Familienbriefe 1903–1921: Herausgegeben von Dirk-Gerd Erpenbeck [1 ed.] 9783412515621, 9783412515607


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Familienbriefe 1903–1921: Herausgegeben von Dirk-Gerd Erpenbeck [1 ed.]
 9783412515621, 9783412515607

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Quellen und Studien zur baltischen Geschichte

Sigismund von Radecki

Familienbriefe 1903–1921 Herausgegeben von Dirk-Gerd Erpenbeck

Q UELLEN UN D S T UDI EN ZU R BA LT IS CH EN GES C H ICH T E Herausgegeben im Auftrag der Baltischen Historischen Kommission von Karsten Brüggemann, Matthias Thumser und Ralph Tuchtenhagen Band 29

Sigismund von Radecki

Familienbriefe 1903–1921 Herausgegeben von Dirk-Gerd Erpenbeck

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Studentenausweis für Sigismund von Radecki, Universität Jurjew/Dorpat (1909) (Tartu, Eesti Ajalooarhiiv, 402.1.21929, Bl. 10) Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51562-1

Vorwort Die Edition der Familienbriefe ist im Rahmen des Forschungsprojekts „Sigismund von Radecki (1891–1970)“ der Baltischen Historischen Kommission und in Zusammenarbeit mit der Martin-Opitz-Bibliothek Herne entstanden. Ausgangspunkt für das Gesamtprojekt war ein kurzes Gespräch über den deutschbaltischen Schriftsteller bei einer Tagung der Forschungsstelle Ostmitteleuropa in Dortmund, nachdem ich kurz zuvor Radeckis bereits jahrzehntealtes Grab bei einem Rundgang über den Friedhof in Gladbeck/Westfalen gesehen hatte. Erkundigungen führten im Herbst 2004 zu der Nachlassverwalterin Ruth Weilandt-Matthaeus, die mir bei mehreren Besuchen in Gladbeck in sehr entgegenkommender Weise einen ersten Zugang zu Radeckis Vita und Opus ermöglichte. Ausgehend von ihren persönlichen Erinnerungen und Hinweisen, begann ich dank ihrer Genehmigung mit einer Sichtung von Radeckis Teilnachlässen im Westfälischen Literaturarchiv in Münster und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Gleichzeitig konnte vor allem durch Radeckis ältere Adressbücher mancher aufhellende Kontakt zu ehemaligen Freunden und Bekannten angebahnt werden. Die schon bald erkennbare außerordentliche Materialfülle ließ eine Auswertung nur stufenund themenweise zu. Auf Archivalien beruhende Vorarbeiten gab es damals nahezu keine. Seit Sommer 2005 konnten auf Wunsch von Ruth Weilandt-Matthaeus und in Zusammenarbeit mit Dr. Wolfgang Kessler und Dr. Hans-Jakob Tebarth, beide Martin-Opitz-Bibliothek, ihre Bücher sinnvoll aufgeteilt und zum Teil durch die Bibliothek erworben werden. Die bei meiner Projektarbeit aus unterschiedlichsten Quellen und Anlässen immer wieder erhaltenen und erworbenen „Radeckiana“ (Bücher, Briefe, Archivkopien usw.) wurden seit Sommer 2011 sukzessive durch ein Übereinkommen zwischen Dr. Kessler von der Martin-Opitz-Bibliothek und mir an die dort eingerichtete Arbeitsstelle Sigismund von Radecki weitergegeben; ebenfalls sollen dort auch alle neueren Materialien gesammelt und bereitgestellt werden. Wichtig für die weitere Arbeit wurde, dass die Baltische Historische Kommission 2007 das Projekt in ihr Forschungsprogramm aufnahm. Bisher erschienen sind ein Schriftenverzeichnis zu Radecki (Nr. 1–812) sowie mehrere autor- und werkbezogene Einzelstudien. Folgende thematischen Teilsammlungen sind im fortgeschrittenen Ausbau:

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Vorwort

1. Textsammlung der Erstdrucke aus Zeitungen und Zeitschriften (1912– 1970) 2. Fotosammlung 3. Briefsammlung 1921–1970 4. Ruth Weilandt-Matthaeus als Nachlassverwalterin (Ausstellungen usw.) 5. Biographica Radeckiana mit Chronologie 6. Genealogie Radecki seit der Zuwanderung nach Mitau (1684) Ich danke dem ersten Vorsitzenden der Baltischen Historischen Kommission, Prof. Dr. Matthias Thumser (Berlin), der das Projekt mit förderndem Interesse begleitet und den Anstoß zur Edition der Familienbriefe gegeben hat, weiterhin dem Direktor der Martin-Opitz-Bibliothek, Dr. Hans-Jakob Tebarth (Herne), für sein nachhaltiges Interesse und Entgegenkommen bei zahlreichen Fragen und Problemen. Für die Transkription und Übersetzung russischer Texte danke ich Dr. Madlena Mahling (Berlin) und Shirin Schnier (Bochum). Zu danken ist weiterhin Madis Maasing (Tartu) für die Herstellung der Register und Janin Stimpfl (Berlin) für die Unterstützung bei der Korrektur. Dem LWL-Archivamt für Westfalen (Münster) danke ich für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Briefe aus dem Nachlass Radecki. Bochum, im Dezember 2018

Dirk-Gerd Erpenbeck

Inhalt Einleitung ....................................................................................... 1. „Einiges über Radecki“ oder „Erinnerung an einen Vergessenen“ ........................................................................... 2. Genealogische Tafel: Radecki und Tideböhl ........................... 3. Bibliographia literaria .............................................................. 4. Literaturpreise und Ehrungen ................................................. 5. Zur Edition ............................................................................

9 9 60 65 68 69

Familienbriefe 1903–1921 .............................................................. Briefe Sigismund von Radeckis (Nr. 1–136) ............................... Briefe anderer Absender und Dokumente (Nr. 137–155) ...........

75 77 266

Abkürzungen .................................................................................. Quellen und Literatur .....................................................................

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Ortsregister ..................................................................................... Personenregister ..............................................................................

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Einleitung 1. „Einiges über Radecki“ oder „Erinnerung an einen Vergessenen“1 Wer war Sigismund von Radecki? Als „einen der letzten echten hommes de lettres“ hat der Gründer des Diogenes-Verlags, der Schweizer Daniel Keel, den Schriftsteller Sigismund von Radecki bezeichnet2. Der österreichische Maler Josef Mikl verarbeitete einen Brief Radeckis in einem Wandbild in der Wiener Hofburg, neben dem Engländer Thomas Carlyle, dem Dänen Sören Kierkegaard und den Österreichern Johann Nestroy und Karl Kraus3. Dagegen ist Radeckis Wertschätzung in Deutschland eher gering, wie der Schriftsteller und Regisseur Steffen Mensching in einer der seltenen quellenbezogenen biographischen Skizzen 2006 feststellte: „Es ist traurig und bezeichnend, dass die deutsche Literaturgesellschaft auf einen Schriftsteller verzichtet, der sich um die Zukunft sorgte, die unsere Gegenwart ist4.“ In dieser Rezeptionswüste bildete 2014 die kommentierte Neuauflage von zahlreichen Feuilletons aus Radeckis Frühzeit durch den Germanisten Hans-Dieter Schäfer eine in mehrfacher Weise auffrischende Oase5. Frühere Urteile variieren: Sigismund von Radecki wurde sehr oft als großer Stilist bezeichnet, kategorisiert als „Meister der nachdenklichen kleinen

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Beide Wendungen der Kapitelüberschrift sind Essaytitel Radeckis: „Einiges über Radecki“ kam seit 1955 mehrfach zum Abdruck; „Erinnerung“, in: Wie ich glaube, S. 214, ist dem russischen Schriftsteller Fjodor Sollogub (1863–1927) gewidmet. Daniel Keel (1930–2011), Verleger mehrerer Bücher Radeckis, ließ für ihn zum 65. Geburtstag ein Exlibris anfertigen; vgl. KAMPA, Verlagschronik, S. 264 f. Mehrfache Hinweise in: MIKL, Deckenbild; auch in: DERS., Johann Nestroy, Bibliographie am Buchende. Der Brief ist in Kopie wiedergegeben ebd. S. 29. MENSCHING, Welt; eine Kopie des Typoskripts befindet sich in der Arbeitsstelle Sigismund von Radecki in der MOB Herne. Dort liegen eine nahezu vollständige Sammlung von Radeckis Schriften und Unterlagen aus verschiedenen Nachlässen. RADECKI, Stimme der Straße. Schäfers eingehende Darstellung von Radeckis Frühzeit (Expeditionen in ein unbekanntes Leben, S. 281–350) beruht auf seinen Briefen. Eine nur sehr kurze Erwähnung Radeckis findet sich bei WILPERT, Literaturgeschichte, S. 254; umfangreich ist dagegen GOTTZMANN / HÖRNER, Lexikon 3, S. 1040–1045.

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Einleitung

Prosa“, als „Feuilletonist Nr. 1 deutscher Sprache“6. Bisweilen sah man ihn auch in einer inzwischen abgerissenen Traditionslinie von Lichtenberg über Börne, Spitzer und Speidel zu Polgar. Leser jedoch, die mehr wollten als vornehmlich stilistisch beeindruckende Schreibleistungen, ordneten seine Essays ein als Versuche, „sein beurteilendes Wort auf die Waagschale der öffentlichen Meinung zu legen“, genauso wie Radecki es über andere schrieb7. Manche glaubten, sich vertrauensvoll an ihn halten zu können: „Seine Bücher sind zuverlässige Gefährten. Er mag ein gefährlicher Kampfhahn sein, doch er kämpft nobel für ein nobles Ziel: für christliche Humanität8.“ Dass ein wichtiger Charaktergrundzug sein Humor war, belegen Titel und Inhalt vieler seiner Schriften und manche Zeichnung9. Sein Verleger und Freund Jakob Hegner sah in Radecki den einzigen mit „Witz und Geist genug“, der als Übersetzer für den Engländer Gilbert Keith Chesterton geeignet gewesen wäre10. Auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit hat die Journalistin Clara Menck auf Radeckis mutigen und riskanten Grenzweg im „feuilletonistischen Zeitalter“ zwischen seriösem Essay und leichtgewichtiger Schmonzette hingewiesen11. Vor dieser ambivalenten Haltung des Lesepublikums dem Feuilleton gegenüber hatte schon zu Beginn von Radeckis schriftstellerischer Tätigkeit der Redakteur des „Hochland“, Franz Josef Schöningh, in seinem Beitrag „Sigismund von Radecki – Ein Feuilletonist?“ gewarnt, nämlich „dass man die

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Peter von ZAHN, in: http://www.erinnerungswerkstatt-norderstedt.de/jv/661_jv.php; H. A. (d. i. der Hamburger Schriftsteller Heinz Albers) bei der Rezension einer Neuauflage im Hamburger Abendblatt, Nr. 207 v. 5.9.1980, S. 22. So Radeckis Urteil über den mit ihm bekannten Schriftsteller und Kraus-Freund Heinrich Fischer (1896–1974); RADECKI, Zum 65. Geburtstag, Manuskript im Nachlass Radecki. Orientierung. Katholische Blätter, Jg. 21, Nr. 23/24 v. 15.12.1957, S. 254 f. Hinzuweisen wäre besonders auf „Die Anekdote“ (erstmals 1938). Aufschlussreich ist auch die Beobachtung von Hanns GOTTSCHALK, Der heitere Philosoph, in: Kulturpolitische Korrespondenz, Nr. 50 v. 7.5.1970, S. 27: „Im Breslauer Literatencafé ließ Sigismund von Radecki ein Wort seines Vaters in die Gespräche einfließen. Und weil ich es bislang in den Schriften des Autors nicht fand, stehe es hier – das Wort des Vaters an den Sohn: ‚Ich habe Dir als Mitgift ein kleines Lächeln gegeben, mach eine kleine Philosophie aus ihm.‘“ Von Radeckis humorvollen Zeichnungen sind vor allem mehrere Klecksographien bekannt geworden; vgl. RADECKI (Homunculus), Anweisung. Brief an den Kösel-Verlag v. 18.7.1952, Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt, Verlagsarchiv Kösel, Geschäftskorrespondenz 1952. – Auch das auflagenstärkste Werk, die Sammlung „Die Rose und der Ziegelstein“ (Berlin 1938), später als „Das ABC des Lachens“ (1953), ist ein guter Beleg hierfür; das letztere wurde ins Niederländische und Tschechische übersetzt: „Kaal met een Kuifje“ (1963) und „Abeceda smíchu“ (1989). Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.12.1954, S. 13.

„Einiges über Radecki“

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Dinge ‚unterm Strich‘ gemeinhin als Schlummerwiese für den vom ‚seriösen‘ Leitartikel ermüdeten Geist zu betrachten habe“12. In einer seiner seltenen öffentlichen Reden in Deutschland, seiner Dankesrede für den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München am 27.6.1957, hob Radecki selbst auf ein deutlich inhaltsbezogenes Selbstverständnis ab, als sprachlicher Brückenbauer und kulturkritischer Prosaist. Er sah sich als ein Deutscher von der Peripherie her: „Mein Sonderfall besteht vielleicht darin, dass ich katholischer Konvertit und zweitens deutscher Balte bin. Als Balte habe ich versucht, Puschkin, Gogol und Tschechow ins Deutsche zu übersetzen, als Katholik aber bin ich zwei Männern zu tiefstem Danke verpflichtet, nämlich dem romantischen Philosophen Franz von Baader und andererseits dem großen Theodor Haecker, die auf mich konstitutiv gewirkt haben13.“ Für einen biographischen Zugriff auf seine Person hat Radecki selbst nur sehr wenig beigesteuert, versteckt hinter Wendungen wie „Interview mit mir selbst“ (1948), das für seine Schweizer Leser gedacht war14, oder seit 1953 das Pendant für Deutschland, „Einiges über Radecki“15. Für ein breiter angelegtes Interesse verblieben aber lange Zeit nur die in seinem Gesamtwerk verstreuten persönlichen Reminiszenzen, denn zutreffend heißt es davon: „Sie bilden die verhüllte Selbstbiographie eines Menschen, der nicht über sich selbst ———————————— 12

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Deutsche Zeitschrift, Heft 7/8 v. April/Mai 1936, S. 279–297, Vorbemerkung S. 280; dazu eine Sammlung von acht Texten (Essays, Geschichten und Gedichte). Hier auch die Beurteilung, dass Radecki „die menschliche Existenz in ihrer Ergänzungsbedürftigkeit für tief zweideutig und gefährdet hält und dass er sich auf dem aktuellen Wege der munteren Selbsterlösung noch nicht sehr fortgeschritten dünkt“. Die Dankesrede, in: RADECKI, Im Vorübergehen, S. 190. Franz von Baader (1765–1841), 1788 Beginn eines Montanstudiums im sächsischen Freiberg (wie Radecki selbst). Theodor Haecker (1879–1945), Kulturkritiker. Auffällig ist, dass jeglicher Verweis fehlt auf den sonst meist als Einfluss geltend gemachten Wiener Karl Kraus, mit dem Radecki sich sein ganzes Leben beschäftigt hat. Titel eines Manuskriptes („Brouillon 6.3.1948“) im Nachlass im DLA Marbach. Der Text ist nahezu identisch mit „Interview mit sich selbst“ in einer unbekannten Schweizer Illustrierten, o. J., S. 26 (Sammlung Dr. Michael Elsen, Stein), mit der Kurzgeschichte „Ein Reiter im Dunkeln“, darin eingeschoben: „Interview mit sich selbst“. Erstmals als Nachwort, in: RADECKI, Rückblick, S. 75–78. – Älteste sehr ähnliche Quelle ist der eigenhändig von Radecki unterschriebene Lebenslauf, Zürich, 5.11.1946; Edition, Nr. 155. Bereits 1950 hatte Radecki auf Anfrage eine Kurzbiographie an Erik Thomson, Geschäftsführer der Carl-Schirren-Gesellschaft in Lüneburg, geschickt. Biographisch aufschlussreich ist der auf einem Interview beruhende Beitrag von Pw [Wolfgang PABST?], Zum 75. Geburtstag eines dichtenden Denkers, in: Schweizer Illustrierte (Zürich), Nr. 50 v. 12.12.1966, S. 6 (mit zwei Fotos).

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Einleitung

spricht16“, oder, wie es 1946 einleitend in dem wohl ersten Hörfunkbeitrag des NWDR zu Radecki nach Kriegsende hieß, seine Werke seien „im Grunde ein fortlaufendes Tagebuch“17. Die in diesem Band vorgelegten frühen Briefe aus dem engsten Familienkreis bilden daher eine vorzügliche Quelle, um das – vielleicht gewollte – Dunkel in manchem Lebensbereich aufzuhellen. Die Familie von Radecki Zu Herkunft und Familie findet man bei Sigismund von Radecki meist nur seinen knappen Hinweis: „Ein Vorfahre von ihm war 1570 Kanzler des Herzogs von Teschen18.“ Die ältere Genealogie zur Familie Radecki beruht im wesentlichen auf Hinweisen in Lexika zum schlesischen Adel, die Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Familienchronik zusammengefasst und ergänzt wurden19. Erstmals veröffentlicht wurde daraus anläßlich der militärischen Erfolge des Generalleutnants Fedor von Radecki (1820–1890), des „Helden vom Schipka-Pass“ aus den Balkankriegen20. Es gibt zwar klare urkundliche Belege für ein zeitlich ———————————— 16

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So bereits im Klappentext zu seinem ersten Nachkriegsbuch: RADECKI, Der runde Tag, Zürich 1947, meist zitiert nach der Taschenbuchauflage Frankfurt 1958. Er sah sich „als Deutschbalte trotz erworbener Landeszugehörigkeit überall ein wenig als Emigrant, als ein völlig einzelner, ohne Anhang, ohne Partei, ohne jeden Gruppenrückhalt“; vgl. Vorwort zu: RADECKI, Das Schwarze, S. 9. RADECKI, Sendereihe „Das gute Buch“, Alles Mögliche, Einleitung, Bl. 2; MOB Herne, Slg. Milli Bau, Mappe 4. Die Sendung wurde am 6.3.1946 ausgestrahlt. Das NWDR-Blatt, mit Sendervermerk von Axel Eggebrecht und „Major Everitt“ (d. i. Walter Albert Eberstadt), ist enthalten in Radeckis „Deutscher Anthologie“; MOB Herne. RADECKI, Rückblick, S. 75. Diese Angaben zur Herkunft der Familie gehen wohl zurück auf das Logbuch seiner Schwester: „Mit der Bibel unter dem Arm springt mein Urahn Antonius über die Grenze Kurlands, Sohn des Obermundschenks beim König von Polen; Radecki, aus der Wappenfamilie Godzemba“; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 301. – Verbindungen zu dem bekannten Feldmarschall Josef Wenzel Graf Radetzky ließen sich bisher nicht nachweisen. Eine breitere Übersicht zu dieser Frage bei REGELE, Feldmarschall Radetzky, S. 17 ff., wo auch auf den einschlägigen Briefwechsel mit Sigismund (1956) verwiesen wird. Ausgangspunkt dürfte gewesen sein: SINAPIUS, Des Schlesischen Adels 2, S. 900 f. Dorpater Stadtblatt, Nr. 105 v. 25.8./6.9.1877, zur Herkunft des Generals aus RigaWohlershof; hier auch die erste Erwähnung des „Obermundschenken“ Michael Hieronymus Radecki beim König von Polen. Die Fixierung auf diese Sichtweise wird besonders deutlich bei dem abgeänderten Familiennamen des Arztes Conrad Rudolf von Radecki (1798–1860), der sich auch „Radeck von Radecki” nannte, so in seiner Dissertation (Dorpat 1824) und in Briefen. Siehe auch seine Studentenakte; EAA, 402.2.19422, Bl. 5 ff., 53, 101. Düna-Zeitung, Nr. 26 v. 1.2.1907: Hinweis auf eine „Geschichte der Familie Radecki

„Einiges über Radecki“

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und örtlich breit verteiltes Auftreten von „Radecki“, „Radötzki“ und anderen Varianten im polnisch-böhmischen Raum, jedoch ist ein eindeutiger Anschluss an diese Familien für den seit dem späten 17. Jahrhundert im kurländischen Mitau als Hofbuchdrucker nachweisbaren Georg Christian Radetzky († 1726) bisher nicht möglich21. Bedeutsam geworden ist die Nobilitierung des Kirchspielrichters und Ritters Christoph Radecki22, der am 4.12.1833 im hohen Alter in den Adel des Russischen Kaiserreichs aufgenommen wurde23. Besitzlich waren die Vorfahren erst sehr spät und nur durch Kauf geworden24. Als mehrere Schiffe des Reeders Christoph Heinrich von Radecki (1794– 1865) während des Krimkrieges von den „Engländern weggekapert wurden“, verkaufte in dieser Notlage sein Sohn Eduard von Radecki nahezu sämtlichen Besitz25. Aus dieser Großfamilie aus Kaufleuten, Verwaltungsbeamten, Ärzten, Militärs und Literaten stammte Sigismund von Radecki, geboren am 7./19.11.1891 in Riga als Sohn des Ottokar von Radecki und seiner Ehefrau Alma, geborene Tideböhl26. Er war das vierte und jüngste Kind, nach seinen Geschwistern Alma (* 1881), Eva (* 1884) und Wilhelm (* 1888). Zunächst wohnte die Familie weiterhin in Riga, der Gouvernementshauptstadt Livlands und einer der wichtigsten Häfenstädte Russlands. Doch schon mit zehn Jahren gab es einen einschneidenden Wohnungswechsel von Riga nach St. Petersburg, den Radecki später so begründete: „Ich bin in Riga aufgewachsen, ————————————

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(Mskr.) aus dem Nachlaß von Dr. Rudolf Radecki“. Besonders wichtig ist eine Ausarbeitung „Genealogia Familiae de Radec Radecki”; Hinweis bei Maximilian von RADECKI, Ahnentafel, S. 6: „Gerettet habe ich das Original des 1771 von Martinus Josephus de Radec Radecki aufgestellten, im Schlossgericht zu Sandomir in Polen in die Staatsakten eingetragenen und bestätigten und am 6.2.1772 in der herzoglichen Kanzlei zu Mitau produzierten Geschlechtsregisters.“ Johann von RADETZKY, Genealogischer Abriss. Zu Namensvorkommen in Teschen vgl. BIERMANN, Geschichte, S. 21, 67. Auch Christian benannt (* 1757 Windau, † 1847 Riga). Namensvarianten sind Radekki und Radezki. Else Lasker-Schüler rief ihren Freund Sigismund immer „Herr von Radetschki“. Unklar bleibt bisher die Herkunft des „aus kurländischem Adel“ stammenden Friedrich Carl von Radecki (* ca. 1748 wahrscheinlich Kuhlmannshof (Götzenhöfchen), lett. Kūla, bei Bauske), der seit Sommer 1769 bis 1799 in russischem Militärdienst stand. St. Petersburg, Russisches Staatliches Historisches Archiv, 1343–36–20530, Bl. 6 f. (freundliche Mitteilung von Herrn Michael Katin-Jartzew, Moskau). Aus Pfandbesitz (Rauden bei Tuckum 1848) erwuchs Erbbesitz (1850), hinzu kam Garrosen bei Bauske, wohl auch Hermelingshof. Das Inland 22 (1857), Sp. 266, 601. Er selbst wurde später Bevollmächtigter des Fürsten Lieven zu Kremon und Treyden. Dazu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 302. Rīga, Latvijas Valsts vēstures arhīvs, Kirchenbuch Riga, St. Jakob, Taufen 1890–1891, Nr. 278: Sigismund Arnold Ottokar von Radecki, Wohnort: Todtlebenboulevard 9.

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Einleitung

einer damals deutschen Stadt; aber eben um sie zu russifizieren, verboten die Russen die deutsche Unterrichtssprache in den Mittelschulen. Die einzigen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache waren die Kirchenschulen in Petersburg und Moskau geblieben. Das also, die deutsche Unterrichtssprache für uns Knaben, war der Hauptgrund, warum meine Familie 1900 nach Petersburg übersiedelte27.“

Abb. 1: Ottokar und Alma von Radecki mit ihren Kindern, von links: Eva, Wilhelm, Sigismund, Alma (um 1895) – Quelle: WLA, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki

Weitere Gründe für die Abwanderung von der Düna an die Newa ergaben sich aus dem beruflichen Leben des Vaters Ottokar von Radecki (* 21.1.1854 Garrosen/Bauske28, † 18.10.1921 Berlin). Bei ihm gab es nach einer anfänglich eher typisch bildungsbürgerlichen Laufbahn mit Gymnasium ———————————— 27 28

RADECKI, Vom Übersetzen, in: Gesichtspunkte, S. 96. In Ottokars Studentenakte ist angegeben: „Taufschein Kirchenbuch Sallgalln Nr. 77 v. 30.10.1857“; EAA, 402.2.19425. Der Taufschein wurde Ottokar später wiederausgehändigt. Das Kirchenbuch für dieses Jahr scheint verlorengegangen zu sein. Sallgalln liegt bei Bauske.

„Einiges über Radecki“

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und Jurastudium einen frühen, bisher ungeklärten Bruch29. Am 17.2.1879 bewarb sich der junge „Candidat der Rechtswissenschaft“ um eine freigewordene Dozentur (Handels-, Wechsel- und Landwirtschaftsrecht) am Rigaer Polytechnikum und wurde zum 1.9. auf diese Stelle berufen, wo er auch am 7.9. seine Antrittsvorlesung halten konnte30. Nur wenig später, am 30.11.1879, musste er jedoch dem Verwaltungsrat mitteilen: „Zu meinem Bedauern habe ich mich durch ein Kehl-Leiden genöthigt gesehen, meine Vorlesungen am Polytechnikum zu unterbrechen, oder richtiger gesagt, für dieses Semester vollständig einzustellen.“ Im Frühjahr 1880 war er kurzzeitig mit einem Rigaer Anwaltskollegen in Wien in Kontakt, und am 16.8.1880 sah er sich aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, die Dozentenstelle endgültig aufgeben31. Daraus ergab sich notwendig die Wiederaufnahme seiner früheren Rechtsanwaltspraxis als „Hofgerichts- und Ratsadvokat“32. 1882 legte er jedoch aus unbekannten Gründen auch diese Tätigkeit in Riga nieder. Ebenfalls gab er am 29.1.1882 seine Kommissionstätigkeit in der LiterärischPraktischen Bürgerverbindung auf 33. Erst nach wechselnden Stellen erhielt er im Herbst 1891 die Genehmigung zur „Advocatur in den Gerichten der baltischen Provinzen“34. Spätestens seit 1893 lebte er auf Dauer in St. Petersburg als freier Rechtsanwalt und Vertreter in baltischen Verwaltungssachen35, ließ sich im Frühjahr 1893 dort auch in ———————————— 29

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Schulzeit in Ubbenorm; Gouvernements-Gymnasium Riga; stud. jur. Dorpat 1872–1877 (Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 9125); 31.5.1878 Candidat der Rechtswissenschaft (Dorpat). Mehrere Schreiben zum Studium (1872 ff.); EAA, 402.2.19425. Belegbuch (seit 19.1.1872); EAA, 402.2.19426. Auskultant am Rigaschen Rat; Rats- und Hofgerichtsadvokat (1878/79). Rīga, Latvijas Valsts vēstures arhīvs, 7175.193 („Radetckii“), mit dem gesamten Schriftwechsel zur Dozentur. Wiener Zeitung v. 5.3.1880 (Hotel Metropol). So hieß es in der örtlichen Presse: „Am 20.8.1880 übernehme ich meine Praxis wieder selbst“; Rigasche Zeitung, Nr. 190 v. 18.8.1880. Die Praxis lag in der Kleinen Königstraße 6. Rigasche Stadtblätter, Nr. 7 v. 18.2.1882. Düna-Zeitung, Nr. 213 v. 20.9.1891. Nach seinem Ausscheiden aus der Politik 1909 inserierte er in Rigaer Zeitungen, dass er wieder unverändert für folgende Rechtsgeschäfte zur Verfügung stünde: „Vertretung administrativer Angelegenheiten bei den Ministerien und beim Senat, auch die Erwirkung von Aktiengesellschaften, die Erwirkung von Konzessionen“; Rigasche Zeitung, Nr. 115 v. 23.5.1909. Wohnort war St. Petersburg, Simingasse 1. Aus dieser Tätigkeit hat sich erhalten: „Regeln und Briefwechsel (19.4.1904 – 30.8.1905) mit dem Finanzministerium, dem Ottokar Radetzky [!] in St. Petersburg über Erteilung von Darlehen zu Meliorationszwecken“; EAA, 2486.2.1533.

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Einleitung

die Adelsmatrikel des Gouvernements St. Petersburg eintragen36. Mit diesem Zeitpunkt beginnt eine Liste von 75 Briefen, aus der seine wesentlichen Wohn- und Reisezeiten (St. Petersburg, Riga, Honkaniemi / Wiborg, Danzig, Breslau und Berlin) hervorgehen37. 1896 versuchte er, sich vorübergehend journalistisch zu betätigen, und gab ein russisches Monatsblatt unter dem Titel „Städtische Angelegenheiten“ heraus38. Seine Familie verblieb zunächst in Riga. Eine völlig neue berufliche Perspektive schien sich für Ottokar erst Jahre später im Bereich des Politischen während der russischen Revolution von 1905 zu eröffnen. So heißt es, wenn auch nur sehr knapp, in einem Brief Sigismunds: „Pappi hat in der Rigaschen Rundschau mehrere Artikel über die Wahlen geschrieben“, die „sehr viel Staub aufgewirbelt“ haben39. Seit dem 27.9.1905 gehörte er zum Wahlbüro für den Petersburger Stadtbezirk Admiralität40, wenig später, am12.12.1905, war er neben Rudolf von Freymann41 und Axel von Gernet42 Mitbegründer der dortigen Deutschen Gruppe des Verbandes vom 17. Oktober43 und referierte auf deren Generalversammlung am 29.10.1906 in St. Petersburg über den Stand der politischen und organisatorischen Entwicklung44. Auch an der späteren Klärung, wie „eine der Solidarität der russischen Untertanen deutscher Nationalität entsprechende politische Behandlung der Fragen der Sprache, der Schule, der Kirche herbeizuführen wäre“, war er beteiligt45. Im Februar 1907 trat er aus Vorstand und Ausschuß der Deutschen Gruppe aus, wurde jedoch in den „politischen Klub des russischen Verbandes vom 17. Oktober“ kooptiert. Am 12.4.1907 wurde er als Nachfolger für den zurückgetretenen Generalleutnant a. D. Wilhelm ———————————— 36

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Die Eintragung in die Adelsmatrikel ist als Auszug enthalten in der Studienakte seines Sohnes Sigismund bei dessen Bewerbung an der Universität Dorpat; siehe unten Anm. 72. Wohnort war Aptekarskoi Pereulok Nr. 6 (Apothekergasse 6). „Pappi’s Briefe 1893–1917“. Das Einzelblatt (Typoskript unbekannter Herkunft) befindet sich neben mehreren gebündelten Briefposten in einem „Roten Kasten“ im Nachlass Radecki im WLA Münster. Zu redaktionellen Zielen und zum Programm siehe Düna-Zeitung, Nr. 158 v. 16.7.1896. Siehe Brief v. 21. oder 27.3.1905; Edition, Nr. 15. Die angesprochenen Artikel sind bisher noch unbekannt. Rigasche Rundschau v. 30.9.1905. Rudolf von Freymann (1860–1934), Jurist, Redakteur; DBBL, S. 226. Axel von Gernet (1865–1920), Historiker, Politiker; DBBL, S. 239. Einzelheiten dazu: Düna-Zeitung, Nr. 54 v. 7.3.1906; Baltische Monatsschrift 61 (1930), S. 760 ff. Düna-Zeitung v. 30.10.1906 und umfangreich Rigasche Rundschau, Nr. 279 v. 4.12.1906. Rigasche Rundschau v. 24.10.1907, mit einer ausführlichen Darlegung der politischen Optionen.

„Einiges über Radecki“

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von Helmersen in das Zentralkomitee des Verbandes vom 17. Oktober gewählt46. Letztlich aber waren es andere, die in den politischen Auseinandersetzungen maßgebend wurden. Seine Tochter Eva gibt in einem Tagebucheintrag eine klare Sicht auf das damalige, sich vielleicht neu ausrichtende Berufsleben ihres Vaters Ottokars: „1905 warf er sich mit ganzer Seele auf die Politik. Die Bildung der ‚Deutschen Gruppe vom Verbande des 17. Oktober‘ war sein Werk mit Meyendorff47, Freymann und Gernet. Diese deutsche Herzenssache machte ihn taub und blind gegen sein eigenes Wohl. Er verlor an Terrain auf juristischem Gebiet, seine Sachen wurden verschleppt. Die Revolution tat das ihre. Dann fing der Abrutsch an. Eine schwere Krankheit48, Augenschwäche usw. Jetzt sieht er alles ein und bedauert viel49.“ Ottokars wirtschaftliche Lage war schon vorher einmal so eng gewesen, dass er andeuten musste, sein „Geldvorrat“ habe sich „fast auf Null reduziert“50. Hinzu kam, dass spätestens mit Studienbeginn des Sohnes Wilhelm seit Herbst 1907 wiederum zwei Haushalte geführt werden mussten, der eine in Dorpat, wo die Mutter mit ihm und den beiden Töchtern wohnte, der andere in St. Petersburg für Vater Ottokar und Sigismund51. Die wirtschaftlichen Lasten wurden zuletzt nach 1910 noch schwerer durch den Studienbeginn der beiden Söhne im sächsischen Freiberg, wie deren Briefe immer wieder und deutlichst zu erkennen geben. Hinzu kam die sich auffällig verschlechternde Gesundheit der Tochter Eva. Seit Spätsommer 1914 scheint Ottokar von St. Petersburg zu seiner Familie nach Dorpat gezogen zu sein52. Von dort floh er im Winter 1918 über Riga und Königsberg nach Berlin und lebte dort zusammen mit seinem Sohn Sigismund bis zum Tode am 18.10.1921. Sigismunds Mutter Alma von Radecki, geb. von Tideböhl (* 27.5.1855 Riga, † 22.7.1917 Dorpat), wird in den Briefen zwar vielfach erwähnt, ohne dass jedoch persönliche Akzentuierungen erkennbar werden. Hierfür muss

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Rigasche Rundschau, Nr. 89 v. 17.4.1907. – Wilhelm von Helmersen (* 1842, † nach 1914), russischer Militärrichter; DBBL, S. 311. Alexander Baron Meyendorff (1869–1964), Jurist, Landespolitiker; DBBL, S. 511. Dazu Rigasche Zeitung, Nr. 115 v. 23.5.1909: „von meiner Krankheit genesen“. Eva von RADECKI, Logbuch, S. 302, zum 16.2.1917. Brief v. 29.1.1905; EAA, 2486.2.1533, Bl. 11. Im Vorwort zu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 24, schreibt Sigismund dazu: „Im Herbst 1907 siedelten wir nach Dorpat über, da mein älterer Bruder die dortige Universität besuchte.“ Ein letzter Brief aus St. Petersburg datiert vom 19.7.1914. In Evas Tagebuch tritt er regelmäßig seit dem 5.11.1915 in Dorpat auf; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 207.

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man gegebenenfalls auf Evas erheblich klarere Tagebucheintragungen zurückgreifen. Almas Leben, „schlicht und recht“, wie sie es selbst sah53, war kein leichtes bei den vielen schweren Problemen, und wiederholt hat die Schwester Josephine von Moeller ihr und der Familie helfend beigestanden. Ein letzter Sommeraufenthalt zusammen mit ihrer Tochter Eva ließ sich nicht mehr erreichen. Sie starb, zu früh, nach schwerer Operation im Sommer 191754. Nur wenig ist über Sigismunds älteste Schwester Alma („Micko“) von Radecki bekannt (* 27.7./8.8.1881 Riga, † 11.7.1952 Göttingen)55. In ihren Dorpater Jahren, nach 1908, war sie „Englischlehrerin“; sie heiratete (Dorpat 9./22.6.1914) den aus St. Petersburg stammenden Bibliothekar Werner von Grimm56. Wegen Gesundheitsproblemen war sie noch 1917 in einem finnischen Sanatorium in Behandlung. Nahezu mittellos flohen die Eheleute im Herbst 1919 von Dorpat über Riga und Mitau nach Göttingen, wo Grimm Lektor für Russisch an der Universität werden konnte57. Zwei Jahre später erhielt er zusammen mit Alma die preußische Staatsangehörigkeit. Zu dem Schriftsteller Ludwig Renn, der bei ihm Russisch lernen wollte, entwickelte sich um 1929 eine Freundschaft58. Die Schwester Alma tritt recht selten in Radeckis frühen Briefen auf, und auch aus späterer Zeit fehlen Briefe fast völlig, obwohl sie seit Herbst 1918 sehr guten Briefkontakt zu ihrer Schwester Eva bis zu deren Tod 1920 hatte. Sie wird aber vielfach in Evas „Logbuch“

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So in ihrem einzigen bisher nachweisbaren Brief v. 16.6.1914 mit einer liebevollen Schilderung der Trauung ihrer Tochter Alma; Edition, Nr. 145. Eva von RADECKI, Logbuch, S. 345, 380. Die behandelnden Dorpater Ärzte waren Dr. Oskar Rothberg und Dr. Isaak Joffe; zu diesen vgl. BRENNSOHN, Ärzte Livlands, S. 221, 340. BORBÉLY, Gedenkbuch, S. 132, hier die unrichtige Angabe, dass sie „im Kriege“ verstorben sei. Die Beisetzung erfolgte auf dem Friedhof in Göttingen, Abteilung Nr. 90, Nr. 277; Mitteilung des Friedhofsamts Göttingen v. 4.8.2005. Das Grab wurde bis zur Einebnung 1983 von ihrem Bruder Sigismund gepflegt. * 4./16.12.1886 Petersburg, † 27.10.1956 Göttingen. Studium in Dorpat (1906–1912); Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 20959. Dr. phil. (Studien zur Geschichte der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg/Leningrad, 1933). Wohnte zuletzt in Göttingen, Prinzenstr. 21 und Schildweg 12. Sie waren „in schlimmster Notlage“, „Bolschewiken haben ihn und seine Frau um ihr ganzes Vermögen und ihre ganze Habe gebracht“, bis auf „nur noch zwei kleine Koffer“; Personalakte im Universitätsarchiv Göttingen, Phil. Prom. G 6 (Grimm). Todesanzeige: Göttinger Tageblatt, Nr. 254 v. 29.10.1956. Nachruf: Ebd. Nr. 259 v. 3./4.11.1956. – Herausgeber und Übersetzer von: Alexander N. AFANASJEW, Russische Volksmärchen, Frankfurt/Main 1990 (und öfter). RENN, Anstöße, S. 439 ff. Auch hier wird Alma oft als „kränklich“ bezeichnet.

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erwähnt. Umfangreich muss der langjährige Briefwechsel mit ihrer Tante Josephine („Josi“) von Moeller auf Sommerpahlen gewesen sein, wovon sich ein großer Teil im Nachlass Radecki in Münster und Marbach erhalten hat. Hin und wieder besuchte Radecki seine Schwester in Göttingen, allerdings aus passrechtlichen Gründen nicht mehr nach seiner Abwanderung 1946 in die Schweiz. Aus literarischer Sicht ist die Schwester Eva Louise von Radecki (* 5./17.11.1884 Riga, † 10.7.1920 Jerwen bei Sommerpahlen) die weitaus wichtigste Korrespondenzpartnerin59, und so ist es ein bedauernswerter Mangel, dass sich bisher nur ein einziger Gegenbrief an ihren Bruder hat nachweisen lassen60. Jedoch bietet ihr erhaltenes Tagebuch, das „Logbuch“, „welches ihr persönliches Schicksal und das des untergehenden Baltentums unvergeßlich darstellt“, mit seinen feinen Beobachtungen und Wertungen mehr als nur einen Ersatz für diese Lücke61. Nicht nur in Radeckis Vorwort zu der von ihm selbst finanzierten Edition ist seine liebevolle Bewunderung für die Schwester greifbar, sondern besonders in seiner Glosse „Ersehnte Bücher“ hat er bis in Details den schwierigen Weg bis zur Veröffentlichung festgehalten: „Dreißig Jahre hab’ ich es bei den Verlegern anzubringen versucht.“ Dass „seine Majestät der Zufall, dieses Pendeln zwischen Chaos und Plan“, ein öfter wiederholtes Reizthema für Radecki62, eine Rolle gespielt hat bei der Wahl des Zeitpunktes für eine Drucklegung, ist kaum wahrscheinlich, denn das „ersehnte Buch“ erschien genau im 75. Geburtsjahr Evas, nämlich 1959. Sehr ähnlich verhielt es sich mit der Neuauflage ihrer Novelle „Der Krippenreiter“, die 1934 wohl zu ihrem 50. Geburtstage von früheren Freunden arrangiert wurde, was hier vermerkt werden soll. Ebenfalls erhalten haben sich die in Evas Briefen vielfach angesprochenen Ausschreibungen von Gedichten in ihrem privaten Album mit dem Titel: „1914, 1915, 1916: – Eine Zeit, damit vieler Herzen Gedanken offenbar werden63.“ Beginnend mit Zeilen von Goethe, zeigt diese persönliche Anthologie in drei „Abteilungen“ eine reichhaltige Sammlung klassischer und moderner Verse. Vertreten sind unter anderem: die Bibel, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Nietzsche, Else Lasker-Schüler, Peter Hille, Walt Whitman, William Shakespeare und Henrik Ibsen. Früh ———————————— 59

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Begraben in Dorpat neben ihrer Mutter; vgl. Helmuth SPEER, Necropolis von Livland, Bd. I: Stadt Dorpat, in: EAA.1674.2.339. 1927–1929: Nr. 2177, Alma v. Radecki, geb. v. Tideböhl; Nr. 2188, Eva Luise v. Radecki. Brief v. 20. und 25.9.1919; Edition, Nr. 151. Vgl. RADECKI, Ersehnte Bücher, in: Zimmer, S. 181–183. RADECKI, Seine Majestät der Zufall, erstmals in: DERS., Welt, S. 357 ff. Querformat, 15 × 12,5 cm, unpaginiert; Privatbesitz.

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begann sie, selbst zu schreiben, ihren ersten Erfolg hatte sie 1906 mit dem Gedicht „Aprilnacht“64. Eva war kleinwüchsig, litt an zunehmender Rückgratverkrümmung, seit 1904 an Knochentuberkulose, später auch einer Nierenerkrankung, wodurch sie seit 1912 bis an ihr Lebensende bettlägerig war und einer ständigen Krankenpflegerin bedurfte65. Als sich im Herbst 1918 als Folge der russischen Revolution die Familie in Dorpat völlig auflöste, verblieb Eva, zusammen mit der Pflegerin Fanny Rathlef, in Estland, wo sie von ihrer Tante Josephine von Moeller bis zum Tode auf dem Beigut Jerwen nahe Sommerpahlen liebevoll aufgenommen wurde66. Sigismunds Bruder Wilhelm („Willy“) von Radecki, geboren am 5.1.1888 in Riga, besuchte dort zunächst das Privatgymnasium von Eltz67, später die Annen- und die Katharinenschule in St. Petersburg68. Seine Briefe geben darüber vielfach Auskunft. Vom 7.9.1907 bis zum 16.2.1910 studierte er wegen Zulassungsbeschränkung zunächst Chemie („physiko-mathematische Fakultät“), dann Medizin an der Landesuniversität in Dorpat69, wo er mit seiner Mutter wohnte70. Am 22.11.1908 trat er der dortigen Fraternitas Rigensis bei71. Nur ein Jahr später folgte ihm sein Bruder Sigismund zum Studium der Mathematik nach Dorpat72. Beide wechselten im Frühjahr 1910 das Studienfach und gingen nach Freiberg in Sachsen, wo Wilhelm 1914 im Bergfach das Ingenieur-Examen ablegte. Die Brüder waren wesensverschieden

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Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte 100 (1906), S. 250. Übernommen als erstes von sechs Gedichten Evas in: Logbuch, S. 35. Zur Pflegerin Fanny Rathlef siehe die zahlreichen Hinweise in den Briefen. HARTMANN, Verwandte, S. 43 f. Hinweis in: Album Fratrum Rigensium, Nr. 1114. Das Abschlusszeugnis, enthalten in seiner Studienakte (siehe die folgende Anm.), gibt eine sehr gute Übersicht über das damalige Kollegium, darunter Direktor Heinrich Theodor Pantenius (1865–1935), Inspektor Gottfried Koppe (1860–1929), Georg Karlovic Meckler (1858–1915), Axel Türmann, Woldemar Feschotte, Paul Gottfridovic Willewaldt (1865– 1911), Mary Morrisson und Harry Ivanovic Schlupp, sämtlich nachgewiesen im Archiv Erik Amburger zu Ausländern im vorrevolutionären Russland am Leibniz-Institut für Ostund Südosteuropaforschung Regensburg. Studienakte mit zahlreichen Anlagen sowie seinem Foto (Arensburg/Ösel 1907); EAA, 402.1.21920, Bl. 14 und 21921. Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 22303, Wilhelm v. Radecki, 1. Sem. Chemie 1908, Medizin 1908–10. Wohnort: Dorpat, Hetzelstrasse (heute: Juhan Liivi tänav) Nr. 5. Im Nachlass Radecki im WLA Münster findet sich ein Foto mit Wilhelm als Student. Der auf dem Foto deutlich erkennbare „Bierzipfel“ hat sich lange Zeit erhalten und ist erst nach dem Tode der Nachlassverwalterin in Gladbeck verlorengegangen. Studienakte: EAA, 402.1.21929. Matrikel-Nr. 22829, Nr. 124 und 1207.

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und lebten in Freiberg schon bald getrennt, jedoch blieb ein guter familiärer Kontakt bestehen. Von Wilhelms Familienbriefen sind nur wenige erhalten geblieben. Es sind zwei, die dabei aus den sonst meist kurzen Berichten oder wohlmeinenden Grußzeilen herausfallen: zum einen die lebendige Sportreportage über einen Ringerwettkampf 1905 in St. Petersburg73 und zum anderen der eingehende Bericht über die Arbeitsbedingungen auf einem Dortmunder Bergwerk, wo die Brüder 1910 ein Praktikum ableisteten74. Völlig anderer Art, und hier nicht weiter nachzugehen, sind Wilhelms Briefe an seine Verlobte Herta Gernhardt75. Als Anfang September 1917 deren Mutter Minna Gernhardt76 in ihrem Gutshaus in Neu-Camby verhaftet und das Haus durchsucht wurde, „fand man beim Öffnen eines alten Sekretairs Willis Briefe an Herta“77. Davon hat Eva mehrere in ihr „Logbuch“ aufgenommen78. Wilhelm („Willjam“, wie er seine Briefe an Herta unterschrieb) meldete sich nach Kriegsausbruch 1914 als Freiwilliger für das russische Heer, wurde dem 95. Krassnojarsker Infanterie-Regiment zugeteilt und marschierte mit der russischen NjemenArmee nach Ostpreußen ein. Er fiel am 13.8.1914 in den allerersten Tagen seines Einsatzes nahe Soldau bei Tannenberg. Lange Jahre galt er als vermisst, und erst am 29.8.1918, kurz vor Auflösung des familiären Haushalts in Dorpat, erfolgte auf Antrag seine Todeserklärung79. ———————————— 73 74 75

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Brief v. 7.9.1905 an seine Schwester Eva; Edition, Nr. 142. Brief v. 31.7.1910 an seine Schwester Alma; Edition, Nr. 143. Elsa Caroline Hertha („Herta“) Gernhardt, * 25.1.1895 Neu-(Klein-)Camby, getauft 28.2.1895 Dorpat, Pauluskirche; ∞ Pleskau 27.6.1919 General Stanislaus Bulak-Balaskowitsch (1883–1940); 1919 bei der weißrussischen Nordarmee; 1941 in Posen, wo sie ihre Scheidung beantragte. – 14 Briefe Wilhelms an Herta vom 28.6. bis zum 10.8.1914 in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 220–234. Die Briefe haben sich erhalten und liegen heute im Nachlass Radecki, WLA Münster; Einzelheiten darüber: Ebd. S. 368, zum 5.9.1917. – Aufgebot 11.5.1919, mit Hinweis auf „Aufgebotsschein an das Pfarramt in Pleskau v. 19.6.1919 Nr. 94“; Kirchenbuch Dorpat (Universitätskirche), Personalbuch Camby 1900– 1929, EAA, 1255.1.535, S. 13. Wilhelmine („Minna“) Ottilie Gernhardt, geb. Hagen (* 9./21.2.1862 Eckernförde, † 13.5.1938 Dorpat). Todesanzeige: Postimees (Tartu), Nr. 131 v. 15.5.1938, S. 7. ∞ Moskau (Peter-Paul) 7.5.1889 Heinrich Carl Gernhardt (* 29.2.1852 Alt-Anzen, † 4.9.1901 Neu-Camby). Eva von RADECKI, Logbuch, S. 368. – Die Briefe befinden sich heute im Radecki-Nachlass im WLA Münster. Es ist anzunehmen, dass Minna Gernhardt die Briefe Willys nach dem Auffinden an dessen Schwester Eva übergeben hat und sie dadurch später in den Nachlass Radecki gekommen sind. Eva von RADECKI, Logbuch, S. 220, 232 f., 234: Petersburg (28.6.1914), Pleskau (8.7.1914), Warschau (30.7.1914), Ansichtskarte aus Soldau/Ostpreußen (10.8.1914). Alle Angaben im Brief v. 28.8.1918; Edition, Nr. 149 a.

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Frühe Jahre und Schulzeit in St. Petersburg Für Radeckis Kindheits- und Jugendjahre war man bisher im wesentlichen auf die sehr verstreuten, knappen Hinweise und Exkurse in seinen Feuilletons und kurzen Geschichten angewiesen, am schönsten zu lesen etwa in „Mein Pferd Pudding“ für die Jahre in Riga, in „Brisenglück“ für Ferientage auf der Insel Ösel und in „Die Nummern in der Schule“ für die Schulzeit in St. Petersburg80. In diese Kinderwelt aus bunten Textbausteinen lassen sich auch einige Fotos einfügen, wenn diese auch nahezu durchweg undatiert und ohne Ortsangaben sind81. Dabei ist besonders ein Bild zu erwähnen, das Radecki wohl sehr wertvoll war, weswegen er es gleich dreimal an enge Freunde verschickt hat: Sommertage 1901 am See auf dem Gut Bremenhof82. Es scheint exemplarisch zu sein für eine Zeit, die er aphoristisch verdichtet hat in der Wendung: „Ich zähle meine Jugendzeit nicht nach den Wintern, sondern nach den Sommern, denn die Erinnerung ist eine Sonnenuhr und das Licht reicher als die Dunkelheit83.“ Früh wurde Radeckis reale Welterfahrung ergänzt, auch angereichert, durch vielfache Leseerlebnisse. Wie aus seinem ersten Brief (1903?) hervorgeht, überwiegen anfänglich verständlicherweise Abenteuergeschichten84. In einem Essay „Vom Lesen und Drucken“ benennt er als sein erstes Buch „Unsere blauen Jungen“ („ich buchstabierte zuerst immer mit Hilfe des Zeigefingers“)85. Einen sehr viel breiteren Zugriff erlaubt „Das seltsame Buch“ mit einer nahezu katalogartigen Auflistung recht heterogener Titel: In einem Bücherschrank bei Verwandten, der „nach modrigem ———————————— 80

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RADECKI, Mein Pferd Pudding, erstmals in: Schraubendampfer Hurricane (1929); DERS., Brisenglück, erstmals in: Wie kommt das zu dem? (1942); DERS., Die Nummern in der Schule, erstmals in: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 72 v. 25.3.1945. Alle Fotos im Nachlass Radecki im WLA Münster. Abbildung in: RADECKI, Stimme der Straße, S. 293. Das Bild mit Widmung ging an seine Nachlassverwalterin Ruth Weilandt, bemerkenswerterweise eingeklebt in ein Exemplar von Mary LICHNOWSKY, Kindheit, Berlin 1934, sowie an seinen Freund Max Stefl in München und seinen Zürcher Berater in Rechtsfragen, Dr. Berthold Neidhart. Dieses Widmungsexemplar („Wort und Wunder“ mit Brief und Bild) konnte die MOB Herne im November 2017 erwerben. Zur Familie von Roth, Besitzerin von Bremenhof, siehe das Personalbuch der Gemeinde Odenpäh 1867–1888, File 1112; EAA.1260.1.14. Hierzu gehört auch die in Evas Logbuch und in Briefen erwähnte „Martha Roth“. RADECKI, Das seltsame Buch, in: Wie ich glaube, mit der liebevollen Beschreibung von Erlebnissen der Ferienzeit auf einem livländischen Gutshof. Edition, Nr. 1. Hans Graf von BERNSTORFF, Unsere blauen Jungen. Ernstes und Heiteres aus dem Leben der Matrosen unserer Kriegsmarine, mehrfach seit 1899.

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Winterwald und alten Zeiten duftete“, gibt es Erkundungen unterschiedlichster Art: historische Ausblicke durch die „Scriptores rerum Livonicarum“86, eine Liebesgeschichte von „Nantchen und Amarant“87 und das anregende „Tagebuch dreier Kinder“88. Zu einem ausgesprochenen Bildungserlebnis wurde dabei eine unbenannte Herzensgeschichte: „Jedenfalls las und las ich jenes Buch und fühlte mich immer mehr ergriffen. So etwas war mir mit Gedrucktem bisher nie geschehen […] Immerhin hat es mich in eine neue, seelische Region gehoben89.“ Als eine erste Einordnung, die weit über Radeckis eigene, oft nur szenische Darstellungen aus seinen Jugendjahren hinausgeht, darf man wohl die Besprechung von „Blumbergshof“ von seinem Landsmann Siegfried von Vegesack sehen90: Hier wird am knappsten und wohl auch schönsten das Moment greifbar, das Radecki später bei seinen verstreuten Reminiszenzen getragen hat: „Ich habe dieses Buch mit Entzücken und Rührung durchgelesen, als ob es die Geschichte meiner eigenen Kindheit enthalte – nur von einem geschrieben, der sich weit besser erinnern kann als man selbst. Oft habe ich mir beim Lesen sagen müssen: ,Natürlich! Genau so war es! Daß ich das vergessen konnte.‘ Immer aber zwang es mich, mit unaufhaltsamem Gelächter oder Ergriffenheit durch die 223 Fensterchen der Druckseiten in diese so wohl bekannte, so längst vergangene Welt zu starren. Eine Welt voller Gegensätze, Dynamit, in Watte verpackt.“ Diese verdeckte Sprengladung sollte 1905 und 1917 dann unkontrolliert explodieren! Formales schulisches Lernen war Radeckis Interesse, aber auch Stärke nicht, jedoch gehörte er in seiner 40köpfigen Klasse keineswegs zur „Kamtschatka“, der leistungsmäßig letzten Schulbank mit Schülern, die „prinzipiell nichts antworten“ und „hinter die kein Pädagoge gelangen konnte“91. Es gelang ihm sogar einmal, er war 14 Jahre alt, einen Schulpreis zu erhalten. In einer zwar ironisch verpackten, aber durchaus ernst gemeinten Schüleranalyse und deren Lernverhalten kontrastiert er den „Büffler“, der ———————————— 86

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Scriptores rerum Livonicarum. Sammlung der wichtigsten Chroniken und Geschichtsdenkmale von Liv-, Ehst- und Kurland, 2 Bde., Riga / Leipzig 1853. Die Edition enthält auch deutschsprachige Quellen. Leopold von GOECKINGK, Lieder zweier Liebenden, Leipzig 1777 und öfter. Margarethe WULFF, 52 Sonntage oder Tagebuch dreier Kinder, Berlin 1846 und öfter. Das Buch ließ sich wegen der nur sehr vagen Kennzeichnung nicht identifizieren: „Ich habe seitdem jenes Buch nicht mehr angerührt und wußte auch nicht, wie es hieß. Sicher war es recht sentimental und ‚early Victorian‘“. Besprechung von Siegfried von VEGESACK, Blumbergshof – Geschichte einer Kindheit, Berlin 1933, in: Der Querschnitt 13/7 (Oktober 1933), S. 502 f. RADECKI, Die Nummern in der Schule, in: Wie ich glaube, S. 117.

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„sämtliche Stickstoffverbindungen und die Verba auf mi“ weiß, mit dem „Examensmacher“, der sich „nie auf Kenntnisse, sondern immer nur auf Geistesgegenwart, auf blitzschnelles Erfassen der Lehrerpsyche“ zu verlassen versteht92 und den „unwandelbaren Schülergesetzen“ folgt93. Man wird Radecki irgendwo zwischen diesen beiden Eckplätzen einordnen dürfen, da er schon bald nach Eintritt in die gymnasiale Annenschule aus fachlichen Gründen in die Katharinenschule überwechseln musste, denn „im Griechischen und Lateinischen geht es mir nicht sehr gut“94; das Gleiche galt für seinen Bruder Wilhelm95. Die Folge war, dass bei späterer Immatrikulation der erfolgreiche Erwerb von anderweitig erworbenen Lateinkenntnissen nachgewiesen werden musste96. Das überlieferte Lehrerurteil über ihn war: „Der kann alles, was er will – aber er will nie97.“ Auch das in seinen Briefen an Eva häufig auftauchende Adjektiv „fad“ verweist immer wieder auf diese eigentlich voluntaristische Lern- und Handlungsmaxime, und noch kennzeichnender für ihn ist der später von Karl Kraus übernommene Aphorismus über eine geistig zu sehr einengende Orientierung: „Karriere ist ein Pferd, das reiterlos vor den Toren der Ewigkeit ankommt98.“ Reisen, Bildungserlebnisse, Studium in Freiberg/Sachsen Gleich ob aus irgendwelchen Verpflichtungen oder wegen nachgegebenen Verlockungen, Reisen bildete für Radecki eine durchgängige Verlockung und Erfahrung. Den Niederschlag vieler zugehöriger Überlegungen des „ewigen Touristen“ bieten seine zahlreichen Reisefeuilletons99. Die Spannweite der Reiseziele ist groß: Da gibt es bloß Imaginiertes100 aus „Traumländern, einem

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RADECKI, Wie man Examen macht, in: Im Vorübergehen, S. 184. RADECKI, Geographie ungenügend, in: Schraubendampfer Hurricane, S. 227. Brief v. 18.10.1904; Edition, Nr. 6. Brief beider v. 2.10.1904; Edition, Nr. 4. Brief des Vaters Ottokar an Wilhelm v. 6.7.1906; Nachlass Radecki im WLA Münster: „Wenn Du im Mai 1907 Dein Schlußexamen machst, so hast Du möglicherweise doch noch nicht das Recht, in eine Universität einzutreten, sondern dazu müsstest Du ein lateinisches Examen im Umfang des vollen Gymnasialkursus machen. So verlangt es die neuerdings erlassene Verordnung des Ministers der Volksaufklärung.“ RADECKI, Aufsatz des 37. Schülers, in: Im Vorübergehen, S. 60. So in einem Gespräch mit Eva über ein anzustrebendes Avancement im russischen Staatsdienst („um Geld und Karriere zu machen“); Eva von RADECKI, Logbuch, S. 303. Siehe die aspektreiche Sammlung von Axel Dornemann: RADECKI, Der ewige Tourist. So etwa RADECKI, Zauberbuch, in: Gesichtspunkte, S. 11 ff.

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Niemandsland außerhalb der Stacheldrähte von Zeit und Raum“101, sowie mehrfach Erwähntes102 bis hin zu nur aus Brief- und Textbruchstücken zu rekonstruierenden Vortragstouren103 oder Einzelreisen104. Nur wenig ist auch bekannt über eine sehr frühe Reise „als kleiner Junge“ (1896?) nach Kopenhagen105. In seiner Studienzeit im sächsischen Freiberg waren es Fachexkursionen und Praktika in den Harz und das Erzgebirge, in Bergwerksgebiete in Böhmen, im Ruhrgebiet und im Aachener Raum. In seinen Briefen lassen sich auch seine großen geologischen Rundreisen durch Italien und Sardinien sowie nach Dalarna in Schweden nachverfolgen. Als Hauslehrer sah er Askania Nova in der Südukraine, abgelegene Landsitze in Zentralrussland und die Finnische Seenplatte, weit abseits vom Revolutionsgeschehen. Erwähnt werden sollte auch noch sein Reisepensum während der Wiener Jahre (1925–1927): Man sieht ihn als Begleiter von Karl Kraus in Paris während der Vorbereitungen zur Nominierung zum Nobelpreis und in gemeinsamen Urlaubstagen am Mondsee, später auch an der Cote d’Azur in Cavalaire (1930). Dagegen ist nur wenig bekannt geworden über Archivreisen nach Paris und London für Kraus bei der Suche nach „verschollenen Offenbach-Herrlichkeiten“106. Über dauerhaft prägende Kräfte der frühen Jahre hat sich Radecki in seinen Texten fast gar nicht geäußert. Seine Konversion erst Jahre später (1931) steht somit durchaus wie ein Solitär107, aber religiöse Grundsatzfragen tauchen bereits immer wieder in Briefen an seine Schwester Eva auf. Anders verhält es sich mit seiner rückhaltlosen Hinwendung zu Karl Kraus. Als Schlüsselstelle ———————————— 101 102

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RADECKI, Traumländer, in: Nebenbei bemerkt, S. 99. Die Standardangaben wiederholen meist nur die allerwenigsten Namen: Frankreich, Italien, Turkestan. Mindestens in den Jahren 1955–1965 unternahm Radecki vom Vortragsamt in Bochum oder von Verlagen organisierte Vortragstouren sowohl in Österreich als auch besonders in Deutschland. Nur ein entlegener Beleg findet sich für eine Tour (1937) mit dem Hochland-Herausgeber Carl Muth in das Elsass (Brief v. 27.11.1944 an dessen Ehefrau). RADECKI, Ansicht von Kopenhagen, in: Der runde Tag, S. 29 f. Da Radecki im Hafen die Zarenyacht „Polarstern“ sah, könnte es 1896 gewesen sein; dazu Düna-Zeitung, Nr. 194 v. 28.8.1896: „Das Kaiserpaar fuhr gestern abend, um 7 Uhr, auf der Yacht ‚Polarstern‘ von Kiel nach Kopenhagen.“ Vgl. jedoch den klaren Hinweis in einem Brief an Ruth Weilandt v. 15.1.1970: Es fehlte das Mittelstück aus Jacques Offenbachs Operette „La Périchole“; RADECKI, Erinnerungen an Karl-Kraus, S. 44. Noch nach mehr als 25 Jahren schrieb er dazu an die langjährig mit ihm befreundete Gertrud Jahn, er könne sich „nicht erinnern, darüber jemals ein anderes Gefühl als das der Dankbarkeit empfunden zu haben“; Brief v. 27.5.1958.

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erweist sich dabei ein Merkpunkt in Radeckis vorbereitender Liste „Zum Karl Kraus-Aufsatz“108: „Erlebnis im Lazarett von Königsberg“. Dieses Erlebnis läßt sich detailreich aus Radeckis Briefen aus der Zeit seines Genesungsaufenthalts in Königsberg Januar bis Anfang April 1919 aufhellen. Er hatte damals einen Bittbrief geschrieben an den Herausgeber der „Weltbühne“ Siegfried Jacobsohn: „Helfen Sie mir, Herr Jacobsohn! Hier ist ein notleidender Balte, der sich nach der Fackel sehnt, fünf Jahre gesehnt hat109!“ Wenig später erreichten ihn mehrere Hefte, darunter die entscheidende Fackelnummer mit Kraus’ „Nachruf“ auf den Weltkrieg110. Aus seinen ihm ebenfalls zur Verfügung stehenden Kraus-Gedichtbänden las er noch als Rekonvaleszent in kleinen privaten und öffentlichen Kreisen, Lesungen, wie er sie auch nach Kriegsende fortsetzen sollte. Großen Einfluss dürften bei Radeckis anfänglichen Studienfragen und -entscheidungen seine Dorpater Verwandten Alexander („Sascha“) Hartmann und Robert („Robbie“) Samson-Himmelstjerna gehabt haben. Beide waren Studenten des Bergfachs in Freiberg und Mitglieder der dortigen Studentenverbindung „Nordclub“. Von Beginn an und immer wieder tauchen sie in Radeckis Briefen als enge Bezugspersonen in Freiberg auf 111. Anders als jedoch für seinen Bruder Wilhelm bedeutete für Sigismund das Studium der Mathematik in Dorpat wie auch des Bergbaus in Freiberg wenig. Es ersetzte in keiner Weise seine eigenen, völlig anderen Zielvorstellungen, nämlich ein aktives Leben in einem literarisch-künstlerischen Spannungsfeld. Folglich waren es nur die wirtschaftliche Not der Familie und zuletzt die Fürsorge und Verantwortung für seinen kranken Vater Ottokar, die ihn nach seinem Examen anfänglich zu wechselnden Stellungen in einem lohnorientierten Arbeitsleben (Bewässerungsingenieur, Hauslehrer, Mathematiker und ähnliches) drängten. Auch hierzu sprechen seine Briefe an Eva eine deutliche Sprache. Die Zustimmung des Vaters Ottokar fand er dabei nicht, teilte der doch keineswegs seine tiefe Verehrung für Karl Kraus, sondern glaubte seinen Sohn vielmehr „in der Gesellschaft eines Schwadroneurs“112. ———————————— 108

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Zweiseitiges Konzept in einem Notizheft (1950); Nachlass im DLA Marbach. Der Aufsatz erschien unter dem Titel „Erinnerungen an Karl Kraus“ erstmals 1952. Brief v. 24.1.1919; Edition, Nr. 111. Die Fackel, Nr. 501–507 v. 25.1.1919. Viele und sehr gute Einblicke ermöglicht HARTMANN, Erinnerungen, S. 41 und öfter, wo auch auf die guten Zukunftschancen für Ingenieure wegen der Wirtschaftspolitik des späteren russischen Ministerpräsidenten Sergej Graf Witte hingewiesen wird. Auch DERS., Verwandte. Eva von RADECKI, Logbuch, S. 319, zum 22.3.1917.

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Abb. 2: Die Mitglieder des Nordclubs: 1. Alexander Karl Baron von Schilling, 2. Wilhelm von Radecki, 3. Friedrich Stutzer, 4. Alfred Gutschmidt, 5. Johannes Hage, 6. Leo Stanke, 7. Eduard Kupffer, 8. Leo Nekrassow, 9. Nikolaus Freiherr von Taube, 10. Sigismund von Radecki (1911) – Quelle: WLA, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki, Brief v. 3.3.1911 (Edition, Nr. 51)

Krieg und Flucht Bei Kriegsausbruch im Sommer 1914 war Radecki kurzzeitig als „Bewässerungsingenieur“ in Ferghana in Turkestan tätig. Nach der Rückkehr zu seiner

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Einleitung

Familie in Dorpat übernahm er mehrere Hauslehrerstellen unter anderem in der Ukraine, St. Petersburg und Finnland. Jedoch sind klare biographische Hinweise, die die Angaben in seinen Briefen ergänzen könnten, sehr spärlich. So gibt es für seine Hauslehrerzeit bei der Familie Nikolai Falz-Fein im Frühjahr und Sommer 1915 nur ein Foto113. Diese Stelle auf dem Gut Darowka im südrussischen „Ascania Nova“ soll er durch Vermittlung seines Verwandten Schlippe in Riga erhalten haben. Einzig in Radeckis Erzählung „Begegnungen mit Pferden“ findet sich ein indirekter Hinweis: „Ganz anders war das Reiten auf der Schwarzmeersteppe im Frühling. Es war 1915114.“ Wegen einer jederzeit möglichen Einberufung musste Radecki sich auch wiederholt in Dorpat aufhalten115. In St. Petersburg immatrikulierte er sich im Sommer 1915 als Student. Nur wenig ist auch über sein Leben in St. Petersburg während der Revolutionszeit bekannt. Zwar hat er im Erzählton einiges dazu in seinen literarischen Texten angemerkt, besonders in „Wie die russische Revolution ausbrach“116. Aufschlussreich ist daher ein späterer Brief an den befreundeten Übersetzer Reinhold von Walter (1962): „Ich habe ausgerechnet, daß wir uns vor 45 Jahren kennengelernt haben. Das war in Petersburg, in der Zeit der Revolution von 1917. Sie wohnten am Kronwerkski Prospekt und ich an der Bassejnaja117; ein ganzes Stück Weg, das ich aber mit Vergnügen gegangen bin – war ich doch froh, endlich wieder einen geistigen Menschen zu sehen118!“ Als Radecki von seiner letzten Hauslehrerstelle bei einem Fabrikanten in Finnland am 28.5.1918 nach seiner Fahrt auf einem Eisbrecher von Helsingfors nach Reval119 wieder bei seiner Familie in Dorpat eintraf, um sich als ———————————— 113 114

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RADECKI, Stimme der Straße, S. 280. In: Neue Zürcher Zeitung, v. 29.8.1948. Auch RADECKI, Steppenfrühling, in: Schraubendampfer Hurricane, ist wohl zugehörig. – Zu den Familien Falz-Fein und Schlippe siehe SCHLIPPE, Geschichte, S. 239 f. Eva von RADECKI, Logbuch, S. 266. In: Schraubendampfer Hurricane, S. 208: „Die russische Revolution ist bekanntlich in der Kaserne des Wolhynischen Garderegiments ausgebrochen, und unser Haus lag dicht daneben an einer belebten Tramwaykreuzung.“ Radeckis Wohnung lag im Stadtteil Liteinij (IX), Eckhaus Bassejnaja / Snamenskaja. Weiter schreibt er: „Ich erinnere mich auch an das schöne Gedicht, das Sie meiner kranken Schwester schrieben.“ Erwähnung des Gedichts durch Eva von RADECKI, Logbuch, S. 393, zum 21.1.1918: „Der Brief und das Gedicht von Reinhold v. Walter.“ Reinhold von Walter (* 5.8.1882 St. Petersburg, † 17.9.1965 Ravensburg); Übersetzer, Lyriker. – Für eine Kopie des Briefes danke ich Frau Maria von Walter, Ravensburg. Sein Vater Ottokar hatte zuvor (6.4.1918) zu deutschen Dienststellen (Generaloberst Günther Graf von Kirchbach) in Dorpat Kontakt aufgenommen, um den weiteren Verbleib seines Sohnes in Finnland abzubrechen und seine Rückkehr nach Dorpat zu erwirken.

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Kriegsfreiwilliger bei den deutschen Truppen zu melden, erlebte seine Schwester Eva den Bruder als einen kleinmütigen, fast zerbrochenen Menschen: Er sei doch eigentlich ein unnützer Mensch, er wolle mit dem Leben abschließen und sich als Opfer darstellen; ihm bedeute der Kriegsdienst, der zwar den Erwartungen seines Vaters voll entspräche, einen fast sicheren Tod120. Nach einer kurzen Verzögerung wurde er von seinen Verwandten wegen der Krankheit des Vaters in Riga dorthin bestellt und trat („mit Pappi’s Billigung“) am 18.12.1918 in die Baltische Landeswehr ein (Stoßtruppe, IV. Zug, 1. Gruppe). Nur wenig später kam Radecki bei den Gefechten in Hinzenberg (Inčukalns) Neujahr 1919 zum ersten Einsatz, erlitt Erfrierungen und eine sich verschlimmernde Knieverwundung und kam deswegen für mehr als zwei Monate in ein Festungslazarett nach Königsberg, später auf das unweit gelegene Gut Knöppelsdorf der Familie de la Bruyère. Nach seiner Genesung wurde er als Schriftführer der Sanitätsabteilung zugewiesen, schließlich kam er zum Stab der Landeswehr in Neu-Mocken bei Tuckum, und noch im November 1919 ist er in Mitau nachweisbar121. Es wurde ein letztes Innehalten am Ende einer zerbrechenden alten Ära, denn die Kriegsjahre hatten alle seine tradierten oder bisher neu eingeschlagenen eigenen Bahnen überrollt: politisch mit dem Ende des alten Russland und der sich abzeichnenden Staatsgründung Lettlands und Estlands, menschlich durch das Auseinanderbrechen der Familie Radecki. Sein Bruder Wilhelm fiel in Ostpreußen im ersten Kriegsjahr 1914, seine Mutter starb 1917 in Dorpat mit 62 Jahren bereits früh, seine Schwester Eva 1920 allein im fernen Estland, sein Vater Ottokar 1921 nur kurze Zeit nach der Flucht aus dem Baltikum in Berlin nach einem seit längerer Zeit sich abzeichnenden körperlichen und psychischen Verfall122; sein Onkel, der Redakteur Arnold von Tideböhl, wurde während der Revolution im Januar 1919 in Dorpat ermordet, seine Cousine Eva von Moeller starb im April 1919 elend im revolutionären Riga im Lazarett des Zentralgefängnisses. In dieser Not schrieb Radecki seiner einzigen noch lebenden Schwester Alma von Grimm: „Ich stehe jetzt so allein da in der Welt, ich würde am Liebsten auswandern, um alles gründlich zu vergessen123.“ ———————————— 120 121

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Eva von RADECKI, Logbuch, S. 465 f. Vermerk in Radeckis Puschkin-Band (heute in der Zentralbibliothek Zürich): „Im November 1919 von der Schule (= Landesschule Mitau) gegen ein anderes Puschkin Exemplar eingetauscht.“ Radeckis Urteil in seiner Einleitung zu: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 30. Brief v. 18.10.1921; Edition, Nr. 136.

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Anfänge in Berlin seit 1919 Nach seiner Entlassung aus der Baltischen Landeswehr erreichte Radecki im Dezember 1919 Berlin, das er von mehreren früheren Besuchen bereits kannte. Hier fand er seinen von Dorpat über Riga nach Norddeutschland geflüchteten Vater wieder. Es war ein sehr schwerer Neubeginn, wobei das Lebensnotwendige durch seine Tätigkeit als Berechnungsingenieur bei den Siemens-Schuckert-Werken gesichert war. An die in Estland verbliebene Schwester Eva schrieb er über seine Lage ohne Scheu: „Neulich kriegte ich einen anständigen Zivilanzug, Wäsche und ein Paar Stiefel von der Flüchtlingsfürsorge der Stadt Berlin124.“ Wichtig waren auch Begegnungen auf Baltenabenden und bei privaten Treffen mit Dorpatern wie Hellmuth Krüger, den Gebrüdern Erdmann sowie der Familie Rotermann aus Reval125. Eine Bindung an landsmannschaftlich bezogene Literaturkreise hat er ebenfalls anfänglich gesucht und aufgebaut; so wurde er 1924 in eine Übersicht neuerer baltischer Dichter aufgenommen126. Auffällig ist auch eine mehr als ein Jahrzehnt (1927–1939) andauernde Bereitschaft der „Rigaschen Rundschau“, seine Geschichten und Kurzbeiträge zu übernehmen. Erst nach dem Tod seines Vaters Ottokar im Herbst 1921 bestand für Sigismund eine verantwortbare Möglichkeit, den eigenen Orientierungen deutlich nachzugehen. Dabei waren es ältere Wegemarken, vor allem greifbar im Briefwechsel mit seiner Schwester Eva, die diesem neuen Lebensabschnitt langfristig ihre Richtung gaben. Bereits 1912, als Praktikant frühmorgens auf dem Wege zur Arbeit in den Kohlengruben in Westfalen – „westwärts brannten noch die Bogenlampen des düsteren Grubenareals, während im Osten schon die Sonne aufflammte“ –, sang er Gedichte von Else Lasker-Schüler127. Und am 25.11.1913, nur wenige Tage nach Abgabe seiner Diplomarbeit, ———————————— 124 125

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Brief v. 9.4.1920; Edition, Nr. 121. Hellmuth Krüger (* 1890 Dorpat, † 1955 München), Schauspieler, Kabarettist (u. a. bei der „Baltischen Diele“), Mitarbeiter der Berliner „BZ am Mittag“ und der „Weltbühne“; vgl. REDLICH, Lexikon, S. 195. – Georg („Gori“) Erdmann (1885–1945), wie Radecki Diplom-Bergingenieur aus Freiberg, sowie dessen Bruder, der Pianist Eduard. – Christian Ernst Rotermann (* 1869 Reval, † 1950 Stockholm), Kaufmann, und seine Frau Clotilde Alexandrine Marie Perret. BERGENGRUEN, Dichterbrevier, S. 112 f. („An die Verlorene“, eine in Göttingen 1922 entstandene Klage); er sorgte auch dafür, dass ein Gedicht seiner bereits verstorbenen Schwester Eva aufgenommen wurde. GERSTER, Trunken von Gedichten, S. 168: „Mein Wanderlied“; ERPENBECK, Zwei Porträts, S. 190–193.

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hörte er ein erstes Mal Karl Kraus bei einer Lesung in Dresden128. Auf diesen zwei großen Anregern sollten seine eigenen frühen literarischen Bestrebungen aufbauen, wobei ihm zeitweilig als programmatischer Dichtername „Promethke“ vorschwebte129. Seit spätestens Anfang Januar 1920 war er in zunehmend freundschaftlicher Beziehung zur Dichterin Else Lasker-Schüler und am 14. April konnte er bereits eine erste öffentliche Lesung im Berliner Lyceum-Club halten130. Aber Geldsorgen blieben, und so versuchte er, durch Textbeiträge für Kabaretts seine Einkünfte zu verbessern, wohl auch um irgendwo finanziell Fuß zu fassen131. Der bisher älteste nachweisbare Kabaretttext („Bein ist Trumpf“132), dem später weitere folgten, war eine Gemeinschaftsarbeit mit Hans Janowitz, dem Mitbegründer des Berliner Kabaretts „Die wilde Bühne“133. Darüber schrieb er an seine Schwester Eva: „Ich ging mit Janowitz (einer vom ‚Brenner‘) in unser altes Lokal, um die entzückende Frau Sitta Staub, die Schauspielerin, welche auf uns dort warten mußte, zu trösten134.“ Ein Beitrag des Wiener Schriftstellers Joseph Roth (1921) ist der einzige zeitgenössische Hinweis auf seine Besuche in Berliner Nachtlokalen, wo Trude Hesterberg erwähnt wird, die ein Kabarettlied von Radecki sang135. ———————————— 128

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Nach einem Entwurf für einen Aufsatz über Karl Kraus; vgl. ERPENBECK, Der lange Brand, S. 33–45. Das Vorlesungsprogramm in: Die Fackel, Nr. 386 (1913). Brief an seine Schwester Eva v. 12.6.1920: „Er würde ganz gut zu Berlin passen“; Edition, Nr. 132. – Der Name „Promethke“ konnte bisher nur einmal nachgewiesen werden in Radeckis Anekdotenbuch Die Rose und der Ziegelstein, S. 155. Tatsächlich wählte er spätestens seit August 1935 als Pseudonym „Homunculus“, weithin bekanntgeworden durch ebendiese Anekdotensammlung. Erst im Frühjahr 1939 erschien in der Kölnischen Zeitung, Nr. 252 v. 21.5.1939, eine endgültige Offenlegung. So heißt es in einem redaktionellen Vorwort zu Radeckis journalistischem Selbstbekenntnis „Das Echo“: „Unser Mitarbeiter S. von Radecki, der auch unter dem Namen Homunkulus schreibt.“ Vgl. im einzelnen ERPENBECK, Zwei Porträts; dort auch Lasker-Schülers Gedicht auf den „baltischen Edelmann“ Sigismund von Radecki; zahlreiche Angaben bei RADECKI, Erinnerungen an Else Lasker-Schüler, in: Was ich sagen wollte, S. 80–86. Als eine gute Parallele zu Radeckis eigener Entwicklung als Schriftsteller kann man das biographische Nachwort zu seiner Übersetzung von Anton Tschechows „Seelchen“ heranziehen, wo er auf ein Schreiben „aus Geldnot und Jugendlaune“ verweist; TSCHECHOW, Seelchen, S. 531. Musik: Werner Richard Heymann; Text: Sigismund von Radecki und Hans Janowitz; FÖRSTER, Frau im Dunkeln, Nr. 6, S. 28–30. Alle bekanntgewordenen zugehörigen Texte bei ERPENBECK, Geschichten von Gedichten. – Hans Janowitz: Bruder des Dichters Franz Janowitz (1892–1917); * 2.12.1890 Podiebrad/Böhmen, † 25.5.1954 New York; Mitarbeiter der Zeitschrift „Der Brenner“; 1939 emigriert; vgl. SUDHOFF, Hans Janowitz, S. 57 f. Brief v. 8.6.1920; Edition, Nr. 131. Joseph ROTH, Wilde Bühne, in: Berliner Börsen-Courier v. 6.11.1921.

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Als erste größere literarische Arbeit begann Radecki mit einer PuschkinÜbersetzung. Dazu erschienen Einzelgedichte bereits seit dem Frühjahr 1923, wenig später auch eine Auswahl als Buchveröffentlichung136. Else LaskerSchüler ließ in ihrem Gedicht auf Radecki im Sommer 1924 im „Berliner Tageblatt“ alle Interessenten wissen: „Puschkin und Gogol wurden ihm zu übertragen anvertraut137.“ Die Perspektiven waren aber schlecht, denn seine seit Juni 1924 laufenden Bemühungen, Puschkin-Texte auch im „Neuen Merkur“ unterzubringen, ließen sich nicht realisieren138. An Werner Bergengruen schrieb er in wohl diesem Zusammenhang, dass er wegen des Scheiterns sich um eine neue Stelle umsehen müsse139. Ein nobler Vorschlag: Die Nominierung von Karl Kraus Viel wichtiger aber wurde die Anfang Juni 1920 während Vorträgen in Berlin beginnende persönliche Bekanntschaft mit seinem anderen großen Leitbild, dem Wiener Karl Kraus140. Das Treffen, von Else Lasker-Schüler persönlich herbeigeführt141, hatte außerordentliche Auswirkungen, wie Radecki selbst dazu schrieb: „Diese Berührung wurde entscheidend für Radeckis weiteres Leben“; er war „mit Karl Kraus zwei Jahre lang fast jeden Abend zusammen – eine Zeit, die seine eigentliche Hochschule gewesen ist142.“ Über Einzelheiten ———————————— 136

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Als erstes erschien: Alexander PUSCHKIN, Das Denkmal, in: Die Weltbühne 19/4 v. 5.4.1923, S. 385; danach: Dramatische Szenen, übertragen v. Sigismund von Radecki, Berlin-Friedenau 1923. Berliner Tageblatt, Jg. 53, Nr. 326 v. 11.7.1924. Die gesamte Korrespondenz dazu befindet sich in New York im Leo Baeck Institute: Der Neue Merkur Collection, 1924, Box 3, Folder 27. Radecki an Bergengruen v. 23.8. (o. J.), München, Bayerische Staatsbibliothek, Ana 593-B-N. Am eindrucksvollsten ist sein Vortragsentwurf (1946/47) zu Karl Kraus, in: MOB Herne, Mappe 3: „Die erste Begegnung war nicht vielversprechend: ich warf das Buch ‚Die chinesische Mauer‘ in die Ecke, einfach weil ich diesen wunderbar knappen, gedankenreichen Stil noch nicht zu lesen verstand. Und ich erinnere mich noch genau des Augenblicks, wo Kraus zum ersten Mal bei mir ‚zündete‘. Es war eine Glosse zu Hermann Bahr“ (vgl. Fackel, Nr. 321 v. 29.4.1911, S. 12: Hermann Bahr, seine Gedanken und Briefe); siehe ERPENBECK, Der lange Brand, S. 33 ff. – Zu den vielen Beiträgen Radeckis über Kraus vgl. PFÄFFLIN, Aus großer Nähe, S. 409 f. „Nach seiner ersten Vorlesung im Jahre 1920 führte mich Else Lasker-Schüler an ihrer Hand Karl Kraus zu. Mir war, als ob ich dem olympischen Zeus die Hand reichen sollte“; RADECKI, Vortragsentwurf, MOB Herne, Mappe 3 (Kraus), S. 2. Dazu der Brief v. 1.6.1920 an seine Schwester Eva; Edition, Nr. 130. RADECKI, Weisheit für Anfänger, S. 121.

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hat Radecki mehr als 30 Jahre geschwiegen, obwohl er während seines gesamten Lebens nicht nur die Rolle eines dankbar Nehmenden, sondern auch den Part eines engagierten und unerschrockenen Multiplikators einnahm. Erst im März 1960 schrieb er Näheres: „Und im Herbst desselben Jahres [1924] hat Kraus, der mich in Wien bei einer Vorlesung sah, mich durch einen Bekannten auffordern lassen, ihn doch zu besuchen – woraus sich dann eine Freundschaft entwickelte, die bis zu seinem Tode gedauert hat143.“ In Wirklichkeit war Radecki spätestens seit April 1925 bereits mit der gesamten Korrespondenz betraut, die auf eine Nominierung Kraus’ für den Nobelpreis abzielte. In Wien hatte sich nämlich zu dieser Zeit „ein Kreis gebildet, der die Verleihung des literarischen Nobelpreises an Karl Kraus anregen“ wollte144. Im Gegensatz zu diesem klaren Ziel eines Rundschreibens, mit dem sich der Wiener Titularprofessor Viktor Hammerschlag seit dem Frühjahr 1925 an zahlreiche Persönlichkeiten im In- und Ausland wandte, ist bisher die Frage ungeklärt, wer denn diesem Wiener Kreis tatsächlich angehörte, außer dem publizistisch äußerst wirksamen Mediziner Hammerschlag145, der in keinem offiziellen Schreiben erwähnten Kraus-Vertrauten Helene Kann und dem völlig orts- und landfremden Deutschbalten Sigismund von Radecki, der in dem fünfjährigen Nominierungsbemühen stets nur als Sprecher eines Kreises von ———————————— 143

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Kraus las in Wien am 5. und 10.10. und fünfmal im November, so dass die Begegnung frühestens Anfang Oktober gewesen sein kann. – Ergänzend: Sigismund von RADECKI, Berichtigung eines Buches: Else Lasker-Schülers Briefe an Karl Kraus, in: Die Furche 16 (1960), H. 7, S. 34 f. Radecki war zunächst für einen Monat in Paris, danach seit dem 17.12.1924 in Wien (Lerchenfelderstraße) behördlich angemeldet, „wo ich in denkbar angenehmster und anregendster Umgebung lebe [täglich Karl Kraus]“. Er verblieb dort zunächst bis Anfang Mai 1925, hielt sich dann kurzzeitig wegen Vorbereitungen für eine Vortragsreise Kraus’ in Berlin auf und kehrte danach wieder zurück. – In Wien, Wienbibliothek, H.I.N. 175.401–175.445, befindet sich ein umfangreiches Konvolut von ca. 45 Schreiben mit dem Titel „Verzeichnis der Dokumente“ zum Ablauf der Nominierung für 1926 und später. Darin enthalten sind auch die sämtlich von Radecki verfassten „Vorbereitenden Schritte“, eine „Personenliste für ein Rundschreiben“ mit 30 Namen, ein sehr umfangreiches Schriftenverzeichnis von Karl Kraus und die zugehörige Korrespondenz, vor allem mit Paris und der Akademie in Stockholm. Den Hauptteil seiner Laudatio hat Radecki erst sehr spät 1959 mitgeteilt in: Im Vorübergehen, S. 197–214. Zum Ablauf vgl. besonders WERNER, Karl Kraus, S. 25–46. Viktor Hammerschlag (1870–1943), 1895 Dr. med.; Pseudonym: Veit Henning; bekannter Sozialdemokrat; 1925 Mitbegründer der Österreichischen Liga für Menschenrechte; vgl. STURM, Biographisches Lexikon 1, S. 520. Zum weiteren Nominierungsverlauf vgl. ERPENBECK, In Wien hat sich ein Kreis gebildet. Die Nobelpreisaktion für Karl Kraus 1926–1930. Briefe und Dokumente, Manuskript 2011; DERS., Sigismund von Radecki und die Nominierung von Karl Kraus für den Nobelpreis 1925–1930, Manuskript 2012; beide Manuskripte demnächst in der MOB Herne.

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Fackel-Lesern auftrat. Hinter der Aktion, möglicherweise im Zusammenhang mit den Feiern zum 50. Geburtstag von Karl Kraus (28.4.1924), dürfte auch der Journalist Friedrich Austerlitz gestanden haben, der in der sozialdemokratischen Wiener „Arbeiter-Zeitung“ postuliert hatte: „Man reiche ihm den Preis146!“ War auch das Nominierungsziel der sozial, politisch und national sehr heterogenen Akteure in Wien, Frankfurt und schließlich Paris gleich, so galt das für die jeweils individuell verfolgten Absichten nicht immer. Bei der Professorengruppe der Pariser Sorbonne, angeführt von dem Germanisten Charles Andler, sind deutlich politische Motivationen erkennbar, was sich auch zuletzt beim Abrücken vom Literaturpreis und Einschwenken auf den Friedensnobelpreis zeigte147. Radeckis offensiv angestrebtes Ziel dagegen war es, das als bedrückend empfundene „Katakombendasein“ des Wiener Satirikers in der veröffentlichten Meinung zu beenden. Das dürfte ihm ohne bisher unbekannte finanzielle Förderer kaum möglich gewesen sein, besaß er doch für ein derartig ambitioniertes Projekt weder die soziale Stellung noch die Geldmittel, lebte wahrscheinlich vornehmlich von einem Berliner Verlagsvorschuss für seine Gogol-Übersetzungen. Alle Bemühungen, in Stockholm den Nobelpreis zu erwirken, blieben jedoch erfolglos. Andere erhielten die begehrte Auszeichnung, und Radecki, der seit dem 17.12.1924 für zwei Jahre in Wien wohnte, kehrte zurück nach Berlin. Seine guten Beziehungen nach Wien blieben zwar bestehen, zunächst aber scheint Radecki neue berufliche Optionen in Berlin gehabt zu haben. An einen Wiener Freund schrieb er über eine aufgenommene Beschäftigung beim „Uhu“, der Monatszeitschrift des Ullstein-Verlages: „Ich bin jetzt hier glücklich im dritten Probemonat und werde eventuell die Mitherausgabe eines Konversationslexikons übernehmen148.“ Eine nicht vielen bekannt gewordene Wiener Anerkennung für Radecki war es jedoch, dass der Kraus-Verleger Georg Jahoda in zweierlei Weise auf ihn aufmerksam machte: Er nahm einen Beitrag in seinen Verlags-Almanach 1928 auf, und es kam zur ersten Buchveröffentlichung von sonst weit verstreuten Prosatexten149. Bedeutsam für Ra-

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Arbeiter-Zeitung (Wien) v. 27.4.1924: Karl Kraus: Zu seinem fünfzigsten Geburtstag. WERNER, Karl Kraus et le prix Nobel, Nr. 22, S. 42: Charles Andler an Sigismund von Radecki, Brief v. 23.5.1929. Brief an Dr. Ludwig Münz, Berlin, 4.2.1927; siehe die Hinweise in Wien, Dorotheum, Autographenauktion v. 2.4.1991, Nr. 104, S. 14: „Radecki, Sigismund v.“ RADECKI, Aufregende Ereignisse, S. 38 f. DERS., Schraubendampfer Hurricane, „Dr. Walther Meier gewidmet“. Die titelgebende Geschichte war erstaunlicherweise schon in

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deckis weitere freiberuflichen Chancen war auch, dass Kraus seine Übersetzung von Gogols Schauspiel „Der Revisor“ mindestens siebenmal in sein Vorlesungsprogramm aufgenommen hatte150. 1929 sollte es zu einem neuerlichen Nominierungsvorschlag für Kraus in Stockholm kommen; Andler wandte sich deshalb letztmalig im Mai 1929 an Radecki. In diese Initiative darf man eingliedern, dass Radecki im April 1929 erstmalig als Schriftsteller durch seine Buchbesprechung „Der überzeitliche Sinn der Satire“ öffentlich für Kraus eintrat151. Wohl zur abschließenden Durchsprache der dritten Nominierung von Karl Kraus besuchte Radecki zusammen mit der Kraus-Vertrauten Helene Kann im Sommer 1929 die Gräfin Dobrženský im böhmischen Pottenstein, danach war er wiederum in Wien. Im Herbst trat er in Berlin in Kraus’ Bühnenstück „Die Unüberwindlichen“ auf, und Kraus las erneut Radeckis GogolÜbersetzung des „Revisor“. Nur wenig später wurde Radecki in dessen Aufführung eines Zyklus von Werken von Jacques Offenbach für den Berliner Rundfunk in zwölf Sendungen einbezogen 152. Einen vorläufigen Abschluss bildeten dann Radeckis Lesungen seiner eigenen Kurzgeschichten bei mehreren Radiosendern (unter anderem der MIRAG Leipzig und dem SWR Frankfurt)153. Radecki hat Kraus letztmalig 1935 in Wien besucht154. Die Nachricht von seinem Tod am 12.6.1936 erhielt er bei einem Segeltörn vor Korčula in Dalmatien. Aus Briefen erfahren wir, dass er für den zeitweiligen Katholiken Kraus dort „eine feierliche Seelenmesse in der Franziskaner-Kirche lesen“

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den USA erschienen unter dem Titel „Shipwreck“, in: The Living Age, Bd. 334, 15.3.1928, Nr. 4326, S. 526–531. Vgl. den kurzen Hinweis in Radeckis „Kraus-Übersicht“: Gogol Vorlesung (Der Revisor). Radecki arbeitete an Gogol-Übersetzungen bereits seit 1924. – Lesungen fanden in Wien 1925 und 1926 statt, in beiden Fällen in Anwesenheit Radeckis, 1926 während der Vorlesungen in Paris im Théâtre du Vieux-Colombier nahe der Sorbonne, und später 1929 in Berlin, Hamburg und Prag. RADECKI, Der überzeitliche Sinn der Satire, S. 5. SCHEICHL, Karl Kraus, S. 2–6. Siehe die Übersicht in: ERPENBECK, Schriftenverzeichnis Radecki (2013), S. 14: Übertragungen im Rundfunk 1930–1932. RADECKI, Erinnerungen an Karl Kraus, S. 616–621, und in: Wie ich glaube, S. 21–45, hier S. 44. – Es muss aber zwischenzeitlich noch weitere, unbekannte Beziehungen gegeben haben. So hat sich in Radeckis ehemaliger Bibliothek (WLA Münster) ein Widmungsexemplar erhalten „für Sigismund von Radecki, Wien, im Mai 1934 Karl Kraus“; es handelt sich um: Shakespeares Dramen, Band 1: König Lear u. a., Wien 1934.

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ließ155. Ein Nachruf auf Kraus von dem Journalisten Peter Kuranda im „Neuen Wiener Tagblatt“ hat Radecki zu einer scharfen Antwort veranlasst, die jedoch durch die Redaktion als „für unser Blatt nicht geeignet“ zurückgesandt wurde. Dort hatte es stark polarisierend geheißen: „Abseits vom Grabe aber hält sich eine noch weit größere Schar [als die Schar der Jünger und Verehrer], die Gegner des Toten156.“ Radecki schüttelte sehr kräftig an diesem Baum journalistischer Erkenntnis, und wie Fallobst ließ er dessen Sentenzen über Kraus ins Leere purzeln, nannte alles „Schnickschnack einer gewichtigen Nullität“, und alles sei geschmückt mit Biedermeierfloskeln, um Gähnkrämpfe zu verhüten157! Ein Privatbrief Radeckis aus dem Kriegsjahr 1944 zum 70. Geburtstag von Karl Kraus („zum 28.4.1944“) an Helene Kann oder Willy Reich in der Schweiz enthielt ein uneingeschränktes Bekenntnis zu seinem Leitbild und wurde noch 1945 in einer Gedenkschrift für Kraus als „Brief aus dem Dritten Reich“, jedoch ohne Namensnennung, wohl bis heute unberücksichtigt, veröffentlicht158. Somit darf man Helene Kanns Buchwidmung für Radecki wenig später wie ein erinnerndes Monument an diese Freundschaft ansehen: ———————————— 155

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Brief Radeckis an Helene Kann v. 15.6.1936. – Auf dieser Segelreise entstand in der Bucht von „Cattaro“ in Dalmatien eine der schönsten Geschichten Radeckis, „Wellen des Meeres“, erstmalig erschienen als Zeitungsbeitrag in der Schweiz (1937), später mehrfach in Sammelbänden (seit 1939). Peter KURANDA, Ein Vielumstrittener, in: Neues Wiener Tagblatt v. 19.6.1936. Wien, Wienbibliothek, H.I.N. 174.730, Typoskript mit Unterschrift und Berliner Adressstempel Radeckis. – Sicher ist zugehörig: Sigismund von Radecki, Offener Brief zum Tod von Karl Kraus ; München, Bayerische Staatsbibliothek, Ana 390.V.E.45, eine Abschrift, die sich im Nachlass von Carl Muth befindet, ohne dass bisher eine Erklärung dafür möglich wäre. Karl KRAUS, Dokumente und Selbstzeugnisse, S. 25. Das bisweilen unterschiedliche Veröffentlichungsjahr ist sicher 1945 und nicht 1946, wie aus einer Bucheingangsliste in der Schweizer Gewerkschaftlichen Rundschau 37 (1945), Heft 10, hervorgeht. Alle Verfasser haben Vor- und Zunamen, nur nicht die Herausgeberin Helene Kann („H. M. K.“), die mit wahrscheinlich unsicherem Status in der Schweiz lebte, und eben Radecki im „Dritten Reich“, der durch Klartextangaben wahrscheinlich gefährdet gewesen wäre. Radeckis Handexemplar in seiner Bibliothek (WLA Münster) enthält dagegen den von ihm eigenhändig zugefügten Vermerk „Geschrieben von Sigismund von Radecki“. Dass sein Brief wirklich aus der Zeit vor 1945 stammt, wird gesichert durch die Wiedergabe eines wortgleichen Briefauszuges bei Willi REICH, Ein rundes Buch, in: Neue Schweizer Rundschau. Wissen und Leben N. F. 15 (1947/48), S. 31: „Er selbst berichtete darüber vor einigen Jahren [!] in einem Brief.“ Radecki hat später das meiste aus diesem „Brief“ in seine bekannte biographische Skizze „Einiges über Radecki“ übernommen. Hinzuweisen ist auch darauf, dass Gregor Müller, Besitzer des 1944 gegründeten Pegasus-Verlages, in Radeckis Adressbuch enthalten ist.

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„Dem getreuen Sigismund von Radecki in Erinnerung an die Wiener Jahre und in Gedenken an unsern grossen Freund. Helene M. Kann, Lugano, Februar 1947159.“ Theaterpassagen Über zwei kurze Phasen als Schauspieler hat Radecki nur äußerst knapp in seinem Lebenslauf vermerkt, dass er 1923/24 und 1928/30 im Theater am Schiffbauerdamm und an der Volksbühne aufgetreten sei. Nach ersten kleinen Rollen in Berthold Viertels Theater „Die Truppe“, wo er unter anderem einen unbekannten „Pastor mit Eleganz und Charme“ darstellte, regte Else Lasker-Schüler im Frühjahr 1924 ein Mitwirken bei Stücken von Karl Kraus an, woran sich Radecki später, immer noch verwundert, erinnerte: „Denn ich selber bin auch nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, in den damals gespielten zwei Einaktern von Kraus als Schauspieler aufzutreten: weil ich noch ein Anfänger war, weil ich mit meinem Wuchs und meiner baltischen Aussprache dort deplaciert hätte wirken müssen160.“ Seine Bühnentätigkeit Ende der 20er Jahre ist dagegen etwas bekannter, vor allem wegen der Verknüpfung mit seinen Porträtzeichnungen von Schauspielern aus Brechts „Dreigroschenoper“161. Die meist während der Probenpausen entstandenen Zeichnungen präsentierte Radecki in einer Ausstellung im September 1929 in der Berliner Galerie Casper, ergänzt durch Personenskizzen aus dem Umfeld von Karl Kraus, insgesamt fast 60 Blatt162. Den bisher ersten Hinweis auf ein derartiges künstlerisches Interesse an Personenzeichnungen außerhalb seines Familienkreises kann man in einem Brief (1920) an seine Schwester Eva von Radecki finden: „Ich war vorher bei Else Lasker Schüler gewesen, um ihr mein Kraus-Bild (aus dem Gedächtnis gezeichnet) zu zeigen163.“ Von all diesen Bildern haben sich nur sehr wenige (unter anderem Victor Blum, Robert ———————————— 159 160

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Als Beilage im in der voranstehenden Anm. angeführten Handexemplar. Offener Brief Radeckis, in: Die Furche (Wien) 16 (1960), Heft 7, S. 34 f. – Von Radeckis Aussprache liegen mehrere Sprachaufnahmen vor, u. a.: Die Stimme des Autors: Sigismund von Radecki liest aus seinem Buch „Im Vorübergehen“, Deutsche Grammophon Gesellschaft, Nr. LPK 6004, 1960. Erster Hinweis in: Das Stichwort, Nr. 1, September – Dezember 1928 (Zeitung des Theaters am Schiffbauerdamm). Später auch als Anekdote in: RADECKI, Die Rose und der Ziegelstein (1938), S. 200. Zum Ablauf vgl. ERPENBECK, Mit Sigismund von Radecki in die Dreigroschenoper, S. 23–28, dabei ein Theaterzettel mit seinem Rollenhinweis. Faltblatt „Einladung zur Eröffnung“ der Ausstellung: Sigismund von Radecki, Porträtzeichnungen, Galerie J. Casper, Berlin W 10, Lützow-Ufer 5, 15.9.–6.10.1929. Brief Sigismunds an Eva v. 12.6.1920; Edition, Nr. 132.

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Vambery, Ernst Josef Aufricht164) als Kopie erhalten, vor allem ein Selbstporträt, das er seinem Freunde, dem Maler Richard Seewald schenkte165. Eine zugehörige Zeichnung, die wahrscheinlich die Gräfin Mary Dobrženský darstellt, erschien 1930, ohne Namensnennung, in dem illustrierten Magazin „Der Querschnitt“166.

Abb. 3: Sigismund von Radecki, Selbstporträt (wohl 1929, Widmung von 1931) – Quelle: MOB Herne, Teilnachlass Ruth Weilandt-Matthaeus ———————————— 164 165

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ERPENBECK, Neue Porträts Radeckis. Richard Seewald (1889–1976), Maler, Zeichner; seit 1939 Schweizer Bürger. – Von Seewald stammt auch das Umschlagbild auf Radeckis Essayband Der runde Tag (1947). Der Querschnitt (Berlin), Jg. 10, Heft 7 (Ende Juli 1930), S. 465. Im Ausstellungsfaltblatt ist als Nr. 21 eine Zeichnung „Gräfin Mary Dobrzenski“ aufgeführt. Radecki war im Sommer 1929 bei ihr als Gast auf Pottenstein in der Tschechoslowakei. – Auch eine Darstellung des Rezitators Ludwig Wüllner (1858–1938), für den Gertrud Jahn-Kirmse lange Jahre gearbeitet hatte, ist verlorengegangen. Aus späterer Zeit haben sich noch erhalten ein Selbstporträt (nach 1940 ?) sowie eine Zeichnung (1941) des mit Radecki eng befreundeten Domänenamtmanns Dr. Franz Elsen (1906–1980) aus Wertheim.

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Wohl in die wenigen Theaterjahre muss man auch seine Absicht einordnen, sich als Filmschauspieler zu versuchen. So erschien sein Foto mit einem Kurztext in einem damaligen Handbuch für Filmproduzenten, wo er, sehr ernst ausschauend, eingruppiert ist in die Kategorie „Charakterdarsteller und elegante Väter“, Rollen, die er allerdings nie spielen sollte167. Ein literarisches Vorbild ist Karl Kraus jedoch nicht geworden. Diesen Platz dürfte indes seit Mitte der 20er Jahre der englische Schriftsteller Hilaire Belloc (1870–1953) eingenommen haben. Ausgehend von der thematisch völligen Belanglosigkeit eines Essaytitels, berichtet Radecki dazu mit einer geradezu aufreizenden und zugleich herzerwärmenden Nonchalance über den Anfang seiner langjährigen Verehrung: „Etwa 1925 wurde ich durch eine Zeitungsnotiz auf ihn aufmerksam, wo nebenbei gesagt war, er habe einen brillanten Aufsatz über Käse geschrieben (‚On cheeses‘). Ich bestellte mir dieses Buch168.“ Aus diesem Erstkauf wurde zuletzt eine stattliche Sammlung von mehr als 40 Bänden seiner Werke169. Spätestens seit 1929 übersetzte Radecki mehrere von Bellocs Essays, die vor allem in der Kulturzeitschrift „Atlantis“ erschienen, und 1931 widmete er ihm eine sehr persönlich gehaltene Würdigung in einem Schweizer Magazin170. Sein Ziel war es dabei, Bellocs „reifer und wohlfundierter Essay-Kunst in Deutschland Eingang zu verschaffen“. Noch deutlicher ist Radeckis Reverenz erkennbar in seiner Anekdotensammlung „Die Rose und der Ziegelstein“ (1938), wo das erste und titelgebende Beispiel von dem „berühmten Publizisten Hilaire Belloc“ herrührt171. Unklar ist die Entstehung der Übersetzung des Sammelbandes „Gespräch mit einer Katze“, der 1940 in Zürich erschien, keinerlei Hinweis auf Radeckis Übersetzerrolle enthält, zwar nicht in den Handel kam, aber in vielen Bibliotheken vorliegt172. Dazu schrieb Radecki 1946 kurz nach seiner Einreise in die Schweiz an den Direktor des Radiostudios Zürich, dass eine Erwähnung seines Namens als Übersetzer während des Weltkrieges „Selbstmord“ gewesen ———————————— 167 168 169

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FREUND, FF Film Führer, Foto S. 162. „On cheeses“ erschien in der Sammlung First and Last, London 1911, 31924. Vom Schriftwechsel zwischen Belloc und Radecki haben sich mehrere Briefe erhalten aus den Jahren 1929–1947 in der John J. Burns Library, Boston College/Mass. RADECKI, Hilaire Belloc. RADECKI, Die Rose und der Ziegelstein, S. 13. Zürich: Scientia 1940. Möglicherweise ist das Buch durch einen Schweizer Buchclub vertrieben worden. Der einzige Anknüpfungspunkt ist ebd. S. 78 eine lange „Anmerkung des Übersetzers“ (S. 78) zu: HAECKER, Der katholische Schriftsteller. – Wegen der fehlenden Übersetzerangabe wird das Buch in vielen Bibliographien und Bibliotheken daher bis heute nicht Radecki zugeordnet; nur sehr langsam scheint sich dies zu ändern.

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wäre173. Nach Kriegsende nahm Radecki den Briefkontakt zu Belloc wieder auf und setzte auch seine Übersetzungen weiter fort durch dessen sozialpolitisches Manifest „Essay on the restoration of property“174. Alle diese schriftstellerischen Belange wurden jedoch von Beginn an überlagert von Radeckis Willen, Belloc auch im religiösen Bereich zu folgen, mit ihm den von Kardinal John Henry Newman vorgezeichneten „Path to Rome“ zu gehen. The path to Rome: Die Konversion 1931 Anders als manche, die ihre Orientierungslosigkeit schonungsvoll umbogen in die relativistische Sentenz, der Weg sei bereits das Ziel, oder die sich einer „Bequemlichkeits-Religion“ anschlossen, wählte Radecki einen Weg, der ein klares Ziel hatte, den „Weg nach Rom“175. Aber nur sehr selten hat er sich über seine Konversion zur katholischen Kirche geäußert176. Er hat sie öffentlich weder demonstrativ verkündet noch argumentativ begründet, aber deutlich gelebt. Es war daher kaum vermeidbar, dass spätere biographische Forschungen entsprechend ausweichend blieben, wenn sie überhaupt dieser Frage nachgingen177. Durch welches Ereignis oder welchen längeren Prozess es zu dieser Neuorientierung gekommen ist, bleibt auch weiterhin unbekannt. Radecki schreibt nur sehr knapp in seiner Kurzbiographie „Einiges über Radecki“, „dass er 1931 katholisch wurde. Diesen Schritt – wohl den vernünftigsten, den er je getan, – verdankte er dem Studium von John Henry

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Zürich, Zentralbibliothek, Nachlass L. J. Job, 34.21. Hilaire BELLOC, Die Wiederherstellung des Eigentums, Olten 1948. Den Begriff „Bequemlichkeits-Religion“ benutzt Radecki in seinen heute zum Teil aktuell gewordenen Zukunftsüberlegungen „Wie es kommen wird“, in: RADECKI, Zimmer mit Aussicht, S. 90. Seine Ansichten zu Kirche und Religion sind am markantesten und schärfsten nachzulesen in: RADECKI, Der Aufstand der Mittelmäßigkeit, mit seiner vehementen Kritik an Rudolf Bultmanns „sogenannter Moderner Theologie“ und seinem fast antimodernistischen Diktum: „Es zeugt von Mediokrität, sich durch Zeiterscheinungen ganz naiv ins Schlepptau nehmen zu lassen“; ebd. S. 8. Das wenige dazu ist indirekt seinen „Erinnerungen an Karl Kraus” zu entnehmen, wo er sich kritisch mit dessen Austritt aus der katholischen Kirche (1920) auseinandersetzt und dabei seinen eigenen Standort klärt. Dazu weiterhin RADECKI, Wie ich glaube, S. 35–37 („Karl Kraus und die Kirche“). Durch Auswertung von Radeckis bekannten Schriften kommen bisher zu eingehenderen Ergebnissen z. B. ACKERMANN, Sigismund von Radecki; besonders QUACK, Sigismund von Radecki.

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Newmans ‚Development of Christian Doctrines‘“178. Den „Weg nach Rom“ beschritt er am 11.10.1931 in seiner Ortskirche St. Ludwig in Berlin, wenige Tage vor seinem 40. Geburtstag179. Ganz sicher war eine der wegweisenden Erfahrungen das damals viel beachtete „Phänomen von Konnersreuth“, Therese Neumann180. So berichtet der befreundete Verleger Martin Hürlimann in seinen Erinnerungen von einem „Besuch meines Atlantis-Mitarbeiters Sigismund von Radecki, der mich ausführlich über seinen Besuch bei Therese von Konnersreuth informierte, in der Meinung, mir damit die letzte mir noch verschlossene Tür zum wahren Glauben öffnen zu können“181. Auch an Else Lasker-Schüler schrieb Radecki (12.12.1936) von seiner Reise nach Konnersreuth, „zu dem Mädchen mit den Wunden“. Radecki ist den neuen Weg zwar für sich, aber nicht allein gegangen. Er war „einer der vielen aus der geistigen Elite Europas, die in der Zeit zwischen den Kriegen um die Altäre sich sammelten“182. Im engeren Freundeskreis entschieden sich ebenfalls dafür: die Schriftsteller Johannes von Guenther (1913) und Reinhold von Walter (1918), der Maler Richard Seewald (1928/29), der 1934 ermordete Chefredakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“ Fritz Gerlich (1931)183, Werner Bergengruen (1936), der Schauspieler Ernst Ginsberg, Radeckis späterer Verleger Jakob Hegner (1934) sowie Edzard Schaper (1951). Seine Nachlassverwalterin Ruth Weilandt folgte ihm. Sie alle wählten

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RADECKI, Einiges über Radecki; ebenso in einem Brief Radeckis an Hilaire Belloc (Zürich) v. 8.1.1947. Die Aussage bezieht sich auf NEWMAN, An Essay on the Development of Christian Doctrine (1845); maßgebend wurde die Übersetzung von Haecker (1922). Berlin, Pfarrarchiv St. Ludwig, Taufbuch 1931, Nr. 52 e. Taufpriester war der dortige Kaplan Bernhard Kunza (1904–1988); freundliche Auskunft des Pfarrarchivs. – Da bei Radecki verdeckte Hinweise und codierte Sprache immer zu berücksichtigen sind, darf man sich bei dem Namen des Tagesheiligen Gereon durchaus erinnert fühlen an Kardinal Newmans einflussreiches Gedicht „Der Traum des Gerontius“. Radecki hat nach seinem ersten Besuch bei Therese Neumann einen längeren Aufsatz veröffentlicht: „Konnersreuth“. Er fuhr im Herbst 1940 erneut nach Konnersreuth. HÜRLIMANN, Zeitgenosse, S. 176. Richard SEEWALD, Die Welt im Netz gefangen. Zum 75. Geburtstag von Sigismund von Radecki, in: Rheinischer Merkur, Nr. 47 v. 18.11.1966, S. 14. –Typoskript dieser Würdigung: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Nachlass Richard Seewald, I, B-219 d. Fritz Gerlich (1883–1934), scharfer Kritiker des Nationalsozialismus in seiner Zeitschrift Der gerade Weg; in Schutzhaft seit 9.3.1933; am 30.6.1934 in Dachau ermordet. In München wurde reichlich verspätet im Juni 2015 eine Bronzebüste aufgestellt; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 139 v. 19.6.2015, S. 13: „Hitlers Intimfeind“.

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vor ihm oder mit ihm „die Straße nach Rom“184. Diese metaphorische Bezeichnung für den Übergang zur römischen Kirche greift deutlich zurück auf die literarische Pilgerreise Hilaire Bellocs „The path to Rome“ (1902). Als Gertrud Jahn, 1958 ebenfalls konvertiert, dieses Buch 1963 übersetzte, suchte sie in Einzelfällen Hilfe bei ihrem langjährigen Freund Radecki, der sich ja bereits seit 1925 eingehender mit Bellocs Werken beschäftigt hatte. Er stellte ihr auch ein Vorwort zur Verfügung, zugleich ein sehr persönliches Dankeswort an Belloc: „Ich möchte nicht schliessen, ohne mit Dankbarkeit von Bellocs Einfluss auf mein Leben zu berichten. Ein Mann, wie ich gern einer hätte sein mögen185.“ In dieser Hinsicht war es sicher ein Höhepunkt auf Radeckis spirituellem Weg nach Rom, dass er dort im Frühjahr 1959 in der Biblioteca Germanica eine Lesung halten konnte186. Nationalsozialismus und Kriegsjahre Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zwang viele Schriftsteller in eine Opposition „zwischen Widerstandswillen und taktischer Klugheit, zwischen Kühnheit und Vorsicht, zwischen Klartext und Verschlüsselung“187. Dabei entwickelte sich als Spezifikum für Schreibende, wie es der Chronist der Frankfurter Zeitung formulierte, auch eine sich tarnende „Swiftsche Methode“, um sich „teils zu verstecken, teils zu erkennen zu geben“. Als Exempel kann man hierfür Radecki nehmen, „einen völlig unpolitischen Menschen“. Eine aggressive, polarisierende Widerstandsbilanzierung nach Aktiva und Passiva lag ihm fern. Radecki war nicht widerständig, aber er versuchte anständig zu bleiben. Das Schreiben vollzog sich auch bei ihm unter dreifacher Zensur:

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Diese markante Gruppe von Konvertiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird gut greifbar in einer frühen Übersicht des österreichischen Publizisten LORENZ, Die Straße nach Rom. Erstausgabe: BELLOC, The path to Rome, London 1902. Übersetzt unter dem Titel: Der Weg nach Rom; dort S. 9–11 Radeckis Vorwort, das nahezu identisch ist mit einem älteren Zeitungsartikel „Über Hilaire Belloc“, aufgenommen in die Essaysammlung: RADECKI, Das Schwarze, S. 91–98. – Gertrud Jahn, geb. Kirmse (1899–1984), kannte Radecki seit Mitte der 20er Jahre; später wurde sie langjährige Mitarbeiterin des Kraus-Nachlassverwalters Heinrich Fischer; zahlreiche Briefe im DLA Marbach und im WLA Münster. Wohl vermittelt durch den damaligen Leiter Dr. Reinhard Raffalt (1923–1976). GILLESSEN, Auf verlorenem Posten, S. 8. Dieser Hinweis auch bei FISCHER / WITTMANN (Hgg.), Geschichte des deutschen Buchhandels 3/1, S. 51.

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Selbstzensur, politischer Kontrolle durch Partei- und Staatsstellen, Beobachtung durch ausländische Organe188. Aus seinem Freundeskreis entschlossen sich viele zur Flucht aus Deutschland; mit einigen blieb er in Kontakt, so mit der Kraus-Vertrauten Helene Kann in Lugano, dem Übersetzer Richard Moering alias Peter Gan in Paris, dem Journalisten Wilhelm Sternfeld in London und besonders mit Else Lasker-Schüler anfänglich in der Schweiz189. Seine Tätigkeit als freier Schriftsteller vermochte er durch Buch- und Aufsatzveröffentlichungen fortzusetzen190. Dabei sind besonders bemerkenswert seine Übersetzungen aus dem Englischen (Jonathan Swift, John Henry Newman und Hilaire Belloc). Bei der Veröffentlichung von Swifts herrlicher Satire „Die Abschaffung des Christentums in England“ (1935) gab es politische Schwierigkeiten, die schließlich beigelegt werden konnten191. Jedoch wurde im Juni 1941 auch die katholische Zeitschrift „Hochland“, in der Radecki vielfach veröffentlichen konnte, verboten. Zum Herausgeber Carl Muth hatte sich eine engere Freundschaft entwickelt, und 1937 unternahm man eine gemeinsame Fahrt ins Elsass, vor allem zum Kloster auf dem Odilienberg, wo auch Gespräche mit führenden Elsässern stattfanden. Es ist anzunehmen, dass in diesem Umfeld Kontakte zum Alsatia-Verlag in Colmar angebahnt wurden, wo mehrere katholische Intellektuelle, die von Publikationsmöglichkeiten in Deutschland abgeschnitten waren, veröffentlichen konnten. So kam es 1943 zu einem Verlagsvertrag mit der Alsatia für eine französische Übersetzung von neueren Aufsätzen Radeckis, ein Projekt, das aber nicht mehr realisiert werden konnte192. Unmittelbar vor Beginn der Olympiade 1936 brachte eine Berliner Zeitschrift ein ———————————— 188

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Vgl. zur Auslandsbeobachtung den Brief des Emigranten Bernhard Reichenbach (1888– 1975) aus London v. 31.12.1946, in: RADECKI, Das Schwarze, S. 185 ff. Über seine Beziehung zu ihr ist besonders auf einen Brief Else Lasker-Schülers an Ernst Simon (Jerusalem) v. 6.7.1942 zu verweisen: „Ich liebe eigentlich nur einen Russen, den Puschkinübersetzer. Er ist mein lieber guter Freund, weinte wie ich flüchten mußte. Sigismund von Radecki in Berlin.“ Den Hinweis verdanke ich Dr. Karl-Jürgen Skrodzki, Lohmar. Vgl. den allgemeinen Problemaufriss bei KROLL / VOSS, Schriftsteller, besonder S. 13–44, wo Radecki aber nicht angesprochen wird. Für eingehendere biographische Hinweise vgl. KROLL, Die totalitäre Erfahrung, S. 75–95 (Siegfried von Vegesack), S. 103–116 (Werner Bergengruen), S. 303–315 (Edzard Schaper). „Ruhige Darlegung der Gründe, warum die Abschaffung des Christentums in England beim heutigen Stand der Dinge einige Unbequemlichkeit mit sich bringen möchte“, in: Hochland 32/2 (September 1935), S. 510–520 („Deutsch von Sigismund von Radecki“). Ein Hinweis auf dieses Projekt ist enthalten in einem Verlagsvertrag zwischen Peter Schifferli und Radecki (Oktober 1946); Bern, Schweizerische Nationalbibliothek, Nachlass Peter Schifferli.

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deutliches Glaubensbekenntnis Radeckis, verkleidet in eine Übersetzung von Hilaire Bellocs „Der Christ“193. Für die Jahre 1939 bis 1941 kamen zwei seiner Werke auf die Liste der „unerwünschten Autoren“194, und Ende August 1943 musste die „Frankfurter Zeitung“, die mehr als 20 seiner Arbeiten zum Abdruck gebracht hatte, ihr Erscheinen einstellen195. Weiterhin offen war die „Kölnische Zeitung“, in der sich nicht nur seine lesenswerte „Selbstanzeige“ zum Erscheinen von „Die Welt in der Tasche“ findet, sondern auch der einzige bisher bekanntgewordene öffentliche Glückwunsch zu seinem 50. Geburtstag196. Aus dem bombenbedrohten Berlin zog Radecki noch im Herbst 1940 fort nach München, wo er engen Anschluss zu führenden Katholiken fand, so dem bereits erwähnten Hochland-Herausgeber Carl Muth in München-Solln197 und dem Bibliothekar Max Stefl198. In diesem Umfeld bestand als wichtiger Sammelpunkt der bekannte „Theodor-Haecker-Tisch“, der sich jeden Dienstag im Weinhaus Schwarzwälder in München traf199. Der Chefredakteur einer Nachkriegszeitung erinnerte sich später an Radecki während dieser Zeit: „Wenn ich an die wenigen Begegnungen mit diesem nicht nur von Gestalt ———————————— 193 194

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In: Katholisches Kirchenblatt für das Bistum Berlin, Nr. 30 v. 28.7.1936, S. 11. Brief Radeckis an den Direktor des Radio-Studios Zürich, Dr. Jakob Job, v. 16.11.1946: „1936 kam mein Buch ‚Nebenbei bemerkt‘ auf die Liste der ‚nicht zu fördernden Bücher‘ von Rosenberg“; Zürich, Zentralbibliothek, Nachlass Jakob Job. Hier auch Radeckis Hinweis auf seine Übersetzung von Hilaire Bellocs „Gegenangriff durch Geschichte“, in: Hochland 33/2 (1936), S. 1–14, welche die Zeitschrift in größere Schwierigkeiten brachte; vgl. STROTHMANN, Nationalsozialistische Literaturpolitik, S. 249, 445, 449. Mit Max von Brück (1904–1988), dem letzten Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, stand Radecki in persönlicher Verbindung. Kölnische Zeitung v. 11.3.1940: „Selbstanzeige“; sowie Franz JAHN, Sigismund von Radecki. Zum 10. November 1941, in: Kölnische Zeitung v. 19.11.1941. – Jahn, ein KrausAnhänger wie seine Ehefrau Gertrud Kirmse, kannte Radecki aus Berlin; sein Beitrag entstand auf Anregung von Radeckis Freunden. Gestorben am 15.11.1944 in Bad Reichenhall; vgl. Radeckis Kondolenzbrief v. 27.11.1944. Radecki widmete ihm 1942 seinen Essayband „Wie kommt das zu dem?“ Radecki erwähnt eine Vorlesung von Theodor Haecker im April 1941. Einen guten Einblick in die Beziehungen geben die zahlreichen Briefe Radeckis an Stefl sowie dessen Gästebuch; München, Stadtbibliothek, Monacensia, Sammlung Max Stefl. Heinrich FISCHER, Der Stammtisch des Theodor Haecker; DLA Marbach, Nachlass Heinrich Fischer. Der mit Radecki eng befreundete, spätere Staatsbankdirektor Dr. Franz Elsen benennt als weitere Mitglieder: „Kestranek, Heller, Clemens Bauer, Max Stefl, Franz Josef Schöningh“. Häufig anwesend war u. a. auch Fürstin Mechtild Lichnowsky, die Radecki 1920 in Berlin im Umfeld von Karl Kraus kennengelernt hatte. Sie gab mehrere Lesungen aus ihren Werken im Hause Stefl, bei denen Radecki anwesend war, darunter „Worte über Wörter“ und die erst nach dem Krieg erschienenen „Gespräche in Sybaris“.

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aufrechten Manne während des Dritten Reiches denke, so hat er wohl etwas von einem Turm gehabt, der gefährdeten Schiffen den Hafen weist200.“ Nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurde Radecki, wie so viele Deutschbalten, Anfang Oktober 1941 als Russischdolmetscher eingezogen. Da er jedoch nach der Musterung in Berlin als „untauglich“ entlassen wurde, kehrte er zunächst wieder nach München zurück201. Durch die Freundschaft mit Carl Muth ergab es sich schließlich, dass Radecki, der damals in der später zerbombten Pension Siebert in der Kaulbachstrasse wohnte, spätestens seit dem 24.4.1942 auch die Geschwister Sophie und Hans Scholl sowie Alexander Schmorell kennenlernte202. Am 6.6.1942 schrieben Sophie und Hans an ihre Eltern: „Vorgestern abend las Sigismund von Radecki, von Hans aufgefordert, vor einem Kreis von etwa 20 Personen einige Essays, Gedichte und Übersetzungen. Er liest ganz blendend vor, mit ungeheuren Bewegungen, er spielt alles, was er liest. Was haben wir gelacht! Früher war er Schauspieler und bestimmt kein schlechter. Nachher waren wir noch zu fünft auf meinem Zimmer. Leider fährt er für drei Monate weg, nachher aber ist er bereit, allerhand mitzumachen203.“ Der Hinweis, dass Radecki „für drei Monate“ wegfahren würde, traf völlig zu, denn etwa Mitte Mai hatte er eine Einladung bis Mitte Oktober nach Berlin und Mellenthin auf Usedom erhalten, wohin er spätestens am 7.6.1942 aufgebrochen war204. Die Erinnerungen an die Begegnung mit den Scholls ———————————— 200

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el [Erich LISSNER], S. v. R. zum 65., in: Frankfurter Rundschau v. 17.11.1956. Dabei eingehende Beschreibung des Münchener Treffpunkts „im Hofgarten draußen unter den Kastanien an einem der runden Tischchen, die zum Cafe Dircks gehörten“. – Erich Lissner (1902–1980), Redakteur bei der Frankfurter Rundschau; seit Ende der 30er Jahre in engem Kontakt zu Max Stefl und dadurch zu Radecki. Radecki an Max Stefl, Postkarte, Berlin, 29.10.1941; München, Stadtbibliothek, Monacensia, Sammlung Max Stefl. Vgl. JENS, Hans Scholl, S. 352. Hans Scholl ordnete damals Carl Muths Bibliothek. – Alexander Schmorell (* 1917 Orenburg/Russland, † 1943 München), Neumärtyrer Russlands, am 4.2.2012 von der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland heiliggesprochen. Mit ihm konnte sich Radecki auf russisch unterhalten. JENS, Hans Scholl, S. 257. Vgl. die Zusammenhänge bei BALD / KNAB (Hgg.), Die Stärkeren im Geiste, S. 53 f., 142. Auf Usedom war er spätestens am 21.6.1942, wie aus Grußkarten an Max Stefl und Carl Muth hervorgeht. – Zu Mellenthin vgl. u. a. den Hinweis in „Die Stiefel von Stettin“, in: RADECKI, Das Schwarze, S. 279: „die alte Wasserburg, wo ich wohnte, lag in der geographischen Mitte zwischen zwei Punkten, die von der RAF häufig heimgesucht wurden: Peenemünde im Nordwesten und das Hydrierwerk Pölitz im Südosten. So flogen die Luftgeschwader nachts gerade über unseren Kopf, ohne jedoch jemals auf diese Stelle abzuwerfen.“ Für Radeckis Zeit auf Mellenthin liegen mehrere Briefe im Nachlass von Dr. Franz

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überdauerten die kommenden Katastrophenjahre; im Herbst 1956 wurde Radecki von deren Schwester Inge Scholl-Aicher, Leiterin der Ulmer Volkshochschule, zu einer Lesung eingeladen205. Die Öffentlichkeit scheint nichts von den persönlichen Zusammenhängen erfahren zu haben, denn die Presse berichtete völlig unbefangen: „Radecki öffnete ein Tor zur ungetrübten Freude genießerischen Zuhörens206.“ Jedoch griff Inge Scholl in einem Brief an Radecki (Ulm 31.10.1956) sehr deutlich auf die Münchner Leseabende in den Kriegsjahren zurück207. In einer „Notiz“ Radeckis zum fast gleichzeitig stattfindenden Schriftstellerkongress in Überlingen 1956, wo es über Widerstandsfragen zur offenen Kontroverse kam, äußerte sich Radecki bewundernd zu der Tat der Geschwister Scholl, wies aber Forderungen, ähnliches „von jedem“ zu verlangen, deutlich zurück208. Überschaut man Radeckis Schriftenverzeichnis aus den Kriegsjahren, so ist man zunächst überrascht von der weiten räumlichen Verteilung der Zeitungsbeiträge: Dresden, Köln, München, Berlin, Essen, Frankfurt, Wien usw. Ein erhaltenes Typoskript hat den Vermerk „kriegsbedingte Vervielfältigung“209. Dann fallen die zahlreichen Beiträge zu Ortszeitungen in besetzten Ländern auf, so etwa Reval, Lemberg, Luxemburg, Brüssel, Paris. Auch in der Wochenschrift „Das Reich“ war er vertreten sowie in einem Sammelband von

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Elsen vor. Für diese und weitere freundliche Mitteilungen danke ich sehr herzlich Dr. Michael Elsen, Stein a. d. Traun (* 7.12.1940, † 28.1.2019). Inge Scholl (1917–1998); Leiterin der Ulmer Volkshochschule 1946–1974; verheiratet mit Otl Aicher; Schwester der im Februar 1943 hingerichteten Sophie und Hans Scholl. Vgl. Inge SCHOLL, Die weisse Rose, Frankfurt 1955; ein Exemplar mit Besitzervermerk war enthalten in der Handbibliothek Radeckis („Zürich 57“). – Im Nachlass Inge Scholl im Münchener Institut für Zeitgeschichte, ED 474, finden sich mehrere Verweise auf Radecki. Der dort angeführte Text „Angebrannte Bilder“ (1941) ist, anders als dort angegeben, sicher nicht von Radecki, sondern, wie das Kürzel „egw“ am Textende deutlich erkennen lässt, von Erik Graf Wickenburg, der bis 1942 bei der Frankfurter Zeitung als Redakteur tätig war. Dagegen ist Radeckis nur ungenau datierter Zeitungsartikel „Natur als Erinnerung“ erstmals erschienen in: Frankfurter Zeitung v. 17.10.1941, S. 1, später aufgenommen in: Wie kommt das zu dem?, S. 180. Die Lesung fand am 8.10.1956 im Schuhhaussaal in Ulm statt; Ulmer Nachrichten v. 12.10.1956; Schwäbische Donauzeitung v. 10.10.1956. DLA Marbach, Nachlass Radecki. Ebd.: Notizen zu einer Bemerkung Hermann Kestens; dabei ein Zeitungsausschnitt „Schriftstellerkongress mit Zwischenfällen“. Es handelt sich um eine Rede Kestens v. 14.10.1956, u. a. in: KESTEN, Deutsche Literatur im Exil, S. 222–237. RADECKI, Bloßstellung eines Kobolds“, in: Wie ich glaube, S. 111–115; der Text erschien erst 1953.

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„Kriegsfeuilletons“210. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Vertrieb von Radeckis Artikeln auch durch damalige Feuilletondienste erfolgte211. Über Arbeiten an einem neuen Buch schrieb er an Muth 1944, dass „jedes Buch heute ein Art Testament wäre“212. Und im Februar 1945 ließ er die befreundete Gertrud Jahn wissen: „Ich selber arbeite wie eh und je weiter und schicke meine Essays ab, ohne allerdings sicher zu wissen, daß sie irgendwo ankommen werden. Ora et labora213!“ Noch einmal wurde Radecki im Sommer 1944 zu einer Nachmusterung vorgeladen und auf seine militärische Einsatzfähigkeit („Ostwall-Schippen“) überprüft, wobei er brieflich kommentierte, dass „über deren Ausgang bei der heutigen Handhabung kein Zweifel obwalten kann“214. Kurze Zeit später (25.10.1944) verstarb sein Gastgeber und Gönner auf Mellenthin, Johann Richard Wenner, dem er mit großer Dankbarkeit sein erstes Nachkriegsbuch „Der runde Tag“ widmete215. Die folgende Zeit in unmittelbarer Erwartung einer erlaubten Flucht über eine der beiden streng bewachten Zugangsbrücken von Usedom war äußerst bedrückend. Er fühlte sich, falls die Insel von der Front überrannt würde, dreifach bedroht, denn, so die Gerüchte von vorbeiziehenden Flüchtlingen, es drohte die Erschießung für „alles was ‚von‘ war, alles was Gutsbesitzer war, alles was (ehemaliger) Offizier war. Nun war ich ‚von‘, lebte auf einem Schlosse und war zwar kein ehemaliger Offizier, ———————————— 210

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RADECKI, Die Leuchtscheibe, in: BADE / HAACKE (Hgg.), Das heldische Jahr, S. 286–290; erstmals bereits im Januar 1940 mit dem Titel „Grünleuchtendes Herz“ erschienen. Dieser Vertriebsweg bestand für Radecki durch den Rowohlt-Verlag noch bis mindestens 1957. – Über andere Besonderheiten von deutschen Zeitungen im besetzten Europa, wo sogar „Träger der mehr oder weniger oppositionellen Literatur der Inneren Emigration“ erscheinen konnten, darunter auch Radecki, berichtet ORLOWSKI, Krakauer Zeitung. In der Krakauer Zeitung erschien (17.1.1942) auch ein Beitrag Radeckis „Wie die lettische Sprache entstand“, der jedoch bereits aus dem Jahre 1924 stammte und kaum von Radecki selbst „neu“ angeboten worden sein dürfte. Ähnlich ist die Revaler Zeitung verfahren, wo ein Text mit einer anderen als vom Verfasser vorgegebenen Überschrift erschien, nämlich, völlig unzutreffend, „Die sieben Gestalten“ statt „Die sieben Himmel“; vgl. RADECKI, Der runde Tag, S. 177–182, sowie eindeutig das zugehörige Typoskript im Nachlass Radecki. Brief v. 14.3.1944; München, Bayerische Staatsbibliothek, Nachlass Carl Muth, Ana 390-II-A. – Das „neue“ Buch sollte den Titel „Was ich sagen wollte“ tragen und Essays usw. vornehmlich aus den Jahren 1942–1945 enthalten. Sämtliche Texte, meist als Manuskript, befinden sich im Nachlass. In Buchform erschien daraus „Der runde Tag“ und später eine Fassung unter dem ursprünglich geplanten Titel. Vgl. MOB Herne, Mappe 4. Brief v. 23.2.1945; DLA Marbach. Brief an Dr. Franz Elsen, Mellenthin, v. 20.9.1944; Nachlass Elsen (Erpenbeck, Bochum). „Dem Andenken des Freundes“; ursprüngliche Fassung: „Dem Andenken des edlen, hilfreichen Freundes“. Enthalten sind mehrere Stimmungsbilder, die sich auf Mellenthin beziehen, u. a. „Der runde Tag“ und „Himbeeren“.

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dafür aber ehemaliger russischer Untertan, was wiederum ein vollgültiger Erschießungsgrund war216.“ Am 25.3.1945 gelang ihm die Flucht von Mellenthin, wo er noch den schweren Angriff auf das von Flüchtlingen völlig überfüllte Swinemünde mithören konnte, und wenige Tage später gelangte er sicher in die erwartbar britische Besatzungszone zu der mit ihm befreundeten Milli Bau in HamburgAumühle217. Hier wurde er beim Vormarsch der Briten Anfang Mai von zwei Granatsplittern so schwer verwundet, dass eine längere Liegezeit bis Anfang September erforderlich wurde, die er zur Zusammenstellung einer umfangreichen „Deutschen Anthologie“ nutzen konnte218. Seine gesamte Bibliothek hatte er auf Usedom zurücklassen müssen. Das sehr wenige, was er vorab in Koffern verschickt hatte, erreichte ihn erst ein halbes Jahr später, aber kräftig verkleinert, nur „der siebente Teil von den liebsten Büchern, jenen aus den Koffern, die ich längst aufgegeben hatte. Kein Absendervermerk, kein Begleitschreiben219.“ Schon vor dem 15.3.1946 war es ihm möglich, im Rundfunk (Radio Hamburg: Das gute Buch) zu lesen. Einer Aufforderung des Senders, zum zehnten Todestag von Karl Kraus ein Gedächtniswort zu sprechen, vermochte er nicht nachzukommen, da er „trotz vieltägiger Bemühung nichts Würdiges“ zusammenbringen konnte. An einen Freund schrieb er: „Ich sehne mich nach einem katholischen Land, wo man sich wenigstens über die Grundbegriffe (wenn auch via schlechtes Gewissen) klar ist220.“

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„Vor der Flucht“ – unveröffentlichtes zwölfseitiges Manuskript, das erst nach Kriegsende entstanden ist; DLA Marbach, Nachlass Radecki. Milli Bau (1906–2005), Übersetzerin, Reiseschriftstellerin; 1946 zeitweilig Mitarbeiterin bei der Hamburger Zeitung „Die Welt“. Teile ihres Nachlasses für die Jahre 1944–1946 haben sich erhalten. Zu Radeckis Zeit in Aumühle vgl. die bereits im Herbst 1947 erschienene Skizze „Holzsammeln“, später in: Wie ich glaube, S. 174 ff. Noch 1950 war eine Publikation geplant. Von der „Anthologie“ existiert sowohl das Manuskript wie auch eine maschinenschriftliche Fassung, beschriftet: „Anthologie deutscher Dichtung aus vier Jahrhunderten, ohne Bibliothek, ohne Licht, oft ohne Heizung, ohne rechtes Essen, in Aumühler Nachkriegszeiten zusammengestellt.“ Darin mehr als 20 Gedichte von Else Lasker-Schüler, deren Tod (22.1.1945) bereits vermerkt ist. Ein Durchschlag der „Anthologie“ befindet sich in der MOB Herne. RADECKI, Die verlorenen Bücher, in: Was ich sagen wollte, S. 217 f.; auch als Sonderausgabe (1958), S. 10 ff. – Eine Einreise nach Vorpommern wurde Radecki nicht genehmigt; schriftliche Anfragen wegen „Ermächtigung für die Repossedierung meiner unersetzlichen Bibliothek und meines Archives auf der Insel Usedom“ bei amtlichen Stellen führten zu nichts; Schriftverkehr: Berlin, Bundesarchiv, DR 2/628, Bl. 386 und 387. Alles bleibt also bis heute „Lost Art“. Brief an Dr. Franz Elsen v. 14.2.1946; Nachlass Elsen (Erpenbeck, Bochum).

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Neuanfang in der Schweiz 1946 Radecki verdankte seine Übersiedlung in die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich zwei Schweizern, dem Gründer des Arche-Verlages Peter Schifferli in Zürich und dem Musikkritiker Willy Reich221. Den Beginn der sich sehr lange hinziehenden Ausreiseerlaubnis bildete ein etwas ungenau adressierter Brief vom 30.9.1944 an „S. von Radecky, Usedom (Pommern)“. Zuvor hatten Schifferli und der Maler Richard Seewald eine Einladung an Radecki besprochen, wonach der Arche-Verlag ihm „vorübergehend Gastrecht“ anbieten wolle222. Doch auch eine andere Vorgeschichte muss einbezogen werden. Radecki hatte seit 1928 und noch in den Kriegsjahren Beiträge in Schweizer Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichen können und war freundschaftlich verbunden mit Dr. Walther Meier, dem er seine erste Buchveröffentlichung (1929) gewidmet hatte, sowie dem Atlantis-Verleger Martin Hürlimann (seit 1930)223. Viel wichtiger war aber wahrscheinlich, dass 1940 drei neue Bücher im Zürcher Scientia-Verlag erschienen waren224. Bei der Scientia handelte es sich nicht um einen völlig eigenständigen Schweizer Verlag, sondern um eine Gründung der Berlinerin Annie Gallus (1877–1964), Besitzerin eines renommierten juristischen Fachverlages. Sie hatte seit 1936 in London, Wien und Zürich Kleinverlage gegründet, darunter 1937 die Scientia. Aufschlussreich sind hierzu die Erinnerungen des Geschäftsführers Werner Classen: „Im Sommer 1938 begann meine erste richtige Vertreterreise für den Scientia-Verlag. Ich war in der Lage, Autoren wie Henry Benrath, Pearl S. Buck, Paul Wellmann, Sigismund von Radecki vorzulegen225.“ Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit haben sich Radecki und Gallus in Berlin persönlich gekannt, vermutlich im Zusammenhang mit der Übersetzung von Willa Cathers „Der Tod kommt zum Erzbischof“, die 1936 im „Hochland“ erschienen war und wozu die Scientia später, am 13.10.1952, Radecki mitteilte, dass die Übersetzung ———————————— 221

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Willy Reich (1898–1980), Dr. phil.; enger Anhänger von Karl Kraus; seit 1938 in Zürich. Radecki widmete ihm sein Buch „Was ich sagen wollte“ (1952). Bern, Schweizerische Nationalbibliothek, Nachlass Peter Schifferli, Konvolut Radecki. Zur Einordnung der „Anwerbung“ Radeckis vgl. besonders TREMP, Zwischen Liebesgabenpaketen, S. 155. Meier schickte am 30.9.1946 einen Willkommensgruß an Radecki. Die Übersetzungen aus dem Russischen im „Glockenturm“, die Übersetzung von Willa Cathers Roman „Der Tod kommt zum Erzbischof“ und eine Übersetzung aus dem Englischen von Hilaire Bellocs „Gespräch mit einer Katze“. Freundliche Mitteilung von Herrn Peter Meier-Classen, Zürich, aus den bei ihm vorhandenen Erinnerungen des Verlegers „Werner Classen hält Rückschau“, S. 107.

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ihm „seinerzeit“ bezahlt worden wäre226. Diese nur spärlichen Quellen zu den Zusammenhängen bei der Übersiedlung sind jedenfalls zu berücksichtigen, um zu verstehen, dass Radeckis erster vorläufiger Wohnsitz im Hause des Scientia-Verlags war227. Sein Visum vom Schweizer Konsulat in Hamburg (13.9.1946) gibt aber als Grund geschäftliche Besprechungen mit der VerlagsAG Arche an228. Am 15.9. reiste er über Weil am Rhein und Basel in die Schweiz ein. Milli Bau, die ihn nach hektischem Transport zum Bahnhof begleitete, verglich ihn beim Abschied mit der abgezehrten Titelfigur auf „Wie kommt das zu dem?“, „mit glänzender, viel zu weiter Jacke und geflickter Hose“229. Radecki schätzte seine neuen Chancen in Zürich, das er später als eine Überlagerung von „Seldwyla und New York“ bezeichnen sollte, sehr realistisch ein230. Es war nicht leicht, mit 55 Jahren eine neue Existenz zu gründen, in einem Land mit wenig Zeitungen, aber sehr vielen Schriftstellern. Die bittere Misere wird in vielen Briefen an seine ehemalige Gastgeberin Milli Bau in Aumühle und an Wilhelm Sternfeld in London überaus deutlich. Bald half ein Übersetzungsauftrag über diese wirtschaftlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (Arbeitserlaubnis, Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung) ———————————— 226

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JOHANNINGSMEIER, Of Nazis; auch unter: https://www.willacather.org/system/files/ idxdocs/willacather_nr_fall2013.pdf. Hier wird eine seit den Nachkriegsjahren in den USA herumgeisternde irrige Darstellung von Radeckis Ausreise in die Schweiz richtiggestellt. Die Adresse war „Zürich, Feldeggstrasse 12 bei Weise / Bondi“. Bei letzterem dürfte es sich um den Schriftsteller Fritz Bondy (1888–1980), Pseudonym N. O. Scarpi, handeln. Sehr bald verzog er in ein von Baldegger Schwestern geleitetes und der Kirchengemeinde St. Anton gehörendes Haus, die im Jugendstil gebaute Villa Persévérance, in der Neptunstrasse 74 in Zürich-Hottingen, wo er bis zu seinem Umzug 1970 nach Gladbeck lebte. Zwei Schreiben Radeckis zur Ausreisegenehmigung liegen vor: (a) undatierter Entwurf „Request for a depart-visa for a journey to Switzerland“ und (b) Anschreiben v. 20.6.1946 an einen englischen „Major Lington“ in Hamburg mit einem „Resumé meiner Gründe zur Reise in die Schweiz“, worin, ergänzend zu den geschäftlichen, auch schwerwiegende gesundheitliche Gründe angeführt sind; beide Schreiben in der MOB Herne, Mappe 4. Brief Milli Baus an Wilhelm Sternfeld v. 15.9.1946. – Sie erwähnte dabei das noch nicht erschienene Buch „Was ich sagen wollte“. Die Umschlagzeichnung war eine Skizze von Rudolf Wilke (1873–1908), den Radecki als den „deutschen Daumier“ sehr schätzte und dessen Blätter er sammelte; vgl. RADECKI, Zum Gedächtnis, S. 1; wieder in: Wie kommt das zu dem?, S. 213–217; mit Abbildungen als „Rudolf Wilke“, in: Atlantis 21 (1949), S. 265–271. Zur ersten Weihnacht in der Schweiz schickte er an Milli Bau in Hamburg seine „Zürcher Eindrücke“ (23.12.1946, Manuskript, 6 S.); MOB Herne, Mappe 3. Sie erschienen später in stark überarbeiteter Form als „Zürich, alles aussteigen“. Die wohl beste Schilderung über Radeckis späteres privates Leben in Zürich stammt von Felix BLUNTSCHLI (d. i. Herdi Fritz), Im Seilbähnli heimwärts, in: Tages-Anzeiger (Zürich) v. 4.9.1972.

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hinweg231. Hilfreich dürften auch seine älteren Schweizer Kontakte gewesen sein. So zählten zu seinen Fürsprechern bei behördlichen Auflagen Eduard Korrodi und Max Rychner. Und die katholische Tagespresse, besonders die „Neuen Zürcher Nachrichten“, stellte ihn heraus als einen „Ankergrund, in dessen Sicherheit wir uns vor drohenden Brandungswellen des Materialismus retten können“232. Viel gravierender aber waren politische Vorwürfe, die ihn besonders trafen, ja enttäuschten233. Bald war es eine banale Beobachtung über eine ihm vorgehaltene Wortwahl im Radiovortrag, bald eine pauschale Verdächtigung seiner schriftstellerischen Tätigkeit in einem Deutschland, das er gerade wegen seiner „Pestatmosphäre“ verlassen hatte. Auch im Exil lebende Berufskollegen hielten sich für berechtigt, ihm Vorwürfe zu machen, er habe im Dienste der Goebbels-Propaganda gestanden. Alles war völlig unsubstantiiert, wie eine Klärung durch einen Entlastungsbrief des Londoner Control Office for Germany and Austria, ohne vorherige Anfrage oder gar Aufforderung, erwies234. Es gab jedoch auch noch tiefere und ältere Grabenkämpfe, die in Radeckis Wiener Jahren bei Karl Kraus gründeten. Unerkannt traf er auf einen ehemaligen Mitarbeiter der Wiener Bekessy-Presse, der inzwischen Leitartikel in Zürcher Zeitungen schrieb, damals (1925) aber in der „Fackel“ und am Kraus-Tisch wegen seiner „verhatschten Metaphern“ verlacht worden war. Später sollte es noch zu einem Schlagabtausch mit Hans Habe kommen, der Radecki als „Kardinal im Vatikan der Krausianer“ zu verspotten versuchte, ebenfalls ursächlich wegen der damaligen Zeitungsaffäre in Wien235. ———————————— 231

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Brief an Milli Bau, Zürich, v. 24.4.1947; Lüneburg, Carl-Schirren-Archiv, Briefe Sigismund von Radecki. – Der Übersetzungsauftrag brachte hervor: Carl SCHURZ, Lebenserinnerungen (Manesse Bibliothek der Weltliteratur), Zürich 1948. Neue Zürcher Nachrichten, Nr. 290 v. 11.12.1948. Vielleicht sind diese psychischen Gefährdungen die Grundlage für die als Metapher zu lesende Geschichte „Das Bäumchen in der Mauer“, wo es um „etwas schreckliches“ Erlebtes geht, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1808 v. 13.8.1950. Der Text wird bereits 1946 von Radecki erwähnt. Vgl. zu dieser für Radecki wenig erfreulichen Erfahrung im einzelnen: RADECKI, Das Schwarze, S. 185. Hans Habe (d. i. János Békessy, 1911–1977), Journalist, Schriftsteller, seit 1938 im Exil. – Zu dem älteren Disput (1954) vgl. mit allen Einzelheiten RADECKI, Das Schwarze, S. 79 ff.; erneut angesprochen in: An Hans Habe, in: Zürcher Woche, Nr. 11 v. 15.3.1968, S. 25; reagiert auf einen Beitrag Habes: Das Pech des Sigismund von Radecki, in: Zürcher Woche, Nr. 8 v. 23.2.1968, S. 10. Langfristig wirksam wurden diese hier durch Habe genauestens angegebenen Aufsatzangaben zu Radeckis Texten („niedliche Feuilletons“) aus der Wochenzeitung „Das Reich“ dadurch, dass sie auch noch heute in Internet-Texten zu Radecki exakt ab- und fortgeschrieben werden.

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Arbeitsumstände und Akzeptanz sollten sich jedoch bessern. Bald konnte er Freunde und seine Schwester in Deutschland durch kleinere Hilfssendungen unterstützen236. Bei seiner Strategie für die Plazierung seiner Zeitungsbeiträge ging Radecki von drei Kategorien aus: Arbeiten diskursiver Natur, normale Skizzen und populäre, gegenständlichste Sachen. Jede so verstandene Textsorte ordnete er jeweils nur einer Tageszeitung zu237. Er vermochte auch neue Zugänge zu Zeitungen und Verlagen in Deutschland herzustellen; am zahlreichsten wurden seine Beiträge von März 1948 bis Januar 1955 in der „Neuen Zeitung“ für die amerikanische Besatzungszone. Entscheidend für eine Teilhabe am deutschen Buchmarkt wurde aber, dass er zum Jahresbeginn 1951 einen neuen deutschen Reisepass mit Staatsangehörigkeitsurkunde und ein Rückreisevisum für die Schweiz erhielt, denn bis dahin konnte er wegen dieser Beschränkungen keine Auslandsreisen unternehmen238. Im Herbst 1952 fuhr er zum ersten Mal wieder nach Deutschland, besuchte seinen Freund Max Stefl in München und hielt dort seine erste Nachkriegslesung, woran sich jährliche Lesetouren anschlossen, meist in Deutschland, daneben auch in Österreich239. Verhältnis zur Tagespresse Dass Radecki über eine außerordentlich breite eigene Erfahrung mit der Presse verfügte, geht aus seinem weitgespannten Veröffentlichungsfächer unschwer hervor. Er hielt die Presse für gefährlich, ihre Texte oft für „achtlos hingeworfene Streichhölzer, aus denen Seelenbrände entstehen können“240. Ohne Zweifel darf man bei Radecki die Kenntnis von Goethes bekanntem, abwertendem Urteil zur Presse voraussetzen: „Es kommt zwar durch das schlechte, größtenteils negative ästhetisierende und kritisierende Zeitungswesen eine Art Halbkultur in die Massen, allein dem hervorbringenden Talent ist es ein böser Nebel, ein fallendes Gift, das den Baum seiner Schöpfungskraft ———————————— 236 237

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Vgl. ERPENBECK, Drei Balten, S. 151–157. Brief an Dr. Max Rychner, Zürich, v. 2.10.1946; Bern, Schweizerische Nationalbibliothek, Nachlass Erwin Jaeckle. Generalkonsulat Zürich an Radecki v. 12.1.1951, mit Radeckis Reisepass; WLA Münster, Fond 1011: Sigismund von Radecki, Lose Sachen (dabei unter anderem sämtliche Ausweise und Pässe). Erster Aufenthalt in Österreich im Frühjahr 1953 mit Lesungen und Radiovorträgen in Wien und Salzburg. Seine Tourneen, oft vermittelt durch das Deutsche Vortragsamt, anfänglich in Bochum, später in Remscheid, sagte er erst im Dezember 1964 endgültig ab. RADECKI, Wie ich glaube, S. 83.

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zerstört241.“ Prägend war jedoch neben der langjährigen Fackel-Lektüre, neben anderweitig Erlebtem und Angelesenem die Kraus-Kampagne gegen den Wiener Pressekönig Imre Békessy, bei dessen Sturz 1926 Radecki unmittelbarer Zeuge war. Seit Juni 1925 hatte es nach Kraus-Lesungen regelmäßig getönt: „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ Radecki war dabei und rief mit, wie er sich später erinnerte: „Diesen Kampf hat Kraus später in seinem großartigen Stück ‚Die Unüberwindlichen‘ dramatisch dargestellt. Es wurde in Berlin aufgeführt, und ich spielte darin eine Nebenrolle, wo ich ‚Hinaus aus Wien mit dem Schuft!‘ zu rufen hatte. So habe ich denselben Ruf zuerst in der Wirklichkeit und dann auf der Bühne getan242.“ Das Stück wurde im Herbst 1929 an der Berliner Volksbühne aufgeführt, Radecki war als simpler „Troglodyt“ dabei. Der Triumph über den Pressekönig wurde Kraus nicht verziehen, wohl auch Radecki nicht, wie seine beißende Antwort auf den Nachruf für Karl Kraus im bereits erwähnten „Neuen Wiener Tagblatt“ erkennen läßt, wo er dem Schreiber erwartungsvoll entgegenschleuderte, dass die Zeit käme, „da Karl Kraus’ Saat aufgeht und dann ein Ende der geistigen Drehkrankheit der Rotationsmaschine“ zu erwarten sei243. Teile dieser Prophezeiung sollten sich erst viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, auch dann nur stark abgeändert und sehr begrenzt, erfüllen. Markant hervorgetreten ist Radecki mit seiner Pressekritik ebenfalls erst Jahre später. Sein Dilemma, was ihm auch vorgeworfen wurde, bestand darin, dass er für die meisten seiner Erstveröffentlichungen fast völlig von der Tagespresse abhängig war. Schon früher (1940) hatte er sich sehr pragmatisch zu diesem Problem, auch unter gattungsspezifischen Aspekten (Roman vs. Feuilleton), geäußert: „Ich habe [weil ich für Zeitungen schreibe] viel Zeit und wenig Raum, während der Romanautor sehr wohl in die Lage kommen kann, wenig Zeit und erschreckend viel Raum zu haben. So zwingt mich schon der Broterwerb, an einen Satz eben jene Mühe zu wenden, die ein anderer erst dem Absatz angedeihen läßt244.“ Ähnlich kommentierte er seine ———————————— 241

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Johann Peter ECKERMANN, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Heinz SCHLAFFER (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens 19), München 1986, zum 2.1.1824. Ein Exemplar befand sich in Radeckis Bibliothek. RADECKI, Wie ich glaube, S. 39 (als Kraus-Anekdote), S. 83 (als biographisches Detail in dem Essay „Theater als Erinnerung“). Dieser Text war, betitelt als „Theater“, bereits im Luxemburger Wort v. 4.10.1941 erschienen, jedoch ohne die Kraus-Passage, wohl aber mit einem Kraus-Zitat ohne Namensnennung. Wien, Wienbibliothek, H.I.N. 174.730. RADECKI, Selbstanzeige, in: Kölnische Zeitung v. 11.3.1940; auch in: Die Welt in der Tasche, S. 401.

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Lage kurze Zeit nach seiner Übersiedlung in die Schweiz in seinem fast resignierenden Befund, dass sich ihm wohl die Tore einer Schweizer Zeitung geöffnet hätten, man zwar regelmäßig drucke, aber miserabel bezahle245. Einen Höhepunkt erreichte seine scharfe Pressepolemik auf einer von 100 Teilnehmern besuchten Journalistentagung im Herbst 1955 in Königstein im Taunus, wo er mit einer Rede, die in guter Nachfolge von Karl Kraus stand, gegen die falsche Rolle und die unmäßige Macht der Presse auffiel246. Neben Vorträgen zum Rahmenthema „Unsere Sprache – Gedanke, Gewissen und Gestalt“ von Leo Weisgerber und Karl Holzamer entwickelte Radecki in mehreren Referaten seine Sichtweise. Er beklagte die „Sprachentwertung“ und „Wortentseelung“ durch die Presse, denn das führe „zu Menschen, die nur noch in präfabrizierten Begriffen denken, also zu Sklaven der Phrase“. So bewirke die Zeitung, „trotz ihrer demokratischen Freiheitsverteidigung, gerade die unaufhörliche Abtötung wahrer Demokratie, nämlich einer Herrschaft geistig mündiger Menschen“. Seine Rede krönte er mit dem rhetorisch äußerst wirksamen, sprachlich aus drei lapidaren Einsilbern gefügten Schlußappell: „Lest Karl Kraus247!“ Die Zuhörer waren „gestört, verstört, aufgestört“ durch die Lesung des älteren Textes „Das verborgene Wort“248, vor allem aber durch sein Plädoyer „Der christliche Journalist und die Sprache“. Die Journalistin Vilma Sturm bezeichnete ihn danach als „Diagnostiker von unerbittlicher Einsicht, aber er ist kein Therapeut“, dem es gelänge, die Malaise der Presse zu beheben249. Jedoch scheint in diesem Vortrag der Ursprung für die

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Brief an Milli Bau, Zürich, v. 3.4.1947; Lüneburg, Carl-Schirren-Archiv, Briefe Sigismund von Radecki. Taunuszeitung v. 22. und 27.9.1955. RADECKI, Rede über die Presse; gehalten auf der Herbsttagung 1955 der Gesellschaft Katholischer Publizisten 20.–25.9.1955 in Bad Königstein. Teilabdruck: DERS., Gedanken über die Presse, in: Buch in der Zeit 1,2 (1956), S. 1. Auch als DERS., Rede über die Presse, in: Das Schwarze, S. 35. Zur Einordnung der Rede vgl. Gesellschaft Katholischer Publizisten (Hg.), Bekannt-Machung. 40 Jahre Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands, Berlin 1988, S. 139. RADECKI, Das verborgene Wort, in: Wort und Wunder, S. 37–62 und öfter. Vilma STURM, „Die Presse ist vom Übel“ meint Herr Sigismund von Radecki, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 231 v. 5.10.1955; sowie ihr ähnlicher Beitrag: Begegnung mit einem großen Mann: Sigismund von Radecki und die Journalisten, in einer bisher nicht identifizierten Zeitung.

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spätere Preisverleihung an Radecki durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste zu liegen, da sie Anfang November 1955 Radecki aufforderte, „einen Vortrag unter den Auspizien der Akademie in München“ zu halten250. Sicher nicht alle Journalisten und Publizisten reagierten zustimmend oder gar wohlwollend auf dieses persönliche Manifest eines Einzelgängers aus der Schweiz. Trieb hier nicht jemand einen falschen „kritischen Journalismus“, nämlich gegen die eigene heile Branche statt gegen die unheile Welt der anderen? Eine Tageszeitung scheint daraufhin den langjährigen Kontakt zu dem kompromisslosen Feuilletonisten vollständig abgebrochen zu haben, und auch in einer Wochenzeitung wurde der Platz für seine regelmäßigen Kolumnen überdeutlich weggestrichen. Dass er seinen nächsten Sammelband mehr oder minder nur noch im Selbstverlag veröffentlichen konnte, verdeutlicht die eiskalte Reserve, mit der auch das allgemeine Publikum seinem „Kampf um Freiheit und Selbstbehauptung“ gegenüberstand251. Als einen positiven Abschluss von Radeckis unmittelbar pressebezogener Arbeit darf man dagegen ein Anschreiben des Publizistikwissenschaftlers Emil Dovifat ansehen, der ihn für Januar 1960 nach Berlin einlud als „Persönlichkeit, die im öffentlichen Leben bekannt und in der Zuversicht ihrer christlichen Auffassung richtunggebend ist“252.

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Auch seine frühe, bereits Anfang Januar 1949 weitgehend festgelegte programmatische Rede „Über die Freiheit“ ist hier anzuführen; RADECKI, Über die Freiheit, Köln 1950. QUACK, Radecki, S. 759, nennt ihn den „ambitioniertesten Essay in der Reihe seiner Schriften“. Besonders scharf war die Replik von Herbert EISENREICH, Der Dreigesichtige. Eine Rezension von „Das Schwarze sind die Buchstaben“, in: Die Zeit, Nr. 18 v. 2.5.1957. – Die Finanzierung war wegen des Erfolgs von „Das ABC des Lachens“ mit fast 350 000 Exemplaren für Radecki unproblematisch. – Durch etwas Humor abgeschwächt liest sich Radeckis Haltung zur Presse sehr viel einfacher in „Die sieben Normalnachrichten“, in: Im Gegenteil, S. 132–140; bereits früher erschienen als: Ich finde Zeitungen schrecklich, in: Die Zeit, Nr. 18 v. 1.5.1964, S. 13. Katholischer Akademikerverband Berlin, Prof. Dr. Emil Dovifat, Briefe v. 15.7. und 15.8.1959; WLA Münster. Emil Dovifat, der Radecki noch aus dem Vorkriegsberlin persönlich kannte, war damals Direktor des Instituts für Publizistik an der Freien Universität Berlin; vgl. zur Einordnung DOVIFAT / WILKE, Zeitungslehre 2, S. 113. Dovifat regte auch die Dissertation (1962) von Monika Miehlnickel an („Feuilletonistische Sprache“). – Radeckis Vortrag „Freude an der Freiheit“ (11.2.1959) fand statt innerhalb einer sechsteiligen Reihe an der Freien Universität Berlin („in einem der schönsten Säle“); vgl. Telegraf (Berlin) v. 17.2.1960. Wahrscheinlich fanden weitere Vorträge am 9.2. in Charlottenburg und am 15.2.1960 in der Amerika–Gedenkbibliothek statt.

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Ausklang Dass seiner Schreiblust physische Grenzen erwachsen würden, war Radecki nicht unbekannt, hatte er doch schon bei seinem erzwungenen Neuanfang in der Schweiz diese Erfahrung gemacht und auch geäußert, dass er früher eigentlich dichterischer geschrieben habe und befürchten müsse, aus Initiative werde Routine. Alle diese Gedanken fasste er zusammen, humorvoll eingekleidet, in das Feuilleton „Wenn man alt wird“253. Noch mehr: um bei seinem Schreiben einer als Bedrohung empfundenen „Banalität zu entgehen“, verlegte er sich ausweichend mehr aufs Vorlesen und Radio-Vorlesen. Aber auch davon, besonders den jährlichen längeren Vortragsreisen, sagte er sich 1964 los. Jedoch scheint er seine frühere Lebensmaxime weiterhin als Maßstab belassen zu haben: „Ich arbeite und bin glücklich254.“ Als Ergebnis dieses langen Arbeitslebens steht daher auch ein beeindruckendes Monument von Übersetzungen vor dem Leser255. Manche neuen Impulse kamen unerwartet auf ihn zu. Sehr wichtig wurde die 1961 beginnende Freundschaft mit dem Gladbecker Ehepaar Johannes und Ruth Weilandt. Schon bald gab es mehrere gemeinsame Reisen (Dalmatien, Dänemark, Tessin) und Begegnungen256. Zu Ruth Weilandt entwickelte sich ein besonderes Vertrauensverhältnis, das in mehr als 200 persönlichen Briefen, gespickt mit Telegrammen und Tagesnöten, durchsetzt mit Lebensphilosophie und Persönlichem, greifbar ist. Schließlich entschied sich Radecki für ihre Einsetzung als Nachlassverwalterin und sprach mit ihr die Veröffentlichungen nach seinem Tode durch257. Zwar hatte er bereits 1941 schon man-

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In: Das Schwarze, S. 230–234. Auch in diesem Kurztext greift er, unerwähnt, am Ende auf seinen Mentor Karl Kraus zurück mit einem Dreizeiler aus dessen Gedicht „Rückkehr in die Zeit“. Zitat Radeckis, überliefert in einem Brief von Josephine von Moeller an Alma von Grimm v. 4.2.1937; WLA Münster. Zu diesem Arbeitsbereich vgl. vor allem RADECKI, Vom Übersetzen (Vortrag im Auditorium der Universität München am 25.6.1962). Ihnen widmete er seine Sammlung „Gesichtspunkte“ von 1964 („Für Johannes und Ruth Weilandt“). Ruth Weilandt (* 25.1.1923 Wurzen/Sachsen, † 22.11.2005 Gladbeck/Westfalen). Nachruf in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Ausgabe Gladbeck) v. 24.11.2005: „Letzte Reise führte ins Tessin“. Ihre Erinnerungen an Radecki sind nachzulesen in den von ihr herausgegebenen Radecki-Sammlungen und bei Gerd HERHOLZ, Sigismund von Radecki, S. 563– 574. Weiterhin stellte sie eine Bibliographie zu Radecki zusammen; WILPERT / GÜHRING, Erstausgaben, S. 1210–1212.

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che seiner früheren Zukunftsträume weggespottet: „Ruhmbegierde? Aber im Jahre Zweitausend kräht sowieso kein Hahn nach mir258.“ Jetzt, 1968, plante er mit Ruth Weilandt zunächst eine dreibändige Ausgabe, die er dann schrumpfen ließ zu: „Sigismund von Radecki: Alles in allem. Ein Auswahlband“259. Drei auch literaturgeschichtlich nicht unwichtige Ereignisse verknüpften seine späten Jahre noch einmal mit der früheren schriftstellerischen Entwicklung. Im Jahre 1963 machte er eigens eine Reise nach Prag, um das nahegelegene böhmische Janowitz aufzusuchen, ehemaliger Besitz von Sidonie Nádherny und ein Lieblingsplatz von Karl Kraus. Ziel war es, neueren Spuren auf einen seit langem gesuchten Briefwechsel zwischen Kraus und Nádherny nachzugehen260. Seit Dezember 1962 hatte er diese Reise vorbereitet, eigens eine Akte „Reise nach Prag“ angelegt, worüber die mit Ruth Weilandt gewechselten Briefe und seine Korrespondenz mit dem Kösel-Verlag (besonders die Vollmachten vom 25.3.1963 sowie vom 18.4.1963) vielfache Einsichten erlauben261. Noch weiter zurück, in die frühen 20er Jahre, griff ein vom Westdeutschen Fernsehen (Köln) in Zürich gedrehtes Interview mit Radecki am 23.8.1967, wobei er „2½ Std. mit 5 Mann“ über Else Lasker-Schüler berichten sollte262. Ebenfalls noch 1967 gab es in Hamburg auf dem Rückweg von einer Segeltour in Dänemark ein Treffen mit zwei Freunden aus seinen Berliner Jahren,

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In: BADE / HAACKE (Hgg.), Das heldische Jahr, S. 288. Tatsächlich erschien 1980/81, von Ruth Weilandt-Matthaeus herausgegeben, eine Werkauswahl in zwei Bänden: RADECKI, Bekenntnisse einer Tintenseele; Weisheit für Anfänger. Erhalten hat sich ein Foto, das Radecki in einem Torbogen des Schlosses in Denkmalpose zeigt. Zu Radeckis Pragreise vgl. auch PFÄFFLIN, in: KRAUS, Briefe an Sidonie Nádherný 2, S. 738: „Ich hatte ihm [d. i. Michael Lazarus] auch von Sigismund von Radeckis Bemühungen erzählt, der 1963 mit dem Ehepaar Weilandt nach Janowitz gefahren war.“ Weiterhin PFÄFFLIN, Literaturgeschichte. Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt, Verlagsarchiv Kösel, Nr. 328. Brief Radeckis an Ruth Weilandt v. 29.8.1967. Der Film war für eine Sendung im Januar oder Februar 1968 vorgesehen. – Radecki hatte Else Lasker-Schüler bei ihrer Flucht aus Deutschland nach Zürich persönlich am 19.4.1933 zum Bahnhof begleitet, was in der Literatur nur sehr selten angegeben wird; vgl. Die Furche (Wien), Nr. 31 v. 30.7.1960, S. 13. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang besonders RADECKI, Berichtigung eines Buches, eine Entgegnung auf LASKER-SCHÜLER, Briefe an Karl Kraus. Radeckis Sammlung von Briefen Else Lasker-Schülers, die noch bis 1945 in Mellenthin war, muss zur Zeit als verloren gelten.

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Einleitung

beide aus Deutschland emigriert und später zurückgekehrt, dem Kunstkritiker Willi Wolfradt (1892–1988) und dem Dichter Richard Möring alias Peter Gan (1894–1974)263. Radecki konnte in seinem Weltbild durchaus Konträres verbinden, so auch Vorsehung und Zufall; schon 1928 hatte er diese Polarität andiskutiert in dem Essay „Seine Majestät der Zufall“264. Es mag die folgende Begebenheit beides sein: Als er im Sommer 1967 letztmalig im Ruhrgebiet eine Lesung hielt, war „Denkmäler“ einer seiner als „sicher“ eingestuften Lesetexte, ein weitausgreifendes Panorama von Einzeleindrücken, wie Radecki es liebte265. Aber jemand im Publikum sah das anders, der Artikler einer örtlichen Zeitung. Mit situativ bedingter, nur schwach verkleideter Freundlichkeit ließ er die Leser wissen: „Hier wird Radecki zu dem, was er in seiner Ouvertüre gegeißelt hatte: zum Denkmal seiner selbst und seiner Zeit, die nicht das Heute ist266.“ Wie völlig anders waren nur wenige Monate früher die in ganz Deutschland und der Schweiz erschienenen Glückwünsche zu seinem 75. Geburtstag gewesen, gekrönt von einer Feierstunde im Diogenes-Verlag in Zürich. Wie einen Abspann seines großen wechselvollen Lebensbogens darf man daher den Titel des im Oktober 1967 an Ruth Weilandt gesandten Buches, Wilhelm von Kügelgens „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“, verstehen267. Als sich seit Ende 1969 eine Krankheit längere Zeit hinzog und ernsthaft entwickelte, entschied er sich für eine Behandlung in einem Gladbecker Krankenhaus, wo er sich bei den Weilandts geborgen wusste. Wenig später verstarb er dort am 13. März 1970. Sein Grab in Gladbeck, tatsächlich ein Denkmal Radeckis, ist efeuüberwachsen mit einem einfachen Steinkreuz, wie er es sich

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Von diesem „historischen“ Treffen hat sich in der Fotosammlung von Ruth Weilandt ein Bild erhalten. – Wolfradt hatte 1929 sowohl eine Einleitung wie auch einen Kurzbericht zu Radeckis Porträtausstellung geschrieben; vgl. Der Cicerone 21 (1929), Heft 19, S. 553 f. – Wichtig war in Radeckis Frühzeit MÖRING, Der Essayist. Im Nachlass Radecki befinden sich mehrere von Mörings (Nachkriegs-)Schriften (mit Widmungen) und auch einige Briefe. Erstmals in: Rigasche Rundschau v. 1.12.1928, später mehrfach in Sammlungen. Als Zeitungsbeitrag bereits 1939 erschienen und zuletzt noch einmal aufgenommen in „Im Gegenteil“. Ruhr-Nachrichten (Gladbeck) v. 14.7.1967: „Das Denkmal von Radecki“. Ruth Weilandt hat diesen Artikel Radecki nie gezeigt. Sie fuhren beide unmittelbar danach zum Segeln an die Ostsee. Erstmals erschienen 1870. Eingeklebte Widmung in einem 1913 erschienenen Exemplar: „Für Ruth Weilandt mit herzlichen Grüßen und Wünschen von Sigismund von Radecki. Zürich, am 10.10.67.“

„Einiges über Radecki“

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gewünscht hatte268. Mit den beiden klaren Elementen, dem Kreuz und dem Namen seiner Vaterstadt Riga, ist es nicht nur gedenkende Erinnerung, sondern auch zeichenhaftes Bekenntnis des Schriftstellers Sigismund von Radecki, des Christen und des Balten.

Abb. 4: Sigismund von Radecki, Selbstporträt (für Dr. Franz Elsen, ca. 1950) – Quelle: Privatbesitz Dr. Michael Elsen, Stein a. d. Traun ———————————— 268

Begraben am 18.3.1970 auf dem Friedhof in Gladbeck-Mitte, bis heute als Ehrengrab der Stadt Gladbeck betreut.

2. Genealogische Tafel: Radecki und Tideböhl Familie von Radecki I. Christoph Heinrich RADECKI, * 4.1.1794 Sassenhof/Riga, ≈ 22.1.1794 Riga, † 13.7.1865 Groß-Klüversholm/Riga. – Gutsbesitzer, Holzhändler, Ältester der Großen Gilde in Riga (1848); Besitzer mehrerer Segelschiffe, die im Krimkrieg sämtlich gekapert wurden1; Mitbegründer einer Kindererziehungsanstalt zu Hermelingshof 2. I. ∞ Riga (Dom) 7./21.12.1819 Carolina Elisabeth LANGE, * 23.9.1799, ≈ 16.10.1799 Riga, † 1.8.1853 Riga. II. ∞ Riga 8.9.1859 Ernestine Emilie Charlotte JÜRGENSSEN, * 11.6.1831 Riga, † 3.4.1912 Riga3. II. Eduard Wilhelm VON RADECKI, * 11.2.1823, ≈ 18.3.1823 Riga (Jakobi), † 11.5.1886 Kremon. – Pfandbesitzer von Hof Rauden bei Tuckum (Erbbesitzer 1850) und Garrosen/Bauske; verkaufte 1857 das „schöne Gut Garosen in Kurland“4; später Arrendator, Bevollmächtigter des Fürsten Lieven für Kremon und Treyden; Kirchenvorsteher (1862, 1886)5. ∞ Zarnikau/Riga 26.9.1847 Johanna Maria Dorothea (Jenny) KROEGER/KRÖGER, * 18.6.1827 Mahrzenhof, Kspl. Ronneburg, † 4.8.1914 Riga6. Kinder: 1. Heinrich Eduard VON RADECKI, * 13.7.1848 Hof Rauden/Tuckum, † 30.11.1849 Tuckum.

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Schiffsliste für 1857: die Schoner Bethlehem (74 Last) und Gethsemane (151 Last) sowie die Brigg Nazareth (151 Last); siehe Rigasche Stadtblätter v. 3.1.1858. Maximilian von RADECKI, Mein Leben, S. 3. Archiv der DBGG, Stammfolge Kroeger, Nr. 13/14, S. 2. Eva von RADECKI, Logbuch, S. 302. Die Verkaufsmeldung in: Das Inland, Nr. 16 v. 22.4.1857: „Die Garrosen-Schlockhofschen Güter samt Zubehör sind am 26. Febr. von Eduard v. Radecki dem Stabscapitain Theodor v. Derschau verkauft worden.“ Eva von RADECKI, Logbuch, S. 297. Vater: Arrendator von Mahrzenhof Johann Gustav Kroeger; vgl. die Übersicht bei TILING, Familie Kroeger, S. 124.

Genealogische Tafel: Radecki und Tideböhl

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2. Emma Karoline VON RADECKI, * 3.11.1849 Hof Rauden/Tuckum, † 1915? Groß-Gohlau bei Neumarkt/Schlesien7. 3. Sigismund Johannes VON RADECKI, * 29.11.1850 Hof Rauden/ Tuckum8. 4. Helene („Ella“) Caroline VON RADECKI, * 14./26.7.1852, ≈ 13.8.1852 Riga, † 23.2.1930 Wiexten9. ∞ Kremon 29.7.1877 Ernst Ferdinand LANGE, * 25.4.1848 Wolmar, † 29.1.1883 Riga. – Dr. med. 1874; Arzt in Kremon, Riga10. Kinder: a) Erich Johannes, * 19.5.1878 Spahre, † 17.9.1945 Weinheim/Bergstraße. – Stud. Riga, Dipl. Ing. ∞ Riga 25.4.1910 Hella VON PAUL. b) Ada („Adda“), * 11.11.1879 Riga, † 1.3.1958 Rotenburg/Hannover. – Kunstmalerin; ledig. c) Emmy, * 29.5.1882 Bilderlingshof, † 8.1.1946 Buchholz/Nordheide. ∞ Riga 18.10.1900 Hans KROEGER, * 16.11.1870 Wiexten, † 19.1. 1919 Wiexten (ermordet). 5. Ottokar Eduard VON RADECKI, * 21.1.1854 Garrosen (KB Sallgalln), † 18.10.1921 Berlin. – Stud. jur. Dorpat 1872–77; Rats- und Hofgerichtsadvokat in Riga (1878/79); gab 1882 die Advokatur auf; wohnte in Riga: Theater-Boulevard Nr. 5, Weidendamm Nr. 1, TodtlebenBoulevard Nr. 9; St. Petersburg; Dorpat. ∞ Riga (Jakobi) 6./16.8.1879 Alma Dorothea VON TIDEBÖHL11, * 27.5.1855 Riga, † 22.7.1917 Dorpat. Kinder: a) Alma („Micko“) Johanna Franziska, * 27.7./8.8.1881 Riga, ≈ 16.8. 1881 Riga (Jakobi), † 11.7.1952 Göttingen12. ∞ Dorpat 9./22.6.1914 Werner Alexander (VON) GRIMM, * 4./16. 12.1886 St. Petersburg, † 27.10.1956 Göttingen. – Bibliothekar; ———————————— 7

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Wahrscheinlich: Emmy von Radecki, † 1915 Riga (Jakobi, 65 Jahre); Rigasche Zeitung, Nr. 47 v. 27.2.1915. Das weitere Schicksal ist unbekannt bis auf den Hinweis in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 281: „Vater [d. i. Ottokar] sprach von seinem Elternhause. Über die grundfalsche, harte Behandlung, die sein Bruder Sigismund erfuhr. ‚Er war eine Künstlernatur, da ergab sich ein Antagonismus, den nichts überbrücken konnte […]‘“ Rigasche Rundschau v. 26.2.1930. Album Livonorum, Nr. 748. Genealogisches Handbuch Ösel, S. 598; Genealogisches Handbuch Livland 1, S. 284. BORBÉLY, Gedenkbuch, S. 132, mit der unrichtigen Angabe, dass sie „im Kriege“ verstorben sei.

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Einleitung

Kollegien-Sekretär in St. Petersburg (1914); 1918 kurzzeitig Universitätsbibliothekar in Dorpat; 1919 Flucht nach Göttingen, dort Lektor für Russisch. b) Eva Louise, * 5./17.11.1884 Riga, † 10.7.1920 Jerwen/Sommerpahlen13. – Herbst 1904 bis Frühjahr 1905 Reise nach Italien; seit Herbst 1912 bettlägerig; Verfasserin eines Tagebuches 1915–20 („Logbuch“); Schriftstellerin. c) Wilhelm („Willy“) Otto, * 5.1.1888 Riga, † 13.8.1914 bei Soldau/ Heinrichsdorf (Ostpreußen; gefallen). – Annen- und Katharinenschule in St. Petersburg; stud. med. Dorpat (1908–10); stud. montan. Freiberg/Sachsen (1910–14), Dipl.-Ing.; August 1914 im russischen Heer. d) Sigismund („Sisi“) Arnold Ottokar * 7./19.11.1891 Riga, † 13.3. 1970 Gladbeck. – Schriftsteller. 6. Ernst Joseph VON RADECKI, * 29.5.1859 Kremon, † 30.5.1916 Riga. – Stud. med. Dorpat (1879–85), Dr. med.; Arzt in Segewold (1885–89) und Riga (1889–1916)14. ∞ Riga 20.11.1887 Anna Elvira VON HUHN, * 19./31.12.1858 Riga, † 10.1.1935 Riga. Kinder: a) Ellen Wilhelmine Eleonore („Puppi“), * 25.12.1888/7.1.1889 Nurmis, † 7.1.1969 Berlin. – Fotographin. ∞ Berlin 12.3.1927 Paul Ernst LUCHS, * 8.7.1872 Fraustadt/Posen, † 30.12.1956 Berlin. – Oberstleutnant. b) Anna Margarethe, * 25.4./7.5.1891 Riga, † 1.6.1969 Bad Soden-Salmünster. – Lehrerin in Riga15. c) Helene Emmi („Hella”), * 26.2./10.3.1896 Riga, † 8.8.1928 Riga. – Krankenschwester16.

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EAA, 1674.2.339, 1927–1929, Nr. 2187: Alma v. Radecki, geb. v. Tideböhl; Nr. 2188 Eva Luise v. Radecki. Album Fratrum Rigensium, Nr. 821; Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 10632; BRENNSOHN, Livland, S. 323. Schrieb für den Hessischen Rundfunk: „Vorfrühling in Riga. Ein baltischer Bilderbogen“; Das Ostpreußenblatt, 5. Jg. Nr. 3 v. 27.3.1954, S. 10. Rigasche Rundschau, Nr. 177 v. 9.8.1928.

Genealogische Tafel: Radecki und Tideböhl

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7. Hermann Robert VON RADECKI, * 29.10.1862 Kremon, † 19.11.1915 Riga. – Stud. chem. Dorpat (1882–87); seit 1891 technischer Direktor der Oehlrichschen Fabrik bei Riga17. ∞ Riga 14.11.1895 Helene Elisabeth HELMSING, * 14.11.1872 Riga, † 9.1.1952 Bremen. Kinder: a) Georg Carl Eduard, * 19.1.1897 Riga, † 14.10.1975 Berlin18. – Gymnasium in Riga; stud. Dorpat (1916–17), TH Hannover (1918–22), Dipl. Ing.; seit 1923 bei Siemens & Halske in Berlin. ∞ Leipzig 22.6.1926 Annemarie BAUNACK, * 19.6.1899 („aus Dresden“), † 5.12.1971 Berlin. b) Sigrid Johanna Elisabeth, * 29.5.1898 Bilderlingshof, † 3.9.1964 Delmenhorst. ∞ Plön 29.3.1923 Hermann JORDAN, * 31.3.1897 Bremen. – Dipl. Ing. c) Edith Johanna, * 8.2.1901 Riga. – Lebte in Huelva/Spanien (1952). ∞ Bad Schwartau 6.8.1921 Ludwig (Friedrich) CLAUSS19, * 21.8. 1895, † nach 1952. – Schiffsagent in Spanien. d) Erik, * 2.1.1906 Riga, † 16.9.1929 Vigo di Fassa/Dolomiten (verunglückt)20. 8.? Johanna (Hanna) VON RADECKI21, * 3.1.1857. – Ledig. Familie von Tideböhl Arnold Gustav Wilhelm VON TIDEBÖHL, * 16./28.2.1818 Reval, † 30.8./ 11.9.1883 München, begraben in Riga22. – Stud. jur. Dorpat; 1841 als Prokureur in Schirwan (Transkaukasien); Kanzleidirektor des Generalgouvernements in Riga (seit 1848); Geheimrat23. ———————————— 17

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Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 11507; Album Fratrum Rigensium, Nr. 862; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 211, zum 19.11.1915: Telegramm zu Onkel Hermanns Tod; Rigasche Zeitung, Nr. 7 v. 9.1.1918. Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 27323. Rigaer Kirchenblätter (St. Petri) v. 29.7.1921. Rigasche Rundschau, Nr. 215 v. 23.9.1929. Wahrscheinlich Johanna von Radecki, † 14.1.1923 Wiexten; Rigasche Rundschau, Nr. 13 v. 17.1.1923. Eine Johanna von Radecki lebte 1913 in Riga, Elisabethstr. 9 a. DBBL, S. 793; Album Fratrum Rigensium, Nr. 214. Die beste Übersicht zu den Familien Tideböhl ist enthalten in der „Sammlung Törne“ bei dem Portal Saaga; EAA 4918.1.1913, s. v. Tideböhl, Bl. 47/67.

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Einleitung

∞ (Dorpat) 25.1.1846 Franziska („Fanny“) Maria VON ELTZ, * 24.10. 1822 Romeskaln/Oppekaln, † 15.7.1892 Riga. Kinder: 1. Maria Auguste Amalia, * 3.10.1847, † 22.8.1919 Riga. – Ledig. 2. Louise Eleonore, * 21.10.1848 Riga, † 21.2.1891 Riga. 3. Johann Heinrich Viktor, * 10.2.1850 Riga, † 9.6.1851 Riga. 4. Antonie Franziska Helene, * 5.6.1851 Riga, † 17.3.1919 Riga. ∞ St. Petersburg 25.1.1871 Sigismund Otto KRÖGER, * 1.9.1825 Mahrzenhof/Livland, † 22.4.1905 Riga. – Dr. med.; Leiter der von ihm gegründeten Wasserheilanstalt24. I. ∞ Riga 22.6.1860 Marie HANNEMANN, † vor 1871. Kinderlos. 5. Franziska Pauline, * 1.11.1852 Riga, † 11.(12.?)8.1919 Freiburg/Breisgau. 6. Josephine („Josi“), * 26.12.1853 Riga, † 18.4.1944 Gut Solec, Krs. Schroda (Posen). ∞ St. Petersburg (St. Annen) 28.7.1874 Andreas Alexander VON MOELLER, * 24.12.1840 Sommerpahlen, † 5.4.1894 Sorrent/Italien, begraben 23.5.1894 Rom. – Besitzer von Sommerpahlen25. Kinder: a) Eva Louise, * 31.3./12.4.1881 Sommerpahlen, † 18.4.1919 Riga, im Lazarett des Zentralgefängnisses. b) Friedrich, * 12.7.1875 Sommerpahlen, † 26.10.1945 Saalfeld/Thüringen. ∞ Dorpat 20.12.1904 Edith Louise Freiin VON STACKELBERG (Kardis), * 14./26.8.1885 Perrist/Livland, † 19.6.1969 Nürnberg. Kinder: aa) Heinrich, * 26.10.1907 Dorpat, † 15.11.1942 „im Osten“ (gefallen). bb) Arved, * 2.11.1918 Dorpat, † 12.4.1942 Portland/England (gefallen). cc) Gustav, * 9.6.1922 Pförten/Sachsen, † 30.12.1943 Shitomir/Sowjetunion (gefallen). 7. Alma Dorothea Wilhelmine, * 25.5.1855 Riga, † 22.7.1917 Dorpat. ∞ Riga 16.8.1879 Ottokar VON RADECKI, * 21.1.1854 Garrosen (siehe Tafel Radecki). ———————————— 24 25

DBBL, S. 415; Album Livonorum, Nr. 359. Album academicum Universitatis Tartuensis, Nr. 7512.

Genealogische Tafel: Radecki und Tideböhl

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8. Helene Emilie Johanna („Emma“), * 18.12.1857 Riga, † 22.9.1926 Rom. – Spätestens 1905 in Rom am Konservatorium; Pianistin in Stuttgart26; ledig. 9. Arnold Johann Heinrich, * 10.4.1860 Riga, † 14.1.1919 Dorpat (erschossen). – Hofgerichtsadvokat; Herausgeber und Redakteur der „Dorpater Nachrichten“27; wohnte Dorpat, Kühnstraße 3. ∞ Riga 16.6.1908 Elisabeth VON RIEKHOFF, * 23.9.1881 Fellin, † 22.6.1932 Dorpat. Kind: Dorothea Franziska Bertha, * 12./25.2.1911 Dorpat, † 5.2.1990 Eferding/Österreich. ∞ Dorpat 29.10.1932 Hermann Gustav VON HIRSCHHEYDT, * 12./ 24.10.1899 Riga, † 17.11.1973 Eferding. 10. Felix Wilhelm Heinrich, * 17.10.1866, † 26.3.1867.

3. Bibliographia Literaria „Ich bin von Natur ein Bücherkäufer.“ Das stetige Werden des Buchfreundes Radecki wird von Jugend an in vielen Phasen greifbar, so dass der Versuch, eine Leseliste für seine frühen Jahre zusammenzustellen, ein lohnendes Ziel sein kann. Radecki verstand sein Bücheransammeln durchaus als eine wichtige Komponente seines Lebens. Sehr deutlich wird das im gefahrvollen Bombenkriegsjahr 1944, als er dem mit ihm befreundeten Professor Carl Muth gestand: „Eine Bibliothek, das ist ja eine Art Biographie – Sie, als Bücherfreund, werden meine Empfindungen wohl verstehen können1.“ In größerer Breite hat er dann seine bibliophile Tendenz in der Skizze „Das Antlitz der Bücher“ dargestellt2. Das Fundament dazu wurde in der Familie gelegt, vor allem durch seinen Vater Ottokar, dessen Geschmack und politische Orientierung bei einigen ———————————— 26 27

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Baltisches Adressbuch 1907, S. 116: Frl. (N.) von Tideböhl; bereits 1905 in Rom. DBBL, S. 793; Album Livonorum, Nr.875. Brief an Carl Muth, Mellenthin, 14.3.1944. RADECKI, Das Antlitz der Bücher, in: Der runde Tag, S. 43–50. Weitere zugehörige Texte sind: In den Bart gemurmelt, in: Kölnische Zeitung, Nr. 421 v. 5.8.1933; Seltene Bücher, in: Das müssen Sie lesen, S. 91–97. In seinen Schweizer Jahren trat Radecki der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft in Basel bei.

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Einleitung

Juvenilia (z. B. Bernstorff, Niemann, Nieritz, Ortleb, Pajeken, auch bei dem im Familienkreis gelesenen Carlyle) greifbar wird. Über einen völlig anderen Impuls berichtet Radecki wiederum selbst: „Durch den Tod eines Großonkels, der Büchersammler war, kam damals ein Teil von dessen wertvoller Bibliothek ins Haus3.“ Den wichtigsten Impuls erhielt er aber während seiner Studienjahre in Freiberg. Darüber schrieb er: „Ich war damals nach Absolvierung des Studiums aus Deutschland gekommen und berichtete Eva von Kierkegaard, Hauptmann, Karl Kraus, Peter Altenberg, Jean Paul, Nestroy, Trakl, Puschkin und Gogol4.“ Diese literarischen Erfahrungen bilden eine wesentliche Komponente des als Briefwechsel mit seiner Schwester geführten „literarischen Duetts“ und sind auch immer wieder in Evas „Logbuch“ anzutreffen. Die folgende „Bibliographia Literaria“, vermehrt um einige Musikwerke, die für den jungen Radecki von Bedeutung waren, ist weniger als Belegfall für eine wie immer begrifflich zu modifizierende Intertextualität zu sehen, sondern versteht sich als eine verlässliche Auskunft zur diachronen Tiefe der frühen Lektüre des späteren Schriftstellers. Die vielfach ergänzend beigefügten Jahreszahlen bei älteren Werken beziehen sich auf das Jahr der Veröffentlichung. ALTENBERG, Peter, Semmering (mehrere Gedichte u. a. m.). AWERTSCHENKO, Arkadi, Satirikon (Zeitschrift). BADER, Franz, Grundzüge der Sozietätsphilosophie, Würzburg 1837. BENN, Gottfried, Gesänge (1913). BERGSON, Henri (Gedichte). BERNSTORFF, Hans Nikolaus Ernst von, Unsere blauen Jungen. Ernstes und Heiteres aus dem Leben der Matrosen unserer Kriegsmarine, Berlin 1899 („mein erstes Buch“). BRENTANO, Clemens (ohne Angaben). CALDERON, Pedro, Die Dame Kobold (1636). CARLYLE, Thomas, Helden und Heldenverehrung (1912). CERVANTES, Don Quixote (1605/15). CHESTERTON, Gilbert Keith, Manalive (1912). CLAUDIUS, Matthias, Ein Lied hinterm Ofen zu singen (1782). DANTE, Die Göttliche Komödie, übers. v. Stefan George, Berlin 1909. DICKENS, Charles, The Pickwick Papers (1836). DÖBLIN, Alfred, Die Ermordung einer Butterblume (1913). ———————————— 3 4

Eva von RADECKI, Logbuch, S. 14. Ebd. S. 29.

Bibliographia literaria

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FEDERMANN, Hertha, Der Schatzbehälter, Königsberg 1909. FLAUBERT, Gustave, Education sentimentale (1869); Un cœur simple (1877). GEORGE, Stefan, Der Siebente Ring, Berlin 1907; Der Stern des Bundes, Berlin 1914. GOECKINGK, Leopold von, Lieder zweier Liebenden (1777). GOETHE, Johann Wolfgang von, Torquato Tasso (1790); Faust I und II (1808/32); Gedichte. GRIEG, Edvard, Peer Gynt (1876). Das grosse Weltpanorama der Reisen. Ein Jahrbuch, 1901 ff. HAUPTMANN, Gerhard, Hanneles Himmelfahrt (1893); Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910). HEBEL, Johann Peter, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811). HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich, Die Wissenschaft der Logik (1812/13). HEYM, Georg, Der ewige Tag, Leipzig 1911. HÖLDERLIN, Friedrich, Patmos (1808). HOMER, Die Odyssee. HUSSERL, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Halle/Saale 1913. JANOWITZ, Franz, Auf der Erde. Gedichte, München 1919. KIERKEGAARD, Søren, Philosophische Brocken, Jena 1910. KLABUND, Dumpfe Trommel und berauschtes Gong. Chinesische Kriegslyrik, Leipzig 1915. KLEIST, Heinrich von, Der zerbrochene Krug (1811). KRAUS, Karl, Die Fackel; Sprüche und Widersprüche (1909); Worte in Versen (1916 ff.); Pro domo et mundo (1919); u. a. m. LASKER-SCHÜLER, Else, Meine Wunder, Leipzig 1911; Hebräische Balladen, Berlin 1913. LICHTENBERG, Georg Christoph, Vermischte Schriften (1800 ff.). LILIENCRON, Detlev von, Gedichte. MACHIAVELLI, Niccolo, Der Fürst (Il Principe) (1532). MAHLMANN, Siegfried August, König Violon und Prinzessin Klarinette, München 1910. MEYRINK, Gustav, Der heiße Soldat und andere Geschichten, München 1903. MOZART, Wolfgang Amadeus, Figaros Hochzeit (1786). NIEMANN, August, Der Weltkrieg. Deutsche Träume, Berlin 1904. NIERITZ, Gustav, Wahrheit und Lüge. Der Galeerensklave, Düsseldorf 1880 (und öfter).

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Einleitung

NOVALIS (ohne Angaben). OFFENBACH, Jacques, Die schöne Helena (1864). ORTLEB, Alexander, Wolfszahn der Siouxhäuptling, Stuttgart 1900. PAJEKEN, Friedrich J., Bill der Eisenkopf, Stuttgart 1899 (und öfter). PAUL, Jean, Titan (1803). POE, Edgar A., The gold bug (1843). PREVOST, Antoine-François, Manon Lescaut (1731). PRUTKOW, Kosma, Aphorismen. PUSCHKIN, Alexander, Gedichte. RAIMUND, Ferdinand, Der Verschwender (1834). REINHARDT, Max, Karle. Diebskomödie, in: Schall und Rauch, Berlin 1901. RILKE, Rainer Maria, Der neuen Gedichte anderer Teil (1908); Malte Laurids Brigge (1910). RING, Signe, Kajakmänner. Erzählungen grönländischer Seehundsfänger, Hamburg 1906. SCHILLER, Friedrich von, Don Carlos (1787). SCHMIED, Rudolf Johannes, Carlos und Nicolas, München 1906. SHAKESPEARE, William, Julius Caesar (1599); Die lustigen Weiber von Windsor (1600/01); König Lear (ca. 1605). STEINER, Max, Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen, Berlin 1908. STIFTER, Adalbert, Hochwald (1842); Hagestolz 1845 (1845); Bunte Steine (1853); Nachsommer (1857). STIRNER, Max, Der Einzige und sein Eigentum (1844). TRAKL, Georg, An den Knaben Elis (1913). TURGENJEW, Iwan, Ein Monat auf dem Lande (1855). VERLAINE, Paul, Green (1874). WERFEL, Franz, Der Gerichtstag (1919). WILDE, Oscar, The Importance of being Earnest (1895); Dorian Grays Bildnis, Minden 1905. WULFF, Margarethe, Tagebuch dreier Kinder oder die zweiundfünfzig Sonntage (1846).

4. Literaturpreise und Ehrungen 17.12.1953, Zürich: Ehrengabe der Stadt Zürich – Literaturkommission Vgl. Sigismund von RADECKI, Das Schwarze sind die Buchstaben, Köln 1957, S. 181.

Literaturpreise und Ehrungen

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27.6.1957, München, Bayerische Akademie der Schönen Künste: Literaturpreis Vgl. Sigismund von RADECKI, Die Dankesrede, in: DERS., Im Vorübergehen, München 1959, S. 187–191. 19.6.1960, Nürnberg: Willibald-Pirckheimer-Medaille Vgl. das Festprogramm zur Verleihung; DLA Marbach, Nachlass Radecki. Vgl. weiterhin die Erinnerungen des Stifters und Vorsitzenden des Pirckheimer-Kuratoriums Karl-Borromäus GLOCK, in: Achtzig Jahre. Begegnungen mit hundert namhaften Zeitgenossen, Heroldsberg 1985, S. 77, mit einer kurzen Skizze zu Radecki. 21.2.1962, Düsseldorf: Immermann-Preis für Literatur Vgl. Rheinische Post v. 22.2.1962; Düsseldorfer Amtsblatt, Nr. 8 v. 24.2. 1962: „Kunstpreise verliehen“ (mit Foto); Düsseldorfer Hefte, Heft 6 v. 16.3.1962, S. 237–239. 24.4.1964, Esslingen: Ostdeutscher Literaturpreis Vgl. Preise, Prominenz, Laudationes. Preisverleihung an ostdeutsche Künstler, in: Eßlinger Zeitung v. 25.4.1964, S. 3 (mit Foto); Zur Eßlinger Begegnung 1964, in: Die Künstlergilde. Ein Rundschreiben für unsere Mitglieder und Freunde, 7.–9. Folge 1964, S. 1–4; Ernst SCHREMMER, Ziel und Bleibe. Eine Anthologie der Künstlergilde, München 1968, S. 329 f. (zur Laudatio von Fritz Martini). Der Preis, verliehen seit 1957, wurde 1965 umbenannt in Andreas-Gryphius-Preis. Frühere Preisträger waren unter anderem Edzard Schaper (1958) und Siegfried von Vegesack (1963). 29.12.1966, Kanton Zürich: Literaturpreis Vgl. Daniel KAMPA (Hg.), Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik, Zürich 2003, S. 201.

5. Zur Edition Vom frühen Briefcorpus Sigismund von Radeckis aus den Jahren 1903 bis 1921 mit 136 Schreiben haben sich bisher nur zehn im Original nachweisen lassen. Fünf davon sind Juvenilia an seine Mutter Alma, die sämtlich in die Zeit von deren Italienreise 1904/05 fallen. Alle weiteren Briefe liegen lediglich in maschinenschriftlicher Abschrift mit zwei Durchschlägen vor. Der Verbleib der Originale ist bisher unbekannt. Fast alle diese Briefe sind auf deutsch geschrieben, abgesehen von fünf Briefen aus den Kriegsjahren 1916 und 1917, davon vier auf russisch und einem auf englisch. Aufbewahrungsort ist

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Einleitung

heute fast durchweg das Westfälische Literaturarchiv in Münster1. Die Originale scheinen mit einer Zählnummer versehen gewesen zu sein, die in den Typoskripten aber nur unvollständig erkennbar wird. Die erhalten gebliebenen Originalbriefe lassen durchweg gut erkennen, dass es wegen Radeckis klarer, großer Handschrift für Lese- oder Abschreibzwecke, anders als bei seinem Vater Ottokar, keinerlei Probleme gab, so dass spätere Abschriften in hohem Maße als verlässlich angesehen werden dürfen2. Von wem oder in wessen Auftrag diese Briefabschriften angefertigt wurden, ist unbekannt. Radecki benutzte grundsätzlich keine Schreibmaschine, ließ, so erforderlich, alles durch wechselnde Schreibkräfte anfertigen. Die meist sorgfältig abgeschriebenen, formal jedoch unterschiedlichen Typoskripte der Briefe lassen erkennen, vor allem bei baltischen Orts- und Familiennamen, dass der Abschreiber mit diesem Raum nur wenig vertraut war. Nahezu alle russischsprachigen Passagen erscheinen nur als Lücken. Nachträgliche handschriftliche Korrekturen sind eher selten. Somit kann eine einhelfende abschließende Redaktion durch Radecki selbst ausgeschlossen werden. Den Originalbriefen waren bisweilen Abbildungen oder Fotos beigelegt, die in den Typoskripten allesamt fehlen, jeweils angedeutet durch „[fehlt]“. Nur vereinzelt sind diese Bilder im Radecki-Nachlass nachweisbar (z. B. zum Nordclub in Freiberg, zum Besuch des Vaters Ottokar in Berlin). Bisher gibt es nur wenige Hinweise zur Geschichte der Textüberlieferung. Einiges weiß man allerdings über den Weg, wie die Briefe an Sigismunds Schwester Eva von Radecki nach deren Tod in Estland schließlich zurück in seinen Besitz kamen. Man kann sicher davon ausgehen, dass zunächst alle Nachlassenschaft Evas in Estland an Sigismunds Tante Josephine von Moeller nach Jerwen auf Gut Sommerpahlen gelangte. Sie besorgte dann entweder persönlich bei mehreren Reisen von Estland nach Deutschland oder durch Postsendungen die Weitergabe an Sigismunds ältere Schwester Alma von Grimm. So heißt es in einem ihrer Briefe: „[Ich] fand so liebe Briefe von Euch

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Münster, Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt für Westfalen, Bestand 1011, Nachlass Radecki, Nr. 24, besonders 24.5 und 24.6. Sigismund änderte seine Art zu schreiben im Alter von etwa 14 Jahren, danach blieb sie unverändert. In einem Brief an seine Mutter Alma v. 21. oder 27.3.1905 schrieb er dazu: „Ich hab mir nähmlich meine Handschrift verändert“; Edition, Nr. 15. Die ältere Form ist noch in einem original überlieferten Brief v. 17.2.1905 zu erkennen; Edition, Nr. 14. Dass er die während seiner Schulzeit erreichte Schriftqualität auch in späten Jahren noch goutierte, lag an seinem großen Interesse an Kalligraphie bis ins hohe Alter.

Zur Edition

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allen aus alten lieben Zeiten; auch aus der Schreckenszeit [in Riga]3.“ Spätestens nach dem Tode ihres Ehemanns Werner von Grimm 1956 gelangten unbekannte Teile von dessen Nachlass, soweit es Familienpapiere waren, an Sigismund nach Zürich, nach seinem Umzug schließlich nach Gladbeck. Nach Sigismunds Tod wurden sie dort zunächst durch die Nachlassverwalterin Ruth Weilandt-Matthaeus übernommen. Seit Sommer 2003 gelangten sie als Teilnachlass in das Westfälische Literaturarchiv in Münster, wo sie heute zugänglich sind4. Völlig unklar ist bisher, ob sich vielleicht anderweitig Familienbriefe aus jener Zeit erhalten haben, denn das Schicksal von Radeckis eigenem (Brief-) Archiv und seiner Bibliothek, die sich beide nach seinem Umzug 1941 von München auf Schloß Mellenthin (Usedom) befanden5, ist unbekannt. Zur Bibliothek schrieb Radecki im Jahr darauf an seinen Freund Max Stefl in München: „Infolgedessen habe ich beschlossen, auch meine bei Ihnen stehenden Bücher hierher zu transportieren6.“ Und 1944 ließ er Carl Muth wissen: „So konnte ich meine doppelt und dreifach vollgestellten Regale entlasten und zum ersten Mal seit 15 Jahren meiner Bibliothek ins Angesicht sehen. Eine Bibliothek, das ist ja eine Art Biographie7.“ Es gibt zu dieser Privatbibliothek bisher einzig ein handschriftliches (Kurz-)Verzeichnis, angefertigt unmittelbar nach Radeckis Flucht 19458. Darin benennt er neben umfangreichen Bücherlisten auch „Manuskripte“, die für die Frage nach den Familienbriefen wesentlich sind: ———————————— 3 4

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Brief Josephine von Moellers aus Jerwen an Alma von Grimm v. 18.2.1926. LWA Münster, Bestand 1011, mit mehrseitigen Angaben der Sichtung und Vorordnung. Die Unterzeichnung des Depositalvertrages zwischen Ruth Weilandt-Matthaeus und dem WLA erfolgte Anfang Dezember 2003: https://www.lwl.org/literaturkommission/alex/ index.php?id=00000003&letter=R&layout=2&author_id=00000812. Zum Hintergrund siehe RADECKI, Die verlorenen Bücher, S. 10–15 (erstmals in: Neue Zürcher Zeitung v. 22.1.1948). Radeckis Versuche zur Wiedererlangung seiner Bibliothek blieben ohne Erfolg; Bundesarchiv, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), Akte 628: Gesuch Siegmund [!] von Radecki an den Präsidenten der Zentralverwaltung für Volksbildung vom 13.6.1946 auf Freigabe seiner Privatbücherei. Brief an Max Stefl, Mellenthin v. 14.7. und 7.8.1942; München, Stadtbibliothek, Monacensia, Sammlung Max Stefl. Brief an Carl Muth v. 14.3.1944; München, Bayerische Staatsbibliothek, Nachlaß Carl Muth, Ana 390-II-A. Diese Übersicht ist als „Bibliothek S. v. Radecki, Bl. VI“ enthalten in einem Teilkonvolut aus dem Nachlass der mit Radecki befreundeten, damals in Hamburg-Aumühle wohnhaften Emilie („Milli“) Bau, zu der Radecki 1945 geflohen war; MOB Herne, Arbeitsstelle Sigismund von Radecki. Wichtige Ergänzungen enthält ein Brief Radeckis aus der Schweiz an Milli Bau v. 27.5.1947.

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Einleitung

– Eva v. Radecki: 1 Kästchen Briefe; Tagebücher (maschinenschr., 5 Bde.; Novellen, Gedichte, gedruckt). – Ottokar v. Radecki: 1 Päckchen Briefe. – Familiendokumente; Familienchronik der Familie v. Radecki. Möglicherweise gab es zu den Tagebüchern Evas noch weitere Abschriften und Durchschläge, die später die Grundlage für das von Sigismund herausgegebene „Logbuch“ bildeten. Mehrere Briefe des Vaters Ottokar haben sich erhalten9. Welche Teile von diesen Manuskripten gegebenenfalls später wieder zurück an Radecki kamen, ließ sich bisher nicht feststellen. Sigismund von Radeckis frühe Briefe waren lange Zeit unbekannt und sind daher auch gar nicht berücksichtigt worden. Eine erste Nutzung erfolgte 2011 im Rahmen einer Zusammenstellung und Kommentierung von Radeckis Gedichten10. Hans Dieter Schäfer hat 2014 in einem ausführlichen Anhang zu den von ihm wiederentdeckten frühen Prosastücken Radeckis eine gute Auswertung der biographisch und literarhistorisch aufschlussreichen Briefe vorgelegt11. Zeitlich gliedern sich Sigismund von Radeckis Familienbriefe in fünf Phasen: Schulzeit in St. Petersburg (1903–1909), Studium in Freiberg/Sachsen (1910–1913), wechselnde Hauslehrerstellen in Russland (1914–1918), Militärzeit in der Baltischen Landeswehr (1918–1919) und abschließend die ersten Jahre in Berlin bis zum Tode sowohl der Schwester Eva wie des Vaters Ottokar (1919–1921). Die Briefe zeigen eindrücklich das geistige Fortschreiten Radeckis von einem wachen, interessierten Kind hin zu einem begabten jungen Mann, dessen spätere literarische Laufbahn man zu erahnen vermeint. Gleichzeitig geht das deutschbaltische Milieu, in dem er aufwuchs und dem er sich verbunden fühlte, samt seiner Familie unter. Diese gegenläufige Entwicklung verleiht der vorliegenden Ausgabe ihr besonderes, charakteristisches Gepräge. So stehen die durchweg sehr persönlich gehaltenen Briefe, unabhängig von ihrer Bedeutung als historische Familienpapiere, für den Anfang von Radeckis Tätigkeit als Schriftsteller, dem ein selbst abverlangter „Stilzwang der gedrängten Kürze“ eigentümlich wurde. Wie er später schrieb, bezweckte er mit seiner Schreibweise „kein Arrangement mit dazugegebenen Senfsaucen, kein Garnieren mit Lesefrüchten und adjektivischem Beigemüse, keine Marzipankartoffeln und Falschen Hasen – sondern die Sache selbst, der Tatsachen———————————— 9 10 11

Heute im WLA Münster. ERPENBECK, Geschichten von Gedichten. RADECKI, Stimme der Straße.

Zur Edition

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Extrakt, dargeboten in bündiger Gefechtssprache“12. Exemplarisch für diese deutlich stilistische Orientierung kann sein frühes Diktum stehen, in dem er seine Schwester Eva wissen ließ: „So dichten jetzt die Jungens in Deutschland. Verdammte boys! was13?“ * Der Editionstext folgt in der Regel strikt den hand- und maschinenschriftlichen Vorlagen. Handschriftlich nachgetragene Korrekturen in den Typoskripten wurden unkommentiert berücksichtigt. Offensichtliche Schreiboder Tippfehler (z. B. „Költe“, „Lorgen“, „Jannen)“ werden als „verlesen“ angegeben. Nur wenige Wortergänzungen schienen erforderlich und sind durch Klammerung […] markiert. Kürzungen erfolgten bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht und sind gegebenenfalls angegeben. Bei den Originalen wurde die Interpunktion beibehalten, bei den Typoskripten erfolgten unkommentiert sinnerforderliche Modifikationen. Die Datierungen sind durch entsprechende Angaben in den Briefen weitgehend gesichert; in allen anderen Fällen wurde die zeitliche Einordnung durch vorangestellte Hinweise erläutert. Mit Hilfe der Kommentierung von historischen Sach- und Personenbezügen soll der damalige individuelle Erlebnisraum der Briefpartner für einen heutigen allgemeinen Verständniszusammenhang zugänglich gemacht werden. Zur Verdeutlichung von Einzelaspekten des Familienlebens wurden den 140 Briefen Sigismund von Radeckis 19 Schreiben anderer Familienmitglieder und diverse weitere Dokumente angeschlossen. Bei den Briefen Eva von Radeckis liegen, anders als bei jenen ihres Bruders Sigismund, Originale und Transkriptionen vor, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Westfälischen Literaturarchiv Münster aufbewahrt werden. Für den Soldatentod von Sigismunds Bruder Wilhelm wurden Unterlagen zu seiner Todeserklärung von 1918 aufgenommen, ergänzt um den Auszug aus einem Brief des Vaters Ottokar vom 8.9.1914. * Es ist bekannt, dass Sigismund von Radecki noch zuletzt in seiner Gladbecker Zeit beabsichtigte, etwas Autobiographisches mit dem Titel „Alle

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RADECKI, Altes vom Büchertisch, erstmals in: Frankfurter Zeitung v. 20.9.1942, S. 4. Brief an Eva v. 4.11.1911; Edition, Nr. 62.

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Einleitung

Schauplätze meines Lebens“ zu schreiben, obwohl er eigentlich davon ausging: „Ach, das steht doch alles in meinen Büchern14.“ Die hier vorgelegte Briefedition wäre für ihn sicher ein vorzüglicher Ausgangspunkt dabei gewesen. Möge einer der prägnanten, oft auch deutlich einladenden Buchtitel von Radeckis Veröffentlichungen für geneigte heutige Leser daher als seine persönliche, freundlich zunickende Aufforderung verstanden werden: „Das müssen Sie lesen15!“

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Brief Ruth Weilandt-Matthaeus’ an Ursula Ackermann v. 20.1.2001. RADECKI, Das müssen Sie lesen. Die Skizze erschien seit 1941 mehrfach in verschiedenen Zeitungen und Sammlungen.

Sigismund von Radecki Familienbriefe 1903–1921

Briefe Sigismund von Radeckis Nr. 1 Sigismund an seinen Bruder Wilhelm

[Riga, November 1903?]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Die undatierte Abschrift ist als Blatt 1 in die Sammlung der Briefe eingeordnet. Wegen Sigismunds Geburtstag am 7./19.11. ist als Datum November anzusetzen. Wilhelm befand sich damals wahrscheinlich in St. Petersburg.

Lieber Willi! ich habe zu meinem Geburtstag sehr viel Geschenke gekriegt1. Ich werde sie Dir alle aufzählen. Zwei Packen allermodernstes Briefpapier, eine große Laubsäge, dann 3 Bücher, das größte ist „Bill der Eisenkopf“2, das 2. ist beinah so groß wie „Bill der Eisenkopf“ und heißt „Wolfszahn der Siouxhäuptling“3, dann auch ein großes Buch mit 3 Geschichten: „Der Galeerensklave“, dann „Der Schmied von Rula“; dann „Wahrheit und Lüge“ 4. Dann habe ich noch masse anderer Sachen 2 Fegerstiche5. Nun aber ade lieber Willi, ich gehe jetzt. [Rest fehlt.] Dein Dich liebender Sisi

Nr. 2 Sigismund an seine Schwester Alma

[St. Petersburg], 4.4.1904

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Nr. 1 1 Sigismunds Geburtstag war der 7./19.11.1891. 2 Friedrich J. PAJEKEN, Bill der Eisenkopf. Eine Erzählung aus dem Westen Nordamerikas, Stuttgart 1899 (und öfter). 3 Alexander ORTLEB, Wolfszahn der Siouxhäuptling. Eine Erzählung aus dem wilden Westen Nordamerikas, Stuttgart 1900. 4 Gustav NIERITZ, Wahrheit und Lüge. Der Galeerensklave. Der Schmied von Ruhla. Drei Jugenderzählungen, Düsseldorf 1880 (und öfter). 5 Vielleicht verlesen für „Federstiele“; siehe Brief v. 25.12.1904; Edition, Nr. 10.

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Familienbriefe 1903–1921

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Micko! Ich wollte Dir immer wieder schreiben, aber es wurde nichts draus! Seitdem Du fort warst, habe ich so sehr viel erlebt. Wir bekamen unsere Zensuren eine Woche vor den Ferien. Heute (4. April) war Mathildes Hochzeit. Wir waren mit Mami, Eva und A. P.1 dort. Die Braut war sehr hübsch! Aber sie lachte die ganze Zeit und beträufelte sich mit Stearin. (Sie mußte nämlich während der Zeremonie ein Licht halten.) Wolodja2 war Brautschaffer3 und er und Ilja trugen die Schleppe, wobei sie mehrere Mal drauf trat. Morgen müssen wir (leider) in die Schule gehen. Ich wollte Dir eine kleine Beschreibung der Trauung geben. Es grüßt Dich herzlich Sisi P. S. Madame D. war während der Trauung nicht in der Kirche. Ich kann nicht mehr schreiben, weil die Uhr schon 10 ist. Mit herzlichen Grüßen schickt Willi Dir unser Haus und den Eisbrecher Jermak4 (der augenblicklich hier ist) [Bilder fehlen]. Bitte Antwort!

Nr. 3 Sigismund an seinen Vater Ottokar

[Arensburg/Ösel, Sommer 1904]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi1!

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Nr. 2 1 Aline Pawel, Hauswirtschafterin bei Radeckis in St. Petersburg, zu der noch 1917 Kontakt bestand; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 312. 2 Wolodja Denissewitsch; siehe Brief v. 18.10.1904; Edition, Nr. 6. 3 Brautführer. 4 Die Ermak, gebaut 1898, begleitete die nach Ostasien auslaufende russische Flotte 1904 bis zum Erreichen der Ostsee; Revaler Zeitung, Nr. 293 v. 19.12.1909. Nr. 3 1 Der Vater Ottokar lebte damals in St. Petersburg.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Unsere Reise verlief ganz gut2. Ich wachte um 4 Uhr auf und blieb bis Reval munter. Kurz vor Reval kam der Schaffner zu uns und sagte, daß wir, wenn wir nach Baltischport wollten, umsteigen müßten. In Petersburg kamen auf einmal 4 Herren und zeigten ein Billet auf unser Coupee. Es stellte sich heraus, daß sie Billete in der Stadt genommen hatten und die Stadt hatte vergessen, die Bahnverwaltung davon zu benachrichtigen. Sie fanden Platz nebenan. Wir tranken in Reval gemütlich Kaffee, bis der Zug vorfuhr. Bis nach Baltischport ging alles glücklich. Dort stand schon der kleine Constantin3. Mami nahm 2 Billete, I-ter und 3 II-ter (für die Jungen). I-ter Klasse war es sehr geräumig und gut. In der II-ten war es auch gut, nur daß dort keine gute Luft war. Wir aßen in der I-ten. Gleich, als wir das Schiff betraten, wurde zum Essen geklingelt. Wir stachen in See. Die Seekrankheit hatten wir alle nicht, nur mir wurde etwas übel. Es waren so wenig Passagiere in der I-ten, daß Willi und ich ruhig dort schlafen konnten. Wir sahen Schildau4 und viele Leuchttürme und kleine Inseln. Vor Kuiwacht5 kam an uns der Dampfer Rjurik6 vorbei. In Kuiwacht kamen zwei Seeoffiziere zu uns, 1 Kapitain II-ten Ranges und 1 Midchipman7. Von Kuiwacht bis Arensburg, wo wir um 4 Uhr ankamen, schlief ich. Dort nahmen wir zwei Zweispänner und fuhren nach Jorri8. Das war unsere Reise (verzeih die schlechte Schrift, ich hab so lange nicht geschrieben). Dein Sisi

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In der Erzählung RADECKI, Der Fliegende Holländer, in: Schraubendampfer Hurricane, S. 101 ff., beschreibt er eine Dampferfahrt, bei der er „kaum 13 Jahre alt“ war, die somit auf 1904 zu datieren ist. Das Rigaer Dampfschiff Constantin war eine Schiffsverbindung zwischen Riga, Arensburg, Hapsal und Baltischport. RADECKI, Brisenglück, in: Wie kommt das zu dem, S. 13, erwähnt: „der Große Constantin war das größte, was ich überhaupt kannte, nämlich der Dampfer, mit dem wir alle übers Meer hierher gefahren waren“. Insel im Mohn-Sund. Wahrscheinlich der Ort Kuiwast auf der Insel Mohn, der eine eigene Schiffsanlegestelle hatte. Panzerkreuzer Rurik, Flaggschiff der baltischen Flotte. Midshipman. Verlesen für „Torri“. Eva schrieb am 28.5.1904 aus „Torri“ einen Brief an ihren Vater, worin sie über ihren Badeaufenthalt (Schlammbäder usw.) berichtet; ebenso liegt ein Brief Willis aus Arensburg vor. Es wird sich somit um den heutigen Arensburger Vorort Tori handeln.

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 4 Sigismund und Wilhelm an ihre Mutter Alma St. Petersburg, 2.10.1904 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Liebe Mammi! Denk doch Pappi hat mir einen Palto1 gekauft, einen strammen [?]. Ich habe im französischen Extemporale2 3x gekriegt. Aliin P.3 kommt jetzt jeden Tag zu uns und führt die Wirtschaft. Heute Sonntag fahren Pappi, Willi und ich nach Gatschina in den Wildpark4. Denk doch bei meinem grauen Anzug ist ein Ellbogen durch, Pappi läßt mir einen neuen aus seinem Grauen machen. Das Wetter ist grausvoll. Schreib mir bitte recht bald und grüß die beiden Schwestern5! Mit Gruß und Kuß Sisi Liebe Mammi6! Gestern kam Herr Reimers zu uns, er gibt sehr gute Stunden. Mit was für einem Gefühl fuhrt ihr über die Grenze. Wie gefällt es Euch überhaupt in Wien. In Petersburg ist das Wetter sehr gut, und wir wollen etwas unternehmen. Leider habe ich keine Zeit und muß schließen. Es grüßt Euch Willi ————————————

Nr. 4 1 Paletot. 2 Unangekündigte schriftliche Arbeit. 3 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 4 Zarenresidenz und Landschaftspark, 40 km südlich St. Petersburg. 5 Die Mutter befand sich mit den Töchtern Alma und Eva auf einer mehrmonatigen Reise über Wien nach Italien; vgl. die Einleitung zu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 20–22. 6 Weiterhin existiert das Typoskript eines Briefes von Wilhelm an seine Mutter und die beiden Schwestern v. 21.10.1904: „Ich habe scharf zu arbeiten; ich fang schon an, mich an die Katharinenschule zu gewöhnen; wenn man mir das jetzige Leben der alten Annenschule erzählt, so merk ich erst, wie sehr ich mich an die Annenschule gewöhnt habe; und ich habe dann so ein Gefühl, welches man mit Heimweh vergleichen könnte. Ich kannte ja auch so gut alle Schüler, mit denen ich 4 Jahre zusammen gelebt habe.“

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 5 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 27.9.[1904]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Das Datum vom 27.10. im Brieftext weicht ab.

Liebe Mammi! Weshalb hast Du meinen Brief nicht geantwortet? Wir haben [es] hier sehr gemütlich. Pappi hat uns ein Buch gekauft, wir lesen es gemeinschaftlich. Es heißt: „Der Weltkrieg, deutsche Träume“1. Es ist sehr interessant. Herr Trofimow2 gibt jetzt Nachhilfestunden, ich werde auch welche nehmen. Wir (die IV. Classe) haben einen Fußballklub gegründet; das heißt 20 Schüler unserer Klasse. Jeder Junge muß einen ½ Rbl. Eintrittsgeld zahlen. Mit diesen Geldmitteln wird von einer besonderen Kommission ein Fußball angeschafft. Er kostet ungefähr 8 Rubel. Wir werden im Sommergarten spielen, es ist dort ein besonderer Platz. Pappi hat mir erlaubt einzutreten unter der Bedingung, daß wir den Direktor um Erlaubnis zur Gründung des Vereins bitten. Wolkowski ist zum Rechenführer ernannt worden. Heute, den 27 October (bei euch natürlich den 10 October) ist bei uns herrliches Wetter, und das Barometer steigt immer mehr. Was für ein Wetter habt Ihr? Bei Trofimow geht es mir verhältnismäßig gut, ich hab noch keine 2 gekriegt. Pappi hat mir neue Stiefel geschenkt. Ich vermisse Euch. Wir lernen grad eben die Alpen, in denen Ihr jetzt seid. Ihr wohnt ja an der Etsch3. Um baldige Antwort bittet dein Sohn Sisi

Nr. 6 Sigismund an seine Mutter Alma

[St. Petersburg, 18.10.1904]

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Nr. 5 1 August NIEMANN, Der Weltkrieg. Deutsche Träume, Berlin 1904. 2 Ein Michael Trofimow war schon 1884 Lehrer an der Annen-Schule; Gedenkbuch für den Direktor der St. Annenschule Julius Kirchner (1884) im Archiv der Deutsch-Baltischen Genealogischen Gesellschaft Darmstadt; auch Rigasches Adreßbuch 1904, hg. v. Adolf RICHTER, Riga 1904, s. v. „Trofimow“. 3 Zwischenstation auf der Italienreise der Mutter.

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Familienbriefe 1903–1921

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mammi! Heute ließ Papi uns Fliegen fangen und bezahlte für jede 1 Kop. Ich kriegte 110 C., Willi 300. Papi war ganz erstaunt. Aline P.1 ist heute ganz krank, sie hat Migräne. Wir haben hier nicht gutes Wetter. Unserm Klub gehören über 18 Mitglieder an2. Im Griechischen und Lateinischen geht es mir nicht sehr gut. Wir reiten wieder bei Karew3. Wir werden jetzt ein neues Buch lesen, der „Weltkrieg“ ist beendet4. Heute ist hier Illumination (5./18. October)5. Wolodja Denissewitsch hat uns besucht. Ich nehm jetzt kein Privatturnen, Papi sagt, es sei nicht nötig, seitdem ich Fussball spiele. Denk, in der Katharinen-Schule wird eine neue Schulordnung herausgegeben. Wir haben 6 weitere Nummern von der Zeitschrift des Grafen Reventlow über den Ost-Asiatischen Krieg und über die Japaner6. Es ist sehr interessant. Denk doch, wir haben Eure Karten und Eure Postsendungen ausser den Kastanien nicht erhalten. Papi hat sich ein Opernglas gekauft. Wir waren vorgestern im Zirkus – fein, sag ich Dir! Dressierte Seelöwen balancierten Kugeln und Hüte; Akrobaten, Trapezkünstler. Es bittet um Antwort und grüßt Dich und die Schwestern Sisi P. S. Alle Briefe, die ich geschickt habe, gelten natürlich Euch Dreien7.

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Nr. 6 1 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 2 Der neugegründete Fußballclub. 3 Dazu RADECKI, Begegnungen mit Pferden, in: Wie ich glaube, S. 88: „Uns fehlte der Schliff, und den sollten wir ganz privat an der Offiziers-Kavallerieschule in Petersburg bekommen. Denn mein Vater war befreundet mit deren Leiter, Baron Mannerheim, dem jetzigen Grafen; das heißt, er hatte nur die Oberaufsicht, während die Kleinarbeit Wachtmeister Karjóff besorgte.“ 4 Siehe Edition, Nr. 5 Anm. 1. 5 Wohl im Zusammenhang der Illumination zum zehnten Jahrestag der Thronbesteigung Zar Nikolaus’ II.; Rigasche Rundschau, Nr. 240 v. 22.10.1904. 6 Ernst Graf zu Reventlow (1869–1943). Die Zeitschrift ist wahrscheinlich: Überall. Illustrierte Zeitschrift für Armee und Marine. 7 Die Mutter und die Schwestern Alma und Eva.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 7 Sigismund an seine Mutter Alma

[St. Petersburg], 3.11.1904

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mami! Denk, wir haben zwei Feiertage: den 21. October und den 22. Ich hab mir Aquarellfarben angeschafft. Heute geht Papi in den Balten-Abend. Wir haben eine neue Köchin. Sie heißt „Mama“. Heute machte sie die ersten Speisen. Die Suppe war versalzt worden. Heute hatten wir 4 Grad Kälte. Willi hat eine neue Wintermütze gekriegt. Solche Facon [Zeichnung fehlt]. Mir wird eine neue aus den beiden alten gemacht. Solche Facon [fehlt]1. Am neuen Hause an der Ecke des Katharinen-Kanals und des Newski wird das Gerüst abgenommen. Die Vetter waren bei uns. Heute war ich mit Willi im Marinemuseum. Es grüßt Euch alle Sisi Donnerstag, den 21.10./3.11.

Nr. 8 Sigismund an seine Mutter Alma

[St. Petersburg], 25.11.1904

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mami! Ich danke Euch sehr für die Geschenke1. Von Papi kriegte ich zwei schöne, dicke Bücher. Sie heißen „Das Weltpanorama“2, „Die Verkehrsmittel der ————————————

Nr. 7 1 In einem Brief Wilhelms vom gleichen Tage heißt es: „Sisi kriegt eine Wintermütze aus seiner und meiner zusammen. Mir hat Pappi eine neue gekauft. Heute geht Pappi zum Rigenserabend. Die alte Anna ist weggegangen; und wir haben eine Russin.“ Nr. 8 1 Geburtstagsgeschenke zum 19.11.1904. 2 Wahrscheinlich: Das grosse Weltpanorama der Reisen. Abenteuer in Wort und Bild. Ein Jahrbuch, seit 1901.

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Familienbriefe 1903–1921

Erde“. Beide sind sehr interessant. Von Willi kriegte ich einen schönen Spiegel; von A. P.3 Zeichenmaterialien. Großmama schenkte mir einen Papierrubel. Ausserdem kriegte ich noch von Papi: eine neue „Griechische Schulgrammatik“, eine Stahluhrkette, einen Rubel. Von Tante Josi4 erhielt ich eine Karte, worin sie uns einlud, zu Weihnachten doch nach Jerwen5 zu kommen. Papi hat uns beiden erlaubt, am ersten Feiertage zu fahren und dort acht Tage zu bleiben. Er will mir auch eine Flinte kaufen in Riga, er hat sich schon darüber bei einem Herrn erkundigt. Einläufiger Lonuaster6 mit Zentralfeuer. Es soll sehr weit schießen. Der Büchsenschmidt heißt Niclas7! Morgen muß ich erst um zehn zur Schule. Unsere neue Köchin kocht gut. A. P. hat mir 3 Hemde gekauft. Wir haben einen neuen Schüler. Das Messer gefällt mir sehr. Ich habe bei Trofimow8 schriftlich eine 4 bekommen. Im Lateinischen geht es mir aber nicht gut. Zum Geburtstag kriegte ich einen Kuchen, einen gelben Kringel und Chokolade. Diesen Freitag wird Herr Armitstead9 zu uns aus Riga kommen. Es erscheinen hier viele neue Zeitungen. Eine heißt: [fehlt]. Willi ist schon schlafen gegangen, adieu! Euer Sisi

Nr. 9 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 19.12.1904

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mammi!

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6 7

8 9

Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. Josephine von Tideböhl, verheiratete von Moeller, Schwester von Sigismunds Mutter. Jerwen am Waggula-See, Beigut und Witwensitz von Gut Sommerpahlen, wo Josephine wohnte. Am 21.12.1904 schreibt die „Amme Nänna“ aus Sommerpahlen an Wilhelm und Sigismund, dass beide erwartet würden. Wohl verlesen für „Lancaster“. Büchsenschmiedemeister J. Nicklas, Riga, Marstallstr. 18, auch Firma für Jagdwaffen; dazu Rigasche Rundschau, Nr. 179 v. 18.8.1905. Siehe Edition, Nr. 5 Anm. 2. George Armitstead (1901–1912), Stadthaupt von Riga; dazu die Meldung: „Das Stadthaupt von Riga, Herr George Armitstead begiebt sich mit dem heutigen Abend-Schnellzug in Amtsangelegenheiten nach St. Petersburg“; Rigasche Rundschau, Nr. 257 v. 11.11.1904.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Wir werden wahrscheinlich Mittwoch Zensur haben. Am [fehlt] werden schon Jannen1 verkauft. Wir hatten Sonnabend 18 und heute 13 Grad Kälte. Weil es mir im Griechischen und Lateinischen nicht gut geht, hat Papi beschlossen, mich in die Real-Abteilung der Katharinen-Schule, von Weihnachten ab, zu schicken. Englisch kann ich in den Weihnachts-Ferien lernen. Papi wird in den nächsten Tagen mit Pantenius2 sprechen. Zu Weihnachten bleiben wir hier. Ich werd’ einen neuen Anzug kriegen. Wir haben schon seit einigen Tagen Sonnenschein. Könnt Ihr mir nicht auch einen Brief schicken, ich hab so lange keinen gekriegt. Unser Ordinarius, Masing3, hat am 2. Januar seine Silberhochzeit. Die Klasse hat für ihn eine Adresse gekauft. Sie kostet 40 Rubel. Eine Ledermappe, ein silbernes Monogramm und ein hübsches Bild mit lateinischen Hexametern, die ein Schüler ihm vorlesen wird. Hier gastiert Isidora (spr. Aßidora) Duncan4. Die beiden Konzerte der Patti haben ungefähr 25.000 Rbl. Reinertrag gegeben5. In Baku ist großer ArbeiterStreik6. Willi hat das englische Examen glänzend bestanden: schriftlich 5–!, m[ündlich] 4! Meine Zensur wird wahrscheinlich nicht gut ausfallen. Könnt Ihr uns nicht einige Blätter u. so was aus Capri schicken, es ist so interessant. Ein fröhliches Weihnachtsfest wünscht Euch Sisi St. Petersburg, le 19 Dec.

Nr. 10 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 25.12.[1904]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original. ————————————

Nr. 9 1 Wohl verlesen für „Tannen“. 2 Heinrich Theodor Pantenius (1865–1935), 1904–1918 Direktor der Katharinen-Schule, 1919–1928 Schuldirektor in Dorpat; DBBL, S. 577. 3 Ferdinand Masing (1849–1918), Dr. phil., Oberlehrer an der Katharinen-Schule, ∞ Olga Krannhals; Deutsches Geschlechterbuch 79 (1933), S. 343. 4 Berühmte amerikanische Tänzerin (1878–1927). 5 Adelina Patti (1843–1919), spanische Sopranistin. Es handelte sich um Wohltätigkeitskonzerte für das Rote Kreuz; Düna-Zeitung, Nr. 290 v. 21.12.1904. 6 Massenstreik der Arbeiter, 13.–31.12.1904.

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Familienbriefe 1903–1921

Liebe Mammi! Gestern feierten wir Weihnachten. Es war sehr gemütlich. Pappi schenkte mir: Eine Flinte1, Pantoffeln, ein Portefeuille, einen Anzug. A. P.2: ein seidenes Taschentuch, einen Slips. Willi bekam (von Pappi): ein Portefeuille, eine lederne Jacke, ein Paar Pantoffeln, ein Paar Stiefel; von A. P.: ein Taschentuch und einen Slips. Pappi bekam von mir: 5 Dztd. Federn mit dicker Spitze; von Willi 2 dicke Buntstifte. A. P. bekam von Pappi: 2 Scheeren, Briefpapier, Blumen, ½ Dztd. Messer und Gabeln; von mir: einen Leuchter; von Willi: eine Seifen- oder Zahnpulver-Dose. Außerdem gehen wir Montag mit Pappi ins Alexandra-Theater. Es wird „Mesjac v derevne“ von Turgenjew3, gegeben. Willi hat eine sehr gute Zensur gekriegt. Wir haben heute 15 Grad Kälte. Pappi hatte uns gestern eine Bowle gemacht. Ich lerne bei Willi Englisch. Die Ferien dauern bis zum 7benten. Sehr vielen Tageszeitungen ist der Einzelverkauf verboten worden. Wir waren schon zweimal auf der Schlittschuhbahn. Am Weihnachtsabend waren wir in der Annenkirche. Es predigte Bischof Freifeldt4. Willi schenkte mir, und ich schenkte Willi, einen Federstiel. Pappi hat mit Pantenius5 gesprochen; ich kann nach Weihnachten ohne Examen (außer dem Englischen) in die Katharinen-Schule. Ich habe eben Pappi ins Bett gelegt. Nun Adieu, ich weiß wirklich nicht mehr was ich schreiben soll. Sisi St. Petersbourg le 25 Decembre

Nr. 11 Sigismund an seine Mutter Alma

[St. Petersburg, Januar 1905]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original. ————————————

Nr. 10 1 Erwähnung dieser Jagdflinte auch in: RADECKI, Aufsatz des 37. Schülers der III. Klasse, in: Im Vorübergehen, S. 62. 2 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 3 Iwan TURGENJEW, Ein Monat auf dem Lande (1855). 4 Conrad Freifeldt (1847–1923), 1880–1910 an der St. Annen-Kirche, 1896 Bischof; AMBURGER, Pastoren Rußlands, S. 317. 5 Siehe Edition, Nr. 9 Anm. 2.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Zur Datierung: Wegen des Hinweises auf einen großen Skandal auf dem Newsky und des bereits vergangenen Weihnachtsfestes wird als Schreibdatum der Januar 1905 angenommen.

Liebe Mami! Papi hat mir eine Flinte geschenkt. Eine einläufige, Kaliber 16. Sie ist sehr leicht. Dies ist das Bild von ihr [Zeichnung]. Sie soll sehr weit schießen und ist von J. Niklas1 in Riga. (Der Lauf ist aus Lüttich). Sie läßt sich sehr leicht auseinandernehmen. Sie ist viel leichter als Willis. Bei uns ist furchtbarstes Tauwetter. Unser Ordinarius, Herr Masing2, fehlt. Er hat Gallenstein. Bei uns hat man einen Jungen aus der Schule herausgeschmissen. Wir waren vorigen Sonntag im Konservatorium. Es wurde eine Oper „Русалка“3 gegeben. Es war sehr schön. Ich hab mir einen neuen Ping-Pong-Schläger gekauft4. Ist es bei euch kalt? Vorigen Sonntag war ein großer Skandal auf dem Newsky5. Vom Hause Ecke des Katharinen-Kanals und des Newsky ist das Gerüst abgenommen, es sieht fein aus, polierter Granit. Ich hab für die Schule nicht besonders viel zu arbeiten, weil zwei Lehrer fehlen. Adieu! Es grüßt Euch alle Sisi

Nr. 12 Sigismund [an seine Mutter Alma und seine Schwestern Alma und Eva] St. Petersburg, 12.1.1905 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Briefkopf und Anrede fehlen.

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Nr. 11 1 Siehe Edition, Nr. 8 Anm. 7. 2 Siehe Edition, Nr. 9 Anm. 3. 3 Rusalka, Oper von Alexander Dargomyschsky, die 1904 in St. Petersburg mehrfach aufgeführt wurde. 4 Sigismund hatte bereits 1901 ein Tischtennisspiel geschenkt bekommen. Über seine spätere Spieltechnik äußert er sich ausführlich in: Ping-Pong, in: Rigasche Rundschau, Nr. 47 v. 28.2.1931. 5 „Petersburger Blutsonntag“ am 9./22.1.1905 auf dem Newsky-Prospekt.

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Familienbriefe 1903–1921

Papi hat mir ein Reißzeug geschenkt. Es ist fein. Hier ist großer Streik1. Ungefähr 300.000 Arbeiter. Ich will Dir die Skandale nicht länger erzählen, da Papi Euch wahrscheinlich alles schreiben wird. Nur neues: als wir von der Beerdigung von A. P.’s2 Tante zurückfuhren, sah ich, wie die Arbeiter Barrikaden bauten. Wir haben infolgedessen 2½ Tage frei gekriegt. Vielleicht wird diese Frist noch verlängert. Ich habe mich in der Katharinen-Schule schon ganz eingelebt. Die Bücher sind schon besorgt. Unser Schuldiener kriegte einen Schuß durch die Mütze. In der Geometrie und im Französischen bin ich noch nicht so weit, wie die in der Katharinen-Schule. Petersburg ist Generalgouvernement geworden. Generalgouverneur ist der Trepow geworden, auf den das Attentat gemacht wurde3. [Ich] habe jetzt einen sehr interessanten Stundenplan. Sehr viel Mathematik, Geschichte, Geographie, Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch wie gewöhnlich. Wir haben ein neues Schulgebäude. Die Klassen sind sehr gemütlich. Mein und Willis Klasse sind in der 2 Treppen hoch [Skizze fehlt]. Ich hab überhaupt gar kein englisches Examen gehabt, sondern bin glatt durchgekommen, nachdem Willi Miss Morrisson4 gesagt hatte, dass ich alles kenne. Es gefällt mir dort sehr gut. Es grüßt Euch Euer Sisi Petersburg le 12 Janvier

Nr. 13 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 23.1.1905

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

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Nr. 12 1 Die von den Putilow-Werken ausgegangene Streikbewegung mit dem folgenreichen „Blutsonntag“. 2 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 3 Dmitri Feodorowich Trepov (1855–1906), 11.1.–26.10.1905 General-Gouverneur; Meldung in der Libauschen Zeitung, Nr. 4 v. 7.1.1905, „Über das Attentat auf den GeneralMajor D. F. Trepow, den ehemaligen Oberpolizeimeister von Moskau.“ 4 Mary Vasilievna Morrison, Engländerin, 1899–1911 Lehrerin an der Katharinen-Schule; Amburger-Archiv, Nr. 84371.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Liebe Mami! Ich habe mich jetzt ganz eingelebt in der Katharinen-Schule. In der Geometrie werde ich wohl Nachhilfestunden nehmen müssen. Im übrigen kann ich ganz gut folgen. Die Масленица1 werden wir wahrscheinlich bei Sonni verbringen. Mein Ordinarius ist der Inspektor Koppe2. Ich hab dieselbe Engländerin wie Willi – Mrs. Morrison. Sie ist eine sehr angenehme und gute Lehrerin. Mathematik gibt ein gewißer Vetterlein3. Wir haben es dort sehr gut. In der großen Pause, die 40 Minuten dauert, werden wir ins Freie gelassen. Im Hofe ist eine nette Schlittschuhbahn, die wir dann benutzen, uns schneeballieren und feine Festungen bauen. Herr Koppe gibt uns Geographie und Geschichte. Überhaupt, Geschichte haben wir sehr viel: alte Geschichte, deutsche Geschichte, Sagengeschichte. Ich hab sehr angenehme Kameraden. Ich lese Bücher aus der Schul-Bibliothek. Wir haben einen sehr guten Turnlehrer. Willi fehlte gestern. Er hatte sich etwas erkältet. Wir haben uns ein Album angelegt, wo wir alle Eure Ansichtskarten verwahren4. Wir haben ein neues Stubenmädchen – Helene Eier aus Werro, spricht deutsch. Ich habe mir ein neues Buch gekauft: den deutschen Flottenkalender, sehr interessant und instruktiv. Ich kann nicht weiter schreiben, denn die Uhr ist Neun. Euer Sisi S. Petersbourg 23. J.

Nr. 14 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 17.2.[1905]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

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Nr. 13 1 Masleniza („Butterwoche“), russisches, einwöchiges Fest am Ende des Winters bzw. vor Beginn der Fastenzeit, Äquivalent des Karnevals. 2 Gottfried Valentin („Ivanovic“) Koppe, * 1.3.1860 Dorpat, † 4.7.1929 Dorpat; ∞ Dorpat 1.7.1903 Marie Feistle, Oberlehrer für Deutsch, Geschichte und Geographie; AmburgerArchiv, Nr. 70478. 3 Wahrscheinlich Friedrich Vetterlein/Fetterlein; siehe Edition, Nr. 137 Anm. 5. 4 Karten von der Italienreise der Mutter und der Schwestern.

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Familienbriefe 1903–1921

Liebe Mammi! Pappi hat sich blaues Briefpapier angeschafft. Wir haben hier starkes Tauwetter. Grippenberg hat sein Kommando niedergelegt. An seiner Stelle ist jetzt Bilderling, der größte Feind Kuropatkins1. Das wird was schönes geben. Ich beglückwünsche Eva zu ihrer kleinen Erzählung; sie gefällt mir sehr. Die III. Escadre ist abgefahren2. Im Englischen u. Französischen geht es mir befriedigend, nur Mathematik – schwach. Ich hab jetzt bei Pappi Nachhilfestunden in der Algebra und in der Planimetrie. Ich hab von Nänna3 einen rührenden Brief erhalten. Pappi erzählte mir eben, weshalb Grippenberg wegging. Also: Er machte gegen Kuropatkins Befehl einen siegreichen Angriff, nahm eine Position, und bat nun um Verstärkung. Kuropatkins Antwort war der Befehl zum sofortigen Rückzug. Bei diesem Rückzug verloren wir 42 000 Mann an Toten und Verwundeten. Grippenberg nahm sofort seinen Abschied und ist nun bald in Petersburg. – In der Katharinen-Schule ist auch das fein, daß man sich in der großen Zwischenpause schneeballiren kann. Gewöhnlich wird dabei die IV. von der V. verhauen, aber in letzter Zeit behaupten wir uns tapfer. Könnt ihr nicht im nächsten Brief ein paar Centesimi Marken anstatt der 25 C. Marke schicken. Ein Kamerad von mir sammelt Marken und bat mich, als er hörte, daß ihr in Italien seid, um einige kleine Marken von Italien, die er nicht hat. Ihr werdet verzeihen, wenn ich jetzt endige, ich muß noch lernen. Euer Sisi St. Petersbourg le 4/17 Fevrier

Nr. 15 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 21. oder 27.3.[1905]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. ————————————

Nr. 14 1 Oskar-Ferdinand Gripenberg (1838–1916), legte nach einer Auseinandersetzung mit dem Oberkommandierenden Alexei Nikolajewitsch Kuropatkin im Russisch-Japanischen Krieg am 29.1.1905 das Kommando über die 2. Mandschurische Armee nieder. Sein Nachfolger wurde der Kavalleriegeneral Alexander von Bilderling (1846–1912). 2 Das 3. Pazifische Geschwader stand unter Admiral Nikolai Iwanowitsch Nebogatow. 3 Kindermädchen bei Radeckis, später Köchin in St. Petersburg; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 16.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Datierung widersprüchlich, im Briefkopf 21.3., am Briefende 27.3.

Liebe Mami! Ich hab mir nähmlich meine Handschrift verändert. Wir haben es mit den Apparaten anders beschlossen. Wir haben nähmlich erfahren, daß sie im Ausland genau ebenso viel kosten wie hier, deshalb wollen wir sie hier kaufen. Mit dieser Post schicken wir Euch einige Aufnahmen, mit dem alten Merkur aufgenommen. Wir werden in diesem Sommer wahrscheinlich in Kremon leben1 – fein, nicht wahr? Wir hatten schon ein paar Tage gutes Wetter, da fing es plötzlich so an zu schneien, wie im Winter. Ich find übrigens die Route über Constantinopel ausgezeichnet2. Papi hat in der Rigaschen Rundschau mehrere Artikel über die Wahlen geschrieben3. Ich lese jetzt mit großem Genuß pikwik Papers4. Unsere zukünftigen Apparate werden auch die Größe 6 x 9 haben. Sonni besucht uns jetzt jeden Sonntag. Wir spielen dann meist [fehlt]. Sonni hat sich auch einen Apparat gekauft. Könnt Ihr uns bitte eine italienische Postkarte schicken, bei der die Marke schon draufgedruckt ist. Es ist interessant zu sehen, wie sie sind. Unser Direktor hielt Donnerstag einen Vortrag über drahtlose Telegraphie. Es soll aber sehr langweilig gewesen sein. Willi hat mir 1 und A. P.5 1½ Rbl. zum Apparat geschenkt. Papi hat mir dieses Briefpapier aus Riga mitgebracht. Als Papi das letzte Mal in Riga war, bot ihm Tante Marie6 ein Haus am Strande gratis an, für den Sommer. Wir werden in Kremon vielleicht im Schweizerhause7 leben. Ich hab mich im neuen Quartal in der Algebra und der Geometrie verbessert. Denk Dir, Willi hat das große Geometrie-Extemporale auf ’s ganze Buch auf 5 geschrieben. Wir haben von einem Herrn Reddelin8, mit dem Papi Ge————————————

Nr. 15 1 Sein Vater Ottokar hatte dort gelebt. – Von 1817 bis zur Agrarreform 1922 war Kremon im Besitz der Fürstenfamilie von Lieven; Baltisches historisches Ortslexikon 1, S. 300 f. 2 Rückreise der Mutter von Italien aus; am 27.4.1905 noch in Rom. 3 Die ersten Duma-Wahlen fanden nach dem Oktober-Manifest 1905 statt. 4 Wohl für: Charles DICKENS, The Pickwick Papers, 1836. 5 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 6 Wahrscheinlich Maria von Tideböhl (1847–1919), eine Schwägerin Ottokars. 7 Das Haus ist heute noch als Pension auf dem Landgut Krimulda erhalten. 8 Gustav Redelien, Inhaber der Firma E. R. Blumfeldt, Dampfmaccaronifabrik, Riga, Nikolaistr. 32; Rigasches Adreßbuch 1904, hg. v. Adolf RICHTER, Riga 1904, S. 472.

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Familienbriefe 1903–1921

schäfte hat, und der eine Dampf-Maccaroni Fabrik hat, Maccaronis bekommen. Ganze 15 Pfund. Auf der Fontanka9 fahren schon Dampfer; sonst ist alles fest. Papi’s Artikel haben sehr viel Staub aufgewirbelt. Es grüßt Euch herzlichst Sisi St. Petersburg le 27 / III.

Nr. 16 Sigismund an seine Mutter Alma

St. Petersburg, 4.4.1905

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mammi! Papi reiste in letzter Zeit viel herum. Von hier am 29. März nach Riga, von da nach Dünaburg, dann wieder nach Riga, dann nach Petersburg, wo er am 3ten April ankam, dann wieder nach Riga und kommt Morgen den 5ten hier wieder an. Aber wird dann lange nicht mehr nach Riga fahren. Ich und Willi haben uns Apparate gekauft. Meiner kostet 12 Rbl. und sieht so aus [Skizze fehlt]. Willi’s kostet 20 Rubel. Beide von der Größe 6 x 9 und Codak’s. Unsere Schule schließt am 20ten Mai. Die Newa wird bald aufgehen. So sieht Willi’s Apparat aus [Skizze fehlt]. Es ist hier ziemlich schlechtes Wetter. In der Schule geht es mir im Reissen nicht gut, ich hoffe es aber zu verbessern. Jetzt haben wir neue Apparate, Codaks: Sonni, Willi und meine Wenigkeit. Duding war bei uns. Sie fuhr am 3ten nach Helsingfors und macht ein finnisches Examen, weil sie Krankenpflegerin werden will, sie glaubt, dass sie durchkommen wird. Großmama soll es besser wie früher gehen, aber Onkel Sigismund atmet aus einem Sack mit Sauerstoff. Tante Toni sorgt aber für ihn sehr gut1. Adieu, ich muß schlafen gehen.

———————————— 9 Kanal in St. Petersburg. Nr. 16 1 Dr. med. Sigismund Kroeger (1825–1905), Ordinator am Stadtkrankenhaus in Riga, und seine Frau Antonie, geb. von Tideböhl (1851–1919).

Briefe Sigismund von Radeckis

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Sisi St. Petersburg le 4.IV.

Nr. 17 Sigismund an seine Schwestern Alma und Eva

St. Petersburg, 31.8.[1905]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Micko und Eva! Wir mußten in Kleine-W.1 noch ein paar Tage länger bleiben, als wir dachten. Wir fuhren mit dem Postzuge am Sonnabend ab. Wir schliefen ganz gut. Heute war der erste Schultag. Wir haben einen ganz jungen Klassenlehrer2. Aline P.3 machte gestern bei uns die Antrittsvisite. Sonntag (Nacht) hatten wir Hochwasser – 7½ Fuß über normal. Auf der Newa stehen jetzt zwei schmucke, in Riga gebaute Minenkreutzer: „[Namen fehlen]“4. Willi hat sie photographiert und wird Euch die Abzüge schicken. Wir haben hier sehr gutes Wetter. Neulich trafen wir Tolja D.5 Sie

————————————

Nr. 17 1 Vielleicht Klein-Wrangelshof bei Wolmar; dazu Eva von RADECKI, Logbuch, zum 2.4.1917, S. 322: „Erinnerung an goldene Sommer in Sommerpahlen, Jerven, Bremenhof, Gertrudenhof und Klein-Wrangelshof.“ – Zu den Sommerferien auf Bremenhof hat sich ein mehrfach von Sigismund genutztes Kinderfoto erhalten: „im Alter von 10 Jahren vor der Badehütte des Gutes Bremenhof in Livland“ (1901). Er hat das Foto mindestens dreimal verschickt (Ruth Weilandt, Max Stefl, Berthold Neidhart); Abbildung bei RADECKI, Stimme der Straße, S. 293. 2 Dazu Brief Wilhelms an seine Schwestern, St. Petersburg, v. 31.8.1905: „In Klein-Wo. waren wir bis Sonntag d. 28. Pappi mußte direkt von Riga nach Petersb. fahren u. so fuhren wir denn allein Sonntag um 2. Wir hatten eine eigene Abteilung für uns. Dorpat passierten wir um ½ 7 […] Heute war der erste Schultag; es ist wirklich sehr angenehm, wenn man von den Herrn Lehrern nicht mehr als halber Mensch behandelt wird. In der Sexta führen wir ein bedeutend freieres Leben als früher.“ 3 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 4 Es gab 1907 mehrere Minenkreuzer, die von der Schiffswerft Lange und Sohn in Riga gebaut worden waren; Rigasche Rundschau v. 9.7.1905 und 14.2.1906. 5 Später (1905) noch erwähnt als „Kotja und Tolja“.

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Familienbriefe 1903–1921

freut sich sehr, Euch endlich wieder zu sehen. Wir haben ein neues Stubenmädchen. Es heißt Lisa, spricht Deutsch und Russisch, und ist aus Hapsal6. Papi läßt Euch sehr, sehr herzlich grüßen. Wir haben dasselbe Klassenlokal wie im vorigen Schuljahr. Sisi

Nr. 18 Sigismund an seine Schwester Eva

[St. Petersburg, März 1906]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Wir haben hier auch schönes Frühlingswetter; deshalb hat Pappi mir einen neuen Paletot gekauft, er gefällt mir sehr. 1 Woche nach den Osterferien habe ich das erste Examen, und zwar in Naturgeschichte. Wie Du es wünschest, haben wir Pappi zu Ostern 1 Goldlack gekauft. Es ist ein Prachtexemplar und Pappi hat seine Freude daran. Um sich zu stärken, treibt Pappi jetzt jeden Morgen Zimmer-Gymnastik. Aliin P.1 schenkt Pappi und mir zu Ostern Blumen; wir füllen ihr nähmlich eine Vase, die sie schon früher hatte. Heute (Freitag) haben wir unsere neuen Anzüge erhalten; sie passen uns sehr gut und gefallen uns sehr. Ich habe Deinen Apparat von Kodak, wo er repariert wurde, zurückerhalten und werde, wenn Du es erlaubst, hier etwas photographieren. Willi muß jetzt stark für die Examina arbeiten; ich streng mich weniger an. Am Abend sieht man hier jetzt alle mit brennenden Lichter aus der Kirche kommen. Dir & Mammi gratuliert zu Ostern2. Sisi

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RADECKI, Rückblick auf meine Zukunft (1953): Erwähnt ist „unsere Köchin“, jedoch ohne Namen. Nr. 18 1 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 2 1906 fiel Ostern auf den 2. April (alter Stil). – Einen nahezu gleichlautenden Brief schrieb Sigismund im März 1906 an seine Schwester Alma. Darin heißt es zusätzlich: „Wir haben einen neuen Lehrer für Willi; er heisst Dave und ist Atlet; er soll Tigerzähne haben. Was für einen Apparat hat Emmi’s Mann?“

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Briefe Sigismund von Radeckis

Nr. 19 Sigismund an seine Familie in Dorpat

St. Petersburg, 9.11. [o. J.]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Dorpater! Schnell, bevor ich das Buch abschicke, will ich Euch noch ein paar Zeilen zukommen lassen. Papi wollte das Geschenk mitnehmen; hat es aber wohl in der Eile vergessen. Erst heute bemerkte ich das. Lieber Willi! Den Katalog vom Schaf schick ich Dir anbei1. Die Sachen sind eigentlich ziemlich teuer. Unter 7½ Rbl. kann man kaum eine gute Takelage mit Hieber zusammenbringen. Wenn Du wirklich Ernst mit Deinem Vorschlag, so bin ich mit Leib und Seele dabei. Meine[s]teils würde ich No. 11, pag. 7, No. 20, pag.11 und No. 25, pag. 13 auswählen. Da es aber auf ein Mal zu teuer werden würde, so beabsichtige ich die Sachen allmählich anzuschaffen – etwa zu Weihnachten – Handschuhe u.s.w., so dass ich nach dem Examen Dir vollgerüstet entgegen treten kann. Vielen Dank für die Geschenke! Gar oft kau’ ich liebevoll an den Plätzchen, die Du, gutes Mutterchen, mir gebacken hast. Auch die Bücher sind fein! Nun Adieu Sisi P. S. Was ist das für eine dolle Geschichte, dass [Ihr] unsere Briefe, die am Sonntag eingeworfen wurden, nicht gekriegt habt? Sollten sie etwa verloren gegangen sein? Wir waren sehr traurig! St. Petersburg, den 9ten Nov.

Nr. 20 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Hungerburg1, ca. 1909

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. ————————————

Nr. 19 1 Möglicherweise die Firma Wilhelm Schaaf & Söhne in St. Petersburg. Nr. 20 1 Ostseebadeort an der Mündung der Narova bei Narva.

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Familienbriefe 1903–1921

AM STRANDE Sonst stiess dein Blick auf Birken, Gras und Hügel; Nun aber trittst du an das breite Meer. Du wirst sehr klein; der Raum vor dir wird leer Und deinem Sehen wachsen weite Flügel. Oben und Unten, beide zaubern hier Ein blaues, goldnes, unerhörtes Steigen Und Niedersinken, Stürzen und sich neigen, Schäumendes Murmeln – und das rollt zu dir! Und das ist voll von Wundern zu erzählen: Meergrünen Göttern und ertrunkenen Seelen. Das überhastet sich und schwimmt mit Schweigen Und müdem Gleiten wieder fort von hier. – Doch nackte Kinder stören das Revier Und tanzen spritzend, lachend einen Reigen. Lieber Pappi2! Du siehst wie tief der Mensch sinken kann! Ich gestehe alles – oben! Pater peccavi: In einer schwachen Stunde bastelte ich diese Reime heute zusammen. Zum Zeichen, dass diese Zeilen nicht zusammen gehören, hab ich sie in Zwischenräumen aufgeschrieben3. Bitte schick dies Eva. Es ist ein egoistischer Hintergedanke dabei: Hat Eva, so folgere ich, vielleicht, irgendeinmal, unter vielen guten, auch einmal ein schlechtes Gedicht gemacht, (Ich sage vielleicht), so wird sie meine Katzenjammergefühle verständnisinnig einschätzen und bemitleiden. Und dann möchte ich Eva auch einmal einen Extrabrief schreiben. Im übrigen tröste ich mich mit dem gedankenvollen Aphorismus Kosjina Pruttkow’s4. Es ist heute ein trüber Tag. Die Bäume vor meinem offenen Fenster haben irgend etwas verloren, ihr Grau-Grün ist missmutig geworden. Die anderen sind ins Theater gegangen; ich hatte keine Lust, es wird so schlecht gespielt. ———————————— 2

3 4

Die Familie von Radecki wohnte spätestens seit Herbst 1907 in Dorpat, wo sich die Brüder Wilhelm und Sigismund immatrikuliert hatten. Der Vater Ottokar lebte weiterhin meist in St. Petersburg. Im Typoskript nicht erkennbar. Verlesen für „Kosma Prutkow“, ein Sammelpseudonym für vier russische Schriftsteller aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, deren bekannteste Veröffentlichung ihre „Aphorismen“ wurden. Ein Aphorismus fehlt im Typoskript.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Auf der Straße stolpert irgend ein leerer, nichtsnutziger, gelangweilter Fuhrmann; die Frau vom Hause spielt unten Klavier „und legte in die triftige Etude die Ungeduld nach einer Wirklichkeit“5. Und irgendwo hinter den Bäumen rauscht das Meer. Ich weiss nicht, solch eine trübe grau-grüne Regen- und Abendstimmung wirkt auf mich erregend, man wird ungeduldig, tatendurstig, man denkt an etwas sehr fernes, sehr schönes und sehr helles; aber dann guckt man wieder auf das Papier, den immer dunkler werdenden Schatten unter der Feder und hört, wie die Kinder nebenan schlafen gebracht werden und sich die Zähne putzen. O ja! wir sind eben reinlich und putzen uns am Abend die Zähne. Aber das Wellenrauschen ist eine Versicherung und eine Beruhigung. – Ich kriege die Zeitung pünktlich. Für Deinen Brief danke ich sehr, ebenso für Deinen Brief an Eggers6! Aber es ist spät. Gute Nacht! Grüsse bitte A. P.7 von mir. Sisi [Als Beilage:] Mademoiselle! Sie wünschen einen Brief? Ich bringe mehr, ich liefre auch noch Verse! Ich fürchte zwar, es gibt noch ein Malheur Und man entdeckt meine Achillesferse. Ich sitze am Ufer, in das Reimen tief Versunken; lauter Glanz ist um mich her Und immer wieder braust das breite Meer. Das Meer ist heute kühn wie Morgenwind Bald blau, bald grünlich wälzen sich die Wellen Um plötzlich sich mit schämend8 weissem Gellen Ans Ufer anzuwerfen, wie ein Kind Nach jähem Lauf sich anwirft an die Mutter. Das ist so schön und herrlich, dass die klugen Und duftgen Rosawolken an dem Ende ———————————— 5 6

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Rainer Maria RILKE, Übung am Klavier, in: Der neuen Gedichte anderer Teil, Leipzig 1908. Vielleicht Alexander Eggers (1867–1937), seit Lehrer 1894 an der Reformierten Schule und auch an der St. Annenschule in St. Petersburg, 1906–1910 Direktor der Domschule in Reval; Album Estonorum, Nr. 945. Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. Wohl verlesen für „schäumend“.

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Des Meeres staunend sich die Hände reichen Und immer neue kommen herzulugen Ganz hingerissen segelnd und nicht wissend Dass sie selbst süssen Wunderträumen gleichen. Mademoiselle! Ich bin noch ungewohnt Den Pegasus ganz regelrecht zu zäumen; Sie sehen, wie er mich dafür belohnt Mit Holpern, Stolpern, Bocken und mit Bäumen. Ich nehme jetzt den allernächsten Hügel Doch wähl ich dazu eine andre Gangart – – Nur fester angezogen Zaum und Zügel – Ich hoffe, es gefällt die neue Sangart. So hören Sie denn, was ich da gemacht; Es spielt in einer warmen Julinacht: Die Kerze flimmert und zittert vor Lust! Es läuft ein Schluchzen durch die Brust Vorm schwarzoffenen Gartenfenster; Die Bäume sind Duft und die Nacht kühlblau Und achtest du nicht auf das Dunkel genau, So werden dort lautlos Gespenster … Nachtwind kommt; du mein zarter Freund! Er tröstet mit Duft von Rosen; Mit Kiefernwehen und Birkenluft Er bringt vom Grün-Meer das Tosen. Salzfrische Träume vom rauschenden Meer – Er lockt sie durch ängstliche Äste, Lindernd und lächelnd und flüsternd – komm her – Nachtwind! Du bist doch der Beste! Mademoiselle, oh! Während ich mit Eile Hier Wort an Wort und Reim an Reime kette Und wären’s noch so hübsche, glatte nette Und braut ich noch so ähnlich Zeil’ um Zeile – Mademoiselle! Ich glaub’, ich fürcht’, ich wette – Sie spüren – ach! – schon etwas Langeweile. Drum fest den Stangenzügel angezogen – Nun muss er stehen, wirft er auch im Bogen

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Mähne und Flocken rasend in die Höh’ – Ich hoff, ich werd’ um Antwort nicht betrogen; Auf Wiedersehn, Mademoiselle! A Dieu Hungerburg

Nr. 21 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, [Ende März 1910]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Freiberg i. S., Wernerstrasse 9 Lieber Pappi! Unsere Fahrt bis Freiberg gestaltete sich recht angenehm1. Wir schliefen beide gut bis Wirballen. Ich hatte mich ausgezogen. Natürlich brauchten wir in Eydtkuhnen keinen Zoll zu zahlen2. Das Gepäck gaben wir, wie verabredet, als Eilgut auf. Heute, Freitag kriegen wir es. Es hat 16 M. 20 gekostet. In Berlin stiegen wir im Hotel Coburg ab, gerade gegenüber dem Bahnhof Friedrichstrasse. Ein Zimmer für 2 kostete 7,50; 2 einzelne à 1,50. Darum schliefen wir einzeln. Am Abend machten wir noch einen Spaziergang durch die Friedrichstr., assen im Pschorr-Br.3 und gingen dann zeitig schlafen. Am nächsten Morgen gingen wir vor allem auf die Bank. Das war um 11 Uhr. Das Duplikat aus Riga war noch nicht angekommen; wir mussten uns also gleich entschliessen, entweder noch eine Nacht in Berlin zu bleiben oder sofort ein dringendes Telegramm nach Riga zu schicken. Wir entschieden uns für das Letztere, weil ————————————

Nr. 21 1 Die Brüder Sigismund und Wilhelm immatrikulierten sich in Freiberg am 4.4.1910; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5612: Wilhelm v. Radecki, Riga, Russland, Dipl. Ing. 1914; Nr. 5613: Sigismund v. Radecki, Riga, Russland, Dipl. Ing. 1913. Ende April 1910 besuchte Ottokar seine beiden Söhne in Freiberg, verbunden mit einer gemeinsamen Fahrt nach Berlin und wahrscheinlich an den Rhein; dazu liegen folgende Fotos vor: „Sommer 1910 Pappi und Sisi in Berlin Tiergarten“; „Sisi vor dem Nationaldenkmal“; „Weingärten mit Burg“. 2 Wirballen war die russische, Eydtkuhnen die preußische Grenzstation der Eisenbahn von Russland nach Königsberg. 3 Pschorrbräu-Palast, Ecke Friedrich- und Behrenstrasse.

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erstens, das billiger war, und wir zweitens, Robbie4 schon telegraphiert hatten. Da das Telegramm dringend war, so kostete die Sache hin und zurück 20 M. Wir bedauerten es daher, nicht alles gleich in Riga gewechselt zu haben. So erhielten wir das Geld um ½ 4. Uhr. Wir tranken darauf Kaffe im VictoriaC[afé]5. Dann ging Willi spazieren und ich in die Museen. Wir hatten uns verabredet, uns um ½ 36 im Hotel zu treffen. Das Friedrichmuseum und der Pergamon-Fries waren schön. Die N.-Gallerie7 war interessant, nur fand ich das Innere (Architektur) ziemlich schäbig. Wir trafen uns im Hotel, beglichen dort alles und fuhren (mit Umwegen) per Autodroschke zum Anhalter Bahnhof. In Freiberg erwartete uns Robbie. Unsere Wohnung kostet 30 M. monatlich exclus. Wäsche, Beheizung. Sie besteht aus 2 mittelgrossen und einem Zimmer, wo nur ein Bett hineinpasst, und ist sehr hübsch. Den Morgenkaffee und das Abendbrot erhalten wir von der Wirtin. Sonst wohnen dort nur Glieder des Nord-Club. Mittag essen wir im „Schwarzen Ross“, im 2ten Stock ist der Club. Die Club-Räumlichkeiten bestehen aus 3 sehr nett und gemütlich eingerichteten Zimmern. Die Nordclubmitglieder gefallen mir sehr gut8. Was unsere Stelle vor Beginn des Kursus anbetrifft, so wissen wir noch nichts bestimmtes. Eventuell (nur wenn es pecuniär lohnend sein würde) gehen wir

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Robert von Samson-Himmelstjerna (* 25.1.1885 Dorpat, † 4.7.1942 Orura bei Santa Cruz/Bolivien), ein enger Verwandter; 1906–1910 stud. mont. Bergakademie Freiberg (PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5180: Dipl.-Ing. 1909), 1906–1910 Verkehrsgast im „Nord-Club“, Bergingenieur in Oberschlesien, seit 1911 in Chile, danach in Bolivien, seit 1933 Leiter des Bergamtes in Santa Cruz/Bolivien, wohnte Freiberg, Roterweg 17; Album Livonorum, Nr. 1185; DBBL, S. 667; Genealogisches Handbuch Livland, S. 179. Bekanntes Café an der Kreuzung Unter den Linden – Friedrichstraße. Vielleicht verschrieben für „½ 8“. Nationalgalerie auf der Museumsinsel. „Akademischer Verein Nord-Club“, studentische nichtfarbentragende Vereinigung, gegründet 27.11.1902. Gründer: Max Eugen von Vietinghoff-Scheel (aus Talsen/Kurland; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 4729), Nicolas Korff (aus Hasenpoth/Kurland; ebd. Nr. 4649), Fred/Friedrich Chamier (aus Sydney/Australien; ebd. Nr. 4372), Reinhold von Sass (aus Arensburg/Livland; ebd. Nr. 4830), Walter von Mohrenschildt (aus Ruil/Estland; ebd. Nr. 4804), Friedrich von der Ropp (aus Daudzogir/Litauen; ebd. Nr. 4441). Vereinslokal war bis 1920 das „Schwarze Roß“. Teile der Vereinsunterlagen befinden sich im Hochschularchiv der Bergakademie Freiberg (Sign. 445 c, Bl. 1–49, und 445/1). Vgl. SEEWANN, Der Akademische Verein „Nord-Club“, S. 251–260; PAPPERITZ, Gedenkschrift, S.77. Dazu von der ROPP, Zwischen gestern und morgen, S. 26: „Auch begründete ich mit Kameraden eine neue studentische Vereinigung, die wir ‚Nordklub‘ nannten, die neben Geselligkeit und Kameradschaft vor allem auf Hilfe beim Studium ausging. In einem Raum des Klubs durfte nicht gesprochen, sondern nur studiert werden. Wir hatten eiserne Statuten, die das Über-eigene-Verhältnisse-Leben hinderten, ebenso das Schuldenmachen.“

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nach Westfalen. Lohnt es sich nicht, dort hin zu gehen, so kann man ziemlich sicher auf die Stelle in Zwickau rechnen, wo man ungefähr 3 M. täglich verdienen würde. Unser Gepäck erhielten wir Freitag. Es kostete 16 M. 20 – recht viel. Grüss bitte die Dorpater von uns. Sisi

Nr. 22 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 31.3.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Eben erhielten Willi und ich die officielle Mitteilung, dass der Handschlag am 4ten April n. St. stattfindet. Im Club haben wir uns sehr gut eingelebt. Die Mitglieder sind 1) Baron Taube1, seine Mutter war eine Russin. Ein sehr sympathischer anständiger Charakter. Spricht mit einem russischen Accent. Er ist sehr pflichtgetreu. 2) Kirschstein2, ein Rigenser der sehr gut Billard spielt und ein angenehmer Kamerad ist. 3) Peter Trotzi3, ein Schwede, sehr gutmütig mit einer humoristischen Ader. 4) Nekrassow4, ein Petersburger, die

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Nr. 22 1 Nikolaus Freiherr von Taube von Gut Borowiki/Russland, 1906/07 immatrikuliert, stud. rer. mont., 1909 Dipl.-Ing., 1909 im „Nord-Club“; Baltisches Adressbuch 1907, S. 87; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5327. 2 Heinz Günther Wolfram Kirstein, * 21.10.1887 Schloss Sagnitz (Vater: Landwirt Georg Kirstein, Mutter: Lucie von Samson-Himmelstjerna), Schulen in Dorpat und St. Petersburg, stud. Bergbau Freiberg, danach Landwirt unter anderem von Alt-Woidama, Stabsrittmeister der russischen Armee, Führer der MG-Kompanie des Balten-Regiments, gefallen 12.4.1919 vor Chitowschtschina/Peipussee; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5498; KNÜPFFER, Das Balten-Regiment, S. 14, Nr. 11. 3 Peter Trotzig, aus Hedemora/Schweden; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5543. 4 Leo Nekrassow aus Irkutsk, 1906/07 immatrikuliert, 1910 Dipl.-Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5289.

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Zielscheibe mancher Scherze, sehr harmlos und gutmütig. 5) Kursell5, ein Estländer. Da er in keiner Corporation gewesen ist, so macht sich manchmal ein gewisser Mangel an Manieren bemerkbar. Aber er ist noch sehr jung. 6) Freiherr von Unterrichter6, ein österreichischer Offizier. Ein Mensch von seltener Munterkeit. So bald man sich einen Menschen irgendwo aus Leibeskräften: O Sonnenschein, O Sonnenschein, du leuchtest e.c.t.7 singen hört, so ist es Unterrichter. 7) Hans Kluge aus Mitau8. Er heisst auch das Finanzgenie, weil er beständig irgend welche kleine vorteilhafte Operationen plant und ausführt. Er wohnt bei der selben Wirtin wie wir, so dass wir häufiger zusammenkommen. Er ist sehr zielbewusst, spricht englisch und lernt spanisch. Ich war auch in Dresden. Eine sehr hübsche Barockstadt. Die Galerie hat sehr viele gute Bilder, sie sind aber meiner Meinung nach sehr traurig untergebracht. Überhaupt so grossartig wie die Eremitage ist auch keine der Berliner Galerien. Die Sachsen sind ein Volk, das das halbe Leben im Restaurant oder Cafe verbringt. Wie dabei das vielgerühmte „deutsche Heim“ auf seine Rechnung kommt, weiss ich nicht; aber ich war erstaunt, wie viele Restaurants, Cafés e.c.t. eine so kleine Stadt wie Freiberg in Nahrung setzt. Das Volk hier hat etwas ausgemergeltes, vorzeitig gealtertes, sogar die Kinder – das macht wohl die Industrie. Das Erzgebirge ist wunderhübsch. Die Orte in der Umgebung von Freiberg wie: Brandt, Mulda, Oelmühle e.c.t. sind, soweit ich sie kenne, zierend. Kurz, es gefällt mir hier sehr gut. Es grüsst Dich Sisi P. S. Fein, dass Du herkommst!

Nr. 23 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 17.4.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. ———————————— 5

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Herbert Otto Hermann von Kursell, aus Reval, 1911 Dipl. Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5401. Ludwig Freiherr Unterrichter von Rechtenthal, aus Zillingthal/Österreich, 1909 Dipl. Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5330. Lied von Friedrich Gerstäcker (1816–1872). Hans Georg August Kluge, aus Libau (nicht: Mitau), 1912 Dipl. Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5396.

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Nord-Club Lieber Pappi! und Liebe Dorpater! Ich ergreife die Gelegenheit, um Euch zu Ostern zu gratulieren. Hier haben wir schon vollkommenen Frühling. Alle Vorlesungen, ausser den Sommer messübungen und dem Plan- und Risszeichnen, haben schon begonnen. In einigen Fächern, wie z. B. in der Mineralogie, haben wir recht viel nachzuholen. Ich habe mich schon recht an das hiesige Leben gewöhnt. Auch an das Essen. – Vor ein paar Tagen war hier eine studentische Versammlung von der Mehrzahl der Akademiker besucht. Es wurde der Beschluss gefasst, eine Schrift (die gleich vorgeschrieben wurde) dem akademischen Senat zu übergeben. Sie bat in höflicher Form um die Absetzung eines untauchlichen Professors. Wollen wir sehen, was der Senat antworten wird1. Die Vorlesungen sind sehr gut; ausser denen in der Mineralogie. Dort ist nämlich der Stoff so sehr gross, dass der Lektor nichts Eigenes geben kann, sondern eigentlich nur diktieren muss. Ich habe jetzt auch etwas von der Umgegend von Freiberg kennen gelernt. Wir leben hier an der Grenze von 2 grundverschiedenen Bezirken. Östlich und südöstlich (nach Chemnitz zu) liegt eine riesige Industriegegend. Aber auch dort noch ist die Gegend schön. Westlich liegen die riesigen Kronsforsten von Tharandt und Edle Krone. So dass wir die herrlichsten riesigen Tannenwälder, die hier eine Rarität sind, in etwa 15 Kilometer Entfernung haben. Dabei haben die Wälder etwas ganz Livländisches. Bis zur böhmischen Grenze (nach Molda2) sind es etwa 30 Kil. Die Freiberger Erzwerke sind sehr alt und tragen nichts ein. Der Staat muss jährlich 2 Millionen Mark zuschiessen, um die Bevölkerung durch Eingehenlassen der Werke nicht an den Bettelstab zu bringen. Die Arbeiter werden langsam abgeschoben und im Jahre 1913 sind die Gruben verlassen. Wir haben seit langer Zeit von Euch keinen Brief erhalten. Wann kommt Pappi? Euer Sisi

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Nr. 23 1 Am 14.4.1910 meldeten die Rigaschen Nachrichten, Nr. 85, dass es in Freiberg nach „Unzuträglichkeiten“ gegen „sog. russische“ Studenten zu einer Protestresolution der gesamten Studentenschaft gekommen sei. 2 Mulda.

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Nr. 24 Sigismund an seine Mutter Alma und seine Schwestern Alma und Eva Freiberg/Sachsen, 28.4.1910 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Liebe Dorpater! Vorgestern kam Eva’s Brief, Grimms Karte1, gestern ein väterlicher aus Breslau und das alte Paket mit Süssigkeiten und einem Taschentuch von Christel Stieda2. Kurz – mit einem Male wurden wir überhäuft, nachdem vorher so lange kein Sterbenswörtchen von Euch kam. Pappi kommt Sonnabend den 7ten Mai n[ach] hier zu uns. Neulich gab der Klub eine kleine Fete mit eingeladenen Gästen. Die Sprachverwirrung war babylonisch. Es kamen aber auch Russen, Deutsche, Schweden, Engländer, Columbianer und Australier zusammen. Der Anglo-American Club war vollzählig versammelt. Die Engländer gefallen mir am meisten von den anderen Studenten. Sie sind einfach, frisch und gemütlich. Neulich machten wir eine kleine Tour nach Meissen auf Rädern. Mit waren: ein Engländer Sandon3, ein Schwede Peter Trotzing4 und Kirstein5, Willi und ich. Der Weg war ziemlich langweilig, ausser dem reizenden Städtchen Nossen. Und dann natürlich Meissen. Mitten in der Stadt ist ein Felsen, wo Dom und Schloss sind, ungefähr wie in Reval. Der Dom ist schön, zum größten Teil echt und alt, die Türme wurden allerdings mit Hilfe einer Lotterie gebaut. Im Schloss krochen wir überall herum. Dann fuhren wir das Elbtal hinauf nach Dresden. Des Radfahrens ungewohnt, wurden wir zum Schluss recht müde.

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Nr. 24 1 Werner von Grimm, Ehemann von Sigismunds Schwester Alma. 2 Wahrscheinlich Christel Stieda (1889–1962); Maximilian von RADECKI, Mein Leben, S. 229. 3 Edward Gauvain Sandon, aus Bilbao/Spanien, englischer Staatsangehöriger; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5181. 4 Statt „Trotzig“; siehe Edition, Nr. 22 Anm. 3. 5 Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 2.

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Bei uns ist ein Schwede, er heisst Gerkamp6, wird aber Kranich genannt, der ist so gross, dass er mit der Fussspitze die obere Türschwelle berührt, oder er stellt sich in die Tür und beugt den Kopf nach hinten – dann kommt er oben mit der Nasenspitze an. Das war nur beiläufig. Es grüsst Euch Sisi

Nr. 25 Sigismund an seinen Vater Ottokar

[o. O., April 1910]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Datierung nach Sigismunds Brief vom Juni 1910; Edition, Nr. 27.

Lieber Papi! Unsere Reise1 war sehr interessant, wenn auch etwas anstrengend. Mittwoch um ¾ 8 fuhren wir von hier in der Richtung nach Moldau ab. Kurz vor der Grenze wurde ausgestiegen und durch den Wald gegangen. Wir gingen zirka 6 Kilometer bis zum Städtchen Altenberg, wo wir in der Nähe der dortigen Hütte allerhand interessante Erze sahen. Im 18. Jahrhundert hat dort, durch die vielen Stollen bewirkt, ein Erdzusammenbruch stattgefunden. Die so entstandene Wunde sah sehr imposant aus. Unsere Gesellschaft war sehr gemischt. 2 Japaner, 2 Russen, 2 Bayern, ein Pole, 3 Corpstudenten, 4 aus dem Nordclub und noch ein paar andere. Der Professor und der Assistent waren sehr gemütlich. Von Altenberg ging es bei ziemlicher Hitze durch den Wald nach Zinnwald, dem Grenzort. Zinnwald ist berühmt durch seine Zinnerze, eins hat sogar den Namen Zinnwaldit. Ich hatte mir vorher schon, in Altenberg, einen geologischen Hammer gekauft, den hat man zum Mineraliensuchen nötig. In Zinnwald erfrischten wir uns etwas im „Sächsischen Reiter“. Nachdem wir dort alles besichtigt hatten, ging es über die Grenze. Es ging, herunter vom Kamm des Erzgebirges, durch die herrlichen Teplitzer Wälder bis Eichwald, das war schon so um 6 Uhr abends. Von Eichwald führt eine ———————————— 6

Herbert Eugen Richard von Gerkan, * 29.5.1891 Riga, † 6.6.1921 Kungsholm/Schweden, am 24.11.1906 aus der russischen Staatsangehörigkeit entlassen, dann schwedischer Staatsangehöriger, 1915 Dipl. Ing., Bergingenieur; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5570. Nr. 25 1 Von der Exkursion existieren Fotos, unter anderem vom 6.4.1910.

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elektrische Bahn nach Teplitz. Teplitz liegt in einem Kohlengebiet, im Tal zwischen dem Erzgebirge und dem Mittelgebirge. Wir stiegen dort in der „Post“ ab, reinigten uns, assen und hörten etwas dem Kurconzert zu. Ich schlief mit Willi und Mister Pishel, einem Amerikaner, in einem Zimmer. Am nächsten Tage wurde um 5 Uhr aufgestanden. Es ging per Bahn ins Mittelgebirge Station Boreslau. Durch ein paar nette Dörfchen gingen wir zum Fuss des Millischauers oder Donnersberges, von dessen Aussicht Humboldt2 sagt, sie sei die viertschönste auf der Welt. Du hast Willi missverstanden, der Millischauer ist um volle 300 Meter höher als der Rosenberg. Ein Kegel aus einer Abart von Basalt, dem Phonolit. Wir gingen langsam hinauf, daher kam man oben ganz frisch an. Leider war die Ferne etwas zu dunstig, der Tag war heiss. Bald ging es wieder hinunter ins Tal nach Lukow, etwa 10 Kilom. entfernt, wo es viele Hornblende- und Augitcrystalle gab. Von da wieder zurück nach Boreslau, immer durch die herrlichen Wälder. Der Zug führte uns bis Leitmeritz, dort 40 Minuten Aufenthalt zum Kaffeetrinken und dann auf nach Prag. Bald fing man an, Tschechisch sprechen zu hören. Um ½ 10 in Prag. Noch durch die Dunkelheit sah man geheimnisvolle Riesenthürme und Barockpaläste. – Am nächsten Tag um ½ 7 auf und per Bahn nach Pribram (sprich Prschibram)3, wo die Bergakademie ist. Pribram liegt südwestlich von Prag. Die Gegend ist schön, aber fanatisch tschechisch. Der Schaffner will nicht deutsch sprechen e.c.t. – P. ist ein kleines Nest, beherrscht von einem Berge mit berühmten Kloster, der „Svata Hora“4. Ich werde Willi bitten, dass er die Beschreibung fortführt! Es grüsst Sisi

Nr. 26 Sigismund an seine Mutter Alma und seine Schwestern Alma und Eva [Freiberg/Sachsen, 9.5.1910] Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Zur Datierung: Der Montag nach Christi Himmelfahrt fiel 1910 auf den 9.5.

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Der Naturforscher Alexander von Humboldt. Příbram. Kloster Svatá Hora, Marienwallfahrtsort auf dem Heiligen Berg bei Přibram.

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Liebe Jerwener1! Eben bin ich aus Dresden zurückgekehrt, wo Pappi nach Görlitz abfuhr. Wir haben die Zeit von Mittwochabend bis heute, Montag, mit ihm sehr gemütlich verbracht. Donnerstag, am Himmelfahrtstage, wollten wir ausfahren, irgendwohin aufs Land. Es regnete aber. Jedoch, am Freitag fuhren wir nach Tharandt2. Dann machten wir einen schönen Spaziergang durch das wilde Weisseritztal bis Edle Krone. Wir haben Euch von dort ja Karten geschickt. Am Sonnabend war Clubabend. Pappi war auch im Club. Heute am Montag begleiteten wir Pappi bis Dresden und fuhren mit ihm von da nach Blasewitz und Loschwitz3. Von da hatten wir einen ganz herrlichen Blick aufs Elbtal, es war eine unheimliche Gewitterstimmung mit Sonne. Dann sahen wir auch den historischen Garten, wo die Gustel Kellnerin war4, und auch das historische Wirtshaus mit dem Namen „Potz Blitz“5. Pappi hat uns einen Kocher – Kanne, Gläser und Löffel gekauft. Seit kurzem nehmen wir an den Sommermessübungen teil. Man begibt sich zu einem Wäldchen bei der Stadt; es ist dort ein Denkmal für einen Herrn Herder6, der sich um die Knappen grosse Verdienste erworben hat. Dort trifft man den Professor, erhält einen Theodoliten und andere Messapparate und muss jetzt ein bestimmtes Stück Land ausmessen. Später kommen andere Aufgaben. Wenn man sich zur Stadt zurückbegibt, hat man das angenehme Gefühl, dass man etwas Neues kann. Zu Pfingsten nehmen wir an einer Excursion teil, die eine Dauer von 4 Tagen hat. Es geht über Moldau nach Prag, von da über Leitmeritz, Bodenbach7 nach Dresden und nach Hause. Willi und ich versprechen uns sehr viel

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Nr. 26 1 Jerwen, Sommeraufenthalt der Mutter und der Schwestern. 2 Ort in der Sächsischen Schweiz. 3 Beide Orte liegen wenige Kilometer flussaufwärts von Dresden. 4 Figur aus Friedrich Schiller, Wallensteins Lager. Anspielung auf Johanne Justine Renner (1763–1856), Kellnerin der „Fleischerschen Schenke“ in Blasewitz bei Dresden. 5 Die volkstümliche Gaststätte entstand Mitte des 19. Jahrhunderts in der Nähe des Schillerplatzes. Ihren Namen verdankte die Schänke dem bekannten, später leicht abgewandelten Schiller-Zitat: „Potz Blitz! Das ist ja die Gustel von Blasewitz.“ 6 Siegmund Freiherr von Herder (1776–1838), Oberberghauptmann, Organisator des sächsischen Bergwesens. Sein neogotisches Grabmal steht auf der Halde der Grube „Heilige Drei Könige“ bei Freiberg. 7 Podmokly, heute Stadtteil von Děčín (Teschen).

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davon. Einige andere Nordclubisten kommen auch mit. Von den Unterrichtsgegenständen interessiert mich am meisten die Mineralogie; vielleicht, weil ich von ihr am wenigstens verstehe. Es kommt einem ganz märchenhaft vor, wenn man alle die wunderbaren Gesteine sieht. Verzeiht dass ich so lange nicht geschrieben habe; ich antwortete zwar sofort, vergass aber meinen Brief in der Tasche und merkte es erst, als ich die Lust am Abschicken verloren hatte. Mit besonderem Gruss an Tante Josi grüsst Euch Sisi

Nr. 27 Sigismund an seine Mutter Alma

[Freiberg/Sachsen, Juni 1910]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mammi! Ich gratuliere Dir herzlich zum Geburtstag1. Mein Bild schicke ich, sobald ich kann; bis jetzt war es mir nicht möglich. Wir practizieren im Sommer in Westfalen; wo – wissen wir noch nicht genau. Man verdient dort ganz gutes Geld – circa 4½ M. täglich. Die Reise kostet ungefähr 25 M. (hin). Man fährt über Frankfurt a. M., Mainz und den Rhein herunter bis Köln. Beim Sascha Hartmann2 kann man noch nicht arbeiten, denn bis zum October sind die Arbeiten in der Grube geheimzuhalten. Aber zu Weihnachten kann man dort arbeiten, und er hat uns eingeladen, dann bei ihm zu wohnen. In der letzten Zeit hat es hier sehr viel gehagelt und gewittert – einmal gab es 40 Blitze in 2 Minuten.

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Nr. 27 1 Geburtstag der Mutter Alma war der 25.5. (alter Stil). 2 Alexander Friedrich Wilhelm Hartmann (* 24.8.1872 Warschau, † 22.12.1947 Johannesburg/Südafrika), Bruder des Rechtsanwalts Woldemar Hartmann, seit 1906 im Nord-Club, Ehrenmitglied, 1908 Dipl.-Ing., Wohnung in Freiberg, Roterweg 10, 1911–1917 in Dorpat; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5118; Amburger-Archiv, Nr. 67905; Baltisches Adressbuch 1907, S. 86; BORBÉLY, Gedenkbuch, S. 151; HARTMANN, Erinnerungen, S. 15 ff.

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Hat Onkel Reinhold3 meine Karte aus Prag erhalten4? Ich habe sie nach Dorpat adressiert. Übermorgen fahren Willi und ich und der Schwede Peter Trotzig5 nach Dresden, um einem Herrn unsere Aufwartung zu machen, der uns todsicher Stellen in die vorteilhafteste Grube (die in Oberhausen bei Düsseldorf) verschaffen kann. Zur Vorsicht haben wir auch Hartmann geschrieben. Diesen Sommer lernen wir vor allem die Kohlenbergwerke und überhaupt das dortige Industriegebiet kennen. Aber im nächsten Sommer geh ich bestimmt in fremdere Gegenden. So gehen z. B. zwei vom Club nach Bleiberg bei Klagenfurt im südlichen Kärnten, von dort nach Italien; Schilling6 geht in die Nähe von Lyon; einzelne gehen auch zum internationalen Geologischen Kongress nach Schweden7. Hoffentlich schreibt Ihr bald. Es grüsst Sisi

Nr. 28 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 3.6.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Gestern erhielten wir die 100 M. und danken Dir sehr dafür; sie kamen gerade zur rechten Zeit – die Miete (cirka 43 M. pro Mann) musste bezahlt

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Reinhold Wilhelm von Moeller (* 30.3.1847 Sommerpahlen, † 13.9.1918 Dorpat), Studium der Malerei in München, Reisen nach Algier, England, Ägypten, seit 1892 Maler in Dorpat, ∞ München 17.5.1884 Emma von Krüdener; DBBL, S. 526; NEUMANN, Baltische Maler, S. 159 ff. Eine Fotoserie verweist auf eine Studienfahrt nach Prag spätestens seit dem 6.4.1910. Fotos: Edmundsklamm Frühling, 6.4.1910; Oberbergrat Kolbeck (Prof. für Mineralogie Dr. Friedrich Kolbeck, 1860–1943) und Sigismund in Böhmen (Rast bei Paschkopol); Karlsbrücke in Prag; Schreckenstein. Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 3. Alexander Karl Baron von Schilling, aus Strzelze/Russland, 1909 im Nord-Club; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5622. 11. Internationaler Geologischer Kongress, Stockholm 1910.

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werden. Von Onkel Hermann1 ist garnichts gekommen. Die Studien gehen ihren gewohnten Gang. Heute ist Verbandsversammlung. Ein Pilar2, der 3 Jahre in Indien war, wird eventuell in den Club eintreten und in Freiberg studieren. Am 25. war Königs3 Geburtstag und Commers. Alle Corps hatten sich in Wichs geworfen, die anderen trugen schwarze Röcke. Nach Oberhausen bei Düsseldorf ist geschrieben worden, Antwort steht noch aus. Von Jerwen ist seit ziemlicher Zeit kein Brief gekommen. Wie geht es Dir gesundheitlich? Ob Du noch bis zum nächsten Mittwoch in Breslau bleiben wirst? Zeppelin kommt ja dann dorthin und wird landen4! Neulich las ich im Journal „Engineering“ einen bösen Aufsatz über die neuen russischen Dreadnoughts. Die Hauptartillerie des Schiffes besteht aus 4 in der Mitte aufmontierten Panzertürmen mit je 3 Geschützen [Skizze der Geschützanordnung5]. Kriegt ein Turm einen guten Treffer, so hat der Koloss ¼ seiner Gefechtsstärke verloren. Die Erschütterung sämtlicher Geschütze trifft immer die Mitte des Schiffes, die Panzerung ist ungenügend und bei den Kesseln könnte sie die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht entwickeln. So sagt der gewiss gut informierte „Engineering“, 4 Stück à 20 Mill. Rbl. Ich benutze gern das Lesezimmer der Akademie, in letzter Zeit habe ich dort viel Belehrung gefunden. Ich grüsse Dich herzlich Sisi P. S. Mit dem, was wir haben, können wir 1 Woche auskommen.

Nr. 29 Sigismund und Wilhelm an ihren Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 15.6.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. ————————————

Nr. 28 1 Hermann Robert von Radecki (* 29.10.1862 Kremon, † 19.11.1915 Riga), 1882–1887 stud. chem. Dorpat, seit 1891 technischer Direktor der Oehlrichschen Fabrik in Mühlgraben bei Riga, später beim Rigaschen Hypotheken-Verein, zuletzt schwer erkrankt; Album Fratrum Rigensium, Nr. 862. 2 Wahrscheinlich Angehöriger der weitverzweigten deutschbaltischen Familie Pilar von Pilchau; Genealogisches Handbuch Estland 2, S. 153 ff. 3 Friedrich August III. von Sachsen (1904–1918). 4 Für Juni 1910 ist in Breslau der Start des Luftschiffes „Parseval“ nachweisbar. 5 Eine schematische Skizze ist von Hand nachgetragen und eingefügt; hier nicht wiedergegeben.

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Nord-Club Lieber Pappi! Wir danken Dir sehr für die nochmalige Sendung von 100 M. an uns. Onkel Hermanns1 Brief (in Deinem) hat uns interessiert; ist nicht die CommerzBank dieselbe, die unser Geld bei der Ausreise so verspätet schickte? Nach Oberhausen werden wir wohl nicht kommen, denn jetzt ist dort ein neuer Direktor, zu dem gar keine Beziehungen vorhanden sind; indessen werden wir durch Hartmann2 Praxis (circa 4 M.) in seinem Revier erhalten, was ja seine grossen Annehmlichkeiten hat. Ich erhielt neulich einen Brief von Eva. Bei uns wird sehr viel gezeichnet; mit der Darstellenden Geometrie bin ich fast fertig. Das Unangenehme dabei ist, dass die Augen zu schmerzen anfangen. Hier herrscht grosse Begeisterung darüber, dass der König von Sachsen offen gegen den Pabst aufgetreten ist3. Am 21. Juni ist der Bismarckfackelzug. Ich bin sehr neugierig auf das Vorexamen, das am 20. Juli anfängt. Alle Academiker haben Zutritt; das ist sehr wichtig für uns, denn man will doch wissen, wie man gefragt wird. Wir haben hier fast jeden Tag Gewitter und Regen. Ganz merkwürdige gelbe Beleuchtungen. Ich bin in den hiesigen Schachverein eingetreten. Jeden Freitag-Abend wird gespielt. Zu zahlen hat man nichts. Es sind dort nur Spiessbürger. Das ist mir aber gerade interessant, denn so kann man diese Sorte näher kennen lernen. Neulich verregneten die Sommermessübungen, so dass wir mit dem Professor unter ein Verandadach flüchteten. Dort erzählte er uns über eine sehr interessante Erfindung eines Offiziers von der kartograph. Abteilung des oestereich. Generalstabes. Man kann jetzt nähmlich Karten (Vermessungen, Niveaukurven e.c.t.) aus stereoskopischen Photographien herstellen. Ebenso auch plastische Karten. Das bedeutet natürlich eine riesige Erleichterung. Überhaupt ist das Studium sehr interessant, weil es so vielseitig ist.

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Nr. 29 1 Siehe Edition, Nr. 28 Anm. 1. 2 Siehe Edition, Nr. 27 Anm. 2. 3 Der katholische König von Sachsen, Friedrich August III. (1865–1932), hatte sich in einem Protestschreiben gegen Aussagen gewandt, die Papst Pius X. in der Enzyklika „Editae saepe“ vom 26.5.1910 gemacht hatte.

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Mit den besten Grüssen Sisi Lieber Pappi! Sisis Brief ist leider nicht rechtzeitig abgegangen, so dass Du ihn jetzt viel zu spät erhältst. Eben bekamen wir Deine Kartensendung aus Berlin u. danken sehr. Du glaubst garnicht, wie es mir unangenehm ist, dass Du nun wieder 100 M. für uns geopfert hast u. Dir dadurch keine Anschaffungen hast machen können. Mit bestem Gruss Dein Willi

Nr. 30 Sigismund an seine Familie in Dorpat

Freiberg/Sachsen, 26.6.[1910]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Liebe Jerwener! Vor allem danke ich sehr für die Geldsendung, sie kam gerade im rechten Moment. Hartmann1 schrieb neulich, wir würden wahrscheinlich Stellen an der Zeche „Dorstfeld“ bei Dortmund erhalten, und zwar seien solche mit viel Arbeit und guter Bezahlung. Statt unseres Johannifestes hat man hier die Sonnenwendfeiern. Es war zugleich eine Bismarckhuldigung. Wir (die Stud.) zogen in riesigem Fackelzug zur Bismarcksäule und liessen uns, stolz wie wir waren, mit Asche, brennenden Teerteilchen und bewundernden Blicken überschütten. Nachher wurden die Fackeln unter „Gaudeamus“ auf dem Wernerplatz zusammengeworfen. Hier wird die Woche über gearbeitet, aber dafür ist am Sonntag immer etwas zu sehen. Heute war Schwimmfest. Neun oder auch weniger Seehunde prusteten den Teich hin und zurück. Die Zuschauer waren froh, denn das Wasser war kalt und man brauchte nicht zu schwimmen, sondern nur zuzusehen. ————————————

Nr. 30 1 Siehe Edition, Nr. 27 Anm. 2.

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Eben komme ich von der Sommermessübung zurück. Diese Übungen werden von einem recht idyllisch gelegenen Wäldchen bei der Stadt aus unternommen. Allerhand Vermessungen, Nivellierungen und andere nützliche Dinge werden dort angestellt. Man bedarf überall gewisser Bezeichnungen für oft vorkommende menschliche gesellschaftliche Typen. Ein solcher weitumspannender Begriff ist da hier das: Knötchen2 aus Zwichau3. Wohlgemerkt, es kann aus allen möglichen Teilen Deutschlands stammen, das macht nichts aus. Recht bemerkenswert ist das Freiberger Klima. Wenn man bei eben gemachter Bekanntschaft die ersten so tief empfundenen meteorologischen Beobachtungen und Bemerkungen anstellt, so hat man damit wenigstens in Freiberg ein wirklich wichtiges Thema angeschlagen. Einige ältere Leute versichern geheimnisvoll und mit gedämpfter Stimme, dass das, was wir jetzt hätten, schon der wirkliche Freiberger Sommer sei, mehr sei nicht zu erwarten. Alles was von kommender Wärme geredet werde, sei auf Kosten des Vereins für Fremdenverkehr zu setzen. Willi hat nach reiflicher Überlegung sich aus der Auswahl der Lokalflüche zwei schöne Exemplare zugelegt: No l ist „Gottverdemmich“, No 2 „Verdammt und zugenäht“. Im Übrigen geht es ihm wohl. Mit Gruss Sisi

Nr. 31 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Dorstfeld, 24.7.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Die Gegend um Dorstfeld1 herum ist die ödeste, die man sich denken kann. Unser Haus liegt in einem Dreieck, dessen Grenzen durch Eisenbahnstränge ———————————— 2

Abgeleitet von „Knoten“, umgangssprachlich für „plumper Mensch“; KOBOLT, Sprache in Estland, S. 152 („Knot“). 3 Wahrscheinlich verlesen für „Zwickau“. Nr. 31 1 Heute Stadtteil von Dortmund. – Auf ein Praktikum im Bergbau in Dorstfeld bezieht sich die Erzählung von RADECKI, Begegnungen mit Pferden, in: Wie ich glaube, S. 85: „Ich arbeitete einmal in Westfalen als Kohlenkumpel.“

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gebildet werden. So glänzend adrett alles in der inneren Stadt ist, so verwahrlost sind Straßenpflaster, Häuser ect. in den entlegenen Arbeitervierteln. Das Haus, in dem wir wohnen2, ist allerdings ziemlich stattlich, auch sonst können wir mit der Unterkunft zufrieden sein. Wir beschlossen heute, am Sonntag, uns etwas in der Umgebung von Dortmund per Rad umzutun. Auf Befragen riet uns die Wirtin, nach Kappenberg3 zu fahren. Um dorthin zu kommen, mussten wir erst durch Dortmund, und dann ging es auf passabler Chaussee ins Land hinein. Einen angenehmen Eindruck machte gleich anfangs eine Birkenallee, in Sachsen ist die Birke nur ein geduldetes, kein geschätztes Wesen. Überhaupt findet man hier gewisse Erinnerungen an die Heimat. Man findet nicht selten Ortschaften, die baltische Namen haben, so Mengede (wo auch ein Mengeden wohnt), Delwig4 u. a. Dann gibt es hier Gutshöfe, aber vor allem die Landschaft, „typisch livländische Landschaft“, meinte Willi heute oft anerkennend. Freilich muss man 2 Gebiete scharf trennen. Das eine, von Dortmund über Dorstfeld bis an den Rhein reichend, ist das Ruhrkohlengebiet. Ein riesiges Kohlenflöz von 50 Kilometer Länge und zirka 25 Kil. Breite. Alles bedeckt mit einem unglaublich dichten Netz von Eisenbahnsträngen, ein stereotyper Wald von ewig qualmenden Schornsteinen, dazwischen die grotesken und abenteuerlichen Formen der Hochöfen und Eisenhütten. Dann oft ganz zusammenhanglos hineingestellt eine Häuserreihe, die ohne die Möglichkeit in städtischer Menge zu verschwinden, dem Reisenden ihre hungrige nackte Hofseite zukehrt. Und auf der anderen Seite das Westfalen der früheren Zeit, das Land der roten Erde, des Schwarzbrotes und der hochmütigen Bauernhöfe. Und eben in dieses Westfalen machten wir uns heute auf. Sehr viel Wald, in der Ferne verheissungsvolle blaudunstige Hügel. Niedrige kleine Fachwerkhäuser, von grossen grünen Bäumen umstanden. Endlich rückten die roten Dächer immer näher zusammen, wir passierten noch schnell einen von Hochwasser rauschenden Fluss, und wir waren in Lünen, einem wunderhübschen, etwas altertümlichen [mehrere Wörter fehlen], quer über die Straße hängend, Fahnen und feierliche Begrüssungsschilder – es wurde das Marinefest gefeiert. Wir fuhren aber immer auf die bewaldeten Hügel los, und endlich kamen wir durch einen schönen Waldweg in ein Tal – gegenüber guckte schon Schloss ———————————— 2 3

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Dorstfeld, Heinrichstr. 2; Brief Wilhelms an seine Schwester Alma v. 31.7.1910. Cappenberg, ehemals Prämonstratenserkloster, im frühen 19. Jahrhundert im Besitz von Karl Freiherrn von Stein. Mengede und Dellwig, heute Stadtteile von Dortmund. Zu den aus Westfalen stammenden baltischen Familien Mengden und Delwig vgl. DBBL, S. 162, 504. – Sigismunds Großvater war zeitweilig Bevollmächtigter für die von Mengdenschen Güter in Kremon und Treyden.

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Kappenberg mit seinem alten Dach aus dem Park heraus. Es wurde natürlich spazieren gegangen und gefahren; schliesslich traten wir nach kurzer Rast den Rückweg, diesmal durch Wiesen und Felder, an. Wie in Oesel, sind hier viele Wiesenwege mit Pforten versehen. Wir glaubten auch viele Anklänge an Holland zu entdecken, nicht so sehr in der Landschaft als bei den behäbigen alten Häusern. Es grüsst Sisi

Nr. 32 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 7.9.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Freiberg gefällt mir mehr denn je! Der Herbst kleidet es gut. Ich bin hier nur ein paar Tage; dann geht es wieder an die Arbeit in der Grube „Alte Hoffnung Gottes“. Ihr müsst ganz gemütlich wohl mit Ada1 leben, ich habe eine Sympathie zu Malern, vielleicht auch zu Malerinnen. Ich las neulich, dass Stuck2 gesagt hat: „Was ich zu sagen habe, male ich.“ – Das umgekehrte gilt vielleicht von Rilke (übrigens steckt viel Flachheit in dem Satz). Auf diesen Gedanken kam ich heute, als ich den Pinsel fortwarf und die Feder ergriff; leider geht es mir aber so, dass dann wieder die Feder geworfen wird u.s.w. ad infinitum. Mag es mitgeteilt werden: ABEND Dieser Nebel Rauch und Grau Flieht noch späte Abendluft, Bergend in dem leisen Blau Allen Scheidens wehen Duft.

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Nr. 32 1 Ada („Adda“) Lange (* 11.11.1879 Riga, † 1.3.1958 Rotenburg/Hann.), Kunstmalerin, Sigismunds Cousine; HAGEN, Lexikon, S. 81. 2 Wahrscheinlich der Maler Franz (Ritter von) Stuck (1863–1928).

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Grün verschlossene Riesenbäume Fingen schon das Dunkel ein In verschwiegnen Labyrinthen. Durch die unsichtbaren Räume Fliegen tausendfache Schwärme Geigend auf verliebten Quinten. Bitte kritisier es genau; was das erste Gedicht betrifft, so hat ich es niedergeschrieben, kaum gelesen; ich kann nun mal nichts dabei, die Straten standen wirklich ganz still bei Wind, füge ich noch hinzu, dass überdies noch niedrige Cumuli3 getrieben wurden, so muss das allzu Verwirrende zwar nicht verzeihlich, aber doch erklärlich scheinen. Die Fahrt von Dortmund war sehr interessant; zuerst gings durch das bergige Sauerland; sehr sehr viel für das Auge, aber das allzuschnell Wechselnde wirkt verstimmend, weil es, kaum erfasst, schon wieder fortgegeben werden soll. Viele alte Städte, man darf sie aber beileibe nicht vom Bahnhof aus betrachten, sondern erst ein Stückchen nach- oder vorher. So ging es mir auch bei der Hinreise in Weimar; im Bahnhof machte ich lieber die Augen zu, aber das Ziegelsteinhäufchen, das ich nachher im Grün liegen sah, kam mir recht bekannt vor. Übrigens lag vor der Wartburg frech und qualmend aufgesetzt eine Esse. Wenn ich mal eine Erfindung machen sollte, so wäre es ein Schornsteinverhüter. Mit Gruss an Micko, Mammi und Grimm4 Sisi

Nr. 33 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Klein-Voigtsberg/Sachsen, 15.9.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

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Stratus, Kumulus, Wolkenformen. Werner von Grimm, Ehemann von Sigismunds Schwester Alma („Micko“).

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Huthaus der Grube „Alte Hoffnung Gottes“ Klein-Voigtsberg in Sachsen1 Lieber Pappi! Die 125 M. hat Willi per Rad aus Freiberg abgeholt, auch sind die 200 Rubel von Onkel August angekommen; ich habe schon gedankt. Wir leben hier im sogenannten „Huthaus“2, auf dem Dach ist noch ein Hut mit dem Bergglöcklein drin, das um 5 Uhr morgens zur Andacht läutet. Robbie3 ist auch hier und arbeitet fleissig an seiner Schluss-Dissertation. Es ist hier recht ländlich und wir fühlen uns sehr wohl. Dies diene Dir nur zur Nachricht über das Ankommen des Geldes, ein grösserer Brief folgt bald. Mit Gruss Sisi

Nr. 34 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 27.9.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Wir hatten schon so lange keine Nachricht von Euch, dass wir allmählich anfangen, besorgt zu werden. – Ich bin jetzt, im Besitz von 40 Schichten, nach Freiberg übergesiedelt. In Klein-Voigtsberg konnte ich nicht arbeiten (am Stau-Weiher), weil zum Zeichnen buchstäblich kein Platz da war. Und den will ich unbedingt vor Semesteranfang fertig haben. Wir wohnten, wie ich

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Nr. 33 1 Kleinvoigtsberg, 10 km nördlich Freiberg, an der Mulde, mit der Silbererzgrube „Alte Hoffnung Gottes“. Es existiert ein Foto: Herbstpraxis 1910 auf „Alte Hoffnung Gottes“: „Willi verabschiedet sich von seinen Arbeitern“. 2 Das Verwaltungsgebäude ist heute noch vorhanden. Huthaus: Zechengebäude, benannt nach dem Hutmann, dem Grubenaufseher. 3 Robert von Samson-Himmelstjerna; siehe Edition, Nr. 21 Anm. 4.

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Dir schrieb1, in Kl.-Voigtsberg mit Robbie2 zusammen, der an der Schlussarbeit sass. Jeden Morgen um 5 Uhr wurde er erbarmungslos von uns herausgetrommelt. Vor dem Einfahren war „Bergamt“. Ein reinlicher weisser Betsaal, von dem viele Lämpchen erleuchtet, eine etwas altersschwache Orgel und in den Fenstern, bläulich und rot, der schlaftrunkene Morgen! Nach paar guten, handfesten Versen von Paul Gerhardt3 sagte dann der Obersteiger Hinkelmann4: „Guten Morgen!“, worauf alle „Guten Morgen, Herr Obersteiger!“ antworteten. Dann gingen wir schnell in die Wirtsstube Kaffee trinken, wobei Robbie einen etwas schläfrig-wütenden Galgenhumor zu entwickeln wusste. Dann in Bergmannstracht hinunter ins Schachthaus. Der Schacht in der „Alten Hoffnung“ ist nicht senkrecht, sondern unter einem Winkel abgeteuft. Der Zug läuft auf Schienen, man fährt wie im Luxuszug. [Zeichnung fehlt.] Die Arbeit ist viel leichter als wie im Kohlenwerk. Der Club hat zwei neue Mitglieder: Herrn Stanke5 aus Kurland und Herrn Hage6 aus Gotenburg (Südschweden). Im Huthaus hatten wir recht viel Obst, ja wir assen sogar Trauben, die am Spalier des eigenen Hauses gereift waren. Hinkelmann ist die Seele von einem Menschen. Alles ist auf einen ganz anderen Ton gestimmt als in Westfalen. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 35 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 15.10.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club

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Nr. 34 1 Brief v. 15.9.1910; Edition, Nr. 33. 2 Robert von Samson-Himmelstjerna; siehe Edition, Nr. 21 Anm. 4. 3 Paul Gerhardt (1607–1676), Kirchenlieddichter. 4 Karl-Heinrich Hinkelmann, Obersteiger, aus Großschirma. 5 Leo Hermann Stanke (* 1893, † 6.5.1971 Schongau), aus Bauske/Kurland, 1910/11 immatrikuliert, 1914 im „Nord-Club“, Bergingenieur; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5702. 6 Johannes Emanuel Hage, aus Göteborg/Schweden, 1910/11 immatrikuliert; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5657.

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Lieber Pappi! So hat denn das Semester seinen Anfang genommen. Willi und ich fühlen uns sehr wohl. Die neuhinzugekommenen Fächer sind sehr interessant. Da ist vor allem Geologie zu nennen, die von Prof. Beck1, einer europäischen Berühmtheit, vorgetragen wird. Es ist grossartig, wie das ganze animalische und auch kulturelle Leben früherer Epochen, in Stein verwandelt, vor einem vorüberzieht. Dann die Praktika, vor allem Lötrohrprobierkunde, einer sehr geistreichen Bestimmungsart der Mineralien. Die Bergbaukunde trägt der Rektor, Treptow2, vor. Da wir uns durch die Praxis eine recht lebendige Anschauung von der Sache gewonnen haben, so wird auch dieses recht trocken vorgetragene Fach interessant. Der Club hat einigen Zuwachs erhalten. Da ist ein Stanke3 aus Kurland; noch recht unausgewickelt und mit recht schlechten Manieren, auch hat er das unleidliche Primanerselbstbewusstsein. Sonst ist ein guter Kern vorhanden. Wir sind bemüht, ihm vor allem wenigstens Manieren beizubringen. Dann ist Herr Hage4, doch über den, fällt mir ein, habe ich schon geschrieben. Hinzufügen will ich, dass er noch ebenso stumm und kurios wie früher im Club herumsitzt. Gutschmidt5, ein rigischer Balte, hat 2 Jahre in Riga nichts gemacht, will dagegen hier in 2 Jahren seinen Schluss machen. Ein guter Junge, der sich kleidet, Manieren hat und durch eine Verlobung (wie ich glaube) etwas Ernst und Zielstrebigkeit erhalten hat. Friedel v. d. Ropp6 geht auch in den nächsten Tagen nach Süd-West, – freie Reise, Lebensunterhalt und nebenbei die Kleinigkeit von 25 000 Mark jährlich! – Ja, im Bergbau ist heutzutage noch

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Nr. 35 1 Richard Beck (1858–1919), Professor für Geologie, 1911–1913 Rektor. 2 Emil Treptow (1854–1935), 1891–1923 Professor für Bergbau und Aufbereitungskunde, 1907–1911 Rektor. 3 Siehe Edition, Nr. 34 Anm. 5. 4 Siehe Edition, Nr. 34 Anm. 6. 5 Alfred Gutschmidt (* 15.11.1888 Windau, † 17.1.1973 Stuttgart), 1910/11 immatrikuliert, 1912 Dipl. Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5656. Nachruf in: Baltische Briefe 293 (1973), S. 7. 6 Friedrich von der Ropp (* 9.10.1879 Daudzogir/Litauen, † 21.2.1964 Bad Godesberg), stud. Freiberg, 1899/1900 immatrikuliert, 1903 Dipl.-Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 4441; DBBL, S. 640. Zu seiner Studentenzeit und zu seiner Tätigkeit als Bergingenieur in Südwestafrika siehe die Erinnerungen: von der ROPP, Zwischen Gestern und Morgen, S. 23 ff., 83.

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etwas zu machen. – Über die financielle Lage hat Willi Dir geschrieben. 237 M. – pro Mann – (Fremdensteuer und Krankenkasse) müssen bis zum November spätestens bezahlt werden. Beleggelder (circa 200 M. pr. Mann) können auf ein Gesuch hin gestundet werden. Es müssen viele Briefe von uns bei Euch nicht angelangt sein, denn trotz allen Schreibens verharrten wir beinah 4 Wochen in einer zuletzt etwas ungemütlichen Ungewissheit über Euer Ergehen. Es grüsst Dich und Euch Sisi

Nr. 36 Sigismund an seine Mutter Alma und seine Geschwister Freiberg/Sachsen, 20.10.1910 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Jerwener! Ich schreibe Euch schnell einen Brief, der in die Zeit zwischen Geologie-Vorlesung und Abendessen eingeklemmt ist. Bitte wundert Euch daher nicht, wenn er sowohl auf’s eine, als auch auf’s andere hinschielt. Zum Geburtstag wünsch ich mir kein Buch, aber ein paar Nummern vom [fehlt] (vom März an kenne ich sie nicht) würden mir viel Freude machen. – Eva, was soll ich Dir schenken? Die Lötrohrprobierkunde, die wir jetzt lernen, ist höchst interessant. Man hat ein kleines Röhrchen, in das man ununterbrochen blasen muss. Der Mund muss also von der ruckweisen Lungenatmung unabhängig gemacht werden. Anfangs röchelt das ganze Auditorium. Durch dieses Röhrchen wird ein feiner Luftstrom in eine Paraffinflamme geführt, wobei man durch Verstellen [Skizze fehlt] des Röhrchens bald den Sauerstoff-entnehmenden, bald den Sauerstoff-abgebenden Teil des Flammenkegels an das Ende bringen kann. Durch die Luftzufuhr wird die Hitze der Flamme unglaublich gross, ich habe selbst an so einer elenden Paraffinflamme Platin geschmolzen, das ist eine to von 2000o! Friedel v. d. Ropp ist augenblicklich hier und erzählte neulich sehr interessante Erlebnisse, die er in Abessinien als Befehlshaber einer Karavane hatte. So die von den 2 englischen Gentlemen, deren Jagdkaravane er in einer öden

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Wüste trifft und die ihn zum Abendessen in Smoking und tadelloser Wäsche im Zelt empfangen1. Korf 2 war auch hier und hat uns erneut zu sich nach Dresden zum Mittagessen aufgefordert, vielleicht besuchen wir und Robbie ihn einmal. Mit herzlichem Gruss an Euch und Pappi Sisi

Nr. 37 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 2.11.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Bei uns gibt es nichts Neues von Wichtigkeit; immer derselbe geregelte Gang von Colleg und Studium. Nur in meiner persönlichen Lebensweise habe ich einige Veränderungen eintreten lassen. Ich rauche schon seit 3 Wochen nicht mehr und habe es mir vollständig abgewöhnt. Dann müller ich systematisch mit jedesmaligem kalten Bad am Morgen1. Das habe ich eingeführt, nicht als Reaktion auf vorhergehende unregelmässige Lebensweise, sondern weil ich allerdings nach Lecture einer Schrift fand, ich täte zu wenig für meinen Körper. Ich kann nur sagen, dass sich diese beiden Veränderungen sehr wohltätig im allgemeinen Befinden äussern, obwohl ich ja auch vordem in keiner Weise krank war. Ich steck eben mitten zwischen 2 Collegs – Mineralogie und Geologie, und sitze im Club. Neben mir spielt Gerkan (Kranich) mit mächtigem Pathos ————————————

Nr. 36 1 Dazu von der ROPP, Zwischen Gestern und Morgen, S. 29 ff. „Äthiopien – mein schönstes Land“. Friedrich Theodor von der Ropp war als Bergwerkingenieur nach seinem Studium in Freiberg in Sachsen im Auftrag der deutschen Regierung in Afrika, um in Abessinien, im Kongo und in Deutsch-Südwestafrika im Einverständnis mit den dortigen Regierungen nach Gold und Edelsteinen zu forschen; http://konold.ilo.de/Chronik_Wildemann_Marina_040410.pdf. 2 Nicolas Adolf von Korff ?, aus Hasenpoth, 1901/02 stud. Freiberg; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 4649. Nr. 37 1 Gymnastikprogramm des Dänen Jens P. MÜLLER, Mein System, Berlin 1905 u. a.

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Grieg2, allerdings geht er manchmal davon unvermittelt in „Let the woman do the work, do the work u.s.w.“3 über; jedoch lenkt er, nach meinem ermahnenden Ruf „Aber Kranich!“ wieder gehorsam in Grieg ein. Er spielt lange nicht so schön wie Robbie, aber er hat etwas besseres: eigene musikalische Phantasie und Erfindung. Aus seinen schottländischen Wanderungen hat er ganz prachtvolle Weisen mitgebracht. Ich bin eigentlich recht müde, denn die Akademie in ihrer Weisheit hat es so eingerichtet, dass man ununterbrochen von 8–1 Uhr Vorlesungen hat. Na, – dafür der Appetit! Mit den besten Wünschen für Dich Sisi

Nr. 38 Sigismund an seine Schwester Eva

[Freiberg/Sachsen], 11.11.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Wasserturmstr. 2 Treppen Liebe Eva! Heute erhielt ich Deinen Brief, wo Du wegen Nichtbeantwortung Deiner Fragen erzürnt bist. Die Möglichkeit des Vorstreckens der ganzen notwendigen Summe hatte ich von vornherein als Unmöglichkeit taxiert und mich daher mit dem Aufstellen des Kostenplanes nicht so sehr beeilt. Wenn es Dich interessiert, so kann ich ja im Folgenden diese Sache ungefähr skizzieren. Für Miete, Bel[euchtung], Beh[eizung], Wäsche, Morgen- und Nachmittagskaffee gebe ich circa 50 Mark im Monat aus. Dann Mittag- und Abendessen auch etwa 50 M. Ausserdem Diverses (Lehrmittel, Seife, Zahnpulver e.c.t., Vervollständ. meiner abgerissenen Ausstattung) = 30 M. im Monat. Das wären 130 Mark im Monat! 130 × 12 = 1560. Ausserdem wollen aber noch Kleider, Stiefel, Reisen bezahlt sein! Ausserdem noch: 200 M. Fremdensteuer 2 × 200 M. Beleggelder ———————————— 2 3

Edvard Grieg, norwegischer Komponist. Mehrfach überlieferter älterer Song.

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100 M. Examengebühren –––––––––––––––––––– 700 M. Kleider, Stiefel, und Reisen kann man mit 150 Mark (wahnsinnig geizig) berechnen. 1560 700 150 –––– 2470 Wir erhalten jeder 2016 M. Nun muss ich noch sagen, dass in Freiberg 3000 M. im Jahr als Minimum gilt; und wenn wir nach Ablauf eines Jahres alles Ausgegebene zusammen addieren, so wird pro Mann auch nicht viel weniger herauskommen; obwohl der Vorwurf der Verschwendung uns doch wohl nicht gut gemacht werden kann. So, liebe Eva, – hier hast Du meinen Kostenplan. Wie froh wären wir, wenn der „vornehm denkende Wohltäter“ gefunden wäre, doch wie gesagt, ich halte seine Existenz für ausgeschlossen. Ihn zu suchen ist niemand bereitwilliger als wir, die wir ja seine Abwesenheit am eignen Leibe erfahren müssen. Übrigens hab ich mich da nur bildlich ausgedrückt, denn deswegen, weil man nach Geld laufen muss, braucht gute Laune und „bums! vollera! – die Welt ist schön“ noch lange nicht zu Hause zu bleiben. Im Allgemeinen habe ich stets die Beobachtung gemacht, dass man, je grösser die pecuniäre Bedrängnis steigt, um so mehr auf die Basis einer unabhängigen und unbefangenen Menschlichkeit gestellt wird und sich dementsprechend viel intensiver als munterer Seifensieder geniesst. – Ich gratuliere Dir in aller Feierlichkeit zum Geburtstag (der wievielte ist es doch?)1 und wünsche Dir selbstverständlich das Allerbeste! Als Geschenk kriegst Du nur ein Bildchen aus Pappe [fehlt]. Möge Dir dieser kluge Vogel ein angenehmer und belehrender Schreibtischgegenüber werden! Zur Bekräftigung habe ich hier eine Rechnung für den Oktober (noch ohne Heizung) beigelegt. Mit Grüssen Sisi

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Nr. 38 1 Evas Geburtstag war der 5./17.11.1884.

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Nr. 39 Sigismund an seine Familie in Dorpat

Freiberg/Sachsen, [November 1910]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Wasserturmstr. 2 Treppen Liebe Dorpater! Ich danke sehr für die Briefe. Mein Geburtstag war sehr schön1. Überall weisser Schnee und blauer Himmel. Robbie, Schilling, Willi, noch ein paar andere und ich machten eine Schlittenpartie nach Grossvoigtsberg2. (Es war Sonntag.) Am Abend war grosses Kirchenkonzert, wo Robbie, Middendorf3 und andere Mitwirkende waren. Überhaupt, bei uns wird viel Musik getrieben. Grieg ist der musikalische Clou im Club. Kranich, sein begeisterter Interpret, spielt ihn nicht nur, sondern tanzt ihn auch zugleich. Nein, wirklich, Scherz beiseite, alle diese herrlichen Sachen wie: Anitra’s Tanz, Ases Tod, Hochzeit auf Troldhaugen, Morgenstimmung, In der Halle des Bergkönigs und viele andere werden sozusagen leibhaftig, sie existieren nicht nur im Moment des Spiels, sondern wie dieser Tisch, dieser Stuhl, und dieser Kirchturm4. Kranich, der wegen seiner ausserordentlichen Länge auch der Integral [fehlt] genannt wird, hat sogar seines Griegs wegen (den er persönlich gekannt hat) einen Skandal in Berlin gehabt. Sitzt er da im Wintergarten und liest, Herr X würde eine seiner Compositionen auf dem Klavier vortragen. Gut – Herr X kommt und trägt ganz bescheiden und begnadet „Morgenstimmung“ von Grieg im Walzertakt vor. – Da wallt dem Kranich auch sein Blut. Er steht in seiner ganzen Länge auf und brüllt so lange: „Sie Schwindler, das ist die Morgenstimmung von Grieg!“ bis er aus dem Saal geführt wird. – So etwas kann nur ein wirklicher Apostel vollbringen. Ich habe eine Bitte: Könnt Ihr mir meine Schneeschuhe (mit den Stöcken) schicken, und zwar so, dass Ihr sie hier aufgebt und ich in Freiberg die Fracht ————————————

Nr. 39 1 Sein Geburtstag war der 19.11. 2 Ort nördlich von Freiberg. 3 Kurt von Middendorff (* 10.1.1891 Reval), 1909/10 immatrikuliert, 1914 Dipl.-Ing., ∞ Berlin 6.10.1916 Hildegard Irene Czech (* 12.10.1892 Roßwein/Sachsen), nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Kontakt mit Sigismund; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5600; Genealogisches Handbuch Livland 2, S. 909. 4 Edvard Grieg, norwegischer Komponist. Die Stücke sind sämtlich aus „Peer Gynt“.

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zu zahlen hab. – Etwas Sport muss man treiben. Ich wäre sehr froh, wenn ich sie hätte! Neulich waren wir mit Robbie bei Korf zu Besuch. Er hatte seine Wohnung ganz prachtvoll eingerichtet (Er hat auch allerdings 1 Lebensjahr darauf verwandt). Es war angenehm, auch einmal ganz philisteriengemäss zu speisen (essen kann man da nicht sagen). Mit Gruss an Euch, Grimm und T[ante] Josie Sisi

Nr. 40 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 23.11.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Wasserturmstr. 2, 2 Treppen Lieber Pappi! Ich danke Dir sehr für die Geschenke1. Ich schreibe erst jetzt, weil ich bis heute auf [fehlt] gewartet habe, allein er ist noch nicht gekommen. Willi und ich sind wohlauf. Wir haben hier das schönste Winterwetter mit grossen Schneemassen – alles läuft Schneeschuh. Nach Riga haben wir der Legate wegen geschrieben, und zwar Manni Kröger zum Empfang derselben bevollmächtigt und ersucht. Hoffentlich kriegen wir das Geld vor dem 26ten, denn dann müssen die Honorare (Collegiengelder) bezahlt werden. Vor Weihnachten möchte ich gern noch etwas praktizieren, vielleicht werde ich auf einem Braunkohlewerk arbeiten, wohin mir Robbie Empfehlungen geben kann (natürlich in der Nähe von Freiberg = Nordböhmen). Du schriebst in einem Brief, Du wollest genauer die Motive der Trennung zwischen Willi und mir erfahren. Die Trennung ergab sich hauptsächlich aus der Situation, da ein Zimmer, das frei werden sollte, nicht frei wurde. Von einem Bruch kann keine Rede sein; wir treffen uns oft und lieben uns in der Entfernung.

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Nr. 40 1 Zum Geburtstag am 19.11.

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Freiberg im Winter gefällt mir sehr; die schiefen, spitzgiebeligen Häuserchen sehen mit der Schneedecke um so wohnlicher und altertümlicher aus. Der Club hat ein neues Mitglied – Kupfer2 aus Goldingen. Augenblicklich werden viele Vorbereitungen für das Stiftungsfest, das am 21ten November stattfindet, gemacht. Unter Robbie’s Aegide entsteht eine Bierzeitung. Ein Fässchen Bier ist aus München angekommen u.s.w. Ich habe damit, Gott sei Dank, nichts zu tuen und bleibe ungestört. Schneeschuh laufen würd ich gern, vielleicht schicken mir die Dorpater meine, man muss sie als gebraucht signieren, dann ist die Bagage, in Deutschland wenigstens, spottbillig. Vielleicht interessiert es Dich, zu hören, dass ich seit 1½ Monaten nicht mehr rauche und auch kein Bedürfnis danach habe. Mit Gruss an [fehlt] und Dich Sisi

Nr. 41 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 2.12.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Die Anweisung über 1079 Mark für uns beide erhielten wir am Montag, – wir konnten aber das Geld erst am Dienstag heben und die Zahlungen machen. Dabei stellte es sich heraus, dass wir, da der Zahlungstermin, der 26., abgelaufen war, inzwischen aus der Liste der Studierenden gestrichen worden waren, – wir also, unter Zahlung von 24 M. pro Mann, wieder eintreten mussten1. (Das Streichen ist blosse Formalität, die bloss auf die 24 M. abzielt.) – Wir wollten aber noch mit Treptow2 wegen dieser 24 M. sprechen, das hat Willi gestern, mit negativem Ergebnis, getan. Da ist also nichts zu machen. ———————————— 2

Eduard Arthur Erich Kupffer, aus Goldingen, 1910/11 immatrikuliert; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5669. Nr. 41 1 Der Vermerk in der Matrikel Freiberg „Austritt 28.11.1910“ wurde später wieder gestrichen. 2 Emil Treptow (1854–1935), 1891–1923 Professor für Bergbau und Aufbereitungskunde.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Jetzt wird es Dir auch erklärlich sein, warum der Brief, der [fehlt] (Satirikon’s3) Anlangen freudig meldet und für die geschickten Zeitungen dankt, so spät kommt. – Ich wollte Dich über Treptow’s Richterspruch nicht im Ungewissen lassen. Da fällt mir noch eben ein, daß ich beschlossen habe, fortan mit gotischer Schrift zu schreiben – die wird heutzutage viel zu sehr vernachlässigt. Das Stiftungsfest verlief programmgemäß4. Eine ganze Kommission – bestehend aus Robbie, Willi und Middendorf5 redigierten eine ganz gute Bierzeitung, die überall tüchtig Hiebe austeilte. Nach 2 Wochen fangen die Ferien an – aus der Praxis in Böhmen wird nichts – die 24 M. machen sich fühlbar. Merkwürdig, daß wir aus Dorpat gar keine Nachrichten kriegen. Ich hatte wegen der Schneeschuhe geschrieben – sonst geht der Winter bald zu Ende. Hoffentlich fühlst Du Dich wohl! Es grüßt Sisi

Nr. 42 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, [Dezember 1910]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Wasserturmstrasse 2 Lieber Pappi! Ewige Konflikte mit den neuen Brettern, – aber es wird schon gehen. Rechts von mir hab ich das Fenster offen und freue mich am schönen Abend: die Laternenreihen sind schön weiß, aber die Pflastersteine haben noch einen blauen Widerschein und vor dem fahlgelben, rauchigen Horizont ist ein geheimnisvolles Gewitter von faustdicken und haarfeinen schwärzlichen Baumästen. Ich achte jetzt immer, daß das Fenster bei mir aufbleibt – Tag und Nacht (dafür ists auch freilich der erste Herbst gewesen, den ich ohne Schnupfen, Erkältung u.s.w. verbracht habe). Auch sind die Scheiben so trübe – wo ———————————— 3

4 5

Wahrscheinlich die damals neue illustrierte, satirische Wochenschrift „Satirikon“ des Schriftstellers Arkadi Awertschenko (1881–1925), die 1908–1914 in St. Petersburg erschien. Feier im Nord-Club. Siehe Edition, Nr. 39 Anm. 3.

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Familienbriefe 1903–1921

wäre dieser prachtvolle kobaltblaue Abendhimmel hin, wenn ich mein Fenster nicht offenhielt!? – Farben – ja auf die zu achten, ist von jeher mein Vergnügen gewesen, aber jetzt wirds mir überdies zur verdammten MineralogenPflicht und Schuldigkeit! Was muß der Beschreibende nicht alles für Bilder, Gleichnisse und Dinge zu Hilfe nehmen, um diese seltenen und wunderbaren Farben und Formen zu sagen! „Apfelgrün“, „lauchgrün“, „zeisiggrün“, „fahlgrün“ – und viele, viele andere Grüns. Wehe, wenn du zwischen grünlichem Gelb und gelblichem Grün zu schwanken beginnst! Mineralogie – Wissenschaft der Farben und Formen! In der freien Zeit wird gelesen, aber nur „klassisches“; wann las ich doch die letzte Zeitung? – eine Ewigkeit, Musik gehört, Sport und Gymnastik getrieben. Ich las ein Stück: „Karle, eine Diebskomödie“1. Ein gewisser „Markwitz aus Posen“ fällt vor einem Fuhrherrn Philipp in die Knie und ruft: „Jebben sie Jedankenfreiheit“; nu, was kann da sein? Vorher hatte Philipp unmutig geäußert: „Unwürdiger Anblick! Möcht ma’ sprechen!“ [Zeichnung der Beerenweinschenke fehlt 2.] Ein altes Haus, wie es deren in Freiberg sehr viele gibt. Mindestens aus dem 15ten Jahrhundert. Aber davon weiß, Gott sei Dank, niemand etwas – denn, hurra, Freiberg ist noch nicht entdeckt. Mit allen Grüßen Sisi

Nr. 43 Sigismund an seine Familie in Dorpat

Freiberg/Sachsen, 22.12.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Liebe in Dorpat! ————————————

Nr. 42 1 Max REINHARDT, Karle, Diebskomödie, in: DERS., Schall und Rauch. Berlin 1901. Die Parodie von Max Reinhardt auf Schillers „Don Carlos“ (u. a. Markwitz aus Posen / Marquis von Posa) und Gerhart Hauptmann herauszufinden hat Sigismund seinem Vater überlassen. 2 Beerenweinschänke Kopprasch, Freiberg, Nonnengasse 5. RADECKI, Sein Wunderwerk, in: Danziger Volksstimme, Nr. 86 v. 13.4.1929, erwähnt sowohl die „Erzgebirgische Beerenweinschenke“ wie auch das „Nonnengäßchen“.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Guten Tag! Heute ist ein stahlblauer Windhimmel mit langen zerfaserten Wolkensträhnen, die über die ganze Kuppel züngeln. Gegen die Sonne gesehen, stehen alle dunklen Häuser, Bäume und Türme in feinem goldenen Dunst. Eben treff ich Kirstein1 an der Ecke, er ist froh und sagt, jeder schlichte naturliebende Mensch (as he said he was) müsse heute einfach spazieren gehen! Richtig, da steht ja auch die ganze Gesellschaft: Gori Erdmann2, Gutschmidt3, Willi und Schpachtel. Gori gestikuliert, daß man für sein Pinuninez4 fürchtet und scheint begeistert (das ist er immer), die Vorzüge einer unbekannten Persönlichkeit zu schildern, für die er die merkwürdige Bezeichnung „das kleine Schweinchen“ gebraucht. – Übrigens ironisiert er sich selbst dabei – der Zug, den er an sich so liebt. Gutschmidt steht als kollossalische Kolonne auf dem pompösen Fundament zweier olivgrüner Stiefel – gehüllt in einen noch olivgrün[er]en Paletot und verziert mit dem allerolivgrünsten Schlips – reglos, in sich abgeschlossen, vollkommen. Willi darf ich füglich übergehen, um desto schneller zu Schpachtel zu gelangen. Dieses ist ein Dachs. Das hindert ihn aber durchaus nicht daran, die populäre und dominierende Persönlichkeit im Klub zu sein. Ja, ich habe den Verdacht, daß gerade die Attribute seiner Dackelnatur, als da sind Patschpfoten, ein unglaublich dummdreistes Lächeln und der Name „Schpachtel“, – ihm dazu verholfen haben. Das heisst, sein Name war ursprünglich anders. Als Schilling5 den Hund kriegte, wurde er still, schloß sich in sein Zimmer ein und gedachte in konzentrierter Meditation den Namen des Hundebabys zu ergrübeln. Durch prächtige Kettenschlüsse kam er zu dem Ergebnis: 1) der Name sollte dem Hunde Ehre machen; 2) er sollte dem Köter ein Vorbild geben. Konnte es aber einen ehrenvolleren und aufmunternden – Namen geben als den des allverehrten Präsidenten des Klub? – Oh, nein! Fortan hieß der Hund also Schpacht. Der Name war nun gegeben. – Der Hund freute sich, – wir freuten ————————————

Nr. 43 1 Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 2. 2 Georg („Gori“) Erdmann (* 13./25.3.1885 Wolmar, † seit Januar 1945 vermisst), Katharinen-Schule in St. Petersburg, 1905–1908 stud. Freiberg, 1908 Dipl.-Hütteningenieur, 1909–1910 stud. phil. chem. Marburg/Lahn, 1910–1911 Assistent in Freiberg, NordClub, 1911–1912 Zinkhütte Birkengang in Stolberg/Rheinland, 1912 Betriebsingenieur in Oranienburg/Berlin, dann bis 1915 auf den Ostrowiecer Werken, sehr wechselvolles Geschick im Ersten Weltkrieg, seit 1928 in Berlin, schriftstellerisch tätig, ∞ 30.8.1912 Lia Clasani (* 14.4.1891, † 16.1.1956); Album Fraternitas Baltica, Nr. 391; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5100. 3 Siehe Edition, Nr. 35 Anm. 5. 4 Verlesen für „Pincenez“ (= Zwicker, Kneifer). 5 Siehe Edition, Nr. 27 Anm. 6.

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Familienbriefe 1903–1921

uns (fast alle). Er kommt zur Wirtin in Verpflegung – sie liebt ihn heiß – und einmal bringt sie den satten Cackel6 zu uns zum Abendbrottisch, wir waren so 6 Mann, und sagt eben freudestrahlend: „der Schpachtel will ehgal Kääse!“, als der Unglückselige auch schon durch augenscheinliche Schlingbewegungen dagegen protestiert – und so weiter. – Tableau7! Er hatte seinen Namen weg und wir ein geflügeltes Wort: „der Schpachtel will ehgal Kääse!“ Ich danke für die Schneeschuh – Anweisung, grüßt T. Y.8 Die Weihnachtsgeschenke freuen mich sehr Sisi

Nr. 44 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 13.1.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Tante Fanny1 haben wir beide schon vor längerer Zeit je einen Brief geschrieben, Tante Hanna2 habe ich eine Neujahrskarte geschickt. Rehthe3 ebenfalls. Hier haben wir die ganze Zeit so herrliches Winterwetter, daß ich nächst dem Studium hauptsächlich vom Wintersport engagiert bin. Dieser Brief leidet an unvermittelten Übergängen; vielleicht rührt dies daher, weil eben ein neuer Schrank mit schönen Mineralstücken angekommen ist und es dort ganz famose Labradore, Opale und seltene Fahlerze zu betrachten gibt. Man läuft ———————————— 6

Wohl verlesen für „Dackel“. Ausruf der Überraschung. 8 Wohl verlesen für „T. J.“, d. i. Tante Josephine („Josi“) von Moeller. Nr. 44 1 Franziska von Tideböhl. 2 Helene Emilie Johanna von Tideböhl (* 18.12.1857 Riga, † 22.9.1926 Rom), Schwester von Sigismunds Mutter Alma, spätestens 1905 am Konservatorium in Rom. 3 Verlesen. Silvester Hugo Rehsche (* 1./13.1.1862 Arensburg, † 26.12.1923 Freiburg/Breisgau), cand. jur., Rechtsanwalt, Stadtverordneter in Riga, seit 1910 in Deutschland, 1913 in Dresden, ∞ Riga 1891 Alexandra Kleinberg. Er wohnte 1902 in Riga, Todlebenboulevard, ebenso wie die Familie von Radecki; Album Livonorum, Nr. 1367. 7

Briefe Sigismund von Radeckis

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hier Ski gewöhnlich zur Ölmühle4; es geht mit viel Hinauf und Hinunter durch den schönsten Wald. Kurz vor der Mühle ist eine steile Abfahrt, so daß der normale Sportsmann mit großer Geschwindigkeit und in etwas erzwungener Rücklage dort zur allgemeinen Freude vorfährt. Ausser den Lehrbüchern lese ich jetzt eigentlich garnichts mehr, nicht einmal die Zeitung. Als ich meine Skier noch nicht hatte, las ich Don Quixote und Torquato Tasso. Mit dem Studium bin ich zufriedener denn je. Mineralogie und Geologie besonders sind fein. Für die Zeit nach dem Vorexamen habe ich schon Pläne; vielleicht kann man in England als workmen ankommen, denn einmal muß man doch englisch parlieren können! Briefe mit Bitten um Informationen in der Richtung habe ich schon geschrieben. Hat Tante Emmi5 nicht viele englische Bekannte? Micko bekam ja durch sie eine famöse Stelle? Was meine Wehrpflicht anbetrifft, so bin ich, glaube ich, leider Freiwilliger. Sicher komme ich, nach meinen Informationen, nur als Gemeiner los! Nun, daß sind alles Fragen, die noch Zeit zum Schweben haben. Mit herzlichem Gruß Sisi

Nr. 45 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 18.[1.]1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Zur Datierung: Die Skimeisterschaften in Geising fanden am Samstag/Sonntag, 14./15.1.1911 statt1. Da Radeckis Tour zu den Meisterschaften an einem Sonntag stattfand und er am 18. darüber berichtete, ist das Briefdatum in den Januar zu setzen.

Nord-Club Lieber Pappi!

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In Oberschöna, 10 km westlich von Freiberg. Wahrscheinlich Emilie von Samson-Himmelstjerna, geb. von Moeller (* 10.11.1848, † 28.9.1912 Rauge), Schwester des Gutsbesitzers von Sommerpahlen, Mutter von „Robbi“ Samson-Himmelstjerna; Genealogisches Handbuch Oesel, S. 207; Genealogisches Handbuch Livland 1, S. 179. Identifikation anhand Sigismunds Glückwunsch zu ihrem Geburtstag im Brief v. 19.11.1911; Edition, Nr. 65. Nr. 45 1 Gerd FALKNER, 100 Jahre Deutscher Skiverband, Planegg 2005, S. 22. 5

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Familienbriefe 1903–1921

Mit Bestürzung las ich gestern die Briefe, in denen meine Schreibfaulheit so gerügt wurde, um so mehr, als ich einen Brief Sonntag an Dich abgeschickt wußte! Wir haben hier das bleifarbenste Regenwetter, das man sich vorstellen kann. Welch ein Kontrast gegen Sonntag, wo man die ganze Zeit in der freien Natur, auf flinken Schneeschuhen war. Sonntag früh, um 7.45 fanden wir Freiberger uns etwas verfroren auf dem Bahnhof ein, packten uns mit den Skiern ins Bummelbähnchen und fuhren nach Rehefeld (ins Erzgebirge)2. In Geising, dem netten Städtchen, waren die Schneeschuhwettspiele vom östlichen Erzgebirge. So etwas prachtvolles, wie die Skitour von Rehefeld bis Geising (10 km) erlebt man nicht alle Tage. Da ich in den Ferien viel gelaufen war, auch durch das Müllern an Ausdauer zugenommen habe, so war ich bald allein im schneeglitzernden Wald. Bald öffnet sich zur Seite etwa ein Durchblick auf die blauweißen Höhenzüge, bald hält man fast den Atem an bei einer rasenden Abfahrt. Dann dieser Wald im Schnee! Der Duft alles Klaren, Kühlen und Köstlichen geheimnisvoll gemischt mit dem von uralten Büchern3. Keiner, ausser einem Briefboten auf Schneeschuhen, begegnete mir – dann läßt der Wald einen plötzlich frei und ich gleite sanft und schnell in ein Tal, dessen Schnee auf der Sonnenseite rosa und auf der Schattenseite violett ist. Allmählich werden die Menschen (aber nur auf Schneeschuhen) päusiger, alle haben rote Backen und sind lustig; welch ein Institut de beauté! Alles strebt zum Sprunghügel, vom kleinen bin ich schon abgesprungen, aber dieser war doch etwas unheimlich hoch. Die Zuschauer stecken ihre Skier in den Schnee, so entstehen kleine Wäldchen. (Skizze einer Sprungschanze) [fehlt] So sieht ungefähr ein Sprunghügel aus. Von diesem sprang man ungefähr 18 Meter; ganz hübsch was? In und um Geising konnte man die herrlichsten Skiluxusexemplare bewundern. Waren 2 sehr unrasiert, sehr Tirolerhütchen und sehr Pince-nez, so begrüßten sie sich: „Jung Leipzig, heil!“ Aber das half ihnen nichts, Freiberg nahm die ersten Preise – ausser im Springen, wo es den Norwegern keiner nachmacht. Auch die Rückfahrt war schön. Erst ein blutiges Abendrot und dann stieg der Mond langsam aus den Tannen wie eine goldene Melone. Es grüßt Dich sehr herzlich Sisi

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Rehefeld bei Altenberg/Erzgebirge. Vielleicht verlesen für „Buchen“.

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Nr. 46 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 21.1.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Mit diesem Brief weihe ich meine neuen Augengläser ein, ich trage jetzt nähmlich ein Pince-Nez. Meine alte Brille wurde mir allmählich zu schwach, ich ging zum Augenarzt und der verschrieb mir No 7, früher hatte ich No 4,5. Mit dieser neuen Nummer komme ich, glaube ich, sicher frei, wenn ich mich als Gemeiner stelle. Wenn man sich als Freiwilliger stellt, kann man doch nie sicher sein. Hier in Freiberg haben wir prachtvolles Sonnenwetter, leider aber wenig Schnee. Heute war ein ereignisreicher Tag im Klub: der neue Teekessel kam an. Ein elektrischer Teekessel. Von morgen an wird five o’clock tea im Klub abgehalten. Ende Februar wird eventuell eine geologische Exkursion in den Harz auf Schneeschuhen veranstaltet1. Das müßte recht schön werden. Unterrichter2, der Österreicher, ist jetzt Assistent für Markscheiderkunde geworden und wird in seinem Sprechzimmer von den Klubmitgliedern eifrig besucht. Ich halte mich jetzt durch Müllern im Training, denn Sonntag ist Ski-Sportfest. Ich schließe schon, denn ich will die Augen nicht überanstrengen. Es grüßt Sisi

Nr. 47 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 4.2.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

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Nr. 46 1 Erhalten haben sich Fotos: Freiberg Winter 1911: „Nord-Club“ 10 Studenten; „Brocken Febr[uar]“. 2 Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 6.

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Familienbriefe 1903–1921

Liebe Eva! Da es bis zum Schlafengehen etwas Zeit nachgeblieben ist, so will ich Dir schreiben. Erstens bin ich heute ungefähr 25 Kilometer Schneeschuh gelaufen, wobei das Lächerliche passierte, dass ich, in der Meinung gerade zu laufen, im Walde 2 Kreise beschrieb – folglich eine 8 machte; dafür brach, als ich geräuschlos eine Schneise hinunterglitt, ganz nah ein Reh los. Dann habe ich heute den „Zerbrochenen Krug“1 gelesen, der mir den prachtvollen Eindruck eines absolut vollkommenen Kunstwerkes spendete. Ich bin ja in der dramatischen Poesie sehr unbewandert, aber ich kenn kein Stück, dass einen so klaren, knappen und straffen Bau hat. (Verzeih’, ich merke eben, daß die Konstruktion des Satzes durchaus verfehlt ist.) Du schreibst, ich sollte in meinen Briefen sachlicher sein. Damit hast Du ganz recht. Wenn man’s nur pauken könnte. Willi trägt jetzt einen Anzug, bei dem blaßgrüne Pünktchen freundlich mit dunkelgrauen abwechseln. Seine Gesichtsmuskeln haben noch immer die alten ausgedehnten Bewegungsmöglichkeiten; im Winterpaletot ist der Kopf noch immer etwas zu klein im Verhältnis zum Wanst. Immer noch ist er würdevoll auf dem Bürgersteig, – immer noch scheint er zu Hause von Gummi. Aber was soll das? – Du kennst ihn ja! Mein Zimmer hat vier Fenster und folgenden Grundriß (Skizze) [fehlt]: 1. Bett, 2. Waschtisch, 3. Tisch, 4. Klappstuhl, 5. Wäschekommode, 6. Schreibtisch, 7. Divan, 8. eingelassener Bücherschrank, 9. eiserner Standofen, 10. Spiegel und Toilettentischchen, 11. Tür. Über Tisch 3 hängt eine Lampe, über 6 steht ein [fehlt], 4. ist ein famoses Möbel, deswegen ich eigentlich das Apartement wählte. 7 ist nur Dekoration und türkisch gemustert, die Tapete ist pompeyanisch Rot mit einem geistreichen lotrechten Strichelmuster. Die Plafondschnörkel haben die Eigenheit aller Plafondschnörkel – jeden Morgen dem harmlos im Bett liegenden Betrachter eine neue, noch raffinierter idiotisch ausschauende Physiognomie zu präsentieren. Der Spiegel ist eckig, länglich und ein komplizierter Charakter, denn er besitzt 3 Teile, deren jeder mir gegenüber ein anderes Verhalten zeigt. Hierbei bemerke ich zu meinem Schrecken, daß ich Dir den Kleiderschrank, zwischen 1 und 2 gelegen, vollständig unterschlagen habe, ich fürchte, daß dadurch wohl der dokumentarische Wert obiger Zeichnung empfindlich leidet, wohl aber wird dadurch, wie

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Nr. 47 1 Lustspiel von Heinrich von Kleist.

Briefe Sigismund von Radeckis

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ich glaube, ein vollkommener Beweis von des Unterzeichneter Schläfrigkeit gegeben. Eine geruhsame Nacht wünscht Sisi

Nr. 48 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 10.2.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Ich schicke Dir zum Geburtstag1 meine besten Glückwünsche und ein Buch, das Dir hoffentlich ebenso viel Vergnügen bereiten wird, wie es mir bereitet hat. Die Zeichnungen sind von einem alten Freiberger Markscheider gemacht worden2. Wir haben hier Vollmond, und infolgedessen blauen Himmel und Kälte. Und daher gute Laune. Aus einem Deiner Briefe entnehme ich, daß Du Dir zeitweilig Sorgen wegen meiner Gesundheit gemacht hast. – Nun, ich habe mich nie im Leben so gesund gefühlt wie in diesem Winter. Das danke ich nur dem Umstande, daß ich nicht mehr rauche und systematisch Gymnastik mache. Die Geologie und zwar besonders die Dynamische wird täglich interessanter. Ich besuche jetzt auch die ungeheuer belehrenden Sitzungen der „F. G. G.“ (Freiberger Geologische Gesellschaft). Gestern hatte ich einen schönen Abend. Es probte das akademische Streichquartett, zum Schluß wurde das Haydnsche Kaiserquartett gespielt. Die Leute spielen in der Wohnung von einem Schwaben Kuehn [?]. Das Haus ist aus dem Mittelalter, die ganze Einrichtung teils Renaissance, teils Rokoko (beides echt), dazu ein

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Nr. 48 1 Ottokars Geburtstag war der 21.1.1854 (alter Stil). 2 Vielleicht „Das Markscheiden“ (1851), Zeichnung von Johann Eduard Heuchler (1799– 1879), Baumeister und Zeichenlehrer an der Bergakademie Freiberg.

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Familienbriefe 1903–1921

prächtiger Kamin, schöne alte Stiche und Abdrücke nach messingnen Grabplatten an den Wänden – kurz ein Genuss, bei dem alles irgendwie störende verbannt war3. Ich lese jetzt Heinrich von Kleist. Ich mache mich heute mit Willi und anderen (unter Leitung des Assistenten für Geologie) auf zu einer kleineren geologischen Exkursion auf Schneeschuhen. Das Wetter verspricht viel. Es grüßt Dich herzlich Sisi

Nr. 49 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, [Mitte Februar] 1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Zur Datierung: Der im Brief erwähnte „Edle von der Planitz“ gewann bei den 1. Skimeisterschaften in Oberwiesenthal am 28./29.1.1911.

Wasserturmstr. 2 Liebe Eva! Heute ist Sonnabend und es ist 6 Uhr nachmittags. Das weiß ich, weil alle alten Stadtglocken die Angewohnheit haben – Sonnabend um 6 Uhr unisono zu läuten. Bei mir ist schon Licht, daran liegt es wohl, daß Baumgeäst und schlanke Türme da draussen im Fenster so bläulich verschleiert und unwirklich erscheinen. Bumm-Bumm-Bumm: der alte Eigenbrödler St. Jakob1 ist natürlich zu spät gekommen, um sich ins rechte Gehör zu setzen. Irgend etwas ist draussen passiert, was – weiß man noch nicht genau. Die Wolken oben sind garnicht mehr so freskenhaft und zart wie im Winter – nein, dick aufgeplustert segeln sie daher, von einem handfesten Winde getrieben – so daß man Angst kriegt, sie könnten sich noch im Geäst der Bäume verfangen, das gerade so zart und ———————————— 3

Heute Weinhaus Blasius. Name nach dem Besitzer und Obermeister der Freiberger Buchbinderinnung, Blasius Fleissner, der das Haus 1558 erwarb. Nr. 49 1 Jakobikirche in Freiberg.

Briefe Sigismund von Radeckis

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fein ist, um so etwas wie eine Wolke aufzufangen. Schade doch, dass der Winter vorbei ist! Er kommt mir so vor, wie einer, den ich schon lange kenne, aber ihn erst, da er abfahren will, lieb gewonnen. Wer sagt da, er sei kernfest und auf die Dauer2? – Oh, Winter ist hier ein zartes, zartes Fräulein, das, hast du nicht gesehen, in Träumen zerfließt und fort ist; aber manchmal, in Mondnächten, holt es Geschmeide hervor. Einerlei: Schneeschuhe eingepackt: „Tuesday we’ll have the first hockey training” Captain. Hier schick ich 2 Bilder [fehlen]. Das eine zeigt im Sprung Herrn Fahnenjunker Edler von der Planitz in Oberwiesenthal3. Dies ist ein Sprung von circa 30 Metern. Das andere Bild ist eine Schloßruine über dem böhmischen Städtchen Joachimstal4. An den Turm ist eine Leiter gelehnt, auf der, Du kannst es glauben, mein Skikamerad und ich stehen. Man sieht rechts ein Stück zerfallener Mauer, links ist ein tiefes, tiefes Loch mit dem Städtchen. Es grüßt Sisi

Nr. 50 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 20.2.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Wasserturmstr. 2 Lieber Pappi! Bei uns ist nun schon aller Schnee abgetaut – es wäre doch schade, wenn gar kein Schnee mehr käme! Die Geologische Exkursion, von der ich im letzten Brief sprach, ging in den Harz. Sie dauerte 4 Tage. Für Eisenbahnfahrten hatte man im Ganzen 10 Mark einzuzahlen. Es war eine selten genußreiche Tour. Besonders in wissenschaftlicher Hinsicht bekam man sehr viel zu sehen. Freitag um 2 Uhr nachmittags trafen wir alle, Willi auch, (10 Mann und der ———————————— 2

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Verweis auf das Gedicht von Matthias Claudius (1740–1815) „Ein Lied hinterm Ofen zu singen“: „Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer.“ 28./29.1.1911 fanden in Oberwiesenthal die 1. Deutschen Skimeisterschaften statt. Hans von der Planitz aus dem Vogtland belegte den 1. Platz im Skispringen. Jáchymov (Sankt Joachimsthal).

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Familienbriefe 1903–1921

Assistent für Geologie, Dr. Ochs1) mit Schneeschuhen beladen auf dem Bahnhof ein. Über Chemnitz und Leipzig ging der Zug nach Goslar. Dort stiegen wir aus und übernachteten. Vorher aber machten wir noch einen Mondscheinspaziergang durch diese wunderbare Stadt. Am anderen Morgen fuhren wir in das weltberühmte Bergwerk „Rammelsberg“ ein. Um 12 Uhr mittags fuhren wir dort aus und machten uns nach Harzburg auf, wo wir Station machten. Dann ging es, auf Skiern, zum Brocken! Und alles beim schönsten Wetter. Den Brocken hinauf ging es im Mondschein. Im Brockenhaus wurde übernachtet. Am Morgen früh hieß es heraus und per Ski nach Clausthal (dort ist auch eine Bergakademie). Den Brocken per Schneeschuh bei Sonnenschein hinunterzugleiten – das ist schön! Der Harz ist die schönste Gegend, die ich in Deutschland bisher gesehen habe. Nichts geht über die Pracht dieser Tannenwälder. In Clausthal wurde übernachtet, am nächsten Morgen eingefahren. So prachtvoll eingerichtete Grube kannte ich bisher nicht. Eine Werst unter der Erde mit einer elektrischen Bahn befördert zu werden!? Dann besahen wir die vielleicht modernste Erzaufbereitung, welche existiert! Am Abend desselben Tages waren wir wieder im lieben Freiberg. Es grüßt Dich Sisi

Nr. 51 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 3.3.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Du wünschst einen Finanzbrief. Die Sache steht bei mir folgendermassen: Für den Februar hab ich alles bezahlt. Irgendwelche Schulden hab ich nicht. Bargeld hab ich 30 (dreissig) Mark. Wenn ich mein Rad verkaufe (Käufer sind da), so kann ich dafür jederzeit 100 Mark kriegen. Ich brauch das aber nicht zu tun, ich kann es auch versetzen – für 40 Mark. Ausserdem habe ich, um etwas zu schaffen, eine literarische Arbeit, eine Übersetzung, gemacht, von der ————————————

Nr. 50 1 Felix Ochs (1883–1968), 1908 Dr. phil., Dipl.-Ing., seit 1911 als Assistent der Geologie in Freiberg.

Briefe Sigismund von Radeckis

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ich hoff, dass sie, durch Vermittelung eines Dresdner Redakteurs, an irgendeiner Zeitschrift ankommt1. Ich schick Dir hier eine Photographie2. Von links nach rechts sind es: 1. Schilling3, genannt „Stassj“ 2. Willi4 3. F. Stutzer5, guter Skikamerad 4. Gutschmidt6, aus der Baltica aus Riga 5. Hage7, aus Gothenburg genannt „Jassoh“ 6. Leo Stanke8, Kurland, oder Photograph 7. E. Kupfer9, Goldingen. Diente im xten Ulanenregiment in [fehlt], genannt [fehlt] 8. Nekrassow10. Zeichnet sich durch die Pünktlichkeit aus, mit der er jeden Abend „Schlag elf“ in den Club kommt, genannt „Nagrada“ 9. Nicolai Freiherr von Taube11, genannt „Schpucht", derz. Assistent für Physik 10. Sisi Durch die vielen Rückhalte, die ich financielle noch besitze, wirst Du ersehen haben, dass keinerlei Grund zu irgendwelcher Besorgnis vorliegt. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 52 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 13.3.1911

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Nr. 51 1 Bisher ist unbekannt, ob es zu einer Veröffentlichung gekommen ist. 2 Erhalten hat sich ein Foto, Freiberg Winter 1911: „Nord-Club“ mit 10 Personen: Abb. oben S. 27. 3 Siehe Edition, Nr. 27 Anm. 6. 4 Wilhelm, Sigismunds Bruder. 5 Friedrich Carl Gustav Stutzer, aus Bonn, 1913 Dipl. Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5630. 6 Siehe Edition, Nr. 35 Anm. 5. 7 Siehe Edition, Nr. 34 Anm. 6. 8 Siehe Edition, Nr. 34 Anm. 5. 9 Siehe Edition, Nr. 40 Anm. 2. 10 Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 4. 11 Nikolaus Freiherr von Taube, vom Gut Borowiki/Russland, 1906/07 immatrikuliert, 1909 Dipl.-Ing., 1909 im Nord-Club; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5327.

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Familienbriefe 1903–1921

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Die Ausgaben, die zu Anfang des April zu leisten sind: Wohnung plus Essen = etwas über 100 Mark. Dazu Klub-Abgaben u. Kleinigkeiten – 10 Mark. Meine Schichten (8 fehlen noch) hol ich mir in Freiberg an der Himmelfahrt1. Neulich waren der Smiltensche Lieven und Frau2 (die Schwester von Taube3) zum Besuch im Club. Sie waren auf der Durchreise aus Rom. Das (freilich sehr schlechte) Bildchen, dass ich mit diesem Brief schicke [fehlt]4, stellt unsere geologische Harz-Exkursion vor dem Eingang des berühmten Rammelsberg Stollen5 vor. Dieser Stollen (in dem eine HeissdampfLocomotive läuft) führt einige hundert Meter bis zum Schacht, der eine elektrische Förderung hat – ein „Blindschacht“. Ich bin der 3te (hinten stehende) Mann von rechts, nicht der vierte. Rechts von mir steht Krusell6. Willi ist ganz links. Wir sind eben nach der Befahrung herausgekommen und stehen im schönsten Sonnenwetter (und etwas geblendet) am Bergabhang. Es grüsst Dich herzlich Sisi

Nr. 53 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 24.3.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club ————————————

Nr. 52 1 Bekanntes, wichtiges Silberbergwerk in Freiberg. 2 Paul Iwan von Lieven (* 12.4.1875 St. Petersburg, † 11.5.1963 London), ∞ Moskau 18.11.1905 Natalie Therese von Taube (* 22.10.1876 Smolensk, † 7.4.1964 Compiègne). 3 Siehe Edition, Nr. 51 Anm. 11. 4 Wahrscheinlich ein anderweitig erhaltenes Foto: „Brocken Februar (1911)“. 5 Bergwerk bei Goslar. 6 Herbert Otto Hermann von Kursell (* 3.9.1886 Reval), 1911 Dipl. Ing.; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5401.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Lieber Pappi! 1. Wir waren am Sonntag Nachmittag mit Herrn von Kaull1 in Dresden zusammen. 2. Wir erhielten 500 Mark. Kaull schrieb mir Freitag, er sei leider verhindert, nach Freiberg zu kommen, lade uns aber ein, den Sonntag mit ihm in Dresden zu verbringen. Wohl oder übel trieben wir unsere paar Groschen zu der Reise nach Dresden auf. Das Wertvolle an der Reise war, dass wir am Abend bei Rehsche2 zu Besuch waren (wir hatten ihm auch zu Neujahr eine Gratulationskarte geschickt). Wir wurden da (mit Kaull) sehr freundlich aufgenommen, er versprach auch einmal nach Freiberg in den Club zu kommen. Kaull ist immer noch derselbe Snob; eine Viertelstunde amüsiert man sich über ihn, dann stirbt man vor Langerweile. Er war sehr freundlich, ging mit uns spazieren und dann, wie gesagt, zu Rehsche’s. Die Nachricht vom Gelde (wie schwer mag es Dir wohl gewesen sein, es zu verschaffen) erhielten wir Mittwoch. Da die Adresse jedoch stud. rer. mont. v. Radecki, ohne Angaben des Vornamens, lautete, verweigerte die Bank, trotz unseres Erscheinens, die Auszahlung, die erst nach einem informierenden Telegramm nach Petersburg am Donnerstag vonstatten ging. Wir haben aber fürs Telegramm nichts zu zahlen gehabt. Heute waren die Ergänzungsvorexamen. Ich habe mir einige angesehen. Die Examinatoren sind recht commode. Da ich noch 8 Schichten zu verfahren habe, ausserdem aber recht viel „Hausfleiss“ anzuwenden habe, will ich diese Schichten in Freiberg und Umgegend (als Befahrungen) verfahren. Heute konnte ich mich zufällig von dem Fortschritt, den mein Körper in diesem Jahr gemacht hat, überzeugen. Mein Brustumfang war im Juni 97 cm und ist jetzt 104 cm. Was mich sehr gefreut hat. Anbei ein paar Bilder von der Harz-Tour [fehlen]. Es grüsst Dich Sisi

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Nr. 53 1 Wahrscheinlich der Kunsthistoriker Dr. Arved von Kaull (* 7.5.1869 Riga, † 3.10.1930 Berlin), lebte 1903 in St. Petersburg. 1913 heißt es von ihm in einer Dresdner Veröffentlichung: „unser liebenswürdiger Eremitage-Kollege“; vgl. Rigasche Rundschau, Nr. 227 v. 7.10.1930, S. 3 (Todesanzeige). 2 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 3.

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 54 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 20.4.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Auf einem Feldstuhl sitz ich an einem kleinen Waldsee, dem Soldatenteich1. Ringsum stehen Gewitter und auch weißgetürmte Wetterwolken; eben sind ein paar schreckhaft schnatternde Enten aufgeflogen, die Frösche quaken ganz entsetzlich. „Verdammt gutes Wetterr!“ sagen die Norweger; „s’werd ehgal scheene“ sagen die Sachsen. Es fängt an bedrohlich zu donnern; wie ich eben nachgesehen habe, fangen die dicken Frösche an, auf alles zu pfeifen – sie strecken alle viere so recht froschmässig von sich, suchen sich eine Lage, wo gerade nur die Nasenlöcher in die Luft reichen und „warten ab“. – Die Kerle tun gerade so, als ob sie im Juli Vorexamen hätten. Mit einigem Befremden höre ich von einer Antikinoversammlung in Dorpat – hierzulande ist Kino Bildungsfaktor. Und nicht zum Mindesten dank der Institution des „Conferencier“ – einem Mann, der alles erklärt – und wie erklärt! Jeden Mittwoch und Sonnabend ist Premiere – die Creme von Freiberg ist dann versammelt. (Wie heißt auf französisch saurer Schmand?) Und dann beginnt der Conferencier. Er ist sich zwar seiner großen Bedeutung bewußt, aber er weiß doch nicht, daß die Auserwählten seinetwegen, nur seinetwegen hingehen. Er arbeitet mit starken Mitteln – aber die Wirkung ist um so sicherer. Ist es rührend – so dreht er die Träumerei von Schumann an; ist „es“ aber lustig, so erdröhnt der Freiberger Jägermarsch, wobei das dankbare Publikum die liebe Angewohnheit hat, lokal patriotisch mitzutrampeln – was der Conferencier anfangs kindisch fand – wie er nicht zögerte mitzuteilen – aber wir sind nicht umsonst Militärstaat – das Trampeln wird schon Tradition. Fremdworte werden von seinen sächsischen Stimmbändern rettungslos erdrosselt. Und eine baltische junge Dame, die ich bei Rehsche2 traf, hatte nicht so unrecht, über den sächsischen Fremdwörterschatz zu sagen: (mit entzückendem Augenaufschlag) „Ja, so etwas ist immer amisürend!“

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Nr. 54 1 Großer Teich, südwestlich Freiberg. 2 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 3.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Willi, Kirstein3, Schilling4 und ich machten diesen Besuch bei Rehsche. – Armer Kerl – zeitlebens hat Rehsche ohne Aufzuschauen gearbeitet – jetzt wo er arbeitsuntüchtig und reich geworden ist, will er (denn er hat das Bewußtsein, Verschiedenes versäumt zu haben) – nachholen – vergebliches Bemühen! – Das Einzige, was einen aufrecht erhält, bleibt doch immer das Bewußtsein der ungeheuren Inferiorität der anderen! Es ist Frühling. Lange schon hat Willi unbeteiligt, aber nicht uninteressiert, dem beliebten Tanzvergnügen zugesehen. Es ist nicht dabei geblieben. Von dem vernünftigen Grundsatz ausgehend, dass die beste Art, eine Versuchung loszuwerden, ihr nachzugeben sei, nimmt er kurzentschlossen bei Kirstein, seinem Flausch5, Tanzstunden. Wir müssen pfeifen (das fällt oft verdammt schwer), und sie tanzen einen prächtigen two-step. – Es gibt 2 Arten Clubleute wütend zu machen: 1. [die] gewöhnlichen, alten, gut erprobten Arten; 2. man bringt das Gespräch aufs Vorexamen. Das 2. wirkt unbedingt sicher. Die Examengebühr – 100 Mark und die Kolleggelder – 150 Mark müssen bis Ende Mai bezahlt sein. Sonst wüßte ich nichts zu vermelden. Mit herzl. Gruß Sisi

Nr. 55 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 23.5.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Heute, Dienstag, früh erhielten Willi und ich jeder 600 Mark. Herzlichen Dank dafür! Du schreibst, wir sollen doch von Exkursionen erzählen. Wir

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Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 2. Siehe Edition, Nr. 27 Anm. 6. Der Name des studentischen Lehrers „Flausch“ tritt auf bei Wilhelm Harnisch (1787– 1864), einem auch in Sachsen weitläufig bekannten pädagogischen Schriftsteller, unter anderem in: Das Leben des fünfzigjährigen Hauslehrers Felix Kaskorbi, Breslau 1817, wo der Hauslehrer „Flausch“ eine zentrale Rolle spielt.

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Familienbriefe 1903–1921

haben 2 mitgemacht. Eine ging nach Tharandt1, Dresden, Dresdner Haide2 und zurück. Die andere ging in die Lausitz. Wir besahen dort die großartigen Granitsteinbrüche. Zum Schluß besahen wir (alles an einem Tage) das Städtchen Bautzen. Man lernt die alte Erde mit ganz anderen Augen als früher zu betrachten. Zu Rehsche3 fahre ich nächstens. Neulich, am Sonnabend, war ich bei ihm. Ich wollte nähmlich nicht zu lange in Freiberg bleiben, wo Margeritentag „für unsere Kleensten“ war4. Die Gelegenheit benutzte ich auch, um einen Blick auf die Internationale Hygiene-Ausstellung zu werfen. Man kriegt dort Lose à 1 M. zu kaufen – Hauptgewinn 3000 M. Ziehung und Auszahlung sofort. Schilling und ich kauften sich jeder eins, und gewannen jeder 3 Mark. Insofern waren wir ganz zufrieden. Dort nahm ich die Gelegenheit wahr, zum ersten Mal im Leben ein Marionettenspiel zu besehen. Es war aus München. Gegeben wurde ein sehr nettes Stück „Violon und Klarinette“5. Ich schreibe bald wieder. Dies soll nur den Empfang des Geldes mitteilen. Wenn ich an das Examen denke, so kriege ich das bekannte Schicksalsbauchweh. Mit Gruß Sisi

Nr. 56 Sigismund an seine Mutter Alma

Freiberg/Sachsen, 29.6.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mammi! Ich bitte wegen des langen Schweigens vielmals um Entschuldigung: ich hab leider andauernde Perioden von Schreibwiderwillen. Ich habe jetzt sehr viel ————————————

Nr. 55 1 Ort bei Dresden. 2 Waldgebiet bei Dresden. 3 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 3. 4 Seit 1910 fanden in Deutschland sog. Blumentage (oft unter dem Namen „Margeritentag“) statt mit Sammlungen für wohltätige Zwecke, z. B. Kinderkrankenpflege. 5 Siegfried August MAHLMANN, König Violon und Prinzessin Klarinette. Ein Trauerspiel für Marionetten, München 1910.

Briefe Sigismund von Radeckis

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zum Examen zu arbeiten – so viel, dass ich Tante Fanny1 leider nicht mit Willi in Dresden besuchen kann. Willi und mir geht es gesundheitlich sehr gut. Nach dem Examen habe ich eigentlich grosse Lust nach Hause zu fahren. Ich habe schon zu Ostern extra zu dem Zweck mein Velociped (zu sehr gutem Preise) verkauft – nämlich unter der Bedingung, dass die restierenden 70 Mark zum Vorexamen zu zahlen sind. Da ich in der Ferienzeit hier keine Miete zahle, so komme ich im Ganzen billiger durch, als wenn ich im Ausland bliebe (das ist eine alte Erfahrungstatsache der Nordclubler). Ob ich zum Examen durchkommen werde oder nicht, das weiss ich, offen gesagt, nicht; ich glaube, Ihr seid von meinem Durchkommen etwas zu überzeugt. Eins steht mir jedenfalls fest: dieses Studienjahr hat mich viel weiter gebracht, ich habe viel zugelernt und vor allem ein tatsächliches Interesse am Fach gewonnen – und darauf kommt es mir vor allem an. Die Pfingstexkursion war famos. Wir, Engländer und Norweger bildeten eine Clique, die sich sehr wohl fühlte. Von Jena aus machte ich einen Abstecher nach Weimar, wo ich mich um 7 Uhr morgens im ganz einsam stehenden Goethe-Haus am Frauenplan beim Pförtner als Geologe legitimierte und darauf hin ungestört die schönen geol. und mineral. Sammlungen des Geh.-Rats durchmustern konnte, wobei mich die von ihm eigenhändig geschriebenen Zettelchen als Fachmann besonders interessierten. In der Hoffnung, dass es Dir und Euch gut geht Sisi

Nr. 57 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 28.9.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi!

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Nr. 56 1 Franziska von Tideböhl.

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Familienbriefe 1903–1921

Bei meiner Reise klappte alles vollständig nach Wunsch. Um ½ 2 Uhr nachts kam ich in Freiberg an und übernachtete im Hotel Kassel. Ich ging am nächsten Morgen gleich in den Club; dort traf ich Kursell1 – er empfahl mir seine frühere Wohnung: 2 helle grosse Zimmer mit Bedienung, aber ohne Morgenkaffee – 28 Mark monatlich. Ich ging nach Friedeburg (ein Stadtteil), sah sie mir an und nahm sie. Heute werde ich schon dort schlafen. Ein grosser Vorzug ist der, dass die Wirtin, nach Kursell’s Meinung, durchaus zuverlässig und anständig ist. Meine Sachen, die ich im Sommer hiergelassen hatte, bringe ich morgen früh mit einem Dienstmann hinüber. Mein Geld habe ich heute in der Vorschussbank eingezahlt und ein Büchlein erhalten (Conto-Corrent). Morgen will ich die Akademie bezahlen und mir einen Stundenplan verschaffen. Wie ich mich heute erkundigte, habe ich einen Platz im Laboratorium schon erhalten. Ich habe aber leider erfahren, dass man, um das hüttenmännische Schlußexamen zu machen – 1 Jahr qualitative und 2 Jahre quantitative Analyse zu absolvieren hat – das kann ich nun leider nicht tun! Ich will aber jedenfalls das Hüttenmann-Vorexamen machen – es nützt jedenfalls. Ausserdem werde ich darüber noch mit Prof. Brunk2 reden. Adresse: Freiberg i. S., Albertstr. 14. Mit Gruss Sisi

Nr. 58 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 3.10.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Albertstr. 14 Lieber Pappi! Willi kam gestern wohlbehalten hier an. Die Schiffsreise ist gut gewesen; am zweiten Tage hat es etwas geschaukelt. Ich hab mich in meiner neuen Wohnung schon ganz gut gemütlich eingerichtet; morgen fangen die Collegs an. ————————————

Nr. 57 1 Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 5. 2 Der Name ist überschrieben. Wahrscheinlich der Chemiker Otto Brunck (1866–1946).

Briefe Sigismund von Radeckis

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Allerdings lesen nur die wenigsten Professoren. Der Nord-Club ist fast vollzählig versammelt, die 3 neuen Mitglieder: Haeseler1 aus Wiborg, Felix Kluge2 (genannt: der Klügere) und Ungern-Sternberg3 – werden kritisiert. Wegen des Hüttenmannexamens habe ich den Professor zwar noch nicht gesprochen, man hat mir aber allgemein versichert, dass es aussichtslos sei. Will ich den Hüttenmann auch machen, so muss ich noch ein Jahr in Freiberg bleiben. Das Wetter ist hier in der letzten Zeit recht schlecht geworden. Gestern nacht ist auf dem Fichtelberg Schneefall gewesen. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 59 Sigismund an seinen Vater Ottokar

[Freiberg/Sachsen, nach 3.10.1911]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Albertstr. 14 Lieber Pappi! Gestern erhielt ich Deinen Brief und vorgestern Mammi’s. Den Bericht über meine Einnahmen und Ausgabe, den das Legat verlangt, werde ich einschicken. Die Vorlesungen hier haben mit Volldampf angefangen. Ich höre recht viel hüttenmännische Fächer, die von Prof. Schiffner sehr gut gelesen werden1.

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Nr. 58 1 Arthur Friedrich Heiseler (* 3.3.1893 Wiborg, † 18.1.1974 o. O.; Eltern: Arthur Carl Heiseler (* 1854 Werro, † 1928 Wiborg), Arzt in Wiborg, ∞ Anna Catharina Schiller, aus Reval; https://familysearch.org/ark:/61903/2:1:MHKX-MNR. 2 Felix Kluge, aus Libau, 1911/12 immatrikuliert; PAPPERITZ, Gedenkschrift, Nr. 5749. – Seit 1908 war bereits ein Hans Kluge im Nord-Club; siehe Brief v. 31.3.1910; Edition, Nr. 22 mit Anm. 8. 3 Constantin Max Freiherr von Ungern-Sternberg (* 12.10.1888 Graz, † 10.4.1945 Wien), Dipl.-Ing., zeitweise bei Siemens in Shanghai, ∞ Riga 30.1.1917 Leonie Gräfin von Keyserling (1887–1945); Jahrbuch für das Berg- und Hüttenwesen in Sachsen 1920, S. 295 („Ungern-Sternberg aus Graz“). Nr. 59 1 Carl Schiffner (1865–1945), seit 1902 Professor für Hüttenkunde.

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Familienbriefe 1903–1921

Ausserdem arbeite ich fast täglich im Laboratorium, so dass ich hoffe, endlich einmal die Chemie bezwingen zu können. Da meine Wohnung nicht ganz nah von der Akademie liegt, hab ich es eingerichtet, dass ich jeden Nachmittag bei Willi Kaffee trinke, so sehen wir uns täglich mehrere Male. Ich habe mir ein fast ungebrauchtes Reisszeug im Lombard für 25 Mark gekauft2 und damit einen sehr glücklichen Griff getan: neu kostet es mindestens 40 M. – es ist famos. Mein Stundenplan ist folgender: 8–9 9–10 10–11 Maschi- Maschinennenlehre zeichnen

11–12

12–1

2–3 3–4 Maschinenzeichnen

4–5 Chem.

5–6

6–7

Nr. 60 Sigismund an seine Mutter Alma und seine Schwester Eva Freiberg/Sachsen, 15.10.1911 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Albert-Straße 14 Liebe Mammi und liebe Eva! Ich danke Euch sehr für Eure Briefe, ich hatte in der letzten Zeit beinah „Correspondenz“. Meine Wohnung liegt im Gartenviertel; die Straße sieht ungefähr aus, wie eine in Bilderlingshof 1. Willi ist ungeheuer solide und fleissig; ich bin, Gott sei Dank, auch recht viel in der Akademie, wo ich sehr viel Praktika habe. Meinen Stundenplan habe ich ja Pappi geschickt. (Er ist aber nicht vollständig, es fehlen noch einige Fächer aus der Markscheidekunde.) Im Nord-Club haben wir 3 neue Mitglieder2, die von sämtlichen Corps heiss umworben werden – sie sind auch schon alle krank geworden. – Heiseler aus Wiborg, der versicherte nach der ersten Schicht: dort unten sei es „kein Paradies“; dann sitzt er eine halbe Stunde ———————————— 2 Aus dem Leihhaus. Nr. 60 1 Badeort bei Riga. 2 Siehe Brief v. 3.10.1911; Edition, Nr. 58.

Briefe Sigismund von Radeckis

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wortlos vor einem, bis er plötzlich losbricht: „Pardon, wie heissen sie eigentlich?“ Dann der Bruder von Kluge aus Mitau: er behält seinen Kuppelhut schief auf dem Kopf, auch wenn man ihn versichert, er könne leicht herunterfallen. Im Übrigen heisst er entweder „der Klügere“ oder [fehlt] „das grosse Kamel“ (natürlich unterbleibt der ihm unbekannte Untertitel). Nummer 3 ist Herr Ungern-Sternberg, Absolvent des Petersburger Lyceums. – Raucht nicht, trinkt nicht, spricht drei Sprachen. Ich wollte Rehsche3 in Dresden aufsuchen, den man sich warmhalten muss (den man eine Erzgrube in Böhmen gekauft [?]) – er hatte aber Besuch, dem er Dresden zeigte – Herrn Hertwig (aus Ruechlikon4 – wie ich vermute). Euer Sisi Du siehst – wenn man lernen will – so kann man es bei uns in Freiberg tun! So angenehm, dass vor mir kein drängendes Examen steht (denn die beiden Fächer: Lötrohrprobierkunde und Aufbereitungskunde sind nicht zum Durchfallen geeignet!) – man geht mit ganz anderer Lust an die Arbeit. Besonders – da es manchmal Fächer sind, die ich noch gar nicht zu hören brauch – denn welcher Teufel plagt mich Elektrometallurgie zu hören? (die beste und schwerste Vorlesung der Akademie!). Aber es macht mir Spass. Mit herzlichem Gruss Sisi

Nr. 61 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 27.10.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Albertstr. 14 Lieber Pappi!

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Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 3. Rüschlikon am Zürichsee.

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Familienbriefe 1903–1921

Heute morgen erhielt ich Deinen dicken Brief und freute mich über die guten Nachrichten, die darin standen. Bei uns steuert es auch schon hart auf den Winter zu, alle Tage wird das Zimmer voll Blätter geweht. Vorgestern passierte Robbie Samson1 die Stadt. Er hat mit einer Hamburger Gesellschaft (Sloman2) einen Kontrakt auf 3 Jahre nach Chile abgeschlossen. Es ist das Nord-Chile, in der Nähe der Salpeterlager von Iquique. Er ist als bergmännischer Leiter zweier Kupfergruben angestellt und bezieht ein Anfangsgehalt von 250 Mark monatlich bei freier Station und ausserdem jährlich 1000 M. Auch ist eine bald eintretende Erhöhung der Gage in Aussicht gestellt. – Leider wächst dort weder Baum, Busch noch Gras – es regnet 3 mal im Jahre, daher er auch kontraktlich „Getränke frei“ hat. Er fährt jetzt noch auf ein paar Tage nach Hamburg, auf eine Woche nach Ludwigshafen, gibt dem Club noch ein Abschiedsfest und schifft sich am 11. November in Antwerpen ein. Die Reise dauert 42 Tage. Heute bezahlte ich meine Colleggelder, die den schönen Betrag von 286 Mark erreichten. Das ist ja sehr viel, aber es ist doch gut, dass ich so viel mitmache: – dann habe ich freie Hand fürs nächste Jahr und das ist Goldes wert. Willi ist consequent fleissig, ist es viel mehr als ich. Morgen arbeite ich den ganzen Tag in der Grube – wir machen einen Theodolitzug3. Mit Gruss Sisi

Nr. 62 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 4.11.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Liebe Eva!

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Nr. 61 1 Siehe Edition, Nr. 21 Anm. 4. 2 Henry B. Sloman (1848–1931), aus England gebürtiger Hamburger Unternehmer, der intensiven Salpeterhandel betrieb, Bauherr des Hamburger „Chilehauses“. 3 Vermessungsarbeit in der Grube mit dem Theodoliten.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Die kleine bedeutende Dame wird ? Jahre alt1. Verzeih, aber ich weiss es wirklich nicht. Ich werde, glaub ich, zwanzig, ich fühle mich aber bedeutend jünger. (Jetzt denk Dir einen begeisterten Exkurs über die Jugend hinzu, ungefähr so: „Jugend! Es gibt nichts Ähnliches. Geschmacklos ist es, von der Unerfahrenheit der Jugend zu reden. Ich höre nur noch auf die Meinungen von Leuten, die viel jünger sind als ich. Sie sind mir weit-voraus. Das Leben hat ihnen sein letztes Geheimnis offenbart. Den Älteren aber widerspreche ich stets, und zwar aus Princip. Wenn man sie über etwas um ihre Meinung fragt, was gestern geschah, dann erzählen sie uns feierlichst von Dingen, die anno 1820 geschehen, zur Zeit als die Leute Vatermörder trugen, alles glaubten und garnichts wussten2!“) Jetzt kommt die grosse Frage, was ich Dir schenken soll. Es muss natürlich von einer Köstlichkeit sein, die unermesslich ist und die daher in der nächsten Bude für ein billiges zu haben ist. Einstweilen hatte ich darüber mit einer Dame aus gebranntem Ton sophistische Dialoge, während mein Leib mit aufregender Routine Apfelkerne an die Wand spuckt. Als Abschlagszahlung nimm dieses Gedicht3, das leider nicht von mir und nicht zum Lesen, sondern zum Auswendiglernen ist. (Verdammt knauseriger Kerl, weisste.) OPHELIA. Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten, Und die beringten Hände auf der Flut Wie Flossen; also treibt sie durch den Schatten Des grossen Urwalds, der im Wasser ruht. Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt, Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein. Warum sie starb? Warum sie so allein Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt? Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht Mit einer Hand die Fledermäuse auf. Mit dunklen Schwingen, von dem Wasser feucht Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf. ————————————

Nr. 62 1 Evas Geburtstag war der 5./17.11.1884. 2 Die Passage stammt aus: Oscar WILDE, Dorian Grays Bildnis, deutsch von Felix P. GREVE, Minden 1905, S. 354. 3 Georg HEYM, Der ewige Tag, Leipzig 1911, S. 56.

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Familienbriefe 1903–1921

Wie Nachtgewölk, ein langer weisser Aal Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint Das Laub auf sie und ihre stumme Qual. So dichten jetzt die Jungens in Deutschland. Verdammte boys! was? Jetzt kommt mein Geschenk an die Reihe. Bitte sendet mir von den dagelassenen Büchern: meine Penthesilea, die ich schmerzlich vermisse, Sören Kierkegard, das blaue Nietzschebändchen und (falls ichs dagelassen habe) „Der Schatzbehälter“4. Die sich ergebenden Zwischenräume dürfte am Besten mit Böhmingschen Fabrikaten [?] auszufüllen sein. Ade Sisi

Nr. 63 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 6.11.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Wir haben hier jetzt ein paar schöne Herbsttage mit viel Wind gehabt. Ich, der ich zwischen Gärten wohne, kann das alles recht ordentlich geniessen. Heute hatte ich das erste Praktikum in der Probierkunde – man bestimmt den Silbergehalt einer Erzprobe – wobei ich mir unverschämt den Daumen verbrannte (eine Lappalie). Neulich fuhr ich nach Dresden und sah mir die „Schöne Helena“ an1. Ein Spass, der mich mit dem Eisenbahnbillet und Theaterplatz etc. zusammen nur 4,50 Mark kostete. Es wurde diese Operette in der geschmackvollsten Art gegeben, die man heutzutage in Deutschland finden kann: Regisseur Max Reinhardt2 – das sagt alles. Ein Gastspiel des Münchner Künstlertheaters. In der Höhe der Stuhllehnen führt durch das Parkett der sogenannte Blumenweg ———————————— 4

Wohl Hertha FEDERMANN, Der Schatzbehälter. Ein Brevier zeitgenössischer Lyrik, Königsberg 1909. Nr. 63 1 Operette von Jacques Offenbach. 2 Max Reinhardt (1873–1943).

Briefe Sigismund von Radeckis

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[Skizze des Blumenwegs fehlt], das ist eine vom japanischen Theater übernommene Einrichtung. Es machte sich pompös als, während der Ouvertüre, bei geschlossenem Vorhang 6 schlanke Mädchenpaare zu Häupten des erstaunten Publikums leise hinschritten und sich ein gracieuser Tanzfries an dem blauen Vorhang vorbei in den Bühnenraum bewegten. Ich habe leider so lange keine Nachricht von Euch, weder aus Petersburg, noch aus Dorpat, erhalten, dass ich von Euch garnichts mehr weiss. Willi ist ausserordentlich fleissig. In Chemie und Mechanik nimmt er bei einem sehr tüchtigen Studenten Repetitionsstunden, die für ihn von grossem Wert sind. Ich gehe so meinen alten Schlendrian weiter, bin weder ausnehmend fleissig, noch ausnehmend faul und freue mich meines bischen Lebens. Mit Grüssen Sisi

Nr. 64 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 14.11.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Eben habe ich an Taube1 einen Brief geschrieben, wo ich mich bei ihm für die Weihnachtsfereien in Rudny2 (mit Willi) anmelde. Rudny ist ein Musterbergwerk, eine Goldgrube, 2 Stunden von Prag gelegen. Taube ist dort Leiter der Aufbereitung, daher werde ich Gelegenheit haben, mir einen vollständigen Überblick des ganzen Werkes zu verschaffen. Der Aufenthalt ist nicht teuer. Rudny ist 16 Kilometer von der nächsten Bahnstation entfernt. Das mit dem zuviel Belegen hat schon seine Richtigkeit – es ist aber keine pekuniäre Einbusse dabei, denn es ist Gewohnheitsrecht hier, dass man bezahltes und ungehörtes Kolleg im nächsten Jahr hören kann.

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Nr. 64 1 Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 1. 2 Rudny bei Nollendorf (Nakléřov, heute Tschechische Republik) im östlichen Erzgebirge.

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Familienbriefe 1903–1921

Ich ersah heute aus der Zeitung, dass Bobrinski auf einem Oktoberfeste3 die Balten als die kaisertreusten Untertanen hat hochleben lassen. Das ist ja sehr erfreulich. Ich lese jetzt an einem Buche, von dem ich meine, dass es Dich interessieren würde: Der Einzige und sein Eigentum von Max Stirner4. Ein genialer Kerl. Wie er z. B. die Erscheinung des politischen Liberalismus behandelt! Es ist bei Reklam erschienen. Ich weiss noch garnicht, was ich der kleinen Eva zum Geburtstag schenken soll5: Willi hat mich heute mit einem gewissen Pomp zur Schokolade und zum gelben Kringel6 eingeladen. Als ich von der Kritik der Frau Buchhändlerin an Eva über das zu Druckende las, musste ich lachen – welche Groteske! Bitte grüss A. N.7 von mir; ich kann mir so vorstellen, wie man in der Alexandrinka8 abends mit einem Beutelchen Confect erwartungsvoll vor dem Theatervorhang sitzt und Bekannte aus der Bank begrüsst. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 65 Sigismund an Emilie von Samson-Himmelstjerna Freiberg/Sachsen, 19.11.1911 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Liebe Tante Emmi1! ———————————— 3

Wahrscheinlich verlesen für „Oktobristenfest“. Der Duma-Deputierte Graf Wladimir Bobrinski hatte am 17.10.1911 am Festbankett der Oktobristen, einem politischen Verband, teilgenommen, unter anderem mit einem Trinkspruch auf die Balten; Rigasche Zeitung, Nr. 240 v. 19.10.1911. 4 Max Stirner (1806–1856). Das Werk, erstmals 1845 erschienen, wurde seit 1893 mehrfach bei Reclam aufgelegt. 5 Evas Geburtstag war der 5./17.11. 6 Typisches Geburtstagsgebäck. 7 Unklarer Verweis. 8 Alexandrinsky-Theater in St. Petersburg. Nr. 65 1 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 5.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Gestatte, dass ich Dir zum Geburtstag gratuliere! Ich bedaure es, dass wir auf unseren beiden Durchfahrten durch Riga2 Dich nicht treffen konnten. Ich habe mich hier in Freiberg ganz gut eingelebt, das heisst nicht so sehr mit den Menschen (das fällt oft verdammt schwer), als mit der Stadt. Bergbau ist etwas Grossartiges, dem Bergingenieur gehört die Zukunft (wem nicht noch?) und unsere Akademie die älteste, vorzüglichste und berühmteste Technische Hochschule der Welt – (und nun sage mir noch einer, dass ich mich auf business nicht verstehe!). Freiberg hat entzückende, ganz lächerlich windschief geformte alte Häuser, die wie eine wackelige Veteranenfront den Rinnstein entlang stehen, wenn man mit leutseligem Lächeln die Parade abnimmt. Überdies recken sie sich durchaus passabel von einem grünen Abendhimmel ab. Weitere Sehenswürdigkeiten sind: vier Teiche, eine uralte Allee um die Stadt herum und 39.000 Einwohner (jeder einzeln!). Nachdem hiermit der topographische Teil überraschend schnell erledigt wäre, gehen wir mit dem Zitat: „das Leben ist der Güter höchstes“ – (frech nach Schiller)3 auf die so wichtige Eigenpsyche über, was man heutigentags von jedem rechtschaffenen Brief verlangen kann. Liebe Tante! ich lebe in einer sich ständig und ständig vermehrenden Zufriedenheit mit mir und den anderen; wie viel Aussicht für einen jungen Menschen, wie ich, der eben mit dem üblichen feierlichen Schritt ins zwanzigste Lebensjahr tritt4 und sich noch überdies weit jünger fühlt! – Weisst Du noch, wie merkwürdig es war, wenn man über die kleine graue Brücke hinaus in den Abend ging, über ganz dunkles Gras bis zum Schilf an der Wieck, und die Vögel schrien alle so entsetzlich, dass man für Augenblicke annahm, dieses alles sei vieltausendmal bedeutender und wirklicher als Häuser und Menschen, oder wie man im Segelboot hinausglitt in einen immer steiler werdenden Nachmittag, und wenn man dann aufsah, war plötzlich nichts da, als Wasser und Himmel. Was mich weiterhin anbelangt, so fahre ich mit meinem Bruder zu Weihnachten in ein kleines Nest bei Prag – wir arbeiten da auf einem Goldbergwerk, es heisst Roudny. Sommers hoffe ich nach Aachen in einer Kohlenhölle unterzukommen, man kriegt da bezahlt! Aachen liegt so nah an der Grenze, dass man Pläne haben kann (Pläne – sage ich …), dass man jeden Abend den ———————————— 2

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Sigismund war Ende September 1911 von einer Reise, wahrscheinlich ins Baltikum, zurückgekehrt; siehe Brief v. 28.9.1911; Edition, Nr. 57. Friedrich Schiller, Die Braut von Messina, 4. Aufzug, 10. Auftritt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, / Der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Der Brief wurde an seinem 20. Geburtstag geschrieben.

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Atlas herausnehmen und einen scheuen Blick auf Paris werfen kann5. Na, ich verbessere ja auch mein Französisch, indem ich „Manon Lescaut“ lese6. – Im Übrigen aber arbeite ich unverdrossen im Schweisse meines Angesichtes und halte mich für ein nützliches Glied der Gesellschaft. Wenn dieser Brief nicht so sehr inhaltsreich, als amusant war, so bitte ich um Vergebung; gestatte, liebe Tante, dass ich Dir zum Geburtstag gratuliere. Sisi

Nr. 66 Sigismund an seine Mutter Alma und seine Schwestern Alma und Eva Freiberg/Sachsen, 22.11.1911 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Dorpater! Alle nacheinander kamen sie an, von einer geheimnisvollen Hand auf den Tisch gestellt – die Süssigkeiten (das konzentrierte Arabien), die Briefe und die Bücher1. Eva, Du gestattest, dass ich vor Passus „Ich darf wohl sagen, ein Müller … e.c.t.“ – den Hut ziehe! Der Einband von dem „Seltsamen Fall“ ist vorzüglich – so muss die Mondoberfläche aussehen, wenn man sich ihr mit einem Jules-Verneschen Luftschiff nähert. Von mir ist nichts neues zu berichten. Was die Legate anbetrifft, so sind die erforderlichen Briefe geschrieben. Amüsante kleine Erzählungen für das Lesekränzchen? – Vielleicht „Der heisse Soldat“ von Gustav Meyrink2, Kosten 75 Kop. – Die Geschichten müssen aber sehr gut vorgelesen werden, der unumstösslich sachliche Ton ist famos. Solche Stellen wie: „… aber die Unken, die Unheiligen, sassen im Tümpel und sangen gottlose Lieder: I pfeif’ auf die Lotosblum’, – I pfeif’ auf mein Leben, – I pfeif’ auf mein Leben“3 erfordern freilich ein auch in den ungewohnten Lagen diszipliniertes Organ. ———————————— 5

Ergänzend dazu RADECKI, Ich reiste nach Paris, in: Nebenbei bemerkt, S. 93. Roman von Antoine-François Prévost (1697–1763). Nr. 66 1 Es dürften Postsendungen zu seinem Geburtstag gewesen sein. 2 Gustav MEYRINK, Der heiße Soldat und andere Geschichten, München 1903. 3 Zitat aus ebd.: „Des Deutschen Spießers Wunderhorn: Der Fluch der Kröte“. 6

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Heute ist hier Nebelwetter, ich liebe das – vom zinnernen Himmel fällt kein Tropfen, aber von allen Dingen da draussen tropft es leise; die Perspektive der Linien ist aufgehoben, die Nebelbäume sind ins Phantastische verzerrt, es gibt nur noch die Perspektive der Abtrünnigen, man sieht die Luft. Na, aber das dauert nicht lange und Hurrah, es wird, es wird, es wird! Winterweiss, die Ski an die Füsse und hinaus in den Wald! Dieses hoffend verbleibe ich Sisi

Nr. 67 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Merkstein, 12.12.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Da es mit Roudny nichts wurde, so sah ich mich nach einem anderen Ort um und bin auf die Empfehlung eines Freiberger Studenten hin hierher gekommen. Willi musste des Examens wegen bei den Büchern in Freiberg bleiben, ich aber habe Schichten nötig. Merkstein ist von Aachen aus mit der Elektrischen Kleinbahn in ¾ Stunden zu erreichen. Gestern (am Montag) kam ich an, meldete mich beim Betriebsführer der Kohlenzeche „Adolf“1, wurde angenommen und logierte mich im „Gasthaus zur Post“ ein, von wo ich Dir eben schreibe. Gerade hierher zu kommen veranlasste mich die Beschreibung eben desselben Freibergers – er erzählte von 5 M. 20 Schichtlohn und dass es ein sehr interessantes Abteufen gäbe. Ob ich ebensoviel bekomme, weiss ich noch nicht, jedenfalls erhalte ich Schichtlohn. Der Schacht, der noch jung und nicht gross ist, steht in Viertelstundenentfernung vom Örtchen Merkstein. Für volle Pension zahle ich hier 75 Mark monatlich, also ebensoviel wie in Westfalen. Die holländische Grenze ist so nah von hier, dass man in 10 ————————————

Nr. 67 1 Die Grube „Adolf“ befand sich seit 1900 in der Planung, 1910 wurde die Fördermaschine aufgestellt; SCHUNDER, Geschichte, S. 239. – In einem Kommentar zu dem Gedicht „Mein Wanderlied“ von Else Lasker-Schüler erwähnt Radecki seine „Arbeit in der Kohlengrube 1912“, wobei er den Text „Zwölf Morgenhellen weit verschallt der Geist der Mitternacht“ auf dem Weg zur Frühschicht zu singen pflegte; GERSTER, Trunken von Gedichten, S. 166 f. Erschienen war das Gedicht Lasker-Schülers in der Sammlung „Meine Wunder“.

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Minuten drüben ist. Auf der Karte ist Merkstein wohl nicht verzeichnet, es liegt ganz nah von Herzogenrath. Morgen werde ich wohl noch ärztlich untersucht und übermorgen geht die Arbeit los. Bitte mach Dir keine Sorgen um mich, wenn mir etwas nicht gefällt, so habe ich immer die Möglichkeit nach Freiberg zu fahren. Glückliche Weihnachten! Hat A. P.2 meinen Brief erhalten? Sisi

Nr. 68 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Merkstein, 30.12.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Sehr grosse Freude hat mir Dein dicker Brief gemacht. Da ich in der „Post“ wohne und das geheizte Postzimmer mein gewöhnlicher Aufenthaltsort ist, so geschieht es nur ganz von selbst, dass ich bei der Masse von täglich einlaufenden Briefen jedesmal überzeugt bin, es sei wohl auch einer für mich darunter – also habe ich täglich eine Enttäuschung, und ein wirklich für mich bestimmter Brief wiegt zehnmal mehr als sonst! Weihnachten hab ich nicht sonderlich gross gefeiert, – d. h. eigentlich garnicht. Das machte mir aber wenig aus, so wenig, dass ich beinah unangenehm von mir überrascht wurde. Was meine Finanzen angeht, so hast Du dir, gottseidank oder leider, unnötige Sorgen gemacht, immerhin sind 20 Mark ein schönes Stück Geld, das ich mit einem Kratzfuss im Empfang nehme. Mein hiesiger Lebenswandel ist langweilig und gesund: von 6–2 arbeitet man wie ein Kuli, ist aber überzeugt, man werde dafür den übrigen Tag als gesitteter und denkender Europäer verbringen – wenns aber soweit ist, dann zieht seine Majestät der Körper die logischen Konsequenzen und man schnarcht und räkelt sich eben – wie ein Kuli. Merkstein ist ein holländisches Ziegeldörfchen mit kleinscheibigen Fenstern, klatschsüchtigen halbgeteilten Fenstern, Rindviehzucht und Zentrumspropaganda bezeichnen ungefähr unsere intellektuellen Brennpunkte ———————————— 2

Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1.

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(Skizze einer Tür) [fehlt]. Das Reich Holland ist zirka 5 Minuten von hier entfernt, – ein Unterschied von hiesiger Gegend war auf den Spaziergängen nicht festzustellen. Die Elektrische fährt sogar auf der Chaussee, die zugleich Grenze ist: es kommt einem ganz kurios vor – einerseits sitzt man auf gut preussischem Boden, andererseits aber auf den Vereinigten Staaten der Niederlande! Ich gedenke noch vor Mitte Januar abzureisen. Was ist mit dem Brief geschehen, den ich A. P.1 geschrieben habe? Wenn er verloren gegangen ist, so wäre es schade, denn ich hatte sie mir beim Lesen der Epistel mit Vergnügen vorgestellt. Es grüßt Sisi

Nr. 69 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Merkstein, 6.1.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Die Sachen sind schon eingepackt, nach einer Stunde fahr ich ab. – Ich kann garnicht sagen, wie sehr ich mich über Eure Briefe gefreut habe. – [Das] Tranpaoskische1 Geld kam heute an, aber auch ohne dies blieben mir nach Begleichung der Rechnung bare hundert Mark. Ausserdem erhalte ich noch ungefähr fünfzig Mark nach einem Monat für meine 20 Schichten, die ich hier verfahren habe. Von dem hiesigen Aufenthalt bin ich sehr befriedigt. Interessant war der Einblick, den ich in das Leben und Treiben dieses kleinen katholischen Dörfchen’s gewann. Ich habe die Zentrumsblätter, die katholischen Hauskalender, Wahlaufrufe, die verschiedenen Fachzeitschriften, wie „Werkmeisterzeitung“, „Ziegel und Zement“, in der Poststube an mir vorbei-

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Nr. 68 1 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. Nr. 69 1 Wohl verlesen für „Trompowskysche“. Edmund von Trompowsky (1851–1919), in Riga lebender Architekt; Album academicum des Polytechnikums, S. 20, Nr. 275. In der Studentenakte für Wilhelm von Radecki ist enthalten ein Brief v. 4.11.1908 an: E. von Trompwsky, Riga, Zollstr. 2.

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ziehen lassen, dann Weihnachten, Tanzvergnügen, patriotische Versammlungen, Unterhaltungen 300 Meter unter Tage – alles dies und noch vieles andere bildet einen Erinnerungscomplex, den ich für mich wertvoll halte2. Wenn ich vor einiger Zeit (nicht jetzt) mich kühler zu Willi verhielt, oder, die Wahrheit zu sagen, eigentlich garnicht „verhielt“, so lag das nur an mir; ich sage aber nicht – die Schuld, die ich niemand zuschiebe, sondern – abschiebe. Kann ich dafür, dass er eine Zeit lang ungeniessbar erschien? – Aber nun schreiben wir uns lange Briefe mit Gruss und Kuss – es hat also damit nichts mehr auf sich. Da die Grube eine kostspielige Vergangenheit, aber eine dividendendicke Zukunft hat, so konnte ich hier das Sich-Vergrössern, das Wachsen eines Bergbetriebes kennen lernen. Ich habe nach Möglichkeit viel Erfahrungen gemacht, um mir den Stollenkomplex und die Transporteinrichtung klar zu machen. Es kamen hier in den Flötzen viele Verwerfungen vor, das heisst – Abrutschen von Flötzteilen; die müssen dann nach besonderen Regeln ausgerichtet werden (Skizze) [fehlt]. Ein Glückwunsch für Weihnachten und Neujahr Sisi

Nr. 70 Sigismund an seine Schwester Alma

Freiberg/Sachsen, 17.1.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Liebe Micko! Ich liebe es früh aufzustehen. Mein Schlafzimmer hat lichtgrüne Wände und wenn ich die Augen aufschlage, so sehe ich vor einem dunkelblauen Himmelsstückchen das zarte Filigran der Zweige. Die letzten Astspitzen sind es, wo die Zweige sich entzweien. Bis zum Walde ist es dann nicht mehr weit, und das etwas knirschende Schi … schi … macht, dass man auf einmal von der ungeheuren Stille umfangen ist. Und erst dann ist man von dem tanzendheissen, weissen Licht ganz erfüllt und wacht erst wirklich auf:

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Mehrere von Radeckis späteren Kurzgeschichten greifen auf diese Bergbauerlebnisse zurück.

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„Zwölf Morgenhellen weit / Verschallt der Geist der Mitternacht1!“ Hurra, dann geht [es] schnell gleitend an den altgoldenen Stämmen, den Orgelpfeifen, vorbei und dazwischen liegt immer wieder Schatten und Helligkeit – in schmalen Streifen von Schattenblau und Orange auf den planen Schneegrund niedergetrieben – nach irgend einer Gesetzmässigkeit immer die Komplementärfarben nebeneinander! O diese köstlichen imaginären Gefahren, in die man auf dem rosa-diamantnen Schnee hinabsaust! … schneller, immer schnellerrrr … bremsen? – oh Verrat! … nun denn – hélas … Wenn man dann zu Hause sich über die Schultern kaltes Wasser giesst – man spürt es kaum, so heiss ist man – so kann es vorkommen, dass man vor Wohlgefühl auf einmal ganz grundlos zu lachen anfängt. Morgen ist Willis Geburtstag2. Er liegt seit einigen Tagen zu Bett – er hat sich beim Fallen auf dem Glatteis Schaden getan; es ist jedoch nichts von Bedeutung. Er lässt alle grüssen. Kringel und gelbe Wachslichtchen sind parat – um 5 Uhr nehmen die Festlichkeiten ihren Anfang – mir schwebt so etwas im Stil eines „lever“ vor. Ich möchte gern 2 Fragen beantwortet wissen: Hat A. P.3 meinen Brief erhalten. 2) Was denkt Eva über das Gedicht „Ophelia“4. Ich habe diese Fragen schon mindestens fünfmal gestellt, aber bis jetzt blieb noch jede Resonanz aus. Ach, ach – mein sentimentaler Schulmeister neben mir misshandelt wieder Schumann, und der kann sich nicht wehren! Ich liebe jetzt alles, was sich auf den Schnee, in das Eis hinauswagt: Grieg, Ibsen, – Nietzsche! Sag, kennst Du die unglaublich schöne Scene aus Peer Gynt – wo Peer an seiner Hütte zimmert und Solvejg ganz leise auf Schneeschuhen durch den Wald herangleitet. Und Solvejgs Lied: „Jeg skal vugge dig, jeg skal våge; / sow og droem du, gutten min!“ Einseitig, was? – Aber wir haben ja Winter. „Pour moi le monde visible éxiste!“ (Theophile Gautier)5. Nun leb wohl, liebe Schwester, ich wünsche Dir rechtes Gedeihen, und sage Werner, dass ich ihm gratuliere6. Sisi

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Nr. 70 1 Zitat aus einem Gedicht von Else Lasker-Schüler; siehe Edition, Nr. 67 Anm. 1. 2 Geburtstag von Sigismunds Bruder Wilhelm war der 5.1.1888 (alter Stil). 3 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 4 Siehe Brief v. 4.11.1911; Edition, Nr. 62. 5 Theophile Gautier (1811–1872), französischer Schriftsteller. 6 Werner von Grimm, künftiger Ehemann von Sigismunds Schwester Alma.

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Nr. 71 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 29.1.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Ich ärgere mich darüber, dass ich Euch so wenig geschrieben habe – die alte Geschichte: jeder erwartet einen Brief und keiner schreibt: Willi’s Unfall, von dem er jetzt schon fast wiederhergestellt ist, liess es anfangs rätlich erscheinen, die Wunde von einem guten Dresdner Arzt behandeln zu lassen, so dass Willi in eine kleine Dresdner Privatklinik übersiedelte; Mittwoch kommt er gesund nach Freiberg. In der Klinik wird er dann 1¾ Wochen gelegen haben, ausserdem lag er zu Hause zirka 2 Wochen. Entkräftet, wie er ist, und durch die unfreiwillige Ruhe um die beste Lernzeit gebracht, darf er es nicht riskieren, sich zum Märzexamen zu melden – es bleibt leider nichts übrig, als wieder im Sommer vorzugehen. Wollte er im März vorgehen, so hätte er sich Morgen (Dienstag) zu melden – dabei liegt er noch in Dresden im Bett – er kann es also unmöglich drauf ankommen lassen. An das Diepenbrocksche Legat1 habe ich schon vor einiger Zeit geschrieben. Vom Fasching merkt man nicht viel; das Kölsche Faschingslied beginnt (Noten) [fehlt]: „Dän Schmitt sin Froh es dorchgebrannt – trallallallalla-tamtam / Wohen – dos es noch ohnbekannt – trallallallalla-tamtam2.“ Du kannst Dir denken, wie schön es ist. Ich habe kürzlich reizende kleine Märchen vom [fehlt] russisch gelesen, sie würden Dir gefallen; Sachen, wie [fehlt] sind köstlich. Ich bin ganz stolz auf unser heiliges Russland – so viel Talente, so viel Geschmack. Ich versuche jetzt nebenbei meine verwünschte Schulfaulheit wieder gut zu machen, indem ich Französisch, Italienisch und Englisch treibe; ich glaube

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Nr. 71 1 Zur Geschichte des durch die aus Westfalen stammende Rigaer Familie von Diepenbrock 1613 eingerichteten „Familien-Stipendien Legats“ vgl. Constantin METTIG, Zur Erinnerung, in: Rigasche Stadtblätter, Nr. 12 v. 25.3.1876; DERS., Ein Diepenbrocksches Familienbuch, in: Rigasche Stadtblätter, Nr. 18 v. 1.5.1897. 2 Das Kölner Karnevalslied von Willi Ostermann „Däm Schmitz sing Frau eß durchgebrannt“ war der große Rosenmontagserfolg des Jahres 1907.

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wir Livländer und Estländer (von Mitauer Literaten sprech ich nicht – horribler Typus) haben noch die beste Möglichkeit, „gute Europäer“ zu werden, denn wir könnten den grössten Kulturhorizont haben. Was treibt das gnädige Fräulein die liebe lange Zeit? Fühlt es sich passabel? „Gegenstände, die an und für sich schön sind, werden durch Bronzieren geradezu niedlich“, sagt die deutsche Hausfrauenzeitung; nun – seien Sie versichert, Mademoiselle, dass Sie in meinen Gedanken – wie drücke ich es nur aus – bereits wundervolles Patina angesetzt haben. Sisi

Nr. 72 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 8.2.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Verzeih bitte, dass ich Dir so spät zum Geburtstag gratuliere1. Heute erhielt ich die vier Satyrikon-Nummern2, es freute mich sehr. Schade um das Blatt, es scheint immer mehr und mehr zur blossen kommerziellen Unternehmung zu werden. Ich zog das Schreiben dieses Briefes hinaus, weil ich hoffte, Dir den Bescheid über ein Gesuch mitteilen zu können – ein Gesuch um das Reise-Stipendium der Akademie; aber ich werde wohl noch länger auf die Antwort warten müssen. Mit abnehmendem Monde ist das bisschen Kälte und Schnee wie nichts verflogen; jetzt sind es acht º Wärme, blauer Himmel und auf den Straßen rieselt es. Es ist mir unangenehm, dass A. N.3 meinen armen Brief nicht gut aufgenommen hat – unangenehm, weil er ihr weh getan hat. Es fiel mir ein, wie stolz sie immer auf die Briefe ehemaliger Schüler war – Sigismund, dacht ich, sollst du da zurückbleiben? Ich setzte mich also hin, nehme all mein Russisch zusammen, biete alles, was ich an Galanterie und Höflichkeit habe, auf und schreibe nun, wie gern ich an Petersburg und an meine Lehrerin zurückdenke. ————————————

Nr. 72 1 Der Geburtstag des Vaters war der 21.1.1854. 2 Siehe Edition, Nr. 41 Anm. 3. 3 Siehe Brief v. 14.11.1911; Edition, Nr. 64 mit Anm. 7.

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– Harmlos, sollte man meinen? Dachte schon eine hübsche Antwort zu erhalten, mit zartem Hinweis auf orthographische Fehler – wie sich der kleine Moritz das vorstellt! Und nun – tableaux4! Ich muss wohl einen Brief mit Entschuldigungen schreiben, die aber sehr allgemein gehalten sein werden – denn ich weiss fataler Weise nicht, wofür ich sie machen soll! Aber vielleicht bin ich wirklich von Natur taktlos – ein Faktum, mit dem man sich naturgemäß schwer abfindet – denn sobald ich es zugäbe, hätte ich mir ja jedes Kriterium, jede Möglichkeit zu durchgreifenden inneren Reformen von vornherein genommen. Ich grüsse Dich noch einmal und bitte sehr, mich der übrigen Familie zu empfehlen. Sisi

Nr. 73 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 25.2.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Allerliebste Eva! Ich erhielt einen liebenswürdigen parfümierten Brief von A. N.1, ihr habt sie wohl über meine harmlosen Absichten aufgeklärt. Meine Neuigkeit ist, dass ich schlankweg nach Italien reise, und zwar breche ich zusammen mit F. Stutzer2, meinem Reisegefährten, Anfang März von Freiberg auf. Wohlwollende Unterstützung der Akademie in Rat und Tat (die Summe steht noch nicht fest), ein Pump bei Rehsche3 auf Burschenzeit (250 Mark) und die Garantie, die ganze Reisesumme durch Sammeln und Verkaufen der dortigen Mineralien wiederzugewinnen, haben mir die Reise ermöglicht. Die Garantie besteht darin, dass wir einerseits die Angebote der örtlichen Mine———————————— 4

Ausruf der Überraschung, besonders bei einer Niederlage. Nr. 73 1 Siehe Brief v. 14.11.1911; Edition, Nr. 64 mit Anm. 7. 2 Siehe Edition, Nr. 51 Anm. 5. 3 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 3.

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ralienhändler, anderseits die detaillierten Aufträge der deutschen Mineralienniederlagen in Händen haben. Überdies hat Stutzer dasselbe Experiment auf einer norwegischen Reise mit Erfolg durchgeführt – es brachte ihn auch auf den Gedanken, es mit Italien ebenso zu machen. Wir werden uns hauptsächlich in Carrara, auf Elba und Sardinien aufhalten; zu Ostern sind wir in Neapel. Es wird keine Vergnügungsreise (hihi), sondern wir werden eifrig unseren Fachstudien obliegen. Kurz: ein sorgsam vorbereitetes Unternehmen, keine Aventure. Ecco. Ich merke, dass dieser Brief eigentlich an Pappi geschrieben ist, aber ich wollte Dir doch etwas mitteilen, was war es doch? Sentimentalität hin oder her – ich weiss es längst, dass kein Fünkchen von einem Poeten in mir steckt – alle meine verhinderten Malereien brechen zusammen vor dem einzigen unglaublichen Auftakt4: „Leise schwimmt der Mond durch mein Blut“, und trotzdem, ich bin imstande, und mache voriges Mal folgendes. (Unwürdiger Zustand, möcht’ ma’ sprechen …) NOCTURNO5 Verdammt. Der blaue Wind weckt die geduckten Mammutgestalten schwarzer Häuser, die Mit gelben Augen böse vor sich guckten. Verdammt. Es dröhnen riesige Kitharen, Dass alle Sterne flackern und die Züge Vor Trauer brüllend in das Dunkel fahren. Verdammt. Man kann nicht leben. Nicht sich schonen. Das einzige wäre noch: in einer hellen Gutmütigen Petroleumlampe wohnen. Sisi

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Das Gedicht „Vollmond“ von Else Lasker-Schüler war 1911 in „Meine Wunder“ erschienen. Radecki schickte das Gedicht an die Zeitschrift „Pan“ (Herausgeber: Alfred Kerr), wo es als seine erste Veröffentlichung unter dem Titel „Sturmnacht (1912) – Aus Schweden (Wermland) sendet ein junger Bergwerks-Fachmann Folgendes dem Pan“ erschien; Pan. Wochenschrift, 3. Jg. Nr. 13 v. 27.12.1912, S. 315. Lange Zeit erfuhr er nichts von der Publikation; dazu RADECKI, Was ich sagen wollte, S. 42.

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 74 Sigismund an seine Familie in Dorpat

Cagliari, 25.3.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Adresse für 3½ Wochen: Neapel, poste restante, dann Genua Bitte verzeiht, dass ich solange nicht geschrieben habe, aber ich fand, ehrlich gesagt, nicht die Zeit dazu. Heute früh kamen wir nach einer prachtvoll stürmischen Überfahrt von Palermo an. Ich war, zu meinem Erstaunen, vollkommen seefest, und ohne Seekrankheit ist der Sturm ein Fest. Es interessiert Euch wohl zu erfahren, wo ich bisher gewesen bin und was ich alles gesehen habe; im Augenblicke möchte ich nur kurz über den Verlauf der Reise reden1. Wir fuhren am 2ten März von Zürich über den Gotthard via Mailand nach Vicenza, das uns wegen der Mineralien des Enganeen-Gebirges interessierte; Vicenza ist übrigens die Heimat von Palladio2. Am nächsten Tage ging es nach Venedig, dort schliefen wir und fuhren am nächsten Abend nach Padua. Am Abend des nächsten Tages ging es nach Bologna; sowohl in Padua als auch in Bologna wurden die Mineraliensammlungen der Universitäten besucht. Am nächsten Abend bestiegen wir den Zug Ancona– Benevento–Neapel3; um Mittagszeit waren wir in Neapel. Diese Station machten wir nur vorläufig, von Cagliari fahren wir wieder dorthin und halten uns da wohl eine Woche auf. Diesmal blieben wir nur 3 Tage und fuhren nach Messina (per Bahn über Reggio). Dort setzten wir uns auf den Dampfer nach Lipari. Auf den Aeolischen Inseln blieben wir eine Woche; da bestiegen wir auch den ersten tätigen Vulkan – den Stromboli4. Von da ging es über Taormina, wo wir einen Tag blieben, und Catania nach Caltanisetta, das Gebiet der Schwefelgruben. Von dort aus machten wir Tagestouren in die verschiedensten Schwefelgebiete; am Abend des dritten Tages waren wir in Girgenti5. Von dort ging es mit dem Nachmittagszuge nach Palermo. Von ————————————

Nr. 74 1 Schilderung der Erlebnisse auf dieser bergbaulichen Studienreise unter anderem: RADECKI, Die beiden Geheimnisse, in: Nebenbei bemerkt, S. 128 f. 2 Andrea Palladio (1508–1580), Architekt. 3 Zum Aufenthalt in Benevent siehe die Szene: RADECKI, Überraschungen, in: Thüringer Allgemeine Zeitung (Magazin), Nr. 2 v. 3.10.1928. 4 Ähnliche Hinweise: RADECKI, Die nüchternen Esel, in: Der eiserne Schraubendampfer Hurricane, S. 212. 5 Agrigent.

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Palermo per Dampfer über Trapani nach Cagliari – eine Tour die regulär 27 Stunden, bei uns aber 2 × 27 Stunden erforderte. In Sardinien werden wir wohl 2 bis 3 Wochen bleiben, dann geht es über Neapel-Rom nach Elba, Florenz, Genua nach Hause. Ich bitte Euch, mir für alle Fälle Tante Johannas6 Adresse in Rom anzugeben, ich fürchte sie wird gekränkt sein, wenn ich ihr keine Visite abstatte. Ich muss Euch sehr um Entschuldigung für diesen nachlässigen Brief bitten, aber um von irgendwas Erlebtem zu berichten, fehlt mir die Sammlung. Sagen möchte ich noch, dass ich mich elastischer denn je fühle und dass mit den bischen Strapazen auch die Kräfte gewachsen sind; braun bin ich, wie ein Neger. Es grüsst und küsst Euch alle von Herzen Sisi

Nr. 75 Sigismund an seine Familie in Dorpat

Florenz, 30.4.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Familie! Ich will mit der Reiseroute beginnen. Den Brief schrieb ich von Cagliari1. Auf Sardinien blieb ich 3½ Wochen, dabei hielten wir uns hauptsächlich im südwestlichen Teil der Insel, dem Bergwerksdistrict „Iglesiente“ auf. Wir reisten von einer Grube zur anderen; zu Fuss, zu Pferd oder per Elektrische. Überall wurden wir herzlich aufgenommen; zugelernt habe ich sehr viel (wir machten manchmal an einem Tage zwei Befahrungen). Also Cagliari – Iglesias – Monteponi – S. Michele2 – I. St. Pietro und St. Antioco3 – Bugerru – Gennamari – Ingurtosu (Ostern) – Montevecchio – Decimomannu – Cagliari. Von da in drei Tagen per Dampfer nach Neapel. Dann Rom eine Woche, Siena 2 Tage und jetzt Florenz. Heute muss ich machen, dass ich schnell über die Grenze komme, denn mit Schlag zwölf wird mein Billet ungültig. Ich fahre über Zürich nach München und dann nach dem alten Freiberg. ———————————— 6 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 2. Nr. 75 1 Die Ortsnamen dieses Briefes sind der heutigen Schreibweise angepasst, da mehrfach Tippfehler vorliegen. 2 Wohl Punta San Michele, nordöstlich Iglesias. 3 Isola di San Pietro und Isola di Sant’Antioco.

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In Rom war ich paarmal bei Tante Hannchen4, die sehr freundlich war. Ich kann Euch ja später (wenn Ihr wollt) Einzelheiten schreiben, jetzt muss ich auf die Bahn. Sisi

Nr. 76 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 13.5.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Die gute Gewohnheit, Dir jede Woche zu schreiben, habe ich während der Reise vernachlässigt; ich will sie jetzt wieder aufnehmen. Vorgestern besuchte ich Tante Fanny1 in Dresden, das wollte ich noch in den Brief nehmen. Ich bedauere es, nicht gewusst zu haben, dass ein Brief von Dir auf mich in Genua wartete – ich habe mich dort nicht aufgehalten. Den zweiten Teil meiner Reise – nach Sardinien – verwandte ich auf einen achttägigen Aufenthalt in Rom, einen zweitägigen Besuch von Siena, und dann blieb ich eine Woche in Florenz. Von da fuhr ich direct bis München durch – und dann war ich nach drei Tagen in Freiberg. Tante Fanny fand ich in einer kleinen Vorstadtpension. Sie klagte mir über einen Process, den sie und ihre Freundin an eine Zimmervermieterin verloren hätten; ihr Zimmerchen ist noch kleiner, als das winzigste, was ich bisher kannte: dasjenige von [fehlt] in Petersburg [fehlt]. Ringsum wahnwitziges Klavierspielen, die Freundin zum Weinen nervös – kurz „la grande misère“. Ich selbst bin von der Reise recht trainiert zurückgekommen. Ich habe mit dem Müllern wieder angefangen und habe eben einen grossen Muskelkater. In diesem Semester werde ich viel zu zeichnen haben – lauter elend langwei-

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Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 2. Ihre Adresse in Rom (1922): Via delle Fiamme, 19, Pensione Dinesen. Nr. 76 1 Franziska von Tideböhl.

Briefe Sigismund von Radeckis

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lige Blätter, die seit Jahrzehnten von der Studentenschaft immer wieder kopiert werden. Ich kann nicht sagen, dass man in Sardinien von den Freiberger Ingenieuren sehr begeistert war: allgemein rügte man ihre mangelnde Maschinenkenntnis. Ich habe mir darum gedacht, im Sommer in einer Maschinenfabrik zu arbeiten; ich werde darüber noch mit dem Professor reden. Meine Mussestunden verwende ich darauf, meine italienischen und französischen Kenntnisse vorwärtszubringen. Italienische Zeitungen kann ich ziemlich bequem lesen. Eben habe ich die Flaubert’sche Novelle „Un eveur simple“2 beendet und fange den grossartigen Roman „Education sentimentale“3 an. Tante Johanna4 scheint etwas ironisch über mein Rodin-Gespräch mit Herrn Roberti berichtet zu haben – ich gebe zu, dass ich mit einiger Absichtlichkeit beim Thema blieb, denn sie hat eine geräuschvolle Art, auf Naturschönheiten aufmerksam zu machen, die ich schwer aushalte. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 77 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 21.5.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Ich werde heuer zu Pfingsten keine Exkursion mitmachen; Treptow1, der in Betracht kommen könnte, unterlässt seine Exkursion dieses Jahr. Was meine Absicht, im Sommer auf einer Maschinenfabrik zu arbeiten, anbetrifft, so habe ich den Professor darüber interpelliert. Er nannte mir verschiedene Firmen in Berlin e.c.t., unter andrem auch eine in Riga. Wenn Du auch diesen Sommer, wie schon so viele in Petersburg verbringen musst, so ist es vielleicht garnicht ausgeschlossen, dass ich eventuell in Petersburg oder wenigstens in ———————————— 2

Verlesen für „Un cœur simple“, Erzählung von Gustave Flaubert (1877). L’éducation sentimentale (1869). 4 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 2. Nr. 77 1 Siehe Edition, Nr. 35 Anm. 2. 3

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der Nähe (in einer finnischen Maschinenfabrik, oder so) arbeiten könnte. Vielleicht lässt sich dieser Plan realisieren, man muss sich umtun und erkundigen. – Dazu kommt noch, dass die deutschen Fabriken schon so von Praktikanten überlaufen sind; man kriegt von ihnen nicht nur nichts bezahlt, sondern muss auch noch zuschiessen. Ich glaube, in Finnland oder bei uns ist das noch nicht so. Ich lese recht viel (allerdings nicht immer Fachliteratur); prachtvoll, wenn auch recht schwierig, ist Machiavelli: „Il Principe“ – schonungslose Tatsachenlogik und ein übermütiger Fortissimostil. Aus Italien habe ich noch einige Nummern der Wochenzeitschrift „La voce“ mitgebracht; es ist das Organ der Jungitaliener. Es wäre nicht uninteressant für den Historiker, jetzt schon Acten über die allgemeine Jungeuropäische Bewegung zu sammeln, deren Anzeichen und Zeichen sich immerfort mehren. Für diese neue Generation ist der Zusammenhang, das Wissen voneinander in Europa charakteristisch. „Rythm“ in London, „L’effort“ in Paris, „L’avenç“ in Barcelona, „La voce“ in Florenz und „Der Sturm“ in Berlin – alle sind sie „getrennt ausmarschiert“, um (vielleicht) vereint zu schlagen. Ich brauche es kaum hinzuzufügen, dass es nicht politische, sondern kulturelle Kämpfe sind. Sisichen läuft da selbstverständlich munter mit; er hat in Florenz natürlich die „Voce"-Leute kennen gelernt und hat sie panthermässig stark und jung gefunden. Es versteht sich von selbst, dass die wirklich Bedeutenden der Vergangenheit (auch der jüngsten) verehrt werden; im übrigen ist aber, glaube ich, selten die Mediocrität so absolut verprügelt worden, wie eben jetzt. Es ist aber gottseidank keine Nörglerbande, sondern mit dem Hammer wird philosophiert – und vieles hohl befunden und zerhauen. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 78 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 29.5.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Gestern erhielt ich Deinen Brief, ich gab ihn heute Willi zu lesen. Der Plan, in Petersburg zu arbeiten, hat einen Haken; ich weiss nämlich nicht, ob die Praxis auf Maschinenfabriken angerechnet wird; erfahren kann ich es erst,

Briefe Sigismund von Radeckis

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wenn die Professoren da sind – also nach den Pfingstfeiertagen. Als Fabrik, die sich mit Erzeugung von Bergwerksmaschinen befasst, wurde mir Nobel in Petersburg1 genannt. Von Willi weiss ich Dir soviel zu sagen – dass er fleissig ist, ich sehe ihn nicht allzu oft: einmal täglich im Club. Ich lebe hier ziemlich eingezogen vor mich hin, einmal fuhr ich zur Erfrischung nach Dresden und hörte Figaro’s Hochzeit. (Wir haben jetzt Studentenermässigung in der Oper.) Es ist unglaublich viel Süden in dieser Musik, die Stimmen klingen so klar, als würden sie in eine italienische Abendluft hinausgesungen. Vor allem die Arie „Non so piu cosa son, cosa faccio“2. – Mein Mangel an Sprachkenntnissen ist mir recht fatal, eins von den drei: Italienisch, Französisch und Englisch, muss ich wie das Russische beherrschen lernen, sonst nützt mir das angefangene Sprachstudium nichts. In dieser Hinsicht wäre freilich eine Praxis in Belgien von grossem Wert. Augenblicklich ist hier G. Erdmann3 zu Besuch; er tritt am ersten Juni eine Stelle bei einer Berliner Hütte an. Mir ist sein Hiersein ein rechter Trost, weil man doch einmal geistige Regsamkeit spürt. Ich habe das Unglück (?), auf Kameradschaft gradezu angewiesen zu sein, infolgedessen bin ich leider fürs erste zur Einsamkeit verurteilt. Nun adieu lieber Pappi und fröhliche Pfingsten. P. S.: W[illi] hat die 200 natürlich erhalten. Sisi

Nr. 79 Sigismund an seine Mutter Alma

Freiberg/Sachsen, 4.6.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mammi! Ich gratuliere Dir zum Geburtstag. Leider weiss ich garnicht, wie und in welcher Gegend ihr wohnt, so dass ich mir den Geburtstag nur schlecht vorstellen ————————————

Nr. 78 1 Bedeutende Maschinenbaufabrik der schwedischen Industriellenfamilie Nobel. 2 Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Arie des Cherubino: „Ich weiß nicht, wo ich bin, was ich tue“. 3 Siehe Edition, Nr. 43 Anm. 2.

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kann1. Tante Johanna2, die ich in Rom traf, liess Dich sehr herzlich grüssen. Was macht Grimm3? Geht er, wenn er fertig ist, ins Ausland? Ich hatte an Euch schon lange eine Bitte wegen der Bibliothek, schade, jetzt ist es schon zu spät, und Ihr seid auf dem Lande. Ich will es aber doch auf jeden Fall hinsetzen; bitte denkt im Herbst daran: Ich möchte meine Bücher: 1) Dante-Stellen4; 2) Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen5; 3) 2 Bde. Lichtenberg’s Vermischte Schriften6; und 4) Stifter, Nachsommer7, nach Freiberg geschickt haben. Man gibt sie einfach der Buchhandlung ab; es kostet wenig. Bitte sag Eva, sie soll mir nicht böse sein, weil ich ihr nicht geantwortet habe, sie soll mir doch wieder einmal schreiben. Hoffentlich habt ihr echtes Land in Möttliko8, mit Gruss Sisi

Nr. 80 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 12.6.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Endlich habe ich heute mit Treptow gesprochen1: – ja, die Schichten werden angerechnet, es muss aber eine Fabrik von Bergwerksmaschinen sein; ob Reich oder Ausland, ist einerlei. Von Lohn kann natürlich schon deshalb ————————————

Nr. 79 1 Der Geburtstag war der 25.5.1855 (alter Stil). 2 Siehe Edition, Nr. 44 Anm. 2. 3 Werner von Grimm, künftiger Ehemann von Sigismunds Schwester Alma. 4 DANTE, Die Göttliche Komödie, übers. v. Stefan George, Berlin 1909. 5 Max STEINER, Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen, Berlin 1908. 6 Georg Christoph LICHTENBERG, Vermischte Schriften (1800 ff.). 7 Adalbert STIFTER, Nachsommer (1857). 8 Mötliko, Landstelle bei Schloss Ass/Kiltsi in Wierland (Estland). Am 4.8.1912 schrieb Ottokar aus St. Petersburg an Eva in „Motliko“. Nr. 80 1 Siehe Edition, Nr. 35 Anm. 2.

Briefe Sigismund von Radeckis

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nicht die Rede sein, weil ich eben einfach erst „angelernt“ werden muss. Es wäre mir vor allem wertvoll, bei der Montage, Zusammensetzung der Maschinen arbeiten zu können. Allerdings muss man in Betracht ziehen, dass gerade Anfänger bei der Montage bloss stören. Nun, es wird schon irgendwie gehen. Willi ist fleissig bei der Arbeit, wennschon mit einem begreiflichen Angstgefühl. Wir haben hier schon längere Zeit schwüle Tage mit abendlichen Gewittern (wo ist die goldklare Luft Italiens!). Nun, im Übrigen gehen die Tage einer wie der andere hin, am Morgen steht man erwartungsvoll auf und ist abends enttäuscht über das Resumee. Glück auf! Sisi

Nr. 81 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 26.6.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! An diesem Sonnabend war der „Tag alter Freiberger“. Sascha Hartmann1 kam auch von Berlin herüber. Er fühlt sich alt, gibt das Bergmannsdasein auf und nimmt eine Betriebsleiterstellung an der Tivoli-Brauerei in Dorpat an. Die Gage soll sehr hoch sein. Willi ist nach wie vor fleissig bei der Arbeit, über den Ausgang des Examens kann gar kein Zweifel sein. Über seine Praxis weiss er noch nichts genaues, er hat aber einen ganz hübschen Plan in petto. Nämlich: Gutschmidts2 Braut wohnt in Südtirol, sie hat ihm für diesen Sommer eine Praxis auf einem kleinen Bleibergwerk in Pergine bei Trient (2 Stunden von Venedig) verschafft. Der betreffende Ingenieur sucht nun einen SteigerVertreter für August – September und will oder hat schon deswegen an Prof. Beck geschrieben – wie Gutschmidt erfährt. Willi hat schon mit Beck gesprochen und der will ihn mit Freuden empfehlen. Willi würde also eine Gage von circa 160 Kronen und freie Wohnung erhalten. (Aber, wie gesagt, die ————————————

Nr. 81 1 Siehe Edition, Nr. 27 Anm. 2. 2 Siehe Edition, Nr. 35 Anm. 5.

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Familienbriefe 1903–1921

Sache ist noch nicht zum Klappen gekommen.) Von mir ist, wie gewöhnlich, nichts besonderes zu berichten. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 82 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 5.7.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Da aus dem Plan mit Petersburg nichts geworden ist, so sehe ich mich augenblicklich nach einer Praxis um. Kohle soll es nicht wieder sein, die kenn ich zur Genüge. Ich suche also eine Erzpraxis, womöglich mit Bezahlung. Nun, man wird sehen. Freiberg hat heute seinen grossen Tag: der Geenig1 hat sich von Dresden herüber bemüht, um die Ausstellung2 zu beaugenscheinigen. Das Sommersemester schläft so allmählich ein, die einzigen, die sich nicht langweilen dürfen, sind die Examinanden. Gestern wurden die Schlussarbeiten bekannt gegeben. Der Witz dabei scheint der zu sein, dem Professor klarzumachen, dass man sich nur für ein ganz bestimmtes Gebiet interessiert, z. B. man arbeitet zu Weihnachten vor dem Examen irgendwo im Erzgebirge, macht geologische Karten und fragt wie im Versehen den Geologieprofessor um Rat, gelingt die Sache, so kriegt man die betreffende Lagerstätte höchst wahrscheinlich für die Schlussarbeit. Willi als Ausschussmitglied hat übrigens heute auch die Ehre, sich vor Sr. Kgl. Hoheit in Uniform (mit Hurratüte) zu präsentieren. Schönster Moment des Lebens. Es grüsst Dich Sisi

————————————

Nr. 82 1 Dialektal für „König“: Friedrich August III., König von Sachsen (1904–1918). 2 Erzgebirgs-Ausstellung für Gewerbe, Industrie, Bergbau, Forst- und Landwirtschaft in Freiberg 1912.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 83 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 16.7.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Grosse Sorgen brauchst Du Dir, glaub ich, um uns nicht zu machen; wenn es gar nicht geht, so könnten wir uns immer noch als Hauslehrer oder anders forthelfen über die kritische Zeit. Wir haben hier Hitze und drückende Luft, Freiberg nützt noch die letzte Zeit vor den Ferien aus, um sich von der hässlichsten Seite zu zeigen. Um so froher wird man in die Praxis fahren. Der Physikprofessor Ehrhardt1 tritt nach fünfzigjährigem Dienst in den Ruhestand; ihm zu Ehren brachte die Studentenschaft einen Fackelzug, es war sehr rührend. Wie in jedem Jahr, handeln die Gespräche um diese Zeit nur vom Examen, Chancen werden erwogen und allerhand unglaubliche Vorkommnisse aus früheren Zeiten erzählt. Ich fühle mich dabei etwas unbeteiligt und bin wieder zu meinem alten Schachklub zurückgekehrt, wo ich einmal in der Woche, am Dienstag, erbitterte Turniere ausfechte. Ich lese ziemlich viel und bewege mich dabei nur [in] allerbester Gesellschaft – eine brotlose Kunst. Ab und zu tauchen italienische Erinnerungen wieder auf, was am meisten davon gegenwärtig wird, ist die Luft – nach ihr erscheint alle andere dickflüssig. Ziemlich sehnsüchtig bin ich nach der Zeit, wo ich Geld verdienen kann, wennschon die Arbeit für mich, abgesehen vom Geld, recht zwecklos ist, denn irgend ein „Fortschritt der Technik“ geht mich wahrhaftig nichts an, ich setze mich auch nicht dafür ein. Darum zumindest „auf in ferne Länder“. Da hat man sich wenigstens mit Natur und Kulis um sein Leben herumzuschlagen. Es grüsst Dich Goldgräber Sisi

————————————

Nr. 83 1 Christian Hugo Ehrhardt (1839–1919), Professor für Physik, 1907–1909 Rektor der Bergakademie.

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 84 Sigismund an seine Schwester Eva

[o. O.], 5.8.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe, liebe, liebe, liebe Eva! Aber ich denk ja garnicht daran, auf Dich schall1 zu sein, bin ich es aber einmal, so will ich Dir gern einen groben Brief schicken. Gottogottogott, trübsinnig wie die „Melencolia“; alles hat sie zum Werk bereitet, Bücher, Werkzeuge, mit dem Feierkleid sich ans Meer gesetzt in die Sonne – aber was ist geschehen? Ihr Blick hat alle diese schönen Dinge verloren, er selbst sieht „verloren“ vor sich hin, in unendlich trauriger Zwecklosigkeit2: voila comme je suis! Und so wandle ich einsam meines Weges wie das Rhinozeros. Nichts kommt der wilden Traurigkeit gleich, mit der sich die heulenden Eisenbahnzüge ins nächtliche Dunkel stürzen: „Verdammt. Es dröhnen riesige Kitharen, dass alle Sterne flackern, und die Züge vor Trauer brüllend in das Dunkel fahren!“ (Sisi)3 Als Kind war ich so erstaunt, wenn die Bücher von der Gemeinheit der Menschen berichteten – ich fand die Meisten dagegen tadellos. Aber man verehrt einen grossen Menschen – und beginnt zu verachten. Das Spassige ist nun, dass die Philister dann gleich von Überhebung reden, jawohl, weil sie der Verehrung unfähig sind. Aber keine hero-worship, sondern ein Entweder-Oder, Brüderschaft oder Mensur: „Und wenn ich lieb / Nimm dich in Acht!“ (Carmen). Hat Christus je in gleichmütigem Ton geredet? – Nie ohne den Unterton von Liebe oder Hass; vielleicht Liebe und Hass. In diesem Jahr, das ich zu den gesegneten rechne, habe ich an Nietzsche erkannt oder ahnen gelernt, was Tragik und Genie sind, bis dahin habe ich an das, was diese Worte nennen, bloss geglaubt. Von nun ab ist der Kreis mir lesenswerter Bücher sehr klein geworden, an seine Prosa gehalten, wird fast alles „Literatur“; Rilke ist noch ————————————

Nr. 84 1 Mundartlich für „verärgert“. 2 Die Beschreibung folgt dem Kupferstich Albrecht Dürers. 3 Siehe Brief v. 25.2.1912; Edition, Nr. 73. Dort der vollständige Gedichttext.

Briefe Sigismund von Radeckis

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mein alter Jugendfreund und hah! ein neuer Stern: Else Lasker-Schüler4. Bei meiner Skepsis in Bezug auf Künstlerinnen doppelt merkwürdig. Fort mit allen Mad. de Staels5, Drostes6 und George Sands7 – was wollen sie noch neben einem Gedicht wie dem „Tibetteppich“? Sie ist Exceptionell – bei ihrem Anblick, glaubt man, dass es Sappho gegeben hat8. Und dann, Eva, lies die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rilke9, lass Dir diese Köstlichkeit nicht unerschlossen. Aber ich will ein paar Gedichte von Else Lasker-Schüler abschreiben, dass der Brief doch was gutes enthält. EIN ALTER TIBETTEPPICH10 Deine Seele, die die meine liebet, Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet. Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben. Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit, Maschentausendabertausendweit. Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzenthron, Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon? TRAUM11 Der Schlaf entführte mich in deine Gärten, In deinen Traum – die Nacht war wolkenschwarz umwunden – Wie düstere Erden starrten deine Augenrunden – Und deine Blicke waren Härten. ———————————— 4

5 6 7 8 9 10

11

Else Lasker-Schüler (1869–1945). – Zahlreiche Einzelheiten aus seiner langjährigen Freundschaft mit ihr („Mich nannte sie hartnäckig ‚Herr von Radetschki‘“) erstmals in: RADECKI, Erinnerungen an Else Lasker-Schüler; wieder in: Was ich sagen wollte. Vgl. ERPENBECK, Zwei Porträts, S. 190–193. Madame de Staël (1766–1817), französische Schriftstellerin. Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), deutsche Dichterin. George Sand (1804–1876), französische Schriftstellerin. Sappho († um 570 v. Chr.), griechische Dichterin. Rainer Maria Rilke (1875–1926), sein Roman „Malte Laurids Brigge“ erschien 1910. Erstmals im „Sturm“ am 8.12.1910. Bereits drei Wochen später von Karl Kraus in der „Fackel“ nachgedruckt. Dann erschienen in Else LASKER SCHÜLER, Meine Wunder. Gedichte, Karlsruhe / Leipzig 1911. Vgl. BAUSCHINGER, Else Lasker-Schüler, S. 147. Else Lasker-Schüler, Die gesammelten Gedichte, Leipzig 1917.

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Familienbriefe 1903–1921

Und zwischen uns lag eine weite, steife, Tonlose Ebene … Und meine Sehnsucht, hingegebene, Küsst deinen Mund, die blassen Lippenstreife. Es grüsst Dich Sisi

Nr. 85 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Göteborg, 6.8.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Stora Badhusgatan 30 Lieber Pappi! Willi und ich wurden von unserem Clubkameraden Johannes Hage1 aufgefordert, mit ihm ein paar Tage in den Schären herumzusegeln und dann auf einer schwedischen Grube zu praktizieren; da die Reise nicht viel kostet, man in Schweden sehr billig lebt und die dortigen Erzvorkommen und Erzverarbeitungen sehr wichtig und interessant sind und da – schliesslich – 8 Clubmitglieder in Schweden praktizieren, – so haben wir uns denn hierher aufgemacht. Gestern am 5ten kamen wir vier an. Ich fuhr zuerst nach Oranienburg bei Berlin und lebte einige Tage bei meinem Freund Gori Erdmann2, er ist dort Betriebsingenieur an einer Zinn-Blei-Antimon-Hütte3. Dann kam Willi am Sonntag nach und wir fuhren noch am selben Abend über Stralsund, Rügen, Trelleborg und Malmö hierher. Ich will zuerst in Längbanshyttan4 in der Landschaft Dalarna, dem mineralreichsten Punkt der Erde, etwa einen Monat praktizieren. Der Rektor, Prof. Beck, gab mir dahin ein Empfehlungsschreiben. Nachher gehen wir vielleicht nach Grängesberg5. ————————————

Nr. 85 1 Siehe Edition, Nr. 34 Anm. 6. 2 Siehe Edition, Nr. 43 Anm. 2. 3 Die Hütte der Firma C. Wilhelm Kayser, Ahlemeyer & Co. war 1906 gebaut worden. 4 Långbanshyttan, Eisenhütte in Långban/Värmland. 5 Bergbauort in Dalarna, heute Ortsteil von Ludvika.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Heute wollten wir uns eigentlich mit unserem Segelboot in die Schären aufmachen, aber es regnet Spagatschnürln. Gestern Abend war es sehr nett. Wir kommen am Abend zu Hage und finden dort – Stutzer6 und Middendorf7 frisch aus Kopenhagen eingetroffen – vor. Dann waren da noch die zwei Brüder von Hage dort und so hielten wir eine Nordclubsitzung mit Svenska Punsch auf den Schären ab. In der Nacht fuhren die beiden nach Norwegen weiter. Unsere Adresse bleibt vorläufig die obenstehende. Das eigenartige schwedische Leben ist natürlich sehr interessant. Hoffentlich geht es Dir gut. Es grüsst Sisi

Nr. 86 Sigismund an seine Schwester Eva

Långbanshyttan, 9.9.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Pensionat Rikst. 184 Filipstad Liebe Eva! Wenn ich eine Zeit lang nicht schreibe, so ist das ein Zeichen, dass es mir gut geht; dass etwas vorgeht, was man nicht durch Rekapitulation verderben will. Englisch lernen, tanzen (und flirten – aber das gehört glaub ich zum Englisch lernen) haben mich recht in Anspruch genommen. Es gab einen „Wirrwarr“, eine richtige kleine „comedie humaine“; schade nur, dass die Frauen immer noch einen sechsten Act haben wollen; aber, nicht wahr, ich bin noch zu jung zum Heiraten!? Die Frauen stärken oder reizen instinctiv das Selbstgefühl des Mannes, sie verhelfen einem so zu derjenigen Machtillusion, die ein Verführungsmittel zum Weiterleben ist; vielleicht rühre ich da etwas an die Beziehung der Frau zur Kunst, denn gibt es ein zweites Stimulans, eine zweite Machtillusion, die es mit der Kunst aufnehmen könnte? Es versteht sich dabei von selbst, dass die Frau (ich kann mir nicht helfen) wesentlich kein Verhältnis zur Kunst hat, ausser durch den Mann. Wer fällt mir dabei ein? – Else Lasker-Schüler: Sie ist ein Phänomen, Sie wäre einzig, ———————————— 6 7

Siehe Edition, Nr. 51 Anm. 5. Siehe Edition, Nr. 39 Anm. 3.

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wenn nicht ganz leise von fern her der Name Sappho herübertönen würde. Meine Kleine Eva, Du musst nicht halsstarrig sein, so etwas, wie den „Tibetteppich“1 hat es selten an Sprachwundern gegeben; es erübrigt sich beinah zu bedeuten, dass ein Lamasohn in der Tat der Sohn eines Lama (Priester) ist, dass ich so gut wie: „meine hingegebene Sehnsucht“; „meine Sehnsucht, hingegebene“ – sagen kann und dass die Situation im Übrigen zweifellos eindeutig bestimmt ist. Ich glaube, ich habe den Tanzteufel im Leibe; welche Lust, sich vom Rythmus beherrschen zu lassen, auf die Töne zu horchen, ihnen zu gehorchen … alles tanzen wir: One-step, Two-Step, Walzer (auch links!) und den König der Tänze: Hambo; das ist ein dalekarlischer Tanz2. Er ist der schönste, weil nicht Herr und Dame, sondern Mann und Mädchen ihn tanzen. Der Mann tanzt ihn anders, wie das Mädchen. Er: etwas plump, kraftvoll, sie stützend; sie: flying round! Ich habe schon etwas Sehnsucht nach Berlin, ich will dort einige Tage bei meinem Freund Gori Erdmann3 wohnen. „In Tränen steht der Potsdamer Platz; / Er träumt vom Mond, dem Götterschatz …“4 Und ich habe Dir ganz vergessen von den brausenden Nachtfahrten in den Schären zu erzählen, und wie wir in einem verlassenen Haus mit 4 jungen Mädchen, die wir dort fanden, Ringelreih tanzten und Kaffee kochten! Nach der Melodie (Noten und Text) [fehlen]. Jetzt werden wir wohl bald wegfahren; Herbst flammt schon in den Wäldern auf. Vergesst nicht, die erbetenen Bücher zu schicken. Dein Sisi

Nr. 87 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Oranienburg, 1. oder 10.10.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. ————————————

Nr. 86 1 Siehe Brief v. 5.8.1912; Edition, Nr. 84. 2 Provinz Dalekarlien, heute Dalarna. 3 Siehe Brief v. 22.12.1910; Edition, Nr. 43 Anm. 2. 4 Die leicht abgewandelten Verszeilen sind entnommen dem 1910 erschienenen Gedicht „Der Potsdamer Platz“ von René Schickele, dort jedoch statt „Tränen“ das wesentlich freundlichere Wort „Blüten“; René SCHICKELE, Weiß und Rot. Gedichte, Berlin 1910, S. 60.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Lieber Pappi! Meine Situation ist erklärlicherweise solcherart, dass ich mit dem Reisegeld nach Freiberg in der Tasche hier zum Besuch bei Gori Erdmann1 weile und der guten Dinge harre, die da kommen können. In Freiberg werde ich schon irgendwie leben. Wir haben folgende Massnahmen getroffen, um Geld zu erhalten: Erstens hat Willi Onkel Ernst2 gebeten, die 100 Rubel für den Herbst doch recht schnell abzuschicken; Erfolg ist unsicher, weil Onkel Ernst eventuell auf Reisen sich befindet. Zweitens habe ich an Tante Armina (Hannah)3 einen Brief geschickt, wo ich sie bitte, ob ich das ganze Geld oder einen Teil dessen, das eigentlich im Januar fällig ist, schon jetzt so schnell wie möglich erhalten könne (unter Darlegung der Gründe). Da ist der Erfolg noch unsicherer, jedenfalls aber wird das Geld eine Zeitlang auf sich warten lassen. Was Willis Plan anbetrifft, jetzt schon Soldat zu werden, so verwerfe ich ihn absolut; man muss sich eo ipso zuerst zum Examen durchschlagen. Die 400 Mark (210 + 190) haben wir natürlich erhalten. Willi hat sein Examen gut bestanden; besondere Nummern werden nicht bekannt gegeben. Schulden, die irgendwie drängen, haben wir beide nicht; sondern entweder auf Burschenzeit oder solche, die erst mit dem Fortgang aus Freiberg reguliert werden müssen, nämlich Buchhändler (ich zirka 90 Mark) und Schneider (180 Mark). Die Fremdensteuer (für jeden 215 Mark) kann, glaub ich, bis zum November gestundet werden, ebenso die Kolleggelder (zirka 150 M.). Ausserdem braucht jeder pro Monat 150 Mark. Meine Pläne gehen nicht weiter, als Geld verschaffen und Examen machen. Schichten habe ich jetzt genügend. Willi braucht noch 15, glaube ich. Ich will versuchen, ob Onkel August nicht doch noch etwas mehr schickt. Wenn er es jetzt abschlägt und ich eventuell nicht weiter studieren kann, so ist ja alles früher gezahlte für die Katz, denn es handelt sich ja nur um das Diplom. Ich bin überzeugt, dass es schon irgendwie gehen wird. Willi und mir geht es gesundheitlich wohl, hoffentlich bist Du auch bald wohlauf. Es grüsst Dich herzlich Sisi

————————————

Nr. 87 1 Siehe Edition, Nr. 43 Anm. 2. 2 Dr. med. Ernst von Radecki (1859–1916), Bruder des Vaters Ottokar. 3 Wahrscheinlich die Schwester Ottokars, Johanna („Hanna“) von Radecki (* 3.1.1857).

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 88 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 15.11.1912

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Meine liebe Eva! Ich gratulier Dir zum Geburtstag. Hoffentlich geht es Dir im neuen Jahre gesundheitlich besser. Ich höre, dass Du an einem Roman schreibst und bewundere, beneide Dich deswegen. Ich selbst bin ausgepresst wie eine alte Citrone, und wenn ich doch etwas mit mir trage, so kann ich mich nie entschliessen, es zu Papier zu bringen. Ein Roman – man denke …! Ich bin ziemlich fleissig im Arbeiten und im Tanzen. Im Übrigen, „sehe ich Schwarz“: die Specialliebhaberei meines letzten Jahres. Ich liebe Dich sehr, und darum sollst Du mir von Deinen Arbeiten und Plänen schreiben; ich habe es redlich versucht, mit Dir eine künstlerische Sympathie zu teilen (E. L.-Sch.1), aber ich erhielt keine Antwort, oder keine gute. Ich nehme mit Vergnügen wahr, dass ich immer mehr Ähnlichkeit von Pappi kriege. Grüss Mammi und Micko Sisi

Nr. 89 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 24.3.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Liebe Eva! Ich benutze einen Vormittag, um Dir zu schreiben. Ich bitte um Verzeihung – ich bin in der letzten Zeit recht sparsam mit Briefen gewesen. Ich benutze ————————————

Nr. 88 1 Else Lasker-Schüler.

Briefe Sigismund von Radeckis

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meine freie Zeit meist zu Spaziergängen. Freiberg und seine Umgebung gefällt mir mehr und mehr. Wahrscheinlich den charakterologischen Gesetzen der Spirale folgend, bin ich wieder Müllerchen geworden – rauche nicht, trinke nicht und spreche drei Sprachen. Zeitungen lese ich garnicht mehr. Ich bin sehr allein; verkehre wenig im Klub und fühle mich überhaupt recht verkatert. Zweifelhafte Begleiterscheinungen der edlen Kunst, sich Feinde zu machen. Meine paar Bücher sehe ich nicht mehr an. Ein Gedicht hab ich für Dich1: Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume. Die Sterne, schneeballblütengroß und schwer. Die Panther springen lautlos durch die Bäume. Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer. Behalt mich gern und denk an Deinen Sisi

Nr. 90 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Långbanshyttan, 1.4.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Pensionat, Rikst. 184 Lieber Pappi! Muss diese unglückselige Ellen auch partout nach Freiberg fahren und der erstaunten Welt von meiner Anwesenheit in Schweden erzählen1! – Das wirft meine Absicht, die Sache geheim zu halten, über den Haufen: „Nun wirke fort, Unheil, du bist im Zuge – nimm welchen Lauf du willst2!“ Meine Zeichnungen habe ich hierher mitgenommen, um ungestört arbeiten zu können. ————————————

Nr. 89 1 Gottfried BENN, Gesänge, in: Gesammelte Werke, hg. v. Dieter WELLERSHOFF, Bd. 3, München 1978, S. 25. Das Gedicht erschien erstmals 1913. Nr. 90 1 Wahrscheinlich Sigismunds Cousine Ellen von Radecki (* 25.12.1888 Nurmis, † 7.1.1969 Berlin). 2 William Shakespeare, Julius Caesar, III, 2.

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Familienbriefe 1903–1921

Ich bin auch ganz gut vorwärts gekommen: die ganze Baukunde ist erledigt. Im übrigen erfreue ich mich einer ausgezeichneten Gesundheit, laufe täglich Ski mit ein paar entzückenden jungen Mädchen aus Stockholm – und bin fast immer guter Dinge. Ich habe schon fast alle mitgebrachten Vorlagen fertig. Es fehlen nur noch die zwei Blätter der Aufbereitungsanlage, – sind die fertig, dann mach ich mich nach Freiberg auf. Die Sache mit der Stelle im Oelsnitzer Revier3 interessiert mich sehr. Wenn man dazu kein russisches Staatsexamen (ich meine das am [fehlt], ein Bergbezirksexamen muss man eo ipso ablegen) braucht – so wäre es ja das Vorteilhafteste für uns. Eine bessere Protektion als Lagario4 ist ja, glaub ich, nicht leicht in Bergsachen zu finden. Hier ist alles Seen und Wälder, blaue Linien. Hier ein Gedicht: DIE TANNEN Schneebeladen und in sich versunken lassen sie die sanften Sonnenfinger eben nur geschehn … doch ein geringer Hauch schon macht sie aufschaun und sich dehnen – erst nur zitternd und wie schlafestrunken – dann befreit in einem Strom von Tränen. Ich habe auch nach jahrelanger Pause wieder etwas gemacht (da man bei der Baukunde ja doch mit dem Pinsel zu tun hat), eine wärmländische5 Waldseelandschaft scheint mir recht gelungen und findet auch sonst Beifall. – Wie Du sehen kannst, bin ich mit mir leidlich zufrieden – aber ach! – meine Ansicht scheint nur von wenigen geteilt zu werden! Möge es sich zum Besseren wenden! Es grüßt Dich Sisi

———————————— 3 4

5

Wohl verlesen für „Olonez“. Bergbaugebiet in Karelien. Alexander Lagorio (* 15.8.1852 Feodosia/Krim, † 25.3.1944 München), 1870–1875 stud. min. Dorpat; Dr. min., 1880–1896 Professor in Warschau, 1906–1917 Chef der Lehrabteilung des Handelsministeriums in St. Petersburg, seit 1920 in Dresden, seit 1933 in Berlin, ∞ Luise Faltin; Album Fratrum Rigensium, Nr. 699; Rigasche Zeitung, Nr. 28 v. 4.2.1914, wo seine mögliche Ernennung zum Chef des Bergdepartements gemeldet wird. Provinz Värmland in Schweden.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 91 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 20.4.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Albertstr. 14 Meine gute Eva! Ich danke Dir für die Karte. So können wir es als Regel einführen: ich schicke Dir neben Belanglosem in jedem Brief ein paar Zeilen „Kunst“ (damit es sich den Brief abzuschicken lohnt) – und Du retournierst prompt Kritik nebst Kuss. Ich bin noch immer der alte Misogyn – kein Hass, bloss ein leichter Ekel – und liebe meine junge gute Einsamkeit immer mehr. Ein leichter Fleiss, leichtes Lachen – Weinen, eine gewisse Gelassenheit, Training des Lebens (vielleicht als Schutz gegen ein Zuviel, ein Übermass an Leben …) – voilá tout. Das Gegenteil von „Ich und das Leben. Die Affäre wurde ritterlich ausgetragen. Die Gegner schieden unversöhnt“1. Ein liebes Gesicht (– Hildur2 –), ein lieber Gedanke siedenheiss aufsteigend – das sind Bäder, Douchen. Manchesmal die Wollust oder unmotivierte Devotion: GREEN Voici des fruits, des feuilles, des fleurs et des branches Et puis voici mon coeur, qui ne bat que pour vous. Ne le déchirez pas avec vos deux mains blanches Et qu’à vos yeux si beaux l’humble présent soit doux. (Verlaine)3 Schick mir doch ja bald wieder einen Kuss. Ich grüsse Micko und Mammi Dein Sisi

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Nr. 91 1 Karl KRAUS, Pro domo et mundo, in: Die Fackel, Nr. 333 (1911), S. 13. 2 Dazu RADECKI, „Hildur, die Unvergeßliche“, eine weibliche Person dieses Namens, in die ich mich besinnungslos verschoß, in: Nebenbei bemerkt, S. 156. 3 Paul VERLAINE (1844–1896), Green. Das Typoskript, mit Schreibfehlern, wurde hier der Verlaine-Überlieferung angeglichen.

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 92 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 3.5.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club Lieber Pappi! Ich benutze den Sonntag-Nachmittag, um Dir zu schreiben. Wir hatten eben ein Hockey-Wettspiel Chemnitz kontra Freiberg: Freiberg siegte glänzend 10 : 0. Im Club sind jetzt alle sehr fleissig, ein wahres Arbeitsfieber hat alle ergriffen. Jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag spielen wir auf dem Nord-Club Platz Lawn Tennis. Ich arbeite eben an einem Luft-Compressor, der zu berechnen und zu entwerfen ist – ziemlich langwierig. Wir hatten hier eine Zeit lang totales Donnerwetter – alle Freiberg fellows gingen in weissen Hosen und barhäuptig umher, was den Philistern regelmässig Wutblicke entlockt. Aber jetzt sind die Tage wieder grau. Die frischen Blätter waren anfangs vom Frost ganz verrunzelt – aber jetzt haben sie sich, Gott sei Dank, erholt. Es macht mir vielen Spass an meine Osterferien in Schweden zu denken, wo ich so angenehme Menschen und guten Sport hatte. Wenn es Dich interessiert, kann ich ein paar Photographien von da schicken. Ich grüsse Dich, Mammi, Micko, Eva und eventuell Grimm1. Sisi

Nr. 93 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 22.5.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Nord-Club

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Nr. 92 1 Almas Verlobter Werner von Grimm.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Meine liebe Eva! „Man is a biped, but fifty men are not a centipese“1 – ein Aphorismus, also eine halbe oder anderthalbe Wahrheiten, keinesfalls eine ganze. Fieber könnte eine ganze Stadt rütteln, Paris jeden Abend, wenn die Zeitungen ausgerufen und die Lichter angesteckt werden – zuweilen geht ein Sturm über den rührenden Potsdamer Platz, dass die vielen dicken Bierwagen wie gehetzte Herden rennen – und eben segelt eine Wolkengruppe wie die Philippinen über Freiberg und lässt die Stadt unter fahlen Schauern von Licht und Regen erzittern (hä, wie geziert ist diese Ausdrucksweise). Ich fühlte, wie sehr ich eine Emotion brauche, und kaufte mir ein Büchschen weisser Zigarettenstangen, um sie mir nacheinander ins Gesicht zu stecken. Wie war ich noch eben erfüllt von Sachen, die Dir zu erzählen waren – aber immer wieder das Herz in den Hosen bei der Confrontation mit dem Papier. Zwei Monate lang keinen anderen Gedanken haben als ein Mädchen (namens Hildur2) – und darum immer neue Sentimentalität und Ironie – welch ein hässliches Zwillingspaar – Kennzeichen des Verliebten – nie des Liebenden. Zwischen Beiden essentieller, nicht gradueller Unterschied. Dass man verliebt war – wie unverständlich; dass man geliebt hat – wie klar, ein Sonnenstrahl. Das Stoffliche in gewissem Sinne belanglos: Arbeit, Sport, Spaziergänge, Witze, oft die Vision von dem schlanken Mahagonibug einer Yacht, an den ruhelos die graupolierten Wellen klatschen – aber alles unendlich bedeutsam durch den Bezug. Nicht durch ein gefärbtes, durch ein geschliffenes Glas blickt der Liebende – er vermag die vielfältigen Strahlen in einem Brennpunkt zu vereinigen. Ob es nun ein Mädchen oder die Ewigkeit ist – jedenfalls zwingt dieser „état d’âme“ immer wieder zum Problem der Probleme – dem der Realität. Hier sind die Photographien [fehlen]. Ich will sie nicht mehr – dürftige Identitätsbeweise. Copien nach der Natur – wie unnütz, da die Natur doch da ist! Ich versuchte mich mit einer Zeichnung, sie wird noch immer zehn mal ähnlicher, als die [fehlt], ich konnte aber die Hand nicht im rechten Augenblick von der Arbeit lassen und verdarb. „Verächtlich sind die Liebenden, die Spötter, alles Verzweifeln, Sehnsucht, und wer hofft3.“ ————————————

Nr. 93 1 Zitat aus: Gilbert Keith CHESTERTON, What’s wrong with the world. The medical mistake (1910). „Centipes“ irrtümlich für „centipede“. 2 Siehe Brief v. 20.4.1913; Edition, Nr. 91 mit Anm. 2. 3 Gedicht von Gottfried Benn; siehe Brief v. 24.3.1913; Edition, Nr. 89 mit Anm. 1.

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Familienbriefe 1903–1921

Meinen Gruss Sisi

Nr. 94 Sigismund an seine Schwester Eva

[o. O.], 8.7.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Heute ist ein schöner Abend, ich ging wieder einmal an all den Bäumen vom Winter vorüber. Aber man kann sie jetzt garnicht wiedererkennen, so dicht sind sie mit Laub bewachsen. Zuerst kommt einer, wo ich weiss, dass hinter den Blättern ein Rennläufer verborgen ist – ganz schief mit einem hochgezogenen Knie, in einer Kurve. Wenn man ihn aber von der anderen Seite ansieht, dann werden daraus ein Mann und ein Weib, die sich die Hände reichen und die Füsse gegeneinander stemmen, denn er hilft ihr, sich zu erheben. Dann ist noch das Ehepaar, das sind zwei Riesen, die so nah aneinander stehen, dass die gegenseitigen Äste durcheinander greifen, auch wohl verkümmern, während die anderen in entgegengesetzter Richtung weit auseinanderstreben. Dann gibt es da noch eine Karyatide von Rodin, aus deren Nacken ein Blätterdach aufsteigt und sich dann über sie senkt. Dein Brief hat mich sehr erfreut. Das Gedicht ist leider von mir und schon lange zu leicht befunden worden – verhinderte Malerei, mit einem Wort Kitsch. Verliebt bin ich augenblicklich in ein kleines Mädchen (so zwischen 6–7 Jahren) vom Garten links an der Ecke. Ich nehme mit Sicherheit an, dass sie Adelaide heisst. Sie hebt die Lider und man ertrinkt von Bläue. Im Nachtblau meiner Liebe Schwimmen Labyrinthe Baumkronen; Nie finde ich aus meinem Herzen. Nun rat mal, Zettelkasten? Ich hab mir zwei Götzen aufgebuckelt: Karl Kraus und Else Lasker-Schüler; wenn doch jemand sie angriffe!! Es grüsst Sisi

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 95 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 2.8.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Cafe-Josty1 Liebe Eva! Hier ist es unsagbar still, ein kühler Cafewinkel am Ufer des Potsdamer Platz, in den die Canons der spiegelblanken Asphaltflüsse münden (ein roter Autobus schwimmt die Leipziger Straße hinunter). Die Nächstenliebe ist die schwerste, den Menschen, mit dem ich zusammen wohne, muss ich ja schon um die Art, wie er sich die Zähne putzt, grenzenlos verachten – wie leicht, wie göttlich dagegen, den Menschen zu lieben: oh ihr Brüder und Schwestern von Berlin! (a une passante!). Ich weiss nicht, auf welche Weise sich einmal in mein Lesebuch ein Zettel mit der Aufschrift „Menschlichkeit!“ verirrt hatte. Ich fand den Zettel während einer Fahrt im Mittelmeer, damals ärgerte es mich (man brach eben einem Hummer die Augenstengel ab – zum Spass) – aber in den letzten Tagen musste ich daran denken. Wie lange es dauert, bis man seine Muttersprache lernt; das Wort geht langsam auf wie eine Sonne – die Sprache: ein gestirnter Himmel der Leidenschaften und Gefühle – welch wunderbare Gesetze der Harmonie und Komplikation – „Sterne die sich himmellang umwarben“2. „Panta rei“ – oder „alles ist Rythmus“3, Rythmus ist alles – mein Credo. Lust ist rythmisierte Unlust. 20 Kilometer zu gehen – unmöglich, die kann man nur tanzen! Der geheimste, launischste Rythmus ist der des Tango4: bald vorsichtige (just wait a little!), bald tollkühne, entzückte durch den Körper eilende Schritte, getanzt nach irgendeiner hoffnungslosen, absurd plärrenden Negermelodie. Der Provinziale sagt: „Raffinement“ – er ist eben der einzige, der noch an so etwas glaubt. ————————————

Nr. 95 1 Künstlercafé. Ein Sonett von Paul BOLDT, Auf der Terrasse des Café Josty (1912) ist nahezu zeitgleich. 2 Zitat aus Else LASKER-SCHÜLER, Ein alter Tibetteppich. 3 Griechisch: Πάντα ῥεῖ, „Alles fließt“. Hier mit der auf Friedrich Hölderlin zurückgehenden Wendung. 4 Zum Hintergrund besonders RADECKI, Tango 1912, in: Nebenbei bemerkt, S. 29.

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Familienbriefe 1903–1921

Adieu, ich liebe Dich, ich liebe die ganze Welt, sogar mich selbst. Hier die stillsten Worte (Mittel gegen Straßenlärm): „Ich lehne am geschlossenen Lid der Nacht – und horche in die Ruhe5.“ Sisi P. S. Ich habe mit mir ein Buch, heisst „Die Ermordung einer Butterblume“6, beweine mit mir!

Nr. 96 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 18.9.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Heute bin ich traurig: an einer empfindlichen Stelle ist die Seele getroffen worden – man geht weiter, denkt es wird schon nichts sein und liegt plötzlich da. Gestern dagegen war es fein, der Wind so stark, dass man wirklich glücklich wurde und zum Schluss ein Wetterleuchten in einer langen Wolkenbank, ein Ende antwortete immer dem anderen. Mit Pappi waren wir jetzt einige Male zusammen1. Er war prachtvoll. Ich fange erst jetzt an, ihn ein wenig zu capieren. Er ist einfach ein „allegorical practical joker“2 in denkbar vollkommenster Form. Selbst ein Organisator, ist er doch ein unwillkürlicher spontaner Protest gegen automatisches Functionieren und Mechanismus. Ein Energiewirbel von Menschlichkeit, stiftet er allenthalben menschliche Gefühle, lobt hier den Ober für gute Bedienung und erfährt von dem im Handumdrehen ¾ seiner Biographie, dort im Tram beim Billetkaufen sagt er

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Zitat aus Else LASKER-SCHÜLER, Der Letzte (1911). Erzählung von Alfred Döblin (1913). Nr. 96 1 Am 29.8./11.9.1913 schreibt der Vater Ottokar aus Berlin, er habe beide Söhne dort getroffen. Weitere Briefe vom 20., 23. und 24.8. aus Danzig, vom 8., 18. und 22.9. aus Berlin. 2 Die Phrase geht zurück auf Gilbert Keith CHESTERTON, Manalive (1912): The allegorical practical joker. 6

Briefe Sigismund von Radeckis

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kurz: „Ich will ins Hotel Westminster3“, und wirft dem Schaffner, der korrekterweise die benachbarte Haltestelle nennt, bloss einen tadelnden Blick zu, versöhnt sich aber dann mit ihm, hetzt darauf die Passagiere gegen die Strassenbahn auf, und als ihm dies gelungen, den Chauffeur gegen die Passagiere, bringt dann noch mit einer zwischengeschobenen spassigen Bemerkung alle zum Lachen und – steigt dann befriedigt und mit unverkennbarer Lust zum Weiterwirken – aus. Der einzigste, der es fertig bringt (ausser S. M.4), im Menschenmeer Berlins Kielwasser zu hinterlassen. Die „Krippenreiter“5 haben mir eine ungeheure Freude gemacht. Pappi brachte jetzt die zweite Partie. Es grüsst Dich herzlich Sisi

Nr. 97 Sigismund an seine Schwester Eva

Freiberg/Sachsen, 14.10.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Ich danke Dir sehr für Deinen Brief. Augenblicklich bin ich mit meiner Diplomarbeit beschäftigt: dem Installieren eines modernen Grubenbetriebes bis 400 m Teufe. Das ist nicht uninteressant, nur schade, dass mir so die Herbstspaziergänge flöten gehen, und solche Wanderungen sind mir seit diesem Frühling die grösste Freude geworden. Dass Dir der Kentaur1 gefällt, ist mir sehr angenehm. Ich selbst lese Rilke nie mehr, ich weiss etwas von ihm, das mir manchmal einfällt – das genügt. Das ist nun einmal nicht anders, es sind zu grosse neue Sternbilder in seiner Nähe aufgetaucht.

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Das Berliner Hotel Westminster lag Unter den Linden 17/18. Ottokar benutzte noch 1918 in Dorpat Briefpapier mit dem Briefkopf „Hotel Westminster Berlin“. 4 Für „Seine Majestät“. Wohl Anspielung auf Kaiser Wilhelm II. 5 Erzählung von Eva von Radecki, erstmals erschienen in: Deutsche Monatsschrift für Russland 1913, Heft 7, S. 626–641; Heft 8, S. 734–738; erneut in: Hellmuth KRÜGER (Hg.), Die Baltischen Provinzen, Bd. 2: Novellen und Dramen, Berlin 1916, S. 77–119. Nr. 97 1 Bezieht sich wohl auf Rainer Maria Rilkes Übersetzung von Maurice DE GUÉRIN, Der Kentaur.

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Familienbriefe 1903–1921

Vor allen andern: Karl Kraus2! Er ist einfach das wachgebliebene Gewissen unserer Zeit. Das dominierendste [der] Gefühle ihm gegenüber: unaussprechliche Dankbarkeit. An ihm sieht man, was ein Einzelner vermag. Jemand charakterisierte kurz seine Tätigkeit: „Karl Kraus ist abgestiegen zur Hölle, zu richten die Lebendigen und die Toten3.“ Dann E. L.-S. Aber die kennst Du ja. Das schönste Gedicht aus den Balladen4: „An Gott“, wo die Zeilen stehen: „Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen, Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen, Wenn goldverklärt in deinem Reich Aus tausendseligem Licht Alle die guten und die bösen Brunnen rauschen.“ Dies Wortgefüge hält wohl einige Ewigkeiten. Und dann der letzte aus dem Dreigestirn: ein junger Innsbrucker namens Georg Trakl. Ein paar Zeilen hier: – „das letzte Gold verfallener Sterne5.“ – „Rosige Osterglocke im Grabgewölbe der Nacht und die Silberstimmen der Sterne, Das in Schauern ein dunkler Wahnsinn von der Stirne des Schläfers sank6.“ Ein Gedicht beginnt: HELIAN „In den einsamen Stunden des Geistes Ist es schön, in der Sonne zu gehn An den gelben Mauern des Sommers hin. Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft ———————————— 2

3 4 5 6

Karl Kraus las am 25.11.1913 in Dresden im Kleinen Saal des Künstlerhauses; Die Fackel, Nr. 389–390 (1913), S. 21. In einem Manuskript „Zum Karl-Kraus-Aufsatz“ heißt es: „Die erste Vorlesung (Dresden 1913)“; DLA Marbach. Es darf somit angenommen werden, dass Radecki auf seiner bevorstehenden Reise nach Dresden (siehe den folgenden Brief) Karl Kraus erstmalig in einer Lesung hörte. Zitat von Oskar KOKOSCHKA, Rundfrage über Karl Kraus, in: Der Brenner v. 15.7.1913. Aus Else LASKER-SCHÜLER, Hebräische Balladen (1913). Georg TRAKL, An den Knaben Elis (1913). Aus Georg TRAKL, Sebastian im Traum (Für Adolf Loos) (1915).

Briefe Sigismund von Radeckis

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Der Sohn des Pan im grauen Marmor. Abends auf der Terrasse betranken wir uns mit braunem Wein. Rötlich glüht der Pfirsich im Laub; Sanfte Sonate, frohes Lachen. Schon ist die Stille der Nacht. Auf dunklem Plan Begegnen wir uns mit Hirten und weissen Sternen.“ Das sind (sozusagen) – Wertsachen; nein – Schwertknäufe, mit denen man Schädel spaltet und davor man niederkniet! Natürlich liegt mir viel daran, dass ich durch Deine Vorstellung nicht als keuchender Marathonläufer einher renne, sondern in einer möglichst schönen und eleganten Situation vorkomme. Ich proponiere also: „en faisant Tango“, wobei die Musik den unendlich traurigen „Conto y susoior“ [?] spielt. Fort mit den Walzern ect! Wir begreifen wieder, dass man ihn anfangs bäurisch fand! Tango – keine Kleinigkeit, seine 64 Takte wollen gekonnt sein – ein unendlich reizvoller Wechsel von rythmischen Figuren, – er wird ganz langsam, leise gleitend getanzt. Ich bin übrigens recht fleissig, Sisi

Nr. 98 Sigismund an seine Schwester Eva

Dresden (Hauptbahnhof), 14.11.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Vor allem meine untertänigste Gratulation1! – Gott gebe, dass es Dir im künftigen Jahr gesundheitlich besser geht! Ich hatte meinen Geburtstagsbrief eigentlich schon vor einigen Tagen geschrieben, doch habe ich ihn nicht abgeschickt, da er wegen meiner damaligen Stimmung zu traurig ausfiel. Heute dagegen muss ich schon programmgemäß froher Laune sein, da ich 1) meine Diplomarbeit eingereicht und 2) nach Dresden (wo ich eben bin) – zum Ball eingeladen wurde. ————————————

Nr. 98 1 Evas Geburtstag war der 17.11.1884.

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Familienbriefe 1903–1921

Meine Diplomarbeit besteht darin, dass ich eine imaginäre vertrauensvolle Grubengesellschaft im Verlauf von 80 Seiten durch unerhört kostspielige Neuanschaffungen in die Tinte lege; auf Seite 81 sage ich Konkurs an. – Auf dem Balle habe ich nur wenige Bekannte: einen Dänen, einen Griechen und 3 Amerikanerinnen2. Als vorläufiges Geburtstagsgeschenk hatte ich Dir ein paar kleine Zeichnungen unter dem Gesamttitel „Elake Herran“3 zugedacht; ich schicke sie Dir nächstens. Ich bin recht fleissig und lerne den positiven Wert meines früheren Faulseins dadurch erst wirklich kennen – alle früheren Zeitschlemmereien werden noch einmal durch die Nichtigkeit des Versäumten vergoldet. Ab und zu lauf ich immer mal wieder durch den Wald, herrlich: keine Neuzeit, bloss noch Jahreszeit. Was mir Kraft gibt: Natur und die Frauen. Wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke, so kann ich nicht anders, als dankbar zu sein. Mir ist, als ob ich erst seit kurzem so etwas wie Erdboden unter mir spüre. Ich grüss Dich herzlich und wünsche, dass es Dir ab und zu des Nachts einfällt, wie zerbrechlich das Dach ist und wie weiss die Sterne darüber stehen! Sisi

Nr. 99 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Freiberg/Sachsen, 23.11.1913

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Pappi! Ich danke Dir sehr für den Geburtstagsbrief. Ich bin leiblich und geistig wohlauf und guter Dinge. Ich glaube, dass es an der Zeit ist, wenn ich mich ein wenig für mein weiteres Fortkommen interessiere. Ich würde durchaus nicht ungern nach Russland gehen und möchte Dich wegen zweier Dinge, die Du mir schriebst, um genauere Auskunft bitten. Erstens schriebst Du, dass wir, oder einer von uns, eventuell eine Stelle bei der Installation eines Musterbe-

———————————— 2

3

Ein deutlicher Hinweis auf diesen Ball steht in der Kurzgeschichte über seinen Aufenthalt in Turkestan: „Kurz vorher hatte ich noch in Dresden mit lieblichen Amerikanerinnen getanzt (Vanderbilt)“; RADECKI, Ein Reiter im Dunkeln, in: Alles mögliche, S. 148 ff. Unklar, vielleicht finnisch „Eläke Herran“ = Herrenpension.

Briefe Sigismund von Radeckis

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triebes in Russisch-Polen erhalten könnte; Bedingung würde Freiberger Diplom und mindestens einjährige Praxis im Olonez-Lugauer Revier1 sein. Es würde mir nun nicht schwer sein, diese Praxis zu erlangen, existiert doch hier in Sachsen das sogenannte Probejahr, das alle Bergingenieure durchmachen müssen, und wo sie im Laufe eines Jahres alle verschiedenen Arbeiten des Betriebes kennen lernen. Die Bezahlung ist, glaub ich, Arbeiterlohn. Wenn mir nun tatsächlich die Anstellung nach diesem einen Jahr Praxis garantiert wird, so wäre es ja tadellos! Ein anderes Mal schriebst oder sprachst Du, dass wir eventuell, mit Hilfe von Layona2 glaub ich, das Examen im Bergcorps in St. Petersburg in einem Jahr machen könnten (statt wie gewöhnlich in zweien). Das wäre ja auch recht vorteilhaft, da, wie ich gehört habe, das Petersburger Examen schon was wert ist. Ich bitte Dich also um die Freundlichkeit, mir, wenn es Dir möglich ist, Aufklärung in diesen beiden Punkten zu verschaffen. Falls es damit nichts ist, möchte ich dann versuchen, nach Südamerika zu kommen, Robbie Samson3 will ich in den nächsten Tagen schreiben. Er ist in Bolivien auf Zinn. Zwei Jahre für Petersburg ist natürlich financiell schwierig (man kann sich allerdings im Sommer Geld durch Teilnahme an geologischen Expeditionen erwerben, wie Kluge4 schreibt) – und ausserdem zu grosser Zeitverlust. Es grüsst Sisi

Nr. 100 Sigismund an die Universität Jurjew

[Jerwen/Sommerpahlen], 17.6.1915

Tartu, Eesti Ajalooarhiiv, 402.1.21929, Bl. 23 (Studentenakte Sigismund v. Radecki) – Original.

17 iюня 1915 года

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Nr. 99 1 Bergbau- und Hüttenrevier Olonez bei Petrozavodsk in Karelien. Direktor des Berg-Departements war 1912–1915 Vladimir Arendarenko, Kommandeur des Korps der Bergingenieure 1911–1912 Ivan Dolbanja; AMBURGER, Behördenorganisation, S. 236, 491. 2 Verlesen für „Lagorio“. Siehe Edition, Nr. 90 Anm. 4. 3 Siehe Edition, Nr. 21 Anm. 4. 4 Felix Kluge? Siehe Edition, Nr. 58 Anm. 2.

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Familienbriefe 1903–1921

Вчера я получилъ Ваше открытое письмо за No. 5560ымъ. Удостовѣренiе нужно мнѣ для достиженiя права на поступленiе на историко-филологическiй Факультет Петроградскаго Университета. Такъ какъ я окончилъ реальное училище, и въ 1908 году при Рижскомъ учебномъ округѣ сдалъ дополнительный латынскiй экзаменъ (что у Васъ навѣрно зарегистрировано), то я просилъ бы отмѣтить эти факты въ удостовѣренiи, потому что они важны для Филологическаго Факультета. Съ совершеннымъ почтенiемъ С. О. Радецкiй, горный инженеръ [Übersetzung:] Gestern erhielt ich Ihren offenen Brief Nr. 55601. Ich benötige das Zeugnis für die Zulassung zur Universität Petrograd, Fakultät für Geschichte und Philologie2. Da ich eine Real-Schule3 abgeschlossen und 1908 ein Zusatzexamen in Latein im Lehrbezirk Riga abgelegt habe (was wahrscheinlich bei Ihnen eingetragen ist), bitte ich Sie, diese Angaben in dem Zeugnis zu vermerken, da sie für die Philologische Fakultät wichtig sind. Hochachtungsvoll S. O. Radezky, Bergingenieur

Nr. 101 Sigismund an seine Mutter Alma

[Finnland, November 1915]

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Der nicht bekannte Originalbrief enthielt eine längere, mehrzeilige Adresse (wohl in Russisch), die im Typoskript nur formal angegeben ist. ————————————

Nr. 100 1 Brief der Kanzlei der Universität Jurjew v. 15.6.1915, adressiert nach „Beigut Jerwen, Station Sommerpahlen“; EAA, Studentenakte, Bl. 22. Darin bat die Kanzlei um Auskunft, für welchen Zweck der erbetene Nachweis benötigt werde. 2 Zum Studium in St. Petersburg ist recht wenig bekannt. Sein Antrag an die Universität datiert v. 3.8.1915; Mitteilung von Dr. Michael Katin-Jartzew, Moskau, nach: Regionalarchiv St. Petersburg, 14-3-68121, Bl. 1, mit Lebenslauf und Antrag. Dazu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 264, zum 11.5.1916: „Heute ist Sisis griechisches Examen.“ 3 Katharinen-Schule St. Petersburg.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Zur Datierung: Radeckis Tante Josi von Moeller erwähnt in einem Brief vom 12.11.1915, dass ihr Neffe Anfang November 1915 zu einem Kurzbesuch in Helsinki gewesen sei und sie in Päevölä (nahe Valkeakoska, nordwestlich von Helsinki) besucht habe.

Liebe Mammi! Dein Brief hat mich sehr erfreut. Wegen der Gamaschen sorge Dich nicht, ich komme auch ohne aus. Wir haben hier seit einigen Tagen Schnee, es ist prachtvoll im Walde spazieren zu gehen. Meine Gesundheit ist sehr gut. Da meine Ski aus Petrograd1 noch nicht gekommen sind, so habe ich mir hier bei einem Tischler ganz billige finnländische gekauft, die mir sehr viel Spass machen. Ich freue mich schon auf das Schlittschuhlaufen. Mit dem Schüler habe ich mich schon etwas eingearbeitet. Anfangs ging es mir wie dem König in einer Operette, die ich in Petrograd sah: er soll einen Kullen2 zum Grafen ernennen, aber jedesmal, wenn er sich dazu einen Ruck geben will, steht der Kerl da so tölpelhaft vor ihm, dass der König kraftlos in den Thron zurücksinkt und murmelt: [fehlt]. – Übrigens creirt er ihn darauf zum Grafen „[fehlt] della Rosa“. Jedesmal wenn er ihn elegant [fehlt] ruft, überhört der andere das vollständig (er hört aber nur auf „[fehlt]“)3. Sein Hauptmerkmal ist das, was der Engländer „a broad grin“ nennt. Das Gute jedoch ist, dass seine Dummheit nicht „Gabe der Natur“, sondern Vernachlässigung ist. Das lässt sich also reparieren. Ich höre mit Vergnügen, dass Tante Josi und Evi4 für den Winter nach Helsingfors gehen. Vielleicht gelingt es mir, sie dort einmal zu besuchen. Es grüsst Dich, Pappi und Eva herzlich Sisi Nr. 102 Sigismund an seinen Schwager Werner von Grimm [Finnland], 14.11.1915 ————————————

Nr. 101 1 St. Petersburg wurde am 18.8.1914 umbenannt. 2 Abfällige Bezeichnung für einen ungebildeten Bauern; KOBOLT, Die deutsche Sprache, S. 166. 3 Die Operette ließ sich nicht identifizieren. 4 Sigismunds Cousine Eva Louise von Moeller, Tochter Josephines.

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Familienbriefe 1903–1921

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Verweis auf diesen Brief in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 208, zum 12.11.1915: „Sisi bestätigt kurz sein Wohlbefinden.“

Lieber Werner! Eben bin ich von einem dreitägigen Aufenthalt in Helsingfors zurückgekehrt und finde Deinen Brief vor. Ich danke Dir nach wie vor herzlich für Deine Bemühungen, Du wirst wohl inzwischen die 35 Rubel erhalten haben. Die [fehlt] habe ich mir schon längst in Petrograd verschafft und sie auch eingereicht. Falls Du die Ski und die Stiefel noch nicht abgesandt hast, so schick es doch als ein Paket, die Stiefel mitten zwischen die Hölzer gesteckt, so macht man das immer. Nach Helsingfors wurde ich von Rotermanns1 geladen (die überhaupt sehr nett gegen mich sind). Die Hauptsache war ein famoses Konzert der Aino Ackte2. Der Aufenthalt im tadellosen Societethuset3 tat mir in der Seele wohl. Auch betrank ich mich abends regelmässig an Svenska Punsch. Hin nach Helsingfors fuhren wir im Auto durch auftauenden hohen Schnee, ich machte mein Testament. Den Herrn Gunnar Landtmann4 habe ich auch besucht. Bei der ersten Visite war ich etwas angetrunken und unterhielt die Leutchen brillant, beim zweiten Mal dagegen hatte ich einen Kater und musste mich über grässliche Papuaneger entretenieren lassen. Ich griff nach meinem Skalp und entfloh. – In der Hall sassen entzückende Amerikanerinnen aus dem Modeblatt, ich studierte sie durch die Zeitung. Das Hotelzimmer hatte in seinem schematischen Comfort einen unendlichen Reiz für mich. Du weisst, ich bin für die Poesie der graden Linie. Nachts drehte ich manchmal die orangefarbene Lampe auf und versank aufs Neue in lächelnde Träume. In einer unbekannten Stadt studiere ich vor allem stets mein Zimmer. Gewöhnlich bleibt es auch bei dieser Kenntnisnahme. Ausserdem vergiftete ich mich, wie immer, an englischen Cigaretten. Der Aufenthalt führte ————————————

Nr. 102 1 Bekannte Revaler Kaufmannsfamilie, hier der Direktor der Rotermann-Werke AG Reval Christian Ernst August Rotermann (* 16.11.1869 Reval, † 24.11.1950 Lidingö bei Stockholm). Er war Besitzer des finnischen Gutes Numlax (Numlahti, nördlich Helsinki?); dazu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 246, zum 7.3.1916: „Er [Sigismund] nahm ja das Buch mit sich nach Nummelax, als er nach Weihnachten hinfuhr!“ 2 Finnische Sopranistin (1876–1944). 3 Hotel in Helsinki. 4 Gunnar Landtmann (1878–1940), finnischer Soziologe und Ethnologe, 1910–1912 Studienreise nach Neuguinea, 1916–1922 Professor für praktische Philosophie. Erwähnung in: RADECKI, Erlebnisse mit der Zeitmaschine, in: Weisheit für Anfänger, S. 69.

Briefe Sigismund von Radeckis

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mich also, wie Du siehst, in jeder Hinsicht zu positiven Erlebnissen. Ich hoffe, dass Ihr in Petrograd ein angenehmes Leben führt und grüsse Euch herzlich. Sisi

Nr. 103 Sigismund an seine Mutter Alma

Petrograd, 12.11.1916

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Петроградъ, 12. ноября 1916 Дорогая мама! Я благодарю Тебя очень за подарки. Только-что я попробовалъ носки и нашелъ ихъ великолѣпными: они мнѣ какъ разъ пригодятся для лыжнаго спорта и верховой ѣзды. Обыкновенно я и зимой ношу бумажные носки, но для спорта предпочитаю такiе. Пфеферкухеновъ я съѣдаю каждый день по нѣсколько штукъ и все думаю притомъ о Васъ въ Юрьевѣ. Здѣсь я уже совершенно укладывался и мало по малу начинаю себѣ чувствовать какъ дома. Распредѣленiе уроковъ здѣсь къ сожалѣнiю довольно непрактичное, но я уже говорилъ съ отцомъ семейства и мы рѣшили оставить старый порядокъ вещей еще до рождества, a потомъ уже новый семестръ начинать по новому. Ѣда здѣсь очень хорошая; всѣ припасы присылаются по желѣзной дорогѣ изъ собственной деревни въ Курской губернiи. Свой книги я уже почти полностью перенесъ въ новую квартиру и уже разставилъ ихъ порядкомъ, что меня очень занимало. Сегодня суббота и я навѣрно вечеромъ отправлюсь къ Дуди или къ Волли. Погода стояла въ эти дни довольно холодная. (Хотя мнѣ въ своемъ пальто еще совершенно тепло!) Была гололедица и падало много лошадей на улицахъ, безпрестанно, какъ подъ пулеметнымъ огнемъ. При перенесенiи платьевъ и нашелъ, что мое сѣрое, легкое пальто чудесно одѣвается подъ синее, теплое,

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что конечно совершенно достаточно и противь 30-ти градуснаго мороза. Притомъ они оба вмѣстѣ легче зимняго пальто. Я очень обрадовался Твоимъ письмoмъ и желаю Тебя всего Хорошаго. Зизи [Übersetzung:] Liebe Mutter! Ich danke Dir sehr für die Geschenke1. Ich habe eben die Socken anprobiert und fand sie herrlich: Ich kann sie gerade gut fürs Skilaufen und Reiten gebrauchen. Gewöhnlich trage ich auch im Winter Baumwollsocken, doch für den Sport bevorzuge ich solche. Von den Pfefferkuchen esse ich jeden Tag ein paar auf und immer denke ich dabei an Dich in Jur’ev2. Ich habe mich hier bereits vollkommen eingelebt und beginne allmählich, mich wie zu Hause zu fühlen. Die Verteilung der Unterrichtsstunden ist hier leider ziemlich unpraktisch, aber ich habe bereits mit dem Vater der Familie gesprochen und wir haben beschlossen, die alte Ordnung der Dinge noch bis Weihnachten beizubehalten, und danach beginnt schon wieder das neue Halbjahr. Das Essen ist hier sehr gut; alle Vorräte werden mit der Eisenbahn aus einem Dorf im Gouvernement Kursk hierhergebracht. Meine Bücher habe ich bereits fast vollständig in die neue Wohnung hinübergetragen und ordentlich aufgestellt, was mich sehr in Anspruch genommen hat. Heute ist Samstag und ich werde am Abend wohl zu Dudi oder Wolli3 gehen. Das Wetter ist in diesen Tagen recht kalt geworden. (Obwohl mir in meinem Mantel noch ganz warm ist!) Es hat Schneeregen gegeben, und viele Pferde sind auf den Straßen gestürzt, ohne Unterlass, wie unter Maschinengewehrfeuer. Beim Hinüberbringen der Kleider habe ich auch entdeckt, dass ————————————

Nr. 103 1 Am 7./19.11.1916 war Sigismunds 25. Geburtstag. 2 Von 1893–1918 Name für die Stadt Dorpat. 3 Woldemar Hartmann (* 23.9.1874 Bolschoi Burtas, † 22.9.1962 Bad Boll), ∞ Dorpat 8.6.1907 Wanda Kessler (* 9./21.11.1884 Dorpat, † 25.1.1956 Bad Boll), Bruder des Bergingenieurs Sascha Hartmann, Rechtsanwalt, seit Herbst 1915 an den Senat in St. Petersburg abkommandiert, Radecki war mit ihm noch nach 1945 in Kontakt; HARTMANN, Erinnerungen, S. 12 ff., 65. Mehrfach erwähnt als „Wolli“ in: Eva von RADECKI, Logbuch.

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sich mein grauer, leichter Mantel wunderbar unter dem dunkelblauen, warmen trägt, was freilich auch bei 30 Grad Kälte völlig ausreicht. Dabei sind beide zusammen leichter als ein Wintermantel. Ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut und wünsche Dir alles Gute Sisi

Nr. 104 Sigismund an seinen Vater Ottokar

Iwanowskoje1, 21.5.1917

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Lieber Vater! Heute ist ein wunderschöner Pfingstsonntag, gerade so viel Wind, dass die Sonnenhitze nicht unangenehm wird. Ich bin heute mit den Knaben allein2; der Fürst ist mit seiner Frau [fehlt], einer 50 Werst entfernten Stadt, gefahren. Seit der Ankunft der Fürstin wohne ich in einem Seitenflügel und sehr comfortabel: zwei schöne Zimmer, die beständig vom Blütenduft der umstehenden Bäume durchweht sind. Ab und zu kommt ein sehr niedliches Gärtnerskind und sieht sehr neugierig durchs Fenster herein. Es hat mich schon als „griga“3 akklamiert. – In der letzten Zeit machte uns das lawn-Tennis vielen Spass. Leider ging dieses Vergnügen zu Ende, da die letzten schon alten Bälle entzwei gingen, und keine neuen zu beschaffen sind. Aber jetzt haben wir mit ziemlicher Mühe den crocket-Platz gereinigt und spielen darauf. Meine Zeit habe ich jetzt hier so ziemlich geregelt. Ich wache gewöhnlich um 7 Uhr auf und verwende 1 Stunde auf Auswendiglernen, an die Lage starren, u.s.w. Um ————————————

Nr. 104 1 Im Typoskript: „Ibanobcicoe“. 2 Nach einem Tagebucheintrag seiner Schwester Eva von RADECKI, Logbuch, S. 328, zum 14.4.1917, erhielt Sigismund bei dem „Fürsten Schachowskoi“ für die Sommermonate 1917 eine Hauslehrerstelle. Wahrscheinlich handelt es sich um den Kreisadelsmarschall von Jefremow, Fürst Iwan Petr. Schachowskoj (* 21.12.1878 St. Petersburg, † 1926/1936 Neuilly-sur-Seine). Zu seinen Gütern im Kreis Jefremow/Tula gehörte unter anderem Iwanowskoje. Er hatte zwei Söhne Peter (* 14.9.1902 St. Petersburg, † Februar 1920 Noworossijsk) und Wladimir (* 17.5.1904 St. Petersburg, † 20.2.1972 Paris), die demnach die im Brief angesprochenen beiden Schüler gewesen wären. Mitteilung von Dr. Michael Katin-Jartzew, Moskau v. 12.8.2007. 3 Vielleicht verlesen für „driga“ (Freund).

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8 steh ich auf, trink Kaffee und lese dabei in Jean Paul’s „Vorschule der Aesthetik“; von 9–10 gebe ich die deutsche Stunde. Dabei memoriere ich zuerst mit dem Schüler ein Gedicht. Dieses hat sowohl den Zweck, sein Gedächtnis zu üben, als auch ihn an gutes Deutschsprechen zu gewöhnen. Falls es ein neues Gedicht ist, so wird ihm der Text auch diktiert. Mein Privatgeschäft ist, dass ich die Sachen dabei auch auswendig lerne. Dann diktiere ich ihm ein paar Prosa-Sätze und die werden dann grausam anatomiert und die ganze Grammatik daran erläutert. Dann kommt das, worauf sich der Schüler am meisten freut. Wir lesen nämlich dann ein Märchen. Dann kommt Latein. Diese Stunde macht mir sicher viel mehr Spass als dem Schüler. Was ihm höchst ledern ist, ist mir höchst interessant. Darauf kommt Rechnen oder Algebra. Dem älteren Schüler gebe ich einen Tag Deutsch, einen Tag Englisch. Englisch lesen wir eine recht spannende Geschichte von Edgar Poe, sie heisst „The golden bug“4 und operiert bewundernswert mit Schatzgraben, Geheimschriften u.s.w. Deutsch lesen wir von Goethe „Dichtung und Wahrheit“; aber ich werde wohl ein anderes Buch nehmen müssen, denn dieses enthält einen zu grossen Wortreichtum. Um 1 Uhr ist das Frühstück. Danach lege ich mich auf mein Bett und lese – gewöhnlich Shakespeare – bis mir die Augen so sachte zuklappen. Um 4 Uhr ist Tee, und nach dem Tee mache ich meinen Spaziergang. Der geht auf der Landstrasse, welche aber 50 Meter breit ist und mit Grass bewachsen. Mein Weg führt zu einem schönen kleinen Wald von Birken und Eichen. Eben ist dort die Gänseblümchen-Session. Aber sie beginnen schon aus der Mode zu kommen. Ich möchte beinah sprechen, sie sind auch nicht mehr das, was sie früher waren. Dort lege ich mich neben einen Baum und sehe zu, wie sie im Winde pendeln. Oder wegen einer Hummel tief nicken müssen. Geh ich dann wieder nach Hause, so werfe ich schon einen langen, langen Schatten übers Feld und es kommt die Zeit, wo man Tennis spielen müsste, wenn man Bälle hätte. Um 7 Uhr ist Mittag. Die Manieren sind nicht vorhanden. Ich suche sie nach Kräften hervorzurufen (natürlich nur bei den Schülern). Dem einen sage ich, er habe keine Manieren. Dem anderen stelle ich ihn stillschweigend als Beispiel hin. In Wahrheit ist beider Manierenlosigkeit gleich. So aber ist das Ideal nicht mehr abstrakt und der Ehrgeiz angespornt. Des einen, die Manieren, die er nicht hat, zu verteidigen, des anderen, sie zu erobern. Wenn nur der Dcvmutz dabei abgeht5. – Nach dem Mittag ist es draussen plötzlich ganz still und die Nachtigall, die doch tagüber auch nicht stumm war, wird nun hörbar. Unten am ———————————— 4 5

Edgar Allan POE, The gold bug (1843). Wohl verlesen für „Schmutz“.

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Teich gibt das soziale Froschvolk offenbar ein Misstrauensvotum ab. Und ein Hund im Dorf betet den Mond an. So schläft man ein. Sowie ich meine Gage habe, schicke ich an Euch ich denke so 350 Rubel und hoffe, dass ihr einen Sommeraufenthalt für Eva habt. Es grüsst Dich, Mammi und Eva herzlich Sisi

Nr. 105 Sigismund an seine Schwester Eva

Kirjola, 17.9.1917

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Kirjola 17/IX 17 Дорогая сестра! Давно, давно я не писалъ Тебѣ. Я помню еще хорошо, какъ я писалъ послѣднее къ Тебѣ письмо. Это было воскресенiе, какъ сегодня, но то былъ теплый солнечный день, среди садовъ, вдали золотились поля пшеницы; я гулялъ по террасѣ и долженъ былъ садиться въ тѣнь, чтобы писать. Сегодня я сижу въ своей комнатѣ, холодный вѣтеръ дуетъ съ шхеръ и съ сыраго моря. – Какъ много перемѣнъ произошло съ тѣхъ поръ, –перемѣнился ли я съ тѣхъ поръ? – Мнѣ вспоминается при этомъ одна береза въ нынѣшней суровой веснѣ. Она, высокая, стояла среди другихъ деревьевъ, защищенная до половины роста съ одной стороны. Странно она выглядѣла послѣ трехдневной снѣжной вьюги – верхняя листва какъ-то скомкалась и почернѣло, а до половины роста стояла прежняя свѣжая зелень. И хотя она быстро поправилась, но и въ iюлѣ мѣсяцѣ еще замѣчалась разница между листвами. Я себя, по крайней мѣрѣ, не узнаю послѣ лѣта. Да, наша внутренняя жизнь та-же листва: мысли, чувства, радость и скорбь – всѣ они могутъ увядать въ насъ въ одинъ день. Nous n’avons jamais l’âme de ce soir. (Bergson) Больше всего удивляетъ меня перемѣна въ объемѣ чувствъ. Вещи, которыя меня еще два мѣсяца тому назадъ трогали до

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слезъ, оставляютъ меня теперь совершенно равнодушнымъ. Кажется ничто такъ скоро не мѣняется къ человѣческая душа! Княгиня Елена Дмитpiевна мнѣ писала весьма лестную рекомендацiю и я укралъ изъ ея туалетнаго столика губную помаду – вотъ единственные реальные остатки того времени моей жизни, которое – кто знаетъ – можетъ быть было лучшая концентрацiя моего я. Какъ я теперъ живу? Во всемъ комфортабельно, слишкомъ комфортабельно. И какъ на зло, здѣсь люди самые филистры. Я живу между ними какъ безмолвная точка, какъ центръ, потерявший свою окружность. Каждый имѣетъ свое чучело, кому поклоняется – даже кадетству – и всѣ нахально довольны собою. Въ какомъ ужасномъ варварствѣ наше время! – Но у меня Шекспиръ, Jean Paul, мысъ и море – они меня опять научатъ стать человѣкомъ! Какъ прiятно было жить въ Камби и посѣщать Тебя. Мы всетаки немножко понимаемъ другъ друга. И какъ Ты всегда была трогательно taktvoll – я думаю только сестры могутъ имѣть такiе ocязательные органы! Я спишу Тебѣ стихотворенiе Stefan George1: KREUZ DER STRASSE Kreuz der strasse … Wir sind am end. Abend sank schon … Dies ist das end. Kurzes wallen Wen macht es müd? Mir zu lang schon … Der schmerz macht müd. Hände lockten: Was nahmst du nicht? Seufzer stockten: Vernahmst du nicht? Meine strasse ————————————

Nr. 105 1 Dazu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 374, zum 4.10.1917: „Ein Brief von Sisi, den ich vor kurzem bekam. Er kann sich noch nicht wiederfinden, der Sommer hatte ihm zu viel gegeben. Er schrieb mir dies Gedicht von Stefan George: ‚Kreuz der Strasse‘“.

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Du ziehst sie nicht. Tränen fallen Du siehst sie nicht. Только Ты не думай, чтобы я здѣсь себѣ несчастно чувствоваль. Напротивъ. Напримѣръ мои ученики очень милы. Привѣтъ Папѣ и сестрѣ Фанни. Зизи [Übersetzung:] Liebe Schwester! Lange, lange habe ich Dir nicht geschrieben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich den letzten Brief an Dich schrieb2. Es war ein Sonntag, wie heute, doch es war ein warmer, sonniger Tag, inmitten von Gärten, in der Ferne färbten sich die Weizenfelder golden; ich spazierte über die Terrasse und musste mich einfach dort hinsetzen, um zu schreiben. Heute sitze ich in meinem Zimmer, ein kalter Wind weht von den Schären und vom grauen Meer. Wie viel hat sich seitdem verändert – ob auch ich mich seitdem verändert habe? Dabei erinnere ich mich an eine Birke im vergangenen rauhen Frühling. Sie war hoch und stand zwischen anderen Bäumen, auf einer Seite bis zur halben Höhe geschützt: Nach einem dreitägigen Schneesturm sah sie seltsam aus – das obere Laub war irgendwie zerknittert und geschwärzt, aber bis zur halben Höhe stand sie im alten, frischen Grün. Und obwohl sie sich rasch erholte, so war der Unterschied zwischen den Blättern in jenem Monat doch noch lang zu sehen. Ich selbst erkenne mich jedenfalls nach dem Sommer nicht wieder. Ja, unser Innenleben ist dieses Laub: Gedanken, Gefühle, Freude und Schmerz – sie alle können eines Tages in uns verblassen. Nous n’avons jamais l’âme de ce soir. (Bergson)3 ———————————— 2

3

Eva von RADECKI, Logbuch, S. 370, zum 5.9.1917: Ein Brief von Sigismund sei bei Eva angekommen, er sei in Kirjola bei der Familie Marta Nobel-Oleinikov (Martha Helma Nobel, * 9.10.1881 St. Petersburg, † 1973 Stockholm; Dr. med. Georg Paul Oleinikow, * 1864, † 1937). Sigismund hatte bereits am 27.8.1917 seinen Vater in Dorpat telegraphisch aus St. Petersburg benachrichtigt, er war auf der Weiterfahrt nach Wiborg; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 366. Das Zitat wohl aus einem Essay Henri Bergsons von 1912, wo es heißt: „Nous n’aurons plus jamais notre âme de ce soir.“

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Am meisten überrascht mich die Veränderung im Umfang der Gefühle. Dinge, die mich noch zwei Monate zuvor4 zu Tränen rührten, lassen mich nun innerlich völlig unberührt. Scheinbar verändert sich die menschliche Seele nicht so schnell! Fürstin Elena Dmitrievna5 hat mir eine äußerst schmeichelhafte Empfehlung geschrieben, und ich habe einen Lippenstift aus ihrem Schminktisch gestohlen: dies ist der einzige greifbare Rest jener Zeit meines Lebens, welche – wer weiß es schon – die beste Konzentration meines Ichs gewesen sein kann. Wie ich jetzt lebe? Im grossen und ganzen komfortabel, zu komfortabel. Und zu allem Unglück sind die Leute hier solche Philister. Ich lebe zwischen ihnen wie ein Ruhepol, wie ein Zentrum, das seinen Kreis verloren hat. Jeder hat seinen Popanz, den er anbetet – sogar die Kadettenschaft6 – und alle sind unverschämt selbstzufrieden. In welcher schrecklichen Barbarei befindet sich unsere Zeit! – Doch ich habe Shakespeare, Jean Paul, das Kap und das Meer – sie lehren mich wieder, Mensch zu werden! Wie angenehm war es, in Kambja zu leben und Dich zu besuchen7. Wir verstehen einander immerhin ein klein wenig. Und wie herzergreifend taktvoll Du stets warst – ich glaube, dass nur Schwestern solche Tastorgane besitzen können! Ich schreibe für Dich ein Gedicht von Stefan George ab: [wie oben] Denke nur nicht, dass ich hier unglücklich gewesen bin. Im Gegenteil. Meine Schüler zum Beispiel sind sehr nett. Grüße an Papa und Schwester Fanni8. Sisi

Nr. 106 Sigismund an seine Schwester Eva

Kirjola, 8.10.1917

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6 7 8

Im Sommer 1917 war Sigismund in Iwanowskoje. Vielleicht Elena Dmitrievna Trubetskoy, ∞ St. Petersburg 1918 Friedrich von Steinmann (1890–1961). Bezeichnung für die Anhänger der Konstitutionell-Demokratischen Partei. (Groß-)Camby, Aufenthaltsort Evas im Sommer 1917. Fanny-Marie Rathlef (* 21.6.1889 St. Johannis, † 16.6.1973 Langeoog), Krankenschwester, bis zum Tode Evas deren Pflegerin; DELLINGSHAUSEN, Die Rathlef, S. 105. In Eva von RADECKI, Logbuch, wird sie vielfach erwähnt.

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Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

My dear sister! What a kind, hearty letter you wrote me! How softly you touched those points you believe to be sensible and irritable. But never mind! My memory is short enough, it depends so much on the senses. – I stroll every day through forest and morass – to get out of the stupidities of human life. Last Saturday it was cloudy weather, I couldnot keep the direction and lost my way. I erred till half past seven in the evening, till I reached the big road. There I hired a carriage and rolled home. During the walk through the pitch-dark forest I lighted from time to time a match, which let me see three feet of the path, some stones and some tufts of grass1. You remember: „Aber wer beim Wissen stehen bleibt, wo man geradezu ahnen kann …2“ – I read now the „Titan“ by Jean Paul for the second time in my life, and give you the advice to read it – you get it surely in some bibliothekary in Dorpat – I am simply in love with this wonderful lout Albano. The Titan is J. P.s masterpiece. I beg you to copy me the poem3 „Breit’ in der Stille den Geist“ and the other one, ending „[Alle Tränen] Die du sollst weinen und die du nicht weinst!“ As a compensation I will copy you two other poems of Stefan George, you don’t know4: Trübe Seele– so fragtest du – was trägst du Trauer? […]

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Nr. 106 1 Dieses Ereignis wurde Grundlage für die Kurzgeschichte „Schritte im Dunkeln“ (später: „Schritte in der Nacht“), die erstmalig erschien in der Rigaschen Rundschau, Nr. 215 v. 22.9.1928, und 1929 in seinem ersten Buch: RADECKI, Schraubendampfer Hurricane, S. 116–121. 2 Zitat von Karl Kraus; Die Fackel, Nr. 386 v. 29.10.1913: „Denn wer beim Wissen stehen geblieben ist, wo man geradezu ahnen kann, wird mit diesen Dingen ja doch nicht fertig.“ 3 Beide Zitate sind aus Gedichten von Stefan George; ebenfalls „Ich bin ein end“ und „Schlusschor“. 4 Folgen lange Zitate aus zwei Gedichten von Stefan George, aus der Sammlung „Der siebente Ring“ (1907).

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NACHT Gänge des Tages sind weit! […] I beg you also to copy – not at once, but by the by – the poem „Ich bin ein end und ein beginn“ und „Schlusschor“. You wrote me about that: „mein weg wird stets …“ ect. O darling, that were only Stilübungen – that phrase is such a proud one, I am now not capable to venture it. Many greetings to you and sister F.5 Sisi

Nr. 107 Sigismund an seine Schwester Eva

Kirjola, 13.11.1917

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Kirjola 13/XI 17 Дорогая сестра! Я спѣшу отвѣтить на твои любезныя письма, которыя я получилъ позавчера и сегодня. Я надѣюсь, что Вы при полученiи этого письма уже имѣете въ рукахъ мою послѣднюю посылку денегъ съ 2го ноября. Что касается плана съ продажей мебели, то я противъ него по слѣдующимъ соображенiямъ: 1) cомнительно, возможенъ ли въ этомъ году переѣздъ въ болѣе благопрiятный климатъ. 2) Если же проѣздъ будетъ открытъ, то еще большой вопросъ, можно ли достать столько удобствъ, которыя Тебѣ при проѣздѣ непремѣнно нужны, а если даже это возможно, то спрашивается, не слишкомъ дорогъ ли будетъ онъ. 3) Такъ какъ нельзя же будетъ платить за двѣ квартиры, то Вы «сжигаете корабли» и останетесь безь заботящагося о Васъ круга

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Krankenschwester Fanny Rathlef.

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родственниковъ и знакомыхъ, которые въ крайней бѣдѣ Васъ всегда выручатъ. Тамъ, на чужбинѣ Вамъ уже никто не поможетъ и это при нашихъ разстроенныхъ обстоятельствахъ самое важное. – Другой вопросъ, стоитъ-ли продать мебель уже безъ мысли о поѣздки, ради предотвращенiя возможной гибели или порчи ихъ въ войнѣ. Но и это я совѣтовалъ бы дѣлать лишь при крайней необходимости. Вѣдь эти стулья – они почти члены нашего семейства. На что же я стану оставлять свое жалованiе при себѣ, зная, что за это продаются эти милыя вещи. Жалованiе же я ни въ коемъ случаѣ не оставлю при себѣ, я вѣдь только и радъ тѣмъ, что работаю и за Васъ. А я думаю, что со 300 рублями въ мѣсяцъ и помощью родныхъ и близких все же какъ нибудь проживать можно. Мои платья здѣсь все обновлены, обувь и белье я имѣю въ довольномъ количествѣ и берегу – я живу въ совершенномъ довольствѣ. Вотъ мой votum – но я конечно предоставляю рѣшающiй голосъ нашему предсѣдателю. – Очень благодарю Тебя за списыванiе этихъ 4 стихотворенiй, я ихъ уже заучиваю наизусть. – Между тѣмъ я получилъ Твою карточку, гдѣ Ты говоришь о прибытiи денегъ. Смогу ли я поѣхать на Рождество къ Вамъ, это мнѣ еще неизвѣстно. Я уже нѣсколько разъ катался на лыжахъ, но теперь странная оттепель, даже дождь. Я думаю до Рождества здѣсь настоящей зимы и не будетъ: море слишкомъ близко. Что Ты читаешь? Все Карлъ Крауса и Stefan George? – Они имѣютъ много общаго. Напримѣръ ихъ обновленiе языка – это придаванiе настоящаго удѣльнаго вѣса словамъ. Я же взялъ да и прочиталъ всю Одиссею – и съ рѣдкимъ удовольствиемъ. – Я благодарю сестру Фанни за привѣтъ. Пожалуйста передай мое почтенiе папѣ. Привѣтъ! Зизи [Übersetzung:] Liebe Schwester! Ich beeile mich, auf Deine freundlichen Briefe zu antworten, die ich vorgestern und heute erhalten habe. Ich hoffe, dass Ihr beim Erhalt dieses Briefes

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bereits mein letztes Geldpaket vom 2. November in Händen haltet1. Was den Plan betrifft, die Möbel zu verkaufen, so bin ich aufgrund folgender Überlegungen dagegen: 1) Es ist fraglich, ob in diesem Jahr ein Umzug in ein günstigeres Klima möglich ist. 2) Falls die Passage offen ist, so bleibt noch die große Frage, ob man so viel Komfort schaffen kann, wie Du ihn bei der Passage sicherlich brauchst, und falls dies doch möglich ist, so fragt sich, ob sie nicht viel zu teuer wird. 3) Da es unmöglich sein wird, zwei Wohnungen zu bezahlen, „brecht Ihr alle Brücken hinter Euch ab“ und werdet ohne die sich um Euch kümmernden Verwandten und Freunde dastehen, welche Euch in der größten Not stets helfen. Dort, im Ausland, ist niemand für Euch da, und das ist in unserer betrüblichen Situation das Wichtigste. – Eine andere Frage ist, ob man anfangen sollte, die Möbel bereits ohne einen Gedanken an die Reise zu verkaufen, um sie vor einer möglichen Zerstörung oder Beschädigung im Krieg zu bewahren. Doch ich würde dazu raten, dies nur zu tun, wenn es unbedingt erforderlich ist. Denn diese Stühle sind beinahe Mitglieder unserer Familie. Wozu soll ich mein Gehalt behalten, wenn ich weiß, dass dann diese lieben Dinge verkauft werden. Das Gehalt behalte ich auf gar keinem Fall, ich bin ja nur froh, dass ich auch für Euch arbeite. Aber ich denke, dass man mit 300 Rubel im Monat und der Unterstützung von Verwandten und Freunden doch irgendwie leben kann. Meine Kleider hier sind alle erneuert, Schuhe und Wäsche besitze ich in ausreichender Menge – ich lebe in vollkommener Zufriedenheit. Das ist mein Votum – aber natürlich gebe ich die entscheidende Stimme unserem Vorsitzenden. Ich danke Dir sehr für das Abschreiben der 4 Gedichte, ich habe sie bereits auswendig gelernt. Inzwischen habe ich Deine Karte bekommen, in der Du vom Eintreffen des Geldes schreibst. Ob ich diese Weihnachten zu Euch kommen kann, weiß ich noch nicht. Ich bin bereits mehrere Male Ski gefahren, doch jetzt gibt es schreckliches Tauwetter, sogar Regen. Ich denke, bis Weihnachten wird es hier keinen richtigen Winter geben: das Meer ist zu nah. Was liest Du? Karl Kraus und Stefan George? – Sie haben viel gemeinsam. Zum Beispiel ihre Erneuerung der Sprache – sie verleihen den Wörtern ein echtes, spezifisches Gewicht. Ich habe mir auch die Odyssee vorgenommen und sie ganz durchgelesen, und das mit seltenem Vergnügen. – Ich danke

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Nr. 107 1 Erhalten ist eine Einzahlungsquittung über 300 Rubel vom 2.10.1917 bei der Post in Kirjola, [Kirchspiel St.] Johannes, [gez.] Sisi; Absender: S. O. Radecki.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Schwester Fanni für die Grüße. Bitte überbringe Papa meine Hochachtung. Grüße! Sisi

Nr. 108 Sigismund an seine Schwester Eva

Tignitz, 26.11.1918

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Für die Zeit zwischen November 1917 und November 1918 liegen keine Briefe Sigismunds vor. Verweis auf einen bisher nicht nachgewiesenen Brief in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 387, zum 12.12.1917: „Montag war das größte Ereignis ein Brief von Sisi. Er hat wieder die Stelle gewechselt, aus Gründen, die er mündlich angeben wird. Eine Woche in Petersburg verbracht und schon wieder nach Finnland auf’s Land gefahren. Reicher Fabrikant, Gage die gleiche [300 Rbl.] vor allem: er kommt zu Weihnachten! […] Am Schluß des Briefes stand ein Gedicht, das er mir widmete […] So am Anfang: ‚Schwimm hinaus / Über steigende, sinkende Wellen, / Hinter dem Sturz der Schaumkämme steht eine Insel / Fest auf sich aufgebaut.‘“ Ende Mai 1918 konnte Sigismund, aus Wilmanstrand kommend, mit einem finnischen Eisbrecher von Helsingfors nach Reval fliehen. Der Eisbrecher war mit hoher Wahrscheinlichkeit das russische, seit April 1918 finnische Schiff „Volynets“, das dem Transport deutscher Truppen diente.

Liebe Eva! Endlich habe ich meine Reise überstanden, es war nicht so ganz leicht1. Erst einmal ging der Zug nicht um vier, sondern um halb sechs ab. Ich stieg wegen Überfüllung in einen Vieh- oder Militärwaggon und traf dort unvermutet den abreisenden Postmeister von Werro, der mir sagte, Du sollest Dir wegen der Geldanweisung keine Sorge machen, sie würde prompt eintreffen. In Walk ————————————

Nr. 108 1 Am 26.11.1918 schrieb Eva an ihre Schwester Alma, dass Sigismund „endlich“ eine Stelle bei der Familie von Cramer, dem Verwalter von Schloß Tignitz gefunden habe (für 250 Rubel); DLA Marbach. – Der nicht näher ermittelbare Dienstherr Sigismunds wird als „Herr von Cramer-Tiegnitz“ in einer Meldung zur Flüchtlingsfrage erwähnt in: Rigasche Zeitung v. 7.12.1918. Tignitz (Voltveti), 40 km südöstlich von Pernau, war seit 1786 im Besitz der Familie von Stryk. Landmarschall Heinrich von Stryk (1873–1938) war am 13.11.1918 mit einer Delegation im Auftrag des Baltischen Regentschaftsrates nach Schweden gereist, von wo er am 18.2.1919 zurückkehrte und in Libau eintraf; GRIMM, Jahre deutscher Entscheidung, S. 452 f.; DBBL, S. 780.

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war grosser Zustand und in folgedessen alle Hotels besetzt. So sassen alle um den grossen Tisch mit aufgestützten Händen, als grübelten sie über die Kateridee nach, die sie hierhin gefegt hatte. Um das Infernalische zu vollenden, pafften alle mit Ingrimm. Mit einer wehmütigen Freude erkannte ich den einstigen Piccolo von Walk wieder: er hatte mir so manche Wartezeit zur Beobachtung gedient. Sein Ausdruck hat jetzt etwas ironisch Abgeklärtes und Pickel bekommen. Er geht schweigend von einer Gruppe zur anderen (die Passagiere in Walk consumieren jetzt nicht viel, sondern gestikulieren), hört schweigend zu und putzt dann mit unvergleichlich resignierter Miene den Tisch von Papierresten ab. – Die Klingelbahn fing gleich damit an, dass sie in Walk eine Stunde stehen blieb und sich auf etwas zu besinnen schien. Der Waggon war überheizt und auf allen Stationen brüllten die Soldaten nach Bier, aber es gab bloss Wasser zu saufen für die Lokomotiven. Alle brüsteten sich mit der unvergleichlichen Umwälzung. Bis Moiseküll gelang es mir, meine Coupépartner zu hoffnungslosen Pessimisten zu machen. In Quellenstein erwartete mich mein Schüler, der Hans heisst, und der Kutscher mit zweispänniger Kalesche2. Mein Schüler ist ein schlanker Jung mit sehr gutem Gesicht (feingeschwungene Lippen, grosse Augen, hohe feingezeichnete Augenbrauen); er sprach mit mir gleich übers Wetter und teilte mir mit, dass es jetzt schon zuweilen „ganz lausig kalt“ sei. Etwas Tschuchenakzent3. Die Frau des Hauses mit der zwanzigjährigen Tochter ist nach Dorpat gefahren und kommt Donnerstag zurück. Ich werde dann wahrscheinlich nach Fellin wegen der Bücher und des Schulprogramms fahren. Das Schloss ist ein grosses weisses Gebäude im alexandrinischen Stil, der Bataillionsstab wohnt darin. Herrlicher Park und Orangerien. Das Verwalterhaus zweistöckig und geräumig. Ich habe oben ein grosses Zimmer neben meinem Schüler. Elektrische Beleuchtung. Der Herr des Hauses ist bettlägeriger Rekonvalescent, so dass ich ihn noch nicht gesehen habe. Der Speisekorb war fein. P. S. Ich habe den Brief an Pappi sicher expediert. Es grüsst Dich und alle Sisi

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3

Walk, Moiseküll und Quellenstein waren (Bahn-)Stationen im Südwesten Estlands auf der Strecke nach Pernau. Tschuche: abschätzig für Fremder, Ausländer.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 109 Sigismund an seine Schwester Eva

Riga, [ca. 28.]11.1918

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Ein Auszug aus diesem Brief ist aufgenommen in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 498 f., zum 2.2.1918.

I. Weidendamm, No. 7, Qu. 59 (besser man schreibt: „Erster Weidendamm“) Liebe Eva! Ich war bereits den dritten Tag in Tignitz, als ich am Morgen (28.) gerade bei der ersten Stunde, den Fernspruch bekam: „Vater schwer krank, sofort kommen“, aus Riga. Ich machte mich natürlich sofort mit allen meinen Sachen auf, das schlimmste vermutend. Die Sache ist die: Wie Du weisst, hat Pappi anfangs krank im Hotel Petersburg1 in Riga gelegen und ist dann in die Pension Siccard2 übergesiedelt. Die ganzen traurigen Zeitläufte scheinen auf seine Nerven schlecht gewirkt zu haben und so fingen sich die uns bekannten Gehörshalluzinationen bei ihm an zu zeigen, aber in stärkerer Form als in Dorpat. Dazu kamen noch direkte Wahnbilder, die er vor sich sah. Alles dies war besonders stark in der Woche nach meinem Geburtstag. Er war einmal in der Nacht auf die Treppe gegangen, ähnlich wie schon in Dorpat. Dann sollen diese Zustände der Verwirrung auch den Tag über angehalten haben. Behandelt hat ihn Dr. Stender3. Alles dies hat die Verwandten bewogen, mich herzurufen. Ich traf Pappi eigentlich so wie immer, nur war er sehr müde. Er hat grosse Sehnsucht nach uns gehabt und so wird es, glaub ich, gut sein, wenn ich in Riga bleibe. Da Cramers wahrscheinlich auch nach Riga fahren werden, so hätte ich die Stelle sowieso verloren. Ich werde hier unterdessen alles tun, um irgend etwas verdienen zu können. Ich wohne vorläufig in einem netten kleinen Zimmerchen bei Tante Ella4 und speise im Bürgerheim. Mit dem ————————————

Nr. 109 1 Die Adresse befindet sich bereits auf einer Rechnung des Friedensgerichts Dorpat an Ottokar von Radecki vom 8.11.1918; Tallinn, Eesti Riigiarhiiv, 4555.1.560, Bl. 1. 2 Der Kaufmann Ferdinand Sicard wohnte 1913 in Riga, Felliner Str. 3 (* 1848 Riga, † 1921 Riga), ∞ 1882 Rosalie Feyerabend (1851–1927). – Eva schrieb am 31.10.1918 aus Jerwen: „Pappi schrieb vor etwa 12 Tagen, daß er nach langem Suchen endlich ein Zimmer, geteilter Saal, bei einer Familie Siccard gefunden hat.“ 3 Wahrscheinlich Dr. med. Otto Wilhelm Stender (* 30.11.1871 Pastorat Sonnaxt), seit 1897 Facharzt für Nervenkrankheiten in Riga, seit 1918 Leiter des dänischen Lazaretts des Roten Kreuzes; Album Curonorum, Nr. 1451; BRENNSOHN, Die Ärzte Livlands, S. 383. 4 Wahrscheinlich Ella Lange (1852–1930), geb. von Radecki, Schwester des Vaters Ottokar.

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Familienbriefe 1903–1921

Geld steht die Sache so. Es ist schon an die Gegenseitige Credit-Gesellschaft nach Werro geschickt worden, und zwar hast Du 1500, nicht 1700, wie wir dachten. Hast Du beide Summen schon abgehoben, so tu es so bald wie möglich, was Deinen Teil anbetrifft, und lass mir meine Tausend durch die Bank schicken – am Besten an die Rigaer Börsenbank (mit der die G. C.-Gesellschaft in Verbindung steht), mit der Weisung, das Eintreffen mir sofort anzuzeigen. – Aber, wie gesagt, ich traf Pappi völlig ruhig und mit dem Bewusstsein, dass er vorige Woche Wahnvorstellung hatte, an. Man kann also hoffen, dass die Sache akut bleibt. Ich wohne ganz nah von ihm und besuche ihn oft. Ich grüsse Dich herzlich, liebe Schwester, und hoffe, dass es Euch wohl geht. Bitte grüss alle Jerwener. Sisi P. S. Pappi ist heute umgezogen in die Pension Conradi. Er hat dort ein nettes warmes Zimmerchen. Adresse: Fellinerstr. 1. Pension Conradi.

Nr. 110 Sigismund an seine Schwester Eva

Riga, 12.12.1918

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Ein Hinweis auf diesen Brief in Eva von RADECKI, Logbuch, S. 512, zum 13.4.1919: „Nachmittags ein Brief von Sisi aus Riga vom 12. Dezember 18.“

Liebe Eva! Endlich habe ich von Dir Nachrichten erhalten durch den Kardis’schen Stackelberg1. Er konnte mir auch nur sagen, dass alle Jerwenschen in Dorpat seien. Da bisher keine briefliche Nachricht von Dir angelangt ist, so fürchte ich, dass die Aufregungen der Reise Dir nicht wohl getan haben. Ich will Dir jetzt kurz von meinen Erlebnissen Nachricht geben. Auf das Telegramm über Papis Krankheit hin, fuhr ich sofort nach Riga. Papi hatte sich inzwischen vollständig erholt und war ganz normal, was er bis jetzt auch völlig geblieben ist. Er ist sich über seinen damaligen Krankheitszustand bewusst und gibt zu, ————————————

Nr. 110 1 Der Sohn von Josephine von Moeller, Friedrich Arnold Alexander von Moeller (1875– 1945), hatte in diese Familie eingeheiratet.

Briefe Sigismund von Radeckis

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dass es Halluzinationen gewesen seien. Das neue Zimmer in der Pension Conradi ist gemütlich, das Essen aussergewöhnlich gut und Papi völlig zufrieden. Ich selbst suchte längere Zeit nach Stellen, fand aber keine. Überdies wurden die Aufforderungen zum Eintritt in die Stosstruppe immer dringender in den Zeitungen, so dass ich schließlich eingetreten bin; diesen Montag tret ich den Dienst an. Alles frei und 180 Mark monatlich. Ausbildung und Uniform deutsch. Liebe Eva, wie steht es mit unseren Geldern? Die Darlehenskasse behauptet, am 20. November von hier nach Werro brieflich die Summe an die Gegenseitige2 in Werro überwiesen zu haben. Ist der Brief angekommen? Hast Du das Geld abgehoben? Uns würde viel daran liegen, über diese Punkte Gewissheit zu bekommen. Selbstverständlich habe ich sofort nach Rücksprache mit der Ostbank nach Werro einen Brief geschickt: sie sollen die 1500 Dir auszahlen und die 1000 mir zurückschicken – es ist aber bisher nicht darauf reagiert worden. – Micko und Werner leben hier im leerstehenden Quartier von Ernst Adolf Kröger3, welches sehr comfortabel ist. Werner muss noch bis Neujahr beim A. O. K.4 arbeiten. Er befindet sich natürlich auch auf Stellenjagd und wird wahrscheinlich was kriegen. Nun, was machst Du, liebes Evachen? Schreibst Du noch immer an jenen geheimnisvollen weissen Blättern wie in Jerwen, jeden Vormittag? Ich selbst lebe wie immer recht gemütlich. Bei Papi bin ich täglich ca. 4 Stunden. Wir lasen zusammen [fehlt] von [fehlt] und waren beide begeistert. Meine Freude: ich fand in der Stadtbibliothek das Kierkegaardsche Werk, welches mir vorigen Winter gestohlen wurde. Die „Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift“5. Nun wird studiert. Natürlich bin ich auch öfters bei den Verwandten. Dein Band „Baltische Erzähler“6 ist in einem Würz-Buche ———————————— 2 3

4

5

6

Gegenseitige Credit-Gesellschaft. Wahrscheinlich Ernst Adolf Kroeger (1857–1937), zeitweilig Kassierer im Hypothekenverein Riga; Baltische Ahnen- und Stammtafeln 49 (2007), S. 131. Die deutschen Truppen wurden vom Armeeoberkommando (AOK) der 8. Armee in Riga und Dorpat geführt. Søren KIERKEGAARD, Gesammelte Werke, Bd. 6: Philosophische Brocken; Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Tl. 1, Jena 1910. Baltische Erzähler, hg. v. Ludwig MATHAR u. Friedrich TEICHERT (Kurland in Vergangenheit und Gegenwart 18), Berlin / Leipzig / Riga: Fritz Würtz 1918. Dazu die Hinweise zur Entstehung des Projektes in Eva von RADECKI, Logbuch, S. 469, zum 6.6.1918, mit Evas Kommentar zu einem an sie gerichteten Brief: „In einem Kuddelmuddel von Namen, wie Würtz, Knietsch […], Herr Oberleutnant Mathar, Herr Leutnant Teichert ersah ich und erlas ich endlich, daß einer oder zwei der genannten Herren eine ‚Auswahl meiner Werke‘ in Einzelband herausgeben will. Dritter Band der Sammlung ‚Baltische Erzähler‘ […] Ich wollte rund absagen, aber Micko, Pappi, Sisi möchten nichts davon wissen.“

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Familienbriefe 1903–1921

am Ende des Bandes schon gedruckt angezeigt: Eva von Radecki u.s.w. erscheint Weihnachten […]7

Nr. 111 Sigismund an Siegfried Jacobsohn, Charlottenburg

Königsberg, 24.1.1919

Wien, Wienbibliothek, H.I.N. 140 846 – Original. Dazu ein Brief Jacobsohns an Karl Kraus in Wien v. 10.2.1919: „Sie werden diesem rührenden Menschen sicherlich seinen Wunsch ausgiebig erfüllen. Ich habe ihm zunächst einmal schnell die paar Hefte geschickt, die ich doppelt hatte […]“

Kriegshilfslazarett II Börsengarten, Hintertragheim Freiwilliger des Stosstrupps der baltischen Landeswehr Sehr geehrter Herr1! Ich liege seit beinah zwei Wochen hier im Lazarett wegen einer Verwundung am Knie, die ich mir im Gefecht von Hinzenberg (bei Riga) zugezogen habe. Vor dem Kriege, zur Zeit meines Studiums in Deutschland, habe ich die Schriften von Karl Kraus kennen gelernt. Es war in jenem Jugendalter, wo man die geistig entscheidenden Eindrücke empfängt, und so wurde mir dieser Mensch in seinen Schriften der treue Begleiter in der russischen Verbannung während des Krieges. Schliess[lich] wurden sie mir natürlich gestohlen. Aber ich hoffte ja bald nach Deutschland zu kommen, und so machte das nicht viel aus. Ein eigentümlicher Zufall hat mir nun diesen Wunsch, allerdings etwas sonderbar, erfüllt. Es ist schliesslich einzusehen, dass hier keine Buchhandlung und kein Mensch auch nur den blindesten Schimmer von der Fackel2 hat. ———————————— 7 Typoskript endet an dieser Stelle. Nr. 111 1 Siegfried Jacobsohn (1881–1926), Journalist und Theaterkritiker, 1905 Gründer der Theaterzeitschrift „Die Schaubühne“, seit April 1918 „Die Weltbühne“, wo Radecki seit 1923 mehrfach veröffentlichen konnte. – Erhalten hat sich, vielleicht als später Dank, Radeckis Porträt von Edith Jacobsohn (1891–1935); MOB Herne, Arbeitsstelle Sigismund von Radecki, Mappe 1 („Konvolut Milli Bau“), Nr. VII, „Die Frau Jacobsohn, des Herausgebers der Weltbühne“. Ein Vergleich mit einem älteren Foto Ediths aus der „Sammlung Flechtmann“ bestätigt die Zuordnung. 2 Die Fackel, von Karl Kraus seit 1899 herausgegebene Zeitschrift.

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Briefe Sigismund von Radeckis

Ich telegraphierte daher sofort an Reuss & Pollack, Kurfürstendamm 2203 und bat um die Fackelhefte seit Kriegsausbruch, sowie um „Worte in Versen“ Bd. II und III4. Stellen Sie sich vor, sehr geehrter Herr, ich erhalte jetzt schon 14 Tage nicht die geringste Antwort, obwohl ich dem Telegramm Brief auf Brief folgen liess! Nach einem Monat geh ich an die Front, werde vielleicht totgeschossen, und soll nun auf diesen einzigen, doch nicht so unerfüllbaren Wunsch – die Fackel zu lesen – verzichten?! An diesen Gedanken kann ich mich noch nicht ganz gewöhnen, und darum beschreite ich den Weg der Verzweiflung, einen Fremden zu belästigen. Helfen Sie mir, Herr Jacobsohn! Hier ist ein notleidender Balte, der sich nach der Fackel sehnt, fünf Jahre gesehnt hat! Sie haben doch gewiss die Hefte und können, in Berlin lebend, sie leicht wieder bekommen! Schicken Sie mir die Hefte per Nachnahme oder wie Sie es für gut befinden! Ich hoffe einmal im Leben die Gelegenheit zu finden, Ihnen diese Freundlichkeit vergelten zu können. Mit vorzüglicher Hochachtung Sigismund von Radecki

Nr. 112 Sigismund an seine Schwester Eva

Königsberg, 13.2.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Ein Auszug aus diesem Brief ist aufgenommen in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 512 f., zum 15.4.1919: „Brachte mir Schw[ester] F[anny] einen Brief von Brüderchen. Er hatte ihn durch einen Herrn v. Hunnius geschickt, der, wie alle vom Ausland Zurückkehrenden, in Reval sogleich in Arrest kam.“

Festungshilfslazarett 2. Börsengarten Liebe Eva! Gestern erfuhr ich von einer Gelegenheit, nach Dorpat zu schreiben, und benutze sie. Meine Schicksale seit Jerwen sind bald erzählt. Du weisst ja, dass ich die Stelle in Tignitz wegen eines Telegramms verliess, das mich in ziemlich ———————————— 3 4

Verlag in Berlin. Karl KRAUS, Worte in Versen, Bd. 2, Leipzig 1917; Bd. 3, Leipzig 1918.

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dunklen Worten zu Pappi nach Riga rief. In Riga sah ich bald, dass die Sache weit übertrieben worden war; es waren eigentlich bloss die uns bekannten Erscheinungen, vielleicht in etwas schärferer Form. Pappi zog bald darauf um zu Frau Conradi, wo er sich die 1½ Monate, welche ich ihn dort leben sah, ganz wohl befand. Ich selbst fand inzwischen ein Unterkommen in der sehr netten Wohnung von Tante Ella1 & Amina und suchte überall erfolglos nach einer Stelle. Im übrigen lebte ich ganz gemütlich, pfiff mit Tante Ellas Begleitung zum Klavier, verkehrte bei Tante Anna u.s.w. Inzwischen wurde die Bolschewiken-Gefahr immer größer, und schliesslich wurden die Aufforderungen zum Eintritt in die balt. Landwehr in den Zeitungen so dringend, dass ich mit Pappi’s Billigung am 18. Dezember eintrat, und zwar in den Stosstrupp d. balt. Landwehr2. Ich will übrigens zum Vorherigen noch sagen, dass sich die Zustände bei Pappi in der ganzen Zeit, wo ich da war, nicht gezeigt haben, und vor allem schien er von der Überzeugung, dass es Realitäten seien, endgültig gelassen haben. Frau Conradi sorgt wie eine Mutter für ihn. Nun weiter. Ich kam in die erste Gruppe des vierten Zuges, war bald eingekleidet und fühlte mich mit meinen Kameraden zusammen ganz wohl. Unsere Kaserne befand sich zuletzt im Popenhause3; gerade als wir uns ordentlich eingerichtet hatten, mussten wir weg. Meine Feuertaufe erhielt ich auf einer Feldwache: wir wurden nachts für Kulaken4 gehalten vom örtlichen braven Selbstschutz ungefähr 20 Werst von Riga; ich ballerte natürlich entgegen, bis sich das kleine Missverständnis klärte und wir freudig mit was Besserem bewirtet wurden. Dann machte ich zu Neujahr – hoffentlich wird mir das „Prosit“! anschlagen – die unglückliche Affäre von Hinzenberg mit5. Dabei musste ich leider so ziemlich die ganze Nacht und den Tag im Schnee in Schützenkette ————————————

Nr. 112 1 Ella Lange, geb. von Radecki, eine Schwester Ottokars. 2 Dazu einige knappe Angaben in einer biographischen Schrift: RADECKI, Rückblick auf meine Zukunft, S. 76: „So meldete er sich schließlich bei der Stoßtruppe der Baltischen Landeswehr und kam auch bald in ein Gefecht, wo sein kleines Häuflein nachts, im Schneewalde, von 3000 bolschewistischen Scharfschützen umzingelt wurde. Beim eiligen Durchschlüpfen durch diesen Ring riet ihm einer, doch den Tornister wegzuwerfen – allein Radecki tat es nicht, weil er dort ‚Pro domo et mundo‘ von Karl Kraus verstaut hatte, nebst einem Bonbon von Zyankali, für den Fall daß –. Da er sich die Kniescheiben erfroren hatte, kam er per Lazarettzug nach Königsberg.“ Ähnlich, jedoch ironisch: RADECKI, Ein Zimmer mit Aussicht, S. 339. Der bei der Stoßtruppe neu aufgestellte 4. Zug umfasste 40 Freiwillige; GRIMM, Jahre deutscher Entscheidung, S. 238, 240; BLANKENBURG, Am Rande, S. 215 ff. 3 Ehemaliges Priesterseminar in Riga, am Ende der Elisabethstraße. 4 Eva von RADECKI, Logbuch, S. 512: „Shuliken [Strauchdiebe]“. 5 Zu den Ereignissen bei Hinzenberg vgl. STENBOCK-FERMOR, Freiwilliger Stenbock, S. 8– 18; GRIMM, Jahre deutscher Entscheidung, S. 263 f.

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liegen, ausserdem hatte ich am schweren Maschinengewehr zu schleppen: in der Folge kriegte ich eine leichte Herzattacke (die jetzt überwunden ist) und eine Entzündung am Knie. Schliesslich schlugen wir uns mit Aufgabe der Bagage und Artillerie durch, meine eigenen Sachen habe ich übrigens gerettet. Gleich darauf kam der Marsch nach Mitau. Von Pappi konnte ich mich verabschieden. Werner und Micko und auch Evi Moeller6 blieben ebenfalls in Riga. Fritz7 ist mit seiner Familie und den Schwiegereltern in Deutschland. In Mitau meldete ich mich krank und fuhr im Lazarettzug über Libau nach Königsberg. Hier kam ich gleich ins Festungshilfslazarett 2, Börsengarten und bin jetzt, am 13. Februar, so ziemlich geheilt. Ich nehme noch einen dreiwöchentlichen Erholungsurlaub, den ich entweder bei Ellen Radecki8 oder in der Pension Vielhaak in Berlin9 zubringen werde. Dann geht es zurück an die Front. Liebe Eva! Besorgnis fasst mich, wenn ich an Deiner und Pappi’s und der anderen mir unbekanntes Schicksal denke – mir selbst ist es die ganze Zeit viel besser gegangen, als ich es verdient habe. Zu essen habe ich genug gehabt, und Geld habe ich auch – unsere Löhnung beträgt ja 6 Mark pro Tag, und hier in Königsberg ist es billig. Wie schön lebte ich mit Papachen noch die letzte Zeit in Riga! Ich besuchte ihn täglich, und wir beide freuten uns auf die Stunde. Ich las ihm „[fehlt]“ von Puschkin vor, Pappi gefiel es ausserordentlich. Hier in Königsberg habe ich mir herrliche, längst ersehnte Bücher gekauft: Stefan George, Karl Kraus, Georg Trakl. Gestern fand ich beim Antiquar einen köstlichen Jean Paul Erstdruck „Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf“10 federleicht auf Velinpapier, zart und deutlich gedruckt, Preis eine Mark. Deine Manuscripte sind in völliger Sicherheit in Riga, wenn ich gewusst hätte, dass ich herkomme, hätte ichs mitgenommen. Hier im Lazarett habe ich merkwürdigerweise drei Gedichte gemacht. Dies machte ich gestern: Und wann denn soll die Stunde sein Da mein Herz zwölfe schlägt,

———————————— 6 7 8 9

10

Sigismunds Cousine Eva Louise von Moeller, Tochter Josephines. Friedrich, Sohn von Sigismunds Tante Josephine („Josi“) von Moeller. Sigismunds Cousine Ellen von Radecki (* 25.12.1888 Nurmis). Die Halbgeschwister Agnes Schultz (* 7.11.1860 Liverpool, † 10.6.1933 Dahme/Mark) und Anna Caroline Vielhaack (* 1.4.1869 Körwentack/Wiek, † 18.3.1950 Dahme) gründeten zusammen 1905 die Pension Schultz-Vielhaack in Berlin, Französische Str. 21. Hinweis von Frau Ute Vielhaack, Bad Salzuflen, aus der „Familienchronik Vielhaack“. Leipzig 1799.

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Familienbriefe 1903–1921

Wenn alles sich beweget fein Und nichts, was mich bewegt? S’ ist eine in der Stunde Flucht Und doch holt sie mich ein. Ernt’ ich die Jahre: Frucht um Frucht, Bringt man mich morgen ein? Wenn ich erst einmal niederfiel Werden sie sich schon sputen – Die kurze Spanne bis zum Ziel, Vom Treffen zum Verbluten. Das andere hat den Schluss: … Und nur in Költen11 Dunkelster Nacht Schwebende Silberwelten Üben nach Macht. Jetzt das Erstaunliche: Karl Kraus ist die ganze Zeit auf Seiten der Entente gewesen, hat in den Zentralmächten die Vertreter der unsittlichen, ungeistigen Macht gesehen, er sagt „Wilsons unsterbliche Tat“12 und sieht jetzt grade im Zusammenbruch die Hoffnung, „dass das deutsche Volk den Platz an der Sonne seiner Naturgaben“13 erhalten wird. Dem Kaiser flucht er: „wo der Bart sich vor dem eigenen Gesicht sträubt“. „Worte in Versen“ gibt es schon vier Bände14, einer wundervoller als der andere. Ich muss Dir eins schreiben15: BEKENNTNIS Ich bin nur einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen. Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben, ich breche aus und ich zerstöre Theben. ———————————— 11 12 13 14 15

Verlesen für „Kälten“. Die Fackel, Nr. 501 (1919), S. 113. Die Fackel, Nr. 499 (1918), S. 1. Karl KRAUS, Worte in Versen, Bd. 4, Leipzig 1919. Die Fackel, Nr. 443 (1916), S. 28.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Komm’ ich auch nach den alten Meistern, später, so räch’ ich blutig das Geschick der Väter. Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen an allen jenen, die die Sprache sprechen. Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner. Ihr aber seid die kundigen Thebaner! Liebe Eva! Dieser Brief gelangt durch die Freundlichkeit eines Herrn von Hummiuns16 über Reval an Dich. Schreibe mir, wenn sich Gelegenheit findet. Die Endadresse ist: Libau, Uhligstrasse, Kommerzschule, Geschäftszimmer der Stosstruppe der Balt. Landwehr. Und nun viele Grüsse an Dich Liebe, Tante Josi und Schwester Fanny! Sisi

Nr. 113 Sigismund an seine Schwester Eva

Königsberg, 26.2.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Ein Auszug aus diesem Brief ist aufgenommen in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 510, zum 2.4.1919: „Große, große Freude! Ein Brief von Sisi! Aus Königsberg, ‚Festungshilfslazarett‘.“

Festungshilfslazarett 2, Börsengarten Meine liebe Eva! Neulich erfuhr ich, dass eine Dampferverbindung Reval-Libau bestünde, und da Piers Walter1 morgen nach Libau fährt, so gebe ich ihm den Brief mit. Meine Kniewunde hat sich nun glücklich geschlossen, und ich hoffe, in circa einer Woche entlassen zu werden. Dann werde ich wahrscheinlich einen

———————————— 16

Verlesen für „Hunnius“. Deutschbaltische Familie mit mehreren Linien in Estland und St. Petersburg. Dazu der Kopftext zu diesem Brief. Nr. 113 1 Wahrscheinlich Dr. Piers Walter (* 7.1.1896 Riga, † 8.2.1968 Dierdorf), Studienrat; NEANDER, Lexikon, Nr. 688; Album Livonorum, S. 57.

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Familienbriefe 1903–1921

mehrwöchentlichen Erholungsurlaub bei der Viell[hack]2 in Berlin verbringen. Ich dachte auch daran, eventuell bei Nina3 in Baden-Baden zu wohnen, kenn aber leider deren Adresse nicht. Mein Leben hier im Lazarett ist einförmig, aber nicht unangenehm. Ich habe ein paar gute Bücher hier, besonders die Kriegs-„Fackel“, welche mich im höchsten Grade beschäftigt. Ich möchte Dir die Eröffnung machen, dass sich Dein literarischer Geschmack weitaus vor meinem bewährt hat: Karl Kraus zitiert lobend die „dumpfe Trommel und berauschte Gong“4 (obwohl er darin einige Berlinismen rügt) – und verwirft den Werfel. Er fühle alles mit, weil er selbst nichts zu fühlen habe. Also das Buch, welches Du empfahlst, war gut, das, welches ich empfahl: schön, ohne innere Berechtigung. Heute kam P. Walter von seinem Erholungsurlaub aus Münster zurück. Er ist jetzt ganz gesund. Peter Altenberg5 ist vor ein paar Wochen gestorben, Karl Kraus hat an seinem Grabe eine Rede gehalten. Vor ein paar Tagen erhielt ich das letzte Fackel-Heft vom 25. Januar6, es enthält den „Nachruf“ des Krieges und ist erschütternd. 120 Seiten stark ist die Arbeit – das längste und grösste, was er geschrieben hat. Ich selbst verfasse ab und zu einige Gedichte; besonders Abends, wenn ich nicht einschlafen kann, ich schreib es dann am Morgen auf. Welch eine Freude, in all dem Wust und Zusammenbruchstaub auf den reinen Gedankenpfaden herrlicher Männer wandeln zu können. Die Natur seh ich durch fünf grosse Fenster – ich leb’ ja in einem grossen Saal mit kassettierter Renaissance-Decke. – Die Morgensonne scheint mir grade ins Gesicht und ein paar schöne Bäume stehen davor. Ich schlage Dir vor, zusammen mit mir den „Hochwald“ von Stifter zu lesen, indem jeder dabei an den anderen denkt. Königsberg ist eine recht nüchterne und belebte Stadt, es gibt noch ein paar Stadtviertel Jean Paul’scher Bauart. Die Straßen heissen meist Tragheim: alles kannst Du haben, Mittel-, Ober-, Niedertragheim u.s.w. Die sogenannten „Redaktionspaläste“ habe ich mir angesehen, weisst Du noch: „in den

———————————— 2 3

4

5

6

Siehe Edition, Nr. 112 Anm. 9. Anina („Nina“) Lucia von Moeller, Sigismunds Cousine (* 19.5.1886 Sommerpahlen, † 10.2.1953 Bethel/Bielefeld), ∞ Riga 24.3.1914 Emil Woll (* 28.7.1892 Langenbrücken, Kreis Karlsruhe, später Überlingen, Lehrer); HARTMANN, Verwandte. KLABUND, Dumpfe Trommel und berauschtes Gong. Nachdichtungen chinesischer Kriegslyrik (Insel-Bücherei 183), Leipzig 1915. Peter Altenberg (* 9.3.1859, † 8.1.1919), Schriftsteller. Die Grabrede („Nach zwanzig Jahren: Rede am Grabe P. Altenbergs“) vom 11.1.1919 erschien erst Mitte April 1919 in der Fackel, Nr. 508–513, S. 1 ff., ein eigenständiger Druck bereits im Februar. Die Fackel, Nr. 501–507.

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Briefe Sigismund von Radeckis

Schreibstuben sitzen verlorene [Bocher7] und legen die Ereignisse aus“8; einen Feuilletöner hab ich da, dem leg ich immer meine Gedichte, frischgebacken, vor. Er analysiert sie dann mikroskopisch: findet hier einen Vokal von Rilke, dort einen George’schen Daktylus etc., dabei kennt der Kunde nicht Karl Kraus. Das passierte mir alles in den 3 Tagen, wo ich gehen durfte. Aber bald darf ichs wieder, und dann bin ich zu ihm nach Hause eingeladen. Ich schicke Dir zwei Hefte der Fackel, die jüngst erschienen sind, ob sie zu Dir gelangen werden, ist eine andere Frage. Aber ich weiss, wie gross Deine Freude sein würde, und darum riskier’ ich’s. Ich denke oft an unsere Abgeschnittenen: Pappi, Werner und Micko. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie jedenfalls keine Bolschewisten verdächtig sein könnende Tätigkeit ausgeübt haben und ja überdies arm sind wie Kirchenmäuse, was ja allerdings wieder andere Besorgnisse gibt. Man kann aber nicht helfen. Ich grüsse und küsse Dich herzlich und empfehle mich ehrerbietigst Tante Josi und Schwester Fanny. P. S. Gelder habe ich genug, da ich die Löhnung weiter beziehe. Sisi

Nr. 114 Sigismund an seine Schwester Eva

Libau, 22.4.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Ein Verweis auf diesen Brief steht in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 519 f., zum 11.5.1919: „Sisi schrieb noch einen kurzen Brief, aus dem ich endlich erfuhr, was mit seinem Knie gewesen war […]“

Feldpost No. 168, Geschäftszimmer des Stosstrupp der baltischen Landwehr Liebe Eva! Ich habe Dir im Januar, Februar und März einige Briefe und Bücher (von Karl Kraus) aus Königsberg geschickt, wo ich im Lazarett lag. Leider habe ich bis jetzt keine Antwort erhalten, aber man kann ja in jetzigen Läuften nicht

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Jünglinge, Studenten. Karl KRAUS, in: Die Fackel, Nr. 339–340 v. 30.12.1911: „Sicher ist sicher“.

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Familienbriefe 1903–1921

immer auf Antwort warten, sondern muss drauflos schreiben, was ich hiermit tue. Ich habe ca. 2½ Monate (Januar, Februar und ½ März) in Königsberg im Lazarett gelegen. Die Sache war nicht so schlimm, als die sie sich anhört, aber langwierig. Ich hatte mir einen Teil des Knies bei Hinzenberg erfroren, und da die Behandlung zu spät einsetzte, komplizierte sich die Sache mit einer Entzündung der Nervenstränge. Schmerzhaft war es kaum, ich musste nur die ganze Zeit liegen. Diese Zeit benutzte ich dazu, mir viele lang ersehnte Bücher zu kaufen. Dann war ich gesund, aber noch sehr erholungsbedürftig und folgte einer der vielen reizenden Einladungen aufs Land, mit denen uns der ostpreussische Adel bedachte. Ich traf es sehr glücklich bei einer Familie de la Bruyere, wohnhaft in Knöppelsdorf, 12 km von Königsberg gelegen. Frau de la Bruyere1 ist eine große Gesangskünstlerin und wird von ihrer 13jährigen Tochter beim Gesang begleitet. Herr de la Bruyere hatte immer irgendwo Rotwein und Rauchwerk in der Nähe deponiert. Na, ich sage Dir, es war wunderbar. Da war besonders eine Arie aus „Titus“ von Mozart, die ich Dir unbedingt vorpfeifen muss. Nach drei arkadischen Wochen in Knöppelsdorf kam ich hierher nach Libau und wurde wegen meiner Herzschwäche als Schriftführer des Sanitätswesens der Stosstruppe eingestellt. Zu tun habe ich nicht gerade übermässig viel. Hier in Libau ist ein herrlicher Strand und dort gehe ich täglich am Morgen spazieren. Famos, wie einschmeichelnd die Sonne auf dem weissen Sande liegt und hinten das frische Meer. Mein Hauptstudium bildet natürlich Karl Kraus. Kraus, der jetzt zu allem noch der grösste lebende deutsche Lyriker geworden ist. Ich habe Karl Kraus auch in Königsberg und Knöppelsdorf vorgelesen und freue mich schon darauf, es Dir zu tun. Mit herzlichem Gruss Sisi Hier schreibe ich Dir ein paar der schönsten Gedichte von Karl Kraus ab. Karl Kraus hat während des Krieges geschrieben: Fackel No 400-507; „Worte in Versen“, Bd. I, II, III, IV; 1 Aphorismenband „Nachts“; Tragödie: „Die letzten Tage der Menschheit“ (noch nicht erschienen) und „Die letzte Nacht“, Epilog zu dieser Tragödie (erschienen). Schliesslich hat er noch einen 120

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Nr. 114 1 Olga de la Bruyère, geb. Frederik (* 10.6.1882 Lüneburg, † 23.8.1943 Berlin) trat spätestens seit 1910 als Konzertsängerin auf.

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Briefe Sigismund von Radeckis

Seiten starken „Nachruf“ des Krieges verfasst, wo er sich völlig auf die Seite der Entente stellt und endlich eine Rede am Grabe Peter Altenbergs gehalten. Folgende Gedichte sind sämmtl. aus dem IV. Teil der „Worte in Versen“2: DAS ZWEITE SONETT DER LOUISE LABÉ O schöne Augen, Blicke abgewendet [und mehr] ZUM EWIGEN FRIEDEN Bei dem traurigen Anblick nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken [und mehr] Nie las ein Blick, von Tränen übermannt, ein Wort wie dieses von Immanuel Kant […]

Nr. 115 Sigismund an seine Schwester Eva

Libau, 23.4.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Auszüge aus diesem Brief sind aufgenommen in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 518 f., zum 4.5.1919: „Ein Brief von Sisi! Was für eine Sonntagsfreude! Ich schreib einiges ab: [Datiert: Libau, 23. April, Poststempel mit Esti-Marke Tallin am 25. April, ich bekam den Brief am 4. Mai]“

Geschäftszimmer der Stosstruppe z. b. V.1 der baltischen Landeswehr Liebe Eva! Ich weiss nicht, ob Du meine Briefe seit Januar 1919 erhalten hast; auch habe ich Dir zwei Hefte der „Fackel“ schicken lassen. Im Gefecht bei Hinzenberg hatte ich mir eine Entzündung am Knie durch langes Liegen im Schnee geholt, auch litt das Herz wegen Überanstrengung. So kam ich mit dem Laza———————————— 2

Karl KRAUS, Worte in Versen, Bd. 4, Leipzig 1919. Nr. 115 1 Abgekürzt „zur besonderen Verwendung“.

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rettzug nach Königsberg. Dort lebte ich im Festungshilfslazarett II, Börsengarten, anfangs mit mehreren Kameraden zusammen, darunter Piers Walter2, später, da die anderen fortgingen, allein. Die Wunde war während des Rückzuges vernachlässigt worden, daher dauerte es 2½ Monate bis zur Verheilung der Stelle. Schmerzen hatte ich sehr wenig, und so war der Aufenthalt in K-g garnicht so schlimm. Anfangs gabs etwas wenig zu essen, aber später hetzte ich das Balt. Comitee auf, so dass ich Brotmarken kriegte. Ich bestellte mir alles von Karl Kraus, was während des Krieges und nachher erschienen ist, und habe den grössten Teil der Sachen wirklich erhalten. In der letzten Zeit in K-g, wo ich schon etwas gehen konnte, besuchte ich öfters eine estländische Familie v. Hummins3, die sehr nett für mich gesorgt hat. Ich lernte auch einen Freund von Gori Erdmann4, namens Dr. Schwitzky5, Feuilleton-Redakteur der „Allgemeinen Zeitung“, kennen, einen sehr anregenden Menschen. Bei der Entlassung aus dem Lazarett war ich durch das lange Liegen noch so geschwächt, dass ich eine der vielen freundlichen Einladungen des ostpreussischen Adels an die Balten [annahm], und fuhr auf 3 Wochen nach Knöppelsdorf, der Familie de la Bruyere gehörig. Das Gut liegt etwa 12 km von Königsberg. Die Familie bestand aus Vater, Mutter und 13-jähriger Tochter. Frau de la Bruyere war eine grossartige Sängerin, und die Tochter spielte schön Klavier. So verlebte ich dort eine wunderbare angenehme Zeit, in der ich mich, abgesehen von einer kleinen Herzschwäche, die noch blieb, völlig erholte. Am 7. April fuhr ich nach Libau und wartete vorläufig auf meinen Truppenteil, der kurz vor Ostern eintraf. Wegen des Herzens wurde ich der Sanitätsabteilung zugeteilt, als deren Schriftführer im Stosstrupp ich nun fungiere6. Ein Amt, das nicht allzu anstrengend ist und Initiative läßt. Mein Vorgesetzter ist Willis guter Freund gewesen: Dr. Cleemann7. Ich habe meinen ———————————— 2 3 4 5

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Siehe Edition, Nr. 113 Anm. 1. Verlesen für „Hunnius“. Siehe Edition, Nr. 43 Anm. 2. Dr. phil. Ernst Bernhard Joseph Schwitzky (* 17.2.1885 Frankfurt/Main, † 1933 Rom), stud. jur. München, Berlin und Marburg, 1912 Theaterkritiker der „Königsberger Hartungschen Zeitung“, 1919 Schriftleiter der „Allgemeinen Zeitung“ (Königsberg), später Regisseur in Essen und Braunschweig; Marburg, Universitätsarchiv, Promotionsakte 307 b, Nr. 464; Mitteilung von Herrn Bernhard Schwitzky. Auf diese Versetzung dürfte sich folgender Befehl beziehen: „Der Freiwillige Sigismund von Radecki wird der Abteilung IV b des Stabes zugeteilt.“ Berlin, Bundesarchiv, R 8025/6 (Abteilungsbefehle der Stoßtruppe der Balt. Landeswehr), Abteilungs-Befehl Nr. 33 v. 27.4.1919 (Mitteilung von Dr. Wilhelm Lenz, Koblenz). Zur Gliederung der Landeswehr zu diesem Zeitpunkt vgl. das Schema bei GRIMM, Vor den Toren, S. 321. Dr. Walter Friedrich Cleemann (* 27.12.1890 Pinkenhof, † 8.5.1976 Varel/Oldenburg), Stabsarzt; Album Fratrum Rigensium, Nr. 1125; GRIMM, Vor den Toren, S. 3.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Tisch im Stabe der Stosstruppe und folge ihm, dem Stabe, auf allen Wanderungen. Von Pappi, Micko und Werner, die in Riga geblieben sind, habe ich selbstverständlich gar keine Nachrichten. Ich bitte meine Briefe nach Libau, Feldpost l68, Geschäftszimmer des Stosstrupp der balt. Landwehr zu adressieren. Mit herzl. Gruß an Dich, Tante Josi und Schwester Fanny Dein Sisi

Nr. 116 Sigismund an seine Schwester Eva

Neu-Mocken, 15.7.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Meine liebe Eva! Wie freut es mich, daß die Postverbindung Riga-Eesti1 wiederhergestellt ist. Ich vermutete Dich in Jerwen, nach einer Nachricht von Schwester Fannys Bruder2, den ich in Riga, wo er auf Urlaub war, traf. Micko und Werner, die in Riga geblieben sind, werden Dir wohl die traurige Nachricht, daß Evi Moeller3 gestorben ist, schon geschrieben haben. Ich muss sagen, daß ich den Tod weniger Menschen so bedauert habe, obwohl er gerade für sie vielleicht doch eine Erlösung bedeutete. Sie lebte im selben Hause wie Tante Ella4 und Annima5, die erzählten ganz gerührt von der Freundlichkeit, mit der sie von Evi besucht worden seien. Wenn es dann geklingelt habe, hätten sie zuerst immer angstvoll gefragt, wer da sei?, und sich immer wieder über die leise Antwort: „Nur Eva Moeller“ herzlich gefreut.

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Nr. 116 1 Name der seit dem 24.2.1918 unabhängigen Republik Estland. 2 Wahrscheinlich James Rathlef (1896–1988), trat spätestens am 1.11.1918 in das deutsche Heer ein, dann kurzzeitig beim Grenzschutz in Ostpreußen, später Evangelist; DELLINGSHAUSEN, Die Rathlef, S. 88 f. 3 Sigismunds Cousine Eva Louise von Moeller, gestorben am 18.4.1919 im Lazarett des Rigaer Zentralgefängnisses. 4 Ella Lange, geb. von Radecki, eine Schwester Ottokars. 5 Verschrieben für „Amina“.

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Familienbriefe 1903–1921

Über unser trauriges Schicksal, daß wir von Euch verprügelt worden sind, wirst Du wohl zur Genüge orientiert sein6. Von Riga zogen wir uns zuerst nach Champetre bei Hagensberg, von da nach Bilderlingshof und darauf über Schlock und Tuckum nach Neu-Mocken7 zurück8. Nun sitzen wir da im Grünen, reiben uns die Stirn und denken wahrscheinlich etwas nach. – Micko wird Dir wahrscheinlich ebenfalls geschrieben haben, dass Pappi nach Königsberg gefahren ist. Die Sache kam so. Als Riga bedroht war, besprach ich natürlich sowohl mit Pappi als auch mit Micko und Werner die Frage, ob sie fahren sollten, oder bleiben. Werner und Micko entschieden sich fürs Bleiben, dasselbe riet ich Pappi. Er sagte, er wolle nicht gegen meinen Rat handeln, aber jedenfalls nicht von mir getrennt werden. Nun hatte er eine (unzutreffende) Alarmnachricht über den Abzug erhalten, und als ich ihn am nächsten Tage besuchen wollte, war er schon auf und davon. Nun ist es ja an und für sich vielleicht nicht einmal so schlecht, daß er nach Deutschland kommt, denn mit dem wenigen Geld, das er hat, kommt er da länger aus, auch kann ich ihm monatlich soviel schicken, daß er zur Not davon in einer Pension leben kann. Nur ist es traurig, daß er da keine Bekannten oder Verwandten hat, die ihm helfen können, aber hoffentlich wird er bald Bekanntschaften gemacht haben, er versteht es ja. Körperlich wird er in der letzten Zeit leidlich herauf gekommen, ging täglich aus etc. Geistig geht es ihm wie immer; die bekannten Erscheinungen sollten sich im Laufe eines halben Jahres ein oder zwei Mal in schwacher Form gezeigt haben. Pappis Briefadresse ist Königsberg, hauptpostlagernd. Wahrscheinlich wohnt er, oder steht jedenfalls in Verbindung mit Pension Stechern, Schönstrasse 18, wo ich auch gewohnt habe. Die Briefe schicke ich mit der ersten, das Geld mit der zweiten Adresse (Frl. Stechern). Ich selbst habe in Riga noch knapp vor Toresschluss einen Vorleseabend vor grösserem Publikum (ca. 200 Personen) zu wohltätigem Zweck arrangiert. Der Erfolg war gut, obwohl der Raum, wie es sich herausstellte, total ohne Akustik war. Mein Programm war:

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Am 22./23.6.1919 war es bei Wenden zu Kämpfen zwischen der baltischen Landeswehr und lettischen sowie estnischen Truppen gekommen, danach mußte sich die Landeswehr aus Riga zurückziehen; GRIMM, Vor den Toren, S. 252 ff. Alt- und Neu-Mocken, heute Schloss Jaunmokas, wenige Kilometer nordwestlich von Tuckum. Eine Abbildung des Stabsquartiers in „Neu-Nocken“ bei GRIMM, Jahre deutscher Entscheidung, S. 193. Der Rückzug erfolgte nach Westen entlang der küstennahen Landstraße.

Briefe Sigismund von Radeckis

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I. Abteilung 1) Die Fundverheimlichung (Karl Kraus) 2) Das Mädl aus der Vorstadt, I. Akt (Nestroy)9 10 Minuten Pause II. Abteilung 1) a) Festspruch, b) Der Eid, c) Gezeiten, d) Kreuz der Straße10 (Stefan George) 2) Landpartie; Vor-Vorfrühling; Mama; Gleich beim Hotel; Sanatorium für Nervenkranke; Vom Rendez-vous (P. A.)11 3) Vallorbe; Traum vom Fliegen; Zum ewigen Frieden; Goethe-Ähnlichkeit (Karl Kraus) – Mein Plan, einen ganzen Cyklus von Vorlese-Abenden zu veranstalten, ist nun freilich gestört. Ich bin jetzt [fehlt] eines Abonnenten der Fackel und erhielt neulich die ersten Bände der grossen Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ in V Akten mit Epilog und Vorspiel, von Karl Kraus12. Nun auf Wiedersehn! Bitte grüsse herzlich Tante Josi und Schwester Fanny von mir. Sisi

Nr. 117 Sigismund an seine Schwester Eva

Neu-Mocken, 27.7.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Verweise auf diesen Brief stehen in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 535, zum 3. und 10.8.1919.

Liebe Eva! Ich weiss zwar nicht, ob dieser Brief Dich erreichen wird, will es aber doch damit versuchen. Micko ist in Talsen in einer Pension, wo sie es sehr gut hat. Werner ist in Tukkum beim Oberstab angestellt, und zwar in der Sanitätsabteilung. Pappi ist in Königsberg in derselben Pension, wo ich auch verkehrt ———————————— 9 10 11

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Posse von Johann Nestroy (1841). Siehe Brief v. 17.9.1917 mit der vollständigen Wiedergabe des Gedichtes; Edition, Nr. 105. Alle Texte in: Peter ALTENBERG, Auswahl aus seinen Büchern, hg. v. Karl KRAUS, Zürich 1963, eine Ausgabe, die Radecki selbst besorgte. Wien 1919.

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habe. Er ist dort gut aufgehoben, und es ist dort billig. Ich kann die Kosten seines Unterhalts von meiner Löhnung bequem bestreiten. Ich habe schon zwei Briefe von ihm aus Königsberg erhalten. Wir stehen jetzt unter englischem Oberbefehl1 und ich werde eventuell als Dolmetscher ankommen. Infolgedessen lese ich möglichst viel Englisch, leider habe ich als einziges englisches Buch den Lear2, so wird mein Englisch den Gentlemen vielleicht ein wenig antiquiert vorkommen. Wir hatten hier eine schlimme Regenperiode, wie ich sie im Juli selten erlebt habe, aber jetzt ist es dafür frisch beim herrlichsten Sonnenschein. Die Gegend ist hier entzückend schön: leicht gewellt, fruchtbar und doch viel Wald. Ich bade jeden Nachmittag in einem benachbarten Stauweiher; abends nach der Arbeit mache ich meinen Waldspaziergang. Zu tun habe ich ziemlich viel, doch geht die Arbeit dank meiner Mitarbeiter glatt vonstatten. Dieser Mitarbeiter ist überhaupt sehr kultiviert und sympathisch, so daß wir uns während der Arbeit ganz brillant unterhalten. Meine Bücher habe ich größtenteils bei Tante Anna in Riga gelassen, aber ein paar habe ich doch mitgenommen: Fackel Nr. 350 bis 508; „Worte in Versen“3 Bd.1, 2, 3, 4; „Semmering 1912“ von Peter Altenberg; Puschkins Gedichte; Liliencrons ausgewählte Gedichte; „Sprüche und Widersprüche“4; „Pro Domo et Mundo“5 und „Nachts“ von K. Kraus6; Die Odyssee; „Der Siebente Ring“7; „Der Stern des Bundes“8; Nestroy; Jean Paul: Auswahl; Dante; „Meine Wunder“9 und „Hebräische Balladen“10; „Philosophische Brocken und abschließende unwissenschaftliche Nachschrift“ von Kierkegaard; „Hanneles Himmelfahrt“ und „Pippa“ von Hauptmann; Hölderlin, Brentano und eine Auswahl von Novalis. Die Folge davon ist die, daß jeder, der einen Schmöker lesen will, sich an mich wendet. Worauf allerdings prompt ein glatter Hinauswurf erfolgt. Ich würde Dir gerne Sachen von Karl Kraus schicken, wenn ich nur sicher wäre, ————————————

Nr. 117 1 Die Baltische Landeswehr stand seit dem 25.7.1919 unter dem Kommando des englischen Oberstleutnants Harold Alexander, dem späteren Generalgouverneur von Kanada (1946– 1952); GRIMM, Vor den Toren, S. 277 ff. 2 William SHAKESPEARE, King Lear. 3 Karl KRAUS, Worte in Versen, Bd. 1–4, Leipzig 1916–19. 4 Karl KRAUS, Sprüche und Widersprüche, München 1909. 5 Karl KRAUS, Pro domo et mundo, München 1912. 6 Karl KRAUS, Nachts, Leipzig 1919. 7 Stefan GEORGE, Der Siebente Ring, Berlin 1907. 8 Stefan GEORGE, Der Stern des Bundes, Berlin 1914. 9 Else LASKER-SCHÜLER, Meine Wunder. Gedichte, Leipzig 1911. 10 Else LASKER-SCHÜLER, Hebräische Balladen, Berlin 1913.

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daß überhaupt Postverbindung mit Dir vorhanden ist. Verzeih, in der Bücherangabe fehlen noch: Neues Testament; Goethe: Gedichte, „Faust 2“; „Lear“ und „Die Lustigen Weiber von Windsor“ und endlich Hegel „Logik“. Ich grüße Dich und Schwester Fanny herzlich, wenn Tante Josi da ist, so grüße ich auch Tante Josi, und will nun einen großen Sonntagsspaziergang machen. Sisi

Nr. 118 Sigismund an seine Schwester Eva

Im D-Zug Berlin – Königsberg, 24.8.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Meine Liebe Eva! Mit Bedauern constatiere ich, daß alle meine vielen Briefe an Dich nicht angekommen sind. Aber schön ist es, daß wir wieder in brieflicher Verbindung mit Dir sind. Wie oft habe ich nachts schmerzlich Deiner gedacht, Du mußtest Dir doch so von uns verlassen vorgekommen sein. Du wirst wohl durch die erhaltenen Briefe von Pappi1, Micko und Werner auch über meine bescheidenen Schicksale erfahren haben. Wir standen vom Juli an bei Tukkum, in Neu-Mocken. Dort habe ich mein kleines Zimmer mit hübscher Aussicht auf Teich, Parkbäume und Felder. Tagesarbeit, und zwar mit einem sehr angenehmen Collegen: dem Theologen Arwed Schulz2, abends Gäste, denen ich meine bekannten Vorleseabende halte. Schulz ist älter als ich, sehr gebildet, ————————————

Nr. 118 1 Von Ottokar liegt ein Brief v. 3.8.1919 aus Königsberg (Schönstraße 18, Pension Stechern) vor, wo er sich über seine Pläne äußert, in Deutschland eine Aufenthaltsmöglichkeit zu finden: „Es werden einige Fäden gesponnen wegen gastfreier [?] Aufnahme auf einem holsteinschen oder hannoverschen Rittergut; auch nach Liegnitz und nach Schweidnitz strecke ich Fühlhörner. – Tante Anna ist vermutlich in Warmbrunn. Wie lange gedenken Puppi und Hella sowie Tante Helene mit ihren Mädchen in Talsen zu bleiben? Wo ist Erik?“ Angesprochen sind Anna, die Ehefrau von Ottokars Bruder Ernst, ihre Töchter Ellen und Helene, Ottokars Schwester Helene Lange sowie Erik, ein Sohn von Ottokars Bruder Hermann. 2 Wahrscheinlich Arvid Schultz (* 10.10.1886 Riga), stud. theol. Dorpat; NEANDER, Lexikon deutschbaltischer Theologen, Nr. 576.

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Familienbriefe 1903–1921

conziliant und sogar, ich glaube, klug. Wir beide verstehen uns gut, manchmal mit einem Blick, wenn z. B. unser Vorgesetzter, Dr. B.3, wieder mal was losgeschossen hat. Wir arbeiten fleissig, und doch findet man Momente zu anregender Unterhaltung während der Arbeitszeit. Wunderbar schön ist die Landschaft hier und abends gehe ich in die Waldruhe, schwarze Tannenzacken ragen in die Glorie. Vorgelesen habe ich zuletzt „Lear“, allerdings kam ich nur bis zum dritten Akt, dann musste ich abreisen. Eine der schönsten Stellen aus Lear4 (Lear mit Ranken und wilden Blumen geschmückt), zu Edgar: „Parole!?“, Edg.: „Süsser Majoran!“, Lear: „Passiert!“ Alle fingen an, von mir Bücher zu leihen (ich hatte paar gute mit) – das wurde mir schliesslich zu bunt, ich ging zum Kommandanten, er solle doch in Deutschland gute Bücher kaufen lassen, alle wollten lesen, nichts wäre da. Und richtig, nach einigen Tagen saß ich schon mit dreitausend Mark für Bücher in der Tasche im Königsberger Zuge. In Königsberg besuchte ich Pappi, der dort sehr angenehm wohnte, und fuhr am nächsten Tag nach Berlin weiter. Natürlich stieg ich bei der Vielhaack ab5, besuchte Ellen6 und kaufte schon ein paar Bücher. Dann ging es nach Leipzig, wo Buchhändlerstreik war7, gerade im geeignetsten Moment. Also weiter nach Stuttgart. Dort habe ich im Schweisse meines Angesichts Bücher eingekauft, hauptsächlich in den Kommissionsbuchhandlungen Koch, Neff und Oetting. Dein Märchen „Arge und Helge“ versuchte ich bei einem der Verlage Cotta, Deutsche Verlagsanstalt, Verlag für Volkskunst etc. anzubringen, aber es ging nicht, sie müssten alle ihre Arbeit einschränken und können nicht einmal ihre langjährigen Autoren zu Druck kommen lassen. Aber allen hat Dein Märchen8 ausserordentlich gefallen. Alle wollten mehr von Dir haben, um eventuell später ein Buch herauszugeben: dies ist für ein Buch zu klein, für eine Zeitschriftnummer zu groß, und für Fortsetzungen eignet es sich nicht. Nach Abschluß der Einkäufe kam ich wieder nach Berlin und reichte es aber vergeblich bei Westermann und Velhagen & Klasing ein. Alle sagten das Obrige. Das Manuscript habe ich der treuen Ellen auf die Seele gebunden,

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Wahrscheinlich Dr. Herbert Bernsdorff (1892–1968), der in der Sanitätsabteilung des Oberstabes tätig war; GRIMM, Vor den Toren, S. 36; Album Fratrum Rigensium, Nr. 1124; BERNSDORFF, Bilder aus Baltischer Landeswehr-Zeit, S. 113 ff. William SHAKESPEARE, König Lear, IV, 6. Siehe Edition, Nr. 112 Anm. 9. Sigismunds Cousine Ellen von Radecki. Höhepunkt am 26.2.1919. Arge und Helge, erst 1959 in Eva von RADECKI, Logbuch, S. 116–154, erschienen.

Briefe Sigismund von Radeckis

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und Hellmuth Krüger9 versprach mir, unbedingt sich für die Drucklegung des Dinges zu interessieren. Schick doch Deine anderen Sachen, die Du fertig hast, mit allen Praicantieren [?] mir oder noch besser Ellen (Bismarckstrasse 3/II). Das heißt, ich interessiere mich brennend dafür, was Du wohl geschrieben haben magst. Ich habe es über ein paar Gedichte nicht hinausgebracht. Ich weiss nicht, ob Du dies Gedicht schon kennst, mit dem Schluss10: Und sieh auch, welchen schönen Tageslohn der Himmel beut: Die Sterne eine Hand voll Silbermohn dem Schlafe hingestreut. Und damit viele Grüße Tante Josi, Schwester Fanny und Dir. Auf Wiedersehn! Sisi

Nr. 119 Sigismund an seine Schwester Eva

Mitau, 17.9.1919

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Hoffentlich hast Du meinen 8 Seiten langen Brief 1 erhalten. Ich schrieb Dir darin über meine Reise und was für Schritte ich getan hatte, um „Arge und Helge“ unterzubringen. Sogar Zobeltitz von Velhagen und Klasing2 habe ich kennengelernt; mit dem Monokel. Deinen lieben Brief an mich vom 17. August habe ich hier Anfang September von Micko erhalten, dagegen sind die ———————————— 9

Hellmuth Krüger (* 10.6.1890 Dorpat, † 7.8.1955 München), Schauspieler, Kabarettist, seit 1945 am Bayerischen Rundfunk; REDLICH, Lexikon, S. 195. Er hatte bereits 1916 Evas „Krippenreiter“ in einen Sammelband aufgenommen: Die baltischen Provinzen, Bd. 2: Novellen und Dramen, hg. v. Hellmuth KRÜGER, Berlin-Charlottenburg 1916, S. 77–118. 10 Auszug aus Radeckis Gedicht „Frühlingsabend“, in: BERGENGRUEN (Hg.), Baltisches Dichterbrevier, S. 112 f. Nr. 119 1 Brief v. 24.8.1919; Edition, Nr. 118. 2 Hanns von Zobeltitz (1883–1940), seit 1890 Schriftleiter von Velhagen-Klasings „Monatsheften“.

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Familienbriefe 1903–1921

darin erwähnten Briefe und Karten nicht bis zu mir gekommen. Neulich schickte ich Dir zwei Hefte der Fackel: Nr. 404, glaub ich, und Nr. 4213. Die erste ist dadurch bemerkenswert, daß sie das erste Hervortreten von Karl Kraus nach Kriegsbeginn ist. Natürlich ist es furchtbar, vom Krieg zu lesen; aber wir haben die Pflicht, ihn nie nie zu vergessen; wenn es uns schon peinlich ist, darüber zu lesen, wie muss es denen gewesen sein, ihn mitzumachen. Ihn verstecken kann man nicht, dann schon lieber mit Hilfe von Karl Kraus ihn zu fassen suchen. Und du wirst ausser dem Kriegsgeschrei auch einige schöne Gedichte darin finden. Ich will jetzt ganz gern einen Aufsatz über russische Literatur schreiben, um eventuell durch Werner via Helferitz4 eine Stelle als Lector der russischen Sprache an einer deutschen Hochschule zu kriegen. Als Thema wollte ich eigentlich die Frage nehmen, wie es denn komme, dass man Dostojewski, Turgenew, Tolstoi ganz gut ins Deutsche übersetzen kann, Puschkin aber nicht. Und doch ist Puschkin wahrscheinlich der grössere unter ihnen. Bis jetzt habe ich aber nur zwei Folioseiten zusammengeschmiert. Hier vier Zeilen von mir: Nach Sonnenuntergang über der Erde des Abends reine Stirn; nun tritt aus dunklem Blau, daß Nacht es werde, schon ein Gestirn. Wenn es Dir gefällt, schenk ich es Dir. Ich habe wieder viel Else Lasker-Schüler gelesen. Ich würde sie gerne kennen lernen. Aber sie war in der Zeit meines Aufenthalts von Berlin abwesend5.

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Die Fackel, Nr. 404 v. 5.12.1914, mit Titeltext „In dieser großen Zeit“; Die Fackel, Nr. 418–422 v. 8.4.1916, mit Titeltext von Kierkegaard zur Tagespresse und der Rolle der Journalisten. Der Staatsrechtler und spätere Professor und Regierungsrat Hans Helfritz (1877–1958) war 1918 während der deutschen Besatzungszeit an der Landesuniversität der drei baltischen Provinzen in Dorpat Mitglied der Juristischen Fakultät und hatte dort Werner von Grimm zu einer Stelle verholfen; 1919 in Berlin im Wissenschaftsministerium, 1920–1945 Professor in Breslau; HELFRITZ, Ein Semester deutsche Universität, S. 535–540; RIMSCHA, Universität Dorpat, S. 55 f. Vom 17.1. bis 10.4.1919 war Lasker-Schüler in Zürich.

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GEBET (von Else L-Sch.)6 Ich suche allerlanden eine Stadt Die einen Engel vor der Pforte hat. Ich trage seinen großen Flügel Gebrochen schwer am Schulterblatt Und in der Stirne seinen Stern als Siegel. Und wandle immer in der Nacht … Ich habe Liebe in die Welt gebracht – Daß blau zu blühen jedes Herz vermag, Und hab ein Leben müde mich gewacht, In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag. O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest; Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest. Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt, Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt Und sich ein neuer Erdball um mich schließt. Danach wäre eigentlich wenig mehr zu sagen. Ich wohne hier in einer weisslackierten weinlaubumrankten Glasveranda (heizbar) und freue mich jeden Morgen über die strahlende Sonne. Ich kann mich hier gut erholen, und werde dann später mit meinen eingekauften Büchern nach Jacobstadt7 fahren. Von Pappi haben wir gute Nachrichten. – Hier in Kurland haben wir heuer ein prachtvolles Obstjahr. Stellt man einen Tisch im Garten auf, so fallen einem die Birnen direkt in den Teller. Schreib mir bitte von Deinen eigenen Arbeiten. Du hast sicher ganz feine Sachen geschrieben. Vielleicht kannst Du Abschriften mit sicherer Gelegenheit herschicken, ich bin ja in Verbindung mit Berlin, fahr einmal hin und placiere es sicher! Herzliche Grüße an Tante Josi und an Schwester Fanny. Lebe wohl! Sisi

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In: Else LASKER-SCHÜLER, Die Gesammelten Gedichte, Leipzig 1917. Jakobstadt an der Düna in Kurland, ab Juli 1919 wichtiger Standort für die Baltische Landeswehr.

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 120 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 25.3.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Dieser Brief kam erst am 14.4.1920 bei Eva an; siehe ihren Brief v. 15.4.1920 an ihre Schwester Alma: „Gestern bekam ich einen Brief von Sisi.“ – Frühere Briefe aus Berlin scheinen verlorengegangen zu sein. Dazu Eva am 27.12.1919: „Von Sisi habe ich gar keine Nachricht und ersehe mit Freuden, dass er in Berlin ist, aus Deinem Brief. Schreibt doch, ob Werner Sisi’s Schrift1 hat anbringen können.“ Schon am nächsten Tag, dem 28.12.1919, ergänzt sie: „Um Sisi war ich sehr besorgt. Nun bin ich so glücklich, dass er beim armen lieben Pappi gewesen ist.“ Ausführlicher heisst es dann am 8.1.1920 aus Jerwen an ihre Schwester Alma in Göttingen: „Am 1. Januar erhielt ich einen langen interessanten Brief von Sisingka. Das Wunder darin war ein Bild mit Gruss von Else LaskerSch[üler] an mich! Ach, dass ich Eure Teetassenaugen bei dieser Nachricht nicht sehen kann! Sie, die gute, will auch für die Drucklegung meiner wenigen (2) ‚Werke‘ sorgen. Was dabei herauskommt, weiss ich nicht. Ich muss sagen, dass ich es von Sisi rührend finde, immer gleich mit seiner schreibenden Schwester vorzufahren.“ Und weiter am 23.2.1920: „Ich bekam [Deine lieben Briefe No. 3, 4, 5a/b] nach langer Dürre im Laufe von 3 Tagen zusammen mit einem Rauschbericht von Sisinka über seine ‚grosse Woche‘. Ich bin sehr froh, dass es zu diesem schönen Zusammentreffen gekommen ist. Sisi schildert es geradezu rührend. Und um mein Glück voll zu machen, sagt er eingangs von seiner Arbeit, sie sei nicht so schwierig, wie er sie sich anfangs vorgestellt habe: ‚Man muß nur die Pattwege im Zahlendickicht kennen.‘“ Ebenfalls verloren scheint ein Brief, den Eva kurz vor dem 7.3.1920 erhielt; darüber schrieb sie an ihre Schwester Alma: „Sisinka schrieb mir von einem Vortragsabend (Baltenabend) am 17., an dem er neben Krüger2 und einem Specht3 recitierte.“

Liebe Eva! Endlich ist wieder Postverbindung da und so will ich Dir auch gleich schreiben. Pappi und mir ist es die ganze Zeit gut gegangen. Unsere Angestellten streikten teilweise4. Da der Verkehr vollständig stillstand, so wanderte ich zu Fuß nach Siemensstadt5, zum Teil sogar durch Wald. Ich habe tatsächlich ein ————————————

Nr. 120 1 Bisher unbekannt. 2 Siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 3 Gustav Specht (* 1885 Riga, † 1956 Allensbach), Schriftsteller, 1914–1943 in Berlin; DBBL, S. 741. 4 Am 13.3.1920 kam es wegen des Kapp-Putsches in Berlin zum Generalstreik. 5 Radecki hatte 1920 eine Stelle als Berechnungsingenieur für Wechselstrommotoren bei Siemens & Halske in Berlin-Siemensstadt angenommen.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Eichhörnchen gesehen. Unangenehm war es, dass das Licht aussetzte. Wir kauften uns aber Stearinlichte und behalfen uns damit. Da die Zeitungen vollständig fehlten, so „massierten“ sich die Menschen auf der Straße. „Es bildeten sich Gruppen.“ In der Nacht hörte man manchmal etwas Schießen. Am Tage soll es an verschiedenen Stellen unruhig gewesen sein, ich habe aber nichts gemerkt und bin bei meinen vielen Wanderungen immer gut durch gekommen. Ich benutzte die freie Zeit, um mich wieder einmal ordentlich mit Philosophiestudium zu beschäftigen. Ich nahm mir vor: Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie6. Es ist gut, aber nicht leicht geschrieben. Ich glaube, ich werde vom Studium dieses Husserl etwas davontragen können. – Von Werner und Micko haben wir neue Nachrichten. Micko ist noch in der Klinik, sie erholt sich langsam. Werner hat seinen großen Vortrag über Gogol mit Erfolg gehalten. Ich beneide ihn. Was ist das für eine köstliche Pflicht, einen Vortrag über Gogol halten zu müssen. Mein Vorlese-Abend fiel in die Putschtage und daher gründlich ins Wasser. Er ist auf den 14. April verschoben worden. – Wir haben hier jetzt schon ganz warmes Wetter. Ich kann am Morgen, auf dem Wege nach Siemensstadt ganz deutlich Lerchen hören. Ich dachte die ganze Zeit, Else Lasker-Schüler befände sich noch in München7. Da kriegte ich gestern einen Brief von ihr, aus Berlin geschrieben – sie ist schon acht Tage hier. Ich fuhr gleich hin; sie war aber leider nicht zu Hause. Ich streif jetzt ganz gerne durch die Stadt, man sieht immer wieder was Neues. Schön ist es im Tiergarten, es gibt da so herrliche alte Bäume. Nun auf Wiedersehen! Herzliche Grüße an Dich, Tante Josi und Schwester Fanny! Sisi

Nr. 121 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 9.4.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva!

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Edmund HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Halle/Saale 1913. Sie hielt sich Ende März 1920 in München auf.

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Familienbriefe 1903–1921

Heute bekamen wir Deinen lieben Brief vom 29. März, daß Du immer noch Balalaika zu hören hast. Deine Erzählung ist nicht angekommen; ich bedaure es sehr. Kannst Du sie nicht noch einmal schicken? Ich verstehe, daß es entsetzlich ist, die Sache noch einmal abzuschreiben zu müssen. Mein Vortragsabend ist auf den 14. April verlegt. Programm schrieb ich Dir im vorigen Brief. Aber ich habe zu lange drauf gewartet, die ganze Sache ledert mich jetzt. Bei Else L.-Sch.1 war ich ein paar Male. Mit ihr unterhalte ich mich noch am Besten. Die Unterhaltung geht bei ihr immer im wildesten Tempo, öfters auch durch, dann fragt sie: Wie kam ich doch darauf? Wovon sprachen wir doch? Aber sie hat einen herrlichen Humor und eine unbegrenzte Resonanz; man weiß genau, man, man wird immer kapiert und wie kapiert! Manchmal zanken wir uns, aber das tut nichts. Ich liebe es sehr, sie z. B. zu fragen: was ist der und der für ein Mensch? Ihre Urteile sind dann immer großartig treffend. Neulich kriegten wir einen Brief von Micko. Sie ist schon weg aus der Klinik, Werner und sie fühlen sich nicht sehr gesund, hoffen aber, sich ordentlich in den ein Monat langen Ferien zu restaurieren. Mir selbst und Pappi geht es gut. Ich ledere mich gewaltig auf meiner Stelle, aber was soll man tun. Else L.-Sch. will mir immer was Neues verschaffen und schreibt an allerhand Prinzen etc., aber ich weiß schon voraus, es wird nichts draus. Ich bin aber sonst guter Dinge. Lese Pappi sehr viel vor. Nächstens will ich wieder die Cousinen besuchen. Ich bin noch nie in ihrer Wohnung gewesen. Manchmal sind sie ledern, und manchmal bin ich amüsant. Wer weiß, wie es werden wird. Herrlich ist Else L.-Sch.’s Wut auf die Langeweile. Ich liebe es manchmal, insgeheim sie zu provozieren. Sie bricht dann jedesmal in eine Flut von Verwünschungen der Langeweile aus, erklärt sie für die einzige Sünde, und daß sie ihr ganzes Leben lang von ihr verfolgt gewesen sei. Neulich kriegte ich einen anständigen Zivilanzug, Wäsche und ein Paar Stiefel von der Flüchtlingsfürsorge der Stadt Berlin. Ich überraschte Pappi damit, dessen Lieblingsthema ja die Klage war, daß ich solche Sachen noch nicht hätte. Es war ein vollkommener Succes. Nun adieu, ich schreib Dir bald wieder. Herzliche Grüße an Euch alle von Sisi

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Nr. 121 1 Else Lasker-Schüler.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Nr. 122 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 20.4.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Ich habe Dir, glaub’ ich, ziemlich lange nicht geschrieben. Hier in Berlin ist schon vollständiger Frühling. Man merkt jetzt erst, wieviel Straßen Alleen sind. Die Leute fahren zur Obstblüte nach Werder hinaus1. Jetzt ist alles noch frisch; na, bis zum August wird sich das geben. – Ich bedauere sehr, daß Deine Erzählung, die Du, ich glaube durch Kitta2, uns schicktest, nicht angekommen ist; es ist sehr schade, wie mußt Du gewartet haben. Gut, daß es eine Copie war. Mein Abend im Lyceum-Club3 hat am 14. April stattgefunden und war ein succes. Ich las ungefähr 40 Minuten. Dann kam der Componist und Pianist Eduard Erdmann4, der Bruder von Gori Erdmann5. Dann kam der Schauspieler Krüger6 und eine Schauspielerin vom Deutschen Theater in einem Viertelstunden-Stück von Peter Nansen7, und schliesslich sprach Krüger noch „Des Sängers Fluch“ in halbdeutscher Mundart. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, so durch den eleganten Saal voll Publicum ganz ungekannt und bescheiden über ein Hintertürchen zur Bühne zu gehen. Aber auf der Bühne ging es gemütlich zu. Dort saßen die „Künstler“ auf angenehmen Clubsesseln vor Thee und Kuchen (gratis), darunter eine sehr elegante hübsche Schauspielerin, rauchte Zigaretten, und liessen Publicum Publicum sein. Du kannst Dir denken, daß das etwas für mich war! Die Vorstellung sollte um 8 anfangen, der Saal war schon um ½ 8 gesteckt voll. Aber schliesslich, punkt Acht, fing es doch an. Der Zuschauerraum war verdunkelt, der Vorhang ging nach dem Klingelzeichen auf, und ich trat, wie von ungefähr, ein,

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Nr. 122 1 Werder bei Potsdam, wo im Frühling jährlich das Baumblütenfest gefeiert wird. 2 Kitta (Katharina) Walter, mehrfach erwähnt in: Eva von RADECKI, Logbuch; wahrscheinlich Schwester des Malers Roland Walter. 3 Der 1905 gegründete Lyceum-Club hatte sein Clubhaus am Lützowplatz. 4 Eduard Erdmann (* 1896 Wenden, † 1958 Hamburg), Konzertpianist, ∞ Berlin 30.6.1919 Irene von Willisch; DBBL, S. 198; umfassend BOBÉTH, Eduard Erdmann. 5 Siehe Edition, Nr. 43 Anm. 2. 6 Siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 7 Peter Nansen (1861–1918), dänischer Schriftsteller.

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Familienbriefe 1903–1921

verbeugte mich vor dem vielköpfigen Ungeheuer (dabei war ich eben erst hinausgegangen und wartete bloss an der Tür) und setzte mich „unbefangen“. So wie ich Sisis Stimme hörte, war ich meiner und meiner Sache sicher. Ich kann Dir sagen, daß es ein großes Vergnügen ist, wenn man merkt, daß alle mit Interesse zuhören. So etwas wie ein elektrischer Stromkreislauf, der von mir ausgeht und zu mir wieder zurückkommt. Das Programm habe ich Dir ja geschrieben. Am besten gelang mir „Die Maus“ von Peter Altenberg. – Ich werde sehen, noch öfter derartiges mitzumachen. Jedenfalls bin schon etwas „lanciert“. Weißt Du, wann man den „echten“ Ton trifft? Wenn man das passende Gesicht dazu macht. Und dann niemals mit einem vorgefassten Ton anfangen, sondern sich immer durch das Druckbild inspirieren lassen. Else Lasker-Sch. war in Weimar, wohin man sie zu einem Vorlese-Abend geladen hat8. Ich weiß noch nicht, ob sie zurück ist. Pappi geht es nach Möglichkeit gut, er hört von seinem Zimmer die Vögel piepen. Hoffentlich habt ihr jetzt Ruhe vor den diversen Musikinstrumenten. Es grüßt herzlich Dich, Tante Josi und Schwester Fanny Sisi

Nr. 123 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 24.4.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Wie geht es Dir? Es ist schon ziemlich lange kein Brief von Dir angekommen, so dass wir schon etwas besorgt wegen Deines Ergehens sind. – Heute ist die Sonne zum ersten Mal so hoch hinauf geklettert, daß sie in mein Bureauzimmer scheint – ein angenehmes Ereignis. Heute haben wir Sonnabend, das ist ja der beste Tag der Woche. Ich habe ein so intensives Sonnabendsgefühl, daß bei mir de facto der Freitag zum Sonnabend wird. Ja es geht schon so weit, daß der Donnerstag durch das Gefühl: morgen ist ja Freitag … einen gewißen Zucker kriegt. Während am Mittwoch ja natürlich noch die erste ThätigkeitsFlut des Wochenanfangs langsam verebbt. Montag hat auch sein Gutes; da ist ———————————— 8

Sie las am Mittwoch, den 14.4.1920 beim „I. Bauhaus-Abend“ unter anderem „Hebräische Balladen“; KLÜSENER / PFÄFFLIN, Else Lasker-Schüler, S. 156 ff.

Briefe Sigismund von Radeckis

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bei Rottermanns1 jour fixe und ich bin wegen der großen Entfernung auch ausdrücklich und herzlich zum Mittagessen, das beträchtlich ist, geladen worden. Dadurch wird wieder jenes gewisse Sonntag-Abend-Kater-Gefühl herabgemindert. – Ich selbst beschäftige mich jetzt recht eifrig mit dem neuen großen deutschen Philosophen Edmund Husserl. Pappi habe ich jetzt den „Hochwald“ und den „Hagestolz“2 vorgelesen. Beides hat uns wunderbar gefallen. Ich gedenke ihm jetzt den „Verschwender“ von Raimund3 vorzulesen. – Berlin ist jetzt schon frühlingshaft; der Asphalt hat frische grüne Blätter gekriegt. Findest Du übrigens nicht, daß das „ü“ in Frühling durchaus grün ist? Neulich las ich bei Rottermanns Karl Kraus’sche Gedichte vor. Mir fiel dabei die Tiefe und Stärke des Ausdrucks: „Du Gnade, die verweht den niebesiegtenWahn4!“ auf. Dieser Satz ist eigentlich schon ein Gedicht für sich. „Un minimum d’effort est un maximum d’effet.“ Es ist so, als ob ungreifbare Nebel mit einem Mal weggeweht werden. Eine herrliche Stelle bei Nestroy: ein Vater macht dem Sprößling Vorwürfe: „Wie oft hab ich dir nicht gesagt: hab Talent! Sei ein Genie – nein, das Kind hört nicht5!“ – Eine tiefe Symbolik liegt in der Art, wie ein Hund den anderen beschnuppert, um ihn kennen zu lernen. Der untersuchende Teil schnüffelt mit kaltschnäuziger Neugierde an Nase, Gesicht und anderen Körperteilen des Inquirenten, der starr, zitternd, mit abgewendeten Augen höchste, metaphysische Verlegenheit und Scham ausdrückt. Das beste dabei ist, daß sich im nächsten Moment die Rollen verändern können und der Verlegene genau so frech, der Freche genau so verlegen wird. Ein menschliches Pendant wäre das Lorgnettieren6. Es muß doch wirklich wahr sein, was Karl Kraus vom Reim sagt; daß er vorbestimmt sei. Jedenfalls hat man dieses Gefühl bei jedem wirklich guten Reim. So reimt sich bei einem neuen Gedicht von Else L.-S. „Wüste“ auf „wo ihn ein Engel grüßte“7. Ich finde diesen Reim herrlich. Fein ist es überhaupt mit Else Lasker-S. über Gedichte zu fachsimpeln, aber weißt Du, nicht literarisch, sondern sozusagen rein technisch. Ich habe bei ihr ein Gedicht bestellt ————————————

Nr. 123 1 Siehe Edition, Nr. 102 Anm. 1. 2 Beide Werke sind von Adalbert Stifter. 3 Ferdinand Raimund, Der Verschwender (1834). 4 Aus dem Gedicht „Vallorbe“ (1920). 5 Johann Nestroy, Zwey ewige Juden und Keiner (1846). 6 Durch die Lorgnette (Stielbrille) scharf mustern. 7 Aus dem Gedicht „Joseph“, zuerst erschienen in: Die weißen Blätter, Jg. 7, Heft 4 (April/Mai 1920), S. 155: „So dunkel war es schon um Mittag in der Wüste, und Joseph sah den Engel nicht, der ihn vom Himmel grüßte.“

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Familienbriefe 1903–1921

über Isaak, wie er hinzieht, seine unbekannte Braut Rebekka heimzuführen8. Das ist wohl eine der menschlich ergreifendsten Stellen. Nun auf Wiedersehen! Herzliche Grüße an Dich, Tante Josi und Schwester Fanny von Sisi

Nr. 124 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 28.4.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Wir haben uns sehr über Deinen Brief vom 13.IV., der gestern bei uns eintraf, gefreut. Pappi machte sich schon große Sorgen; was mir leid tat, war die Nachricht, daß so wenig Briefe von mir angelangt sind. Dabei habe ich jede Woche mindestens einmal, manchmal auch öfter geschrieben! Ellen1 hat ihr Examen bestanden. Die Cousinen fahren wahrscheinlich nach dem 1. Mai mit Tante Anna nach Riga. Pappi und mir geht es gut. Allerdings hütet Pappi nach wie vor das Zimmer. – Sonst wüßte ich wahrhaftig nichts von Bedeutung, daß in unserem Leben vorgefallen wäre. Bei Rottermanns lernte ich einen jungen Kressling2 kennen, dessen Vater Apotheken in Petersburg besitzt. Er studiert hier Nationaloekonomie und Philosophie. Ich hatte eine Skizze Peter Altenbergs vorgelesen; er erzählte, daß er als vierzehnjähriger Jung Peter Altenberg in einem Hotel bei St. Moritz kennen gelernt habe. Er erinnere sich noch, daß er ihnen, den Kindern, ganz wunderbare Märchen erzählt habe. Die Märchen fingen alle an wie die Grimmschen, nehmen aber dann einen ganz anderen, höchst unerwarteten Verlauf. – Ein ganz eigenartiges Vergnügen ist es jetzt, auf der vorderen Plattform der Elektrischen stehend, sagen wir nach einem Regen, durch den Tiergarten zu fahren. Man athmet plötzlich so konzentrierte Natur, daß einem ganz andächtig zu Mute wird. – Mit Pappi ———————————— 8 1. Mose 24. Nr. 124 1 Sigismunds Cousine Ellen von Radecki. 2 Wahrscheinlich Alexander Kresling (* 26.12.1896 St. Petersburg), Sohn des Apothekers Karl Kresling, kam 1921 nach Freiburg/Breisgau, wurde dort Russischlektor und Gründer eines russischen Chores; Rigasche Rundschau, Nr. 196 v. 31.8.1929: Todesanzeige des Vaters.

Briefe Sigismund von Radeckis

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lese ich jetzt „Kalkstein“ von Adalbert Stifter3. Er hat wohl jene größte Kraft, die nicht im Donner, nicht im Regenprall, sondern im sanften Wehen sich ausdrückt. Zwei Gedichtstücke, eins von Else L.-Sch., das andere von Karl Kraus beschäftigen mich öfters in letzter Zeit. Das eine ist jene Stelle aus dem ungedruckten Gedicht „Joseph’s Flucht”, wo es heißt: „Egypten stand in goldnen Mantelfalten“. Das ist wunderbar gesagt. Egypten als weit hinragender Pharaokoloss gesehen. Wie herrlich ist die Unbeweglichkeit durch „in goldnen Mantelfalten“ ausgedrückt4. – Das zweite Stück ist das Lied der erfrornen Soldaten, im Schützengraben tot stehend, das Gewehr im Anschlag5. „Kalt war die Nacht. Wer hat diesen Tod erdacht! Oh die ihr schlieft in Betten – daß euch das Herz nicht bricht! Die kalten Sterne retten uns nicht. Und nichts wird euch erretten!“ Hier schicke ich Dir noch zwei Typen aus meinem Skizzenbuche: einen heraufkommenden und einen herunterkommenden [fehlen]. „Which is which“ wirst Du wohl selbst entscheiden. Es grüßt herzlich Dich, Tante Josi und Schwester Fanny Sisi

Nr. 125 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 3.5.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva!

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5

Novelle in der Sammlung „Bunte Steine“. Weiterer Verweis auf diese Stelle: Erinnerungen an Else Lasker-Schüler, in: RADECKI, Was ich sagen wollte, S. 82. In: Karl KRAUS, Die letzten Tage der Menschheit, Wien 1918/19.

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Familienbriefe 1903–1921

Heute ist Montag, also Zeit, wieder mal an Dich zu schreiben. Das Wetter hat eine Wendung zum Besseren genommen, den ganzen April hindurch herrschte ausgesprochenes Aprilwetter. Der Tiergarten ist jetzt wunderschön, man geht durch ein grünes Gedicht. Sonnabend war ich den ganzen Tag mit Else Lasker-Schüler zusammen. Wir bummelten durch die Cafe’s und die Kino’s. Alle fünf Minuten trat ein Jemand, oder eine Jemandin an sie heran: „Nicht wahr, sie sind Frau Lasker-Schüler, darf ich um ein Autogramm bitten“, manchmal mit dem Zusatz „Ich bin nämlich auch Künstlerin“. Der Prinz von Theben1 erklärte dann jedesmal mit der grössten Deutlichkeit, sie könnten sich die Sache selbst schreiben, er denke nicht daran. Worauf die Leute jedesmal empört als bitter gekränkte Todfeinde fürs Leben abzogen. Wir stehen vor dem Ufa-Palast am Zoo, auf einmal kommt eine feingekleidete ältere Dame an der Spitze einer ganzen Gruppe auf sie zu: (case aprio) [?] „Nicht wahr, sie sind doch Frau Lasker-Schüler!“ – „Nein!“ Die Kavalkade retiriert wortlos. – So sieht also der Ruhm aus. Zuerst lassen sie einen hungern, und dann quälen sie einen um Autogramme. Wunder, wie Else L.-Sch. immer ganz das ist, was sie augenblicklich sagt. So wie ein Tier, ein Hund z. B., mit dem ganzen Körper froh ist. So drückte bei der obigen Szene ihre ganze Miene, Haltung, Gebärde „Nein?!!!“ aus. – Sie hat mir ein Gedicht gewidmet2. Fein wär es, wenn Karl Kraus jetzt im Mai herkäme. – Pappi und mir geht es gut. Die Cousinen und Tante Anna fahren am 12. wahrscheinlich nach Riga. Hoffentlich kann ich dann von dort meine Sachen kriegen. – Heute ist der Jour von Clo3. Ich geh immer gern hin, es sind dort so angenehm große, elegante Räume. Sonnabend bin ich zu Krüger4 geladen. Sämtliche Freunde des Hauses werden vor Abfahrt der Frau und der Kinder noch einmal versammelt. Der Bruder von Gori Erdmann ist unterdessen berühmter Componist und Klaviervirtuose geworden5, er kommt auch Sonnabend. Und zwischendurch will ich den Prinz von Theben in das Konzert vom Ukrainischen Nationalchor einladen. Das ist etwas viel in einer Woche. ————————————

Nr. 125 1 Else Lasker-Schüler. 2 Entweder bisher unbekannt oder das erst im Berliner Tageblatt v. 11.7.1924 veröffentlichte Gedicht „Sigismund von Radecki: Ein baltischer Edelmann, Mensch und Dichter“; vgl. ERPENBECK, Zwei Porträts, S. 191. 3 Clotilde Alexandrine Marie Perret (* 2.3.1889 St. Petersburg, † 1.4.1981 Lidingö bei Stockholm), seit 1915 verheiratet mit Christian Rotermann (zur Person siehe Edition, Nr. 102 Anm. 1). Der „jour fixe“ fand bei ihrer Familie statt. 4 Siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 5 Eduard Erdmann; siehe Edition, Nr. 122 Anm. 4.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Am schönsten sind doch die ruhigen Abende mit Pappi zusammen. Neulich las ich ihm wieder mal Märchen vor. Die sind vielleicht doch das poetisch Stärkste. Und sind auch ganz aufs Erzählen oder Vorlesen eingestellt. Pappi goutierte besonders den unsterblichen Swinegel6. Nun auf Wiedersehen liebe Eva und grüß auch Tante Josi und Schwester Fanny von mir. Sisi

Nr. 126 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 11.5.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Denk Dir doch, gestern kam Deine Studie „Die Geliebte“1 hier bei Ellen2 an. Sie telephonierte gleich zu mir. Du kannst Dir Väterchens Aufregung und Freude denken. Ich sauste sofort mit der Drei durch den sonnigen Tiergarten zu Tante Anna3 und holte das Ding von Ellen ab. Es ist hergeschickt worden durch einen Doktor Kanitz oder so ähnlich; von wo konnte man nicht feststellen, da der Adressenumschlag mehrfach bestempelt und abgerieben war. Ich las es schon im Tram zur Hälfte durch; nachher las ich es Pappi vor. Nun – Pappi und ich – wir beide waren erstaunt und entzückt. Es ist wohl das Beste, was Du geschrieben hast. Ich kann Dir jetzt natürlich erst sehr wenig über die Studie sagen, da ich sie noch zu wenig kenne. Du weißt, ich muß eine Sache erst vier- bis zehnmal lesen, um ihrer gerecht werden zu können. Der aller erste Satz ist nicht frei in der Bewegung, wie wenn das Rad immer ———————————— 6 Das Märchen „Der Hase und der Igel“. Nr. 126 1 Eva von RADECKI, Logbuch, S. 517, zum 29.4.1919: „Beendete ich die ‚Geliebte‘ und gab sie Kitta [Walter] ab.“ Diese fertigte dann wohl eine Schreibmaschinenfassung an. Dazu heißt es in einem späteren Brief Evas an ihre Schwester Alma, Jerwen v. 30.11.1919, dass ihre „Geliebte“ beendet und auch fertig „getippt“ sei; sie wolle den Text daher, wie von ihrem Bruder empfohlen, sobald wie möglich „zu Ellen“ schicken. Erstmals erschien die Erzählung als „Die Geliebte“, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 35/1 (1920), S. 299– 311. 2 Sigismunds Cousine Ellen von Radecki. 3 Anna Elvira von Radecki, geb. Huhn, Mutter der Cousine Ellen.

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Familienbriefe 1903–1921

wieder ans Spritzleder schleift. Darin hast Du natürlich recht, daß man „mit einem Satz“ in dieser Geschichte drin sein muß. Die Geschichte ist vorzüglich gebaut. Ich glaube, alle diese Feinheiten genau zu bedenken, kann eben nur jemand, der so wie Du, trotz allem jeden, wenigstens eins hat: Zeit und Ruhe. Wie wunderbar fliessen die Gespräche; Bäche mit immer neuen Windungen. Diese Gespräche leben wirklich. Dann, die Hauptsache: die Gestalten sind gelungen. Die schwierigste und beste dürfte wohl der Knabe sein. Die Einzelheiten sind herrlich, so z. B. die sich unterhaltenden Kutscher, die Frau und das Kind im Hof. Die Stimmung der beiden im Park Wandelnden erlebt man mit Unvergeßlichkeit. – Das Ganze ist ein balanzierendes Glück. – Da Du mir Erlaubnis gegeben hast, will ich versuchen, ob man den ersten Satz umbauen kann. Geht es nicht, so laß ich Deinen stehen. Ich halte es für das Beste, mich an unser aller S. Fischer mit der Sache zu wenden4. Und zwar sollte es in die „Neue Rundschau“ hinein5. Sowie Pappi und ich mit genauer Lektüre fertig sind, geh ich mit dem Manuskript zu Fischer. An meiner Lage, daß das Ding gedruckt und gut gedruckt wird, soll es nicht fehlen, das kannst Du mir glauben. Noch etwas. Einigemale kommen bei Dir Konstruktionen vor wie: NN, der das und das tat, ging in den Wald, der so und so … etc. Diese der oder welche Nebensätze sind Rucksäcke, in die man allerhand stopfen kann. Aber ich weiß übrigens nicht mal mehr genau, ob es nicht bloß der erste Satz war. Das sage ich Dir nur so. Du weißt, daß ich das Ganze für ehrlich halte. Pappi läßt Dich herzlich grüßen. Ebenfalls Tante Josi und Schwester Fanny. Auf Wiedersehen! Sisi

Nr. 127 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 19.5.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva!

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Wahrscheinlich der Verleger Samuel Fischer (1859–1934). Neue Rundschau, eine damals führende literarische Monatszeitschrift.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Gestern erhielt ich Deinen lieben Doppelbrief vom 3. Mai. Schade, dass Du meine ganz beiläufig hingesetzten Frühlingsklagen so tief genommen hast. Glaub’ mir, ich freue mich am Frühling heuer vielleicht noch mehr als sonst; ich gehe oft im herrlichen Tiergarten und auch im schönen Humboldthain1 spazieren. Und dann, weißt Du, bin ich ja ein Mensch, der sich sehr schnell mit neuen Verhältnissen befreundet. Ich bin also ganz aufrichtig, wenn ich sage, dass ich tatsächlich ganz zufrieden vor mich hinlebe. Das mag, wie ich zugebe, ein Mangel an Tiefe sein, aber es ist so. – Das Piepen der Vögel in Pappis Zimmer hast Du zu Unrecht traurig genommen. Er war ganz harmlos und ungekünstelt froh darüber. Er würde auch auf dem Lande im Zimmer leben, sich aber fraglos viel mehr langweilen. Liebe Schwester, klag Dich nur ruhig aus in den Briefen an mich, das wäre doch ganz unnütz, wenn wir uns immer rosa Briefe schreiben würden. Dass z. B. die Langeweile schließlich doch an Dich rangekommen war, muß furchtbar gewesen sein. Wie furchtbar schade, daß ich damals das Grammophon verkaufte2. Aber man war unzurechnungsfähig, in Verkaufs-Rage. Deine Erzählung habe ich jetzt viermal durchgelesen und bin immer noch sehr mit ihr zufrieden. Ich reichte sie gestern bei der Fischerschen „Neuen Rundschau“ ein. Bescheid kann erst kurz nach Pfingsten gegeben werden, da Professor Oscar Bie3, der tänzerische, für die Feiertage nach Holland gefahren ist. Nimmt er’s nicht, so werde ich sämmtliche Redaktionen und Verlage der Reichshauptstadt systematisch weiter ablaufen. Aber hoffentlich nimmt er’s. Wenn Du dann noch den „Begrabenen Esel“ schickst, so könnten Deine Erzählungen, eventuell mit den besten Gedichten zusammen einen wunderbaren kleinen Einzelband abgeben. Das Honorar schicke ich dann prompt Dir zu. Wie, wird mir die estnische Gesandtschaft in Steglitz sagen. Ich selbst kann Dir leider fürs erste nichts schicken, denn ich komme mit Pappi gerade aus, nicht mehr. Ich bedauere das sehr und hoffe, daß es sich mit der Zeit ändern wird. Es wurde mir schon eine Dramaturgenstelle in Düsseldorf angeboten, die ich aber ausschlug, weil ich 1. vom Theater noch wenig verstehe und 2. nur ganz sichere Stellungen annehmen kann, weil ich für Pappi zu sorgen habe. –

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Nr. 127 1 Volkspark im Berliner Ortsteil Gesundbrunnen, wo Sigismund damals wohnte. 2 Das Grammophon hatte Sigismund im Januar 1918 aus St. Petersburg nach Dorpat gebracht; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 388. Bei Auflösung des Haushalts im Oktober 1918 war es, wie alles andere auch, dort verkauft worden. 3 Oscar Bie (1864–1938) war 1894–1922 Herausgeber der „Freien Bühne – Neue Rundschau“.

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Familienbriefe 1903–1921

Frl. Susa Walter4 werde ich gern aufsuchen. Es grüßt Dich, Tante Josi und Schwester Fanny herzlich Sisi

Nr. 128 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 20.5.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Eben fiel es mir ein, daß ich [im] gestrigen Brief vollständig vergessen habe, Dir über die Netzwäsche zu schreiben. Also selbstverständlich verkaufen, verkaufen zu Deinem Besten. Ich habe hier genug Wäsche und habe die Netzwäsche überdies nie ordentlich getragen, ich mochte und brauchte sie nie. Übrigens wenn in Jerwen noch irgendwelche unnütze alte Kleider von mir, wie z. B. die öden alten Leinwandhosen (?), sein sollten – ich hab keine Ahnung davon – so verkauf sie ruhig zu Deinem Besten. – Gestern war ich auf ein Freibillet von Krüger1 hin im Deutschen Theater. Gegeben wurde „Dame Kobold“ von Calderon, übertragen von Hugo von Hofmansthal2. Es muss im Spanischen ein gutes Theaterstück sein. Aber so war die Sprache unecht, unecht die Schauspieler. Krüger war übrigens ganz gut! Er hat einen phlegmatischen, verfressenen Lakaien zu spielen, der seine Hände ewig in den Hosentaschen hat und sich von da ab und zu etwas in den Mund steckt. Der andere Lakai sah ganz genau wie unser Freund Sancho aus. Eine Dame, durch eine Geheimtür ein- und ausgehend, verübt allerlei Schabernack. Der Hidalgo sieht ein Zipfelchen von ihr, im Dunkeln, und weiß

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Sophia („Susa“) Helene Walter (* 20.2./4.3.1874 Dorpat, † 21.10.1945 Altentreptow, Lager), Schwester des Malers Dr. med. Roland Walter (1872–1919), Malerin, mit Eva in Dorpat befreundet, seit 1919 in Berlin; HAGEN, Lexikon, S. 141 f. Mehrfache Erwähnung der Familie in: Eva von RADECKI, Logbuch. Nr. 128 1 Siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 2 Die Bearbeitung von Hofmannsthal wurde am 3.4.1920 unter der Regie von Max Reinhardt im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt; Rezension in: Die Weltbühne 16/1 (1920), S. 433.

Briefe Sigismund von Radeckis

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nicht, ist es ein Weib, ist es der Teufel? Zitternd und doch unendlich belehrend ruft Sancho: aber das ist ja dasselbe! Das war der einzige Moment, wo ich wirklich herzlich gelacht habe. Sonst ist der Erfolg der Saison „Stella“, ein Schauspiel für Liebende, von J. W. Goethe. Ich selbst habe in der letzten Zeit viel Hölderlin gelesen. Und dann wieder einmal Faust II, 3. Akt. Besonders gefallen hat mir diesmal der Abschnitt von „Mit angehaltnem stillen Wüten, das euch gewiß den Sieg verschafft, ihr Nordens jugendliche Blüthen, Ihr Ostens blumenreiche Kraft“ u.s.w. mit seinem dröhnenden Rythmus bis zum herrlichen Abschluß: „Arkadisch frei sei unser Glück!“ Von Hölderlin haben mich besonders seine letzten freien Rythmen beschäftigt; besonders „Patmos“. Ich will Dir doch den Anfang hinsetzen: PATMOS Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler, und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebauten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gib unschuldig Wasser, O, Fittige gib uns, treuesten Sinns Hinüberzugehen und wiederzukehren! Es ist ein großes Gedicht, mit 15 solcher Abschnitte, wie der oben. Ich halte es für das Schönste in deutscher Sprache, denn es hat die unsagbare Schwermut, sagen wir der Eros-Skulptur im Vatikan. Und das ist das einzige, was die unmittelbare Schönheit der Gestalt noch steigern kann: die schwermütige Ahnung. Auf Wiedersehen. Ich schreibe bald wieder. Pappi grüßt alle herzlich. Sisi

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Familienbriefe 1903–1921

Nr. 129 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 26.5.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Diesmal hatten wir schönes Wetter zu den drei Pfingstfeiertagen. Ich habe die Tage ganz angenehm verbracht. Sonnabend abend war ich mit Else L.-Sch. auf einer Theater-Premiere – der ersten Premiere meines Lebens. Es war ein Stück „Die Gewaltlosen“, eine Art sozialer Allegorie und herzlich langweilig1. Zum Schluß wurde gepfiffen, was wenigstens etwas entschuldigte. Sonntag war ich mit Pappi zusammen und las ihm vor. Zuerst [fehlt] von Gigolj2 und dann einige schöne Gedichte von Trakl. Montag ging ich in die KronprinzenGalerie und sah mir mehrere Stunden lang einen Saal mit Handzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert an. Das war fabelhaft interessant. Abends ging ich zu Eduard Erdmann3 und Frau zu Besuch. Es ist der jüngere Bruder meines Freiberger Bekannten Gori Erdmann. Er ist ein hochbegabter junger Komponist und Klaviervirtuose. Du kannst Dir daher denken, daß mein Besuch „lohnend“ war. Die Frau singt sehr schön und einfach zur Laute. Ich bin sehr zufrieden über den Besuch und will ihn wiederholen. Dienstag war ich im Cafe (Cafe des Westens) mit Ludwig Hardt4 und Else Lasker-Schüler zusammen. Karl Kraus liest (kommt) übermorgen (ich weiß nicht, wann er ankommt) und wirft seine Schatten schon über die Stadt. Heute will ich telephonisch bei der „Neuen Rundschau“ mich nach dem Schicksal der „Geliebten“ erkundigen. – Mir fällt aus der neulichen Vorstellung von „Dame Kobold“5 noch eine nette Stelle ein. Der Diener des jungen reizenden Cavaliers, namens Cosme – eine Sancho-Figur –, schleppt etwas angetrunken einen ————————————

Nr. 129 1 Uraufführung des Stückes des kurz zuvor verstorbenen Ludwig Rubiner im Neuen Volkstheater. 2 Verlesen für „Gogol“. 3 Siehe Edition, Nr. 122 Anm. 4. 4 Ludwig Hardt (1886–1947), Rezitator, 1922 veranstaltete er Vortragsabende für die „Künstlerhilfe für die Hungernden in Russland“. Las auch Texte von Karl Kraus, was dieser ihm seit ca. 1922 untersagte; „Der neue Rezitator“ in: Die Fackel, Nr. 622–631 (1923), S. 74 f. Am 10.7.1919 erschien das Gedicht „Ludwig Hardt“ von Else Lasker-Schüler in: Weltbühne, 15. Jg., Nr. 29, S. 50. 5 Siehe Edition, Nr. 128 Anm. 2.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Haufen Mantelsäckl und Reisesachen herein, flucht beweglich über den Madrider Straßenschmutz und wirft die Sachen [fehlt] auf die Diele, so daß der Herr ihm wütend eine ordentliche Standpauke hält und etwas knufft. Cosme hält sich um eine brillante Verteidigungsrede, wobei er den rhetorischen Kunstgriff der Frage verwendet: Sagt Herr, glaubt ihr, dass ein „dummer betrunkener Lümmel“ diese herumliegenden Sachen mit einem Handgriff ordnen kann (tut es), daß er euch in so wohlgesetzter Rede, wie ich es tue, antworten könnte, ja daß er – hier gerät er in triumphierende Extase – sich mit freiem Anstand (tut es) ein Buch zu Hand nehmen (tut es) und geradezu ganz vertieft darin (tut es) lesen könnte??? – Das war auf der Bühne wirklich komisch. – Von Tante Anna6 sind jetzt schon Nachrichten aus Kowno gekommen, wo sie auf der Reise nach Riga, glaub ich, übernachten mußten. – Ich bin Fasanenstrasse 12 gewesen – denn eine neue Fasanenstrasse gibt es nicht, und da wußte niemand im ganzen Hause etwas über Frl. Susa Walter7, was mir sehr leid tat. Nun addio! Herzl. Grüße von Pappi und mir an Dich, Tante Josi und Schwester Fanny.

Nr. 130 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 1.6.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Ich hab Dir schon eine ganze Zeit nicht geschrieben, es ist dies nämlich eine Zeit gewesen, wo ich hauptsächlich mit Karl Kraus1 zusammen war. Also erstens: was die „Geliebte“ anbetrifft, so klingelte ich gestern bei Prof. Bie2, dem Redakteur der „N. Rundschau“, wo ich sie hingeschickt hatte, an und fragte, wie es mit dem Manuscript stände. Er fragte nach dem Titel und sagte, er würde mir baldigen Bescheid geben, den ich bis heute noch nicht habe! Er ———————————— 6

Anna von Radecki, geb. von Huhn. Siehe Edition, Nr. 127 Anm. 4. Nr. 130 1 Kraus las am 28., 29., 31.5. und am 2.6.1920 in Berlin (Bechstein-Saal); Die Fackel, Nr. 546 (1920), S. 3. 2 Siehe Edition, Nr. 127 Anm. 3. 7

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Familienbriefe 1903–1921

kann also vielleicht angebissen haben. Kommt kein Krebs, so werde ich Ende dieser Woche nochmals anfragen. Uchch – ich komme aus dem Gähnen gar nicht heraus, bin noch etwas verkatert, saßen wir doch bis tief in den Morgen zusammen. Heute war zum Schluss eine konzentrierte Gesellschaft nachgeblieben: 1) Karl Kraus, 2) Else Lasker-Sch., 3) Ludwig Hart3, 4) Fürstin Mechthild Lichnowsky4, 5) Hans Adalbert von Malzahn5, 6) meine Wenigkeit. Ich höre noch immer das entzückende Lied aus „Alpenkönig und Menschenfeind“6 in den Ohren: „Wenn ich an mein Franzl denk“, – und dann unvergeßlich: „Brüderlein rascher fließt mein Blut … fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein.“ Dann die fabelhafte Wut des Menschenfeindes, der zerbricht das ganze Mobiliar seines Zimmers und setzt dann ermattet fort: „Nun ihr Hunde, ihr vier Wände“ etc. Wunderbar war gestern auch sein Gedicht „Rückkehr in die Zeit“7 mit dem grandiosen Schluß „und wenn ich einmal auf der Bahre in unbekannte Länder fahre, dann tret in das Leben ein“. Mir zu Liebe hat er gestern „Verwandlung“ vorgelesen, nicht „Stimme im Herbst“, sondern ein neueres. Hör mal Eva, ich habe ihn jetzt schon ganz gut kennengelernt. Weißt Du, es kam so: irgendwie kam die Rede auf Nestroy (das war vorvorgestern). Und da haben wir uns, d. h. er und ich, stundenlang unsere glücklichen Nestroy-Entdeckungen ausgetauscht. Es war herrlich. Ausserdem habe ich ihn auf einen offenbaren Druckfehler in der „Fackel“ aufmerksam gemacht. Ich möchte sagen, daß ich auf letzteres beinah stolz bin, denn das Gedicht ist über ein Jahr alt, und die ganze große Fackelgemeinde hat den Fehler durchrutschen laßen, ohne was zu merken; ich glaub, er war mir für dieses Aufmerksammachen dankbar. Ach, dann war noch eine schöne Schauspielerin8 da, sie spielt „Gislind von Glonnthal“ in Wedekinds „Franziska“, und hat eine Geigenstimme. Ich glaub –, alle waren in sie verliebt; jedenfalls Karl Kraus. Jetzt spielt sie „Cecily” in „Importance of being Earnest” ———————————— 3 4

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Siehe Edition, Nr. 129 Anm. 4. Mechtilde Lichnowsky (1879–1958), Schriftstellerin, eng befreundet mit Karl Kraus. – Radecki unterhielt Verbindung zu ihr bis zu ihrem Tode. Ab 1925 war er in Kontakt mit ihr während der Wiener Aktion, Karl Kraus zum Nobelpreis vorzuschlagen. Das Umschlagbild von „Nebenbei bemerkt“ (1936) ist Lichnowskys Buch „Halb & Halb“ entnommen. Radeckis Würdigung zu ihrem 70. Geburtstag in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 67 v. 8.3.1949. Weiterhin: RADECKI, Künstlerin der Nuance – Mechtilde Lichnowsky, in: Stuttgarter Zeitung v. 28.8.1950. Hans Adalbert von Maltzahn (1894–1934), Journalist, stand in engem Kontakt zu Else Lasker-Schüler. Ferdinand RAIMUND, Der Alpenkönig und der Menschenfeind (1868). In: Die Fackel, Nr. 508 (1919), S. 72. Sitta Staub.

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von Wilde9. Heute ist die Premiere. Entzückend war es, wie sie sich beklagte, daß der Partner die Kußscene zu sehr ausnütze, er sagte ernst und ärgerlich: „die Scene ging wieder nicht gut, noch einmal von vorne!“ Der erste Abend war Freitag. Ich hatte mir schon drei Tage Urlaub genommen, denn die Nachtsitzungen wollen nachher ausgeschlafen sein. Am Eingang traf ich ihn schon zufällig, vor Beginn. „Grüß Gott, Herr von Radetzki“ – ganz angenehme Ouvertüre! Ich stand noch ganz benommen und – die Wahrheit zu gestehn – bescheidet da, als plötzlich jemand mir auf die Schulter tippt – also tatsächlich mein Chef, Kožišek10 (sprich: Pelzchen). Schließlich kam auch noch mein Bureaugenosse (aber der auf mein Zureden hin), nun und dann alle anderen. Else L.-Sch. sah aus wie der Comanchen-Häuptling Kupferschlange. Am ersten Abend las er ein entzückendes neues Gedicht11 vor, wie er träumt, daß er auf einer Kinderwiese, wo er jeden Grashalm kannte, einen alten Nashornkäfer findet, der ihm entflogen, und jetzt sei er so allein. Und wie es weiter geht, begegnet ihm ein Schmetterling, der „es ernst trieb“, und wie er ihm ins Pfauenauge blickt, so klagt der ihm, daß er solche Sehnsucht nach seinem Vater habe, und den alten Herrn nicht finden könnte, nirgends. Und wie er fragt, wer das denn sei, so kommt es heraus, dass es ein Nashornkäfer ist. Da ist er froh, daß er diesem Sohn den Weg zeigen kann, wo er seinen Vater findet. Er sagt mir später, daß [er] das wirklich einmal geträumt habe. Ganz fein, so träumen zu können. – Entzückend war es gestern, wie Gislind von Glonnthal so dasaß und der Prinz von Theben ganz schnell im Vorbeigehen ihrer Hand einen Kuss raubte und weiterging. Alle lachten vor Freude auf. – Zwei Juden, erzählt Karl Kraus, kommen nachts an einen Teich, an dessen Ufer eine trüb beleuchtete Litfaßsäule steht. Wie so, nun vor langer Weile dran herumlesend, treffen sie die Aufschrift: „Wer hier einen Ertrinkenden rettet, erhält 50 Kronen“ und beschließen, miteinander, diese edle Tat zu fingieren. Einer wirft sich ins Wasser, während der andere an der Säule stehen bleibt; schwimmt herum und fängt an, um Hilfe zu schreien, in der sicheren Hoffnung auf Rettung, welche aber, was ist das?, ausbleibt. Aus Kunst wird Natur, er brüllt ———————————— 9

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Oscar Wildes Komödie wurde erstmals 1895 aufgeführt; deutsche Übersetzungen 1903 und 1920 von Franz Blei. Jaroslav Kožisek (* 1.10.1885, † 8.7.1955), Oberingenieur und Bevollmächtigter der Siemens-Schuckert-Werke in Berlin, seit 19.3.1912 am dortigen Dynamo-Werk, viele Jahre im Vorstand des Berechnungsbüros für Drehstrom-Motoren, lehnte ca. 1930 eine Berufung an die Technische Hochschule Brünn ab; Nachruf in: Elektrotechnische Zeitschrift (A) 76 (1955), S. 717. Erschienen in: Die Fackel, Nr. 544 (1920), S. 37.

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ernsthaft um Hilfe, „Wai, was rettest du mich nicht?“ – „Da lese ich grade weiter unten: Für Bergung von Leichen werden 100 Kronen gezahlt!“ – (Das letzte muß ganz langsam und freudig erstaunt hinuntergerufen werden.) – Dann eine wunderbare Geschichte von Beethoven12. Der spielt eine Sonate so wundervoll, daß ein Jüngling und ein Mädchen sich fast schlafwandlerisch einander im selben Raum nähern, die Musik bringt ihre Liebe zu schnellem Erblühen, und sie wechseln Worte miteinander. Daß Beethoven wütend den Flügel zuschlägt und mit dem Schrei: „Für Säue spiele ich nicht!“ davonstürzt. Aber am nächsten Tage erhalten die Liebenden die Noten derselben Sonate mit einem Begleitbrief von Beethoven, wo es sagt, das, was sie gestern miteinander gesprochen, sei schöner gewesen als seine Musik. Herzliche Grüße an Dich, Tante Josi und Schwester Fanny von Sisi

Nr. 131 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 8.6.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Wie geht es Dir? Wir waren neulich mit Pappi so sehr erfreut über Deinen Brief. Pappi versprach auch hoch und teuer, „ein Sätzchen“ und mehr als das an Dich zu schreiben, aber Du weißt ja, er ist alt und müde und erfinderisch in hindernden Umständen; aber schreiben wird er doch endlich, da kannst Du sicher sein. Gestern telephonierte ich Herrn Professor Bie1 über „Die Geliebte“, er sagte Bescheid in einigen Tagen zu. In Ruhe werde ich ihn jedenfalls nicht lassen. Ich habe Dir noch den Abschluß der Karl Kraus-Woche zu berichten. Montag fand die dritte Vorlesung statt, zu Montag hatte ich auch noch Urlaub genommen. Den Sonntag schlief ich glatt durch. Durch solche kleinen Tricks gelang es mir, die Nächte mit Karl Kraus immer quick wie ein Fisch zu durchleben, während berühmte Häupter der Literatur auf die Brust

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Die Anekdote ist, zum Teil abgemildert, vielfach überliefert. Nr. 131 1 Siehe Edition, Nr. 127 Anm. 3.

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sanken. Am dritten Abend las er Sachen, die er zum größten Teil Sonnabend Nacht uns schon unglaublich schön vorgesprochen hatte. (Ich merk’ eben, daß ich Dir vom 3ten Abend auch schon geschrieben habe. Bleibt also noch der Vierte.) Der vierte Abend, der hauptsächlich auf meine und Ludwig Hardt’s2 Initiative zu Stande kam, fand im kleinen Harmoniumsaal (ca. 200 Plätze bloss)3 statt. Es kamen bloss hundert Menschen. Gelesen wurde „Hanneles Himmelfahrt“4 und Gedichte. Dies war der stärkste Eindruck, den ich von Karl Kraus überhaupt gehabt habe, zweifellos das Gewaltigste, was ich je in einem Theater erlebt habe. Ich habe nie im Leben so geweint. An einigen Stellen, so beim Gesang der Engel und am Schluß, trat leise Musik hinzu. Mit „Hannele“ fing es an. Nach Schluß der Hannele-Vorlesung klappte er das Buch zusammen und ging weg. Ich sage dies, weil man es hörte, so totenstill war es. Kein Mensch rührte seine Hand, weil keiner es konnte. Als es hell wurde, hatten alle Taschentücher in der Hand. Das ist viel, wenn draussen Autos rollen. Thränen fallen selten auf den Asphalt. Während der Pause sah es merkwürdig aus, wie jeder allein für sich herumging; keiner sprach mit dem anderen. Dann las er Gedichte vor; nur eigene. Ich hörte zum ersten Mal „Vallorbe“ von ihm gesprochen. Der zweite Teil hielt sich auf der Höhe des ersten, und das ist ausserordentlich viel. Nach Schluß klankelten wieder einige unerwünschte Anhängsel mit, die aber glücklich abgewimmelt wurden. Während das zustande gebracht wurde, ging ich mit Janowitz5 (einer vom „Brenner“) in unser altes Lokal, um die entzückende Frau Sitta Staub6, die Schauspielerin, welche auf uns dort warten mußte, zu trösten. Als aber die anderen nachkamen, war es leider schon zu spät zum Hereinkommen geworden – zwei Polypen hatten die Tür fest im Auge – und so siedelten wir höchst vergnügt

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Siehe Edition, Nr. 129 Anm. 4. Der Saal lag nahe dem Tiergarten, Steglitzer Straße 35, später Pohlstraße. Gerhart HAUPTMANN, Hanneles Himmelfahrt. Traumdichtung (1897). Hans Janowitz (* 2.12.1890 Poděbrady [Podiebrad], † 25.5.1954 New York), aus einer jüdischen Familie, Bruder des Dichters Franz Janowitz (* 28.7.1892 Poděbrady [Podiebrad], † 4.11.1917 nach Verwundung in den Isonzokämpfen), Schriftsteller, er und sein Bruder gehörten seit 1911 zum Freundeskreis von Karl Kraus, Mitarbeiter der Zeitschrift „Der Brenner“, Mitverfasser des Drehbuches für „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1920), Gründer der Berliner „Wilden Bühne“, wo seine „Asphaltballaden“ (1924) aufgeführt wurden, 1939 emigriert; SUDHOFF, in: JANOWITZ, Asphaltballaden, S. 57 f. Zusammen mit Radecki gilt er als Verfasser des Chansons „Bein ist Trumpf“; FÖRSTER, Die Frau im Dunklen, S. 28–30. Sitta Staub, geb. Levien (1895?–1954), Schauspielerin, damals liiert mit dem Schriftsteller Ferdinand Hardekopf (1877–1954).

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zu Staubs über. In ein herrliches Tiergarten-Palais7, mit unerhörtem Luxus und größter Behaglichkeit eingerichtet. Als wir am hellen Morgen gemütlich durch den Tiergarten nach Hause wandelten, fragte mich Karl Kraus noch einmal freundlich nach meiner Adresse, die er brauche, „da er mir eventuell einige Mitteilungen machen würde“. – Was kann das bloss sein? Ich bin – und Pappachen ist es mit mir – jedenfalls höchst gespannt auf das, was da kommen wird. Vorgestern, am Sonntag, war ich wieder zu Staubs geladen. Es war ganz nett. Karl Kraus war Donnerstag nach Dresden gefahren. Von da fährt er über Prag zu Wien zurück. Ich habe aus dem Gedächtnis ein Porträt von Karl Kraus gezeichnet, das sehr ähnlich gefunden wird. Es ist jedenfalls das Beste, was ich bis jetzt gezeichnet habe. Ich habe wieder mal, nach sechsmonatlicher Pause, ein Gedicht gemacht. Hier ist es: VOR DEM AUFSTEHEN Zwischen Tag und Nacht bin ich kaum erwacht – alles schläft noch, nur die Augen sind schon auf habe keine Eile, eine kleine Weile wartet noch der ganze Tageslauf In dem grauen Schimmer seh ich schon das Zimmer und ich bin so leicht und so erfüllt, zwischen Traum und Wachen, zwischen Thrän’ und Lachen lieg’ ich regungslos und eingehüllt. Grüne Vogelweise durch das Fenster leise Trägt der erste Wind mir ans Gesicht; und was ich erlebe hält mich in der Schwebe und ich liege still im Gleichgewicht. Bitte schreib mir eine gründliche Kritik darüber. ———————————— 7

Der Rechtsanwalt Hugo Staub hatte seine Wohnung in der Drakestraße 2 und seine Kanzlei im Bezirk Tiergarten in der Bellevuestraße 21; Berliner Adreßbuch 1921, S. 2971.

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Mich plagen unglaublich allerhand Zweifel. Ist das „so“ 2. Str., 3. Zeile z. B. nicht auf Credit genommen? Sollte es nicht vielleicht 3. Str., 4. Z. heißen „Was ich so erlebe“ etc. Dann: ist der „ganze“ Tageslauf berechtigt. Nun auf Wiedersehen und beste Grüße an Tante Josi, Schwester Fanny und auch natürlich an Dich von Sisi

Nr. 132 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 12.6.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! Ich schreibe Dir schon wieder, weil mein Brief durch besondere Gelegenheit befördert werden kann. Wie geht es Dir? Wir haben jetzt wieder wärmeres Wetter gekriegt; gestern machte ich einen schönen Spaziergang durch einen Teil des Tiergartens. Ich fand hier ganz unbekannte Teiche mit Inseln und schöne Bäume. Ich war vorher bei Else L.-Sch. gewesen, um ihr mein KrausBild (aus dem Gedächtnis gezeichnet)1 zu zeigen. Sie fand es zu meiner Freude sehr gut. Dann gingen wir noch etwas in eine Konditorei und aßen Erdbeertorte mit Schlagsahne. Ich bin auf die abscheuliche Idee gekommen, mit Krüger2 zusammen einen Film zu schreiben. Er hat mich dazu verführt, indem er sagte, dass er einen sicheren Abnehmer dafür habe. Heute, Sonnabend, und Sonntag soll das Unsal3 vollendet werden. Es ist eine Verfilmisierung der kleinen Novelle „[…]“ aus den […] von […]. Für alle Fälle habe ich das Ding vor allem Mal übersetzt, so kann ich es, wenn der Film nicht angenommen wird, in die kleine Insel-Bücherei geben. Der Film soll den Titel „Rache auf Eis gelegt“ führen. So kommt man auf schlechte Gedanken.

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Nr. 132 1 In Radeckis Berliner Porträtausstellung von 1929 in der Galerie Casper war eine KrausZeichnung zu sehen (Nr. 24); ERPENBECK, Mit Sigismund von Radecki in die Dreigroschenoper, S. 26. 2 Siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 3 Unglück.

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Micko und Werner schickten uns zu Mammi’s Geburtstag4 ein Päckchen mit schönen weißen Nelken. Ich will diesen Brief nicht abschicken, bevor ich nicht noch einmal bei Professor Bie5 angeklingelt habe, er sagt immer, er wolle in einigen Tagen Bescheid geben, aber nichts kommt. Ich hoffe, er hat zugeschnappt; die Erzählung ist auch zu schön und gut gebaut. Es wäre mir ganz angenehm, wenn Du mir schriebst, was Du eigentlich von Karl Kraus bei Dir hast; ebenso, wann Du im Jahre 1920 (ungefähr, wie oft) Briefe von mir erhalten hast. Ich habe alle Woche geschrieben. Die Cousinen sind jetzt schon längere Zeit aus Berlin weg; sie fühlten sich hier nicht wohl. Ich glaube, sie sind zum Sommer nach Wischen6 gefahren, wo auch Tante Amina und Tante Ella7 sein sollen. Die Karl Kraus’sche Frage nach meiner Adresse zum Abschied, denn „er habe mir eventuell einige Mitteilungen zu machen“, intriguiert mich. Mein Leben besteht jetzt daraus, dass ich „eventuelle Mitteilungen“ von Karl Kraus erwarte. Die höchst wahrscheinlich niemals erfolgen werden. Ja, was soll ich Dir noch schreiben? – Du siehst, ich habe augenblicklich nicht viel zu sagen. Wie gefällt Dir der Dichtername Promethke8? Er würde ganz gut zu Berlin passen. – Ich bewältige noch langsam die großen Eindrücke der Tage mit Karl Kraus. Verdammt, eben telephonierte ich mit Professor Bie: „das Manuscript wäre nicht geeignet und würde ihnen in ein paar Tagen zugehen.“ Das macht aber gar nichts, mein Lieschen, ich werd’ schon noch einen Kerl dazu kriegen, da sei Du ganz ruhig. Der Bie hat – das ist mein ehrliches Urteil – noch im ganzen Leben nichts so gutes geschrieben wie die „Geliebte“. [Rest fehlt, ohne Schlussformel.]

Nr. 133 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 18.6.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Eva! ———————————— 4 5 6

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Der Geburtstag war der 25.5.1855. Siehe Edition, Nr. 127 Anm. 3. Wahrscheinlich verlesen für Wiexten in Kurland, wo die mit Radecki verwandte Familie Kroeger zeitweilig wohnte. Zur Familie vgl. TILING, Familie Kroeger. Ella Lange, geb. von Radecki, eine Schwester Ottokars. Der Name „Promethke“ erscheint erst 1938 in dem Anekdotenbuch: RADECKI, Die Rose und der Ziegelstein, S. 155.

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Vorgestern erhielten wir Deinen lieben Brief und freuten uns sehr. Die verdammte „Neue Rundschau“ will „Die Geliebte“ nicht annehmen. Hellmuth Krüger1, dem ich „Die Geliebte“ zu lesen gab, war darüber im höchsten Grade entzückt. Wir besprechen mit ihm, wo man es jetzt versuchen soll. Ich werde Dir erst über Erfolg oder Mißerfolg berichten. In dieser Woche bin ich jeden Tag zu Krüger nach den Bürostunden gegangen und habe mit ihm an unserem Filmdrama gearbeitet, es war ausserordentlich amüsant. Wir verfilmen eine von den [fehlt] von [fehlt] und zwar die Erzählung [fehlt]. Ich leg mich auf die Chaiselongue, zünd’ mir eine Papiros an, und Krüger sitzt erwartungsvoll vor mir am Tisch mit gezücktem Bleistift und sieht mich mit großen Augen an. Dann muß ich immer lachen, und der Anfang ist gemacht. Ich erfinde immer die Verwicklungen, während Krüger stärker im Auflösen ist. Es erinnert glaub’ ich etwas an Dein altes Papier-Puppenspielen. Jedenfalls ist es eine wunderbare Erholung für den Kopf, wenn man 8 Stunden lang im Bureau gesessen hat. Der Scenenentwurf ist schon fertig, und man muß eigentlich nur noch das ganze etwas ausführlicher umschreiben. Ich hab’ mir schon verschiedene Filmausdrücke gemerkt, wie: „Großaufnahme“ – das heißt, eine Sache erscheint sehr nah und groß auf dem Bilde, oder: „Abblenden“ das heißt, das Bild wird allmählich dunkel und verschwindet. Als nächsten Film bearbeiten wir „[fehlt]“ von [fehlt], worauf ich mich schon freue. Schreib mir doch, ob Du einen Brief mit 2 Zeichnungen von mir erhalten hast, ein Jüngling und ein Schieber. Das angenehme beim Filmschreiben ist, daß der Sinn für das Nackt-dramatische geschärft wird. – Pappi und ich haben uns sehr über das Blatt von Mammi’s Grabe gefreut und danken Dir herzlich dafür. Ich kenn Mammis Grab ja sehr gut, bin ich doch im Sommer 1918 jeden Tag dorthin spazieren gegangen. In der Nähe ist nämlich eine ganz gute Bank mit Lehne zum Sitzen. Micko und Werner schicken mir eine russische Literaturgeschichte in 2 Bänden (Sammlung Göschen) zum Recensieren für die „Niedersächsische Hochschulzeitung“, welche in Göttingen erscheint2. Weil Werner keine Zeit hat (was er nie hat, hatte und haben wird – so ist er erschaffen). Dieser Professor Al. Brückner, der die Literaturgeschichte geschrieben hat, ist ein entsetzlich armseliger Kerl. Russisch hat er doch nicht recht gelernt, und Deutsch hat er jedenfalls vergessen. Die Kritik wird ledern zu schreiben sein, ich will mir die Sache dadurch ————————————

Nr. 133 1 Siehe Brief v. 24.8.1919; Edition, Nr. 118 Anm. 9. 2 Alexander BRÜCKNER, Russische Literaturgeschichte, 2 Bde. (Sammlung Göschen 166, 788), Berlin 1919. Über Radeckis Buchbesprechung schreibt im einzelnen auch Alma an ihre Schwester Eva; Brief v. 28.4.1920.

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interessanter machen, daß ich ganz ganz sanft schreiben will, sozusagen „Dynamit in Watte verpackt“3. Augenblicklich ist hier Kirschenzeit und ich esse täglich mein Pfund. Heute ist Freitag, und ich fühle schon die Annehmlichkeit des week-end. Vielleicht fahre ich im Juli auf anderthalb Wochen nach Göttingen4 und gebe dort einen Rezitationsabend. (Meine Ferien sind nämlich im Juli.) Dann will ich den ganzen Tag durch die Wälder laufen, zeichnen und dichten, was das Zeug hält. Ich habe gestern wieder ein Sonett gemacht, schreib es Dir aber nicht, weil es noch Fehler hat. Pappi geht es gut, und er läßt Dich sehr grüßen. Herzlichen Gruß an Tante Josi, Schwester Fanny und Dich von Sisi

Nr. 134 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 29.6.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Diesen Brief hat Eva von Radecki kurz vor ihrem Tode noch erhalten und gelesen; dazu die Todesnachricht von Fanny Rathlef an Alma Grimm v. 11.7.1920; Edition, Nr. 153

Meine liebe Eva! Wie geht es Euch in Jerwen? Hoffentlich hast Du schon das Paketchen mit den Bleistiften und den beiden Büchern erhalten. Es sollten eigentlich vier Bücher sein, aber die anderen können erst nach zwei, drei Wochen kommen. Hoffentlich freust Du dich über „Carlos und Nicolas“1 ebenso wie ich. Ich hätte Dir auch Bisquits geschickt, aber ich wusste nur noch dunkel, dass Du blos eine Sorte ertragen kannst, und hatte keine Ahnung, welche. Ich habe in der letzten Zeit ziemlich viel Zeit verloren mit dem Aufsetzen meines Kinodrame – alles natürlich gemeinschaftlich mit Krüger2. Aber da

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Zitat aus Karl KRAUS, Nestroy und die Nachwelt, in: Die Fackel, Nr. 349 (1912), S. 5. Wohnort von Sigismunds Schwester Alma von Grimm. Nr. 134 1 Rudolf Johannes SCHMIED, Carlos und Nicolas, München 11906, in zahlreichen Auflagen erschienenes Kinderbuch. Schmied war bekannter Gast in Berliner Cafés im Umkreis der dortigen Bohème. 2 Siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 4

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man die Sache angefangen hat, muss man sie auch zu Ende führen, zumal man eventuell wirklich etwas dadurch sich erwirbt. Das Wetter ist hier sonnig, aber nicht zu heiss, so dass die Stadt jetzt immerhin noch nicht so schlimm ist. Ich trage jetzt immer ein schmales Bändchen puschkinscher Gedichte mit mir herum, die ich in der Rahnestrasse gekauft habe3. Ich lese sie immer wieder und will sie vielleicht nach und nach übersetzen. Eins, das Gedicht „Tuutscha“, habe ich schon übersetzt4, aber es ist natürlich noch schrecklich weit vom Original entfernt. Das Russisch hat eine famose Menge prägnanter einsilbiger Worte und so eine fast lateinische Gedrungenheit. Ich war in der letzten Zeit öfter mit dem Bruder des im Kriege gefallenen Franz Janowitz5 zusammen. Er hat mir ein Paar wunderschöne Gedichte seines Verstorbenen gezeigt. Diese Gedichte haben eine sehr edle Sprache, man merkt etwas, aber blos indirekt, dass er ihn von den modernen Verirrungen abgehalten hat, den Einfluss von Karl Kraus. Soviel ich mich erinnern kann, fing ein Gedicht an6: Ich bin ein brennendes Haus, rot durch splitternde Fenster schlagen die Flammen des Hasses hinaus. Meine Übersetzung ist so: DIE WOLKE Du letzte Wolke vom Sturmesgewimmel! Nur du fliegst allein noch am offenen Himmel, nur du schwebst noch über uns, Schatten und Klage, nur du trübst die Freude dem strahlenden Tage. Du legtest dem Himmel so riesige Schranken und Blitze wollten dich furchtbar umranken, und redetest dunkel in donnernden Schlägen, und stillest die durstende Erde mit Regen. ———————————— 3 4

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Im Ortsteil Berlin-Kaulsdorf. Das im Brief weiter unten stehende Gedicht wurde vielfach übersetzt. Radecki veröffentlichte es unter anderem in: PUSCHKIN, Die Wolke, S. 164, und nahm es auch in seine Sammlung „Der Glockenturm“, S. 57, auf. Siehe Edition, Nr. 131 Anm. 5. Auszug aus „Stunde des Hasses“, in: Franz JANOWITZ, Auf der Erde. Gedichte, München 1919, S. 71.

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Genug doch, verschwinde! die Zeit ist hinüber, die Erde ist satt und der Sturm ist vorüber; nun blättert bloss leise der Wind durch die Bäume, nun weht er dich fort durch die ruhigen Räume. Ich wäre für Deine Kritik dankbar! Ich werde Dir ein paar schöne Gedichte von dem Franz Janowitz7 abschreiben und schicken. Nun lebe recht wohl! Herzliche Grüße Tante Josi und Schwester Fanny. Adieu Sisi

Nr. 135 Sigismund an seine Schwester Eva

Berlin, 6.7.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Eva von Radecki starb am 10.7.1920. Der Brief hat sie nicht mehr erreicht.

Liebe Eva! Wie geht es Dir, mein Schätzchen? Habt Ihr auch einen angenehmen warmen Sommer? Nun mußt Du ja wohl bald Pappis und mein Päckchen gekriegt haben. Einige Sachen kommen noch mit Frl. Krüger1, die in den nächsten Wochen fährt, nach. Bei uns hält sich eine angenehme, nicht zu heiße Atmosphäre, so daß die Stadt im Sommer nicht gar so schlimm ist. Die große Frage für mich ist, ob ich mein und Krügers Filmdrama verkaufen kann oder nicht. Wenn ja, dann kann ich auf eine Woche nach Göttingen fahren2, Dir etwas schicken, eine Hose kaufen etc. Aber wie beim Film alles Illusion ist, so wirds wahrscheinlich auch dies sein. Deine „Geliebte“ ruht augenblicklich bei Velhagen & Klasing; wer weiß, ob sie sich auch gut verstehen werden, aber nach sorgfältiger Überlegung mit Krüger schien uns dieser Ort der vielversprechendste zu sein. In letzter Zeit habe ich [mich] viel mit den Gedichten

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Wahrscheinlich ebd. Nr. 135 1 Wahrscheinlich eine Schwester von Hellmuth Krüger. Zu ihm siehe Edition, Nr. 118 Anm. 9. 2 Wohnort von Sigismunds Schwester Alma Grimm.

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des verstorbenen Franz Janowitz3 beschäftigt; das muß wohl ein ganz wunderbarer Kerl gewesen sein. Wenn ich das Buch habe – es wird mir ehrenvollst vom Verlag zugeschickt, (kostet 13, sonst 45 M) – so will ich ein paar für Dich abschreiben. Besonders schön ist eins, das heißt „Die galizischen Bäume“4. An diesen Gedichten merke ich erst ordentlich, was für ein Struntier (sprich wie Portier) ich eigentlich mit meinem Gereimsel bin. Aber es macht mir Freude = bonheur. Schade, ich habe von Dir kein Urteil über „Erwachen“ und „Die Wolke“, beides Gedichte von mir, die ich Dir schickte5, erhalten. Hoffentlich ist der Grund der, daß die Briefe verloren gegangen sind, und nicht der, daß es Dir schlechter geht. Auf deinen „Begrabenen Esel“6 (vorzüglicher Titel!) bin ich nicht wenig begierig. Las übrigens neulich wieder mal die „Krippenreiter“7 und war entzückt. Ja, ein Bruder von Krüger erzählte mit neulich mit strahlenden Augen von den „Krippenreitern“, wie sehr sie ihm gefallen. Ist der „Begrabene Esel“ da, so gibts ein feines kleines Novellenbändchen. Ich lese eben Puschkins Briefe und fühle mich wieder ganz im Bann dieses Menschen. Hier mein letztes Gedicht, mit dem ich aber nicht ganz zufrieden bin. In den beiden Vierzeilern ist zuviel Wasser, zuwenig Durst. Die Dreizeiler gehen an. FERGHANA (Turkestan)8 Die kühlen Berge und das schwüle Thal sind beide untertan den Sonnengluten: ———————————— 3 4 5 6

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Siehe Edition, Nr. 131 Anm. 5. In: Franz JANOWITZ, Auf der Erde. Gedichte, München 1919. Im Brief v. 29.6.1920; Edition, Nr. 134. Im letzten Brief der Krankenpflegerin Fanny Rathlef vom 7.12.1920 heißt es dazu: „Das Original ‚Der begrabene Esel‘ muss Ihre Tante auch mitgenommen haben. Schrieb ich Ihnen, dass Ihre Schwester, wenns mit dem Schreiben nicht recht gehen wollte, ihn ‚Der begossene Pudel‘ nannte? Ich habe in Jerwen den ‚Begrabenen Esel‘ abgeschrieben, für Kita [Kitta], und habe ihn eben bei mir, ihn noch mal abzuschreiben. Ob er nach einigen Korrekturen nicht gedruckt werden könnte?“ Die Erzählung erschien postum: Eva von RADECKI, Der begrabene Esel, in: Velhagen und Klasings Monatshefte 36/2 (1921/22), S. 389–404. Siehe Edition, Nr. 96 Anm. 5. Radecki war im Sommer 1914 kurzzeitig im Raum Ferghana in Turkestan als Bewässerungsingenieur tätig. Sein Vater Ottokar vermerkte am 5.4.1914 brieflich: „Sisi wird wohl spätestens in 14 Tagen nach Ferghana fahren.“ Sicher nachweisbar ist er dort noch im Juli 1914. Darüber schrieb er verschiedentlich und mit wechselndem Titel: Zentralasien, in: RADECKI, Schraubendampfer Hurricane; eindeutig: Turkestan, in: Danziger Volksstimme, Nr. 135 v. 13.6.1931. Weiterhin: Malaria, in: Nebenbei bemerkt; Flegeljahre des Films, in: Rheinischer Merkur, Nr. 25 v. 20.6.1952, S. 7.

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der Gletscher muß am scharfen Strahl verbluten und unten trocknet jeglicher Kanal. Die Gipfel gießen Bäche ohne Zahl, hinunter müssen sich die Wasser sputen, zwölf Stunden durch gewundne Schluchten fluten, – das Thal durchharrt den Tag in heißer Qual. Doch wenn die Bergeshäupter in der Nacht mit bleichen Stirnen in die Höhe lauschen, dann ist das Thal zur Dunkelheit erwacht, dann will es mit den Bächen Rede tauschen, die Wasseradern wollen dann mit Macht unendlich kühlend in die Herzen rauschen. Nein, es ist nicht nicht9. Ich will die beiden Vierzeiler ganz trocken legen, sonst ists zum Schluß nicht mehr, als wenn das Tintenfass umgeworfen wird. Ausserdem ist das Ganze mit lauter „der, die, das“ gespickt. Bitte zerpflück es mir, die Menschen, die sich wirklich über Literatur zu unterhalten verstehen, sind so selten. – Pappi ist wohlauf und grüßt alle herzlich. Meinen [Gruß] Dir, Tante Josi und Schwester Fanny. Auf Wiedersehn! Sisi

Nr. 136 Sigismund an seine Schwester Alma

Berlin, 18.10.1921

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Micko! Pappi ist heute morgen, am Dienstag früh, sanft entschlafen1. Schon in den letzten zwei Wochen hatten sich seine Züge recht verändert, man konnte das ———————————— 9

Im Typoskript wohl verschrieben. Nr. 136 1 Wegen Ottokars Tod brach kurzzeitig Sigismunds Kontakt zu Else Lasker-Schüler ab. In einem Brief von Ende Oktober 1921 an Reinhold von Walter fragte sie: „Was ist passiert? […] Was habe ich Sigismund getan?“; SKRODZKI, Else Lasker-Schüler, Nr. 437.

Briefe Sigismund von Radeckis

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Ende schon voraussehen. Sonntag nachmittag hatte ich ihn noch besucht. Ich traf ihn schlafend an, wollte ihn nicht aufwecken, und zeichnete seinen Kopf mit Bleistift auf ein Stück Papier; ich werde Dir das Bildchen später schicken. Er lebte in der letzten Zeit in einer eigenen Welt; zwar konnte er mich bis zuletzt erkennen, aber dann sprach er wieder zu mir als zu seinem Bruder, dann wieder als zu seinem Vater. Man kann nicht sagen, daß er sich in der letzten Zeit sehr gequält hätte: in seiner Phantasie wurde er mit allerlei Ehrungen bedacht, die er mir mit einer gewissen Zufriedenheit erzählte. – Es ist mir ein Trost, daß unser Abschied am Sonntag Nachmittag besonders herzlich war. Was die Bestattungskosten anbelangt, so wäre es mir ein schwerer Gedanke, Pappi in einem Armenbegräbnis begraben zu lassen. Ich habe mich deshalb sogleich an Rottermann2 gewandt, der mir auch sofort soviel Geld lieh, um Pappi schlicht, aber würdig begraben zu lassen. Das Grab liegt auf dem Kirchhof, der zur Wedding-Gemeinde gehört, an der Müllerstr. Die Beerdigung findet wahrscheinlich übermorgen, d. h. Donnerstag, statt. Ich stehe jetzt so allein da in der Welt, ich würde am Liebsten auswandern, um alles gründlich zu vergessen. Nun adieu, liebe Micko, und schreibe bald Deinem Sisi

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Christian Rotermann; siehe Edition, Nr. 102 Anm. 1. Sein Sohn, ebenfalls Christian genannt (* 11.3.1899 Reval, ∞ Berlin 30.9.1924), wohnte 1925 in Berlin, Meinekestr. 1; Baltisches Adreß-Buch 1925, Berlin 1925, S. 141; BORBÉLY, Gedenkbuch, S. 362.

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Familienbriefe 1903–1921

Briefe anderer Absender und Dokumente Nr. 137 Wilhelm von Radecki an seine Mutter Alma

[St. Petersburg], 5.10.1904

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original. Auf Briefpapier des Vaters mit der Adresse: St. Petersburg, Aptekarskij pereulok’ 6 1.

Liebe Mammi u. liebe Schwestern! Ich danke Euch sehr für Eure Briefe und Kastanien. Ist es Euch nicht ein bischen sonderbar im Auslande? Wir leben hier alle 3 sehr gemütlich, am Sonntag reiten S[isi] u. W[illi] bei unserem Wachmeister. Pappi hat leider in letzter Zeit starken Schnupfen, der hoffentlich bald wieder vergehen wird. Wie denkt man bei Euch über Rußland u. den Krieg2, ich glaube immer noch, daß die Russen bei Jentai siegen werden3. Die armen Krieger kämpfen ja schon 7 Tage ohne daß der Kampf auch nur einen Moment still steht. Das Wetter ist kalt u. trübe. Entschuldigt bitte, daß ich alles durcheinander schreibe. Also, Sonnabend waren wir im Cirkus, wir amüsierten uns ganz gut. Es ist wirklich unglaublich, was die Tiere doch eigentlich leisten können. Dort waren 4 Seelöwen, die bessere Jongleure sind als manche Menschen. Zuletzt gab man ihnen Fakeln4, die an beiden Enden brannten. Sie nahmen die Dinger ins Maul, und warfen sie dann so in die Höhe, daß die Fakeln sich viele mal drehten, u. fingen sie wieder auf, das machten sie viele mal. Beim dunklen Cirkus macht es sich fein. Ich lerne fleißig Englisch. Gestern wur[d]e das 25-jährige Jubiläum eines Lehrers der Katar.-Schule gefeiert. Einige Lehrer hielten Reden, sonst war nichts besonderes los. Nur das einzige gute war das, daß wir keinen Unterricht hatten u. nach Hause gehen konnten. Hoffentlich heilt Evas Hand bald zu. ————————————

Nr. 137 1 Der Briefkopf ist in russisch. Der Vater Ottokar hatte bereits 1893 diese Adresse. 2 Russisch-Japanischer Krieg seit Februar 1904. 3 Yen-Tai, Kampfort in der Schlacht bei Liaoyang in der Mandschurei vom 25.8. bis zum 3.9.1904. 4 Damals im Baltikum übliche Schreibweise für „Fackeln“.

Briefe anderer Absender und Dokumente

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In der Katarinenschule ist wirklich ein guter Turnlehrer, dort turnen beinah alle Jungen gut. Ich nehme auch Privatturnen, hier ist das also etwas ganz anderes als in d. Annenschule. Wir turnen zusammen mit der VI. Klasse. Herr Fetterlein5, so heißt nehmlich der Turnlehrer, ist so freundlich und gibt uns auch Fechtstunden. Es grüßt Euch herzlich Euer Willi

Nr. 138 Wilhelm von Radecki an seine Mutter Alma

[St. Petersburg], 21.10.1904

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki.

Liebe Mutter und Schwestern! Heute erhielten wir Eure hübschen Karten u. einen Brief von Eva. In diesem Jahr hat Sisi wieder einen neuen Winterpaletot gekriegt u. ich Pappi’s umgekehrten. Sisi kriegt eine Wintermütze aus seiner und meiner zusammen. Mir hat Pappi eine neue gekauft. Bei uns ist der Winter schon hereingebrochen. Es friert bis 4 Grad und schneit. Ihr habt wohl noch den schönsten Sommer. Im Sommer merkt man eigentlich garnicht, wie schön er eigentlich ist. Man verlebt einen Tag nach dem anderen und merkt nicht wie herrlich der Sommer doch ist. Jetzt im Winter aber bedauert man’s, dass man die schönen Sommertage so ohne dran zu denken verlebt hat. Ich habe scharf zu arbeiten; ich fang schon an mich an die Katharinenschule zu gewöhnen; wenn man mir das jetzige Leben der alten Annenschule erzählt, so merk ich erst, wie sehr ich mich an die Annenschule gewöhnt habe; und ich habe dann so ein Gefühl, welches man mit Heimweh vergleichen könnte. Ich kannte ja auch so gut alle Schüler, mit denen ich 4 Jahre zusammen gelebt habe. Heute geht Pappi zum Rigenserabend. Die alte Anna ist weggegangen; und wir haben eine Russin. A. P.1 hat ihr Rad in unserem Zim-

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Friedrich Vetterlein (* 15.4.1872), Lehrer für Turnen und Handelskunde, anfangs an der Germannschen Schule in Riga, seit 1897 Katharinen-Schule in St. Petersburg; AmburgerArchiv, Nr. 80091. Nr. 138 1 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1.

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Familienbriefe 1903–1921

mer deponiert, weil es für sie bei sich zu Hause zu unbequem ist. Es grüßt Euch herzlich Willi

Nr. 139 Wilhelm von Radecki an seine Schwestern Alma und Eva [St. Petersburg, ca. 8.2.1905] Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Liebe Micko u. Eva! Hoffentlich hattet Ihr eine gute Reise1? Ich habe mich schon ganz an die Schneeschuhe gewöhnt. Gestern waren Kotja u. Tolja bei uns. Am 8ten Februar soll ein großer Skandal bei den Studenten sein2. Heute schneit es wie toll. Ich hab’ mein Burenbuch schon fast ausgelesen u. ich werde vielleicht noch halb verrückt werden, wenn ich immer wieder höre, wie frech die Engländer sind3. Dein Willi

Nr. 140 Wilhelm von Radecki [an seine Schwester Alma] [St. Petersburg, März/April 1905] Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original. Datierung von fremder Hand: „1905 Ende März, Anfang April“.

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Nr. 139 1 Bezieht sich auf die Italienreise der Schwestern mit der Mutter. 2 Ein eingehender Bericht über Studentenunruhen und eine Versammlung an der Universität am 7.2.1905 erschien in: Rigasche Rundschau, Nr. 30 v. 11.2.1905. Hierdurch wird die Datierung des Briefes möglich. 3 Bezieht sich auf den Zweiten Burenkrieg (1899–1902).

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Liebe Makowa! Ich schicke Euch einige Bilder [fehlen alle], die ich noch mit meinem alten Apparate photographiert habe. Ich werde sie Euch ein wenig erläutern, damit Ihr auch ganz genau wißt, was sie darstellen. No 1. Pappi im Saal beim Lesen von Zeitungen; wenn ihr dies Bild genau betrachtet, werdet Ihr in der Ecke oben rechts ein Stückchen von der Palme finden; hoffentlich erkennt Ihr auch die Bilder an der Wand. No 2. A. P.1 u. Sisi am Mittagstische. No 3. Willi zielend. No 4. Sisi mit dem Apparat von Sonni, hinter Sisis Kopf ist das Repinsche Bild2 aus dem Museum Alexanders III. Vielleicht könnt Ihr es erkennen, ein Bild von Bismark ist dort auch. No 4a. Hab’ ich so dunkel gemacht, damit das Portrait von Sisi besser zu sehen ist. No 5. Sisi als lachender Huligan3 mit der Flasche. No 6. Meine Wenigkeit mit der Zigarre. No 7. Sisi als Gentleman. No 8. Willi als Gentleman. Sehet die feinen Handschuhe! No 9. Die Brüder. No 10. Mein Freund Sonni mit meinem Hut u. Rock. Sisi machte immer Unsinn, er wurde hinausgeschickt und steht in unserem Zimmer. Gott sei Dank! Das letzte Quartal hat bei mir ganz gut angefangen. Namentlich ist es mir in der „Teufelskunst“ Mathematik ganz gut gegangen. Ich schrieb ein glückliches Algebraextemporal, in dem ich alle Aufgaben richtig lösen konnte. Neulich schrieb ich das große Geometrieextemporal, 2 Stundenlang, denkt Euch doch „mehr Glück als Verstand“, von 300 Lehrsätzen bekomme ich 3, die ich kenn, natürlich schreib ich auf 5. In den anderen Fächern ist es mir bis jetzt auch gut gegangen. Das Programm Eurer Heimreise ist ja einfach famos4. Nur wär es für Euch sehr wünschenswert, daß Ihr von Catania bis Kandia5 gutes Wetter habt; eine solche Strecke während eines Sturmes zurücklegen zu müs————————————

Nr. 140 1 Siehe Edition, Nr. 2 Anm. 1. 2 Ilja E. Repin (1844–1933), führender Maler zur Zeit Kaiser Alexanders III. 3 Hooligan. 4 Die Mutter Alma befand sich mit ihren Töchtern auf der Rückreise aus Italien. 5 Damaliger Name für Heraklion, Hauptort der Insel Kreta.

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Familienbriefe 1903–1921

sen, wird Euch nicht angenehm sein, namentlich da Ihr in Kandia nur 4 Stunden bleibt und folglich wenig erholen könnt. Ihr werdet ja sogar in Asien herumbummeln. Ach so. Habt Ihr vielleicht etwas von Kaiser Wilhelms Schiffen während seines Aufenthalts in Neapel gesehen. Die „Hohenzollern“ vielleicht6? Es grüßt Euch herzlich Euer Willi

Nr. 141 Wilhelm von Radecki an seine Schwestern Alma und Eva [St. Petersburg], 31.8.1905 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Meine lieben Schwestern! Vordem ich Euch schreibe, möchte ich Euch bitten, Nina1 meinen besten Dank für ihren Brief zu Füßen zu legen u. ihr mitzuteilen, daß ich mich über ihn sehr gefreut habe u. mit allem einverstanden bin. Entschuldigt bitte das falsche Datum der Karte! In Klein-Wo. waren wir bis Sonntag d. 28. Pappi mußte direkt von Riga nach Petersb. fahren u. so fuhren wir denn allein Sonntag um 2. Wir hatten eine eigene Abteilung für uns. Dorpat passierten wir um ½ 7. In der alten Embachstadt herrschte reges Leben wegen der Ausstellung2. Eine ungeheure Menschenmenge drängte sich auf dem Perron herum. Oben auf dem Stationsgebäude steht „станция Юрьев“3. Unwillkürlich mußte ich lächeln. Von der Stadt sahen wir wenig. In Petersburg erwartete uns Pappi. Heute war der erste Schultag; es ist wirklich sehr angenehm, wenn man von den Herrn Lehrern nicht mehr als halber Mensch behandelt wird. In der Sexta führen wir ein bedeutend freieres Leben als früher, so etwas wie z. B. ein Aufgabenheft existiert überhaupt nicht mehr bei ———————————— 6

Kaiser Wilhelm kam am 5.4.1905 vor Neapel an. Dort stieg er auf die „Hohenzollern“ um. Nr. 141 1 Wahrscheinlich die Verwandte Nina von Moeller. Siehe Edition, Nr. 113 Anm. 3. 2 Nordlivländische Augustausstellung vom 26. bis 29.8.1905 in Dorpat. 3 „Station Jurjew“.

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uns. Kein Pädagog wird es sich erlauben, uns zu duzen. Ich traf alle meine Kameraden, es war sehr gemütlich, neu eingetreten in die VI. ist ein früherer Kamerad aus Riga. Wir erzählten uns unsere Erlebnisse seit damals. Ich hoffe, daß das gute Frl. Morrison4 sich nicht gekränkt fühlen wird, denn von den 20 Büchern, die sie ausgeliehen hatte, ist kein einziges gelesen worden. Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich fragt, wie mir das Buch gefallen hat. Ich kann ihr doch unmöglich sagen, daß ich zum ersten mal im Leben ein so sterbens ledernes Buch in den Händen gehabt habe. Was den Text anbetrifft, so kann ich ihr nur sagen, daß jemand einen früheren Landbesitz seiner Vorfahren zurückkaufen wollte und zu dem Zwecke sparte er u. sparte, bis er endlich so viel hatte, u. wie er es nun gerade hatte, da besann er sich eines Besseren u. kaufte es nicht, ungefähr so muss es sein. Herr Schlupp5, der frühere Turnlehrer, ist vom Kriegsschauplatz zurückgekehrt u. wird uns wahrscheinlich Fechtstunden geben, ich freu mich schon sehr darauf. Mammi ist auch sehr froh wieder zu Hause zu sein. Wir sprachen mit Väterchen viel von Euch u. freuen uns, daß Ihr Euch erholt u. Euch viel im Freien umhertummelt. Ich sage Euch, genießt das Land, so lange ihr es noch könnt, hier in der Stadt wird es Euch schwül u. öde vorkommen. Streichelt Boy etwas von mir, es freut mich, daß es ihm gut geht. Eben war Herr v. Kaull6 hier u. schwärmte uns von den Ringkämpfen vor, u. behauptete, wir hätten ihm, was man so zu sagen pflegt, einen Floh ins Ohr gesetzt. Pappi, Mammi grüßen herzlich. Grüßt bitte alle auch von Eurem Willi

Nr. 142 Wilhelm von Radecki an seine Schwester Eva

[St. Petersburg], 7.9.1905

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Liebe Eva!

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6

Siehe Edition, Nr. 12 Anm. 4. Harry Ivanovic Schlupp, seit 1901 Turnlehrer an der Katharinen-Schule, dort noch 1912, zuletzt Hofrat; Amburger-Archiv, Nr. 54577. Siehe Edition, Nr. 53 Anm. 1.

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Ich danke Dir sehr für Deinen Brief. Da Mammi ihn schon beantwortet hat, will ich nur erzählen. Wir waren nämlich am selben Abend, als Kaull1 bei uns war, in „Nemetti“2 u. sahen uns die Ringkämpfe an3. Daß Herr v. Kaull so begeistert für die Ringkämpfe ist, hätte ich mir nicht denken können, er schwärmte uns so lange vor, bis Pappi uns fragte ob wir nicht auch Lust hätten die heutigen Ringkämpfe anzusehen. Es war gerade der vorletzte Abend. Das Programm war sehr vielfältig, es kämpften 5 Paare, darunter 3 Weltmeister, nämlich Lurich4, Eberle5 (Weltmeisterschaftsringer von Deutschland) u. Vranken6 (Weltmeisterschaftsringer für leicht Gewicht). Außer diesen Berühmtheiten kämpften noch, ein französischer Champion „Pierard le Colosse“7, der arme Mann soll wegen einer Badekur sehr abgenommen haben, wiegt aber trotzdem noch seine 500 Pfd., dann der sympatische Meisterschaftsringer von Amerika, Morton8, die Petersbg. Zeitung nennt ihn nur noch „der moderne Gladiator“. Und noch einige andere Meisterringer. Herr v. Kaull, Sisi u. meine Wenigkeit machten sich also ungefähr um ½ 10 auf, da wir das vorhergehende Theaterstück nicht ansehen wollten. Wir treten in einen mit elektrischen Lämpchen sehr geschmackvoll illuminierten Garten ein, Du hast sowas ja schon im Aquarium gesehen. Sofort machte uns Kaull auf einzelne promenierende Ringkämpfer aufmerksam. In einem Gespräch mit einer Dame vertieft, stand unter einem Baume der Zyklop9. Er ist klein, aber wahnsinnig breitschulterig u. sieht scheußlich aus. Dann begegnete uns Eberle mit seiner jungen Frau, der sieht wirklich kolossal anständig aus u. hat eine hohe hübsche Gestalt. Ein Damenstreichorchester spielte verschiedene lustige Tänze, natürlich auch den unvermeidlichen „Cake walk“10. Wie sie mit ————————————

Nr. 142 1 Siehe Edition, Nr. 53 Anm. 1. 2 Nemetti-Theater in St. Petersburg, Oficerskaja 39. 3 Siehe den Bericht in der Düna Zeitung, Nr. 220 v. 6.10.1905: „Die Ringkämpfe in St. Petersburg“. Wahrscheinlich sind in diesem Brief mehrere Übernahmen aus der Petersburger Zeitung enthalten, wie eigens erwähnt wird. Zu Einzelheiten, auch den folgenden Athletennamen siehe http://prowrestlinghistoricalsociety.com/ru-1900-1909.html. – Sigismund hat für sein vielfach erschienenes Feuilleton „Internationales Ringkampf-Championat“ auf diese Erfahrungen zurückgegriffen, erstmals in: Die Neue Linie, Oktober 1934, S. 20 f.; 1936 in seinem Sammelband: Nebenbei bemerkt, S. 103–111. 4 Georg Lurich (1876–1920), aus Estland. 5 Heinrich Eberle (1873–1919), aus Deutschland. 6 Lucien Gambier (Vranken, Franken), aus Belgien. 7 Jean Pierrard le Colosse, aus Frankreich. 8 Charles Morton, aus den USA. 9 Franz Bienkowski, der „Cyclop“, aus Danzig. 10 Damals moderner amerikanischer Gesellschaftstanz zur Ragtime-Musik.

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ihrem Stück zu Ende waren, spielte eine Militärkapelle einen wüsten Marsch. Endlich war es Zeit, sich auf die Plätze zu begeben; sie waren ausgezeichnet. Der Vorhang geht auf, u. es beginnt die sogenannte „Parade“. Es erschienen nämlich, während das Orchester einen giftigen Marsch intoniert, alle Kämpfer auf der Bühne u. stellen sich halbkreisförmig auf, u. werden dann dem Publikum vorgestellt. Bei beliebten Ringern, wie z.B. Lurich, bricht das Publikum in einen dröhnenden Beifallssturm aus, darauf beginnt der Kampf u. es tritt sofort lautlose Stille ein. Der Kampf des ersten Paares ist nicht besonders interessant, ein Petersburger wird von einem Prager [?]11 geworfen. Der zweite Kampf dagegen ist was ganz anderes, ein Kämpfer aus Lodz muß sich mit dem kleinen Weltmeister Vranken messen. Ein wunderschöner Kampf, beide sind keine Fleischklumpen, sondern sehnige muskulöse Gestalten. Ein Griff folgt dem anderen, aus den schwierigsten Lagen retten sie sich, mit ihrer phänominalen Gewandtheit, noch im letzten Augenblick durch irgendeine Pirouette. Schließlich endigt dieser hübsche Kampf mit der Niederlage des Lodzers. Ich sag Dir Kaull war entzückt. Sowohl der Sieger als auch der Besiegte ernteten reichen Beifall. Unter lebhaftem Jubel von Seiten der Zuschauer betreten Morton u. der Berliner Russo die Bühne. Russo gehört zu den stärksten Menschen der Welt; Du weißt? sein Oberarm hat die kolossale Breite von 52 centm. Auch dieser Kampf verläuft sehr spannend, doch sieht man gleich, daß der moderne Gladiator seinem Gegner überlegen ist. Er zwingt Russo in die „Bank“, d. h. Russo kniet u. stützt sich auf die Hände, gerade wie ein Vierfüßler. Darauf wendet er einen Nackenhebel an, d. h. er drückt mit der einen Hand den Nacken des Russo herunter u. mit der anderen fährt er ihm unter die Brust u. läst ihn sich auf diese Art und Weise überschlagen. Russo pariert diesen Griff mit der „Brücke“, d. h. er biegt seinen Kopf so weit wie möglich zurück u. stützt sich auf der einen Seite auf den Kopf, auf der anderen auf den Beinen, die er am Knie einknickt; auf diese Weise berührt er mit den Schultern nicht den Boden, doch in dieser Stellung kann er sich nicht lange halten, denn Morton drückt die „Brücke“ ein. Darauf Eberle mit einem sächsischen Meisterschaftsringer. Nach einer halben Stunde ist der Sachse durch Eberle’s berühmtes ceinture de devant geworfen. Darauf der Coup des Abends: Lurich contra Pierar: 5 […] 29 […] kämpft gegen 12 […] 47 […]12, kannst Du Dir so was vorstellen?! Lurichs schöne Gestalt sieht geradezu zierlich gegenüber der Fleischmenge des „Colosse’s“ aus. Als ich diesen Kampf sah, da dachte ich, was würde mein Evchen sagen, wenn sie so was ———————————— 11 12

Vielleicht Stanislaus Bolowsky. Die abgekürzten Maßeinheiten bleiben unklar, wahrscheinlich Funt und Pud.

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gesehen hätte! Unerschrocken geht der russische Weltmeister dem Riesen entgegen u. bald entbrennt der Kampf mit voller Wucht. Das Publikum ist sehr besorgt um seinen Liebling, sobald es dem Publikum scheint, daß Pierar einen unerlaubten Griff unternimmt, wird er vom Publik. scharf zurechtgewiesen. Lurich hat einen kolossal ausgebildeten Brustkasten u. eine muskulöse Gestalt wie von Eisen u. kein Bäuchlein wie sein Gegner. Kaull ist für ihn begeistert. Sobald sich Lurich unter dem „Colosse“ befindet u. dieser mit seinen 12 […] auf ihm liegt, schwingt sich Lurich mit einer herrlichen Pirouette wieder auf seinen Rücken. Paarmal hebt Lurich Pierar hoch u. probiert, ihn auf diese Weise zu werfen, doch bald sieht er es ein, daß er mit bloßer Kraft seinem Gegner nichts antun kann; u. jetzt kommen eine Reihe von Tücken u. Fallen, die er dem Franzosen stellt. Schließlich nach 51 Min. u. 21 Sek. geht Pierar in eine Falle u. mit seiner letzten Kraft gelingt es Lurich, den Franzosen durch seinen berühmten „Lurichgriff“ zu werfen. Du kannst Dir nicht vorstellen, was für ein ohrenbetäubender Jubel jetzt unter den Zuschauern ausbricht. Die Damen überschütteten Lurich mit Rosen u. Buketten. Und immer u. immer wieder wurde er herausgerufen, lächelnd tritt er an die Rampe u. verbeugt sich. Auch wir gingen bis dicht an die Bühne u. betrachteten uns von nahem den Sieger. Lurich sieht sehr sympatisch aus u. ist etwa 25 Jahre alt. Herr von Kaull sagte nur „wundervoll“. Als die Elektrizität ausgelöscht wurde, beruhigten sich erst die Zuschauer. Heute ist das Championat schon ausgefochten u. Lurich hat leider nicht den ersten, sondern den zweiten Preis erhalten, weil er von Eberle geworfen wurde! Wie begeistert Petersburg von den Ringkämpfen ist, zeigt uns, daß im Theater „Olympia“ ein neuer Kampf eben begonnen hat. Diesmal wird sogar um die Weltmeisterschaft gekämpft. Es kämpfen die besten Ringer vom „Farce“13 u. d. besten von „Nemetti“. Da so viele Ringer vorhanden sind, so wird dies Championat wohl bis Weihnachten dauern. Sonntag fängt unser Reitunterricht an. Weißt Du Eva, der Kursus der Sexta ist scheußlich schwer. Mathematik allein (d. h. Algebra, Geometrie, Stereometrie, Trigonometrie u. Reissen) haben wir in der Woche 10 Stunden. Und da Du ja schon längst weißt, daß ich für Mathematik nicht grade besonders begabt bin, so wirst Du Dir schon denken können, daß es schwer ist. Aber deswegen lasse ich noch lange nicht den Kopf hängen, es wird schon gehen. Es grüßt Dich sowie Micko und alle anderen

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Im Garten Farce in St. Petersburg fanden bereits vom 8.6. bis zum 25.7.1905 ähnliche Wettkämpfe statt.

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Dein alter Kamerad und Bruder Willi

Nr. 143 Wilhelm von Radecki an seine Schwester Alma

Dorstfeld, 31.7.1910

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Heinrichstr. 2 Liebe Micko! Ich danke Dir sehr für Deinen Brief vom 26.VII.10. Ohne Eure reizende Freundlichkeit, wäre ich ziemlich in der Tinte. Ich hätte ja 108 M. schicken können, aber dann wäre ich blank, u. meine Einnahmen sind nur 3 M täglich. Dein Brief kam gerade zur rechten Zeit, gestern Abend wollte ich nach Dortmund und von da das Geld abschicken, denn der Brummbär machte mir grosse Sorgen1; während meines Nachmittagsschläfchens um 4, bekam ich Deinen Brief. Wie habt ihr das eigentlich angefangen, der gute Grimm stiftet 30 R., es ist alles gresslich peinlich. Dieser Kapp! Er hätte uns manches ersparen können, er hat mir nicht ein mal mitgeteilt, ob er meine Quittung erhalten hat. Dank bitte Grimm nur ja von mir, ich kenn leider seine Adresse gar nicht. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich bin u. wie dankbar ich Dir, Eva und Grimm bin, aber wie scheusslich peinlich mir die Sache ist, ahnst Du garnicht. Na, Schwamm drüber, die Sache wird sich schon wieder ausgleichen. – Unser Aufenthalt in Berlin mit Vaterchen war reizend. Er sorgte so rührend für uns, u. beim Abschied standen ihm bittere Tränen in den Augen2. Die 3 Tage vergingen natürlich im Fluge u. ehe wir uns versahen, waren wir wieder allein. Ich habe Pappi in Berlin paarmal abgeknippst, einmal im Tiergarten mit Sisi zusammen und einmal im Auto fahrend3. Das Aquarium in Berlin hat mir sehr gefallen, alle diese interessanten kleinen Seetierchen waren ————————————

Nr. 143 1 Der Sachverhalt der Schwierigkeiten ist unbekannt. 2 Die Auslandsreise Ottokars endete erst Mitte November, wie sich aus einem Inserat in der Rigaschen Zeitung, Nr. 260 v. 11.11.1910, ergibt: „Ottokar von Radecki ist aus dem Auslande zurückgekehrt und hat seine langjährige Tätigkeit wieder aufgenommen, St. Petersburg, Simin-Perenlok 1.“ 3 Mehrere Fotos sind erhalten.

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dort in grossen Bassins zu sehen. Vom kleinsten Seepferdchen bis zum grossen Hai u. Krokodil, alles ist dort vertreten, sogar meine früheren Freunde Butten und Aale habe ich lange Zeit beobachtet. Wir waren auch in Potsdam u. Sans Souci. Das Schloss besahen wir uns von innen ganz genau, die Zimmer, wo Voltaire gelebt hatte, Briefe von ihm u. die Zimmer Friedrichs d. Gr. Wundervolle Gartenanlagen sind vor dem Schlosse mit herrlichen Springbrunnen, ungefähr wie in Peterhof 4. Weisst Du Pfirsichbäume, Apfelsinenbäume u. echter Wein gemischt, weisst Du, und herrlich duftende Rosen. Mit einem Wort, mehr kann man nicht verlangen. Die berühmte Windmühle5 sahen wir auch, Du kennst natürlich die Geschichte vom Müller und Friedrich d. Gr. Pappi hat uns so viel von Berlin gezeigt, dass ich Dir unmöglich auf einmal alles erzählen kann. Die Reise nach Dortmund war wunderschön, den Brief an Pappi über die Reise habt ihr schon erhalten, nicht wahr. Den Rhein habe ich auch photographiert, an mehreren Stellen, sobald die Sache entwickelt ist, bekommt Ihr natürlich die Bilder. – Was Westfalen für ein Industriegebiet ist, davon kann man sich gar keine Vorstellung machen. Es sieht ungefähr so aus: Eine Stadt umgrenzt mit riesigen Vorstädten, dann 5 Fabriken auf ¼ Werst, dann 10 Eisenbahngeleise, ein Haufen Ziegeleien u. Eisengiessereien, dann wieder mehrere Eisenbahnen, dann ein Kornfeld umrahmt auf allen Seiten mit hohen Fabrikgebäuden, dann 5–10 Bergwerke, ein Städtchen umrahmt von Fabriken u. dann von vorne wieder die ganze Geschichte, es existiert hier de facto kein Land, alles Stadt u. Vorstadt. Was das Arbeiten in der Grube anbetrifft, so kann ich nur sagen, (Pardon den Dörptschen Ausdruck), dass es asig ist. Jeden Tag um 4 heraus, von 5 – ½ 6 wird eingefahren, wobei die Fördermaschine, durch d. Temperaturunterschied im Nass ist, wenn sie oben ankommt, u. einem der Rücken durch kalte Kohlentropfen durchtränkt wird. Nachdem man 700 Meter gefahren ist, geht man meistens in gebückter Haltung, durch endlose Gänge bis zum ersten Bremsberg. Das ist eine schiefe Ebene längs der die vollgeladenen Hunde der unteren Sohle, auf die obere hinauf gehaspelt werden, um von da aus von Pferden zum Schacht gezogen zu werden, u. dann mit der Fördermaschine über Tage geschafft werden. Nachdem man also mehrere lange Bremsberge in sehr gebückter Haltung hinuntergekraxelt ist, kommt man durch schmale Gänge, wo man dazwischen auf allen vieren kriechen muss, bei grosser Hitze, an das Kohlenflöz. Die Kohlenschicht, an der ich arbeite, ist 3½ Fuss hoch. In gebückter Haltung muss man nun die meist sehr harte Kohle loshacken, sprengen u. ———————————— 4 5

Zarenresidenz, 30 km westlich von St. Petersburg. Sog. Historische Windmühle von Sanssouci.

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dann in die Hunde schaufeln. Das Rückgrat macht sich dabei unangenehm bemerkbar, u. die Hände, die nicht ans Schaufeln gewöhnt sind, lassen allmählich ihre Haut an der Schaufel, abgesehen von den vielen Abschürfungen u. kleinen Quetschungen, durch grosse Kohlenblöcke. Mit der Wirbelsäule knallt man an die Querbalken, die den Einsturz verhindern sollen, mindestens 3 mal täglich immer auf ein u. dieselbe Stelle, die allmählich sehr empfindlich geworden ist. Nach acht Stunden, wenn man todmüde ist, muss man wieder die ganze Sosse hinauf kriechen, oben wäscht man sich den Kohlenstaub aus den Wunden u. schleppt sich nach Hause. Um 2 – ½ 3 essen wir Mittag (gemein), von 3–5 schlafen wir. Am nächsten Morgen um 4 ist man immer noch zerschlagen. Aber so merkwürdig die Sache ist, man gewöhnt sich doch allmählich an die schwere Arbeit, u. von Tag zu Tag erscheint sie einem weniger unbequem. Der arme Sisi hat besonders unter seiner Länge u. an seinen Händen zu leiden. – Die Sache wird jedenfalls gehen. Ein kleines Malheur mit der Förderungsmaschine nötigte uns einmal unter der Erde eine Stunde bis zum nächsten Schacht zu laufen, um die dortige Förderungsmaschine zu benutzen. Sehr angenehm nach 8 Stunden Arbeit, um ½ 5 waren wir erst zu Hause. Ein fröhliches Glück Auf! den Jervenschen. Euer Willi

Nr. 144 Silvester Rehsche an Sigismund von Radecki

Dresden, 9.7.1911

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original. Zum Absender siehe Brief v. 13.1.1911; Edition, Nr. 44.

Lieber Herr v. Radecki! Machen Sie sich bitte des Geldes wegen gar keine Sorgen, u. geben es auch erst dann ab, wenn Sie’s schon selber verdient haben: dann erst macht’s Abgeben die rechte Freude! – Ich musste meine Abreise auf Mittwoch aufschieben; Freitag folgt meine Familie, u. von Berlin gehen wir dann gemeinsam nach dem herrlichen Rügen (Binz). θἀλασσα1 – das Ewige, u. doch ewig ————————————

Nr. 144 1 Griechisch „Meer“.

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Andere – hat’s uns angethan: Gross und klein, alle schwärmen wir ja da […] u. freuen uns schon grenzenlos auf das Wiedersehn, besonders ich, denn mir ist’s doch die alte Jugendliebe, die reizvollste Erinnerung meiner Bubenzeit. – Wir haben Ihrer u. der anderen Landsleute oft gedacht u., wenn nur ein Bruchtheil unserer Wünsche für Sie alle sich verwirklicht, so müssen Sie alle ein gutes Examen machen. Wollen Sie zu den grossen Ferien nach Russland? Wenn Sie dann über Stettin gehen, machen Sie doch einen kleinen Abstecher nach Binz2, wo wir in der Villa Klünder wohnen. Wir würden uns wirklich freuen, Sie dort zu sehen. Jedenfalls bitte ich aber um ein paar Zeilen, wenn Sie durch sind mit d. Examen, es interessiert uns, aber sehr! Wie traurig, dass Kirstein seinen Vater verloren3! Mit d. Bitte, meinen Freiberger Landsleuten meine besten Grüße zu übergeben, grüsst Sie freundlichst Ihr Silvester Rehsche

Nr. 145 Alma von Radecki an ihre Schwiegermutter Johanna Kroeger Elwa, Villa Zirk, 16.6.1914 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Mein liebes, gutes altes Grossmamachen! Ich gratuliere Dir von ganzem Herzen zu Deinem Geburtstage1. Mögest Du ihn im Kreise aller Deiner Lieben fröhlich u. festlich verbringen! Ottokar erzählte uns, wie er sich gefreut hat, Dich so munter u. frisch zu sehen! Er brachte auch am 9ten Juni zu Micko’s Trauung bei Tisch Dein Wohl als Erstes aus, u. fügte hinzu, Du hättest in Riga gesagt, dass Du im Geiste bei uns

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Seebad auf Rügen. Siehe Edition, Nr. 22 Anm. 2. Heinz Kirsteins Vater war Georg Kirstein (* 8./26.11.1845 Berlin, † 21.6.1911 Riga), seit 1874 Verwalter auf Sagnitz. Nr. 145 1 Der Geburtstag von Johanna („Jenny“) Kroeger war der 18.6.1827. 3

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sein wolltest an diesem festlichen Tage2! Du u. gewiss auch viele andere der lieben Verwandten haben dieses Fest im Geiste mit uns gefeiert u. darum will ich es recht genau beschreiben. Gleich am morgen wurden mir aus einem befreundeten Garten ein ganzer, grosser Korb blühender Blumen gebracht u. ich dekorierte damit unseren leider ziemlich kleinen Saal. Der Speisetisch, der ja auch dort steht, wurde, nachdem wir noch um 12 ein ordentliches Frühstück eingenommen hatten, entfernt. Mein alter, grosser Philodendron, in dessen Schatten Micko gewünscht hatte, getraut zu werden, [wurde] in die Ecke gerückt u. einer von den Spiegeltischen aus Cremon3 nebenbei als Altar mit 2 brennenden Lichten u. Rosen-Guirlanden und Buquetten. Die Anwesenden, wir waren ja nur im ganzen 10 Personen, sollten dem Altar gegenüber auf den alten Cremon’schen Sesseln u. dem grossen grünen Sopha sitzen. So um 2 wurde unsere Eva, auf einem leichten Rahmen liegend, in ein Zimmer, das der Trauungsecke gegenüber liegt, getragen. Die Thür stand offen, und Micko u. Werner, schon ganz angethan, waren bis zur Ceremonie bei ihr. Micko sah sehr anmuthig aus. Sie hatte ein Brautkleid aus weissem Spitzenstoff-Mousselin an. Es war ganz allerliebst gemacht u. stand ihr ausgezeichnet. Den Brautschleier hatte ihr Frl. Kitta Walter4 ganz einfach um den Kopf geschlungen, und das Kränzchen darauf, das anstatt Myrthenblüthen Jasminblüthen hatte, u. meine Schwester Josi5, die ja auch eben eine Tochter verheirathet hat6, steckte noch ein Ende des Schleiers mit einem Myrthensträusschen auf der Schulter fest. Es stand ihr ganz reizend. Ihr Brautbukett bestand aus weissen Rosen u. anderen weissen Blumen. Unsere Gäste waren: Ottokar, meine Schwester Josi, der Bruder von Werner, Oskar7, Kitta Walter, Gertrud v. d. Brinken8 u. Willi. 10 Minuten nach ———————————— 2

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Hochzeit von Almas Tochter Alma („Micko“) mit Werner Grimm am 9./22.6.1914. Zur Trauung siehe Kirchenbuch Universitätskirche Dorpat; EAA, 1254.1.226, 1914–1921, Bl. 31 / 65. Wohnort der elterlichen Familie Ottokars war zeitweilig Kremon. Katharina („Kitta“) Walter, Schwester des Malers Roland Walter; mehrfach erwähnt in: Eva von RADECKI, Logbuch. Josephine von Moeller, geb. Tideböhl. Hochzeit von Anina von Moeller mit dem Lehrer Emil Woll am 24.3.1914. Siehe Edition, Nr. 113 Anm. 3. Oskar Grimm, Bruder des Bräutigams (* 1.1.1888 St. Petersburg, † ca. 1920 Kaukasus, als Flakführer an Flecktyphus), 1914 cand. iur., (Mit-)Gründer der Petersburger Korporation Hyperborea, russischer Offizier, später in der Weißen Armee; Album Normannorum, Nr. 5; Amburger-Archiv, Nr. 20189. Gertrud von den Brincken (1892–1982), Schriftstellerin.

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½ 3 kam der Pastor u. nachdem er sich mit Allen begrüsst hatte, trat er vor den Altar u. winkte dem Brautpaar mit dem Kopf. Sie traten langsam aus Eva’s Zimmer heraus, stellten sich vor ihn, u. er hielt eine wunderschöne Predigt. Der Text ist aus den Psalmen. Psl. 73, Vers 289. Willi u. Oskar als Ehrenmarschälle standen von beiden Seiten des lieben Paares. So, nach der Trauung trat leider eine ziemliche Kunstpause ein, bis Wein, Limonade u. Konfekt erschien. Ich hatte erfahren, dass Pastor Hahn10 Antialkoholiker ist, u. darum war auch Citronenlimonade vorhanden. Nach den Glückwünschen fingen auch schon die Telegramme an – sie haben nicht weniger als 30 Telegramme u. viele, viele liebe Briefe bekommen. Dann wurde der Tisch wieder hineingetragen, gedeckt u. das Mittagsmahl gehalten. Wir sassen so: Ottokar und ich an den Enden des Tisches. Mir zur Linken: der Pastor, Micko, Werner u. Kitta Walter, – mir zur Rechten Josi, Gertrud Brinken, Oskar, Schwester Fanny11 u. Willi. (Ich mein, Josi sass neben mir.) So kam es ausgezeichnet aus. – Evachen war gleich nach der Trauung in ihr Zimmer gebracht worden. Sie nickte ganz majestätisch, als sie durchgetragen wurde u. war ganz munter. – Wir hatten: Ein Hühnersüppchen mit Piroggen, Spargel, Kalbsbraten mit Salat u. Gefrorenes. Du siehst, schlicht und recht; als Getränk hatte O. eine Flasche Chateau d’Yqueem12 aus Riga mitgebracht u. dann war meine berühmte Citronenlimonade. Als erster schlug O. an sein Glas und liess Dich, mein liebes, liebes Grossmamachen leben! Dann brachte er, glaube ich, das Wohl des Brautpaares aus, dann das Wohl der lieben abwesenden Verwandten, dann Schwester Fanny, dann, glaube ich, mein Wohl – kurz schliesslich war die Gesundheit aller Anwesenden und Abwesenden ausgebracht – ich weiss nicht mehr in welcher Reihenfolge, aber alle hat O. selbst ausgebracht. Und nur einmal hat Werner gesprochen, um zu danken. Der Pastor ging gleich nach dem Braten fort. Und nun wurde es noch recht gemüthlich. Telegramme kamen u. alle waren heiter u. angeregt. Ich glaube, um 5 hörte schon Alles auf. O. musste zur Bahn, er sollte ja noch am selben Tage nach Petersburg. Es war ihm sehr schwer, uns zu verlassen! Um 6 war nur noch Josi bei uns, die mir auch am nächsten Tage packen half – denn jetzt kam der 2te.

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„Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf Gott den Herrn, dass ich verkündige all dein Tun.“ Traugott Hahn (1875–1919), seit 1902 Pastor an der Universitätskirche in Dorpat, 14.1.1919 ermordet; DBBL, S. 289; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 497. Krankenschwester Fanny Rathlef. Siehe Edition, Nr. 105 Anm. 8. Château d’Yquem, berühmtes Weingut in Sauternes südöstlich von Bordeaux.

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Theil: unser Auszug nach Elwa13. Du weisst doch, liebes Grossmamachen, dass meine Schwester Marie für Eva einen Landaufenthalt gespendet hat14 […] Wir sind ihr alle so dankbar dafür, denn die Hitze in der Stadt war dieses Jahr, wie es mir schien, besonders gross. Also Montag war die Trauung gewesen, den ganzen Dienstag über haben wir gepackt; das junge Paar hatte uns um 2 Uhr verlassen u. war schon mit den zu stopfenden Heusäcken u. Fenstervorhängen nach Elwa vorausgeilt. Mittwoch um 7 kam die Fuhre nach den Sachen. Darauf so um 1 kam eine Telephonnachricht von Werner, wir sollten doch, wo möglich, Eva gleich herausbringen, es sehe so nach Gewitter für morgen aus. Willi schaffte auch richtig das schon bestellte Auto u. um 4 fuhr Eva, auf einem Rahmen gebettet, die Schwester und Willi davon – ich mit den letzten Kissen, Matrazten usw. mit dem nächsten Zuge nach […] Dir Hanning, meinen besten Gruss, bitte sorge dafür, dass auch Ella und Helene diesen Brief zu lesen bekommen. Ich umarme u. grüsse Euch Alle meine Lieben auf’s Herzlichste u. umarme Dich liebes Grossmütterlein Deine alte Alma

Nr. 146 Ottokar von Radecki an seine Frau Alma und seine Tochter Eva Petrograd, 8.9.1914 Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Ach, theures Mütterchen und theures Evalein! Wie schwer ist das Herz, wie belastet das Gemüth. Wir waren so glücklich über unsere Jungen, – und nun ist Alles in Frage gestellt. In Bezug auf Willy besteht nur noch die Frage, ob er todt, oder verwundet, oder heil dem Feinde

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30 km südwestlich von Dorpat. Wilhelm schreibt noch am 18.7.1914 aus Walk an seine Mutter in der „Villa“. Maria von Tideböhl (* 3.10.1847, † 22.8.1919 Riga). Dazu der Hinweis auf einen Bittbrief Almas an sie in: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 382, zum 23.11.1917: „Noch 1914, vor Elwa [Sommeraufenthalt] hieß es: ‚mit Evachen geht es langsam bergab‘. Sie bat Tante Mara um Hilfe, um mir den Sommeraufenthalt zu ermöglichen.“

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in die Hand gerathen ist1. Datum vom 12. Aug. seine letzte Karte an mich: am 13. war sein Schicksal besiegelt. Ich stütze mich ja nur auf Evelis Brief an Micko über Muttis Gespräch mit den verwundeten Offizieren des 95. Regimentes. Und unser Sisi ist uns auch ganz verschwunden: am 29. Aug. erhalte ich sein Briefchen vom 21., über das Micko Euch geschrieben hat. Er schreibt da, daß er höchstwahrscheinlich eine Stelle in Taschkent bei der „Gidrografičeskaja čast“2, die ihm 200 Rbl. monatlich bringen soll, erhalten könne3 – ich solle ihm „ja“ oder „nein“ telegraphieren, ob er annehmen solle. An demselben Tage rathe ich ihm telegraphisch, anzunehmen. Am 30. spät abends erhalte ich eine amtliche Depesche, der Adressat sei aus […] abgereist. Seitdem kein Sterbenswörtchen. Ist er nun nach Samarkand gefahren oder nach Taschkent – oder liegt er krank an der Malaria? Einen Brief oder eine Depesche an die „Gidrografičeskaja čast“ zu richten, wage ich nicht, aus Furcht, eventuell Sisi zu schaden […] Herta4 werd ich heute schreiben. Lebt wohl, Ihr Herzlieben, Euer O[ttokar].

Nr. 147 Eva von Radecki an ihre Eltern Ottokar und Alma

Kajafer1, 1.8.1916

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original. ————————————

Nr. 146 1 Siehe die Schreiben zu Wilhelms Todeserklärung von August/September 1918; Edition, Nr. 149. 2 Hydrographische Abteilung. 3 Siehe Edition, Nr. 135 Anm. 8. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich von Sigismunds Schwager Werner von Grimm ein wahrscheinlich zugehöriges Typoskript erhalten hat: Wilhelm BARTHOLD, Die Geschichte der Bewässerung von Turkestan, ins Deutsche übersetzt von Werner von Grimm, Göttingen, St. Petersburg 1914 (russisch, 164 S.); Göttingen, Universitätsbibliothek, PUJ 006:m = A 2004 A 50807 (Auskunft der UB Göttingen). 4 Herta Gernhardt, Verlobte des gefallenen Wilhelm von Radecki. Nr. 147 1 Kayafer/Kaiavere, Rittergut und Dorf im Kirchspiel St. Marien-Magdalenen (nordwestlich von Dorpat), wo sich Eva zur Sommerfrische bereits seit Anfang Juni aufhielt. – Dazu Eva von RADECKI, Logbuch, S. 272 f.: „Dorpat, den 3. September 1916. Zurückgekehrt – nach einem sonnigen August […] Sisi und ich waren so ausgelassen wie in der Kinderzeit […]; das unendliche Vergnügen an K. Kraus.“ Der nächste Eintrag datiert erst vom 23.12.1916.

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Liebstes Vaterchen, meine liebes Muttichen! Prosit Monat! Euch allen beiden. Was für eine Freude habt Ihr mir durch Eure lieben Briefe gemacht. Mein guter Pappi, was für eine selbstlose Prophezeihung für Deine Kinder: Bald wird herrliches Wetter sein! So ist es auch eingetroffen. Den 2. Aug.: Gestern war ich zu müde, um den Brief fortzusetzen. Herr A. u. Sisi bestiegen gerade ihre Pferde, um einen kl. Ritt in eine Hoflage zu unternehmen. Ich sah vom Balkon aus zu. Sisi macht eine gute Figur zu Pferde. Es war sein sehnlicher Wunsch, reiten zu können, er fragte mich schon immer, was ich meine, wie viele Tage er anstandshalber abwarten müsse, ehe er mit diesem Anliegen hervortreten könne. Zur heftigen Andeutung erschien er schon eines Tages in Reithosen. Via Schw[ester] F[anny] hatte Herr A. von seinem Wunsch gehört u. machte ihm nun selbst den Vorschlag. Ich glaub, daß es Sisi hier recht gut gefällt. Mit dem Zimmer ist er zufrieden. Alle Tage bringt ihm Schw[ester] F[anny] Milch und Butterbrot zum Frühstück. Er steht um 8 Uhr auf und setzt sich nach einem kl. Spaziergang an die Arbeit. Um ½ 12 fährt er mich in den Park u. arbeitet neben mir auf einem Plaid im Grase gelagert wieder. Am Anfang hatte ich ihm den Vorschlag gemacht, ihn die Verba zu überhören. Heute bat er mich darum u. so butterten wir über eine Stunde lang zusammen im Park. Auf diese Weise kann ich mein, einmal ziemlich witzloser Weise, gelerntes Griechisch doch anwenden. (Ich kann jetzt übrigens nicht viel mehr als die bloßen Buchstaben.) Also siehst Du, mein liebes Mütterchen, laß Deine Besorgnis fürs erste fahren. Er lernt. Lieber Papi, Dein langer eigener Brief hat mich geradezu gerührt. Ich denk auch immerzu an Willi2. Dieser Riß wird nun bleiben. Ich habe wenigstens das Glück, fast jede Nacht von ihm lebhaft zu träumen. Ich wollte Euch einen längeren Brief schreiben, aber ich seh, Ihr müßt schon mit dem wenigen vorliebnehmen. Mein Kopf ist so schnell müde. Als Sisi ankam war der Trubel gerade groß. Drei Tanten, zwei Kusinen u. der Akzisebeamte thelephonisch angemeldet. Ich halt gerade den Brief von Euch, der Sisis Ankunft bei Euch meldet, auf den Knieen. Steh im Hof. Da hör ich plötzlich Postglocken. Ich denke [?], das kann doch nicht Sisi sein. Und dann: Das ist bestimmt Sisi. Richtig. Er wollte gleich umkehren, als er von mir die Situation hörte, aber Fr. A. übertraf sich selbst an Liebenswürdigkeit. Das Unmögliche wurde doch möglich gemacht u. der Beamte blieb glücklicher Weise fort. Es handelte sich

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Evas Bruder Wilhelm war 1914 gefallen.

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Familienbriefe 1903–1921

auch nur um eine Nacht, dann fuhren die Tanten fort. Die Kusinen sind in Schw[ester] F[anny]’s Zimmer untergebracht. Stille, nette Kinderchen. [Rest fehlt.]

Nr. 148 Predigt zum Tode von Alma von Radecki

24.7.1917

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. Alma war am 22.7.1917 in Dorpat gestorben. Die Einsargungsfeier fand am 24.7. in Dorpat statt. Sigismund sandte die Predigt in Abschrift an seine Schwester Alma; Brief zur „Einsargungsfeier, d. 24. Juli 1917“. Erwähnung der Predigt: Brief der Tante Josephine von Moeller an Alma v. 24.7.1920. Das Begräbnis fand am 4.8. statt; Kirchenbuch Dorpat, Universitätskirche (1914–1921), Tartu, Eesti Ajalooarhiiv, 1254.1.226; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 355, zum 4.8.1917.

[Einleitendes Gebet] Wir stehen hier am Sarge unserer lieben Heimgegangenen, und unsere Herzen, besonders die Herzen der Angehörigen, sind voll Traurigkeit. Nicht viele der nächsten Angehörigen können heute ihre liebe Entschlafene zum Friedhof geleiten – schwere Krankheit hält eine Tochter fern1, und auch die andere Tochter ist durch ihr Leiden verhindert am Sarge der Mutter zu weilen2. Auch der Sohn hat nicht erscheinen können: in gar zu weiter Ferne hat ihn die Nachricht vom Tode seiner Mutter erreicht3 […]

Nr. 149 Todeserklärung für Wilhelm von Radecki [a] Ottokar von Radecki an das Friedensgericht Dorpat

Dorpat, 28.8.1918

Tallinn, Eesti Riigiarhiiv, 4555.1.560, Bl. 2. ————————————

Nr. 148 1 Die Tochter Alma war während des Sommers im Lungensanatorium Pitkajärvi/Pitkijärwe in Finnland, das 1897 von Petersburger Kirchengemeinden gegründet worden war; Brief der Mutter an ihre Tochter „Micko“ v. 18.6.1917. 2 Eva war seit Anfang Juni zur Familie Weinberg nach Groß-Cambi umgezogen; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 349, zum 2.6.1917. Zur Familie Weinberg siehe das Personalbuch der Kirchengemeinde für Camby; EAA, 1272.1.126 (1849–1908), S. 80. 3 Sigismund war auf der Hauslehrerstelle in Iwanowskoje in Russland. Am Tage der Beerdigung, dem 4.8.1917, war er in Dorpat anwesend.

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Antrag des Ottokar von Radecki (wohnhaft in Dorpat in der Kastanienallee 6 a, St. 3) um gerichtliche Erklärung über den am 14./27.8.1914 erfolgten Tod seines Sohnes Wilhelm Otto Hellmuth Ernst Ottokar von Radecki und demnächst um Aufhebung der von der Dorpat-Werroschen Vormundschaftsbehörde eingesetzten Kuratel über den seit dem 12./25.8.1914 verschollenen gewesenen genannten Wilhelm von Radecki. – Wert der Sache: 200 Mark. An das Friedensgericht zu Dorpat Mein am 5./17. Januar 1888 zu Riga geborener oben genannter Sohn hatte bis zum Jahr 1910 in Dorpat (damals Jurjew genannt) studirt, bezog aber im Jahr 1910 die Bergakademie Freiberg in Sachsen, die er im März 1914 als diplomirter Bergingenieur verließ, worauf er nach Rußland zurückkehrte, um hier zunächst seiner Wehrpflicht zu genügen. Am 1./14. Juli wurde er in das 95. Krasnojarskische Infanterieregiment eingezogen, mit dem er von 26. Juli / 8. August 1914 gegen Deutschland in’s Feld rücken mußte. Er schrieb uns häufig, zuletzt am 12./25. August 1914; seitdem aber fehlte jede Nachricht, trotz aller Anfragen bei den kompetenten Petersburger Behörden, beim Regiment, bei der Division, beim Kopenhagener Rothen Kreuz (Abtheilung für Kriegsgefangene) u.s.w. Durch Vermittlung der Schwedischen Gesandtschaft in Berlin erhielten wir im Mai 1915 die hier beigefügte Auskunft aus dem Königl. Kriegsministerium, Berlin d. d. 10. Mai 1915, das uns die Hoffnung benahm, mein Sohn Wilhelm könnte Kriegsgefangener sein. Die erste Nachricht erhielten wir durch Frau Baronin Engelhardt, geb. Gernhardt1 aus Narwa, die dort in einem Offiziers-Lazarett einen Offizier Ratschewski gesprochen hatte, der zugleich mit meinem Sohn in das 95. Krasnojarskische Infanterieregiment eingezogen worden war und den Feldzug mit ihm bis zur Morgenfrühe des 14./27. Aug. 1914 zusammen erlebt hatte. Nach seiner, Ratschewski’s, Mittheilung an die Frau Baronin Engelhardt waren er und Wilhelm von Radecki in der ersten Frühe des genannten 14./27. August verschiedenen Angriffsabtheilungen zugewiesen worden und seitdem habe er ihn nicht mehr gesehen. Von einer Schrapnellkugel am Kopfe verwundet sei Ratschewski in deutsche Gefangenschaft gerathen, wäre auf seine Bitte wieder zum russischen Heer entlassen worden, wohin er nur deshalb gestrebt habe,

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Nr. 149 1 Annemarie Engelhardt, geb. Gernhardt (* 1889, † Berlin).

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weil er habe erfahren wollen, was aus meinem Sohn geworden sei. Die Auskunft war, man wüßte nichts von ihm. Dieses war auch erklärlich, wie sich jetzt erweist, denn die, die mit ihm gewesen waren, geriethen – soweit sie am Leben geblieben waren – in deutsche Kriegsgefangenschaft. Dieses haben wir von dem gleichfalls mit dem 95. Krasnojarskischen Infanterieregiment damals in den Krieg gezogenen Harald Tiemann2 (Dorpat, Salzstr. 2) jüngst erfahren, [der] in der ersten Augusthälfte d. J. aus der deutschen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt ist. Dieser hat in der Frühe des 14./27. August 1914 meinen Sohn Wilhelm während eines hoffnungslosen Bajonett-Angriffes (ihre Truppenabtheilung war von den deutschen Truppen umzingelt) voranlaufen und dann nach vorn fallen sehen; als er an ihn heranlief, hat mein Sohn – offenbar sehr schwer verwundet – ihm nur noch Grüße an seine Lieben auftragen können und dann hat Harald Tiemann weiterlaufen müssen, bis er schließlich in deutsche Kriegsgefangenschaft gefallen ist. Ich bitte das Friedensgericht zur eidlichen Vernehmung der beiden Zeugen nämlich 1.) der Frau Baronin Engelhardt, geb. Gernhardt und 2.) des Herrn Harald Tiemann, den Termin auf Donnerstag den 29. August, 10 Uhr Vormittags ansetzen zu wollen (ich werde beide Zeugen zu Gericht stellen) und nach deren eidlicher Vernehmung auf Grund ihrer Aussagen und der hier beigefügten Urkunden: I. meinen Sohn Wilhelm Otto Hellmuth Ernst Ottokar von Radecki für am 14./27. August 1914 gestorben erklären zu wollen, und II. demzufolge die von der Dorpat-Werroschen Vormundschaftsbehörde bestellte Kuratel über meinen verschollen gewesenen Sohn aufheben zu wollen. Hierbei drei Belege: 1. Geburts- und Taufschein für Wilhelm von Radecki. Auszug Riga, den 4. April 1915, Nr. 428. 2. Bescheinigung: Dorpat-Werrosche Adlige Vormundschaftsbehörde v. 27.8.1918, Nr. 22, daß der Rechtsanwalt Adolf Walter3 in Dorpat zum Kurator des verschollenen Wilhelm von Radecki ernannt worden ist.

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Harald Tiemann (* 29.9.1896 Laisholm/Dorpat). Die Familie lebte spätestens seit 1913 in Dorpat. Haralds Bruder Richard ist ebenfalls im Kriege gefallen. Adolf Walter (* 29.8.1889 Hinzenberg, † 24.6.1956 Berlin), 1908–1912 stud. jur. Dorpat, seit 1916 Rechtsanwalt in Dorpat, 1919 in Greifswald, 1921 in Berlin, I. ∞ Riga 1.9.1915 Irene Bergengruen; II. ∞ Irmgard Böll; Album Fratrum Rigensium, Nr. 1121.

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3. Postkarte v. 10.5.1915 Berlin, Kriegsministerium Zentral-NachweiseBureau, Ref. III. Dorpat, den 28. August 1918 (gez.) Ottokar von Radecki

[b] Beschluss des Friedensgerichts Dorpat

Dorpat, 29.8.1918

Tallinn, Eesti Riigiarhiiv, 4555.1.560, Bl. 11.

Aufhebung der Curatel für den am 14.8.1914 verschollenen Wilhelm von Radecki. Az. X-6-1918. Verkündet am 29.8.1918. Cand. jur. Schwarz als Gerichtsschreiber Beschluss Am 29.8.1918 hat das Friedensgericht Dorpat, vertreten durch den Friedensrichter Hasselblatt4, als Richter, cand. jur. Schwarz, als Gerichtsschreiber in der Sache bezüglich der Aufhebung des Curatels über den seit dem 14.8.1914 verschollenen Wilhelm von Radecki verhandelt. In seinem Gesuch vom 28.8.1918 hat der Antragsteller Ottokar von Radecki beantragt 1) seinen Sohn Wilhelm von Radecki für gestorben zu erklären und 2) die von der Dorpat-Werroschen Vormundschaftsbehörde bestellte Curatel über den verschollenen W. von Radecki aufzuheben. Das Friedensgericht befand, dass durch die Beweisaufnahme vom 29.8.1918, sowie durch die Mitteilung des Preussischen Kriegsministeriums, Central-Nachweis-Bureau, Referat III vom 10.5.1915, einwandfrei erwiesen worden ist, dass Wilhelm von Radecki am 14.8.1914 gestorben ist. Auf Grund dessen beschliesst das Friedensgericht, anzuerkennen, dass durch die Beweisaufnahme vom 29.8.1918, sowie durch die Mitteilung des Preussischen Kriegsministeriums, Central-Nachweis-Bureau, Referat III vom 10.5.1915 einwandfrei erwiesen worden ist, dass der dipl. Berg-Ingenieur Edelmann Wilhelm-Otto-Helmuth-Ernst Ottokar von Radecki, geboren am 5.1.1888, in der Schlacht gegen die deutschen Truppen am 14./27.8.1914 als Freiwilliger des Krasnojarskischen Infanterieregiments gefallen ist, dass die vorliegenden Nachrichten über sein Ableben an diesem Tage als bestimmte ———————————— 4

Werner Hasselblatt (* 10.6.1890 Dorpat, † 24.1.1958 Lüneburg), Rechtsanwalt und Friedensrichter in Dorpat; DBBL, S. 302; HARTMANN, Erinnerungen, S. 113, 177.

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Familienbriefe 1903–1921

anzusehen sind und dass daher in Gemässheit d. Art. 522 P. 2 d. Pr. R. die Curatel für den Abwesenden aufzuheben ist5. (gez.) Hasselblatt Friedensrichter

[c] Sigismund an das Friedensgericht Dorpat

Dorpat, 7.9.1918

Tallinn, Eesti Riigiarhiiv, 14.15.1428, Bl. 6

An das Friedensgericht Dorpat Gesuch des Sigismund von Radecki Als Sohn des Antragstellers O. von Radecki bitte ich, mir die Ausfertigung des Protokolls und des Beschlusses einhändigen zu wollen. Es handelt sich um die Todeserklärung meines Bruders Wilhelm von Radecki. Sigismund von Radecki 2 Ausfertigungen erhalten: [gez.] S. von Radecki, Dorpat, am 7. Sept. 1918

Nr. 150 Vorankündigung einer öffentlichen Lesung Sigismund von Radeckis in Riga 17.6.1919 Rigasche Zeitung, Nr. 19 v. 17.6.1919, S. 6.

Ein Vortragsabend zum Besten der Hinterbliebenen der Gefallenen in der Stoßtruppe soll Donnerstag, den 19. Juni, um 8 Uhr im Turnsaal der Börsenkommerzschule1 stattfinden. Herr Sigismund von Radecki, Freiwilliger der Stoßtruppe2, der in kleinerem Kreise schon wiederholt mit großem Er-

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Wilhelms Todesanzeige erschien daraufhin am 3.9.1918 in der Dorpater Zeitung. Nr. 150 1 Heute Kunstakademie Lettlands. Wurde damals auch als „Kriegslazarett 124“ genutzt. – Dazu Sigismunds Brief an seine Schwester Eva v. 15.7.1919; Edition, Nr. 116. 2 Radecki war der Stoßtruppe am 18.12.1918 beigetreten.

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folge vorgelesen und rezitiert hat, hat ein fein erlesenes Programm zusammengestellt, das in manch älteren und neueren Dichter einführen soll, dessen Schönheiten in unserer Mitte noch weniger bekannt sind. Während der erste Teil des Abends einige besonders feine Partien von Jean Paul und über Jean Paul, auch eine höchst zugkräftige Posse des Wiener Schauspielers und Dichters Nestroy bringt, ist der zweite Teil ganz modernen Dichtern gewidmet. Hier kommen feinsinnige Skizzen von Peter Altenberg, lyrische Gedichte von Stephan George, Liliencron und anderen Modernen zum Vortrag. Namentlich soll auch die Bekanntschaft mit einigen Dichtern der allerletzten Jahre vermittelt werden, die, ohne Kriegslyriker zu sein, doch erst während des Weltkrieges berühmt geworden, bei uns aber noch ziemlich unbekannt sind. Zu ihnen gehört der interessante Karl Kraus mit seiner gewaltigen Formbegabung. Möge der Vortragsabend starken Zuspruch finden, er hat jedem Empfänglichen was zu bieten. Eintritt 1 Rbl. Ost3, Überzahlungen werden mit Dank entgegengenommen. Der gute Zweck läßt jede weitere Aufforderung zur Unterstützung des Unternehmens überflüssig erscheinen.

Nr. 151 Eva von Radecki an ihren Bruder Sigismund Sommerpahlen, 20. und 25.9.1919 Marbach, Deutsches Literaturarchiv, Nachlass Sigismund von Radecki.

Herrn Sigismund von Radecki Jelgawa /Mitau, Grünhofsche Str. 19 Gartenhaus. Latwija1 Schreib nur wieder, bitte!! Mein lieber Sisi! Eben legte ich ein Fackelheftchen aus der Hand, wollte es umkehren – u. wieder von vorn beginnen: „In dieser großen Zeit“2 – da fiel mir ein, ich ———————————— 3 Rubel Ost, Bezeichnung für die Währung in den deutsch besetzten Ostgebieten. Nr. 151 1 An diese Adresse schrieb Eva bereits aus Jerwen am 2.8.1919 an ihre Schwester Alma Grimm. 2 Am 19.11.1914 hielt Kraus seine erste Vorlesung im Ersten Weltkrieg. Sie begann mit einer Anrede „In dieser großen Zeit“; Die Fackel, Nr. 404 (1914), S. 1.

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schreib lieber gleich an Dich, ich hab es schon so lange hinausgeschoben. Ich hoffte immer noch auf einen Brief dazu, aber der kam nicht. Ich dank Dir für die beiden Hefte3, das war ein Genuß. Ich zögerte eben mit jedem Wort u. jedem Satz, um ihn mit Entzücken zu wägen u. auszukosten. Jeden Augenblick kommt eine Überraschung, so ist es wirklich eine sehr aufregende Lektüre. Noch einmal, Herzensbruder: ich bin Dir so dankbar. Es verblüfft mich, neben anderm, wie dieser Mensch die Wahrheit jeder Situation trifft, andere nebeln, er weiß wie es hergeht. Er hat diese wunderbare Anschauung des lebendigen Lebens, in großen u. kleinen Dingen, daß er sogar weiß, daß der Wind Mist zum Wachtfeuer weht4. Und köstlich diese Wahrheit benutzt. – Weißt Du, wie herrlich ist dann z. B. seine stark stilisierte Gestaltung, ich denke an den Mord im Hotel (aus einem Winterheft)5, das er bildlich dramatisch wiedergibt. Ach, denke an das Publikum, das die Szene mit einigen „Schwimmtempi des Entsetzens“6 begleitet! Und dies sind ja nur Tropfen geschöpft aus einem Meer. – „Gebet an die Sonne zu Gibeon“7, was das für ein Geschrei darin ist! Ich erschrak zu Tode, als plötzlich das Geschrei losbrach! Ich sag nichts über den Eindruck seiner ganzen Persönlichkeit, ich verfüg nicht über die Worte, aber man hat einen Punkt in dieser verkehrten Welt, wohin man sich richten kann, mit der Gewißheit, nicht betrogen zu werden. Was schadet es, daß er sich auch irrt. – Herzensbrör8, hier erstickte mein Brief in seinem eigenen Fett. Darauf wurde ich krank u. zog mich in mein Bett zurück, wo ich jetzt noch bin u. mich von der Anstrengung des Existierens einmal etwas erhol. Heute ist für mich Geburtstag, Ich hab das ganze Bett voll Briefe von Euch, das ich mit ihnen nur so klimpern kann. Endlich auch einer von Dir – „D-Zug Berlin – Kberg“9. Ich war so gerührt, daß Du an mich gedacht hast in der Nacht „wie oft“, ich kann Euch nicht sagen, was mir Eure Liebe bedeutet. Wie es heißt: „Deine Güte ist besser denn Leben“10. Was schadet Einsamkeit, schlecht Wetter, Krankheit u.s.w., wenn ich weiß, daß Ihr „wie oft“ an mich denkt und mich lieb habt. Das geht wirklich über alles Verdienst u. Würdigkeit. – Was Du Dir mit dem Märchen für Müh’ gegeben hast! Ich bin sehr glücklich, daß man „noch [mehr]“ haben will. Aber ich ———————————— 3 4 5 6 7 8 9 10

Hinweis auf die Zusendung der Hefte im Brief v. 17.9.1919; Edition, Nr. 119. Die Fackel, Nr. 423 (1916), S. 43. Die Fackel, Nr. 378 (1913), S. 63. Die Fackel, Nr. 484 (1918), S. 53. Die Fackel, Nr. 423 (1916), S. 21. Herzensbruder. Brief v. 24.8.1919; Edition, Nr. 118. Psalm 63, 4.

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Briefe anderer Absender und Dokumente

glaub nach Weihnachten od. erst im Frühling werd ich beide Sachen fertig haben. Je nachdem ich arbeiten kann. Kaum komm ich recht in’s Feuer, verbrennt es mich auch schon wieder zu Asche, dann lieg ich da, nicht fähig, auch nur eine Postkarte zu verfassen. Aber was Du schreibst, hat mir doch wieder Mut gemacht, ich will recht brav sein. Fast hoff ich, es könnte Dir dies u. das aus dem einen fertigen (es ist noch nicht ganz fertig) gefallen. Das ist auch meine ganze Freude, was Ihr dazu sagen werdet. – Denk, ich hab Nina11 gebeten, die Märchen, Pappis Exemplar, womöglich – in Stuttgart anzubringen, sie hat dort Bekanntschaften. Hattest Du auch Pappis? Wenn nicht, so kann am Ende was Schlimmes daraus werden, wenn auch wohl nicht anzunehmen ist, daß beide angenommen werden, im Gegenteil, so können die Leute doch Ärger zum Dank für ihre Mühe haben. Kannst Du nicht, da Du die Sache überschaust, Nina eine Karte schicken, wenn nötig (Balzhofen, Amt Bühl, Baden, Fr. Woll). Ich bekam vorgestern 1 Brf. von Pappi aus Hamburg (Hauptpostlagernd). Den 1. in 11 Monaten! Er konnte leider in N. Ochth.12 nicht länger bleiben. 100 M., die ich im Auslande liegen hatte, erreichten ihn kurz vor der Abreise nach H. Er besaß nur noch 50 M.! Nun wollte ich ihm das event. Märchengeld auch schicken. Dann hoff ich ihm bald noch 200 M. zukommen zu lassen. Ich sorg mich nämlich sehr um ihn, so allein in der Fremde! Du armer Jung, wie sollst Du alles beschaffen! Hinterlaß Deine Adresse im Gartenhaus, wenn die Kinder fortgehn. In dankbarer Liebe, Deine Schwester Eva

Nr. 152 Ottokar von Radecki an Werner und Alma Grimm

Berlin, 25.6.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Berlin-Wedding, Schönwalderstr. 21, Hospiz Meine lieben Kinder!

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Nina Woll, geb. von Moeller. Siehe Edition, Nr. 113 Anm. 3. Vielleicht Nieder Ochtenhausen (ca. 5 km nordöstlich von Bremervörde).

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Familienbriefe 1903–1921

Gott sei Dank, daß ich endlich wieder schreiben kann. Ihr seid immer so freundlich gegen mich gewesen mit Euren Geschenken, während ich Euch nichts schicken konnte. Euer Bismarck hängt an der Wand neben meinem Bett und gern begrüße ich ihn morgens, nicke ich ihm abends mein Gutenacht zu. Die schönen Plätzchen und nun gar die lieben weißen Nelken, doch auch schon die früheren Blumen haben mich sehr erfreut, übrigens auch wehmüthig gestimmt, da ich damals noch immerfort im Bett lag. Jetzt bin ich schon draußen gewesen, habe meine Popenhaare (ganz das Schreiben verlernt1!) abnehmen lassen, Postmarken, 3 Cigaretten gekauft. Aber nun zu Euch, meine lieben Kinderchen. So geht es wirklich nicht mehr lange weiter. Wenn Ihr auch Lebensmuth behaltet, – die Körperkräfte werden schließlich versagen. Daß ich zunächst so gar nicht helfen kann, wißt Ihr. Aber Du bist doch Bibliothekar, mein alter Werner. Bitte schreibe mir, welche Schritte Du gethan hast, um auf die altgewohnte und ererbte Bahn zurückzugelangen? Versagt denn Dein alter Gönner? Das weiß doch jeder gebildete Deutsche, daß die Grimm’s Bibliothekare sind2. Hast Du Fühlung mit Eurer Univ.Bibl.? Zu Deinem hiesigen Gönner3 zu gehen, erbiete ich mich von Herzen gern, auch zum Minister – das ist mir doch eine altgewohnte Sache und ich bleibe ruhig, bin indringlich: Mensch gegen Mensch. Ich müßte nur einige alternative Wünsche von Dir erfahren, vielleicht Vakanzen. Mein Mickelchen, Du hast’s auch schwer genug und […] schöne Bibliothekarsstelle gibt mehr Möglichkeiten. Daß Sisi die Absicht hat, Euch im Juli zu besuchen, freut mich sehr. Er ist ein lieber Junge. Nun, heute soll endlich die Gelegenheit abgehen, die Sisi’s und meinen gesamten Junizucker und sonst noch was für Eva mitnimmt. Ich kann jetzt nur durch Absparen ein Geschenkchen ermöglichen, als ich Kind war, gab es im Ganzen auch nur diesen Weg. Von meinen Plänen schreibe ich nicht – ungelegte Eier. Daß Du, meine liebe alte Micko, nicht müde geworden bist, mir zu schreiben – Gott lohn es Dir. Ich bete Abends und Morgens so innig für alle meine Lieben und

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Nr. 152 1 Erklärende Anmerkung, weil „Popenhaare“ überschrieben ist. 2 Werners Großvater Alexander (1819–1884) war unter anderem Leiter des Münzkabinetts der Eremitage und Privatbibliothekar des Zaren. Sein Sohn Richard (1847–1913) wurde 1885 sein Nachfolger als Bibliothekar. Zu Oskar Grimm siehe Album Normannorum, S. 37. 3 Sehr wahrscheinlich der Staatsrechtler Hans Helfritz (1877–1958), der Grimm zu einer Bibliothekarsstelle an der Landesuniversität Dorpat verholfen hatte und seit 1919 im Wirtschaftsministerium in Berlin tätig war.

Briefe anderer Absender und Dokumente

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bitte auch um Gottes Frieden für Euch alle und auch für mich. Gott segne Euch, liebe Kinder. Euer alter Vater.

Nr. 153 Fanny Rathlef an Alma Grimm (Auszüge)

Jerwen, 11.7.1920

Eva von RADECKI, Logbuch, S. 540–543. Anmerkung am Beginn: „Im Original an dieser Stelle zwei kleine getrocknete Blüten und die Worte ‚Von Eva für Sie gepflückt‘.“

Meine liebe Frau G[rimm]! Ich habe Ihnen etwas sehr Trauriges zu sagen: Ihre liebe kleine Schwester1 ist gestern, am 10. Juli, gestorben. Es kam schnell und unerwartet […] Seit die Soldaten da waren2, ist sie nicht mehr zu Kräften gekommen […] Was ihr immer große Freude machte, waren Ihre Briefe. Die erwartete sie mit Ungeduld und las sie mehrere Mal. Ihren letzten Brief vom 27. VI. konnte sie nicht mehr lesen […] Es war am 10-ten. Drei Tage vorher bekam sie vom Vater und Bruder Briefe, den II. hat sie noch mühsam gelesen, sie freute sich über versprochene Bleifedern und 1 Buch, aber des Vaters Brief las sie nur zum Teil, er schien ihr Mühe zu machen […] Sie war ohne Besinnung. Ich rief ihre Tante3 und bat sie, nach dem Arzt zu schicken. Ihre Tante ließ anspannen, und da sie niemand fand, fuhr sie selbst nach Sommerpahlen, von dort sollte nach Werro gefahren werden […] Um acht Uhr atmete sie nicht mehr […] Ich kann Ihnen garnicht sagen, wieviel auch ich verloren habe. Sie ist 7½ Jahre meines Lebens Freude und Trost gewesen. Ihre arme Tante kam zurück,

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Nr. 153 1 Eva von Radecki. 2 Sigismund von RADECKI, Einleitung zu: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 30: „Leider war im Sommer 1919 ein Teil des Jervenschen Hauses von estnischen Soldaten besetzt, was für meine damals schon sehr schwache Schwester nicht leicht zu ertragen war.“ Zur Lage und Entwicklung der Hofstelle und Villa in Jerwen vgl. HARTMANN, Erinnerungen, S. 287 (mit Foto). 3 Josephine von Moeller.

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Familienbriefe 1903–1921

als alles vorbei war […] Heute kamen ihre Bekannten: erst die 2 kleinen Mädchen, mit Sträußen, dann Fräulein Plato4 und Liddy5, jetzt am Nachmittag Nänni6, die sehr weinte. Ja, gestern Abend spielte Ihre Tante 2 Choräle […] Wir haben Sarg und Kreuz vom Sommerpahlenschen Tischler bestellt und denken morgen durch die Nacht zu fahren. Wir wollen sie gleich in die Kapelle bringen, und wenn möglich, Dienstag Abend die Beerdigung vollziehen, Natürlich neben der Mutter7 […] Schwester Fanny

Nr. 154 Josephine von Moeller an Alma Grimm (Auszüge)

Dorpat, 14.7.1920

Münster, Westfälisches Literaturarchiv, Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki. – Original.

Adresse: Frau Alma Grimm, Göttingen, Wilhelm Weberstr. 17, Saksamaa. Liebe, arme Micko, ohne unser süsses Kind müssen wir nun weiter wandern […] Um 6 Uhr Abends konnte Pastor Gruehn1 sie beerdigen […] Die warme Rede des Pastors schicken wir Dir. 16. Juli: Gestern kam noch 1 Brief vom guten Sisi2. Ich konnte ja nicht telegraphieren […] da schrieb ich gleich an euren Vater u. dann nimmt 1 Herr, der nach Stettin (Sonnabend) fährt, das Telegramm mit u. giebt es in

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Wahrscheinlich Irma Hulda Plato (* 12.4.1883 Dorpat, † 1928?), Tochter des Verwalters Joseph Plato. 5 Kinderfrau auf Gut Sommerpahlen bei Familie von Moeller; Sigismund von RADECKI, Einleitung zu: Eva von RADECKI, Logbuch, S. 16. 6 Nänna, zeitweilig Kindermädchen bei Radeckis, später Köchin in St. Petersburg; ebd. 7 Auf dem Alten St. Johannis-Friedhof in Dorpat; Kirchenbuch Dorpat, EAA, 1674.2.339, Nr. 2187 (Alma von Radecki, geb. von Tideböhl); Nr. 2188 (Eva Luise von Radecki). Nr. 154 1 Werner Gruehn (1887–1961), 1908–1914 stud. theol. Dorpat, 1918–1927 Oberlehrer in Dorpat, seit 1918 Pastor, später Dozent in Dorpat; NEANDER, Lexikon, Nr. 224; Eva von RADECKI, Logbuch, S. 536, zum 11.8.1919. 2 Der letzte bisher nachweisbare Brief an Eva vom 6.7.1920; Edition, Nr. 135.

Briefe anderer Absender und Dokumente

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Stettin auf […] Ach, wie wird es euch alle schmerzen u. der arme Sisi hat auch an ihr eine solche Freundesseele verloren; wie liebte sie euch, wie hat sie eure Briefe genossen, ich bin froh, dass ihr so häufig schriebt, es war wirklich ein Verkehr, sie hat alles so miterlebt, auch besonders Sisis Glück mit Karl Kraus3, Du weisst, wie innig sie mit euch verwachsen war […] Deine alte Tante Josi.

Nr. 155 Einvernehmung Sigismund von Radeckis durch die Stadtpolizei Zürich 5.11.1946 Bern, Schweizerisches Bundesarchiv, E4301#1992/36#664*, Az. 197466, von Radecki, Sigmund, 1891.11.19, D, 1946–1953. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Archivs.

Stadtpolizei Zürich

Zürich, 5.11.1946

Es erscheint vorgeladen auf dem Büro 329: von Radecki, Sigismund, Arnold, Ottokar, deutscher Staatsangehöriger, geb. 19.11.1891 in Riga, des † Ottokar & der Alma geb. von Tideböhl, ledig, dipl. Bau-Ing., und Schriftsteller, wohnhaft Neptunstr. 74 Zürich 7 und erklärt auf Befragen zur Person: „Bis zu meinem 10. Altersjahr hielt ich mich in Riga und anschliessend bis 1908 in Petersburg (Leningrad) auf. Am letzterwähnten Aufenthaltsort besuchte ich die einzige Schule, an welcher deutschsprachiger Unterricht erteilt wurde. Es betraf dies die St. Annen- & später die St. Katharinen-Schule. Mein Vater war Jurist und Vertreter der Stadt Riga in Petersburg. Nachdem absolvierte ich 2 Semester in Dorpat in Mathematik & Physik. An der Hochschule in Freiberg / Sachsen studierte ich noch 3½ Jahre. Das Studium schloss ich an Weihnachten 1913 als Dipl. Bergbau-Ingenieur ab. Bis September 1914 stand ich in einem Vertragsverhältnis mit der russischen Regierung als Bewässerungs-Ing., weshalb ich mich in Zentral-Asien aufhielt. Durch den Ausbruch des Krieges wurde meine Tätigkeit unterbrochen. Durch die deutschfeindliche Einstellung der Russen zog ich mich zurück und verdiente meinen

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Siehe Brief v. 8.6.1920 mit dem Bericht über die Kraus-Lesungen in Berlin; Edition, Nr. 131.

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Familienbriefe 1903–1921

Unterhalt als Hauslehrer. In der Folge ging ich wieder zu meinen Eltern nach Dorpat. Dies war mir umsoeher möglich, als das fragliche Gebiet damals durch die Deutschen besetzt war. Durch die eingetretenen Revolutionen in Russland und Deutschland war ein weiteres Verbleiben an meinem damaligen Aufenthaltsort unmöglich, weshalb ich schliesslich nach Berlin reiste, wo ich folglich in Fa. Siemens eine Stelle als Elektro-Ingenieur bekleidete. Bis 1923 arbeitete ich auf meinem Berufe. Während einer Saison war ich Schauspieler und vom Frühjahr 1924 an betätigte ich mich nur noch schriftstellerisch. Bis zum Jahre 1920 besass ich die russische Staatszugehörigkeit. Da ich nicht Sowjetrusse werden wollte, wurde ich staatenlos und erhielt später einen Nansenpass. Von 1924–1940 lebte ich in Berlin mit Unterbrüchen von 2 Jahren, während denen ich in Paris und Wien lebte. Es war dies in der Zeit vom Spätherbst 1924 – Herbst 1926. Während der angeführten Zeit des Berliner-Aufenthaltes betätigte ich mich ausschliesslich als Schriftsteller. Meine Spezialgebiete sind die Veröffentlichung kleiner Skizzen (Essayist) und zudem bin ich als Übersetzer in englischer, französischer und russischer Sprache bekannt geworden. Ich habe bis jetzt 15 Bücher veröffentlicht. Es handelt sich um schöngeistige Literatur. Seit 20 Jahren arbeite ich für die NZZ1, ausserdem seit längerer Zeit für den Scientia A. G. Verlag; Conzett & Huber; Verlag der Arche. Ich darf erwähnen, dass ich gegenwärtig der beste Übersetzer der russischen Sprache bin. Als die Bombardierungen anfingen, übersiedelte ich von Berlin nach München, wo ich dann durch die deutsche Wehrmacht als Dolmetscher eingezogen wurde. Wegen Angina pectoris wurde ich als WU2 bezeichnet und im Herbst 1941 entlassen. Im Juni 1942 verzog ich nach der Insel Usedom zu einem Freund, bei dem ich bis 25.3.1945 lebte. Durch das Herannahen der Russen verliess ich den Aufenthaltsort und flüchtete nach Aumühle in der Nähe von Hamburg. Durch einen Artillerie-Angriff der Engländer kurz vor dem Fall Hamburgs wurde ich schwer verletzt und musste deshalb während 9 Monaten in einem Spital in Bergedorf interniert werden. Im Herbst 1944 gelangte der Verlag „Die Arche“ an mich mit dem Ersuchen, ich möchte für sie ein Buch herausgeben. Ich war bekannt als Schriftsteller für theologische Abhandlungen, insbesondere in katholischen Kreisen. Ich wurde darum ersucht einen Erholungsurlaub in der Schweiz zu ermögli-

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Nr. 155 1 Neue Zürcher Zeitung. 2 Abgekürzt „wehruntauglich“.

Briefe anderer Absender und Dokumente

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chen. In der Folge erhielt ich durch die Besatzungsbehörden die Ausreise-Bewilligung und zwar mit der Begründung, dass die Ausreise im Interesse der britischen Militärregierung liege aus kulturellen Gründen. Das Military Exit Permit wurde unterm 21.8.46 ausgestellt und wurde unterm 4.9.46 abgeändert, damit mir die Rückreise innert unbestimmter Zeit ermöglicht ist. Meinen Unterhalt verdiene ich mir seit der Einreise in die Schweiz, welche am 15.9.46 erfolgte, durch meine schriftstellerische Tätigkeit für den Verlag „Die Arche“ und für die NZZ. Ausserdem sind im „Tages-Anzeiger“ unter dem Titel „Der Morgen“3, in der „Thurgauer Zeitung“ „Kleine Jagd“4 und in der National-Zeitung“ „Der Vorhang“5 kleinere Arbeiten von mir erschienen. Diese Veröffentlichungen wurden jeweils honoriert und zwar mit insgesamt sfr. 800.– incl. dem Vorschuss den ich vom Verlag der Arche erhalten habe auf die in Aussicht stehende Buchveröffentlichung. Gestützt auf die seitens des Arche-Verlages erfolgte Einladung bemühte ich mich bei der schweiz. Vertretung in Hamburg um die Einreisebewilligung nach der Schweiz. In der Folge erhielt ich das Einreise-Visum zu geschäftl. Besprechungen mit dem Verlag „Die Arche“ und zur Erholung für die Dauer von 4 Wochen. Ausser einigen Büchern, die noch gedruckt werden müssen und jetzt in Drucklegung sind, habe ich in Deutschland kein Eigentum, da ich durch den Krieg um mein Hab gekommen bin. Da ich bereits die notwendigen Verbindungen in der Schweiz und eine gesicherte Tätigkeit hatte, war es meine Absicht in der Schweiz während längerer Zeit zu verbleiben. Ausserdem benötigt mein Gesundheitszustand eine ärztliche Behandlung, die mir in Deutschland nicht im notwendigen Umfange zuteil werden kann. Ich war der Meinung, dass mir die Einreise nur schwerlich bewilligt worden wäre, wenn ich von allem Anfang an für einen Aufenthalt von einem Jahr beim Schweizer Konsulat in Hamburg nachgesucht hätte. Ausserdem musste ich mich erst einmal mit den diversen Verlagen in Verbindung setzen, um ein Bild über meine zukünftige Tätigkeit und den Umfang derselben zu erhalten. Die Honorierungen für Arbeiten z. Bsp. für die NZZ wurden mir jeweils via Verrechnungsstelle überwiesen. Die obenerwähnten Zahlungen von den verschiedenen Verlagen etc. sind die ersten die mir direkt ausbezahlt werden.

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In: Alles mögliche, S. 7–12 (1939). In Buchform erschienen in: Was ich sagen wollte, S. 123–126 (1952). In: Der runde Tag, S. 152–159 (1947).

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Familienbriefe 1903–1921

Seit 1930 bin ich im Besitz eines deutschen Passes. Bis zur Nazizeit gehörte ich als Mitglied dem Reichsverband deutscher Schriftsteller [an] und später musste ich zwangsweise als Mitglied der Reichsschrifttumskammer angehören. Einer anderen Organisation gehörte ich nie an.“ „Haben Sie noch etwas zu ergänzen oder zu berichtigen?“ „Nein.“ Gelesen & bestätigt (gez.) Sigismund v. Radecki

Abkürzungen DBBL Deutschbaltisches biographisches Lexikon DLA Deutsches Literaturarchiv Marbach EAA Eesti Ajalooarhiiv Tartu MOB Martin-Opitz-Bibliothek Herne WLA Westfälisches Literaturarchiv Münster

Quellen und Literatur Archive und Bibliotheken Berlin, Bundesarchiv Bestand DR 2: Ministerium für Volksbildung Darmstadt, Deutsch-Baltische Genealogische Gesellschaft, Archiv Gedenkbuch für den Direktor der St. Annenschule Julius Kirchner (1884) Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsbibliothek Verlagsarchiv Kösel Herne, Martin-Opitz-Bibliothek Arbeitsstelle Radecki Marbach, Deutsches Literaturarchiv Nachlass Sigismund von Radecki Münster, Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt für Westfalen Bestand 1011: Nachlass Sigismund von Radecki Regensburg, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Amburger-Archiv Rīga, Latvijas nacionālais arhīvs ‒ Latvijas Valsts vēstures arhīvs 7175.193 („Radetckii“) Kirchenbücher Tallinn, Eesti Riigiarhiiv 4555.1.560 Tartu, Eesti Ajalooarhiiv 402.1.21920 402.2.19422 402.2.19425 402.2.19426 1254.1.226 1260.1.14 1272.1.126 1674.2.339 2486.2.1533 4918.1.1913 Wien, Wienbibliothek Handschriftensammlung: H.I.N.

Gedruckte Werke und Beiträge ACKERMANN, Ursula, Sigismund von Radecki, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 51 (2004), S. 150–158.

Quellen und Literatur

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Album academicum des Polytechnikums zu Riga 1862–1912, Riga 1912. Album academicum Universitatis Tartuensis 1889–1918, Tartu 1988. Album Curonorum 1808–1932, bearb. v. Wilhelm RÄDER, Riga 1932; Nachdruck mit Nachtrag 1932–1978, Bamberg 1979. Album Fratrum Rigensium 1823–1979, bearb. v. Robert GROSS / Heinz MEYERELTZ), Osterholz-Scharmbeck 1981. Album der Landsleute der Fraternitas Baltica, bearb. v. Werner FAHRBACH, Aschaffenburg 1961. Album Estonorum, hg. v. Georg ADELHEIM, Reval 1910. Album Livonorum, Lübeck 1972. Album Normannorum, bearb. v. Georg von RAUCH, München 1968. ALTENBERG, Peter, Auswahl aus seinen Büchern, hg. v. Karl KRAUS, Zürich 1963. AMBURGER, Erik, Geschichte der Behördenorganisation Russlands, Leiden 1966. – Die Pastoren der evangelischen Kirchen Rußlands, Lüneburg 1998. BADE, Wilfrid / Wilmont HAACKE (Hgg.), Das heldische Jahr. 97 Kriegsfeuilletons, Berlin 1941. BALD, Detlef / Jakob KNAB (Hgg.), Die Stärkeren im Geiste. Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose, Essen 2012. Baltisches historisches Ortslexikon, hg. v. Hans FELDMANN / Heinz von ZUR MÜHLEN, Bd. 1: Estland (einschließlich Nordlivland), bearb. v. Gertrud WESTERMANN; Bd. 2: Lettland (Südlivland und Kurland), bearb. v. Hans FELDMANN u. a. (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 8/I–II), Köln / Wien 1985/90. BAUSCHINGER, Sigrid, Else Lasker-Schüler. Eine Biographie, Frankfurt 2006. BELLOC, Hilaire, The path to Rome, London 1902. – Der Weg nach Rom, übers. v. Gertrud JAHN (Herder-Bücherei 184), Freiburg/Br. / Basel / Wien 1964. BERGENGRUEN, Werner (Hg.), Baltisches Dichterbrevier, Berlin 1924. BERNSDORFF, Herbert, Bilder aus Baltischer Landeswehr-Zeit 1918–1920, in: Baltische Hefte 12 (1966), S. 113–144. BIERMANN, Gottlieb, Geschichte des Herzogthums Teschen, Teschen 1863. BLANKENBURG, Herbert von, Am Rande der Weltgeschichte, Göttingen 1966. BOBÉTH, Marek, Eduard Erdmann (1896–1958). Leben und Wirken eines deutschbaltischen Künstlers, in: Jahrbuch online der Carl-Schirren-Gesellschaft 2 (2011), S. 67–101. BORBÉLY, Karin von, Deutsch-baltisches Gedenkbuch (1939–1947), Darmstadt 1991. BRENNSOHN, Isidor, Die Ärzte Livlands von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Riga 1905. DELLINGSHAUSEN, Ewert von, Die Rathlef, Lüneburg 1990. Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, hg. v. Wilhelm LENZ, Köln / Wien 1970; Baltisches Biographisches Lexikon digital, https://bbld.de/. DOVIFAT, Emil / Jürgen WILKE, Zeitungslehre, Bd. 2, Berlin 61976.

302

Quellen und Literatut

ERPENBECK, Dirk-Gerd, Zwei Porträts – Sigismund von Radecki, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 54 (2007), S. 190–193. – Der lange Brand der Fackel. Sigismund von Radecki und Karl Kraus, in: Baltische Ahnen- und Stammtafeln 50 (2008), S. 33–45. – Schriftenverzeichnis Sigismund von Radecki, mit zwei Ergänzungen, 2009–2017, http://www.balt-hiko.de/online-publikationen/schriftenverzeichnis-radecki/. – Geschichten von Gedichten. Der baltische Autor Sigismund von Radecki, in: Baltica. Die Vierteljahresschrift für baltische Kultur 2–3 (2011), S. 4–76. – Mit Sigismund von Radecki in die Dreigroschenoper, in: Dreigroschenheft. Informationen zu Bertolt Brecht 19/2 (2012), S. 23–28. – Drei Balten helfen!, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums N. F. 61 (2013), S. 151–156. – Neue Porträts Radeckis zur „Dreigroschenoper 1929“, in: Dreigroschenheft. Informationen zu Bertolt Brecht 23/4 (2016), S. 13–17. FISCHER, Ernst / WITTMANN, Reinhard (Hgg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 3: Drittes Reich, Tl. 1, Berlin 2015. FÖRSTER, Evelin, Die Frau im Dunkeln. 16 Chansons aus dem Berlin der 20er und 30er Jahre, Berlin 2012. FREUND, Leopold (Hg.), FF-Film-Führer. Das Handbuch für Tonfilm und stumme Produktion, Berlin 1930. Genealogisches Handbuch der baltischen Ritterschaften, Livland, bearb. v. Astaf von TRANSEHE-ROSENECK, Görlitz 1929. Genealogisches Handbuch der estländischen Ritterschaft, bearb. v. Otto Magnus von STACKELBERG, Görlitz 1936. Genealogisches Handbuch der Oeselschen Ritterschaft, bearb. v. Nicolai von ESSEN, Tartu 1935. GERSTER, Georg, Trunken von Gedichten. Eine Anthologie geliebter deutscher Verse, Zürich 1953. GILLESSEN, Günther, Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986. GLOCK, Karl-Borromäus, Achtzig Jahre. Begegnungen mit hundert namhaften Zeitgenossen, Heroldsberg 1985. GOTTZMANN, Carola / Petra HÖRNER, Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs, Berlin 2007. GRIMM, Claus, Jahre deutscher Entscheidung im Baltikum 1918–1919, Essen 1939. – Vor den Toren Europas, Hamburg 1963. HAECKER, Theodor, Der katholische Schriftsteller und die Sprache. Mit einem Exkurs über Satire und Humor, in: Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth, hg. v. Max ETTLINGER / Philipp FUNK / Friedrich FUCHS, München 1927, S. 151–194. HAGEN, Kuno, Lexikon deutschbaltischer bildender Künstler – 20. Jahrhundert, Köln 1983.

Quellen und Literatur

303

HARTMANN, Woldemar, Verwandte, die ich liebte und verehrte, Manuskript Gaildorf/Württemberg, Herbst 1951, S. 40–46 (im Besitz von Dr. Volker Klepp, Berlin, dem ich für Kopien danke). – Erinnerungen 1874–1962. Als Jurist in Russisch-Polen, in Estland und im Warthegau, hg. v. Heinz von ZUR MÜHLEN (Schriftenreihe der Carl-Schirren-Gesellschaft 8), [Lüneburg] 2004. HELFRITZ, Hans, Ein Semester deutsche Universität, in: Roderich von ENGELHARDT, Die deutsche Universität Dorpat in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung, München 1933, S. 535–540. HERHOLZ, Gerd, Sigismund von Radecki. Wie Liebe und Tod nach Gladbeck kamen, in: Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung 14 (2016), S. 563–574. HÜRLIMANN, Martin, Zeitgenosse aus der Enge. Erinnerungen, Freiburg 1977. JANOWITZ, Hans, Asphaltballaden, hg. v. Dieter SUDHOFF, Siegen 1994. JENS, Inge (Hg.), Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt 2005. JOHANNINGSMEIER, Charles, Of Nazis, False-bottomed Suitcases, and Paperback Reprints: Der Tod kommt zum Erzbischof in Germany, 1936–1952, in: Willa Cather Newsletter and Review 56/3 (2013), S. 2–12. KAMPA, Daniel (Hg.), Diogenes. Eine illustrierte Verlagschronik, Zürich 2003. KESTEN, Hermann, Der Geist der Unruhe, Köln 1959. – Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933–1949, München 1964. KLÜSENER, Erika / Friedrich PFÄFFLIN (Hgg.), Else Lasker-Schüler 1869–1945, Marbach 1995. KNÜPFFER, Gunnar (Hg.), Das Balten-Regiment ein Jahr im Felde, Dorpat 1920. KOBOLT, Erich, Die deutsche Sprache in Estland am Beispiel der Stadt Pernau, Lüneburg 1990. KRAUS, Karl, Dokumente und Selbstzeugnisse, hg. v. H[elene] M[arie] K[ANN], Zürich 1945. – Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin 1913–1936, hg. v. Friedrich PFÄFFLIN, 2 Bde. (Bibliothek Janowitz 6,1–2), Göttingen 2005. KROLL, Frank-Lothar, Die totalitäre Erfahrung: Deutsche Literatur und Drittes Reich, Berlin 2003. KROLL, Frank-Lothar / Rüdiger von VOSS (Hgg.), Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der Inneren Emigration, Göttingen 2012. LASKER-SCHÜLER, Else, Die gesammelten Gedichte, Leipzig 1917/18. – Briefe an Karl Kraus, hg. v. Astrid GEHLHOFF-CLAES, Köln 1959. – Werke und Briefe, Bd. 7: Briefe 1914–1924, hg. v. Karl Jürgen SKRODZKI, Berlin 2004. LORENZ, Willy, Die Straße nach Rom, in: Die Zeit im Buch 1952, Nr. 9/10. MENSCHING, Steffen, Die Welt in der Tasche – Sigismund von Radecki und seine Zeit, in: SWR 2 Profile v. 15.6.2006 (Typoskript in der MOB Herne, Arbeitsstelle Radecki).

304

Quellen und Literatut

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Quellen und Literatur

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Quellen und Literatut

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Quellen und Literatur

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Ortsregister Ortsnamen sind unter den deutschen Bezeichnungen zu finden. Von den nichtdeutschen Bezeichnungen wird auf die deutschen verwiesen. Aachen – 25, 155, 157 Ägypten (Egypten) – 109, 243 Äolische Inseln – 166 Äthiopien (Abessinien) – 120–121 Afrika – 119, 121 Agrigent (Girgenti, it. Agrigento) – 166 Aizpute, s. Hasenpoth Algier – 109 Allikukivi, s. Quellenstein Alpen – 81, 249, 252 Alt-Anzen (estn. Vana-Antsla) – 21 Altenberg im Erzgebirge – 105, 132 Altentreptow – 248 Alt-Mocken (lett. Vecmokas) – 228 Alt-Woidama (estn. Vana-Võidu) – 101 Ancona – 166 Antwerpen – 150 Apukalns, s. Oppekaln Arensburg (estn. Kuressaare) – 20, 78– 79, 100, 130 Asien – 78, 82, 270, 295 Askanija-Nowa – 25, 28 Ass (estn. Kiltsi) – 172 Aumühle bei Hamburg – 48, 50, 71, 296 Aunus, s. Olonez Australien – 100, 104 Bad Boll – 200 Bad Godesberg – 119 Bad Harzburg – 138 Bad Königstein – 54 Bad Reichenhall – 44 Bad Salzuflen – 219 Bad Schwartau – 63 Bad Soden-Salmünster – 62 Bad Warmbrunn (poln. Cieplice ŚląskieZdrój) – 231 Baden – 291 Baden-Baden – 222 Baku – 85

Baldegg – 50 Baltikum, Balten, Deutschbalten – 11–12, 15, 19, 26, 29–31, 33, 37, 45, 59, 70, 72, 79, 83, 101, 110, 114, 119, 142, 154–155, 211, 216–218, 221, 223, 225–228, 230, 234, 236, 266 Baltischport (estn. Paldiski) – 79 Balzhofen – 291 Barcelona – 170 Basel – 50, 65 Bauske (lett. Bauska) – 13–14, 60, 118 Bautzen – 144 Bayern, bayerisch – 11, 47, 55, 69, 105, 233 Belgien – 171, 272 Benevent (it. Benevento) – 166 Berlin – 14, 16–17, 29–37, 41, 43–46, 48–49, 53, 55, 57, 61–63, 70, 72, 99, 102, 112, 124, 129, 141, 169–172, 178, 180, 183–184, 189–191, 217, 219, 222, 224, 226, 231–232, 234– 243, 245–248, 250–251, 253–254, 257–258, 260–262, 264–265, 273, 275–278, 285–287, 290–292, 295– 296 – Charlottenburg – 55, 216 – Gesundbrunnen – 247 – Humboldthain – 247 – Kaulsdorf – 260 – Steglitz – 247 – Tiergarten – 99, 237, 242, 244–245, 247, 255–257, 275 – Wedding – 265, 291 Bethel – 222 Bielefeld – 222 Bilbao – 104 Bilderlingshof (lett. Bulduri) – 61, 63, 148, 228 Binz – 277–278 Blasewitz – 107

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Ortsregister

Bleiberg bei Klagenfurt – 109 Bochum – 25, 47–48, 52 Bodenbach (tschech. Podmokly) – 107 Böhmen, böhmisch – 13, 25, 31, 35, 57, 103, 109, 125, 127, 137, 149 Bolivien – 100, 195 Bologna – 166 Bolschoi Burtas – 200 Bonn – 139 Bordeaux – 280 Boreslau (tschech. Bořislav) – 106 Borowiki – 101, 139 Boston – 39 Brandt – 102 Braunschweig – 226 Bremen – 63 Bremenhof (estn. Pilkuse) – 22, 93 Bremervörde – 291 Breslau (poln. Wrocław) – 10, 16, 104, 110, 234 Brno, s. Brünn Brocken – 133, 138, 140 Brünn (tschech. Brno) – 253 Brüssel – 46 Buchholz in der Nordheide – 61 Bühl – 291 Bugerru – 167 Bulduri, s. Bilderlingshof Cagliari – 166–167 Caltanisetta – 166 Camby (Groß-Camby, estn. Kambja) – 204, 206, 284 Cappenberg (Kappenberg) – 114–115 Capri – 85 Carrara – 165 Catania – 166, 269 Cavalaire – 25 Cēsis, s. Wenden Champetre bei Hagensberg – 228 Chemnitz – 103, 138, 186 Chernyshevskoye, s. Eydtkuhnen Chile – 100, 150 Cieplice Śląskie-Zdrój, s. Bad Warmbrunn Clausthal – 138 Colmar – 43 Compiègne – 140

Côte d’Azur – 25 Dachau – 41 Dänemark, Dänen – 9, 56–57, 121, 194, 213, 239 Dahme – 219 Dalarna (Dalekarlien) – 25, 178, 180 Dalmatien – 35–36, 56 Danzig – 16, 190, 272 Darowka, Gut – 28 Daudzogir (lit. Daudžgiriai) – 100, 119 Daugavpils, s. Dünaburg Decimomannu – 167 Děčín, s. Teschen Dellwig bei Dortmund – 114 Delmenhorst – 63 Deutschbalten, s. Baltikum Deutschland, Deutsche – 9, 11, 14, 16– 17, 25, 28–30, 39, 43, 48, 50–52, 57– 58, 66, 69–70, 73, 89, 102, 104, 113, 121, 126, 130, 137–138, 144, 152, 163, 165, 170, 177, 211, 215–216, 219–220, 224, 227–228, 231–232, 234, 239, 241, 248, 272, 285–287, 289, 292, 295–298 Deutsch-Südwestafrika – 121 Dierdorf – 221 Dolomiten – 63 Donnersberg, s. Milleschauer Dorpat (estn. Tartu, russ. Jurjew) – 15–21, 26, 28–30, 61–65, 85, 89, 93, 95–96, 100–101, 103–104, 108–110, 112, 124, 126–128, 142, 153, 156, 166–167, 173, 184, 191, 195–196, 199–200, 205, 207, 212–215, 217, 231, 233–234, 247–248, 270, 276, 280–282, 284–287, 292 , 294–296 Dorstfeld bei Dortmund – 112–114, 275 Dortmund – 21, 112–114, 116, 275– 276 Dresden – 31, 46, 63, 102, 104, 107, 109, 121, 130, 139, 141, 144–145, 149, 152, 162, 168, 171, 174, 184, 192–194, 256, 277 Dresdener Haide – 144 Düna – 14, 235 Dünaburg (lett. Daugavpils) – 92

Ortsregister Düsseldorf – 69, 109–110, 247 Działdowo, s. Soldau Eckernförde – 21 Edle Krone – 103, 107 Eesti, s. Estland Eferding – 65 Eichwald in Sachsen – 105 Elba – 165, 167 Elsass – 25, 43 Elwa (estn. Elva) – 278, 281 Embach (estn. Emajõgi) – 270 England, Engländer, s. Großbritannien Erzgebirge – 25, 102, 105–106, 132, 153, 174 Essen – 46, 226 Esslingen – 69 Estland (E[e]sti) – 20, 29–30, 70, 100, 102, 163, 172, 212, 221, 225–228, 247, 272, 293 Etsch – 81 Eydtkuhnen (russ. Chernyshevskoye) – 99 Fellin (estn. Viljandi) – 65, 212 Feodosia – 184 Ferghana – 27, 263 Fichtelberg – 147 Filipstad – 179 Finnland – 18, 25, 28, 170, 196–198, 211, 284 Florenz (it. Firenze) – 167–168, 170 Frankfurt am Main – 34–35, 46, 108, 226 Frankreich, Franzosen – 25, 161, 177, 272, 274 Fraustadt (poln. Wschowa) – 62 Freiberg in Sachsen – 11, 17, 20–21, 24– 26, 30, 62, 66, 70, 72, 99–104, 106– 110, 112–113, 115, 117–133, 135– 150, 152–158, 160, 162–164, 167– 175, 181–187, 190–191, 194–195, 250, 278, 285, 295 – Friedeburg – 146 Freiburg im Breisgau – 64, 130, 242 Galizien – 263 Gałów, s. Groß-Gohlau

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Garrosen (lett. Garoza) bei Bauske – 13– 14, 60–61, 64 Gatschina – 80 Geising – 131–132 Gennamari – 167 Genua (it. Genova) – 166–168 Gertrudenhof (estn. Truuta) – 93 Gladbeck – 20, 50, 56, 58–59, 62, 71, 73 Görlitz – 107 Göteborg (Gotenburg) – 118, 139, 178 Göttenhof („Etinghof“, (Götzenhöfchen?, lett. Kūla) bei Bauske – 13 Göttingen – 18–19, 30, 61–62, 236, 259–260, 262, 282, 294 Goldingen (lett. Kuldīga) – 126, 139 Goslar – 138, 140 Gotthardpass – 166 Grängesberg – 178 Graz – 147 Greifswald – 286 Griechenland, Griechen – 177, 194 Großbritannien – 9–10, 13, 39, 43, 48, 50, 64, 88–89, 104, 109, 120, 131, 145, 150, 197–198, 230, 268, 296– 297 Groß-Camby, s. Camby Groß-Gohlau (poln. Gałów) – 61 Groß-Klüversholm (Lielklīversala) bei Riga – 60 Großschirma – 118 Großvoigtsberg – 124 Haapsalu, s. Hapsal Hagensberg – 228 Hamburg – 10, 35, 48, 50, 57, 71, 150, 239, 291, 296–297 – Aumühle, s. Aumühle – Bergedorf – 296 Hannover – 61, 63, 115, 231 Hapsal (estn. Haapsalu) – 79, 94 Harz – 25, 133, 137–138, 140–141 Hasenpoth (lett. Aizpute) – 100, 121 Hedemora – 101 Heinrichsdorf (poln. Płośnica) – 62 Helsinki (Helsingfors) – 28, 92, 197– 198, 211

312 Heraklion (Kandia) – 269–270 Hermelingshof (lett. Hermeliņa muiža) bei Riga – 13, 60 Herne – 9, 22, 33, 48, 50 Herzogenrath – 158 Hinzenberg (lett. Inčukalns) – 29, 216, 218, 224–225, 286 Holland, s. Niederlande Holstein – 231 Honkaniemi – 16 Huelva – 63 Hungerburg (estn. Narva-Jõesuu) – 95, 99 Iglesias – 167 Inčukalns, s. Hinzenberg Indien – 110 Ingurtosu – 167 Innsbruck – 192 Iquique – 150 Irkutsk – 101 Isonzo (sloven. Soča) – 255 Istanbul – 91 Italien – 25, 62, 64, 69, 80–81, 89–91, 109, 164–165, 169–171, 173, 175, 268–269 Iwanowskoje – 201, 206, 284 Jáchymov, s. St. Joachimsthal Järvere, s. Jerwen bei Sommerpahlen Jakobstadt (lett. Jēkabpils) – 235 Janowitz, s. Markt Janowitz Japan – 82, 90, 105, 153, 266 Jaunmokas, s. Neu-Mocken Jēkabpils, s. Jakobstadt Jelgava, s. Mitau Jena – 145 Jentai, s. Yen-Tai Jerusalem – 43 Jerwen (Jerven, estn. Järvere) bei Sommerpahlen – 19–20, 62, 70–71, 84, 93, 107, 110, 112, 120, 195–196, 213–215, 217, 227, 236, 245, 248, 260, 263, 277, 289, 293 Joachimstal, s. St. Joachimsthal Jõgeva, s. Laisholm Johannesburg – 108 Jorri, s. Torri

Ortsregister Jurjew, s. Dorpat Kärnten – 109 Kajafer (estn. Kaiavere) – 282 Kaliningrad, s. Königsberg Kambja, s. Camby Kanada – 230 Kandia, s. Heraklion Kardis (estn. Kärde) – 64, 214 Karelien – 184, 195 Karlsruhe – 222 Kaukasus – 279 Kaunas, s. Kowno Kesselaid, s. Schildau Kiel – 25 Kiltsi, s. Ass Kirjola – 203, 205–206, 208, 210 Klagenfurt – 109 Kleinvoigtsberg (Klein-Voigtsberg) – 116–118 Klein-Wrangelshof (lett. Mazbrenguļi) bei Wolmar – 93, 270 Knöppelsdorf (russ. Rasswet) – 29, 224, 226 Köln – 46, 57, 108, 162 Königsberg (russ. Kaliningrad) – 17, 26, 29, 99, 216–219, 221–224, 226, 228– 232, 290 Königstein im Taunus – 54 Körwentack (estn. Kõrvetaguse) – 219 Kolumbien – 104 Kongo – 121 Konnersreuth – 41 Konstantinopel (Constantinopel), s. Istanbul Kopenhagen – 25, 179, 285 Korčula – 35 Kotor (Cattaro) – 36 Kowno (lit. Kaunas) – 251 Krasnojarsk – 21, 285–287 Kremon (Cremon, lett. Krimulda) – 13, 60–63, 91, 110, 114, 279 Kreta – 269 Krim – 13, 60, 184 Krimulda, s. Kremon Kuhlmannshof (lett. Kūla), s. Göttenhof Kuiwast (Kuiwacht, estn. Kuivastu) – 79 Kuldīga, s. Goldingen

Ortsregister Kungsholm – 105 Kuressaare, s. Arensburg Kurland – 12–13, 60, 100, 118–119, 139, 235, 258 Kursk – 199–200 Laisholm (estn. Jõgeva) – 286 Långban – 178 Långbanshyttan (Längbannshyttan) – 178–179, 183 Langenbrücken bei Karlsruhe – 222 Langeoog – 206 Lappeenranta, s. Willmannstrand Lausitz – 144 Legnica, s. Liegnitz Leipzig – 35, 63, 132, 138, 232 Leitmeritz (tschech. Litoměřice) – 106– 107 Lemberg (ukr. Lwiw) – 46 Leningrad, s. St. Petersburg Lettland – 29, 228, 288–289 Liaoyang – 266 Libau (lett. Liepāja) – 102, 147, 211, 219, 221, 223–227 Lidingö – 198, 244 Liège, s. Lüttich Liegnitz (poln. Legnica) – 231 Lielklīversala, s. Groß-Klüversholm Liepāja, s. Libau Lipari – 166 Lipskaln (lett. Lipšukalns) – 131 Litauen – 100, 119 Litoměřice, s. Leitmeritz Liverpool – 219 Livland – 13, 22, 61, 64, 93, 100, 103, 114, 163, 270 Lodz (poln. Łódź) – 273 London – 25, 43, 49–51, 140, 170 Loschwitz – 107 Ludvika – 178 Ludwigshafen – 150 Lüneburg – 11, 224, 287 Lüttich (frz. Liège) – 87 Lugano – 37, 43 Lukow (tschech. Lukov u Bíliny) – 106 Luxemburg – 46 Lwiw, s. Lemberg Lyon – 109

313

Maarja-Magdaleena, s. MarienMagdalenen Madrid – 251 Mahrzenhof (lett. Maceni) – 60, 64 Mailand (it. Milano) – 166 Mainz – 108 Malmö – 178 Mandschurei – 90, 266 Marbach – 19, 42, 73 Marburg – 129, 226 Marien-Magdalenen (estn. MaarjaMagdaleena) – 282 Markt Janowitz (tschech. Vrchotovy Janovice) – 57 Mazbrenguļi, s. Klein-Wrangelshof bei Wolmar Meißen – 104 Mellenthin auf Usedom – 45, 47–48, 57, 65, 71 Mengede – 114 Merkstein – 157–159 Messina – 166 Milano, s. Mailand Mīlgrāvis, s. Mühlgraben bei Riga Milleschauer (Millischauer, auch Donnersberg, tschech. Milešovka) – 106 Mitau (lett. Jelgava) – 13, 18, 29, 102, 149, 163, 219, 233, 289 Mittelmeer – 189 Mötliko (estn. Mõtliku) – 172 Mohn-Sund (estn. Suur väin) – 79 Moiseküll (estn. Mõisaküla) – 212 Moldau (tschech. Moldava) – 105, 107 Mondsee – 25 Monteponi – 167 Montevecchio – 167 Moskau – 13–14, 21, 88, 140, 196, 201 Mühlgraben (Mīlgrāvis) bei Riga – 110 München – 11, 22, 30, 32, 41, 44–46, 52, 55–56, 63, 69, 71, 109, 126, 144, 152, 167–168, 184, 226, 233, 237, 296 – Solln – 44 Münster – 16, 19–22, 24, 36, 42, 52, 70–73, 222 Mulda – 102–103 Mulde – 117

314

Ortsregister

Nakléřov, s. Nollendorf Narva, Fluss – 95 Narva, Stadt – 95, 285 Narva-Jõesuu, s. Hungerburg Neapel – 165–167, 270 Neu-Camby (Klein-Camby, estn. VastseKambja) – 21 Neuguinea – 198 Neuilly-sur-Seine – 201 Neu-Mocken (lett. Jaunmokas) – 29, 227–229, 231 Neumarkt (poln. Środa Śląska) – 61 New York – 31–32, 50, 255 Newa – 14, 92–93 Nieder Ochtenhausen – 291 Niederlande (Holland) – 10, 115, 157– 159, 247 Nollendorf (tschech. Nakléřov) – 153 Norwegen, Norweger – 122, 124, 132, 142, 145, 165, 179 Nossen – 104 Noworossijsk – 201 Nürnberg – 69 Numlahti (Numlax) – 198 Nurmis (lett. Nurmiži) – 62, 183, 219 Oberhausen im Rheinland – 109–111 Oberschöna – 131 Oberwiesenthal – 136–137 Odilienberg, Kloster – 43 Ölmühle – 102, 131 Ösel (estn. Saaremaa) – 20, 22, 78, 115 Österreich – 9, 25, 33, 42, 51–52, 65, 102, 111, 133 Olonez – 184, 195 – Lugau – 195 Oppekaln (lett. Apukalns) – 64 Oranienburg – 129, 178, 180 Orura – 100 Ostpreußen – 21, 29, 62, 224, 226; s. auch Preußen Ostrowiec (Ostrowiec Świętokrzyski) – 129 Ostsee – 58, 78, 95 Padua (it. Padova) – 166 Päevölä – 197

Pärnu, s. Pernau Paldiski, s. Baltischport Palermo – 166–167 Paris – 25, 33–35, 43, 46, 156, 170, 187, 201, 296 Paschkopol (tschech. Paškapole) – 109 Peenemünde – 45 Pergine – 173 Peri, s. Perrist Pernau (estn. Pärnu) – 211–212 Perrist (estn. Peri) – 64 Peterhof – 276 Petersburg, s. St. Petersburg Petrograd, s. St. Petersburg Petrozavodsk (Petrosawodsk, finn. Petroskoi) – 195 Pilkuse, s. Bremenhof Pinkenhof (lett. Piņķi) – 226 Pitkajärvi – 284 Pleskau (russ. Pskov) – 21 Plön – 63 Płośnica, s. Heinrichsdorf Podiebrad (tschech. Poděbrady) – 31, 255 Podmokly, s. Bodenbach Pölitz – 45 Polen– 12–13, 105, 195 Pommern – 49 Portland – 64 Posen (poln. Poznań) – 21, 62, 64, 128 Potsdam – 239, 276 Pottenstein (tschech. Potštejn) – 35, 38 Poznań, s. Posen Prag (tschech. Praha) – 35, 57, 106–107, 109, 153, 155, 256, 273 Preußen – 18, 99, 159, 287; s. auch Ostpreußen Pribram (tschech. Příbram) – 106 Pskov, s. Pleskau Punta San Michele – 167 Quellenstein (estn. Allikukivi) – 212 Rasswet, s. Knöppelsdorf Rauden (lett. Rauda) bei Tuckum – 13, 60–61 Rauge (estn. Rõuge) – 131 Rauna, s. Ronneburg

Ortsregister Ravensburg – 28 Reggio Calabria– 166 Rehefeld bei Altenberg – 132 Remscheid – 52 Reval (estn. Tallinn) – 28, 30, 46–47, 63, 79, 97, 102, 104, 124, 140, 147, 198, 211, 217, 221, 225, 265 Rhein – 50, 99, 108, 114, 276 Rheinland – 129 Riga (lett. Rīga) – 13, 15–20, 22, 28–30, 59–65, 71, 77, 79, 84, 87, 91–93, 99– 101, 105, 110, 115, 119, 125, 130, 139, 141, 147–148, 155, 159, 162, 169, 196, 213–216, 218–219, 221– 222, 227–228, 230–231, 236, 242, 244, 251, 267, 270–271, 278, 280– 281, 285–286, 288, 295 – Wohlershof (lett. Voleri) – 12 Rom (it. Roma) – 40–42, 64–65, 91, 130, 140, 167–168, 172, 226 Romeskaln (lett. Romeškalns) – 64 Ronneburg (lett. Rauna) – 60 Rosenberg (Berg) – 106 Roßwein – 124 Rotenburg an der Wümme – 61, 115 Rõuge, s. Rauge Rudny (Roudny, tschech. Roudný) bei Nollendorf – 153, 155, 157 Rügen – 178, 277–278 Rüschlikon (Ruechlikon) – 149 Ruhrgebiet – 25, 58 Ruil (estn. Ruila) – 100 Russland, Russen – 13–14, 16–17, 20– 21, 24–26, 28–29, 43, 45, 48, 62, 72, 78, 83, 89–90, 96, 99, 101, 103–105, 109–110, 139, 162, 184, 194–195, 211, 216, 234, 242, 250, 259, 266– 267, 274, 278–279, 284–285, 295– 296 Saalfeld – 64 Saaremaa, s. Ösel Sachsen – 11, 17, 20, 24–25, 56, 62, 64, 72, 99, 101–102, 104–112, 114–118, 120–122, 124–128, 130–131, 133, 135–140, 142–150, 152–154, 156, 160, 162–164, 168–175, 182, 185– 186, 190–191, 194–195, 273–274,

315

285, 295 Sächsische Schweiz – 107 Sagnitz (estn. Sangaste) – 101, 278 Sallgalln (lett. Salgale) – 14, 61 Salzburg – 52 Samarkand – 282 San Pietro, Insel – 167 Sandomir (poln. Sandomierz) – 13 Sangaste, s. Sagnitz Sanssouci – 276 Santa Cruz – 100 Sant’Antioco, Insel – 167 Sardinien – 25, 165, 167–169 Sassenhof (lett. Zasulaks) bei Riga – 60 Sauerland – 116 Schildau (estn. Kesselaid) – 79 Schirwan – 63 Schlesien – 12, 61, 100 Schlock (lett. Sloka) – 60, 228 Schongau – 118 Schottland – 122 Schreckenstein (tschech. Střekov) – 109 Schroda (poln. Środa Wielkopolska) – 64 Schwaben – 135 Schwarzes Meer – 28 Schweden – 25, 101, 104–105, 109, 118, 165, 171, 178–179, 183–184, 186, 211, 285 Schweidnitz – 231 Schweiz, Schweizer – 9, 11, 19, 36, 38– 39, 43, 49–52, 54–56, 58, 65, 71, 296–297 Segewold (lett. Sigulda) – 62 Shanghai – 147 Shitomir – 64 Siena – 167–168 Sigulda, s. Segewold Sloka, s. Schlock Smilten (lett. Smiltene) – 140 Smolensk – 140 Soča, s. Isonzo Soldau (poln. Działdowo) bei Tannenberg – 21, 62 Solec (Posen) – 64 Sommerpahlen (estn. Sõmerpalu) – 19–20, 62, 64, 70, 84, 93, 109, 131, 195–196, 222, 289, 293–294 Sonnaxt (lett. Sunākste), Pastorat – 213

316

Ortsregister

Sorrent – 64 Sowjetunion, Sowjetrussen – 45, 64, 296 Spahre – 61 Spanien – 63, 104 Środa Śląska, s. Neumarkt Środa Wielkopolska, s. Schroda St. Joachimsthal (tschech. Jáchymov) – 137 St. Johannes, Kirchspiel in Finnland – 210 St. Johannis (estn. Suure-Jaani?) – 206 St. Petersburg, Petersburg (Leningrad, Petrograd) – 13–18, 20–22, 28, 61–62, 64, 72, 77–90, 92–97, 101, 129, 140– 141, 149, 153–154, 163, 168–172, 174, 184, 195–201, 205–206, 211, 221, 242, 244, 247, 266–268, 270– 276, 279–281, 284–285, 294–295 – Liteinij (IX) – 28 Stębark, s. Tannenberg Stein an der Traun – 46, 59 Stettin (poln. Szczecin) – 278, 294–295 Stockholm – 30, 33–35, 184, 198, 205, 244 Stolberg – 129 Stralsund – 178 Střekov, s. Schreckenstein Stromboli – 166 Strzelze – 109 Stuttgart – 65, 119, 232, 291 Südafrika – 108 Südamerika – 195 Südtirol – 173 Sunākste, s. Sonnaxt Suur väin, s. Mohn-Sund Suure-Jaani, s. St. Johannis Svatá Hora – 106 Swinemünde (poln. Świnoujście) – 48 Sydney – 100 Szczecin, s. Stettin Tallinn, s. Reval Talsen (lett. Talsi) – 100, 229 Tannenberg (poln. Stębark) – 21 Taormina – 166 Tartu, s. Dorpat Taschkent – 282 Teplitz – 105–106

Teschen (tschech. Děčín) – 12–13, 107 Tessin (it. Ticino) – 56 Tharandt – 103, 107, 144 Thüringen – 64 Ticino, s. Tessin Tignitz (estn. Voltveti) – 211, 213, 217 Tirol – 132 Tori (Torri) bei Arensburg – 79 Transkaukasien – 63 Trapani – 167 Trelleborg – 178 Treyden – 13, 60, 114 Trient (it. Trento) – 173 Truuta, s. Gertrudenhof Tschechoslowakei – 38 Tuckum (Tukkum, lett. Tukums) – 13, 29, 60–61, 228, 229, 231 Turkestan – 25, 27, 194, 263 Ubbenorm (lett. Umurga) – 15 Überlingen – 46, 222 Ukraine – 25, 28, 244 Ulm – 46 Umurga, s. Ubbenorm USA, s. Vereinigte Staaten von Amerika Usedom – 45, 47–49, 71, 296 Värmland (Wermland, Wärmland) – 165, 178, 184 Vagula, s. Waggula-See Valga, s. Walk Valka, s. Walk Valkeakoska – 197 Valmiera, s. Wolmar Vana-Antsla, s. Alt-Anzen Vana-Võidu, s. Alt-Woidama Varel – 226 Vastse-Kambja, s. Neu-Camby Vatikan – 51, 249 Vecmokas, s. Alt-Mocken Venedig (it. Venezia) – 166, 173 Ventspils, s. Windau Vereinigte Staaten von Amerika (USA) – 35, 50, 52, 55, 106, 194, 198, 272 Vicenza – 166 Vigo di Fassa in den Dolomiten – 63 Viipuri, s. Wiborg Vīkstene, s. Wiexten

Ortsregister Viljandi, s. Fellin Virbalis, s. Wirballen Virumaa, s. Wierland Vogtland – 137 Voltveti, s. Tignitz Vorpommern – 48 Võru, s. Werro Vrchotovy Janovice, s. Markt Janowitz Waggula-See (estn. Vagula) – 84 Walk (estn. Valga, lett. Valka) – 211– 212, 281 Warmbrunn, s. Bad Warmbrunn Warschau (poln. Warszawa) – 21, 108, 184 Wartburg – 116 Weimar – 116, 145, 240 Weinheim – 61 Weißrussland – 21 Wenden (lett. Cēsis) – 228, 239 Werder bei Potsdam – 239 Werro (estn. Võru) – 89, 147, 211, 214– 215, 285–287, 293 Westfalen – 30, 56, 70–71, 73, 101, 108, 113–114, 118, 157, 162, 276 Wiborg (Wyborg, finn. Viipuri) – 16,

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147, 148, 205 Wiek – 219 Wien – 9, 11, 15, 25, 31–35, 46, 49, 51– 53, 80, 147, 216, 252, 256, 289, 296 Wierland (estn. Virumaa) – 172 Wiexten (lett. Vīkstene) – 61, 63, 258 Willmannstrand (finn. Lappeenranta) – 211 Windau (lett. Ventspils) – 14, 119 Wirballen (lit. Virbalis) – 99 Wolhynien – 28 Wolmar (lett. Valmiera) – 61, 93, 129 Wrocław, s. Breslau Wschowa, s. Fraustadt Wurzen – 56 Yen-Tai (Jentai) – 266 Zasulaks, s. Sassenhof Zillingthal – 102 Zinnwald – 105 Zürich – 11, 22, 39, 44, 46, 49–52, 54, 57–58, 68–69, 71, 166–167, 234, 295 – Hottingen – 50 Zürichsee – 149 Zwickau – 101, 113

Personenregister A. N., Lehrerin Sigismunds in Petersburg – 154, 163–164 Ackermann, Ursula – 40, 74 Ackte, Aino – 198 Afanasjew, Alexander N. – 18 Aicher, Otl – 46 Albers, Heinz (Pseudonym H. A.) – 10 Alexander III. – 269 Alexander, Harold – 230 Altenberg, Peter – 66, 222, 225, 229– 230, 240, 242, 289 Amburger, Erik – 20, 86, 195 Amina (Tante) – 218, 227, 258 Andler, Charles – 34–35 Anna (Köchin) – 83, 267 Arendarenko, Vladimir – 195 Armitstead, George – 84 Aufricht, Ernst Josef – 38 August (Onkel) – 117, 181 Austerlitz, Friedrich – 34 Awertschenko, Arkadi – 66, 127 Baader, Franz von – 11, 66 Baeck, Leo – 32 Bade, Wilfrid – 47, 57 Bahr, Hermann – 32 Bald, Detlef – 45 Barthold, Wilhelm – 282 Bau, Emilie (Milli) – 48, 50–51, 54, 71 Bauer, Clemens – 44 Baunack, Annemarie – 63 Bauschinger, Sigrid – 177 Beck, Richard – 119, 173, 178 Beethoven, Ludwig van – 254 Békessy, Imre – 53 Békessy, János, alias Hans Habe – 51 Belloc, Hilaire – 39–44, 49 Benn, Gottfried – 66, 183, 187 Benrath, Henry – 49 Bergengruen, Irene – 286 Bergengruen, Werner – 30, 32, 41, 43, 233 Bergson, Henri – 66, 203, 205

„Berliner Russo“, Ringkämpfer – 273 Bernsdorff, Herbert – 232 Bernstorff, Hans Nikolaus Ernst Graf von – 22, 66 Bie, Oscar – 247, 251, 254, 258 Bienkowski, Franz („der Cyclop“) – 272 Biermann, Gottlieb – 13 Bilderling, Alexander von – 90 Bismarck, Otto von – 111–112, 269, 292 Blankenburg, Herbert von – 218 Blei, Franz – 253 Blum, Victor – 37 Bobéth, Marek – 239 Bobrinski, Wladimir Graf – 154 Böll, Irmgard – 286 Börne, Ludwig – 10 Boldt, Paul – 189 Bolowsky, Stanislaus – 273 Bondy, Fritz, alias N. O. Scarpi – 50 Borbély, Karin von – 18, 61, 108, 265 Brecht, Berthold – 37 Brennsohn, Isidor – 18, 62, 213 Brentano, Clemens – 66, 230 Brincken, Gertrud von den – 279–280 Brück, Max von – 44 Brückner, Alexander – 259 Brunck, Otto – 146 Bruyère, de la – 29, 224, 226 Bruyère, Olga de la – 224, 226 Buck, Pearl S. – 49 Bulak-Balaskowitsch, Stanislaus – 21 Bultmann, Rudolf – 40 Calderon, Pedro – 66, 248 Carlyle, Thomas – 9, 66 Cather, Willa – 49 Cervantes, Miguel de – 66 Chamier, Friedrich (Fred) – 100 Chesterton, Gilbert Keith – 10, 66, 187, 190 Clasani, Lia – 129 Classen, Werner – 49

Personenregister Claudius, Matthias – 66, 137 Cleemann, Walter Friedrich – 226 Conradi – 214, 217–218 Cramer – 211–213 Cramer, Hans – 212 Czech, Hildegard Irene – 124 D., Tolja – 93, 268 Dante Alighieri – 66, 172, 230 Dargomyschsky, Alexander – 87 Darwin, Charles – 172 Dave (Lehrer) – 94 Dellingshausen, Ewert von – 206, 227 Delwig – 114 Denissewitsch, Wolodja – 78, 82 Derschau, Theodor von – 60 Dickens, Charles – 66, 91 Diepenbrock – 162 Dobrženský, Mary, Gräfin – 35, 38 Döblin, Alfred – 66, 190 Dolbanja, Ivan – 195 Dornemann, Axel – 24 Dostojewski, Fjodor – 234 Dovifat, Emil – 55 Droste-Hülshoff, Annette von – 177 Dudi – 199–200 Duding – 92 Dürer, Albrecht – 176 Duncan, Isidora – 85 Eberle, Heinrich – 272–274 Eberstadt, Walter Albert, alias Major Everitt – 12 Eckermann, Johann Peter – 53 Eggebrecht, Axel – 12 Eggers, Alexander – 97 Eier, Helene – 89 Eisenreich, Herbert – 55 Elena Dmitrievna, Fürstin – 204, 206 Elsen, Franz – 38, 45–48, 59 Elsen, Michael – 46, 59 Eltz, Franziska (Fanny) Maria von – 64 Emmi – 94 Engelhardt (geb. Gernhardt), Annemarie – 285–286 Erdmann, Eduard – 30, 239, 244, 250 Erdmann, Georg (Gori) – 30, 129, 171, 178, 180–181, 226, 239, 244, 250

319

Erhardt, Christian Hugo – 175 Eveli – 282 Everitt, Major, s. Eberstadt, Walter Albert Faltin, Luise – 184 Falz, Nikolai – 28 Falz-Fein – 28 Federmann, Hertha – 67, 152 Feistle, Marie – 89 Feschotte, Woldemar – 20 Fetterlein, Friedrich, s. Vetterlein, Friedrich Feyerabend, Rosalie – 213 Fichte, Johann Gottlieb – 19 Fischer, Heinrich – 10, 42, 44 Fischer, Samuel – 246–247 Flaubert, Gustave – 67, 169 Fleissner, Blasius – 136 Förster, Evelin – 31, 255 Freifeldt, Konrad – 86 Freund, Leopold – 39 Freymann, Rudolf von – 16–17 Friedrich II. der Große – 276 Friedrich August III. – 110–111, 174 Fritz, Herdi, alias Felix Buntschli – 50 Gallus, Annie – 49 Gambier, Lucien (Vranken, Franken) – 272–273 Gan, Peter, s. Möring, Richard Gautier, Theophile – 161 George, Stefan – 67, 204, 206–207, 209–210, 219, 223, 229–230, 289 Gerhardt, Paul – 118 Gerkan (Gerkamp), Herbert Eugen Richard von – 105, 121–122, 124 Gerlich, Fritz – 41 Gernet, Axel von – 16–17 Gernhardt, Annemarie, s. Engelhardt, Annemarie Gernhardt, Elsa Caroline Hertha (Herta) – 21, 282 Gernhardt, Heinrich Carl – 21 Gernhardt (geb. Hagen), Wilhelmine (Minna) Ottilie– 21 Gerstäcker, Friedrich – 102 Gerster, Georg – 30, 157

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Personenregister

Gillessen, Günther – 42 Ginsberg, Ernst – 41 Glock, Karl-Borromäus – 69 Godziemba – 12 Goebbels, Joseph – 51 Goeckingk, Leopold von – 23, 67 Goethe, Johann Wolfgang von – 19, 52, 67, 145, 202, 229, 231, 249 Gogol, Michail – 11, 32, 34–35, 66, 237, 250 Gottschalk, Hanns – 10 Gottzmann, Carola – 9 Greve, Felix P. – 151 Grieg, Edvard – 67, 122, 124, 161 Grimm, Alexander – 292 Grimm, Alma von, s. Radecki, Alma von, Schwester Sigismunds Grimm, Claus – 211, 218, 226, 228, 230, 232 Grimm, Jacob – 242 Grimm, Oskar – 279–280, 292 Grimm, Richard – 292 Grimm, Werner Alexander von – 18, 61, 71, 104, 116, 125, 161, 172, 186, 197–199, 215, 219, 223, 227–229, 231, 234, 236–238, 258–259, 275, 279–280, 282, 291–293 Grimm, Wilhelm – 242 Gripenberg, Oskar-Ferdinand – 90 Gruehn, Werner – 294 Gühring, Adolf – 56 Guenther, Johannes von – 41 Guérin, Maurice de – 191 Gutschmidt, Alfred – 27, 119, 129, 139, 173 Haacke, Wilmont – 47, 57 Habe, Hans, s. János Békessy Haecker, Theodor – 11, 39, 42, 44 Hage, Johannes Emanuel – 27, 118–119, 139, 178–179 Hagen, Kuno – 115, 248 Hagen, Wilhelmine Ottilie, s. Gernhardt, Wilhelmine Ottilie Hahn, Traugott – 280 Hammerschlag, Viktor, alias Veit Henning – 33 Hannemann, Maria – 64

Hardekopf, Ferdinand – 255 Hardt, Ludwig – 250, 252, 255 Harnisch, Wilhelm – 143 Hartmann, Alexander (Sascha) Friedrich Wilhelm – 26, 108–109, 111–112, 173, 200 Hartmann, Woldemar (Wolli) – 20, 26, 108, 199–200, 222, 287, 293 Hasselblatt, Werner – 287–288 Hauptmann, Gerhard – 66–67, 128, 230, 255 Haydn, Franz Joseph – 135 Hebel, Johann Peter – 67 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich – 67, 231 Hegner, Jakob – 10, 41 Heiseler, Arthur Carl – 147 Heiseler (Haeseler), Arthur Friedrich – 147–148 Helfritz, Hans – 234, 292 Heller – 44 Helmersen, Wilhelm von – 16–17 Helmsing, Helene Elisabeth – 63 Henning, Veit, s. Hammerschlag, Viktor Herder, Sigmund Freiherr von – 107 Herholz, Gerd – 56 Hertwig – 149 Hesterberg, Trude – 31 Heuchler, Johann Eduard – 135 Heym, Georg – 67, 151 Heymann, Werner Richard – 31 Hildur – 185, 187 Hille, Peter – 19 Hinkelmann, Karl-Heinrich – 118 Hirschheydt, Dorothea Franziska Bertha, s. Tiedeböhl, Dorothea Franziska Bertha Hirschheydt, Hermann Gustav von – 65 Hölderlin, Friedrich – 67, 189, 230, 249 Hofmannsthal, Hugo von – 248 Holzamer, Karl – 54 Hörner, Petra – 9 Homer – 67 Hürlimann, Martin – 41, 49 Huhn, Anna Elvira von, s. Radecki, Anna Elvira von Humboldt, Alexander von – 106 Hunnius – 217, 221, 226

Personenregister Husserl, Edmund – 67, 237, 241 Ibsen, Henrik – 19, 161 Ilja – 78 Jacobsohn, Edith – 216 Jacobsohn, Siegfried – 26, 216–217 Jaeckle, Erwin – 52 Jahn, Franz – 44 Jahn (geb. Kirmse), Gertrud – 25, 38, 42, 44, 47 Jahoda, Georg – 34 Janowitz, Franz – 31, 67, 255, 261–263 Janowitz, Hans – 31, 255, 261 Jean Paul – 66, 68, 202, 204, 206–207, 219, 222, 230, 289 Jens, Inge – 45 Job, Jakob – 44 Joffe, Isaak – 18 Johanningsmeier, Charles – 50 Jordan, Hermann – 63 Jürgenssen, Ernestine Emilie Charlotte – 60 Kampa, Daniel – 9, 69 Kanitz, Doktor – 245 Kann, Helene M. – 33, 35–37, 43 Kant, Immanuel – 225 Kapp – 275 Kapp, Wolfgang – 236 Karjóff (Karew) (Wachtmeister) – 82, 266 Katin-Jartzew, Michael – 13, 196, 201 Kaull, Arved von – 141, 272–274 Keel, Daniel – 9 Kerr, Alfred – 165 Kessler, Wanda – 200 Kesten, Hermann – 46 Kestranek, Hans – 44 Keyserling, Leonie Gräfin von – 147 Kierkegaard, Sören – 9, 66–67, 152, 215, 230, 234 Kirchbach, Günter Graf von – 28 Kirchner, Julius – 81 Kirmse, Gertrud, s. Jahn, Gertrud Kirstein, Georg –101, 278 Kirstein, Heinz Günther Wolfram – 101, 104, 129, 143, 278

321

Kirstein, Lucie von, s. SamsonHimmelstjerna, Lucie von Klabund – 67, 222 Kleinberg, Alexandra – 130 Kleist, Heinrich von – 67, 134, 136 Klüsener, Erika – 240 Kluge, Felix – 147, 149, 195 Kluge, Hans Georg August – 102, 147, 149 Knab, Jakob – 45 Knüpffer, Gunnar – 101 Kobolt, Erich – 113, 197 Kokoschka, Oskar – 192 Kolbeck, Friedrich – 109 Koppe, Gottfried Valentin – 20, 89 Korff, Nicolas Adolf von – 100, 121, 125 Korrodi, Eduard – 51 Kotja – 93, 268 Kožišek, Jaroslav – 253 Krannhals, Olga – 85 Kraus, Karl – 9–11, 24–26, 31–39, 42– 44, 48–49, 51, 53–54, 56–57, 66–67, 177, 185, 188, 192, 207, 209–210, 216–220, 222–226, 229–230, 234, 241, 243–244, 250–258, 260–261, 282, 289, 295 Kressling, Alexander – 242 Kressling, Karl – 242 Kroeger, Familie – 258 Kroeger, Antonie Franziska Helene, s. Tiedeböhl, Antonie Franziska Helene Kroeger (Kröger), Ernst Adolf – 215 Kroeger, Hans – 61 Kroeger, Johann Gustav – 60 Kröger (Kroeger), Johanna Maria Dorothea (Jenny), s. Radecki, Johanna Maria Dorothea (Jenny) Kröger, Manni – 125 Kröger (Kroeger), Sigismund Otto – 64, 92 Kroll, Frank-Lothar – 43 Krüdener, Emma von – 109 Krüger, Hellmuth – 30, 191, 233, 236, 239, 244, 248, 257, 259–260, 262– 263 Kügelgen, Wilhelm von – 58 Kuehn (aus Schwaben) – 135 Kunza, Bernhard – 41

322

Personenregister

Kupffer, Eduard Arthur Erich – 27, 126, 139 Kuranda, Peter – 36 Kuropatkin, Alexei Nikolajewitsch – 90 Kursell, Herbert Otto Hermann von – 102, 140, 146 Labé, Louise – 225 Lagorio, Alexander – 184, 195 Landtmann, Gunnar – 198 Lange, Ada (Adda) – 61, 115 Lange, Carolina Elisabeth – 60 Lange, Emmy – 61 Lange, Erich Johannes – 61 Lange, Ernst Ferdinand – 61 Lasker-Schüler, Else – 13, 19, 30, 31–33, 37, 41, 43, 48, 57, 67, 157, 161, 165, 177, 179, 182, 188–190, 192, 230, 234–238, 240–241, 243–244, 250, 252–253, 257, 264 Lazarus, Michael – 57 Lenz, Wilhelm – 226 Lichnowsky, Gräfin Mechtilde Christiane Marie (Mary) – 22, 44, 252 Lichtenberg, Georg Christoph – 10, 67, 172 Liddy (Kinderfrau) – 294 Levien, Sitta, s. Staub, Sitta Lieven – 13, 60, 91 Lieven, Natalie Therese, s. Taube, Natalie Therese Lieven, Paul Iwan von – 140 Liliencron, Detlev von – 67, 230, 289 Lington, Major – 50 Lisa (Stubenmädchen) – 94 Lissner, Erich, alias el – 45 Loos, Adolf – 192 Lorenz, Willy – 42 Luchs, Paul Ernst – 62 Lurich, Georg – 272–274 Machiavelli, Niccolò – 67, 170 Mahlmann, Siegfried August – 67, 144 Maltzahn, Hans Adalbert von – 252 Mannerheim, Freiherr Carl Gustaf Emil – 82 Martini, Fritz – 69 Masing, Ferdinand – 85, 87

Mathar, Ludwig – 215 Mathilde (Braut) – 78 Meckler, Georg Karlovic – 20 Meier, Walther – 34, 49 Meier-Classen, Peter – 49 Menck, Clara – 10 Mengden – 114 Mensching, Steffen – 9 Mettig, Constantin – 162 Meyendorff, Alexander Baron – 17 Meyrink, Gustav – 67, 156 Middendorff, Kurt von – 124, 127, 179 Miehlnickel, Monika – 55 Mikl, Josef – 9 Moeller, Andreas Alexander von – 64 Moeller (Woll), Anina (Nina) Lucia von – 222, 270, 279, 291 Moeller, Arved von – 64 Moeller, Emilie von, s. Samson-Himmelstjerna, Emilie von Moeller, Eva Louise von – 29, 64, 197, 219, 227 Moeller, Friedrich Arnold Alexander von – 64, 214, 219 Moeller, Gustav von – 64 Moeller, Heinrich von – 64 Moeller (geb. Tideböhl), Josephine von (Josi) – 18–20, 56, 64, 70–71, 84, 108, 125, 130, 197, 214, 219, 221, 223, 227, 229, 231, 233, 235, 237, 240, 242–243, 245–246, 248, 251, 254, 257, 260, 262, 264, 279–280, 284, 293–295 Moeller, Reinhold Wilhelm von – 109 Möring, Richard, alias Peter Gan – 43, 58 Mohrenschildt, Walter von – 100 Morrisson (Morrison), Mary Vasilievna – 20, 88–89, 271 Morton, Charles – 272–273 Mozart, Wolfgang Amadeus – 67, 171, 224 Müller, Gregor – 36 Müller, Jens P. – 121, 132–133, 156, 168, 183 Muth, Carl – 25, 36, 43–45, 47, 65, 71 Nádherny, Sidonie – 57

Personenregister „Nänna“ (Kindermädchen und Köchin) – 84, 90, 294 Nansen, Fridtjof – 296 Nansen, Peter – 239 Neander, Wilhelm – 221, 231, 294 Nebogatow, Nikolai Iwanowitsch – 90 Neidhart, Berthold – 22, 93 Nekrassow, Leo – 27, 101, 139 Nestroy, Johann – 9, 66, 229–230, 241, 252, 289 Neumann, Therese (Therese von Konnersreuth) – 41 Neumann, Wilhelm – 109 Newman, John Henry – 40–41, 43 Nicklas (Niklas), J. – 84, 87 Niemann, August – 66–67, 81 Nieritz, Gustav – 66–67, 77 Nietzsche, Friedrich – 19, 152, 161, 176 Nikolaus II. – 82 Nobel – 171 Nobel, Alfred – 25, 33–34, 252 Nobel-Oleinikov, Martha Helma – 205 Novalis – 68, 230 Ochs, Felix – 138 Offenbach, Jacques – 25, 35, 68, 152 Oleinikow, Georg Paul – 205 Orlowski, Hubert – 47 Ortleb, Alexander – 66, 68, 77 Ostermann, Willi – 162 Pabst, Wolfgang, alias Pw – 11 Pajeken, Friedrich – 66, 68, 77 Palladio, Andrea – 166 Pantenius, Heinrich Theodor – 20, 85– 86 Papperitz, Erwin – 99–102, 104–105, 108–109, 118–119, 121, 124, 126, 129, 139–140, 147 Patti, Adelina – 85 Paul, Hella von – 61 Pawel, Aline (A. P.) – 78, 80, 82, 84, 86, 88, 91, 93–94, 97, 158–159, 161, 267, 269 Perret, Clotilde Alexandrine Marie, s. Rotermann, Clotilde Alexandrine Marie Pfäfflin, Friedrich – 32, 57, 240

323

Pierrard, Jean („le Colosse“) – 272–274 Pilar von Pilchau – 110 Pishel – 106 Pius X. – 111 Planitz, Hans von der – 136–137 Plato, Irma Hulda – 294 Plato, Joseph – 294 Poe, Edgar Allan – 68, 202 Polgar, Alfred – 10 Prévost, Antoine-François – 68, 156 Prutkow, Kosma – 68, 96 Puschkin, Alexander – 11, 29, 32, 43, 66, 68, 219, 230, 234, 261, 263 Quack, Josef – 40, 55 Radecki (geb. Tideböhl), Alma Dorothea Wilhelmine von (Mutter Sigismunds) – 13–14, 17–18, 29, 61, 64, 69–70, 78–95, 104–106, 108, 116, 120, 130, 144, 147–148, 156, 171, 182, 185– 186, 196–197, 199–201, 203, 258– 259, 266–269, 271–272, 278, 280– 284, 294–296 Radecki (Grimm), Alma Johanna Franziska von („Micko“) (Schwester Sigismunds) – 13–14, 18–19, 21, 29, 52, 56, 61, 70–71, 77–78, 80, 82, 87, 89, 93–94, 104, 106, 114, 116, 120, 131, 156, 160–161, 172, 182, 185– 186, 211, 215, 219, 223, 227–229, 231, 233, 236–238, 245, 258–260, 262, 264–270, 274–276, 278–280, 282, 284, 289, 291–294 Radecki (geb. Huhn), Anna Elvira von (Tante Anna) – 62, 218, 230–231, 242, 244–245, 251 Radecki, Anna Margarethe von – 62 Radecki, Antonius von – 12 Radecki (Radekki, Radezki), Christoph (Christian) von – 13 Radecki, Christoph Heinrich von – 13, 60 Radecki (Radeck von Radecki), Conrad Rudolf von – 12–13 Radecki, Edith Johanna von – 63 Radecki, Eduard Wilhelm von – 60 Radecki, Ellen Wilhelmine Eleonore

324

Personenregister

(Puppi) von – 62, 183, 219, 231–233, 242, 245 Radecki, Emma Karoline (Emmy) von – 61 Radecki, Erik von – 63, 231 Radecki, Ernst Joseph von – 62, 181, 231 Radecki, Eva Louise von – 12–14, 17– 22, 24–26, 28–32, 37, 60–63, 66, 70, 72–73, 78–80, 82, 87, 89–90, 93–94, 96, 104, 106, 111, 115, 120, 122–123, 133–134, 136, 148, 150–151, 154, 156, 161–162, 164, 172, 176–177, 179–180, 182–183, 185–193, 196– 198, 200–201, 203–206, 208–211, 213–225, 227–240, 242–252, 254, 257–260, 262–264, 266–275, 279– 284, 288–294 Radecki, Fedor von – 12 Radecki, Friedrich Carl von – 13 Radecki, Georg Carl Eduard – 63 Radecki, Heinrich Eduard von – 60 Radecki (Lange), Helene (Ella) Caroline von – 61, 213, 218, 227, 231, 258, 281 Radecki, Helene Elisabeth von, s. Helmsing, Helene Elisabeth Radecki, Helene Emmi (Hella) von – 62, 231, 281 Radecki, Hermann Robert von – 63, 110–111, 231 Radecki, Johanna (Hanna) von – 63, 181 Radecki (geb. Kroeger), Johanna Maria Dorothea (Jenny) von – 60, 84, 92, 278, 280–281 Radecki, Martinus Josephus de Radec – 13 Radecki, Maximilian von – 13, 60, 104 Radecki, Michael Hieronymus von – 12 Radecki, Ottokar Eduard von („Pappi“) – 10, 13–17, 24, 26, 28–30, 61, 64– 65, 70, 72–73, 78, 80–88, 90–97, 99, 101–107, 109–113, 116–119, 121, 125–128, 130–131, 133, 135, 137– 143, 145–149, 152–153, 157–159, 163–165, 168–175, 178, 180–183, 186, 190–191, 194, 197, 201, 203, 205–206, 209, 211–215, 218–219,

223, 227–229, 231–232, 235–236, 238, 240–242, 244–247, 249–251, 254, 256, 259–260, 262–267, 269– 272, 275–276, 278–288, 291–296 Radecki, Sigismund Johannes von – 61 Radecki, Sigrid Johanna Elisabeth von – 63 Radecki, Wilhelm Otto Hellmuth Ernst Ottokar von („Willi“) – 13–14, 17, 20, 24, 26, 29, 62, 73, 77–80, 82–89, 91– 95, 99–101, 104, 106–107, 109, 112– 114, 117, 119–120, 124–127, 129, 134, 136–140, 143, 145–146, 148, 150, 153–155, 157, 160–162, 170– 171, 173–174, 178, 181, 190, 226, 266–271, 275, 277, 279–288 Radetzky, Georg Christian – 13 Radetzky, Johann von – 13 Radetzky, Josef Wenzel, Graf – 12 Radetzky, Ottokar, s. Radecki, Ottokar Raffalt, Reinhard – 42 Raimund, Ferdinand – 68, 241, 252 Rathlef, Fanny – 20, 206, 208, 209, 211, 221, 223, 227, 229, 231, 233, 235, 237, 240, 242–243, 245–246, 248, 251, 254, 257, 260, 262–264, 280, 283–284, 293–294 Rathlef, James – 227 Ratschewski (Offizier) – 285 Redelien, Gustav – 91 Redlich, May – 30, 233 Regele, Oskar – 12 Rehsche, Silvester Hugo – 130, 141–144, 149, 164, 277–278 Reich, Willy – 36, 49 Reichenbach, Bernhard – 43 Reimers – 80 Reinhardt, Max – 68, 128, 152, 248 Renn, Ludwig – 18 Renner, Johanna Justine – 107 Reventlow, Ernst Graf zu – 82 Repin, Ilja E. – 269 Richter, Adolf – 81, 90 Riekhoff (Tiedeböhl), Elisabeth von – 65 Rilke, Rainer Maria – 68, 97, 115, 176– 177, 191, 223 Rimscha, Hans von – 234 Ring, Signe – 68

Personenregister Roberti, Herr – 169 Rodin, Auguste – 169, 188 Ropp, Friedrich Theodor von der – 100, 119–121 Rosenberg, Alfred – 44 Rotermann – 30, 198, 241–242 Rotermann, Christian Ernst August – 30, 198, 244, 265 Rotermann, Christian – 265 Rotermann (geb. Perret), Clotilde Alexandrine Marie – 30, 244 Roth, Joseph – 31 Roth, Martha – 22 Rothberg, Oskar – 18 Rubiner, Ludwig – 250 Rychner, Max – 51–52 Samson-Himmelstjerna (geb. Moeller), Emilie von – 131, 154 Samson-Himmelstjerna (Kirstein), Lucie von – 101 Samson-Himmelstjerna, Robert (Robbie) von – 26, 100, 117–118, 121–122, 124–127, 131, 150, 195 Sand, George – 177 Sandon, Edward Gauvain – 104 Sappho – 177, 180 Sass, Reinhold von – 100 Scarpi, N. O., s. Bondy, Fritz Schachowskoj – 201 Schachowskoj, Iwan Petrowitsch – 201 Schachowskoj, Wladimir – 201 Schäfer, Hans-Dieter – 9, 72 Schaper, Edzard – 41, 43, 69 Scheichl, Sigurd Paul – 35 Schickele, René – 180 Schifferli, Peter – 43, 49 Schiffner, Carl – 147 Schiller, Anna Catharina – 147 Schiller, Friedrich von – 68, 107, 128, 155 Schilling, Alexander Karl Baron von – 27, 109, 124, 129, 139, 143–144 Schlaffer, Heinz – 53 Schlippe, Leo von – 28 Schlupp, Harry Ivanovic – 20, 271 Schmied, Rudolf Johannes – 68, 260 Schmorell, Alexander – 45

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Schöningh, Franz Josef – 10, 44 Scholl, Hans – 45–46 Scholl, Sophie – 45–46 Scholl-Aicher, Inge – 46 Schremmer, Ernst – 69 Schultz, Agnes – 219 Schultz, Arvid – 231 Schumann, Robert – 142, 161 Schunder, Friedrich – 157 Schurz, Carl – 51 Schwarz, cand. jur. – 287 Schwitzky, Bernhard – 226 Seewald, Richard – 38, 41, 49 Seewann, Harald – 100 Shakespeare, William – 19, 35, 68, 183, 202, 204, 206, 230, 232 Sicard, Ferdinand – 213 Simon, Ernst – 43 Sinapius, Johannes – 12 Skrodzki, Karl-Jürgen – 43, 264 Sloman, Henry B. – 150 Sollogub, Fjodor – 9 Sonni – 89, 91–92, 269 Specht, Gustav – 236 Speer, Helmuth – 19 Speidel, Ludwig – 10 Spitzer, Daniel – 10 Stackelberg, Familie – 214 Stackelberg, Edith Louis Freiin von – 64 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine (Madame) de – 177 Stanke, Leo Hermann – 27, 118–119, 139 Staub, Hugo – 256 Staub, Sitta (geb. Levien) – 31, 252, 255–256 Stechern – 228 Stefl, Max – 22, 44–45, 52, 71, 93 Stein, Karl Freiherr von – 114 Steiner, Max – 68, 172 Stenbock-Fermor, Alexander – 218 Stender, Otto Wilhelm – 213 Sternfeld, Wilhelm – 43, 50 Stieda, Christel – 104 Stifter, Adalbert – 68, 172, 222, 241, 243 Stirner, Max – 68, 154 Strothmann, Dietrich – 44

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Personenregister

Stryk, Heinrich von – 211 Stuck, Franz Ritter von – 115 Sturm, Heribert – 33 Sturm, Vilma – 54 Stutzer, Friedrich Carl Gustav – 27, 139, 164–165, 179 Sudhoff, Dieter – 31, 255 Swift, Jonathan – 42–43

172 Trofimow, Michael – 81, 84 Trompowsky, Edmund von – 159 Trotzig, Peter – 101, 104, 109 Tschechow, Anton – 11, 31 Türmann, Axel – 20 Turgenew (Turgenjew), Iwan – 68, 86, 234

Taube, Natalie Therese von – 140 Taube, Nikolaus Freiherr von – 27, 101, 139, 153 Teichert, Friedrich – 215 Thomson, Erik – 11 Tideböhl – 60, 63 Tideböhl, Alma von, s. Radecki, Alma von (Mutter Sigismunds) Tideböhl (Kroeger), Antonie Franziska Helene – 64, 92 Tideböhl, Arnold Johann Heinrich – 29, 65 Tideböhl, Arnold Gustav Wilhelm von – 63 Tideböhl (Hirschheydt), Dorothea Franziska Bertha – 65 Tideböhl, Elisabeth von, s. Riekhoff, Elisabeth von Tideböhl, Felix Wilhelm Heinrich – 65 Tideböhl (geb. Eltz), Franziska (Fanny) Maria von – 64 Tideböhl, Franziska (Fanny) Pauline – 64, 130 , 145, 168 Tideböhl, Helene Emilie Johanna (Emma) – 65, 130, 167–169, 172 Tideböhl, Johann Heinrich Victor – 64 Tideböhl, Josephine, s. Moeller, Josephine Tideböhl, Louise Eleonore – 64 Tideböhl, Maria Auguste Amalia – 64, 91, 281 Tiemann, Harald – 286 Tiemann, Richard – 286 Tiling, Peter von – 60, 258 Tolstoi, Leo – 234 Trakl, Georg – 66, 68, 192, 219, 250 Tremp, Benedikt – 49 Trepow, Dmitri Fedorowich – 88 Treptow, Emil – 119, 126–127, 169,

Ungern-Sternberg, Max Freiherr von – 147, 149 Unterrichter von Rechtental, Ludwig Freiherr – 102, 133 Vambery, Robert – 37–38 Vanderbilt – 194 Vegesack, Siegfried von – 23, 43, 69 Verlaine, Paul – 68, 185 Verne, Jules – 156 Vetterlein (Fetterlein), Friedrich – 89, 267 Vielhaack – 219, 232 Vielhaack, Anna Caroline – 219 Vielhaack, Ute – 219 Viertel, Berthold – 37 Vietinghoff-Scheel, Max Eugen von – 100 Voltaire – 276 Voss, Rüdiger von – 43 Walter, Adolf – 286 Walter, Katharina (Kitta) – 239, 245, 263, 279–280 Walter, Maria von – 28 Walter, Piers – 221–222, 226 Walter, Reinhold von – 28, 41, 264 Walter, Roland – 239, 248, 279 Walter, Sophia (Susa) Helene – 248, 251 Wedekind, Frank – 252 Weilandt, Johannes – 56 Weilandt-Matthaeus, Ruth – 22, 25, 38, 41, 56–58, 71, 74, 93 Weinberg, Familie – 284 Weisgerber, Leo – 54 Wellmann, Paul – 49 Wenner, Johann Richard – 47

Personenregister Werfel, Franz – 68 Werner, Gösta – 33 Whitman, Walt – 19 Wickenburg, Erik Graf – 46 Wilde, Oscar – 68, 151, 253 Wilhelm II. – 191, 220, 270 Wilke, Rudolf – 50, 55 Willewaldt, Paul Gottfridovic – 20 Willisch, Irene von – 239 Wilpert, Gero von – 9, 56 Wilson, Woodrow – 220 Witte, Sergej Graf – 26

Wittmann, Reinhard – 42 Wolfradt, Willi – 58 Wolkowski – 81 Woll, Anina, s. Moeller, Anina Woll, Emil – 222, 278 Wüllner, Ludwig – 38 Wulff, Margarethe – 23, 68 Zahn, Peter von – 10 Zeppelin, Ferdinand Adolf Heinrich August Graf von – 110 Zobeltitz, Hanns Caspar von – 233

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