine Acht mehr haben, wusste
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Die Schrecken des Krieges
demnach nicht, auf welche Art selbe teils umgekommen oder vermisst worden sind, alles feuerte, schlug auf den Feind los mit wilder Raserei und man konnte sich nicht denken, ist man
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vorn, mitten oder hinter dem Mittelpunkt der Armee. 1
Orientierungslos in wilder Raserei zu schießen und zu schlagen, ohne zu wissen, was die Nebenmnner und Kameraden taten und erlitten: Das war der Erlebnishorizont einfacher Soldaten in den Schlachten der Napoleonischen Epoche.
Am Vorabend der Schlacht
Der Gardeunteroffizier Bourgogne erinnert sich an den Vorabend der Schlacht von Borodino im September 1812: „Wir machten uns am 6. [September] fertig fr die große Schlacht am folgenden Tage; einige reinigten ihre Musketen und andere Waffen, andere fertigten Verbandsmaterial fr die Verwundeten, manche machten ihr Testament und wieder andere sangen oder schliefen in vlliger Gleichgltigkeit.“2 Manche beteten auch. Der Rekrut Jean-Roch Coignet machte vor seiner ersten Schlacht mit einer Patrone das Kreuzzeichen – eine eher ungewhnliche Art, gttlichen Beistand zu erflehen. Als dann am nchsten Tag die Schlacht begann, jubelte die gesamte Armee, als die ersten Kanonenschsse fielen: das Signal fr den Beginn des Kampfes. Dieser Jubel wird mehrfach berichtet. Der Pflzer Johann Philipp Kaufmann erinnerte sich an den Vorabend der Schlacht von Austerlitz im Dezember 1805: Die Nacht vor der Schlacht von Austerlitz, da stand die
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ganze franzsische Armee schon ganz da und in dieser Nacht war ein so großes Jubelleben in der franzsischen Armee, wie gar keines mehr danach noch so gewesen. Man kann gar nicht den Jubel beschreiben, wie er sich da zugetragen hat. 3
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Am Vorabend der Schlacht
Eine bevorstehende Schlacht zu bejubeln scheint zunchst seltsam. Das „Jubeln“ baute jedoch Spannungen ab und strkte die Motivation, vor allem, wenn der Kaiser persnlich auf dem Schlachtfeld war. Zudem hatten die Soldaten durchaus einen konkreten Grund, den Beginn einer großen Schlacht zu begrßen. War sie geschlagen und gewonnen, dann konnte der Feldzug zu Ende, der Friede nahe sein. So war es nach Austerlitz oder nach Wagram. Die harten Mrsche waren vorbei, die unbequemen Biwaks und der Hunger. Eine siegreiche Schlacht konnte warme Quartiere, ausreichendes Essen, Ruhe, Pflege, medizinische Betreuung und auch Beute bringen. Aber oft genug war die gute Stimmung am Vorabend der Schlacht nicht viel mehr als Galgenhumor. Der wrttembergische Kavallerieleutnant von Knig lag auf dem Vormarsch nach Moskau mit Offizierskameraden im Biwak. Man ließ sich einen Hasen schmecken, trank gezuckerten Kaffee und Franzbranntwein – und redete darber, wer den nchsten Tag wohl berleben wrde: Da wir im Angesicht des Feindes stunden [sic!] und den
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anderen Tag mit ihm handgemein zu werden sicher waren, so wurde, brigens in guter Stimmung, darber gesprochen, wer von uns wohl morgen Abend noch am Leben sei. Es war dieses wie eine Ahnung. Denn mit Tagesanbruch abmarschiert, hatten wir mit der russischen Nachhut […] ein Gefecht, bei welchem Leutnant von Schtz blieb. Die Leute machten sogleich ein Grab und steckten ein aus Zweigen
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gemachtes Kreuz auf dasselbe. 4
Manche Soldaten empfanden den Augenblick der Feuertaufe erregend. Der junge badische Leutnant Holzing erlebte den Abend nach seinem ersten Gefecht in Spanien in geradezu euphorischer Stimmung:
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Die Schrecken des Krieges
„Jean-Jean“ (Spitzname fr junge, unerfahrene Rekruten) erlebt seine Feuertaufe. Das Entsetzen ber die Realitt eines leichenbersten Schlachtfeldes ist ihm ins Gesicht geschrieben.
Der Zusammenstoß mit dem Feinde hatte mein Blut so in einen vlligen Freudenrausch gebracht, dass ich darber
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meine bisherigen Leiden vergaß und auf einem Bndel Heidekraut […] in sßer Erschpfung einschlief, nachdem ich mein
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Gesicht liebkosend in den rosenduftigen Schleier gehllt hatte.5
Maurice Dupin, der Vater der franzsischen Schriftstellerin George Sand, schrieb im Oktober 1799, nach der Schlacht von Zrich, ber seine Feuertaufe, sie sei „unterhaltsam“ gewesen: das Donnern der Kanonen wie die Ouvertre einer Oper. Der Lrm der Kanonen und der Gewehre, der sich an den nahe liegenden Bergen gebrochen habe, sei erhebend gewesen: „Und als die Sonne die Szene beschien und die Schwaden aus Pulverdampf vergoldete, war dies schner als alle Opern der Welt.“ 6
Am Vorabend der Schlacht
Weitaus nchterner schildert Jakob Rhrig seine Feuertaufe. Es war im April 1813, bei Mckern in der Nhe von Magdeburg. Rhrig wurde zusammen mit den anderen voltigeurs seiner Einheit auf Vorposten geschickt. Als sich zwei feindliche Reiter zeigten, befahl ihm sein Unteroffizier, auf einen der beiden Kavalleristen zu schießen. Rhrigs Reaktion: Ich weigerte mich, indem es mir gegen die Natur ging, auf einen Menschen anzuschlagen, der mir doch ganz und gar noch nichts getan hatte. [Der Unteroffizier] drang aber im
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Ernste in mich, und die anderen lachten mich aus. Was wollte ich machen? Ich hob den Kopf gleich einem Frosch
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ber den Damm des Grabens in die Hhe, legte an, zielte nach dem [Reiter] mit dem Sbel in der Hand, und als es krachte, fiel der Sbel zur Erde. 7
Rhrig hatte den feindlichen Reiter nicht gettet. Doch mit dem Schuss lste er eine Kettenreaktion aus, die er bald bereute. Denn nun war das Gefecht erffnet, und feindliche Infanterie ging gegen seine voltigeurs vor. Wieder reagierte Rhrig mit mehr Verstand als Heldentum: Mir wurde nicht wohl ums Herz, und ich dachte: Httest Du
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nur nicht geschossen! Und zum Sergeanten sagte ich: „Wir mssen zurck, wir knnen uns ja doch gegen eine solche
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Masse nicht zur Wehr setzen.“ Er antwortete: „Hier ist kein Fortlaufen mglich, hier heißt es, sich gewehrt.“8
In dem nun beginnenden Gefecht machte Rhrig eine Erfahrung, die auch von anderen berichtet wird. Als der Beschuss zunahm, wnschte er sich zunchst „in sein Stbchen zurck“. Doch „als wir recht im Gefecht waren, da verschwand die Furcht nach und nach“ 9 . hnlich erging es Elzar Blaze. Auch nachdem er schon zahlreiche Schlachten und Gefechte hinter
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Die Schrecken des Krieges
sich gebracht hatte, „verbeugte“ er sich noch immer bei jedem ersten Schuss, der auf ihn abgefeuert wurde. Dem zweiten begegnete er „mit weniger Hflichkeit“, beim dritten blieb er aufrecht. Die Furcht, so Blaze, verschwand, so bald man sich in der Hitze der Schlacht wieder fand: Wenn man sich bewegt, wenn man schießt, wenn man
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kmpft, verschwinden diese Gefhle [der Furcht], der Qualm, der Lrm der Kanonen, die Schreie der Kmpfer,
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all das versetzt jeden in einen Rausch und man hat keine Zeit mehr, an sich selbst zu denken. 10
Tod auf dem Schlachtfeld
Rhrigs Schilderung seiner Feuertaufe lsst im brigen einiges erkennen. Zunchst die Tatsache, dass die Soldaten die natrliche Hemmung berwinden mussten, andere Menschen zu tten, die ihnen nichts getan hatten. Ein Grund, weshalb er doch schoss und nicht dem natrlichen Trieb folgte, vor der Gefahr davonzulaufen, war der Gruppenzwang: „[…] die anderen lachten mich aus.“ Und: Rhrig hatte einen Befehl erhalten, den er nicht ohne Weiteres ignorieren konnte. Trotzdem: Das Tten, vor allem aus nchster Nhe, belastete die Mnner. Leutnant Holzing schildert einen Nahkampf in der Schlacht bei Medellin: Ich habe damals nur einmal von meinem Degen Gebrauch
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gemacht, ein spanischer Korporal hatte auf mich im Nahkampf angelegt, seine Kugel riss mir die Bandschleife vom Hut, ich bot ihm mit gehobenem Stahl Quartier [Aufforderung, sich zu ergeben], aber er schwang den Gewehrkolben ber sich, um ihn mir auf den bloßen Kopf
Tod auf dem Schlachtfeld
zu schmettern, da stieß ich ihm das Eisen in die Halsgrube, dass er wie ein Sack zusammenbrach. Es war der erste Mensch, den ich mit dem Degen niedergestreckt habe, [ich] sprte einen eisigen Schauer im Nacken, mit verbissener Lippe wischte ich die blutige Klinge an der Montur des Toten sauber. Das Gefecht riss mich weiter, aber ich war froh, dass mich an diesem Tag die Notwehr nicht mehr zum Morden zwang, der Anblick dieser mit der Soldatenehre
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unvereinbaren Metzelei wrgte in mir den Ekel hoch. 11
Ein hnliches Gefhl berkam auch Jakob Rhrig, nachdem er einen russischen Soldaten aus nchster Nhe erschossen hatte. Seine Gedanken gingen an die Mutter dieses Toten. Er dachte darber nach, mit welcher Sorgfalt sie ihren Sohn erzogen hatte: „O, du arme Mutter“, sprach ich bei mir selbst, „hier liegt Dein Sohn, um den du dir in diesem Augenblicke vielleicht
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Kummer und Sorgen machst, auch wohl Trnen vergießt.“ Dabei stiegen solche Empfindungen in mir auf, dass ich,
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wenn es in meiner Macht gestanden, alles Kriegfhren eingestellt htte.12
Einfache Soldaten und Subalternoffiziere hatten in einer Schlacht meist nur wenig Bewegungs- und Entscheidungsspielraum. Sie mussten dort ausharren, wo ihr General sie postiert hatte. Oft standen sie lange und warteten auf irgendeinen Befehl zum Angriff, zum Stellungswechsel oder zum Rckzug. Wurden sie whrend dieser Zeit beschossen, dann waren die Nerven aufs ußerste angespannt. Manche Einheiten hielten dem Druck nicht stand und gingen nach hinten. Whrend der Schlacht von Aspern-Essling stand Jean-Roch Coignet mit der Kaisergarde stundenlang im feindlichen Artilleriefeuer, ohne sich vom Fleck rhren zu knnen:
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Fnfzig Kanonen donnerten auf uns los, ohne dass wir uns
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einen Schritt bewegen oder unsere Gewehre abfeuern konnten. Stellen Sie sich die Agonie vor, die wir in dieser
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Position erleiden mussten, denn ich knnte sie niemals beschreiben. 13
Eigeninitiative im Kampf wurde von einem Soldaten oftmals erst dann gefordert, wenn seine Einheit auseinandergebrochen, wenn der feindliche Infanterie- oder Kavallerieangriff erfolgreich war und die Truppen zurckfluteten. Um Tod, Verwundung oder Gefangennahme zu entgehen, waren nun Geistesgegenwart, Mut und rasches Handeln notwendig. Jakob Rhrig schildert eine solche Situation. Gegen Ende der Schlacht von Leipzig wurde seine Einheit wie die ganze Armee Napoleons immer weiter in die Stadt hinein gedrngt. Nach einem Gegenangriff hatte Rhrigs Regiment das Dorf Gldengossa wieder erobert und sollte es nun verteidigen. Die Mnner verschanzten sich hinter Gartenmauern, in die sie mit ihren Bajonetten Schießscharten geschlagen hatten. Alles feuerte auf die angreifenden sterreicher, als die Infanteristen pltzlich gewahr wurden, dass der Feind hinter ihnen wieder ins Dorf eingedrungen war. Die Kompanie war abgeschnitten. In Gefangenschaft jedoch wollte Rhrig keinesfalls. Er versteckte sich zunchst in einem der Huser, whrend in den Straßen Granaten explodierten und sterreicher im Hof des Hauses miteinander sprachen. Schließlich hrte er seine Kameraden rufen: „En avant, avancer“ („Vorwrts, vorrcken!“). Er wagte es, sein Versteck zu verlassen, zumal das Strohdach seines Unterschlupfes Feuer gefangen hatte:
Rette sich, wer kann
Kaum war ich bis an das Hoftor gekommen, so rutschte das
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Dach herab. Aber nun war ich aus dem Regen in die Traufe gekommen, denn ich stand zwischen zwei Feuern im Kugelregen. Vor mir unsere Leute und hinter mir die sterreicher. Was nun machen? Mich lange zu bedenken, war nicht ratsam. So nahm ich mein Gewehr in die Hand und lief schnurstracks unseren Leuten zu […]. Bei dieser Gelegenheit erhielt ich eine Flintenkugel in den Tschako und drei in den Tornister, welche letzteren in den Hemden stecken blieben. Es ist zu verwundern, dass ich mit dem
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Leben davon gekommen bin […].14
Das Erlebnis der Schlacht lag den Mnnern oft noch lange auf der Seele. Viele Jahre nach der Schlacht von Smolensk erinnerte sich Jakob Walter, wie er am Abend des Kampfes nichts essen konnte und keine Ruhe fand. Die Gedanken wirbelten durcheinander, er hatte Angst vor dem kommenden Tag, der neue Kmpfe bringen konnte. Und whrend des wenigen Schlafes beherrschten die Schreckensbilder der vielen toten Menschen und Pferde wie eine „Geisterwelt“ seine Phantasie. Wie viele andere Soldaten auch, dankte er Gott, dieses Gemetzel berlebt zu haben: „Da ich nicht das Unglck gehabt hatte, blessiert zu werden, dachte ich, Gott, du hast mich bisher leben lassen, ich danke dir und opfere dir mein Leiden auf und bitte zugleich, mich auch ferner in deinen Schutz zu nehmen.“15
Rette sich, wer kann
Nicht alle Soldaten blieben whrend einer Schlacht standhaft. Viele verloren an einem bestimmten Punkt die Nerven und gingen zurck, andere drckten sich schon vor Beginn des Kampfes. Der Horror einer Schlacht war groß. Wenn junge Rekruten
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zum ersten Mal ins Gefecht gingen, kamen ihnen oft schon Verwundete entgegen, die ihnen Bengstigendes zuriefen: „Der Feind ist zehnmal strker als wir“; „rennt nicht so schnell, beeilt euch nicht, um gettet zu werden msst ihr nicht so rennen“; „sie haben mir die Hand weggeschossen, Euch werden sie etwas anderes wegschießen“; „schau Dir den an, sieht der nicht aus wie ein Toter?“16 Der Regimentsmusiker Philippe-Ren Girault war von seinen Gefhlen bermannt, als er zum ersten Mal die Toten und Verwundeten eines Schlachtfeldes sah. Doch wurde dies fr ihn bald ein alltglicher Anblick. Seine Empfindlichkeit fr die Leiden der Anderen verschwand fr lange Zeit, wie er sich ausdrckte, hinter einem Schutzpanzer. Dennoch konnten auch erfahrene Soldaten die Fassung verlieren, wenn sie den Anblick eines Leichenfeldes nach einer Schlacht ertragen mussten. Hauptmann Rder erlebte ein solches Feld in der Nhe der litauischen (am Niemen gelegenen) Stadt Kowno. Tausende toter Menschen und Pferde strmten einen solchen Gestank aus, dass Rder auf seinem Weg immer wieder die Luft anhalten musste, damit nicht „Leber und Lunge nach oben kamen“ 17 . Mitunter war er gezwungen, sich niederzulegen bis der Brechreiz vorber war. Feigheit vor dem Feind oder Desertion auf dem Weg zur Front waren keine Seltenheit – in den Briefen, Memoiren und Tagebchern der Soldaten ist davon (verstndlicherweise) keine Rede, allenfalls wenn ber die Feigheit der anderen berichtet wird. Napoleon suchte immer wieder zu verhindern, dass Verwundete oder Gefangene von unverletzten Soldaten nach hinten eskortiert wurden und diese sich so aus dem Feuer stehlen konnten. Philippe-Ren Girault besttigt diese Erfahrung. Jeder Verwundete habe in der Schlacht bei Wagram die Armee mehrfach
Rette sich, wer kann
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Die Knigin der Schlachtfelder
D ie Infanterie wurde als „Knigin des Schlachtfeldes“ bezeichnet. Das sollte die fantassins, die einfachen Fußsoldaten, darber hinwegtrsten, dass sie das schlechteste Los gezogen hatten. Grundstzlich gab es drei Arten von Infanterie: die Masse der Fsiliere (von fusil, frz. fr Gewehr), die Grenadiere und die leichte Infanterie. Grenadiere waren die krftigsten Mnner, die zumeist fr spezielle Aufgaben eingeteilt wurden, oft als eine Art von Rammbock. Die voltigeurs waren die leichten Infanteristen eines Bataillons. Sie waren klein, intelligent und behnde, da sie oft auf sich allein gestellt vor den eigenen Kolonnen kmpfen mussten. Jedes Infanteriebataillon hatte vier Fsilier- und je eine Grenadierund voltigeur-Kompanie. Es gab auch ganze Regimenter leichter Infanterie, deren Grenadiere als carabiniers und deren leichte Kompanien als tirailleurs (Schtzen) bezeichnet wurden.
geschwcht. Denn stets seien vier Nicht-Verwundete herbei gesprungen, um ihren Kameraden nach hinten zu tragen.18 Im Sommer 1813 stellten die rzte in den Hospitlern der franzsischen Armee ein alarmierendes Ansteigen von Handverletzungen fest, ein deutlicher Hinweis auf Selbstverstmmelungen. Strenge Untersuchungen wurden durchgefhrt. In zahlreichen Fllen besttigte sich der Verdacht, dass vor allem junge Soldaten sich in die Hand geschossen hatten, um so dem Schlachtfeld zu entgehen. Nur die Intervention des berhmten Chirurgen Dominique Larrey fhrte dazu, dass es keine harten Bestrafungen gab. Er fhrte die große Zahl der Handverletzung auf „Unflle“ zurck. Jakob Rhrig wurde Zeuge einer solchen Selbstverstmmelung. Er stieß in einem Wald auf einen Soldaten von einem anderen Regiment: „Der hatte seine linke
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Die Schrecken des Krieges
Hand mit einem Tuche umwickelt und hielt die Hand ber die Mndung des Laufes. Mit der Fußspitze drckte er ab, und – zwei Finger waren hin. Was weiter aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.“19 Ging die Schlacht verloren, dann gehrte der Rckzug oder die wilde Flucht zu den schlimmsten Erfahrungen der Mnner. Der schtzende Zusammenhalt der eigenen Einheit war verloren. Befehle gab es kaum noch, jeden Moment konnte feindliche Kavallerie die fast Wehrlosen niederreiten. Jetzt galt nur noch „sauve qui peu“ – „rette sich, wer kann!“ Ein Ruf, der in der franzsischen Armee meist noch mit dem „nous sommes trahi!“, „wir sind verraten!“ ergnzt wurde. Denn da in den Augen der franzsischen Soldaten die eigene Tapferkeit als unberwindlich galt, konnte eine Niederlage nur auf Verrat zurckzufhren sein. Flucht- oder Rckzugsszenen sind oft die aufwhlendsten in den Erinnerungen der Soldaten. An der Katzbach etwa war das V. Korps unter General Lauriston, dem Rhrigs Regiment angehrte, im August 1813 schwer geschlagen worden. Die Soldaten zogen sich im strmenden Regen zurck. Dabei wurden sie von nachdrngenden Kosaken stndig bedroht. Nachdem es einem der Infanteristen trotz des Regens – der das Schießpulver unbrauchbar machte – gelungen war, einen der Kosaken aus dem Sattel zu schießen, holten diese Geschtze heran. Die Infanteristen wurden von den Kanonen zusammengeschossen, und die Kosaken ritten die Mnner großenteils nieder: „Gott, was gab das fr eine Metzelei! Alles, was unter den Sbel kam, wurde ohne Erbarmen niedergehauen und -gestochen.“ Rhrig blieb verschont und zog sich mit einer Handvoll Kameraden durch angeschwollene Bche und Flsse weiter zurck. Sein Major, dessen Adjutant und ein Tambourmajor wagten sich ins tiefe, reißende Wasser eines Gebirgsbaches,
Tapferkeit und Auszeichnung
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obwohl Rhrig sie gewarnt hatte. Die drei kamen denn auch bald nicht mehr weiter und mussten sich an einem Busch festhalten, der schließlich abriss. Die Mnner wurden fortgeschwemmt. „Wir wnschten ihnen gute Reise der Oder zu.“
Tapferkeit und Auszeichnung
Verstndlicherweise erfhrt man in den Memoiren der Soldaten sehr viel mehr ber ihre Tapferkeit als ber Deserteure und Feiglinge. Das heißt nicht, dass die Tapferen in den Armeen Napoleons zahlreicher vertreten waren als die Vorsichtigen, die das Leben mehr liebten als den Ruhm. Aber Napoleon
Die Ehrenlegion
D ie Ehrenlegion gehrte zu Napoleons erfolgreichsten Einfllen. Der Orden wurde 1802 gestiftet; erste feierliche Verleihungen des „Kreuzes der Ehrenlegion“ erfolgten 1804. Die Idee wurde als Abkehr von den revolutionren Idealen der Gleichheit zunchst heftig kritisiert. Die Ehrenlegion wurde dennoch zum Symbol der Verbindung zwischen dem Kaiser und seinen Mnnern. Das Kreuz zu erhalten, war fr viele Soldaten ein Traum. Es wurde an Offiziere wie an einfache Soldaten verliehen. Dabei ging der Kaiser meist summarisch vor: Am Abend einer Schlacht teilte er z. B. pro Regiment 20 Kreuze zu. Dabei wurden immer gleichviel Offiziere wie Gemeine bedacht. Es ging nicht unbedingt fair zu. So gab es Verleihungen an Offiziere, die gar nicht an der Schlacht teilgenommen hatten. Regimenter, die nicht unter den Augen des Kaisers kmpften, erhielten selten Kreuze. Bis zum Ende des Kaiserreichs wurden 34 000 Soldaten und 1500 Zivilisten fr ihre Verdienste durch das Kreuz belohnt.
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Die Schrecken des Krieges
wusste, wie man die Mnner dazu brachte, mehr zu tun als ihre Pflicht. Ein Mittel, dies zu erreichen, war die Ehrenlegion. Das Kreuz der Ehrenlegion erhielten Soldaten, die in der Schlacht durch besondere Tapferkeit oder mutige und kluge Entscheidungen aufgefallen waren. Nicht alle Soldaten, die das Kreuz erhielten, sahen in dieser Auszeichnung jedoch eine große Angelegenheit. Andererseits sprachen sich besonders tapfere Taten rasch herum, und die Helden wurden bewundert und beneidet. So etwa der Unteroffizier Guindey vom 10. Husarenregiment, der im Gefecht bei Saalfeld im Oktober 1806 den preußischen Prinzen Louis Ferdinand gettet hatte. In seinen Memoiren schildert der chasseur Parquin die Tat so, wie sie in der Armee erzhlt wurde: als buchstbliches Husarenstck. Dabei wurde der Mut des preußischen Prinzen erwhnt, der es abgelehnt hatte, sich zu ergeben. Doch machte auch ein Spottlied die Runde, in dem Louis Ferdinand als etwas berheblich geschildert wurde: „Das ist der Prinz Louis Ferdinand, der sich fr einen Giganten hielt. Ah, der Leichtsinnige! Ein Husar rief ihm zu: Lauf nicht so schnell. Sonst tte ich Dich auf der Stelle!“ 20 Guindey jedenfalls, der selbst eine schlimme Gesichtswunde erlitten hatte, erhielt vom Kaiser persnlich das Kreuz der Ehrenlegion. Aber so ganz zufrieden war Napoleon anscheinend nicht. Denn er erklrte dem Husaren, wenn er den Prinzen lebend gefangen genommen htte, htte er ihn zum Offizier befrdert. Tapferkeit wurde nicht nur mit Orden und Geldgeschenken belohnt. Ein hessischer Leutnant erlebte, wie eine Abteilung Infanteristen, die sich in Spanien drei Tage lang in einer Kirche gegen wilde Angriffe erfolgreich gewehrt hatte, zur Belohnung Mntel und Schuhe erhielt. Auch weniger spektakulre Taten erkannten die Mnner als besonders tapfer an. Derselbe Leut-
Tapferkeit und Auszeichnung
nant Venator erinnerte sich an einen tapferen 15 Jahre alten Knaben, der ohne Schuhe und mit blutigen Fßen dem Regiment folgte, weil er seine Kameraden nicht im Stich lassen wollte. Tapferkeit wurde also auf ganz unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen und anerkannt. Ob der heldenhafte Zweikampf des Husaren Guindey oder der Knabe, der auf blutigen Fßen seinen Kameraden folgte: Beides wurde von den Soldaten als ber das erforderliche Maß der Pflichterfllung hinausgehend gewertet. Auch die Tapferkeit des Gegners wurde mit Respekt betrachtet. Man sah sich sozusagen als Kollegen, wenn auch unter verschiedenen Fahnen. Soldatische Tugenden wie Opferbereitschaft, Standhaftigkeit oder Tapferkeit wurden auf allen Seiten hoch bewertet. Dennoch blieben besondere Tapferkeitstaten die Ausnahme. Darber sollte auch die hufige Erwhnung solcher Taten in den Memoiren nicht hinwegtuschen. Die Masse der Mnner tat das Ntigste, um nicht aufzufallen. Feiglinge und Drckeberger waren in den Armeen hufiger anzutreffen als Helden. Das hinderte die Vorsichtigen nicht daran, ebenfalls von Orden zu trumen. Eine Tapferkeitsauszeichnung bedeutete Prestigegewinn; in der Armee, aber auch in der Heimat, wo man in der Achtung seiner Umwelt stieg. Zu allen Zeiten sehnten sich die Soldaten nach einem sichtbaren Beweis ihres Mutes. Im Zweiten Weltkrieg etwa zhlte die unrechtmßige Aneignung von Orden und Ehrenzeichen zu den am hufigsten vorkommenden Militrdelikten. Aber der Traum von Tapferkeit und Ruhm blieb oft ein Traum, weil nur wenige bereit waren, das Risiko, das mit seiner Erfllung verknpft war, auch einzugehen.
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Der entfesselte Krieg
Man mag den Krieg insgesamt als Gruel ansehen. Doch meint der Begriff „Kriegsgruel“ immer auch eine Form von Gewalt, die im Grunde nicht zur Erreichung der eigentlichen Ziele, nmlich den Gegner kampfunfhig zu machen, notwendig ist. Den Soldaten aller Seiten war die brchige Linie zwischen berechtigter und bertriebener Gewalt wohl bewusst. So ist mitunter die Rede davon, es seien Gefangene „gegen jeden Kriegsbrauch“ misshandelt worden. Auch die Praxis, den Zivilisten im Feindesland mehr wegzunehmen, als man selbst wirklich brauchte, wurde von vielen Soldaten durchaus als Unrecht empfunden. Die Soldaten Napoleons waren sowohl Opfer als auch Tter. Schon die Revolutionskriege hatten das Maß an bertriebener, unntiger Gewalt erhht. So hatten die Soldaten der republikanischen Armeen zunchst noch geglaubt, gefangene Gegner seien hchst glcklich darber, der Herrschaft ihrer tyrannischen Knige entkommen zu sein. Als sich dies als Trugschluss erwies und die Gefangenen sich weigerten, auf der Seite von Freiheit, Gleichheit und Brderlichkeit in den Kampf zu ziehen, kam es vielfach zu Massakern an Kriegsgefangenen. Die Disziplinlosigkeit der revolutionren Freiwilligenarmeen bekamen auch die Zivilisten in den Lndern zu spren, in die sie vorrckten. Im Winter 1795/96 etwa war Philippe-Ren Girault mit seinem Regiment in Kreuznach einquartiert. Im selben Haus waren acht Jger zu Pferde untergebracht, die nach reichlichem Alkoholgenuss die anwesenden Tchter des Hauses die ganze Nacht hindurch vergewaltigten. Eine Strafe erhielten sie hierfr nicht. Allerdings htten sie sich, so Girault, geschmt, als sie wieder nchtern waren.
Der entfesselte Krieg
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Das Steinschlossgewehr
D ie „Braut des Soldaten“ war das Steinschlossgewehr, ein Vorderlader mit glattem Lauf. Es hatte seinen Namen von dem Feuerstein, der beim Drcken des Abzugs an einer Metallplatte rieb und einen Funken erzeugte, der die Pulverladung am Boden des Gewehrlaufes explodieren ließ. Die Waffe war nach heutigen Maßstben sehr primitiv und wenig treffsicher. Die Wirkung des Infanteriefeuers beruhte nicht auf der Genauigkeit der Waffe, sondern auf der Masse der Geschosse, die eine Einheit verschießen konnte. Aber auch, wenn sich gegnerische Linien auf kurze Entfernung gegenberstanden, war die Zahl der Treffer nicht sehr hoch. Oft ging der Schuss nicht los, die Mnner schossen in der Aufregung zu hoch oder sie hatten nur die Hlfte des Pulvers aus der Patrone in den Lauf geschttet, um den unangenehmen Rckstoß zu verringern.
Solche Gewaltttigkeiten erinnern stark an Szenen aus dem Dreißigjhrigen Krieg. In den Napoleonischen Kriegen ereigneten sich die schlimmsten Kriegsgruel auf Feldzgen in Gegenden, wo die Zivilbevlkerung nicht nur feindselig war, sondern selbst mit Gewalt gegen die Soldaten vorging. Wo immer sich Widerstand gegen die Fremdherrschaft regte, griffen die franzsischen Besatzer hart durch. Etwa gegen die Freischaren, die sich 1809 in Norddeutschland und in Tirol gegen die Fremdherrschaft erhoben. Geiseln wurden genommen, Rdelsfhrer umstandslos erschossen. Dabei standen die regulren Soldaten im Kampf gegen Aufstndische, die nicht offen fochten und von der Zivilbevlkerung untersttzt wurden. Die Feindseligkeit resultierte hier wie da in offener Aggression. Der bayerische Infanterist Joseph Deifl schreibt unverblmt: „Ich war damals auch noch
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Die Schrecken des Krieges
Franzsische Truppen erstrmen nach harter Belagerung Tarragona (1811). Im Anschluss daran kam es zu furchtbaren Gewaltexzessen.
ein junger Brausekopf – wenn ganz Tirol einen Hals gehabt htte, ich wrde ihn mit meinem Sbel abgehauen haben, denn das Spotten [,au weh, au weh, die bayerische Armee‘] und verfluchte Jodeln brachte manchen in die Hitze.“ 21 Die Bayern wteten denn auch im besetzten Tirol. Sie brannten Huser nieder und misshandelten die Bevlkerung. An einer Brcke im Zillertal hngten sie neun Tiroler auf, die sich geweigert hatten, bayerisch zu werden. Ihr „lieber kaiserlich [sterreichisch] sterben als bairisch werden“ war ihnen zum Verhngnis geworden. Die schlimmsten Exzesse wurden jedoch – von beiden Kriegsparteien – in Spanien und Russland begangen. Kaum eine Schilderung ist dabei so erschtternd wie die von Jakob Klaus, der mit seinem Regiment im Frhsommer 1811 an der Belagerung von Tarragona teilnahm. Wie verbissen der Kampf um die Stadt gefhrt wurde, macht das Schicksal von drei
Der entfesselte Krieg
franzsischen Grenadieren vom 16. Linienregiment deutlich. Sie waren bei einem Ausfall der Belagerten in die Hand der Spanier gefallen: Die [Grenadiere] wurden an das Stadttor genagelt wie einst Christus an das Kreuz. Das Gemcht [die Geschlechtsteile]
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hatte man ihnen herausgerissen und in den Mund gesteckt, an den Beinen war ihnen die Haut abgezogen worden und
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ber die Fße drber hinuntergehngt und so hatten sie noch drei Tage gelebt. 22
Die Franzosen nahmen, nachdem sie unter grßten Mhen die Stadt erstrmt hatten, furchtbare Rache. Der Bericht von Jakob Klaus lsst an Deutlichkeit nichts vermissen. Schon in den ersten erstrmten Husern htten die eindringenden Soldaten jeden ermordet, den sie vorfanden. In der ersten Nacht seien 3000 Menschen niedergemetzelt worden, „darunter befanden sich Soldaten, Brger, Weiber, Mdchen, Knaben, Suglinge und ltere Greise“23 . Der Kampf um die Stadt war damit allerdings noch nicht beendet. Die spanischen Verteidiger wehrten sich im Huserkampf. Nachdem das Bataillon des pflzischen voltigeurs die ganze Nacht im Kampf gestanden hatte, wurde es am Morgen des 29. Juni 1811 abgelst. Klaus und zwei Landsleute machten sich daraufhin auf, die bereits eroberten Stadtteile zu inspizieren und „etwas Beute zu machen“. Die Eindrcke waren verheerend: Als wir in die Gssel und Gassen kamen, da standen wir still,
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als wir die vielen Toten […] sahen. Da sagten wir untereinander: „Das sieht schn aus!“ Dann gingen wir drei in ein Haus. Als wir in den Gang kamen, da lag die Frau in der Stube, da lag der Mann und ein Knabe, die waren alle
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totgestochen. In der Wiege lag ein Kind und war versudelt [mit Kot verschmiert] bis unter die Arme. Da sagten wir untereinander: „Sehet, das arme Kind!“ Darauf sagte ich, Jakob Klaus, zu dem Mller, der ebenfalls aus meinem Heimatort ist: „Wir wollen dem Kind etwas geben!“ Darauf fing der Martern von Landau an zu lachen und sagte: „Was denkt ihr Simpel Euch?“ Ich hatte noch Schokolade in meinem Sack. Ich nahm ein Stck Schokolade und ein Stck Leinwand […]. Ich nahm nun meine Schokolade und machte dem Kind einen Schlutzer [Schnuller, Sauger] und gab dem Kind diesen. Darauf war das Kind ruhig. Dann gingen wir ber die Straße und kamen in ein Nonnenkloster. Da gings schn her! Wenn’s
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da losgeht, dann gibt’s junge Franzosen genug!24
Ein Husar vom 4. Regiment, ein deutscher Landsmann aus Nussdorf in der Pfalz, zwang mit vorgehaltener Waffe den Prior eines nahe gelegenen Mnnerklosters, die btissin eines Nonnenklosters zu vergewaltigen. Klaus und sein Kamerad Mller wandten sich von dieser Szene ab, nur um mit der nchsten Grausamkeit konfrontiert zu werden. Denn aus dem Haus, in dem sie das Kleinkind mit dem Schokoladen-Schnuller zurckgelassen hatten, kam ein italienischer Soldat, der das Baby auf sein Bajonett aufgespießt hatte: „Als er mde war von dem Kind, da schleuderte er das Kind aus der Flinte wider einen Hausgiebel. Da war das Kind tot.“ 25 Auf dem spanischen Kriegsschauplatz wurde nicht nur gegen Guerillakmpfer oder Zivilisten bermßige Gewalt angewandt. Die Nerven der franzsischen Armeen in diesem Krieg waren so angespannt, dass auch in Kmpfen gegen regulre spanische Truppen kein Pardon mehr gegeben wurde. Nachdem die Schlacht bei Medellin von den Franzosen schon
Medizinische Versorgung
gewonnen war, erschlugen die Sieger fast jeden, den sie noch auf dem Schlachtfeld antrafen: Das Schlachtfeld wurde auf furchtbare Weise aufgerumt.
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Erst sbelten die Dragoner unter ihren Opfern, die nachrckende Infanterie setzte dieses Werk mit dem Bajonett fort […] und was sich vielleicht zwischen den Weinbergen versteckt hatte, wurde von dem Gesindel der Trossknechte erwrgt und beraubt. Aber damit hatte sich die schaurige Mordlust noch nicht befriedigt, am Ende stberte die vom Einhauen ermdete Reiterei dreitausend versprengte Infanteristen auf und trieb sie an die Guadiana, wo die im Blutrausch nimmersatten Franzosen noch sechshundert Mann mit dem Karabiner niederknallten oder sie in den
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Fluss warfen. 26
Medizinische Versorgung
Wenn Historiker in Darstellungen ber die Napoleonischen Kriege berhaupt auf Fragen der medizinischen Versorgung eingehen, dann fllt ihr Urteil fast immer ußerst negativ aus: Kaum ein Soldat sei lebend aus den Spitlern herausgekommen. Diese Aussage sttzt sich auf die zahlreichen Berichte von Soldaten und Zivilisten ber katastrophale Verhltnisse in den Lazaretten, ber fehlende rztliche Hilfe, mangelnde Verpflegung und sonstige Frsorge. Alle diese Berichte ber die Schrecken der Hospitler und der Verwundeten-Frsorge entsprechen der Realitt. Aber eben nur einer der vielen Realitten jener Jahre. Im Prinzip war das Sanittswesen in den Napoleonischen Kriegen auf einem durchaus akzeptablen Stand, verglichen mit dem der vorangegangenen Jahrhunderte.
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Jedes Regiment hatte einen eigenen Arzt, der seine Ambulanz bzw. seinen Verbandsplatz in einer geschtzten Stelle hinter der Kampflinie einrichtete. Dort erhielten Verwundete erste Hilfe. Da, wie erwhnt, unverwundete Soldaten ihre verwundeten Kameraden nicht nach hinten begleiten durften, versahen Nichtkombattanten, etwa Musiker, oder leichter Verwundete diesen Dienst mehr schlecht als recht. Es gab auch spezielle Einheiten fr das Bergen von Verwundeten, doch stets viel zu wenige. So wie jedes Regiment einen eigenen Arzt und einen eigenen Verbandsplatz hatte, so verfgte auch jede Division, jedes Armeekorps und schließlich die Armee selbst ber je eigene Hospitler. Die meisten Wund-Operationen wurden dabei in den Divisions-Hospitlern durchgefhrt. Der anschließende Transport in weit hinter der Front liegende Hospitler war zugleich ein Teil der Therapie. Denn je schneller und weiter Verwundete nach hinten gebracht wurden, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie vom „Lazarettfieber“ befallen wurden, eine Sammelbezeichnung fr allerlei ansteckende Krankheiten. Die Zahl der rzte, Pfleger und Krankentrger in den großen Schlachten war fast immer ungengend. Auch Transportmittel, Verbandsmaterial und Medikamente reichten selten aus. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Zahl der Verwundeten in einer großen Schlacht rasch Dimensionen annahm, die auch eine heutige militrische oder zivile Organisation berfordern wrden. In der Schlacht von Leipzig etwa sollen 120 000 Mnner an drei Kampftagen gettet oder verwundet worden sein. Nimmt man als Faustregel, dass auf einen Gefallenen vier Verwundete kamen, dann waren in und um Leipzig am Tage nach der Schlacht annhernd 100 000 Verwundete zu versorgen. Das konnte – und kann – keine Sanittsorganisation bewltigen.
Medizinische Versorgung
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Die Wirkung der Waffen
D ie meisten Verwundungen und Todesflle wurden durch Infanteriegeschosse hervorgerufen – vermutlich etwa 80 Prozent, genaue Statistiken sind fr die Napoleonische Zeit kaum vorhanden. Ca. 15 Prozent der blutigen Verluste verursachten Artilleriegeschosse, den Rest vor allem Kavallerie. Bajonettwunden waren selten; reine Bajonettkmpfe gab es so gut wie nie. Diese Zahlen belegen, dass die Napoleonischen Schlachten zumeist durch den Feuerkampf der Infanterie entschieden wurden. Infanteriekolonnen rckten nach vorbereitendem Artilleriefeuer dicht aufgeschlossen gegen die feindlichen Linien vor. Es kam zum Feuergefecht auf kurze Entfernung.
Aber es gab auch andere Rahmenbedingungen. Nach der Schlacht von Wagram im Juli 1809 folgte ein schneller Frieden zwischen sterreich und Frankreich. Das Wetter war gut, die Soldaten mussten nicht flchten oder den Feind verfolgen, zu essen und trinken gab es genug. Wien und Umgebung waren mit zahlreichen als Hospitler geeigneten Gebuden in franzsischer Hand. In dieser Situation sah die Versorgung der Verwundeten ganz anders aus als vier Jahre spter in Leipzig. Nach der Schlacht von Wagram hatte die Kaisergarde in einer Wiener Kaserne ihr Lazarett eingerichtet. Geleitet wurde es vom bedeutendsten und wohl auch besten Feldchirurgen jener Zeit, Dominique Larrey. Larrey hat eine Vielzahl der von ihm behandelten Flle dokumentiert. Seine Aufzeichnungen demonstrieren Mglichkeiten und Grenzen der damaligen Militr-Medizin. Vieles war noch unbekannt, etwa dass Bakterien die eigentliche Ursache von Seuchen wie Fleckfieber (Typhus Exanthematicus) und Typhus (Typhus Abdominalis)
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„Ah, welch ein Vergngen, Soldat zu sein!“ Diese Zeichnung verdeutlicht den Alltag der Soldaten weitaus realistischer als tausend Napoleon-Ikonen.
sind und zudem auch die hufig tdlich verlaufenden Wundinfektionen hervorrufen konnten. Der westflische Leutnant Wachsmuth etwa behauptet in seinen Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft in Russland,
Medizinische Versorgung
er sei an Typhus („der damaligen Modekrankheit“) erkrankt, nachdem er an einer gebratenen Gans gerochen habe. 27 In Wahrheit hatte er die verseuchten Kleider eines verstorbenen Kameraden angezogen. Es war bekannt, dass verdorbenes Wasser Krankheiten verursachen konnte, und man versuchte sich so gut wie mglich dagegen zu schtzen. Da man wusste, dass Chinin gegen Malaria half, gab man es bei allen fiebrigen Infektionen. Um Wunden zu waschen, benutzte man Wein, Essig oder Branntwein, was tatschlich einen antiseptischen Effekt haben konnte. Betubungs- und Schmerzmittel waren weitgehend unbekannt. Verwendet wurde allerdings mitunter Opium. Auch Alkohol wurde zur Betubung eingesetzt. Den gefhrlichen Wundstarrkrampf bekmpfte Larrey – wenn andere Mittel wie „ziehende“, lhaltige Umschlge oder Getrnke, die die Schweißbildung anregten, nicht wirkten –, indem er glhende Bgeleisen auf die noch nicht verheilten Arm- oder Beinstmpfe drckte. Diese barbarische Methode fhrte in erstaunlich vielen Fllen zum Erfolg. Hervorgerufen wurde der Wundstarrkrampf (Tetanus) durch bakteriell verseuchtes Erdreich, das in die offene Wunde eingedrungen war. Da die Tetanus-Bakterien aus dem Darminhalt von Pferden und Rindern stammen, wurden nur Soldaten von ihnen befallen, die auf Wiesen und ckern verwundet wurden. Soldaten, die in einem Waldstck verwundet wurden, bekamen nie Tetanus. Eine Merkwrdigkeit, die den rzten auffiel, die sie sich jedoch nicht erklren konnten. Die am hufigsten durchgefhrte Operation war die Amputation von Armen oder Beinen. Sie wurde notwendig, wenn Glieder durch große Geschosse zertrmmert oder aber Wunden an Armen und Beinen „brandig“ geworden waren, das heißt, es waren Bakterien in die Wunde eingedrungen. Die
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meisten Feldchirurgen beherrschten die Kunst des Amputierens recht gut. Jakob Rhrig wurde im Herbst 1813 Zeuge einer Amputation: Ein großes Zimmer lag gepfropft voll, fast lauter Krassiere,
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denen Arme oder Beine teils weggeschossen, teils abgeschlagen waren. […] Einem Offizier wurde das Bein ber dem Knie abgenommen. Er saß auf einer Bank, auf welcher er auch den kranken Fuß liegen hatte, mit dem anderen stand er auf dem Boden und sah scharf zu, ohne den Mund zu verziehen. Bei der Amputation wurde folgendermaßen verfahren: ber der Stelle, wo das Bein oder Arm abgenommen werden sollte, wurde es mit einem Tuche fest zugebunden, natrlich um den zu starken Zudrang des Blutes zu hindern. Nun wurde ein Schnitt rundum bis auf den Knochen gefhrt, sofort das Fleisch zurckgedrngt und der Knochen durchgesgt. Dann wurden mit einer Zange die Adern hervorgezogen und unterbunden, auch etliche mit einem Eisen zugebrannt, das Fleisch wurde wieder hervorgezogen und Charpie – gezupfte Leinwand mit Kalk- oder Bleiwasser getrnkt – daraufgelegt. Dies alles war eine Arbeit
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von etlichen Minuten und die Operation war geschehen. 28
Erstaunlich viele Verwundete, an denen Amputationen vorgenommen wurden, berlebten. Von 14 Soldaten, denen Larrey nach den Schlachten von Aspern-Essling und Wagram den Arm im Schultergelenk abgenommen hatte, berstanden zwlf die Prozedur. Eine der eindringlichsten Schilderungen der eigenen Verwundung, der Behandlung durch Feldrzte und der glcklichen Genesung hat Jakob Klaus hinterlassen. Im April 1812 wurde er im Kampf um ein Dorf in der Nhe der spanischen Stadt Alicante schwer verwundet.
Medizinische Versorgung
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Des Kaisers liebste Waffe
D ie Artillerie war Napoleons Lieblingswaffe. Die Kanonen verschossen zumeist massive, eiserne Kugeln, die auf mittlere Entfernung ganze Reihen von Infanteristen oder Kavalleristen tten konnten. Auf kurze Entfernung setzte man Karttschen ein, eine Art von Schrotgeschoss, das auf „weiche“ Ziele verheerend wirken konnte. Verschossen wurden auch Granaten: Hohlkugeln mit Pulverfllung und einer Zndschnur. Kanonen schossen mit flacher, gestreckter Flugbahn. Daneben gab es Haubitzen und Mrser, die ihre Geschosse in einer ballistischen Kurve feuerten. Auch wenn die Mnner das Artilleriefeuer frchteten, war seine Wirkung vor allem auf Demoralisierung ausgerichtet. Wirklich schwere Verluste verursachte es eher selten, zumal wenn Kommandeure ihre unter Beschuss liegenden Einheiten Deckung suchen ließen.
Klaus war zusammen mit 25 anderen voltigeurs des 117. Linienregiments als Sicherung auf eine Anhhe abkommandiert worden, wo sie von berlegenen spanischen Truppen angegriffen wurden. Außer Klaus berlebte nur ein weiterer Soldat den Angriff, beide wurden schwer verwundet. Htte nicht ein rascher Vorstoß eines Husarenregiments die Spanier vertrieben, wren auch sie wohl dem Tod nicht entronnen. Klaus schildert in seinen Erinnerungen die Verwundung und die qualvollen Wochen danach: Ich, Klaus, hatte meine Blessur auf der rechten Brust hinein
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und auf der linken Schulter heraus durch und durch gehabt. Wie ich aber aus dem Sud [gemeint wohl die Blutlache, in der er lag] bin gekommen, das kann ich nicht mehr beschrei-
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ben, denn die Kugel, die mir durch meine Brust gegangen ist, wurde ich nicht gewahr, außer dass das Blut mir zum Mund und zur Nase herauskam. Der Kopf war mir ganz schwach. Ich schaffte mich ungefhr bei 300 Schritte zurck. [...] Als ich wieder zur Erholung kam, da legte ich mich unter einen Olivenbaum. Es war morgens neun Uhr, am 25. April 1812,
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eine halbe Stunde von Alicante entfernt.
Der voltigeur hatte großes Glck. Ein Husarenoffizier, ein deutscher Landsmann, entdeckte ihn und ließ ihn bergen, nachdem Klaus bis vier Uhr nachmittags unversorgt unter dem Olivenbaum gelegen hatte. Selbst hatte er sich nicht bemerkbar machen knnen: „Als ich die Husaren sah, da wollte ich, dass sie mich sehen. Reden konnte ich dagegen noch 36 Tage lang nicht, denn meine Brust war so geschwollen, dass sie am Barte anstieß.“ Der Husarenoffizier namens bel aus Nussdorf in der Pfalz ließ Klaus zum nchsten Arzt bringen, der ihn „ein bissel“ verband. Offenbar sah er eine weitere Versorgung als Zeitverschwendung an, da Klaus zu schwer verwundet zu sein schien. Doch Klaus hatte weiterhin Glck im Unglck. Die franzsische Armee musste sich zurckziehen; Regimentskameraden sorgten aber dafr, dass er nicht liegen blieb. Zwar warfen ihn vier spanische Bauern, die ihn transportieren sollten, bei erster Gelegenheit von seiner Trage. Einer der Spanier trat Klaus zudem heftig gegen den Kopf und wollte ihn offenbar tten. Doch in diesem Moment erschien ein Adjutant des Marschalls Suchet, der sich verirrt hatte, und ttete seinerseits den Spanier mit einem Sbelhieb. Schließlich trugen acht Grenadiere des 16. Linienregiments Klaus zum nchsten Feldhospital. Dreihundert weitere Verwundete wurden ebenso dorthin transportiert. Der Marsch dauerte Tage.
Medizinische Versorgung
Endlich kam der Elendszug in Valencia an, und im Hospital der Stadt hatte Klaus erneut ungeheures Glck. Denn es tat hier ein Arzt Dienst, der ebenfalls aus der nheren Heimat von Klaus stammte, ein Doktor Gutwein aus Bhl. Gutwein nahm sich des Verwundeten nach allen Regeln der Kunst an. Er ließ die blutverkrustete Uniform wegschneiden und die Wunde reinigen. Als er von einem anderen Verwundeten erfuhr, dass er einen Pflzer Landsmann vor sich hatte, zog sich der Arzt zunchst zurck, kam dann aber mit einigen Kollegen wieder: Jetzt sagte er [der Arzt Gutwein] zu mir: „Klaus, kannst Du
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gar nicht reden?“ Ich schttelte den Kopf. Er betrachtete meine beiden Wunden hinten und vorne, und er sagte dann zu mir: „Klaus, halte Dich ein wenig fest!“ Er nahm eine silberne Nadel von zwei Schuh [ca. 60 Zentimeter] Lnge und so dick wie ein Strohhalm. Mir wurde dabei Angst und Bang. Einer hob mich am rechten Fuß, einer am rechten Arm, der andere am linken Arm, einer stand hinter mir und hatte mich am Kopf gepackt. […] Der Doktor Gutwein und der Doktor Dallus von Speyer nahmen die Nadel und steckten die Nadel in die Wunde, wo die Kugel auf der linken Schulter herausgekommen ist, sodass die Nadel vorne auf der Brust wieder herausguckte. Doktor Dallus nahm ein feines nasses Tuch, schraubte es an der Nadel fest und zog die Nadel durch die Brust. Nachdem die Nadel durch war, schraubte er das Tuch von der Nadel los. Das nasse Tuch blieb in der Brust stecken. Jetzt taten die zwei Doktoren das Tuch ganz in meiner Brust zusammendrehen, dann zog der Doktor Gutwein das weiße Tuch aus meiner Brust heraus und machte dann das Tuch ganz auf. Darauf fiel ein Knopf heraus. Darauf sagte der Doktor Dallus, dass mir die Kugel gerade auf den Knopf gefahren sei an dem [Rock-]Aufschlag auf der rechten Seite, und sie htte dann den Knopf mit in die Brust genommen. 29
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Auch nach der Entfernung des Knopfs war die Tortur fr Klaus noch nicht zu Ende. Es bildete sich immer wieder Eiter im Schusskanal und musste entfernt werden. Das geschah auf eine ußerst schmerzhafte Weise. Jedes Mal, wenn die Wunde neu verbunden wurde, legte der Arzt kleine Gefße („Btten“) unter die Wundffnungen.
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Dann nahm er eine große Schmiedezange und presste mir die Brust zusammen, dass der Unrat [Eiter] an beiden Wunden herausspritzte. 30
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Die Erzhlung von Jakob Klaus ist erstaunlich nchtern und dadurch erschreckend. Sie beschreibt unmittelbar Todesangst, Panik und Schmerz. Sie zeigt zudem, dass die rzte so machtlos nicht waren, wie es aus heutiger Sicht erscheint. Erfahrene Feldchirurgen hatten durchaus Mglichkeiten, auch schwere Flle erfolgreich zu behandeln. Dazu gehrten jedoch Zeit und Ruhe – und der Anfall an Verwundeten durfte nicht zu groß sein.
Das schlimmere bel: Krankheit
Was fr die Behandlung von verwundeten Soldaten galt, das galt auch weitgehend fr die von kranken Soldaten: Sie war nach heutigen Maßstben nur oberflchlich. So wenig man wusste, weshalb sich Wunden entzndeten oder der Wundstarrkrampf auftrat, so wenig wusste man ber die eigentliche Ursache der zahlreichen Seuchen und sonstigen Infektionskrankheiten. Ihnen fielen mehr Soldaten zum Opfer als den Waffen. Von 352 000 Patienten in britischen Hospitlern auf der Iberischen Halbinsel starben in den Jahren 1812 bis 1814 etwa 17 000. Davon erlagen nur rund 2700 ihren im Kampf erlittenen Wunden. Dysenterie (Bakterienruhr) und „anhaltendes Fieber“ forderten dagegen fast 9000 Opfer, Typhus 2300.
Krankheit
Um solche hohen Todesraten durch Infektionskrankheiten zu verhindern, betrieb man rudimentre Prophylaxe. Etwa indem man in der warmen Jahreszeit Truppen nicht an versumpften Flusslufen lagern ließ oder schlechtes Wasser mied bzw. aufbereitete. Chinin wurde, wie erwhnt, gegen jede Art von Fieber verordnet, und jeder Arzt drfte sein eigenes Hausrezept gegen Typhus oder Fleckfieber gehabt haben. Als Mittel gegen Durchfall, Fieber, Lungenentzndung und bei Schlaganfllen wurde ein Einlauf mit Mohnsirup empfohlen. Gegen Geschlechtskrankheiten eine Mischung aus Safran und Olivenl, gegen die Krtze eine Salbe aus Schwefel und frischer Butter. Als dem Gardeleutnant Coignet in Russland ein Fuß erfror, verordnete man ihm nach der Rckkehr nach Paris Umschlge mit zerquetschten Erdbeeren. Wurde ein Soldat in Spanien von einem Skorpion gebissen, so wurde das Insekt zerdrckt, in l getaucht und der so entstandene Brei auf die Wunde gerieben. Ein bayerischer Armee-Arzt empfahl fr alle Krankheiten den reichlichen Genuss von Buttermilch. Der Phantasie der Mediziner und derjenigen, die sich dafr hielten, schienen keine Grenzen gesetzt. Im Großen und Ganzen jedoch waren die Soldaten bei Verwundung und Krankheit auf ihre je eigene krperliche Widerstandskraft angewiesen. Dem widerspricht auch nicht die seltsame Geschichte, die der Schwabe Jakob Walter ber seine vorbergehende Heilung erzhlt. Walter hatte es nach unendlichen Mhsalen schließlich geschafft, auf seinem Rckzug aus Moskau die preußische Grenze zu erreichen. Er war am Fleckfieber erkrankt. Doch an Ruhe und Pflege war nicht zu denken. Der Weg fhrte ihn weiter nach Westen, bis ihn schließlich in einem Dorf am Wegesrand ein schwerer Fieberanfall niederwarf. Zusammen mit zwei ebenfalls erkrankten westflischen Soldaten lag er in einem Gasthaus, unfhig, etwas zu sich
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Die Schrecken des Krieges
zu nehmen außer hin und wieder einen Schluck Bier. Die Einwohner des Ortes hatten Mitleid, und versuchten zu helfen. Am Tag nach Walters Ankunft betrat ein Brger die Schenke und fragte nach den Soldaten. Als er hrte, sie seien am Fieber erkrankt, wusste er Rat und versprach, die drei zu heilen: Dieses tat er auch wirklich, er setzte sich hin, schrieb drei Zettel und sagte, jeder solle nun einen davon essen […], ich
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wenigstens hatte wenig Glauben, dass so etwas helfen solle, jedoch aß ich es auch. Und – als die Zeit gekommen war, an
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der [das Fieber] mich grausam schtteln wrde, wartete ich lnger [als gewohnt], und wirklich, nicht nur mich verließ das Fieber, sondern zugleich die anderen zwei Kameraden auch.
hnliche Wundermittel waren weit verbreitet; ihr medizinischer Wert war meist gering. War der Krper erst von Bakterien oder Viren befallen, halfen meist nur Bettruhe und eine angemessene Verpflegung sowie ein guter Allgemeinzustand. Wie ein franzsischer Truppenarzt im Jahr 1808 beobachtete, spielte bei der Frage, ob Soldaten krank wurden oder nicht auch die psychische Verfassung der Mnner eine wesentliche Rolle. Der Arzt begleitete die im spanischen Bailn in Gefangenschaft geratenen Soldaten und befand: „Sieg und Gesundheit gehen Hand in Hand. Eine Armee berwindet Erschpfung, Gefahr und Mangel, solange sie erfolgreich ist.“ Ganz anders erschien ihm dagegen das Bild der geschlagenen Armee: „Die langen Reihen der Gefangenen wirken wie kranke Mnner, die ein brennendes Hospital verlassen. Sie gehen langsam, in vollkommener Unordnung, ohne Disziplin.“ 31 Soldaten, die an einer fiebrigen Infektion erkrankt waren und ins Hospital kamen, bekamen oft weitaus weniger Pflege als Verwundete. Letztere waren wenigstens fr die Pfleger nicht ansteckend. Mit etwas Glck verabreichte man Infek-
Krankheit
tionskranken ausreichend Flssigkeit und etwas feste Nahrung, und barmherzige Kameraden hielten sie fest, wenn sie sich im Fieberwahn – eine hufige Begleiterscheinung des Fleckfiebers – aus dem Fenster oder die Treppe hinabstrzen wollten. Wieder gibt Jakob Rhrig eine eindrucksvolle Schilderung seines Aufenthalts im Hospital. Erkrankt war er im April 1813. Als das Fieber zunahm und immer hufiger auftrat, begab er sich ins Hospital nach Liegnitz: Das Spital war als Feldspital erst im Entstehen und daher
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[…] noch in sehr schlechter Ordnung. Mit einem schsischen Dragoner […] lag ich einen und einen halben Tag in demselben Zimmer, ohne einen Aufwrter zu Gesicht zu bekommen. Wir verschmachteten daher vor Durst und konnten doch nichts zum Trinken erhalten. […] Am nchsten Morgen wurden wir endlich erlst, und ich kam in ein Zimmer, in dem Betten standen […], zu einem anderen, der sehr krank war. Schon in der ersten Nacht hrte ich ihn nicht mehr atmen, untersuchte ihn, und siehe, er war eiskalt und mausetot. Whrend zwei Stunden, wenn nicht noch lnger, arbeitete ich bald mit dem Oberleibe, bald mit den Fßen, soviel es mir meine Krfte erlaubten, um ihn aus dem Bett zu bringen; auf einmal – plumps – und er lag auf dem
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Boden.32
Zunchst war Rhrigs Befinden noch ertrglich. Er hatte das Glck, von einem hollndischen Arzt behandelt zu werden, der Deutsch sprach. Rhrig freundete sich mit dem Hollnder an, was ihm letztlich das Leben rettete. Denn wenige Tage nach seiner Ankunft im Lazarett verschlechterte sich sein Zustand massiv. Er bekam die „Nervenkrankheit“, also Fleckfieber, das die Gefße besonders im Gehirn schdigt: „Ich lag drei Tage ohne Bewusstsein und redete irre. In der Fieberhitze
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Die Schrecken des Krieges
stand ich auf, jagte die Fliegen an der Wand, unter dem Vorwand, es seien Russen.“ Am vierten Tag warfen ihm Krankenwrter die Decke ber den Kopf, da sie glaubten, er sei gestorben. Der Verwalter ließ jedoch den Arzt kommen, der Rhrig ein Medikament im Mund verrieb. Der voltigeur erholte sich und bekam seinen goldenen Ring wieder, den ihm ein Krankenwrter bereits gestohlen hatte. Nun wurde Rhrig vorsichtig aufgepppelt. Er bekam drei Tage lang je eine Mahlzeit aus drei gekochten Pflaumen und einem Lffel Brhe. Zwischen den Mahlzeiten verabreichte der Arzt ihm „Chinarindenpulver“, also Chinin. Zum Trinken erhielt er Tee mit Leinsamen. Nach und nach bekam er mehr zu essen und auch Wein zur Strkung. Aber die Portionen waren stets knapp bemessen: „Denn in den franzsischen Spitlern war die Hungerkur eingefhrt.“ Das Lazarett, in dem Rhrig behandelt wurde, ist nicht unbedingt typisch fr jene Jahre. Wie Rhrig selbst sagt, war es erst im Entstehen begriffen und auch von daher nicht optimal auf die Versorgung kranker und verletzter Soldaten eingerichtet. Es gab vorbildliche Hospitler, mit viel Licht und Luft, sauberen Betten, ausreichender Verpflegung und sich aufopferndem Personal. Und es gab das Gegenteil: Hospitler in zugigen, kalten Kirchen, ohne Medikamente, mit gleichgltigen, habgierigen Krankenwrtern und rzten, die sich nie bei den Kranken und Verwundeten blicken ließen. Außer, sie wollten ihnen die letzten Habseligkeiten rauben.
In Gefangenschaft
ber das Schicksal der Kriegsgefangenen der Napoleonischen ra erfhrt man in der Literatur so gut wie nichts. Wie bei anderen Kriegen auch, ist das Thema anscheinend mit einem
In Gefangenschaft
Makel behaftet: dem der unausgesprochenen Feigheit. Helden kmpfen bis zum Tod; nur Feiglinge gehen lebend und unverwundet in Gefangenschaft. Dabei existieren zahlreiche Erinnerungen von Gefangenen aus der Napoleonischen Zeit. Vor allem ber die Gefangenschaft in Russland, in Spanien und auf den berchtigten britischen Gefangenenschiffen. Denn in Kriegsgefangenschaft zu geraten, war kein vereinzeltes Schicksal. Fast alle der Mnner, die ihre Memoiren hinterlassen haben, waren zumindest fr kurze Zeit „in der Hand des Feindes“. Die Behandlung der Kriegsgefangenen war dabei hchst unterschiedlich. Unter dem Ancien Rgime hatte sich ein Gewohnheitsrecht ausgebildet, unter dem die Gefangenen meist gut behandelt wurden. Soldaten waren ein kostbares Gut, und die Knige waren gut beraten, ihre Gefangenen zu schonen. Andernfalls drohte auch den eigenen Untertanen, die der Gegner festhielt, Ungemach. Daher wurden Kriegsgefangene hufig bald nach Ende der Feldzge ausgetauscht. Offiziere wurden besonders zuvorkommend behandelt. Ihre Gefangenschaft hnelte meist eher einem milden Hausarrest. Nach Ausbruch der Revolutionskriege verschlechterte sich die Behandlung der Gefangenen zunchst im Vergleich zur Praxis unter dem Ancien Rgime. Die Franzosen sahen in sterreichern, Preußen und Russen, vor allem aber in den Englndern „Diener der Tyrannei“, die ihre Freiheit bedrohten. Die Gegner Frankreichs wiederum betrachteten die Soldaten der Revolution als Knigsmrder und Trger gefhrlicher politischer Ideen. So gab es Phasen whrend der Revolutionskriege, in denen keine Seite Pardon gab. In den Napoleonischen Kriegen kehrten die Konfliktparteien im Großen und Ganzen zu einer humaneren Praxis zurck. Allgemein wurde gegnerischen Soldaten, die die Waffen
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niedergelegt hatten, der Status eines zu schtzenden Nichtkombattanten eingerumt. Das bedeutete: Sie wurden aus der Kampfzone gebracht, verpflegt, erhielten medizinische Versorgung, Kleidung und Sold. Manchmal wurden sie zur Arbeit eingesetzt: zum Straßenbau in Frankreich etwa oder zur Erntehilfe in Preußen. Nach Friedensschluss wurden sie repatriiert. Offiziere wurden wie unter dem Ancien Rgime besonders gut behandelt. Sie wohnten in ausgesuchten Quartieren und genossen weitgehende Bewegungsfreiheit. Doch es gab Situationen, in denen diese idealtypische Behandlung von Kriegsgefangenen keine Rolle spielte. So geschah es nicht selten, dass berhaupt keine Gefangenen gemacht wurden. Der badische Leutnant Holzing gibt an, man habe bei Huserkmpfen grundstzlich keinen Pardon gegeben, sprich: Man ttete die Feinde sofort. Im allgemeinen Durcheinander htte man die Gegner gar nicht entwaffnen, bewachen und abtransportieren knnen. In der Schlacht von Waterloo schnitten franzsische Gardesoldaten gefangenen preußischen Soldaten die Kehlen durch. Aber auch wenn den Soldaten Pardon gewhrt wurde, war ihr Leben dadurch nicht immer geschtzt. Wieder waren es vor allem die Kriegsschaupltze in Spanien und Russland, auf denen es zu Exzessen gegenber Gefangenen kam. Dabei waren es – entgegen landlufiger Ansicht – weniger die Guerilleros oder die Kosaken, die Grausamkeiten verbten. Die Guerillakmpfer machten durchaus Gefangene, die entweder den Briten oder den eigenen Behrden bergeben wurden bzw. die man als Geiseln nahm. Tteten die franzsischen Besatzer, was sehr hufig vorkam, gefangene Guerilleros oder Zivilisten (oft die Eltern oder andere Verwandte von Widerstandskmpfern), dann wurde eine entsprechende Anzahl franzsischer Soldaten gettet. Das Motto lautete: „Ihr hngt unsere, wir hngen eure.“ 33
In Gefangenschaft
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Guerillakrieg in Spanien
D en „kleinen Krieg“ (spanisch: Guerilla) gab es schon whrend der Kriege des Ancien Rgime. Er wurde im 18. Jahrhundert vor allem von leichten Truppen gefhrt, die weitgehend unabhngig von der jeweiligen Hauptarmee im Hinterland des Feindes operierten. Sie fhrten Handstreiche aus, nahmen Bauern als Informanten gefangen oder brannten Brcken nieder. Die Fhrer solcher, oft irregulrer Streifkorps nannte man „Parteignger“ oder franzsisch partisan. Die spanische Guerilla verfolgte nicht nur militrische Ziele, sondern auch politische. Es sollte nicht nur die feindliche Armee geschwcht, sondern die verhassten Besatzer vertrieben werden. So wurde der spanische „Kleinkrieg“ vom Beginn des 19. Jahrhunderts zum Namensgeber zahlreicher, oft politisch motivierter Guerillabewegungen des 20. Jahrhunderts.
Die schlimmsten Grueltaten an gefangenen Franzosen verbten nicht die Guerilleros oder regulre spanische Truppen. Die schlimmsten Grueltaten verbte vielmehr die spanische Zivilbevlkerung. Fielen ihr Franzosen in die Hnde, dann bekamen sie die Wut und den ganzen Hass der Bauern infolge der ewigen Plnderungen, Vergewaltigungen, Geiselnahmen und Steuereintreibungen grausam zu spren. Sie wurden zu Tode gefoltert, lebendig begraben, in siedendes l geworfen, verstmmelt. Auch auf dem russischen Kriegsschauplatz waren es eher die Bauern oder andere Zivilisten, die Gefangenen misshandelten und tteten. Die Kosaken tteten ihre Gefangenen nur selten. Sergent Bourgogne etwa stieß auf seinem Rckzug aus Moskau auf eine Gruppe von Kosaken, die eine gute Stunde lang gemchlich auf demselben Weg voranritt, auf dem er sich
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Die Schrecken des Krieges
Die Trmmer der Grande Arme auf dem Rckzug von Moskau.
hinschleppte. Erst nach einer Stunde nahmen sich die Kosaken die Zeit, Bourgogne die Waffe abzunehmen. Auch andere Gefangenen berichten, dass die Kosaken mitunter recht umgnglich waren. Der bayerische Infanterist Deifl geriet 1813 in russische Gefangenschaft, als die Festung Thorn kapitulierte. Er und seine Leidensgenossen wurden von Kosaken nach Russland eskortiert und hatten Glck: Der Kosakenoffizier war kein unfreundlicher Mann, er war
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immer lieblich und freundlich; er ritt immer voraus und seitwrts, ersuchte die russischen Edlen und Großbegterten
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um milde Gaben und Spenden fr uns alle, die aus Ks, Brot meistenteils bestanden. 34
Diese Schilderung freundlicher Kosaken bedeutet nun nicht, dass sie ihre Gefangenen immer gut behandelten. Die Kosaken
In Gefangenschaft
waren in erster Linie auf Beute aus. Sie plnderten Gefangene oft bis aufs Hemd aus. Das war natrlich fr viele, die nicht rasch in eine Behausung kamen oder andere Kleider fanden, das Todesurteil. Vor allem Verwundete hatten kaum Chancen, die Gefangenschaft in Russland zu berleben. Der westflische Leutnant Wachsmuth musste mit ansehen, wie eine grßere Zahl von Beinamputierten, die in Gefangenschaft geraten war, kaltbltig erschlagen wurde: Als wir […] an das jenseitige Ende des Lagers gelangten, sahen wir daselbst die Fourgons [Wagen zum Transport von Verwundeten] mit den Amputierten aufgefahren. Ein Hau-
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fen Bauern trat auf die Rder, ffnete die Decken und warf nun, wie man etwa Scheite Holz abladet, die unglcklichen
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Krppel hinaus auf die Erde. Dort wurden sie dann von andern dieser Teufel ergriffen, ein Eckchen abseit [sic!] geschleppt und mit dicken Knitteln – erschlagen.35
Es dauerte einige Zeit, bis dieses Massaker beendet war und die Schreie der zu Tode Geprgelten verstummten: „Ein mit dem ,Vive l’Empereur!‘ auf den Schlachtfeldern sehr kontrastierender Widerhall“, wie Wachsmuth bitter bemerkt. Er verschweigt auch nicht, was diesen Gewaltorgien vorausgegangen war. Er selbst hatte erlebt, wie russische Gefangenen von ihren Bewachern zuerst geprgelt und dann, wenn sie nicht weiter konnten, am Wegesrand erschossen oder erschlagen wurden. Gerade die deutschen Kontingente der Grande Arme galten als hart gegenber russischen Gefangenen, was ihnen den Beinamen „Armee ohne Pardon“ einbrachte. Es war zwar allgemeine Praxis, die Gefangenen nach dem Friedensschluss nach Hause gehen zu lassen. Da jedoch zwischen Frankreich und England zwischen 1803 und 1814 permanent der Kriegszustand herrschte, hatten franzsische
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Die Schrecken des Krieges
Kriegsgefangenen in britischem Gewahrsam oft lange Zeiten der Gefangenschaft zu berstehen. Diese mussten sie oft auf sogenannten „Gefngnis-Hulks“ verbringen, auf abgetakelten Kriegsschiffen, in die die Gefangenen gepfercht wurden. Insgesamt waren mehr als 120 000 Soldaten Napoleons in England gefangen. Etwa 10 000 davon starben, 18 000, meistens Kranke, wurden ausgetauscht, der Rest wurde nach dem Ende der Feindseligkeiten nach Hause gebracht. 36 Die Mnner auf diesen Schiffen wurden zwar oft schikaniert; aber selten misshandelt, und auch die Verpflegung war meist ausreichend. Dennoch war die jahrelange Haft auf den schwankenden Schiffsplanken eine krperliche und seelische Tortur.
Die Gefangenen-Insel Cabrera
Ein noch schlimmeres Los erlitten gefangene Franzosen auf der berhmt-berchtigten Gefangeneninsel Cabrera, einem kleinen den Eiland sdlich von Mallorca. Im Juli 1808 hatte der franzsische General Dupont bei Bailn mit annhernd 20 000 Mann vor regulren spanischen Armeeeinheiten kapituliert. Es war die bis dahin schwerste Niederlage kaiserlichfranzsischer Truppen. Die Gefangenen sollten zunchst eigentlich repatriiert werden. Dagegen jedoch wehrten sich die Briten, die Truppen auf die Iberische Halbinsel geschickt hatten, um dort den spanischen Volksaufstand gegen die Franzosen zu untersttzen. Nach langem Hin und Her gelangten die franzsischen Gefangenen schließlich auf die kleine Balearen-Insel. Dort fanden sie weder Unterknfte vor, noch erhielten sie ausreichend Verpflegung. Auch Wasser war sehr knapp, und ansteckende Krankheiten dezimierten die Verzweifelten. Es waren vor allem einfache Soldaten, die dort isoliert wurden. Offiziere
Die seelische Belastung der Unfreiheit
waren meist in den Stdten der grßeren Inseln in Privatquartieren untergebracht. Die Lage ihrer Untergebenen jedoch verschlimmerte sich stetig, obwohl vonseiten der spanischen Behrden immer wieder versucht wurde, die Situation zu entschrfen. Zwar muss vieles, was berlebende berichteten, mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden – etwa die Gerchte ber Kannibalismus –, doch dass Cabrera ein furchtbarer Ort war, steht außer Zweifel. Von insgesamt etwa 12 000 Soldaten, die dort gefangen gehalten wurden, starben zwischen 3500 und 5000. 37
Die seelische Belastung der Unfreiheit
Viele Kriegsgefangenen starben nicht an Hunger, bei Fluchtversuchen oder durch Krankheiten. Sie erlagen dem psychischen Stress der Unfreiheit. Tausende wurden apathisch, depressiv, ihre krperlichen und psychischen Abwehrkrfte schwanden. Die Hilflosigkeit und die Angst im Augenblick der Gefangennahme verdeutlicht der Bericht des hessischen Leutnants Georg Maurer, der nach der Erstrmung der Festung Badajoz in englische Gefangenschaft kam. Maurer erfuhr in dem Durcheinander der Erstrmung und der Gefangennahme, dass sein Bruder verwundet in einem nahen Hospital lag. Spontan wollte er zu ihm eilen: Ich trat in dieser Absicht aus dem Kreis meiner Kameraden,
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aber der Bajonettstoß eines Englnders mit einem „God damn your eyes, french dog!“ (Gott verfluche Deine Augen, franzsischer Hund!) nach meiner Brust, den ich glcklich mit dem Arm abwehrte […], erinnerte mich daran, dass ich in der Gewalt des Feindes und Widerstand nutzlos und
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Die Schrecken des Krieges
tricht sei. So ergab ich mich in mein Geschick und ließ mich […] ohne weiteren Widerstand von den Englndern schonungslos ausplndern und sah mit Stumpfsinn den Jammer an, den diese zivilisierten Barbaren in der Stadt
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durch Morden und Plndern verbreiteten.38
Der Unterschied zwischen der fast beilufigen Gefangennahme des Sergeants Bourgogne durch die Kosaken und der des Leutnants Maurer ist bezeichnend. Die Kosaken, die Bourgogne entwaffneten, hatten keine allzu große Kampfeslust, und ihnen war ebenso kalt wie ihrem Opfer. Maurer hingegen wurde am Ende eines erbitterten, fr beide Seiten verlustreichen Kampfes berwltigt. Hier lagen die Nerven blank, und es bedurfte nur einer falschen Bewegung, um niedergestochen zu werden. Ebenfalls in Badajoz geriet ein Landsmann Maurers, der Unteroffizier Karl Christoph Caspary, in Gefangenschaft. Caspary gibt eine eindrckliche Beschreibung des Schocks, den die Gefangennahme bei den Mnnern hervorrief: Ein so greller Wechsel der Dinge, ein so herber, schmachvoller bergang aus dem Zustande der Freiheit und Selbststndigkeit zu dem eines Kriegers unwrdigen Zustande der
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Sklaverei machte auf das Gemt der Gefangenen einen Eindruck, der sich nicht beschreiben lsst. Eine Art von Stumpf-
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sinn schien sich der meisten bemchtigt zu haben, den nicht selten ein – man knnte sagen – verchtlich bitteres Lcheln zu beurkunden schien. 39
Auch der badische Leutnant Holzing wurde in der Gefangenschaft depressiv, obwohl er auf der von ihm als „paradiesisch“ geschilderten Insel Ibiza festgehalten wurde und viel Bewegungsfreiheit genoss. Der Leutnant hatte Tagtrume von seiner Heimat, von Tannenwldern und dem Geruch der Blumen. Er
Die seelische Belastung der Unfreiheit
sah die Dreisam in Freiburg im Breisgau vor sich, Bauern in der Stube um Kartoffeln und weißen Kse zum Mahl versammelt und fand sich in der Phantasie in einem Weinstbchen wieder: Das klingt heute manchem Landsmann vielleicht ganz lustig,
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fr mich war dieser Zustand damals aber eine qualvolle Gemtskrankheit. Wenn ich mich von diesen Hungertrug-
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bildern befreite, saß ich stumpf auf der Zitadellenmauer und ftterte mit einigen Brosamen eine Smaragdeidechse. 40
Holzing beobachtet, dass diese „Krankheit“ nach einiger Zeit bei vielen Gefangenen auszubrechen schien. Denn „auch die anderen Kameraden waren […] in die Einsamkeit ihrer Selbstbetrachtung oder sogar in abwesende Selbstgesprche versunken“. Es wird deutlich, dass die Soldaten, die fr lngere Zeit in Gefangenschaft geraten waren, unter einem psychischen Stress standen, der womglich grßer war als der, den sie in der Schlacht erlebten.
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Ausklang: Heimkehr
I
m April 1814 musste Kaiser Napoleon das erste Mal ab-
danken. Die franzsische Armee gab ihren Widerstand auf und zog sich zurck. Jakob Rhrig, der zwei Jahre zuvor freudig Soldat geworden war, mit ihr. Er hatte noch auf den Barrikaden vor Paris gekmpft. Dort hatte er einen Offizier sagen hren: „Il faut finir cette comdie“, „man muss dieser Komdie ein Ende setzen“. Rhrig blieb mit seinem Regiment einige Wochen in Orlans und wurde dann nach Valenciennes abkommandiert. Dort erreichte ihn das Schreiben, mit dem er offiziell aus der franzsischen Armee entlassen wurde. Da Frankreich die in den vorangegangenen zwlf Jahren annektierten deutschen Gebiete wieder abtreten musste, war Rhrig nun kein Franzose mehr, sondern Preuße. Neben dem Entlassungsschein erhielt er ein Fhrungszeugnis, in dem es unter anderem hieß: Ich, unterzeichneter Kommandant des 1. Kriegsbataillons,
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bescheinige hiermit, dass der Jakob Rhrig […] durch seine gute Auffhrung verdient hatte, als Mitglied der Ehrenlegion und selbst zweimal als Offizier vorgeschlagen zu werden, welches aber durch die verschiedenen Zeitumstnde nicht hat gelingen knnen. Ich bescheinige berdies noch mehr, dass seine Talente und seine Rechtschaffenheit ihn wrdig gemacht haben, die verschiedenen [Dienst-]Grade zu versehen, in denen er angestellt war.1
]
Heimkehr
Des Weiteren erhielt Rhrig einen Schuldschein ber ausstehenden Sold und seine Marschroute in die Heimat. Auf jeder Etappe hatte er Anspruch auf eine Befrderung mit dem Wagen zum nchsten Ort. Nachdem er noch mit einigen Kameraden zum Abschied einige Glser getrunken hatte, packte er seine Sachen und verließ die Armee. ber Brssel, Maastricht, Aachen und Kln ging es nach Koblenz. Als er endlich im Heimatort ankam, strmte das ganze Dorf, das gerade bei der Roggenernte war, zusammen. Sein erleichterter, aber auch noch etwas verbitterter Vater hielt ihm entgegen: „Nun hast Du hoffentlich genug.“ Rhrigs Kommentar: „Als braver Soldat hatte ich meine Pflicht getan und bis zuletzt ausgehalten. Ja, ich hatte genug. Genug getan. Genug erlebt. Genug erlitten.“2 Genug erlitten hatte auch Jakob Klaus. Nach sechs Jahren Dienst beim 117. Regiment war er bekanntlich im April 1812 bei Alicante schwer verwundet worden. Seine Genesung dauerte bis in den November desselben Jahres. Im Dezember wurde er als dienstuntauglich eingestuft und erhielt seinen Abschied nebst einer lebenslangen, jhrlichen Rente von 182 Francs. Im heimischen Haßloch heiratete er, gehrte dem Gemeinderat an und ernhrte sich redlich von seinem Beruf als Barbier. Erst 1855 legte er die „Bartschssel nieder“ 3 , d. h. er trat in den Ruhestand. Unser dritter Gewhrsmann, der Schwabe Jakob Walter, berlebte den Russlandfeldzug. Auch er erreichte glcklich seine Heimat wieder. In Ellwangen erwarb er den Titel eines Maurer- und Steinhauermeisters. Er war sehr angesehen, unter anderem whlte man ihn im Jahr 1840 in den Rat der Stadt. So hatten diese drei einfachen Soldaten ihren Dienst fr den Kaiser heil berstanden. Sie waren, wie Millionen andere
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Ausklang
Der Kaiser denkt nach. Nach der Schlacht von Waterloo hatte er reichlich Zeit dazu.
auch, wieder Zivilisten. Nicht alle ehemaligen Soldaten waren freilich damit zufrieden. Jakob Rhrig beispielsweise trauerte trotz allem seinen Jahren in der franzsischen Armee noch lange nach. Mit seinem Beruf als Dorfschullehrer, als „Reitesel der Bauern“, war er nicht sehr glcklich. Auch dass er nicht mehr wie als sergent-major befehlen konnte, behagte ihm gar nicht. Auch viele ehemalige Soldaten des Kaisers in Frankreich waren mit den neuen Verhltnissen, die in manchem die alten waren, nicht zufrieden. Sie trauerten Napoleon nach. Vor allem die Offiziere, die Ritter der Ehrenlegion oder die Mnner der Alten Garde hatten etwas gegolten im Kaiserreich. Auf die Millionen einfacher Soldaten, die wieder Bauern, Handwerker
Heimkehr
oder Tagelhner waren, traf dies wohl nicht zu. Sie waren dorthin zurckgekehrt, von wo sie die Wehrpflicht weggerissen hatte. Aber nicht sie prgten in den kommenden Jahrzehnten das Bild des Kaisers und seiner Armee, sondern die, die hinter vorgehaltener Hand von „ihm“ sprachen, wenn sie vom empereur schwrmten. Sie sehnten sich nach „ihm“ und verklrten die Zeit, die fr die Masse der Soldaten bei Lichte betrachtet eine einzige Tortur gewesen war. Die Armeen Napoleons umgibt bis heute ein Mythos. Aus dem Alltag der Soldaten lsst sich dieser Mythos nicht erklren. Denn dieser Alltag war im Grunde nicht viel anders als jener der Heere zuvor und danach: Entbehrungen, Heimweh, Todesgefahr, Schmutz, Verwundung, Krankheit, Gefangenschaft – das alles bestenfalls ertrglicher gemacht durch amourse Abenteuer, Alkohol, Spielen und vor allem durch den Ruhm, die Beute und das Kreuz der Ehrenlegion. Das Besondere an den Soldaten Napoleons war Napoleon selbst. Ihm, einem der bedeutendsten Mnner der Weltgeschichte, gedient zu haben, hob seine Soldaten in der Erinnerung hher als die anderer Heere. So sind die Soldaten Napoleons am Ende doch Teil des Mythos, den der Korse selbst zu Lebzeiten geschaffen hatte und der ihn bis heute umgibt.
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Anmerkungen Alle bersetzungen fremdsprachlicher Textpassagen stammen vom Autor. Die Begriffe Heer und Armee werden synonym verwendet.
Drei einfache Soldaten 1 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 35. 2 Rhrig, Fahne, S. 20–21. 3 Kermann, Pflzer, S. 73. Die Soldaten des Kaisers: Wehrpflicht, Disziplin, Motivation 1 J.F.C. Fuller, Die entartete Kunst Krieg zu fhren, 1789–1961, Kln 1964, S. 36. 2 Zahlen nach Bertaud, The Army of the French Revolution, S. 344. 3 Charri, Lettres de Guerres, S. 46. 4 Girault, Mes campagnes, S. 15. 5 Rhrig, Fahne, S. 26. 6 Griffith, Art of War, S. 180. 7 Esselborn, Hessen, S. 120. 8 Kermann, Pflzer, S. 88. 9 Muir, Experience, S. 178. 10 Rhrig, Fahne, S. 88. 11 Blaze, Souvenirs, S. 82. 12 Esselborn, Friedrich Peppler, S. 8. 13 Roeder, Diary, S. 108–109. 14 Frauenholz, Infanterist Deifl, S. 26. 15 Coignet, Narrative, S. 69. 16 Rhrig, Fahne, S. 53. 17 Zahlen nach Scott Bowden, Napoleon’s Grande Arme of 1813, Chicago 1990, S. 255 und 331. Unterwegs: Auf dem Marsch und im Quartier 1 Blaze, Souvenirs, S. 28. 2 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 46. 3 Esselborn, Hessen, S. 45.
4 Hausmann, A Soldier for Napoleon, S. 172. 5 Esselborn, Friedrich Peppler, S. 10. 6 Coignet, Narrative, S. 143–144. 7 Zit. in Muir, Experience, S. 206. 8 Parquin, Napoleon’s Army, S. 99. 9 Wachsmuth, Kriegsgefangenschaft, S. 27. 10 Rhrig, Fahne, S. 66. 11 Rhrig, Fahne, S. 68. 12 Blaze, Souvenirs, S. 54. 13 Coignet, Narrative, S. 149. 14 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 31. 15 Rhrig, Fahne, S. 41–42. 16 Zit. in Gerhard Graf (Hrsg.), Die Vlkerschlacht bei Leipzig in zeitgenssischen Berichten, Leipzig 1988, S. 26–27. 17 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 14. 18 Esselborn, Hessen, S. 106. 19 Charri, Lettres de Guerres, S. 54. 20 Charri, Lettres de Guerres, S. 64. 21 Charri, Lettres de Guerres, S. 62–64. 22 Thomas P. Lowry, The Story the Soldiers Wouldn’t Tell. Sex in the Civil War, Mechanicsburg 1994. 23 Kannicht, Alles wegen Napoleon, S. 100–101. 24 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 258. 25 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 48. 26 Hausmann, A Soldier for Napoleon, S. 167. 27 Roeder, Diary S. 61.
Anmerkungen
28 Esselborn, Die Hessen in Spanien, S. 42. 29 Rhrig, Fahne, S. 28. 30 Kermann, Pflzer, S. 75–77. 31 Charri, Lettres de Guerres, S. 52.
Grundbedrfnisse: Essen, Trinken, Kleidung 1 Rhrig, Fahne, S. 98. 2 Wesemann, Kanonier, S. 19. 3 Wesemann, Kanonier, S. 28. 4 Blaze, Souvenirs, S. 22. 5 Rhrig, Fahne, S. 48. 6 Rhrig, Fahne, S. 97. 7 Kermann, Pflzer, S. 108. 8 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 170. 9 Rhrig, Fahne, S. 101–102. 10 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 81. 11 Kermann, Pflzer, S. 98. 12 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 43. 13 Rhrig, Fahnen, S. 36–37. 14 Esselborn, Hessen, S. 180. 15 Wachsmuth, Kriegsgefangenschaft, S. 30. 16 Charri, Lettres de Guerres, S. 82. 17 Rhrig, Fahne, S. 45. Die Schrecken des Krieges: Verwundung und Gefangenschaft 1 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 48–49. 2 Bourgogne, Memoirs, S. 14. 3 Kermann, Pflzer, S. 59. 4 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 124–125. 5 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 36. 6 Les Grognards, S. 49. 7 Rhrig, Fahne, S. 44. 8 Rhrig, Fahne, S. 44. 9 Rhrig, Fahne, S. 45. 10 Blaze, Souvenirs, S. 81. 11 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 131–132. 12 Rhrig, Fahne, S. 81.
13 Coignet, Narrative, S. 175. 14 Rhrig, Fahne, S. 94. 15 Hildebrand, Drei Schwaben unter Napoleon, S. 48. 16 Blaze, Souvenirs, S. 74. 17 Roeder, Diary, S. 95. 18 Girault, Mes campagnes, S. 171. 19 Rhrig, Fahne, S. 80. 20 Parquin, Memoirs, S. 37. 21 Frauenholz, Infanterist Deifl, S. 24. 22 Kermann, Pflzer, S. 98. 23 Kermann, Pflzer, S. 99. 24 Kermann, Pflzer, S. 99–100. 25 Kermann, Pflzer, S. 100. 26 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 131. 27 Wachsmuth, Kriegsgefangenschaft, S. 82. 28 Rhrig, Fahne, S. 96. 29 Kermann, Pflzer, S. 119–120. 30 Kermann, Pflzer, S. 120. 31 Zit. in Denis Smith,The Prisoners of Cabrera. Napoleon’s Forgotten Soldiers 1809–1814, New York/ London 2001, S. 21. 32 Rhrig, Fahne, S. 57. 33 John Lawrence Tone, The Fatal Knot. The Guerrilla War in Navarre and the Defeat of Napoleon in Spain, Chapel Hill/London 1994, S. 87. 34 Holzhausen, Infanterist Deifl, S. 110. 35 Wachsmuth, Kriegsgefangenschaft, S. 34–35. 36 Zahlen nach Garneray, Floating Prison, S. 228–229. 37 Zahlen nach Smith, Prisoners of Cabrera, S. 166–167. 38 Esselborn, Hessen, S. 139–140. 39 Esselborn, Hessen, S. 145–146. 40 Holzing, Unter Napoleon in Spanien, S. 255.
Ausklang: Heimkehr 1 Rhrig, Fahne, S. 165–166. 2 Rhrig, Fahne, S.170. 3 Kermann, Pflzer, S. 123.
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Bildnachweis S. 11, 13, 60, 90, 91: nach Pierre Charri, Lettres de Guerres 1792–1815, Nantes 2004; S. 19: akg-images / Erich Lessing; S. 33, 88: akg-images; S. 43, 52, 73, 83, 96, 110, 116, 138: nach Elzar Blaze, Souvenirs d’un officier de la Grande Arme, Paris o. J.; S. 130: picture-alliance / akg-images
Dr. Karl J. Mayer, geb. 1955, ist Historiker und Archivar. Neben Verffentlichungen zur Geschichte der internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit publizierte er vor allem zu Themen der wrttembergischen Landesgeschichte und zur Militrgeschichte.