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German Pages 250 [252] Year 2012
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UTB 3662
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
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Themen der Theologie herausgegeben von Christian Albrecht, Volker Henning Drecoll, Hermut Löhr, Friederike Nüssel, Konrad Schmid
Band 6
III
Markus Witte (Hg.)
Gerechtigkeit
Mohr Siebeck
IV Markus Witte, geboren 1964, ist Professor für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter des Instituts K irche und Judentum – Zentrum für christlich-jüdische Studien an der Humboldt-Universität.
ISBN 978-3-8252-3662-5 (UTB Band 3662) Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www. utb-shop.de Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen gedruckt und gebunden.
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Vorwort
Die vorliegenden Beiträge zu »Gerechtigkeit« als Thema der Theologie sind in einem engen Zusammenspiel aller an dem Band beteiligten Autoren und Autorinnen entstanden, wofür ich diesen sehr dankbar bin. Die Übersetzung der zitierten akkadischen, arabischen, griechischen, hebräischen und sumerischen Quellentexte stammt, sofern nicht ausdrücklich vermerkt, von den Autoren und Autorinnen der entsprechenden Artikel. Um den Fließtext von zu langen Quellenangaben zu entlasten, sind alle biblischen Bücher, außerkanonische Schriften des antiken Judentums und frühen Christentums sowie antike pagane Autoren und ihre Werke nach dem Abkürzungsverzeichnis der Religion in Geschichte und Gegenwart (4. Auflage) abgekürzt. Für die Unterstützung bei der editorischen Arbeit und der Erstellung der Register danke ich herzlich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Dipl. theol. Sven Behnke. Markus Witte
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Inhalt
Einführung Markus Witte: Gerechtigkeit als Thema der Theologie . . . . . . 1 Rechtsgeschichte Guido Pfeifer: Gerechtigkeit aus der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Zur sprachlichen Erfassung von Gerechtigkeit in altmesopotamischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3. Sedes materiae der Gerechtigkeit in Textgattungen der altmesopotamischen Überlieferung . . . .. . . . . . . . . . . 18 3.1. Rechtstexte (Rechtssammlungen, Geschäftsurkunden, Prozessprotokolle) . . . . . . . . . . . 18 3.2. Nichtjuristische Bestandteile (Prologe und Epiloge) von Rechtssammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.3. Gerechtigkeitserlasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.4. Sonstige literarische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4. Gerechtigkeit als religiöses, politisches und gesell schaftliches Konzept in der Welt des Alten Orients . . . . . . 23 4.1. Gerechtigkeit und göttliche Ordnung . . . . . . . . . . . . 23 4.2. Gerechtigkeit und Legitimation von Herrschaft ������� 24 4.3. Gerechtigkeit und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 5. Rechtsetzung und Rechtsprechung als konkretisierte Ausprägungen von Recht in der Lebenswirklichkeit des Alten Orients .. . . . . . . . . . . . . . . . 28 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
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Inhalt
Altes Testament Markus Witte: Von der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Gerechtigkeit als Leitmotiv der Theologie des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Von Eden zum Sinai – Theologische Spuren von Gerechtigkeit im Pentateuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3. Von David zum Messias – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Von Hiob zu den Betern in Qumran – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den Lehrbüchern des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5. Von Habakuk zum Lehrer der Gerechtigkeit – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den Prophetenbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 6. Von Alexandria nach Golgatha – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den deuterokanonischen (apokryphen) Büchern des Alten Testaments . . . . . . . . . . . 59 7. Der theologische Beitrag des Alten Testaments zum Thema Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Neues Testament Lukas Bormann: Gerechtigkeitskonzeptionen im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Gerechtigkeitsdiskurse in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1.1. Griechentum, Hellenismus, Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1.2. Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Die Wortgruppe »Gerechtigkeit« im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3. Gerechtigkeit und Reich Gottes in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Die »bessere« Gerechtigkeit im Matthäusevangelium .. . . 79
Inhalt
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5. Gerechtigkeit Gottes, Rechtfertigung der Gottlosen und Gottes Treue zu Israel bei Paulus .. . . . . . . . . . . . . . . 83 6. Das hellenistische Tugendideal im lukanischen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 7. Gerechtigkeit durch Gottes Strafgericht (Johannesoffenbarung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Kirchengeschichte Volker Leppin: »Gerechtigkeit«: Entwicklungslinien in der Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Antikes Christentum: Gerechtigkeit als Ethos der christlichen Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1.1. Die christliche Gemeinde als Ort der Gerechtigkeit in Ablösung vom Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1.2. Einordnung in die pagane Tugendethik . . . . . . . . . . 101 1.3. Gesamtgesellschaftliche Öffnung und binnen christliche Zentrierung des Gerechtigkeitsethos ������ 102 1.4. Augustin: Menschliche Gerechtigkeit im Horizont der paulinischen Rechtfertigungstheologie . . . . . . . 103 2. Spannungsvolle Zuordnung der Gerechtigkeit zur Theologie im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.1. Verselbständigung der Gerechtigkeit im tugend ethischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.2. Ethische Gerechtigkeit als gesellschafts gestaltende Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.3. Das augustinisch-paulinische Erbe: Gottesgerechtigkeit und Menschengerechtigkeit ���� 109 3. Reformatorische Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.1. Die »iustitia Dei« als Zentrum reformatorischer Theologie bei Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.2. Soziale Gerechtigkeit in Luthers Perspektive . . . . . . 114 3.3. Göttliche und menschliche Gerechtigkeit bei Zwingli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
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Inhalt
3.4. Gerechtigkeit als Verwirklichung des Gotteswillens bei Calvin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Neuzeitliche Fortführung der Verselbständigung des Gerechtigkeitsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Systematische Theologie (Dogmatik und Ethik) Elisabeth Gräb-Schmidt: Gerechtigkeit systematischtheologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Gerechtigkeit als Grundbegriff in der abendländischen Philosophie und Theologie – eine Problemexposition in gegenwärtiger Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Gerechtigkeit in der philosophischen und theologischen Tradition und seine gegenwärtige Relevanz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Gerechtigkeitstradition der griechischen Antike in ihrer gegenwärtigen Relevanz . . . . . . . . . . 2.2. Die biblisch-theologischen Traditionen des Verständnisses von Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Ausdifferenzierung des Begriffs Gerechtigkeit in der Neuzeit und das Weiterwirken von deren verborgenen Voraussetzungsbedingungen in der Gegenwart .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Metaphysische Spuren in den Gerechtig keitsmodellen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Spuren inhaltlicher Bestimmungen in den Gerechtigkeitsmodellen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerechtigkeit als Horizontbegriff der Ethik – zur Motivation des Handelns und ihren Voraus setzungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gerechtigkeit im Horizont von Barmherzigkeit und Liebe. Zur grundlagentheoretischen Relevanz des reformatorischen Gerechtigkeitsverständnisses . . . .
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Inhalt
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5. Fazit: Zur Relevanz des reformatorischen Gerechtig keits- und Freiheitsverständnisses für die gegen wärtige Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Religionswissenschaft Bärbel Beinhauer-Köhler: »Gerechtigkeit« als religiöses Konzept und seine Varianten im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theoretische Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerechtigkeit in der Periode des entstehenden Islam .. . 4. Der gerechte Herrscher im Kontext politisch theologischer Konzepte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die sunnitische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Erwirken göttlicher Gnade im Rahmen der populären Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Dynamiken des Gottesbildes im Sufismus . . . . . . . . . . . . 8. Die Verwirklichung der Gerechtigkeit am Ende der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Der Zeichenkomplex um das Konzept der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Praktische Theologie Ursula Roth: ›Gerechtigkeit‹ – Thema und Reflexionsperspektive der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. ›Gerechtigkeit‹ – (k)ein praktisch-theologischer Grundbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. ›Gerechtigkeit‹ als thematische Bezugsgröße christlich-religiöser Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. ›Gerechtigkeit‹ als Thema der christlichen Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. ›Gerechtigkeit‹ als thematische Bezugsgröße der christlichen Gottesdienstpraxis .. . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.3. ›Gerechtigkeit‹ als Thema des seelsorgerlichen Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. ›Gerechtigkeit‹ als Thema des Religions unterrichts .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ›Gerechtigkeit‹ als Grundkategorie praktisch theologischer Reflexion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Diakoniewissenschaft – Gerechtigkeit als Maßstab helfenden Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Religionspädagogik – Die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Kybernetik – Gerechtigkeit als Maßstab kirchenleitender Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Zusammenschau Markus Witte: Bilder und Bildung der Gerechtigkeit .. . . . . 217 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Autoren und Autorinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
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Einführung
Markus Witte
Gerechtigkeit als Thema der Theologie 1. »Als sich die beiden Freunde einigermaßen erholt hatten, schlugen sie den Weg nach Lissabon ein. Sie hatten noch etwas Geld übrigbehalten und hofften nun, nachdem sie das Unwetter glücklich überstanden hatten, sich damit vor dem Hungertode zu retten. / Kaum aber hatten sie – während sie noch den Tod ihres Wohltäters beklagten – die Stadt erreicht, als die Erde unter ihren Füßen erbebte. Brausend und zischend wälzten sich die Wogen des Meeres in den Hafen, und die Schiffe, die dort vor Anker lagen, zerschellten. Flammenströme und Aschenregen wirbelten über Straßen und Plätze; Häuser stürzten ein, Dächer fielen auf die Fundamente, und die Fundamente barsten. Dreißigtausend Menschen jeden Alters und Geschlechts lagen zermalmt unter den Trümmern. […] Pangloß jedoch tröstete sie mit der Versicherung, die Dinge könnten gar nicht anders sein. ›Denn‹, so sagte er, ›alles dies ist so am besten. Wenn es nämlich bei Lissabon einen Vulkan gibt, so kann das Erdbeben nicht woanders sein, denn es ist ja selbstverständlich, daß sich die Ereignisse dort abspielen müssen, wo sie entstehen. Also ist alles gut.‹ / Sein Tischnachbar, ein kleiner Mann mit schwarzem Haar und dunkler Hautfarbe, der ein Späher der Inquisition war, wandte sich höflich an Pangloß und sagte: ›Anscheinend glaubt der Herr nicht an die Erbsünde, denn wenn alles gut ist, so gibt es weder Sündenfall noch Sühne.‹«
Ereignisse, wie das hier von Voltaire in seinem Candide oder der Optimismus (1759, 29‒32) mit beißender Ironie geschilderte Erdbeben von Lissabon, dem am 1. November 1755 zwischen 30.000 und 100.000 Menschen zum Opfer fielen, wiederholen sich. Ob durch die Gewalten der Natur oder von Menschenhand oder durch ein Zusammenwirken von beiden: die Kette von Katastrophen, die Menschen, Tieren und Pflanzen das Leben kosten, die
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Einführung
eine tiefe Spur von Verwüstung hinterlassen und die der Erde wie dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit unauslöschliche Narben einbrennen, begleitet die Geschichte dieser Erde, sie reißt nicht ab. Gleichermaßen wiederholen sich die Versuche, das Erlebte in Worte zu fassen; das an sich Unsagbare zur Sprache zu bringen, das Unbegreifliche zu deuten und das eigentlich Untragbare irgendwie erträglich zu machen. Der plötzliche Zusammenbruch der eigenen Welt, die bis vor wenigen Augenblicken noch in Ordnung schien, das sich ausbreitende Chaos verschafft sich Luft, in lauter Klage oder in stummer Trauer, es verlangt nach Hilfe und nach Erklärung, nach Beistehen und Verstehen. »Also ist alles gut«, lässt Voltaire im 18. Jahrhundert seinen fiktiven Philosophen Pangloß in ironischer Verkehrung der Leibnizschen Vorstellung, in der Welt sei von einem gerechten Schöpfergott alles auf das Beste eingerichtet, räsonieren. Alles ist gut? Wie lässt sich das sagen, angesichts von Krieg und Hunger, Missbrauch und Ausbeutung, Vergewaltigung und Unterdrückung? Sind nicht im Schatten der Shoah allein die Klage Hiobs: »Wozu hat Er dem Mühseligen Licht gegeben / und Leben denen, deren Seele ganz bitter ist?« (Hi 3,20) oder das in Anlehnung an Elischa Ben Abuja von Richard Rubinstein formulierte Bekenntnis, dass es weder ein göttliches Gericht noch einen göttlichen Richter gebe, richtig? (vgl. Brocke/Jochum 1993: 266) Die Frage nach einem Zusammenhang zwischen a) der Erfahrung, dass die Ordnung des eigenen Lebens erschüttert ist, b) dem eigenen Handeln, das dieser Erfahrung vorausgegangen ist, c) der Gemeinschaft, in der man lebt, und d) der Größe, die man als Grund des Seins bekennt und auf die man als Ermöglichung des Lebens vertraut, führt zumindest in den vom Alten Vorderen Orient und der klassischen Antike geprägten Kulturen zur Frage nach der Gerechtigkeit. Begleitet durch die alltägliche Erfahrung, dass über uns, über unser Handeln und Verhalten, geurteilt und gerichtet wird, erscheint diese Frage dann in einer dreifachen Brechung als Suche nach der eigenen menschlichen Gerechtigkeit, nach der Gerechtigkeit der Gemeinschaft und nach der Gerechtigkeit Gottes oder der Götter: Zwischen den Polen »Alles ist gut«, was sich in der Fluchtlinie des biblisch-hebräischen Wortes für »gut« (tôb, vgl. Gen 1,31) auch als »Al-
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les hat Sinn« verstehen ließe, und »Nichts ist gut« respektive »Nichts hat Sinn« verläuft die Suche nach persönlicher, sozialer, politischer und religiöser Gerechtigkeit. So ist die Frage nach Gerechtigkeit wie die damit eng verbundenen Fragen nach Recht und Rechtfertigung, nach menschlicher Freiheit und Determiniertheit, wesenhaft nicht nur ein Bestandteil einer jeden philosophischen und theologischen Anthropologie und Ethik, sondern auch ein genuines Element der reflektierten, systematisch strukturierten und funktional auf die eigene religiöse Gemeinschaft bezogenen Rede von Gott, mithin der Theologie. In gewisser Weise spiegelt sich in der Beantwortung dieser Fragen das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft, ihres religiösen Symbolsystems und ihrer theologischen Deutungsmuster. Aus der Perspektive christlicher Theologie und ihrer Wurzeln, die über das abendländische Mittelalter weit zurückreichen in die Welt des Alten Vorderen Orients und der klassischen Antike, erscheint Gerechtigkeit geradezu als ein Leitthema und als ein wesentlicher Motor des Nachdenkens über Gott, den Menschen, die Welt und deren gegenseitiges Verhältnis.
2. In diesem Band wird aus der Perspektive der Kerndisziplinen der protestantischen Theologie und ihrer spezifischen philologischen, historischen, philosophischen sowie kultur- und sozialwissenschaftlichen Methoden den unterschiedlichen Achsen und Dimensionen von Gerechtigkeit nachgegangen. Dabei wird sich zeigen, dass bereits in den verschiedenen narrativen, prophetischen, rituellen, weisheitlichen und rechtlich-ethischen Passagen des Alten Testaments Gerechtigkeit ein roter Faden ist. Dessen Anfänge liegen zu wesentlichen Teilen in einem Weltordnungsdenken, das für das alte Mesopotamien, Kleinasien und Ägypten sowie für das archaische Griechenland nachweisbar ist. Daher ist den alttestamentlichen Ausführungen zur Gerechtigkeit ein Beitrag zur altvorderorientalischen Rechtsgeschichte vorangestellt. In diesem führt Guido Pfeifer am Beispiel der ältesten literarisch erhaltenen Rechtstexte aus Mesopotamien in Grundbegriffe des Gerechtigkeitsdiskurses wie Recht
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Einführung
und Gesetz, politische, soziale und legislative Gerechtigkeit sowie das Verhältnis göttlicher und menschlicher Garantie und Durchsetzung von Gerechtigkeit ein. Eine zentrale Rolle spielt dabei der »Codex« des babylonischen Königs Hammurabi (Hammurapi) aus dem frühen 18. Jahrhundert v. Chr., der seit seiner Entdeckung, einschließlich seines Bildprogramms, wie es auf der 1902 gefundenen Susa-Stele zu sehen ist, als altorientalisches Musterbeispiel für eine Rechtssammlung und für die Vorstellung einer schöpfungsmäßig in den Kosmos eingesenkten Weltordnung gilt. Der folgende Beitrag von Markus Witte orientiert sich an einem gerechtigkeitstheologischen Dreiklang von Glaube an die Gerechtigkeit, Problematisierung der Gerechtigkeit und Neubestimmung der Gerechtigkeit im Alten Testament. Er demonstriert an ausgewählten Texten aus dem Pentateuch, den Geschichtsbüchern, den Lehrbüchern, den prophetischen Büchern und den Apokryphen, wie das Alte Testament im Laufe von tausend Jahren israelitischjüdischer Religions- und Literaturgeschichte zu einem Kaleidoskop anthropologischer, kosmologischer, ethischer und theologischer Gerechtigkeitsvorstellungen geworden ist. Ein besonderes Augenmerk gilt den historischen Situationen sowie den geistes- und sozialgeschichtlichen Konstellationen und Faktoren, welche die Frage nach der Gerechtigkeit in Israel und Juda im 1. Jahrtausend v. Chr. hervorgerufen und bedingt haben. Insofern das Alte Testament in seiner Endgestalt ein Produkt der hellenistisch-römischen Zeit ist, führen diese Ausführungen unmittelbar zu neutestamentlichen Gerechtigkeitskonzeptionen im Neuen Testament. Diese gründen, wie Lukas Bormann aufzeigt, nicht nur in der Welt des Alten Orients, sondern partizipieren, wie bereits die spätalttestamentlichen Bücher Jesus Sirach oder Sapientia Salomonis, an der paganen griechischen Philosophie und an den klassischen Gerechtigkeitsdefinitionen Platons (428/27–348/47 v. Chr.) und Aristoteles’ (384–322 v. Chr.). Der Beitrag von Bormann bietet daher in Ergänzung zur altorientalischen Rechtsgeschichte zunächst einen Überblick über den Begriff der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) in der klassischen Antike, der – erweitert um die römischen Bestimmungen der iustitia durch Cicero (106–43 v. Chr.) und Domitius Ulpianus (um 170–223 n. Chr.) – die rechtsphilosophischen
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und gerechtigkeitstheologischen Debatten von der Spätantike über das Mittelalter bis in die Neuzeit prägte. Je nach traditionsgeschichtlichem Hintergrund, theologischem Argumentationsmuster und jeweiligem Adressatenkreis lassen sich die Vorstellungen sozialer und religiöser Gerechtigkeit in der Verkündigung Jesu, wie sie aus der ältesten Jesusüberlieferung rekonstruiert werden kann, im Matthäusevangelium, im lukanischen Doppelwerk, in der paulinischen Theologie und in der Offenbarung des Johannes nachzeichnen. Ein Schwerpunkt liegt natürlich auf der Interpretation des paulinischen Verständnisses der Gerechtigkeit Gottes und der damit in Zusammenhang stehenden Vorstellung von der Rechtfertigung des Gottlosen, die im Rahmen der protestantischen Theologie mitunter bis heute als wesentlicher Differenzpunkt zur römisch-katholischen K irche angesehen wird. Die Transformation, die der biblisch-hebräische Begriff Gerechtigkeit (s edāqāh) durch seine Wiedergabe mit dem Wort δικαιοσύνη in der antiken jüdischen Übersetzung der hebräischen heiligen Schriften, der Septuaginta, und dann im Neuen Testament sowie durch seine Einschreibung in das römische Rechtsdenken erfahren hat, bestimmt die sich an das Neue Testament anschließenden Gerechtigkeitsdiskurse im christlichen Abendland. Diesen ist der kirchengeschichtliche Beitrag von Volker Leppin gewidmet, der schlaglichtartig den Stellenwert und die Deutung von Gerechtigkeit in der Alten Kirche, in der scholastischen Theologie des Mittelalters und in den theologischen Entwürfen der drei großen Reformatoren (Martin Luther, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin) beleuchtet. Dabei erweist sich der Umgang mit dem Thema Gerechtigkeit geradezu als ein Unterscheidungsmerkmal christlicher Theologien, Anthropologien und Ethiken, wenn z.B. in der Alten Kirche Gerechtigkeit in Weiterführung der Idee von den vier klassischen Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit) als christliche Tugend schlechthin bestimmt wird, sie in der mittelalterlichen Theologie als Grund der Menschwerdung Gottes gilt und in das Zentrum der christlichen Erlösungslehre bildet oder neuzeitlich im Kontext menschlicher und göttlicher Freiheit reflektiert wird. Im Blick auf die Geschichte der christlichen Sozialethik wird die kriteriologische Funktion von Gerechtigkeit
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besonders deutlich, wenn sie im Sinn des sozialen Ausgleichs und der »option for the poor« zum Kennzeichen diakonischen Handelns im 19. Jahrhundert und zum Signum kirchlichen Selbstverständnisses innerhalb des konziliaren Prozesses »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« wird, der vom Ökumenischen Rat der Kirchen offiziell auf der Konferenz in Vancouver 1983 eingeläutet wurde. Ein solches Zusammenspiel von Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfung ist zum einen fest in den biblischen Traditionen eines Menschen, Tiere, Kosmos und Gott vereinenden umfassenden Friedens (šālôm/εἰρήνη, vgl. Jes 11,1–9) verankert. Zum anderen zieht es sich mehr oder weniger durch alle systematisch-theologischen Versuche, christlichen Glauben und christliches Handeln immer wieder neu vor dem Hintergrund einer sich beständig wandelnden Lebenswelt und im Gespräch mit nichtreligiösen Weltdeutungen zu vergegenwärtigen. Wie schon im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das die Frage nach der Gerechtigkeit implizit im Bekenntnis zu Gott als dem Vater, dem Allmächtigen und dem Schöpfer und explizit in der Erwartung des Gerichts über die Lebenden und die Toten (»Jüngstes Gericht«) artikuliert, ist Gerechtigkeit ein zentrales Thema der theologischen Kosmologie und der Eschatologie. Dies entfaltet Elisabeth Gräb-Schmidt mittels eines Überblicks über die Ausdifferenzierung des Begriffs Gerechtigkeit im Kontext der vor allem durch die europäische Aufklärungsphilosophie diskutierten Prinzipien von Vernunft, Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Dabei kommen auch moderne philosophische und sozialethische Begründungen der Menschenrechte und der Menschenwürde sowie der Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte zur Sprache. Dieses ist insofern von besonderer theologischer Bedeutung, als dass die neuzeitlichen Menschenrechte auch gegen kirchliche Widerstände durchgesetzt werden mussten. Den philosophischen und sozialethischen Begründungen, sodann der durch die Naturwissenschaften, insbesondere die Hirnforschung, aufgeworfenen Frage nach der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen und schließlich der durch die ökologischen Krisen hervorgerufenen Frage nach einer Umweltgerechtigkeit stellt Gräb-Schmidt die biblischen Vorstellungen von der Barmherzigkeit und Liebe
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Gottes als asymmetrischen Korrelaten zur Gerechtigkeit und die spezifisch evangelische Rechtfertigungslehre gegenüber. Damit ergibt sich die Frage nach dem grundlegenden Beitrag der evangelischen Theologie zur Lösung der Aporien der Begründung und Verbindlichkeit gerechten Erlebens und Handelns, die sich von den »Hiob-Dichtungen« des Alten Orients über die eingangs zitierte Karikatur Voltaires bis zu dem von Elie Wiesel thematisierten Rat des chassidischen Rabbi Löw an eine Mutter, die mehrere kleine Kinder verloren hatte, erstrecken: »Und ich sage dir, Frau, man muß es nicht annehmen! Man muß sich nicht unterwerfen. Ich rate dir, zu rufen, zu schreien, zu protestieren, Gerechtigkeit zu fordern, verstehst du mich, Frau? Man darf es nicht annehmen!« (Wiesel 1996: 80f.)
Gerechtigkeitsdiskurse im Raum von Kirche und Theologie sind von ihren Anfängen her immer auch Gespräche über Religion und Religionen. Die Suche nach dem, was philosophisch, theologisch und ethisch als Gerechtigkeit und Recht zu bezeichnen ist, wie gerechtes Handeln zu begründen ist und wie das, was als Ungerechtigkeit erlebt wird, ausgedrückt und letztlich überwunden werden kann, fand und findet immer wieder in einem von unterschiedlichen religiösen und kulturellen Zeichen geprägten Milieu statt. Dabei sind einerseits gegenseitige Bezugnahmen und Beeinflussungen der verschiedenen religiösen Symbolsysteme zu verzeichnen – die hier versammelten Beiträge zu alt- und neutestamentlichen, kirchengeschichtlichen und systematisch-theologischen Perspektiven von Gerechtigkeit zeigen dies sehr deutlich. Andererseits lässt eine religionswissenschaftliche Betrachtung des Themas wesentliche Unterschiede und verblüffende Übereinstimmungen in nichtchristlichen Religionen erkennen. Diese können zu einem vertieften Verstehen der eigenen wie der fremden Religion und somit zu einem Dialog der Religionen beitragen, ohne den es auch zukünftig keine Gerechtigkeit der Religion/Religionen geben kann. Im religionswissenschaftlichen Teil dieses Bandes diskutiert daher Bärbel Beinhauer-Köhler zunächst die grundsätzliche Problematik eines komparatistischen Zugangs, der von einem durch die abendländische Theologie und Philosophie geprägten Begriff oder Vor-
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stellungszusammenhang ausgeht. Sie illustriert dies am Beispiel hinduistischer und buddhistischer Bestimmungen der Rolle des Menschen und der Götter in der Welt, die von ganz anderen religiösen und ontologischen Kategorien geprägt sind als altvorderorientalische, jüdische und christliche Denkmuster. Dabei kommen vor allem Vorstellungen von ›Reinheit‹ und ›Heiligung‹ zur Sprache. Im Mittelpunkt der religionswissenschaftlichen und religionstheoretischen Ausführungen Beinhauer-Köhlers stehen Gerechtigkeitsvorstellungen im Islam. Die Konzentration auf den Islam und seine vielfältigen religiösen und theologischen Strömungen legt sich aufgrund seiner traditionsgeschichtlichen Wurzeln in einem jüdisch-christlichen Umfeld, seiner starken theologischen und ethischen Orientierung an Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen, der engen geschichtlichen Verbindungen zwischen jüdischen, christlichen und islamischen Kulturen sowie des gegenwärtigen weltweiten Zusammentreffens von islamischen und vor allem westeuropäischen und nordamerikanischen Wertevorstellungen besonders nahe. Wenn Gerechtigkeit ein, in manchen Phasen der christlichen Glaubensgeschichte das zentrale Thema der Theologie war bzw. ist, dann erhebt sich natürlich die Frage, welche Rolle Gerechtigkeit im gegenwärtigen kirchlichen Denken und Leben spielt. Wo und in welchen Formen begegnet Gerechtigkeit heute im kirchlichen Handeln? Wie findet Gerechtigkeit in Predigt und Liturgie, in Unterricht und Seelsorge, in Diakonie und Gemeindeleitung Gestalt? All diesen Fragen geht Ursula Roth in ihrem praktisch-theologischen Artikel am Beispiel von ausgewählten Predigten, Gebeten und Lehrplänen für den Religionsunterricht sowie prinzipiellen diakonischen, religionspädagogischen und kybernetischen Überlegungen nach.
3. In dem einleitenden Zitat und in den obigen Bemerkungen, die auf die Behandlung des Themas Gerechtigkeit in den unterschiedlichen theologischen Disziplinen hinführen sollen, sind bereits ei-
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nige Begriffe gefallen, die in das weitere Umfeld der Rede von Gerechtigkeit (nicht nur) in einem theologischen Kontext gehören. Diese sollen hier im Sinn einer kleinen gerechtigkeitstheologischen Sprachlehre nochmals aufgenommen und um einige zentrale Begriffe ergänzt werden, die zu einem reflektierten Umgang mit dem Thema Gerechtigkeit nötig sind. Rechtsphilosophisch und rechtsgeschichtlich wird Gerechtigkeit als oberstes materiales Prinzip des Rechts verstanden. Mit Jan Assmann (1999: 221‒230) ließe sich auch zwischen Recht als Institution und Gerechtigkeit als Eigenschaft und als Tugend unterscheiden. Eine solche Differenzierung von Recht und Gerechtigkeit ist begrifflich in Ansätzen schon im Alten und Neuen Testament vorhanden, wenn zwischen sædæq und s edāqāh bzw. δίκη/θέμις und δικαιοσύνη (ius und iustitia) unterschieden wird. Eine eigentliche Bedeutung bekommt diese Unterscheidung im Rahmen der Theologie dann aber erst im Zuge der Rezeption römischer Rechtsvorstellungen in der spätantiken abendländischen Kirche, in der Scholastik und in der Aufklärungstheologie. Als formalisierte, sei es mündlich tradierte oder schriftlich fixierte, Konkretion von Recht und Gerechtigkeit erscheinen einzelne Gebote und Gesetze. Im biblischen Horizont dominiert dabei der Begriff tôrāh (»Unterweisung/Wegweisung«). Vermittelt über die griechische Übersetzung mit νόμος (»Gesetz«) und die lateinische Wiedergabe mit lex (»Gesetz«) konnte sich das Wort im Raum der christlichen Theologie zu einem Spezialbegriff für die den Menschen als Sünder überführende Funktion der heiligen Schrift wandeln (lex accusans) und dadurch – mit zum Teil fatalen religionsgeschichtlichen und theologischen Nebenwirkungen – im Rahmen der Rechtfertigungslehre zu einem Kontrastbegriff für das Evangelium werden. Daher gehört zu einer theologischen Betrachtung von Gerechtigkeit auch das frömmigkeitsgeschichtlich und theologisch ebenso bedeutsame wie problematische Gegensatzpaar einer auf dem Gesetz basierenden Werkgerechtigkeit und einer durch das Evangelium ermöglichten Glaubensgerechtigkeit. Wenn im Horizont eines theologischen Gerechtigkeitsbegriffs Glaube und Werke kritisch zu bedenken sind, dann gilt dies auch für die Größen Gnade und Barmherzigkeit sowie das damit eng zu-
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sammenhängende Wortpaar Schuld und Vergebung. Dass diese Begriffe in einem Zusammenhang mit der Frage nach göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit stehen, zeigt sich biblisch beispielhaft an der so genannten Gnadenformel, die sich, angefangen bei Ex 34,6f., verstreut über alle Teile des alttestamentlichen Kanons, im Schrifttum von Qumran und im Neuen Testament findet: »6 Und der Herr ging vor seinem [Moses] Angesicht vorüber, und er rief aus: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig [wörtlich: langsam zum Zorn] und von großer Gnade und Treue, 7 der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!« (Ex 34,6f.)
Die rabbinische Tradition hat dies in die Vorstellung von den Eigenschaften Gottes überführt, wobei die Eigenschaft des strengen Gerichts Gottes und des Zornes Gottes die Eigenschaft der Barmherzigkeit überwiegt (Babylonischer Talmud Traktat Rosh ha-Shana 17b; Traktat Berakhot 7a). Wie bestimmt die christliche Theologie dieses Verhältnis? Wie lassen sich Zorn und Barmherzigkeit Gottes im Kontext einer neuzeitlichen Problematisierung der Rede von »Eigenschaften Gottes« verstehen, und wie sind diese Größen theologisch zu gewichten, wenn sie als mythische Sprache und als anthropopathische Metaphern zu verstehen sind? Aber auch die Vaterunser-Bitte um Vergebung der Schuld/ Schulden (Mt 6,12) bzw. der Sünden (Lk 11,4) zeigt den engen sachlichen Zusammenhang von Gerechtigkeit Gottes und des Menschen. Hier ist es die Aufgabe der theologischen Gerechtigkeitsreflexion, erstens die Vergebung Gottes als ein Heilshandeln Gottes im Kontext seiner anbrechenden Königsherrschaft zu interpretieren und zweitens das Verhältnis zu einem Handeln des Menschen zu bestimmen, das als gerecht gilt, sei es als Folge, Voraussetzung oder Entsprechung der Gerechtigkeit Gottes. Vier, vor allem in der philosophischen Tradition begründete, für die Theologie und die theologische Ethik aber unverzichtbare Begriffe seien abschließend noch kurz vorgestellt. Auf der Nikomachischen Ethik des Aristoteles basiert die Klassifizierung in a) eine Tausch-/Vertragsgerechtigkeit (ausgleichende Gerechtigkeit, iustitia commutativa), die das Verhältnis der einzelnen Menschen
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zueinander regelt, b) eine allgemeine oder gesetzliche Gerechtigkeit (iustitia generalis/legalis), die das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, in der er lebt, im Blick auf das Gemeinwohl regelt, sowie c) eine austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva), die das Verhältnis der Gemeinschaft zu dem Einzelnen aus der Perspektive der Gleichheit regelt (Arist.e.N. 1129a‒1138b). Sofern die Mitwirkungsrechte einzelner an den sozialen Interaktionen der Gemeinschaft als eigener Gegenstand der Gerechtigkeit besonders betrachtet werden, wie dies vor allem in neueren Entwürfen christlicher Sozialethik der Fall ist, kann zusätzlich die Kategorie einer iustitia contributiva eingeführt werden (Huber 20063). Gerade in einzelnen kirchengeschichtlichen Etappen und systematisch-theologischen Aspekten spielt die traditionelle aristotelische Klassifizierung eine zentrale Rolle. Wie im Rahmen philosophischer und ethischer Reflexionen treten dabei auch innerhalb des theologischen Bedenkens von Gerechtigkeit das Gute, einzelne Werte/-hierarchien und Normen, Freiheit und Grenze des Einzelnen im Verhältnis zum Recht des Anderen sowie Verantwortung in den Blick. Rückprojizierend aus der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) findet der Begriff Theodizee seine Anwendung auch auf Problematisierungen der Gerechtigkeit Gottes im Alten Orient, in der klassischen Antike, im biblischen Schrifttum und in vorneuzeitlichen theologischen Entwürfen. Legt man die berühmte Definition von Immanuel Kant zugrunde, derzufolge Theodizee »die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt« (Kant, Misslingen, 105), so kann man den Begriff nur in einem weiten Sinn auf Werke wie das Buch Hiob, den Römerbrief (vgl. vor allem Röm 9–11) oder Luthers Schrift Vom unfreien Willen (1525) anwenden. Das Phänomen ist aber in den genannten Texten, ebenso wie in mesopotamischen und ägyptischen Vorwurfdichtungen oder klassischen Tragödien (vgl. LloydJones 1971; Wildberg 2001) vorhanden: So thematisieren auch diese Werke, wie der Glaube an Gott als Heil und Leben schenkender und bewahrender Größe in eine absolute Krise gerät angesichts einer erlebten Diskrepanz von gerechtem Handeln und als ungerecht empfundenem Schicksal, von geglaubter Güte Gottes und erfahre-
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nem Bösen, von erhofftem Segen und erlittenem Fluch. Die spezifische Problematik, vor die ein monotheistisch geprägtes Glauben und Verstehen gestellt ist, da hier Heil und Leid nicht dualistisch aufgeteilt, sondern als Äußerungen des einen Gottes erlebt werden, muss im folgenden ebenso bedacht werden wie moderne und postmoderne Konzeptionen einer Anthropodizee und Kosmodizee, die nach der Verkündigung des Todes Gottes (Nietzsche, Wissenschaft, 480–482) den Menschen oder die Natur »vor dem Gerichtshofe der Philosophie« (Kant, Misslingen, 114) sehen und diese in eine nicht endende Spirale von Selbstrechtfertigungen bringen. Wie das kleine Tableau theologischer Begriffe zeigt, ist Gerechtigkeit ein Kraftfeld, das grundlegende theologische Vorstellungen an sich zieht und prägt. Letztlich ist die Frage nach der Gerechtigkeit in allen ihren Bezügen die Frage nach Gott und dem Menschen. Insofern kreist die Beschäftigung mit der Gerechtigkeit als Thema der Theologie immer um die Frage »Was ist der Mensch?« (vgl. Ps 8,5 versus Hi 7,17; 15,14) und um Bestimmungen des Wesens Gottes, der nach biblischem Verständnis auch in seiner Fremdheit als der eine und einzige Grund menschlichen Lebens (Dtn 6,4f.), mithin als die Gerechtigkeit selbst erscheint, von der auch der durch die Leiden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern gezeichnete Josel Rakower nicht loskommt: »Sei gepriesen, Herr, / daß du mich zu einem Sohne Israels gemacht hast – / einem Sohne des unglückseligsten / aller Völker der Erde. / Ich glaube an Dich – / Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – / obwohl Du alles getan hast, / damit ich nicht an Dich glaube. / Ich glaube an Dein Gesetz, / obwohl Deine Taten / aller Gerechtigkeit bar sind. / Sag, Herr, / was willst Du noch gegen uns tun, / bevor Du Dein Antlitz uns wieder zukehrst? / Dürfen es nicht wissen – die Gequälten, / Erniedrigten, / lebendig Begrabenen, / Geschändeten, / Verbrannten, / Bespienen / – wie lange Dein Zorn währt? / Herr, Herr! / Bist Du unser Gott? / Bist Du der Gott der Mörder? / Herr, in den Bitternissen meiner Seele / kann ich nicht das Böse rühmen, / das Du Deinem Volke antust. / Doch ich rühme Deine / fürchterliche Größe, / die entsetzlich ist, machtvoll und unbeirrt. / Denn das Leiden, / das Du uns auferlegt, / hat Dich nicht verringert / noch ins Wanken gebracht. Herr, ich kam auf die Welt, / um an Dich zu glauben / und Deine Gebote zu halten / und Deinen Namen zu ehren / – Du aber hast alles getan, / damit ich nicht an Dich glaube. / Doch Du bringst mich nicht von meinem Wege ab, / o Du mein Gott, / Gott meiner Väter! / Nie und nimmer soll Dir das gelingen! /
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Du nahmst mir die Frau / und die Kinder / und das Haus / und die Habe – / Du machtest mich zum Fetzen Fleisch, / unter tolle Hunde geworfen. / Du brandmarktest mich mit dem Mal der Schande. / Aber ich höre nicht auf, an Dich zu glauben, / ich werde Dich lieben / Dir selber zum Trotz, / Deinem Willen zum Trotz / – GOTT, / der Du alles getan hast, / damit ich an Dir zweifle. SCHEMA ISRAEL, ADONAJ ELOHENU, ADONAJ ECHAD!« (Brandstaetter, Josel Rakower, 274–276)
Den hier knapp skizzierten Fragen nach Grundlagen, Ausformungen, Überlieferungsformen und sozialen Kontexten von Gerechtigkeit als Thema der Theologie gehen die folgenden Ausführungen aus den verschiedenen Disziplinen der protestantischen Theologie mit ihrem je eigenen methodischen Instrumentarium überblicksartig, exemplarisch und positionell nach. Eine Zusammenschau am Ende des Bandes versucht die in den einzelnen Beiträgen angedeuteten Linien eines Transzendenz und Immanenz gleichermaßen berührenden Gerechtigkeitsverständnisses zu bündeln und punktuell weiter auszuziehen. Dabei kann und will der Band keine umfassende Topographie theologischer Gerechtigkeitsdiskurse bieten, wohl aber eine Palette von Farben für ein theologisches Gemälde von Gerechtigkeit bereitstellen, das seine Leser und Leserinnen dann letztlich selbst malen müssen.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen Aristoteles, Nikomachische Ethik: Aristoteles, Philosophische Schriften, Bd. 3, Nikomachische Ethik, nach der Übersetzung von Eugen Rolfes bearb. von Günter Bien, Hamburg 1995. Brandstaetter, Josel Rakower rechtet mit Gott: Brandstaetter, Roman: Josel Rakower rechtet mit Gott, in: Wolff, Karin (Hg.): Hiob 1943. Ein Requiem für das Warschauer Getto, Berlin (Ost) 19842, 274–276. Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791): Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Sonderausgabe Darmstadt 1983, 103–124. Leibniz, Versuche in der Theodicée, über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710): Leibniz, Gottfried Wil-
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helm: Versuche in der Theodicée, über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710), übers. von Artur Buche nau (PhB 71), Hamburg 1996. Luther, De servo arbitrio/Vom unfreien Willen (1525), Luther, Martin, De servo arbitrio, in: WA 18, 600–787. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887): Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 3, München 19882, 343–651. Voltaire, Candide oder der Optimismus (1759): Voltaire: Candide. Aus dem Französischen übers. von Ilse Lehmann (Insel Taschenbuch 11), Leipzig 1972.
2. Sekundärliteratur Assmann 1999: Assmann, Jan: Die Idee vom Totengericht und das Problem der Gerechtigkeit, in: ders., u.a. (Hgg.): Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, München 1999, 221‒230. Brocke/Jochum 1993: Brocke, Michael/Jochum, Herbert (Hgg.): Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust (KT 131), Gütersloh 1993. Huber 2006: Huber, Wolfgang: Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien einer christlichen Rechtsethik, Gütersloh 20063. Lloyd-Jones 1971: Lloyd-Jones, Hugh: The Justice of Zeus (Sather Classical Lectures 41), Berkeley 1971. Wiesel 1996: Wiesel, Elie: Geschichten gegen die Melancholie. Die Weisheit der chassidischen Meister. Aus dem Französischen von Hanns Bücker (Herder Spektrum 4296), Freiburg i.Br. u.a. 19964. Wildberg 2001: Wildberg, Christian: Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides, in: Jeremias, Jörg (Hg.): Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter. Symposion anläßlich des 75. Geburtstages von Otto Kaiser (BZAW 296), Berlin/New York 2001, 1–20.
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Gerechtigkeit aus der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte 1. Einleitung Die keilschriftliche Überlieferung der altorientalischen Kulturen, die zeitlich einen Rahmen vom ausgehenden 3. vorchristlichen Jahrtausend bis in das 1. Jahrhundert n. Chr. umspannt und deren Belege sich räumlich von der Levante über Südostanatolien bis zum Zweistromland und zum Persischen Golf erstrecken, besteht zu etwa drei Vierteln aus Texten, die in einem näheren oder weiteren Zusammenhang mit dem Phänomen des Rechts gesehen werden können. Damit stellen sie uns in weitaus größerem Ausmaß als andere frühe Hochkulturen – mit Ausnahme Roms – Informationen über ihre jeweiligen Rechtsordnungen zur Verfügung. Aber gewährt uns diese Überlieferung im gleichen Maße Aufschluss über die Vorstellung von Gerechtigkeit in diesen Zivilisationen? Recht und Gerechtigkeit sind – jedenfalls nach heutiger Vorstellung – nicht notwendigerweise dasselbe und zumeist überlagern sie sich nur ausnahmsweise. Die Rechtswissenschaft, und als eine ihrer Teildisziplinen auch die Rechtsgeschichte, betrachten die Gerechtigkeit häufig sogar als außerrechtlichen Referenzpunkt, der in der Theologie und/oder der Philosophie zu verorten ist. Die Differenzierung von Recht und Gerechtigkeit stellt als solche bereits ein Merkmal einer bestimmten Gerechtigkeitskonzeption dar und kann für die Vergangenheit, für das Altertum zumal, nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden.
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Da jedoch sowohl die sumerische als auch die akkadische S prache gleich mehrere Begriffe in diesem Kontext unterscheiden, wenn auch ohne zu einer spezifischen Fachterminologie gelangt zu sein (Streck 2006–2008: 280f.), darf die Differenzierung von Recht und Gerechtigkeit und die prinzipielle Fragestellung nach ihrem Verhältnis bei der Suche nach Gerechtigkeit in der Rechtsgeschichte des Alten Orients jedenfalls eine gewisse Berechtigung für sich in Anspruch nehmen; inwieweit sich diese Anschauung mit unserer oder anderer Zeiten Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit deckt, ist selbstverständlich eine völlig andere Frage. Der so genannte Alte O rient umfasst, wie bereits angedeutet, eine Vielzahl von Kulturen und ihnen eigene Rechtsordnungen. Ihre kontextuelle Betrachtung rechtfertigt sich neben der gemeinsamen keilschriftlichen Überlieferung vor allem durch weitgehend ähnliche Weltbilder. Zugleich trennt dies den Alten Orient von der Welt des Alten Ägypten, dessen Kultur mit ma’at ein eigenes, vielschichtiges Gerechtigkeitskonzept kennt, das sich vom altorientalischen deutlich abhebt (Otto 2005: 80–84) und daher hier im Weiteren nicht in die Betrachtung einbezogen wird. Hingegen zählen die Rechtskulturen des Hethiterreichs und Altsyriens trotz ihrer eigenen Sprachtradition zum Alten Orient im vorgenannten Sinne, auch wenn die Überlieferungsdichte ihrer Quellen nicht annähernd an die Mesopotamiens heranreicht. Auf Mesopotamien in der Zeit des ausgehenden 3. und der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrtausends konzentriert sich die Darstellung im Folgenden, weil sich zu keiner anderen Zeit und in keiner anderen Region des Alten Orients ein vergleichbar synchrones, weites und repräsentatives Spektrum an Quellen im Kontext von Recht und Gerechtigkeit findet. Auf der Grundlage einer Analyse des einschlägigen Quellenmaterials und der darin greifbaren sprachlichen Erfassung der Gerechtigkeit soll im Folgenden die theologische, die politische und die soziale Dimension von Gerechtigkeit in der Welt des Alten Orients skizziert werden; daran anknüpfend werden Rechtsetzung und Rechtsprechung als nachgerade konstitutive Manifestationen des Rechts in der realen Welt mit der daraus ableitbaren Konzeption von Gerechtigkeit konfrontiert.
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2. Zur sprachlichen Erfassung von Gerechtigkeit in altmesopotamischen Quellen Gerechtigkeit tritt uns in der sumerisch-akkadischen Überlieferung meist im Zusammenhang mit dem Begriffspaar kittu (sum. níg-gi-na) und mīšaru (sum. níg-si-sá) entgegen. Dabei lässt sich kittu mit »das, was feststeht, Wahrheit, Recht« übersetzen und damit gleichsam als ein statisches Element deuten, während mīšaru im Sinne von »Akt oder Instrument des Geradewerdens bzw. um etwas gerade werden zu lassen, Gerechtigkeit« ein dynamisches Prinzip verkörpert (Neumann 2006: 31). Beide Begriffe können aufeinander bezogen sein und das erwähnte Begriffspaar bilden; sie können aber auch für sich allein stehen. Ihre Semantik reflektiert in der Allgemeinheit von abstrahierenden Nominalbildungen (kittu von kânu, »fest sein, beständig sein«; mīšaru von ešēru, »in Ordnung sein, in Ordnung kommen«) ein Weltbild, in dem die menschlichen Verhältnisse mit der kosmischen Ordnung als göttlicher Schöpfung korrespondieren: Nur wenn die menschliche Ordnung mit der kosmischen im Einklang steht, kann das Wohlergehen des Landes und seiner Bewohner als gesichert gelten. Dabei impliziert die dynamische Komponente des Begriffs mīšaru, dass durchaus Abweichungen von kittu als statischem Soll- bzw. Idealzustand möglich sind und der Einklang von kosmischer und menschlicher Ordnung als solcher erst (bzw. wieder) hergestellt werden muss. Sowohl Recht als auch Gerechtigkeit gewinnen vor diesem Hintergrund ihrer sprachlichen Erfassung und der Semantik der einschlägigen Termini einen deutlich transzendenten Charakter.
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3. Sedes materiae der Gerechtigkeit in Textgattungen der altmesopotamischen Überlieferung 3.1. Rechtstexte (Rechtssammlungen, Geschäftsurkunden, Prozessprotokolle) Die prominentesten Rechtsquellen der altorientalischen Kulturen sind sicherlich die Rechtssammlungen, eine Literaturgattung, die im Vergleich mit anderen Rechtskulturen des Altertums nachgerade ein Charakteristikum altorientalischer Rechtstradition darstellt. In quantitativer Hinsicht wird sie indes bei weitem übertroffen durch die immense Anzahl von Zeugnissen des praktischen Rechtslebens, und zwar sowohl in Form von Vertrags- und Geschäftsurkunden als auch von Prozessprotokollen bzw. Urteilen. Alle drei Textarten können indes als Rechtstexte im engeren Sinne charakterisiert werden, wenn man sie unter dem Blickwinkel ihrer dokumentarischen Funktion im Zusammenhang mit Rechtsbzw. Normsetzung einerseits und Rechtsprechung andererseits betrachtet. Dagegen tritt eine dritte Komponente des Rechts, die seiner theoretischen Reflexion im Sinne einer Rechtswissenschaft, in den Kulturen des Alten Orients nicht erkennbar zu Tage. Als Rechtssammlungen werden Textkorpora aus der Zeit zwischen dem ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr. und der Mitte der ersten Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrtausends bezeichnet, deren eigentliche Funktion bis dato umstritten ist: Die Deutungen ihrer praktischen Bedeutung reichen von der Qualifikation als gesetzliche Normen bis zur Annahme (bloßer) politischer Propaganda, womit indes lediglich die beiden äußeren Ränder eines enorm breiten Spektrums angedeutet sind (Jackson 2008: 69–113, 257–276). Ihr mit Abstand bekanntestes Beispiel stellt der so genannte »Codex« des Königs Hammurabi von Babylon (1793–1750 v. Chr.) (CH) dar. Die Rechtssammlungen enthalten Rechtssätze offenkundig kasuistischen Charakters, in denen bestimmte Lebenssachverhalte mit rechtlichen Konsequenzen kombiniert werden. Ihre sprachliche bzw. grammatische Gestaltung in Form eines Konditionalschemas (»wenn…, dann…«) legt für den Juristen
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ein Verständnis als Tatbestand und Rechtsfolge nahe. Im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Wissenstexten lässt sich diese Form der Rechtssätze aber auch allgemeiner im Sinne einer prozeduralen Informationsverarbeitung beschreiben (Ritter 2004: 177–200). Für alle Interpretationsansätze steht als grundlegender Kontext der Rechtssammlungen die Schreiberausbildung im »Haus, (in) dem Tafeln zugeteilt werden« (sum. é dub-ba-a) außer Frage: Hier wurden sowohl Fachwissen als auch Methodik tradiert. Ungeachtet der Tatsache, dass sich etwa in den §§ 196–197; 200 CH mit der Talion (sprichwörtlich »Auge um Auge, Zahn um Zahn«) ein regelrechtes Gerechtigkeitsprinzip findet, das als solches nicht nur in der alttestamentlichen Überlieferungstradition des Bundesbuchs eine neuralgische Position einnimmt, sondern noch dreieinhalb Jahrtausende später bei Kant reflektiert wird, verwenden die Rechtssammlungen in ihren normativen Bestandteilen – die nichtjuristischen Bestandteile werden im Weiteren Gegenstand gesonderter Betrachtung sein – den Begriff der Gerechtigkeit überhaupt nicht. Mit diesem Befund korrespondiert die Tatsache, dass die normativen Texte in den Rechtssammlungen zwar nach gewissen inhaltlichen Gesichtspunkten, zumeist assoziativ, geordnet sind; insgesamt ist der Inhalt der Rechtssätze aber auf einem nicht allzu hohen Abstraktionsniveau verarbeitet: Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Stoff, die gar den Rang einer Dogmatik beanspruchen könnte, ist in den Rechtssammlungen nicht erkennbar. Dementsprechend wird weder die de facto abgebildete Talion noch eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit in den normativen Teilen der Rechtssammlungen theoretisch erfasst. Das gilt mehr oder weniger genauso für die beiden anderen Arten von Rechtstexten, die Vertrags- und Geschäftsurkunden wie die Prozessprotokolle und Urteile. Das überlieferte Material zeigt uns nahezu alle Aspekte, die von der Rechtsordnung einer zivilisierten Gesellschaft erfasst werden können: Angefangen beim Familien- und Erbrecht, über die Verkehrsgeschäfte wie Kauf, Darlehen, Pacht, Miete usw., bis hin zu dienst- und gesellschaftsvertraglichen Rechtsverhältnissen dokumentieren diese Texte genauso wie ihre prozessualen Pendants das gelebte Recht (Neumann 2003: 67– 122). Aber auch hier spielt Gerechtigkeit als solche praktisch keine
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Rolle. So taucht mīšaru als Begriff der Gerechtigkeit allenfalls ausnahmsweise auf, wie etwa in der Urkunde BM 80318 (um 1800 v. Chr.), einer Eingabe an den König, die sich gegen die ungerechtfertigte Annullierung einer Grundstückskaufurkunde richtet. Z. 1–3 von BM 80318 lauten: »als mein Herr die goldene Fackel für Sippar erhob und Gerechtigkeit für Šamaš, der ihn liebt, wie[derher]gestellt hat« […] (Pfeifer 2005: 182). Damit wird – im Wesentlichen im Sinne einer Datierung – der Bezug zu königlichen Maßnahmen hergestellt, deren Funktion und Bedeutung im Folgenden gesondert zu erörtern sind.
3.2. Nichtjuristische Bestandteile (Prologe und Epiloge) von Rechtssammlungen Die bereits erwähnten Rechtssammlungen enthalten außer der Zusammenstellung von Rechtssätzen namentlich in der neusumerischen und der altbabylonischen Zeit regelmäßig noch weitere Bestandteile, die nicht von vorneherein als normativ oder juristisch im engeren Sinne identifiziert werden können. Als Prologe und Epiloge bilden sie vielmehr einen Rahmen um den jeweiligen, die Rechtssätze enthaltenden, normativen Teil. Diese Textteile stehen in einer eigenen literarischen Tradition von Herrschertexten, zumal in Form von Bau- und Weihinschriften, die ihrerseits primär der königlichen Selbstdarstellung mit Blick auf die Nachwelt dienen. Die Prologe lassen sich dabei in drei Teile gliedern, welche die Herrschaft des jeweiligen Königs theologisch begründen, historisch kontextualisieren und als sozialpolitisch erfolgreich charakterisieren. Dagegen weisen die Epiloge neben weiteren Erfolgsberichten insbesondere Segens- und Fluchreihen auf, mittels derer die Beachtung der Inschriften gesichert werden soll (Ries 1983: 5–74). Soweit der Begriff der Gerechtigkeit in den theologischen Teilen der Prologe begegnet, steht er im Zusammenhang mit der Formulierung einer Aufgabe bzw. einem an den Herrscher adressierten Auftrag der Götter – meist der Hauptgottheiten Anu und Enlil, welche die jeweilige Herrschaft etablieren –, für Gerechtigkeit zu sorgen. Die (wieder hergestellte) Gerechtigkeit kann aber auch
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als Faktum im Rahmen des historischen Teils Erwähnung finden und zugleich Bezug auf sozialpolitische Erfolge aufweisen. So enthält bereits der Codex Urnamma (CU) aus neusumerischer Zeit (um 2100 v. Chr.) in seinem Prolog die Formulierung »[Gerechtig] keit [s]etzte ich [im Lande(?)]« (CU A iii 112f.). Ähnliche Formulierungen finden sich im Prolog der Rechtssammlung des Königs Lipit-Ištar von Isin (CL i 20–55, um 1930 v. Chr.), die im Epilog (CL xxi 36–48) wiederholt werden. Die sprachlich eindrucksvollste Gestaltung bietet sicherlich der Codex Hammurabi, in dessen Prolog die Gerechtigkeit gleich mehrfach thematisiert wird: »damals haben meinen Namen Hammurabi, den ehrfürchtigen Fürsten, der die Götter verehrt, um Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, den Ruchlosen und den Bösen zu vernichten, vom Starken den Schwachen nicht entrechten zu lassen, gleich Šamaš den Schwarzhäuptigen aufzugehen und das Land zu erleuchten, Anu und Enlil den Menschen zum Wohlgefallen kundgetan« (CH i 27–49); ferner »als Marduk mich beauftragte, die Menschen gerecht zu leiten und dem Lande Ordnung zuzuweisen, habe ich Recht und Gerechtigkeit in den Mund des Landes gelegt und für das Wohlsein des Landes sorgte ich gut – damals« (CH v 14–25). An dieses Ende des Prologs des Codex Hammurabi schließen sich (nach moderner Zählung) 282 Paragraphen bzw. Rechtssätze an, bevor der Epilog mit folgenden Worten anhebt: »Rechtssprüche der Gerechtigkeit, die Hammurabi, der tüchtige König festgesetzt und durch die er dem Lande rechte Leitung und gute Führung verschafft hat« (CH xlvii 1–8). Syntaktisch betrachtet bilden das temporale Adverb am Ende des Prologs, die Rechtssätze als solche sowie der Anfang des Epilogs insgesamt nur einen Satz (Lang 2008: 59–61); dadurch wird aber zugleich der gesamte normative Teil pauschal mit einem besonderen Bezug zur Gerechtigkeit versehen. Im weiteren Epilog wird Hammurabi – im Zusammenhang mit der Erwähnung einer entsprechenden Statue – mehrfach auch als šar mīšarim (»König der Gerechtigkeit«) bezeichnet. Anders als die oben erörterten Rechtstexte im engeren Sinne enthalten die nichtjuristischen Prologe und Epiloge der Rechtssammlungen damit vergleichsweise auffällig häufigere und intensivere Bezugnahmen auf den Begriff der Gerechtigkeit.
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3.3. Gerechtigkeitserlasse Noch unmittelbarer und zentraler als in den Prologen und Epilogen der Rechtssammlungen erscheint der Begriff der Gerechtigkeit in Texten, die dementsprechend auch als Gerechtigkeitserlasse oder mīšaru-Akte bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Maßnahmen, über die wir aus einer ganzen Reihe von Quellen unterschiedlicher Natur unterrichtet sind, etwa durch Briefe oder Vertragsurkunden, in denen auf derartige Rechtsakte Bezug genommen wird (s.o. 3.1.), insbesondere aber durch mehrere Fragmente von Edikten aus altbabylonischer Zeit, von denen im Hinblick auf den Umfang seiner Überlieferung das bedeutendste das Edikt Ammisaduqas von Babylon (1647–1626 v. Chr.) (AS) darstellen dürfte. Mīšaru-Akte traten in einer gewissen, wenn auch nicht regel mäßigen Periodizität auf. Häufig waren sie mit dem Regierungsantritt eines Herrschers verbunden und hatten jedenfalls in diesen Fällen neben der Funktion, den sozialen Frieden zu sichern und innere Stabilität des Gemeinwesens zu gewährleisten, offenbar auch einen gewissen propagandistischen Hintergrund. Das Ziel eines sozialen Ausgleichs wurde konkret durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen verfolgt, zu denen unter anderem die Aufhebung privater ver zinslicher Darlehensschulden, aber auch von Schulden gegenüber der öffentlichen Hand gehörten, ferner die Rückgängigmachung bereits erfolgter Zwangsvollstreckungsmaßnahmen sowie die Annullierung von Schuldknechtschaftsverhältnissen. Deutlich wird dabei der Charakter als hoheitlicher Eingriff – auch – in private Rechtsverhältnisse, der indes nicht auf eine Vielzahl unbestimmter Fälle in der Zukunft gerichtet ist und somit jedenfalls nicht als gesetzliche Norm im engeren Sinne bezeichnet werden kann (Pfeifer 2005: 178–182). Die namengebende Bezugnahme auf die Gerechtigkeit findet sich in der Begründung der jeweiligen Maßnahmen, wie etwa in § 3 AS bei der Aufhebung einer privaten Darlehensschuld: »weil der König [Ger]echtigkeit für das Land wiederhergestellt hat«.
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3.4. Sonstige literarische Quellen Die letztgenannten Gerechtigkeitserlasse stellen häufig Bezugspunkte in Briefen, Königshymnen, oder auch in Datierungslisten mesopotamischer Herrscher dar. In den gleichen Literaturgattungen taucht die Gerechtigkeit auch in den Titulaturen der Könige auf, etwa in neubabylonischer Zeit als šar kitti u mīšari »König der Wahrheit und Gerechtigkeit« (Kessler 2008: 73); ähnliches gilt für die Epitheta der Könige des neuassyrischen Reichs (Lanfranchi 2008: 94).
4. Gerechtigkeit als religiöses, politisches und gesellschaftliches Konzept in der Welt des Alten Orients 4.1. Gerechtigkeit und göttliche Ordnung Die bereits erwähnte Kongruenz von menschlicher und kosmischer Ordnung, welche die Semantik der sprachlichen Erfassung von Gerechtigkeit ausmacht, entspricht zugleich der Vorstellung von der Welt als göttlicher Schöpfung. Dabei bezieht sich der Ordnungsaspekt zumindest auch auf den metaphysischen Bereich und schließt insbesondere das mesopotamische Pantheon mit ein; ähnliches gilt für die hethitische Rechtskultur (Haase 2003: 127f.). Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Recht wie auch Gerechtigkeit als Mitglieder dieses Pantheons deifiziert werden: So wird etwa kittu als Tochter des Sonnengottes Šamaš angesehen, der selbst wiederum als der höchste Patron des Rechts und oberster Richter gilt, während mīšaru (in der pluralen Bedeutung »Recht und Gerechtigkeit«) die Wesire des Šamaš zu seiner Rechten und zu seiner Linken darstellen (Krebernik 2006–2008: 354). Indes lässt sich die Annahme, Recht und Gerechtigkeit könnten als Größen angesehen werden, die auch das altorientalische Pantheon als solches trans zendieren, weil sie ihm als Ordnungsprinzipien gleichsam vorangestellt seien (Otto 2005: 79f.), anhand des überlieferten Textmaterials nicht eigentlich belegen. Zwar erscheinen die im Zusammenhang mit Recht und Gerechtigkeit genannten Gottheiten nicht als
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deren Urheber; andererseits sind sie an diese Ordnungsprinzipien aber auch nicht im engeren Sinne gebunden. Im Vordergrund steht vielmehr die Adressierung der Menschen, namentlich des jeweiligen Herrschers, durch die Gottheit mit dem Auftrag, Gerechtigkeit als göttliche Ordnung in den irdischen Verhältnissen zu realisieren. Hierin spiegelt sich die Vorstellung von einem dynamischen Weltgefüge, das durch eine kausale Gesetzmäßigkeit charakterisiert ist (Neumann 2008: 38).
4.2. Gerechtigkeit und Legitimation von Herrschaft Die vorgenannte metaphysische Ebene der Gerechtigkeit spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um die Legitimation von Herrschaft im Allgemeinen und die der jeweiligen Rechtsetzungskompetenz als einem speziellen Teil von Herrschaft im Besonderen geht. Grundsätzlich wird die Regierungsgewalt des Herrschers, von deren absolutistischem Umfang die Rechtsetzungskompetenz nur einen, wenn auch wesentlichen Teilaspekt darstellt, wie schon gesehen aus dem Bereich des Göttlichen abgeleitet. Im Zusammenhang mit Rechtsetzung bzw. Gesetzgebung ist jedoch andererseits zu beachten, dass die Rechtsetzung selbst – anders als etwa in Teilen der alttestamentlichen Tradition – nicht auf göttliche Offenbarung zurückgeht, sondern säkular, also weltlicher Natur ist. In diesem Zusammenhang nimmt der König insoweit eine besondere Stellung ein, als er, obgleich göttlich legitimiert, weltliches Recht setzt. Der König versteht sich damit gleichsam als Schaltstelle zwischen Göttern und Menschen (Ries 1983: 74). Der bereits thematisierte göttliche Auftrag zur Aufrechterhaltung bzw. (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit (s.o. 3.2.) findet sich – gleichsam in zwingender Konsequenz – auch im Bildprogramm der altorientalischen Herrscher wieder: Auch hier nimmt der Codex Hammurabi eine zentrale Stelle ein.
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Ausschnitt aus der Susa-Stele des Codex Hammurabi (Foto: http://home. gwu.edu/~ehcline/images/hammurabi.jpg; zu einer ausführlichen Beschreibung siehe James B. Pritchard: The Ancient Near East in Pictures Relating to the Old Testament, Princeton 1954, Nr. 515).
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Das Relief auf dem oberen Drittel der Gesetzesstele zeigt Hammurabi in anbetender Haltung vor dem Sonnen- (und Gerechtigkeits-)Gott Šamaš. Dieser überreicht ihm Stab (als Symbol einer gerechten Ordnung) und Ring (als Ewigkeitssymbol) im Sinne von Herrschaftsinsignien (Elsen-Novak/Novak 2006: 131–156). Auch wenn man die übergebenen Gegenstände als Maßstab und Mess leine deutet, die im Rahmen der altbabylonischen Gesellschaft, die wirtschaftlich von einem hoheitlichen System der Landvergabe (sog. ilku-System) geprägt war, eine wesentliche Rolle spielten, bleibt die Symbolik erhalten, die einen manifesten Bezug zu den Ordnungsprinzipen Recht und Gerechtigkeit aufweist. Ähnliches gilt für Götterdarstellungen mit dem Instrument der Waage im Kontext von Gewichtssteinen. Die Darstellung auf der Stele korrespondiert zudem unmittelbar mit dem bereits erörterten Wortlaut des Prologs der Rechtssammlung: Der göttliche Auftrag an den Herrscher, Gerechtigkeit zu verwirklichen, und die göttliche Legitimation der Herrschaft im Allgemeinen und zur Rechtsetzung als Teilaspekt der Herrschaft im Besonderen sind dadurch untrennbar miteinander verbunden. In entsprechender Weise geben die im Epilog enthaltenen Feststellungen der tatsächlichen Umsetzung des Auftrags auch eine politische Programmatik im Sinne eines Idealbilds des Herrschers wieder, das in ähnlicher Weise allen altorientalischen Kulturen zu Eigen ist. Die Verwirklichung des Einklangs von kosmischer und menschlicher Ordnung als Voraussetzung für das Wohlergehen von Land und Menschen umspannt alle anderen Aspekte erfolgreicher und »guter« Herrschaft, zu denen neben der Rechtsetzung insbesondere militärische bzw. diplomatische Erfolge, aber auch der Bau etwa von Tempeln und Kanälen zählen, und die ihrerseits die Selbstdarstellung des Herrschers wesentlich prägen.
4.3. Gerechtigkeit und Gesellschaft In der Lebenswirklichkeit der altorientalischen Gesellschaften manifestiert sich Gerechtigkeit in erster Linie als soziale Gerechtigkeit in einem weiteren Sinne. Darunter können diejenigen Maßnahmen verstanden werden, die bereits als mīšaru-Akte beschrieben
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worden sind: Mittels der in unregelmäßigen zeitlichen Abständen durch den Herrscher angeordneten Aufhebung von privaten Darlehensverbindlichkeiten, von Schuldknechtschaftsverhältnissen und anderen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen werden soziale Verwerfungen abgemildert, die sich aus den wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Gesellschaften ergeben. In denselben Zusammenhang gehört ferner die Festsetzung von Tarifen und Zinssätzen in einzelnen Rechtssammlungen. Allerdings bleibt die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit auch auf diese konkreten Aspekte beschränkt, ein Einfluss auf die Gesellschaftsordnung als solche ist hingegen nicht erkennbar. Vielmehr lassen die genannten Maßnahmen die grundsätzliche hierarchische Struktur der altorientalischen Gesellschaften, die Freie, Halbfreie und Sklaven als unterschiedliche Statusgruppen differenziert, unangetastet. Der Schutz sozial Schwacher ist zudem in Form von Maßnahmen dokumentiert, die in den frühesten Texten mit Hinweisen auf Recht und Gerechtigkeit überhaupt überliefert sind. So heißt es in Inschriften, die den König Urukagina (Uruinimgina) von Lagaš (um 2350 v. Chr.) als Erbauer eines Kanals feiern: »wird dem Šub-lugal (Gefolgsmann des Königs) ein guter Esel geboren, (und) sein Aufseher wird ihm gegenüber ›Ich will (ihn) von dir kaufen!‹ erklären, (und dieser) wird ›Wenn du (ihn) von mir kaufst, zahle mir Silber, das mein Herz zufriedenstellt!‹ ihm gegenüber erklären, (dann) soll, wenn er (zu diesen Bedingungen) nicht von ihm kauft, der Aufseher ihn (den Šub-lugal) den Zorn darüber nicht fühlen lassen« (Ukg. 4–5, 20–31). Hier wird die Ausnutzung der gesellschaftlich mächtigeren Position im Rahmen einer Geschäftsbeziehung unterbunden und damit das, was heute Privatautonomie genannt wird, zugunsten der sozial schwächeren Vertragspartei eingeschränkt. Neben einer Abwandlung in Form einer ähnlichen Fallgestaltung enthalten die Inschriften Urukaginas des Weiteren Hinweise auf den Schutz von Witwen und Waisen – ein Topos, der, wie auch sonst im Altertum, in den Prologen der Rechtssammlungen regelmäßig wiederkehrt. Vor dem Hintergrund des Befunds von Einzelmaßnahmen zum Schutz sozial Schwacher von Herrscherseite ist soziale Gerechtigkeit
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im Alten Orient zwar weit entfernt von einer Vorstellung von sozialer Gleichheit oder auch von einer Konzeption wie der aristotelischen von ausgleichender und verteilender Gerechtigkeit (iustitia commutativa und iustitia distributiva), wie sie sich etwa in der Beachtung von Vertragsgerechtigkeit realisieren könnte. Auch wird deutlich, dass soziale Gerechtigkeit als solche nicht beansprucht werden kann, sondern durch den König gewährt wird, und dass dieses Verhalten wiederum Teil der königlichen Selbstdarstellung ist, obgleich Herrscher durchaus mit diesem Bild konfrontiert wurden, so etwa im so genannten Fürstenspiegel aus frühneubabylonischer Zeit (Paulus 2007: 19f.). Andererseits muss aber die Tatsache, dass mit den Maßnahmen der Herrscher, welche unmittelbar an die religiöse und politische Dimension von Gerechtigkeit anknüpfen, natürlich auch die Gewährleistung politischer Stabilität intendiert war, deren soziale Komponente nicht notwendigerweise ausschließen (Foster 1995: 172). Religiöser Gehorsam gegenüber den Göttern, Umsetzung des politischen Herrscherideals und Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch den Schutz sozial Schwacher erscheinen vielmehr als synchrone, wechselseitig aufeinander bezogene Dimensionen der Gerechtigkeit im Alten Orient.
5. Rechtsetzung und Rechtsprechung als konkretisierte Ausprägungen von Recht in der Lebenswirklichkeit des Alten Orients Ähnliches wie für die Maßnahmen zum Schutz sozial Schwacher gilt auch für die Rechtsetzung der Herrscher: Auch hier steht, zumal angesichts der Überlieferung im Rahmen der durch Prologe und Epiloge gerahmten Rechtssammlungen, außer Zweifel, dass die Produktion von Rechtssätzen sowohl im Kontext von Selbstbild und Selbstdarstellung der Herrscher gesehen werden muss, als auch als stabilisierender politischer Faktor gewertet werden kann. Abgesehen von ihrer weiteren Funktion als Wissenstradition im Rahmen der Schreiberausbildung ist Rechtsetzung aber eben auch ein Vehikel zur Verwirklichung von Gerechtigkeit in der Lebens-
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wirklichkeit; aus der rechtshistorischen Perspektive kommt diesem Aspekt besondere Bedeutung zu, da Normgebung zu den wichtigsten Konstitutiven des Rechts schlechthin gehört. Dass die Realisierung von Gerechtigkeit jedenfalls als Intention hinter den Normen angenommen werden kann, ergibt sich etwa aus Hinweisen wie dem im Epilog des Codex Hammurabi, der praktische Funktion und Handhabung aus der Sicht des Normgebers beschreibt: »ein Bürger, dem Unrecht widerfahren ist und der eine Rechtssache (gegen sich) erhält, trete vor meine Statue ›König der Gerechtigkeit‹, und dann lese er meine beschriebene Stele, und er höre meine erhabenen Worte, und meine Stele kläre ihm seine Rechtssache, sein Urteil soll er ersehen, sein Herz aufatmen lassen […]« (CH x lviii 3–19). Wenn sich auch die Frage nach der tatsächlichen Geltung und Beachtung der Rechtssätze nicht allein aus dieser Formulierung beantworten lässt, ist doch für die hier untersuchte Thematik deutlich zu erkennen, dass auch die Rechtsetzung Teil der Konzeption von Gerechtigkeit im Alten Orient ist. Berücksichtigt man zudem den Kontext des Texts, also seine Überlieferung als Teil des Epilogs einer Rechtssammlung, so zeigen sich wiederum die unmittelbaren Verknüpfungen mit der religiösen, politischen und sozialen Dimension von Gerechtigkeit. Neben Rechtsetzung und Rechtswissenschaft – letztere im Alten Orient wie in den meisten anderen Kulturen des Altertums nicht erkennbar – stellt die Rechtsprechung als unmittelbares Instrument der Konfliktlösung vielleicht das wichtigste konstitutive Element von Recht überhaupt dar. Wie bereits erwähnt ist die Rechtsprechung im Alten O rient als solche durch eine große Zahl von Prozessprotokollen und Urteilen gut dokumentiert. Aus ihnen erhalten wir eine Fülle von Informationen über die Streitgegenstände, Parteien und das Verfahren gerichtsförmiger Konfliktlösung. Im Hinblick auf die rechtsprechenden Organe, die Richter, weist der Inhalt der Überlieferung jedoch durchaus Lücken auf. Während wir einerseits über eine Reihe substantieller Fakten verfügen, bleiben andererseits auch viele Fragen unbeantwortet: So wissen wir etwa aus altbabylonischer Zeit, dass der König als oberste richterliche Instanz fungierte, aber auch Entscheidungen des Königsgerichts an seine Beamten delegierte. Die Rechtsprechung auf lo-
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kaler Ebene lag in der Regel in der Hand von Richterkollegien von etwa drei bis zehn Richtern (dajjānū), seltener sind Einzelrichter. An den Entscheidungen wirkten außerdem mit etwa der Bürgermeister (rabiānu), die Ältesten (šībūtu), die Versammlung (puhru), die Kaufmannsgilde (kāru) sowie weitere Körperschaften wie˘»die Stadt« (ālu), »die Bürger« (awīlū) oder »das Stadtviertel« (bābtu). Auch Tempelgerichtsbarkeit ist in begrenztem Rahmen erkennbar. Hingegen erfahren wir aus den überlieferten Texten nicht, warum außer den (so bezeichneten) Richtern im engeren Sinne – wie soeben dargestellt – noch andere Spruchkörper tätig wurden. Die Art und Weise der Entscheidungsfindung durch die Richter und ihre zeitliche Dimension bleibt uns ebenso weitgehend verschlossen wie die anschließende Vollstreckung der Entscheidungen. Eine spezifische berufliche Ausbildung und damit Qualifikation der Richter ist, abgesehen von einem gewissen Zusammenhang mit der Schreiberausbildung, nicht erkennbar (Pfeifer 2010: 4f.). Indes sind es gerade die Rolle und die Figur des Richters, die uns für die Frage nach der Vorstellung von Gerechtigkeit im Alten O rient zusätzlichen Aufschluss bieten können. Dabei ist zunächst bemerkenswert, dass die sumerisch-akkadische Überlieferung mit dajjānu (sum. di-ku5) überhaupt ein eigenes Wort für »Richter« kennt. Etymologisch steht es in engem Zusammenhang mit dem Verb diānu, das seinerseits die Bedeutung »(eine Rechtssache) entscheiden« hat. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass es sich insoweit um eine ausgesprochene Fachterminologie handelt, als die Begriffe nicht in Kontexten außer dem des Rechts verwendet werden, wie dies bei anderen (Rechts-)Termini durchaus der Fall ist, die als solche auch im allgemeinen Sprachgebrauch vorkommen. Inhaltlich stellt das »Entscheiden« des Rechtsstreits als Aufgabe des Richters die zentrale Kategorie dar. In der Zusammenschau mit der übrigen literarischen Überlieferung zeigt sich, dass sie nachgerade fundamental ist für die Vorstellung von Gerechtigkeit (Pfeifer 2010: 6). Für die altbabylonische Zeit ergibt sich das in besonders sinnfälliger Weise aus § 5 CH, der als Norm, abgesehen von den Verleumdungstatbeständen der §§ 1–4 CH, den einzigen dezidierten Bezug zum gerichtlichen Verfahren innerhalb der Rechtssammlung Hammurabis darstellt; im Wortlaut ist der Bestand der rich-
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terlichen Entscheidung gegen ein deviantes Verhalten des urteilenden Richters selbst geregelt: »Wenn ein Richter einen Rechtsspruch gefällt, eine Entscheidung getroffen, eine Siegelurkunde ausgefertigt hat, später aber seinen Rechtsspruch umstößt, so weist man diesem Richter die Änderung des Rechtsspruches, den er gefällt hat, nach, und er gibt das Zwölffache des Klaganspruches, der in diesem Rechtsstreit entstanden ist; außerdem lässt man ihn in der Versammlung vom Stuhlsitze seiner Richterwürde aufstehen, und er kehrt nicht zurück und setzt sich mit den Richtern nicht mehr zu Gericht« (CH vi 6–30). Abgesehen von spezialpräventiven Aspekten erfährt hier die Autorität der richterlichen Entscheidung als solcher, d.h. als einer gerechten Entscheidung, besonderen Schutz. Gerade in dieser Epoche kehrt der Konnex von Entscheidung und Gerechtigkeit aber auch auf politischer Ebene im Rahmen der Selbstdarstellung des Herrschers und der Charakterisierung seiner Rechtsetzung wieder, wenn Hammurabi zu Beginn des Epilogs zu seiner Rechtssammlung (s.o. 3.2.) die Rechtssätze des Stelentextes als »Rechtssprüche (= Urteile) der Gerechtigkeit, die Hammurabi, der tüchtige König, festgesetzt und durch die er dem Land rechte Leitung und gute Führung verschafft hat« (CH xlvii 1–8) bezeichnet. Unabhängig davon, inwieweit diese Formulierung wörtlich zu nehmen ist und in welchem Ausmaß die offenkundig kasuistisch formulierten Normtexte der Rechtssammlung tatsächlich auf konkrete Rechtsfälle rückführbar sind, manifestiert sich hier ein dezidiertes Leitbild für die Person des Herrschers, der die ihm obliegende Aufgabe der Staatslenkung gleichsam wie ein Richter ausübt, zugleich aber auch die tatsächliche oberste (weltliche) richterliche Instanz darstellt (Neumann 2008: 39f.). Dieses Leitbild findet sich schließlich auch transzendiert im altorientalischen Pantheon, das gleich eine ganze Reihe von Richtergottheiten kennt, allen voran den Sonnengott Šamaš als höchsten Patron des Rechts und obersten göttlichen Richter. Das richtige und gerechte Entscheiden wird damit zum universalen Prinzip, das zugleich die religiöse, politische und soziale Dimension von Gerechtigkeit umfasst und damit die Lebensumwelt des altorientalischen Menschen nachhaltig prägt (Pfeifer 2010: 10f.).
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6. Zusammenfassung Obgleich eine theoretische Reflexion über das Recht in der altorientalischen Überlieferung nicht eigentlich erkennbar ist, nimmt dennoch die universale Konzeption von Gerechtigkeit im Rahmen dieser Überlieferung – bewusst oder unbewusst – eine entscheidende Stellung ein. Gerechtigkeit entfaltet sich auf der Grundlage dieser Überlieferung in einer religiösen, einer politischen sowie einer sozialen Dimension. Alle drei Dimensionen sind miteinander verknüpft, bedingen sich gar teilweise. Dabei nimmt die zentrale Funktion der König als Herrscher ein, in dessen Person sich die genannten Dimensionen vereinen: Den Erfordernissen, einerseits den göttlichen Auftrag zu erfüllen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, und damit andererseits zugleich dem politischen Herrscherideal zu entsprechen, kommen die altorientalischen Könige im Wege diverser Einzelmaßnahmen, insbesondere aber im Wege ihrer Rechtsetzung nach. Besonderes Augenmerk verdient indes die Rolle des Richters, die nicht allein ihrerseits als Autorität gesichert wird, sondern auch als Leitbild die religiöse, politische und soziale Dimension von Gerechtigkeit gleichsam verkörpert.
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Von der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Alten Testament 1. Gerechtigkeit als Leitmotiv der Theologie des Alten Testaments Gerechtigkeit bildet eines der zentralen theologischen Motive, das sich, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen, durch alle Überlieferungsbereiche und literarischen Schichten des Alten Testaments zieht. So wird Gerechtigkeit in der ältesten königszeitlichen, in ihren Traditionen noch in spätbronzezeitliche vorderorientalische Vorstellungen zurückragenden Kultlyrik thematisiert, wie sie sich z.B. in Ps 89,15 erhalten hat, wenn dort »Gerechtigkeit und Recht« (sædæq ûmišpāt) neben »Barmherzigkeit und Treue« (hæsæd wæ’æmæt) als Fundamente des Thrones des Gottes Jhwh bezeichnet werden, was sich unmittelbar mit mesopotamischen, ägyptischen und hethitischen Vorstellungen aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. berührt. Ebenso wird Gerechtigkeit in den literaturgeschichtlich sehr jungen großen Theodizeeperikopen bei Jesus Sirach (5,4–8; 15,11–20; 33,7–15) oder der Sapientia Salomonis (1,1–5,23; 12,1–27) verhandelt, die sich erst der Begegnung des Judentums mit dem Hellenismus im 2./1. Jahrhundert v. Chr. verdanken. Gerechtigkeit ist sowohl ein Schlüsselbegriff der Abrahamgeschichte (vgl. Gen 15,6; 18,20–33) als auch der prophetischen Bücher, der weisheitlichen Literatur oder natürlich der verschiedenen Rechtscorpora, die sukzessive in die heiligen Schriften des antiken Israel und Juda integriert wurden: das so genannte Bundes-
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buch (Ex 20–23*) mit dem sekundär davor gebauten Dekalog (Ex 20,1–17 par. Dtn 5,6–21; Köckert 2007), das Deuteronomium als dessen Auslegung und schließlich das Heiligkeitsgesetz (Lev 17– 26) als rechtsgeschichtliches Finale der Formierung der Tora (Otto 1994: 233–243). Aus der Perspektive des am Ende des 1. und Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. etablierten Kanons der hebräischen Bibel erscheint Gerechtigkeit geradezu als eine Klammer zwischen den Kanonsteilen Tora (Pentateuch) und Nebiim (Propheten), was sich besonders schön an dem rahmenden Gegenüber von Gen 6,9, Dtn 32,4 und Mal 3,20 zeigt. »Dies ist die Geschichte von Noahs Geschlecht. Noah war ein vollkommen gerechter Mann zu seinen Zeiten. Noah wandelte [d.h. hatte vertrauten Umgang] mit Gott.« (Gen 6,9) »Er [d.h. Gott] ist ein Fels. Sein Werk ist vollkommen. Ja, alle seine Wege sind Recht. Er ist ein treuer Gott und an ihm ist nichts, er ist gerecht und aufrichtig.« (Dtn 32,4) »Euch aber, die ihr meinen [d.h. Gottes] Namen fürchtet, soll aufstrahlen die Sonne der Gerechtigkeit und Heilung unter ihren Flügeln. Und ihr sollt herausgehen und springen wie die Mastrinder.« (Mal 3,20)
Sofern das Maleachibuch den gesamten alttestamentlichen Kanon beschließt, wie z.B. in der Luther-Bibel, der Zürcher Bibel oder der Einheitsübersetzung, die damit makrokompositionell letztlich auf die Bücherfolge in der Pariser Bibel aus dem 13. Jahrhundert zurückgehen, erscheint das Gerechtigkeitsmotiv als eine gesamtalttestamentliche Klammer. Grundlegend für das Verständnis von Gerechtigkeit im Alten Testament ist, dass die hebräischen Begriffe für Gerechtigkeit (sædæq und s edāqāh, am Rande auch mîšôr) und für Recht (mišpāt) wie in Mesopotamien das akkadische Wortpaar kittum und mīšarum und in Ägypten das Wort ma’at Relationsbegriffe sind (Koch 1975: 515). Die hebräischen Begriffe lassen sich weitergehend so differenzieren, dass sædæq im Sinne eines collectivum »Gerechtigkeit« bezeichnet, während s edāqāh als nomen unitatis bzw. nomen actionis für den einzelnen Gerechtigkeitserweis steht und dementsprechend im Plural die Bedeutung von »Heilstaten«, sei es von Gott (vgl. Ps 103,6; Dan 9,16), sei es von Menschen (vgl. Ps 11,7; Dan 9,18)
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annehmen kann (Michel 1964). Der Begriff mišpāt, abgeleitet von dem Verb šāpat (»richten/herrschen«, vgl. šopet »Herrscher/Richter«), bezeichnet ursprünglich den Schiedsspruch, der auf einen heilvollen Zustand (šālôm/»Frieden«) zwischen zwei Parteien zielt, dann den Rechtsentscheid, die Rechtssache und das Recht bzw. das Anrecht oder den Anspruch auf etwas sowie in einem umfassenden Sinn das Gericht. Das gelegentlich parallel zu sædæq verwendete, dann metaphorisch gebrauchte und von dem Verb jāšar (»gerade sein«) abgeleitete Wort mîšôr steht wie das damit verwandte Wort mêšārîm (»Ordnung«) für Geradheit, Billigkeit und Gerechtigkeit (vgl. Ps 9,9; 99,4). Daneben gibt es eine Reihe weiterer, vor allem juridisch geprägter Begriffe zur Bezeichnung einzelner Rechtssatzungen und schriftlich fixierter Gesetze und Gebote (hoq, huq, miswāh, ‘edût, tôrāh) sowie gerichtlicher Verfahren (dîn, rîb) (Scharbert 1984: 404–411). Auf diese Begriffe wird hier aber nur insoweit eingegangen, als sie für das Verständnis von Gerechtigkeit als einem Thema der Theologie relevant sind und nicht (nur) für eine Rechtsgeschichte des antiken Israel und Juda (Niehr 1986; Niehr 1987; Otto 1994; Crüsemann 2005). Gerechtigkeit beschreibt im Alten Testament immer eine konkrete Beziehung zwischen zwei Größen. Im Blick auf Gott finden die Begriffe für Gerechtigkeit so ihre Anwendung im Blick auf die Beziehung zwischen Gott und Welt, zwischen Gott und Gesellschaft, zwischen Gott und einzelnem Menschen. Hinsichtlich des Menschen betrifft Gerechtigkeit dementsprechend das Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen Mensch und Gott sowie zwischen Mensch und Gesellschaft. Aus dem Beziehungscharakter der Gerechtigkeit ergibt sich ihr dynamisches und prozesshaftes Wesen. Gerechtigkeit kann wachsen und abnehmen, sie kann zugeschrieben und abgesprochen werden und bleibt damit letztlich unverfügbar. Das Motiv der Gerechtigkeit hat im Alten Testament zwei Achsen: die Gerechtigkeit Gottes und die Gerechtigkeit des Menschen. In beiden Fällen berührt das Motiv – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten – kosmologische, geschichtliche, anthropologische, theologische und ethische Dimensionen. Auf beiden Achsen zeigen sich drei Aspekte: 1) Glaube an die Gerechtigkeit,
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2) Problematisierung der Gerechtigkeit und 3) Neubestimmung der Gerechtigkeit. Diese drei Aspekte erscheinen in der Endgestalt des Alten Testaments sowohl im kompositionellen Gefälle einzelner Überlieferungsblöcke als auch einzelner Bücher und ganzer Buchgruppen genau in diesem Dreischritt. Sie konstituieren einen vielfältigen innerbiblischen Dialog über Gerechtigkeit, der in einem dichten traditionsgeschichtlichen Beziehungsgeflecht zu altorientalischen und griechisch-hellenistischen Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen steht. Dieser ist im Rahmen der christlichen Theologie schließlich im Kontext von Gerechtigkeitsaussagen im Neuen Testament zu betrachten und darzustellen.
2. Von Eden zum Sinai – Theologische Spuren von Gerechtigkeit im Pentateuch »Ich sehe, dass die Welt nicht durch Barmherzigkeit erschaffen ist und sie nicht durch die Früchte guter Taten geleitet wird und es nur ein parteiisches Gericht gibt […]. Es gibt kein Gericht und keinen Richter, kein Jenseits, keine Vergeltung der guten Taten für die Gerechten und keine Bestrafung der Bösen.« (Targum Neofiti 1 zu Gen 4)
Die zitierten Worte legt der Verfasser einer aus dem frühen Mittelalter stammenden aramäischen Übersetzung (Targum) der Tora, die durchsetzt ist mit weit über die biblische Vorlage hinausgehenden Ausschmückungen, dem aus Gen 4 bekannten Kain in den Mund, als sich dieser sich mit seinem Bruder Abel auf irgendeinem Feld vor den Toren Edens (»Wonneland«; Gen 3,24; 4,16) unterhält. Der Disput zwischen Kain, zu Deutsch »das Geschöpf«, und Abel, zu Deutsch »das sich Verflüchtigende«, über die Gerechtigkeit des Schöpfergottes ist wohl eine freie Erfindung des Targums. Doch hat der Targumist den Nerv des urzeitlichen Paradigmas in Gen 4 getroffen: Gerechtigkeit und Schöpfung stehen in einem engen Verhältnis. Kain, das Geschöpf, das nach dem biblischen Erzähler sein Leben der Urmutter Eva (Gen 3,20) und Gott selbst verdankt (Gen 4,1), das Urbild und Spiegelbild des Menschen in seiner Beziehung zu Gott, Welt und Mitmensch, erwartet als Geschöpf von seinem Schöpfer ein dieser Beziehung entsprechendes Verhalten und Er-
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gehen: Er erwartet Gerechtigkeit. Für Kain bedingt die Schöpfung Gerechtigkeit. Schöpfung ist für ihn Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit. Mit dieser Vorstellung stehen der biblische Kain wie sein targumischer Nachfolger fest auf dem Boden einer alttestamentlichen und altorientalischen Vorstellung. Schöpfung ist der erste Akt göttlicher Gerechtigkeit, insofern sich in der Schöpfung der Wille Gottes oder der Götter zur Gemeinschaft zeigt. Zum Wesen eines Gottes gehört im Alten Testament wie im Alten O rient die Kommunikation. Zwar kann auch im Alten Orient ein Gott einsam oder teilnahmslos werden, doch verliert er dann etwas von seiner Göttlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist die Eröffnung des Alten Testaments mit den zwei Schöpfungserzählungen in Gen 1–4 (sic!), die aus unterschiedlichen Traditionskreisen des 6./5. Jahrhunderts v. Chr. stammen, einerseits aus einem priesterlichen Milieu, der so genannten Priesterschrift, andererseits aus einem weisheitlichen Kontext, der so genannten jahwistischen Urgeschichte (Witte 1998), ohne dass dies begrifflich ausgeführt würde, ein kräftiges Bekennntnis zur Gerechtigkeit Gottes, zur von Gott gestifteten Gemeinschaft zwischen sich und der Welt und dem Menschen. Doch in diesen urzeitlichen, damit existenzbestimmenden Glauben an die Gerechtigkeit Gottes mischt sich, zunächst nur in zarten Andeutungen, dann ausdrücklich, deren Infragestellung. So klingt im Hintergrund des siebenfachen priesterschriftlichen Urteils, die Schöpfung sei gut, ja sehr gut (Gen 1,31), ebenso wie in dem weisheitlichen Test des Urmenschen (’ādām), ob er sich durch die Aussicht auf universales Wissen vom Vertrauen auf Gott abbringen lasse (Gen 3,1–7), schon die dann an der Figur Kains entfaltete menschheitliche Erfahrung von Ungleichheit an. Die Ungleichheit, die nicht als adäquat empfundene Behandlung des Geschöpfs, das seinem Schöpfer Gaben bringt (Gen 4,3–5), erscheint als ein Bruch in der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, als mangelnde Gerechtigkeit und führt – und hier liegt die tiefe Tragik Kains – zum Bruch in der sozialen Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Bruder. Hingegen bleibt die Beziehung zu Gott bestehen, weil Gott diese aufrecht erhält, was der weisheitliche Erzähler mittels des mythischen Motivs der Anrede des in sich versunke-
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nen Kains durch Gott selbst zum Ausdruck bringt (Gen 4,9–15): Gott ist und bleibt der Garant von Gerechtigkeit, auch und gerade wenn der Mensch sein Lebensziel verfehlt, was in Gen 4,7 als Sünde (hāttā’t) bezeichnet wird. In den Rechtstexten des Alten Testaments (vgl. Ex 22,21–26; Dtn 1,17), aber auch in einzelnen weisheitlichen Sentenzen (vgl. Spr 22,22–23) und in liturgischen Bekenntnissen (vgl. Ps 7,12) wird die Vorstellung von der göttlichen Garantie des Rechts, gerade der Armen, entfaltet, wenn das Recht unmittelbar auf Jhwh als Quelle zurückgeführt und an Jhwh als den Richter (šôpet) schlechthin (Gen 18,25) gebunden wird. Religionsgeschichtlich wird dieser Vorgang mitunter als eine verstärkt seit der mittleren Königszeit im 8. Jahrhundert v. Chr. einsetzende »Theologisierung des Rechts« bezeichnet, das heißt als eine ausdrückliche Bindung ursprünglich profaner Rechtssätze, wie sie sich z.B. in den mišpātîm in Ex 21,1–22,29 finden, an den Willen Jhwhs (Otto 1994: 81–116; Kaiser 2003: 39–59). Im Duktus der biblischen Urgeschichte wird der Glaube an die von Gott gesetzte Gerechtigkeit infolge ihrer Infragestellung durch Kain nach der Auflistung der Nachkommen Adams (Gen 5) im doppelten Prolog zur Sintflut neu bestimmt. Hier lässt zunächst der weisheitliche Erzähler Gott feststellen, dass der Mensch wesenhaft dem folgt, was dem Leben schadet (Gen 6,5–8). Sodann qualifiziert die priesterschriftliche Stimme Noah, den bereits die alttestamentliche Überlieferung als einen neuen Adam zeichnet (Gen 5,29), was sich in jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit verstärkt, wenn dort Noah zum Typos des Messias wird (vgl. 1Henoch 106), als einen sāddîq tāmîm (δίκαιος τέλειος), als einen vollendet gerechten, d.h. als einen Menschen, welcher der Gemeinschaft mit Gott und seiner Umwelt nach menschenmöglichem Maß entspricht (Gen 6,9; 2Petr 2,5; vgl. Hi 1,1). Aus dem skizzierten Dreiklang, Glaube an die Gerechtigkeit, Infragestellung der Gerechtigkeit und Neubestimmung der Gerechtigkeit, in der biblischen Urgeschichte, in der sich historisch die Erfahrung der Zerstörung des Tempels von Jerusalem 587 v. Chr. ebenso wie die Begegnung Israels mit mesopotamischen Schöpfungs- und Urzeitmythen spiegeln, lassen sich drei für die alttesta-
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mentliche Vorstellung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit charakteristische Elemente ablesen: 1) Die Gerechtigkeit Gottes als dessen heilvolle Gemeinschaft mit dem Menschen ist unberechenbar und unverfügbar, aber erlebbar. 2) Die menschliche Erfahrung von Ungerechtigkeit hebt die Gemeinschaft mit Gott nicht auf und entbindet nicht von der sozialen Verpflichtung zu einem gemeinschaftsgerechten Umgang mit dem Bruder. Diese Fokussierung von Gen 4 auf die explizite Frage nach Gerechtigkeit spiegelt sich in der ältesten jüdischen und christlichen Rezeption, wenn die Sapientia Salomonis im 1. Jahrhundert v. Chr. Kain als Urytp des Ungerechten (ἄδικος) bezeichnet (SapSal 10,3) und wenn Abel im Neuen Testament als Urbild des Gerechten (δίκαιος) gilt (Mt 23,35; Hebr 11,4). Zugleich weist die Kain-undAbel-Erzählung auf das lebenzerstörende Potential ungleicher ökonomischer Verhältnisse hin, was im Horizont des Alten Testaments vor allem in sozialkritischen Anklagen in den Prophetenbüchern entfaltet wird (vgl. Jes 5,8–24; Mi 2,1–3), ohne dass damit Gewalt seitens des Benachteiligten legitimiert würde. 3) Ein der Gemeinschaft mit Gott und dem Mitmenschen entsprechendes Verhalten und Handeln ist, wie die Figur Noahs zeigt, nicht ausgeschlossen, aber die Ausnahme. Der narrative Dreiklang der Gerechtigkeit, Glaube an die Gerechtigkeit, Infragestellung der Gerechtigkeit, Neubestimmung der Gerechtigkeit, wiederholt sich im Fortlauf des Pentateuchs. Dabei verdichten sich einzelne Züge, sei es, dass nun die einschlägigen Begriffe für Gerechtigkeit (sædæq und s edāqāh bzw. δικαιοσύνη) und Recht (mišpāt bzw. κρίσις) auftauchen, sei es, dass einzelne Motive im Blick auf die Konkretion dessen entfaltet werden, worin sich menschliche Gerechtigkeit erweist und wie göttliche Gerechtigkeit dem Menschen zugewiesen wird. Letzteres wird in besonderer Weise an der literar- und traditionsgeschichtlich vielschichtigen Abrahamüberlieferung (Gen 11,27–25,18) deutlich, die in einer ihrer jüngsten, vielleicht erst aus hellenistischer Zeit stammenden Stufe das Vertrauen (’āman [Hifil], ’ æmûnāh bzw. πιστεύειν, πίστις) auf Gott als Gerechtigkeit bezeichnet (Gen 15,6; Neh 9,8; vgl. dazu Levin 1999: 174). Im Rahmen des Pentateuchs findet die Vorstel-
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lung von der einseitigen Zuweisung der Gerechtigkeit Gottes ihren Gipfel in den spätdeuteronomistischen Bekenntnissen zu Gott als dem einzig gerechten und aufrichtigen (Dtn 32,4), der als einziger Grund des Lebens und Überlebens Israels gilt: »4 Du sollst nicht in deinem Herzen sagen, wenn nun Jhwh, dein Gott, sie vor deinem Angesicht vertrieben hat: Aufgrund meiner Gerechtigkeit hat mich Jhwh hereingeführt, um dieses Land in Besitz zu nehmen, – da sie Jhwh doch aufgrund der Bosheit dieser Völker vor deinem Angesicht enteignet. 5 Nicht aufgrund deiner Gerechtigkeit und aufgrund der Aufrichtigkeit deines Herzens kommst du, um ihr Land in Besitz zu nehmen, sondern aufgrund der Bosheit dieser Völker enteignet sie Jhwh, dein Gott, vor deinem Angesicht und um das Wort, das Jhwh deinen Vätern, dem Abraham, dem Isaak und dem Jakob, geschworen hat, in Geltung zu bringen. 6 Und du sollst wissen, dass Jhwh, dein Gott, dir dieses gute Land nicht aufgrund deiner Gerechtigkeit gibt, um es in Besitz zu nehmen, da du ein halsstarriges Volk bist.« (Dtn 9,4–6; vgl. Neh 9,8; Dan 9,7.18; Joh 17,25; Röm 9,14; 1Joh 1,9; Apk 15,3; 16,5)
Mit der Beschreibung des Gemeinschaftsverhältnisses zwischen Gott und seinem Volk als einem »Bund« (b erît, διαθήκη), die narrativ ihre Brennpunkte im nationalen Gründungsmythos vom Exodus Israels aus Ägypten und im Deuteronomium, dem Testament des Mose, besitzt und die traditionsgeschichtlich auf das altorientalische Vertrags- und Vasallenrecht zurückgeht, haben die an der Gestaltung der Sinaiperikope (Ex 19 – Num 10) maßgeblich beteiligten deuteronomistischen und priesterschriftlichen Verfasser die theologische Begrifflichkeit des alttestamentlichen Gerechtigkeitsmotivs wesentlich bereichert. Überwiegt in der deuteronomistischen Anwendung des Begriffs »Bund« der Aspekt der Verpflichtung Israels zum Gehorsam gegenüber den von Gott gegebenen Gesetzen, die in einem literar- und traditionsgeschichtlich sehr komplexen Prozess stufenweise in die Erzählung der Gotteserscheinung am Sinai eingefügt wurden, und hat der priesterschriftliche Gebrauch dieses Begriffs seinen Schwerpunkt auf der Verpflichtung, die Gott selbst gegenüber seinem Volk eingeht, die aber gleichwohl die Befolgung der auf Gott zurückgeführten kultischen und sozialen Gebote verlangt, so ist doch in und durch beide Traditionskreise »Bund« zu einem zentralen Terminus der theolo-
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gischen Sprache von Gerechtigkeit und Recht im Alten Testament geworden. Vom Deuteronomium und der Sinaiperikope an, in denen entsprechend dem Dreiklang von Begründung, Infragestellung und Neubestimmung der Gerechtigkeit von einer Setzung des »Bundes« (Ex 24,7f.; Dtn 9,9f.), seinem Bruch (Ex 32; Dtn 9,15–29) und seiner Restitution (Ex 34,10; Dtn 10,1–8) erzählt wird, hat der Begriff literarisch und theologiegeschichtlich weit nach vorne und nach hinten ausgestrahlt. So begegnet »Bund« als strukturierendes und die Beziehung zwischen Jhwh und seinem Volk interpretierendes Element von der priesterschriftlichen Ur-, Väter- und Mosegeschichte (Gen 6,18; 9,9; 17,2; Ex 2,24) und der deuteronomistischen Geschichtsschreibung (1Kön 11,11; 2Kön 17,1) bis hin zur (nach-)deuteronomistischen Bearbeitung einzelner Prophetenbücher (Jer 11) und zum Lob der Väter bei Jesus Sirach (Sir 44–50). In der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur und in von dieser geprägten Schriften des Alten Testaments und außerkanonischen jüdischen Texten kommt als gerechtigkeitstheologisches Pendant zu b erît der Begriff tôrāh hinzu. Der Terminus, der ursprünglich für die von einem Priester, einem Propheten oder auch einem Elternteil gegebene Unterweisung oder Lehre steht, bezeichnet im Laufe der alttestamentlichen Literatur- und Theologiegeschichte zunehmend auch das »Gesetz« (νόμος), speziell das gemäß der Pentateucherzählung durch Mose vermittelte und verschriftete »Gesetz Jhwhs« (vgl. Dtn 31,24), bevor er auf seinem redaktionsgeschichtlichen Gipfelpunkt für die aus den Büchern Genesis bis Deuteronomium bestehende Komposition, für die Tora steht (Sir-Prolog; 4Makk 18,10). Im Rahmen der in persischer und hellenistischer Zeit entstehenden Torafrömmigkeit kann der Gehorsam gegenüber der Tora als Korrelat zum »Bund« und als Gerechtigkeit bezeichnet werden (Dtn 33,9f.; Jes 51,7; Ps 78,10; 103,17f.; Esr 10,3; Tob 14,9; PsSal 10,3f.; 14,2). Vermittelt über die Übersetzung in der Septuaginta (zumeist mit νόμος) und der Vulgata (zumeist mit lex) erscheint in christlichen Bibelübersetzungen für tôrāh bis heute die einseitig am spätalttestamentlichen Sprachgebrauch orientierte Übersetzung »Gesetz«, was dogmen- und theologiegeschichtlich erhebliche Folgen hatte und mitunter für die Abwertung des Alten Testaments und den christlichen Antijudaismus verantwortlich war.
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3. Von David zum Messias – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments Der biblischen Überlieferung gilt David (ca. 1000 v. Chr.) als Begründer eines die ursprünglich selbständigen Stämme Israels vereinigenden Königreichs, das sich zu seiner Blütezeit vom Mittelmeer bis zum Euphrat und vom Libanon bis Ägypten erstreckt habe. Je größer der zeitliche Abstand zu den Anfängen dieses Königtums wird, das sich aus archäologischer und literargeschichtlicher Perspektive auf ein bescheidenes judäisches Stämmekönigtum mit zeitweiligem Einfluss auf Mittelpalästina reduziert (Finkelstein/ Silberman 2001), desto glänzender wird die Herrschaft Davids ausgebaut, zunächst im Rahmen der judäischen Königsideologie des 8./7. Jahrhunderts v. Chr., mittels derer das 722 v. Chr. von den Assyrern seiner politischen Autonomie beraubte Nordreich (Israel) an den Süden (Juda) gebunden werden soll, sodann und vor allem im Zuge der Hoffnung einer Restitution der Davidischen Dynastie nach der Zerschlagung des judäischen Königtums durch die Neubabylonier 587 v. Chr., die letztlich – als sich eine solche Restitution nicht realisieren lässt – in persischer und frühhellenistischer Zeit zur Vorstellung eines David redivivus bzw. eines messianischen Davids entfaltet wird. Entsprechend der Idealisierung Davids notiert ein unbekannter Historiker am Ende der so genannten Aufstiegsgeschichte Davids (1Sam 16 – 2Sam 9): »Und David herrschte als König über ganz Israel, und er schaffte Recht und Gerechtigkeit (mîšpāt ûs edāqāh) seinem ganzen Volk.« (2Sam 8,15 par. 1Chr 18,14)
Die hier in die judäische Königsideologie integrierte Vorstellung vom König als oberstem Richter seines Volkes und verantwortlicher Instanz für gerechte soziale Verhältnisse entspricht altorientalischer Königsideologie. Diese ist seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. in unterschiedlichen Ausformungen in Ägypten, Kleinasien, Mesopotamien und Syrien belegt und hat eine ihrer augenfälligsten
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Artikulationen in der Stele des Codex Hammurabi (CH) aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. gefunden, die in ihrem oberen Feld zeigt, wie der babylonische König Hammurabi vor dem thronenden Sonnengott Šamaš steht, in dessen Funktion er Recht und Gerechtigkeit auf der Erde durchsetzen und garantieren soll (vgl. Pfeifer, in diesem Band S. 24–26). Die Zuordnung von Recht und Gerechtigkeit zum Sonnengott, sei es an den sumerischen Utu, den babylonischen Šamaš, den ägyptischen Horus-Re, den hethitischen Ištanuš oder auch den griechischen Helios, entspringt der Vorstellung, dass die Sonne alles ans Licht bringt. »Lobpreis sei dir, Re, der aus dem Urwasser aufsteigt, Skarabäus, der sich zeigt, um den Himmel hochzuheben, der strahlend erglänzt, der funkelnd aufgeht, Sonne, die die Finsternis vertreibt! […] Du bist es, der alles Seiende gebildet hat, sie leben auf, wenn du leuchtest, sie wenden sich dir zu, wenn du für sie erscheinst, sie sind verklärt, wenn deine Strahlen sich ausbreiten über ihren Gliedern; kein Ort hier ist bar deines Lichts. Du strahlst und vertreibst das Böse, du querst den Himmel und fällst den Feind.« (Aus einem Hymnus an den Sonnengott im Grab des Hohenpriesters Nebwenenef, Theben Nr. 157, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr.).
Im Zuge der Übertragung von solaren Aspekten auf den judäischen Staatsgott Jhwh hat diese Vorstellung auch Einzug in den Jhwh-Glauben gefunden (vgl. Hos 6,5; Zeph 3,5; Ps 84,12; Mal 3,20) (Janowski 1995). Wie Hammurabi, der Pharao oder die Könige des hethitischen Großreichs verstanden sich die Könige Judas als Vermittler des göttlichen Rechts auf Erden (vgl. 2Sam 23,3– 4; Spr 16,10–13; 29,14) (Schmid 1968: 24–46; Levin 1999: 166). So kann es wie von David über dessen Nachfolger Salomo heißen: »Gepriesen sei Jhwh, dein Gott, der an dir Wohlgefallen hat, so dass er dich auf den Thron Israels gesetzt hat, aufgrund der Liebe Jhwhs zu Israel auf ewig, und er hat dich zum König eingesetzt, dass du Recht und Gerechtigkeit (mîšpāt ûs edāqāh) übst.« (1Kön 10,9 par. Chr 9,8)
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Sozialgeschichtlich gründet die Verpflichtung des Königs, gegenüber seinem Volk, insbesondere gegenüber den personae miserae der Gesellschaft mîšpāt ûs edāqāh zu üben, wohl in der vormonarchischen judäischen Gesellschaftsstruktur eines »patronage system«, d.h. in einem System der hierarchischen, aber familiär-personalen Verbundenheit, das Gerechtigkeit im Sinne von Loyalität und Solidarität (hæsæd) der Gesellschaft bedingt (Niehr 1997: 121– 127). Da sich das gerechte Sozialverhalten des Königs aber nicht mit der Thronbesteigung von selbst ergibt (vgl. 1Kön 3,9), betet der Inthronisierte bzw. ein höfischer Fürbitter: »1 Gott, gib deine Rechtssätze (mîšpātîm) dem König und deine Gerechtigkeit (s edāqāh) dem Königssohn. 2 Er soll dein Volk mit Gerechtigkeit (sædæq) richten (dîn) und deine Elenden mit Recht (mîšpāt). 3 Die Berge sollen Frieden (šālôm) bringen für das Volk und die Hügel durch den Erweis von Gerechtigkeit (s edāqāh). 4 Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen (šāpat) und die Söhne des Armen retten (jāša‘) und den Bedränger zermalmen. 5 Er soll lange leben [so nach der Septuaginta] vor der Sonne und vor dem Mond, von Geschlecht zu Geschlecht. 6 Er soll herab kommen wie Regen auf die Aue, wie Tropfen das Land besprengen. 7 In seinen Tagen soll der Gerechte (sāddîq) blühen und großer Friede sein, bis der Mond nicht mehr ist.«
Diese aus Ps 72 zitierten Verse haben vielfältige Parallelen im Alten Testament und in der altorientalischen Umwelt Israels von der altbabylonischen über die neuassyrische bis in die hellenistische Zeit (Janowski 2002: 94–134). Charakteristische Beispiele bieten a) die biblischen Texte Ps 45,7f. und Jes 11,4, b) die phönizischen Königsinschriften des Jechimilk von Byblos (Mitte 10. Jahrhundert v. Chr.) und des Jechaumilk von Byblos (5./4. Jahrhundert v. Chr.), c) der neuassyrische Krönungshymnus für Assurbanipal (668 – 631/627 v. Chr.), der gelegentlich – wenn auch zu Unrecht – als Vorlage für Ps 72 angesehen wird (Arneth 2000), oder d) das Herrscherlob für ptolemäische Könige im 3. Jahrhundert v. Chr. (Kallimachos, Hymnus auf Zeus, 80–89). Die Redaktions- und Rezeptionsgeschichte von Ps 72, in deren Verlauf aus einem Königslied ein messianischer Psalm wurde, spie-
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gelt indes auch für den gerade angesprochenen politischen Aspekt alttestamentlicher Gerechtigkeitsvorstellung den oben genannten Dreiklang von Glaube an die Gerechtigkeit, Infragestellung der Gerechtigkeit und Neubestimmung der Gerechtigkeit wider. Mit der realen Erfahrung des Versagens der Könige als Garanten des Rechts und gerechter sozialer Verhältnisse – und die alttestamentliche Historiographie ist hier im Vergleich zur altorientalischen Literatur besonders kritisch, was 1) an den historischen Erfahrungen Israels und Judas, 2) an Spezifika des Jhwh-Glaubens und 3) an literatursoziologischen Verhältnissen der im Alten Testament versammelten Schriften liegt – wird im Alten Testament nicht nur die fehlende Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit durch die Könige festgestellt. Vielmehr wird damit das Gericht Jhwhs über die Könige Israels und Judas begründet und das Königtum selbst in seiner Funktion, Recht zu schaffen, in Frage gestellt (vgl. Jer 22,13–16 im Kontrast zu 1Kön 3,6; Hos 1,4; 3,4; 8,4; 13,10f.). Dabei gründet diese Gerichtsvorstellung nicht in der vermeintlichen Sozialstruktur einer »egalitären Gesellschaft« des vorstaatlichen Israel (Niehr 1987: 39f.), sondern in der theologischen Reflexion der nachstaatlichen Zeit, die dabei auf Gerichtsaussagen in der Prophetie des 8./7. Jahrhunderts v. Chr. zurückgreift (vgl. z.B. Jes 5,16; 10,22; 28,17–21; Zeph 3,5) und diese als geschichtstheologisches Interpretament generalisiert. Innerhalb der deuteronomistischen Darstellung der Königszeit (1Sam – 2Kön) wird die Katastrophe des Jahres 587 v. Chr. (der Untergang des Königtums, des Tempels und der Eigenstaatlichkeit) als endgültige gerechte Strafe Gottes über Israel und Juda sowie dessen Könige gedeutet. Im weiteren Horizont des Alten Testaments finden sich vier verschiedene Neubestimmungen des königlichen Rechts – was mitunter als eine »Divinisierung« der Gerechtigkeit bezeichnet wird (Assmann 1998: 11) –, die im Verlauf der persischen und frühhellenistischen Zeit (6.–4. Jahrhundert v. Chr.) durch priesterliche und weisheitliche Kreise vollzogen werden. Dabei erscheint die Symphonie von göttlicher und königlicher Gerechtigkeit in unterschiedlichen Klangfarben. Erstens kann in Gestalt einer Eschatologisierung der alten Königsideologie die Vorstellung eines künftigen Heilskönigs, eines
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Messias (χριστός), entwickelt werden, der Recht und Gerechtigkeit durchsetzen wird, was sich innerbiblisch z.B. an der Messianisierung alter Königspsalmen zeigt (vgl. neben Ps 72 die Ps 2 und 110; Jes 9,1–6; 11,1–10; Jer 33,15; Sach 9,9f.). Spätestens in neutestamentlicher Zeit begegnet die Bezeichnung »der Gerechte« (sāddîq bzw. δίκαιος) als Titel für den Messias (Mt 27,4 (v.l.); 27,19; Lk 23,47; Act 3,13f.; 7,52). Zweitens kann im Sinne einer Kollektivierung und Demokratisierung die Rolle, Recht in der Gesellschaft zu garantieren und Gerechtigkeit durchzusetzen, in nachköniglicher Zeit vom König auf das das ideale Volk bzw. die ideale Jhwh-Gemeinde werden (vgl. Ex 19,6; Jes 58). Damit verwandt ist drittens die Vorstellung vom einzelnen Gerechten, der als ethisches Vorbild und Vermittler sozialer Gerechtigkeit mit königlichen Zügen ausgestattet wird (vgl. Hi 29; 31; Ps 1; 119,121; Gen 18,19), so dass hier von einer Individualisierung des königlichen Rechts gesprochen werden könnte. In der Übertragung königlicher Gerechtigkeitsvorstellungen auf die Figur des leidenden Gottesknechts im Jesajabuch (Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12) treffen sich die hier genannte zweite und dritte Form der Transformation der königlichen Gerechtigkeitsvorstellungen (Spieckermann 1998: 264–269), insofern der Gottesknecht sowohl als Einzelgestalt als auch als Repräsentant einer Gruppe (die Frommen in Israel) verstanden werden kann. Viertens kann die Durchsetzung des Rechts allein und unmittelbar von dem Königsgott Jhwh erwartet werden, der am Ende der Zeit unvermittelt Recht und Gerechtigkeit verwirklicht (vgl. z.B. Jes 45,8), und zwar so, dass der gesamte Kosmos einbezogen und damit die Herrschaft Gottes (malkût jhwh, βασιλεία τοῦ θεοῦ) etabliert wird. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der Eschatologisierung der alten Jhwh-Königs-Psalmen (Ps 29; 47; 93–99) ablesen, die mit ihrer Vorstellung des Antritts der himmlischen Herrschaft Jhwhs nach seinem Sieg über die Chaosmächte traditionsgeschichtlich weit in die syrisch-palästinische Mythologie der Spätbronzezeit zurückreichen, in persischer und hellenistischer Zeit aber zu Liedern von Jhwhs endzeitlichem Auftreten zum Völker- und Weltgericht umgewandelt werden (vgl. die so genannten Fremdvölkerworte in Jes 13–23; Jer 46–51; Ez 25–32; Joel 4; Hab 3) und für eine Theokratisierung des königlichen Rechts stehen. Beispielhaft zeigt sich das in
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Ps 97 mit einem traditionellen Grundbestand in Vers 1–2 (vgl. Ps 89,15; 33,5–6) und einer umfassenden Fortschreibung in Vers 3–12. »1 Jhwh ist König! Die Erde soll jubeln, die vielen Inseln sollen sich freuen. 2 Wolken und Dunkel umgeben ihn, Gerechtigkeit und Recht sind das Fundament seines Thrones. 3 Feuer geht vor ihm her und verzehrt ringsherum seine Feinde. 4 Es erleuchten seine Blitze die Erdoberfläche, es sieht und erbebt die Erde. 5 Berge zerschmelzen wie Wachs vor Jhwh, vor dem Herrn der ganzen Erde. 6 Es verkündigen die Himmel seine Gerechtigkeit, und es sehen alle Völker seine Herrlichkeit. 7 Schämen sollen sich alle, die ein Kultbild verehren und die sich der nichtigen Götzen rühmen. Es werfen sich vor ihm nieder, alle Götter! 8 Es hört dies und freut sich Zion, und es jubeln die Töchter Judas, wegen deiner Rechtssätze, Jhwh. 9 Denn du, Jhwh, bist der Höchste über die ganze Erde, du bist sehr hoch erhaben über alle Götter. 10 Ihr, die Jhwh liebet, hasst das Böse! Jhwh bewahrt das Leben seiner Heiligen; aus der Hand der Gottlosen wird er sie herausreißen. 11 Licht ist gesät für den Gerechten und Freude für die, die aufrichtigen Herzens sind. 12 Freut euch, ihr Gerechten, an Jhwh und lobt seinen heiligen Namen!«
In diesem Kontext werden auch der Aspekt der göttlichen Gerechtigkeit als Heilshandeln Gottes und die Äquivalenz von Gerechtigkeit, Heil/Frieden (šālôm), Verlässlichkeit/Treue (’ æmæt/’ æmûnāh) und Barmherzigkeit (hæsæd), von Richten (šāpat) und Retten (jāša‘) am deutlichsten (vgl. Hos 2,21; Ps 36,7; 71,15; 85,11; Dan 9,24) (Crüsemann 1976: 443–446; Janowski 1994: 92–124; Janowski 2000). »Verkündet es und bringt es vor, ja beratet es gemeinsam: Wer hat dies hören lassen von Urzeit an und es vorzeiten verkündigt? War nicht ich es, Jhwh? Und es gibt sonst keinen Gott außer mir, ein gerechter Gott und ein Retter [môšî‘ a, σωτήρ], und es ist keiner außer mir.« (Jes 45,21)
Als eine besondere Form der nachmonarchischen Transformation der Vorstellung vom König als Gesetzesvermittler bzw. Gesetzesgeber erscheint schließlich die literarische Konstruktion von Mose als dem »Gesetzgeber Israels«, d.h. eine in nachstaatlicher Zeit erfolgte Verbindung der gesetzlichen Überlieferungen Israels und Judas mit
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der vorstaatlichen Figur des Mose und deren Einbindung in die Darstellung der Sinaitheophanie. Nach diesem Konstrukt deuteronomistischer Kreise hat Israel sein fundamentales lebenschaffendes Gesetz, das Gerechtigkeit bedeutet, nicht von einem König vermittelt, wie im oben genannten Fall Hammurabis, sondern durch den »Gottesmann« Mose, nach dessen literarischem Testament ein König Israels, wenn es denn (nochmals) einen geben sollte, ein treuer Schüler der Tora, ein Schriftgelehrter, sein soll (Dtn 17,14–20).
Mose empfängt den Dekalog, Haggada von Sarajevo, um 1350. (http://historyofinformation.com/images/sarajevo_ haggadah-moses_on_sinai.jpg).
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4. Von Hiob zu den Betern in Qumran – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den Lehrbüchern des Alten Testaments Das (biblische) Buch, in dem am umfassendsten und vielseitigsten über menschliche und göttliche Gerechtigkeit meditiert wird, ist das zwischen dem 5. und dem 3. Jahrhundert v. Chr. im Umkreis weisheitlicher Dichter entstandene Buch Hiob. Tief verwurzelt in der im Alten O rient seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. literarisch verhandelten Frage nach dem Leiden des Gerechten (Sitzler 1995; Uehlinger 2007), basiert das Buch Hiob auf der Überzeugung einer vom Schöpfergott in die Welt eingesenkten gerechten Weltordnung, die demjenigen, der sich entsprechend den Normen seiner persönlichen Schutzgottheit und seines sozialen Umfelds verhält, ein glückliches Leben schenkt. Als gerecht (sāddîq, δίκαιος) gilt, wer sich diesen Normen entsprechend verhält, so dass das Prädikat »gerecht« im Blick auf Gott wie das Attribut »gottesfürchtig« (j ere’ ’ ælohîm, θεοσεβής) Frömmigkeit impliziert, während demzufolge »ungerecht« auch mangelnde Frömmigkeit bezeichnet (vgl. Ps 37). Der Gerechte und sein negatives Gegenüber, der rāšā‘, was in der Septuaginta zumeist mit ἀσεβής und im Deutschen hilfsweise mit »der Frevler« oder »der Gottlose« übersetzt wird, verkörpern in der Weisheitsliteratur des Alten Israel wie des Alten Orients, vor allem Ägyptens, sowohl ein entsprechendes Handeln als auch ein aus diesem resultierendes Geschick (»Tun-Ergehen-Zusammenhang«). Diese besonders im Buch der Sprüche Salomos im Blick auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche des Menschen sentenzenhaft entfaltete Überzeugung eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen Tun und Ergehen, eines Konnexes zwischen Tat und Folge (Assmann 1995: 66f.), ist ethische und religiöse Maxime (vgl. Spr 10,3.16; 11,5f.19.31; 12,1–5; 13,6; 15,28f.; 20,7; 21,21; 22,8). Sie bildet auch den gedanklichen Ausgangspunkt des Hiobbuchs. Hiob, den ein unbekannter Dichter des 5. Jahrhunderts v. Chr. als einen eben diesen ethischen und religiösen Normen der Gerechtigkeit in einem Höchstmaß entsprechenden Menschen zeichnet, so dass ihn die Septuaginta über den hebräischen Text hin-
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ausgehend ausdrücklich als einen Gerechten (Hi LXX 1,1) tituliert, ist die literarische Figur schlechthin für den Glauben an die Gerechtigkeit, für ihre Infragestellung und für ihre Neubestimmung. Hiobs Leiden wird zum Testfall für die Gerechtigkeit Gottes und des Menschen, ja zum Testfall für das Wesen Gottes und des Menschen (Hi 1,6–12; 2,1–8). Dabei ist es vor allem eine im Verlauf des Dialogs zwischen Hiob, seinen Freunden und Gott vorgenommene Neubestimmung der Gerechtigkeit, die über den Horizont des Hiobbuchs hinaus theologisch zu bedenken ist: Weil ihn weder die Deutung der Leiden Hiobs als Bewährungsprobe (Hi 1,21; 42,12) noch deren Interpretation als göttliche Erziehungsmaßnahme (Hi 5,17; 33,16), als gerechte Strafe für offenbare oder geheime Vergehen (Hi 4,7f.; 8,3f.), noch der Verweis auf die unergründliche Tiefe der Pläne Gottes (Hi 38,1–39,30) überzeugten, hat ein unbekannter Dichter wohl im 3. Jahrhundert v. Chr. an drei zentralen Stellen des Buchs das Motiv von einer geschöpflich bedingten Ungerechtigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen eingefügt (Witte 1994): »Wie kann ein Mensch vor Gott gerecht sein (jisdāq) und wie kann ein von einer Frau Geborener rein sein?« (Hi 25,4; vgl. 4,17; 15,14)
Die Antwort lautet: Gar nicht – vor Gott kann kein Mensch gerecht sein. Mit anderen Worten: Zu Gott kann sich selbst kein Mensch ins Verhältnis setzen (Hi 9,2) – weder durch eine exzessive Frömmigkeit (Hi 1,5) noch durch ein überragendes soziales Verhalten; beides, die Frömmigkeit und die Mitmenschlichkeit (vgl. Hi 29 und Hi 31 als Auslegung des Dekalogs, Witte 2004), werden nicht negiert – im Gegenteil: Hiob erhält aufgrund dieser den für nur wenige biblische Figuren reservierten Titel eines Gottesknechts (Hi 1,8; 2,3; 42,7f.) –, aber relativiert. Damit wird die auch in älteren Kultliturgien (z.B. Ps 15; 24) ablesbare Korrelation von menschlicher Gerechtigkeit und Heiligkeit, von Ethos und Kultfähigkeit, neu definiert. Die Gerechtigkeit Gottes, so wie sie in Hi 4,17; 15,14 und 25,4 – und darüber hinaus in den traditions- und entstehungsgeschichtlich verwandten Texten in 1Kön 8,46; Ps 143,2 und Pred 7,20 – bestimmt wird, ist die einseitig von Gott gestiftete Gemeinschaft mit dem Wesen, das gemäß der spätalttestamentlichen Anthropologie genuin zum
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Sündigen (hātā’, ἀμαρτάνειν) neigt (vgl. Gen 4,7; Jer 11,23; Ez 18,21). Diese göttliche Gemeinschaft kann, so der unbekannte Bearbeiter eines älteren Hiobbuchs, nur durch Gott zugeschrieben und vom Menschen im Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit angenommen werden. Sprachlich hat sich dies einerseits in der mythischen Figur einer Theophanie (Hi 38,1; 42,5) niedergeschlagen, andererseits in einer weisheitlichen Sentenz, die sich auch in dem literargeschichtlich und theologisch eng benachbarten Gespräch zwischen Gott und Abraham findet (Gen 18,27, vgl. dazu Levin 1999: 173) und die in den aus Qumran bekannten, möglicherweise auf Essener zurückgehenden Lobliedern paradigmatisch für das Selbstverständnis dieser Beter steht: »Nun aber hat mein Auge dich gesehen, […] ich aber bin Staub und Asche.« (Hi 42,5f.; vgl. 1QHa XI,21–24; XVII,13–18; 1QS XI,9f.)
Dem Hiob, dem die traditionelle Plausibilität der Theonomie der Gerechtigkeit verloren gegangen ist (Hi 9,20–22; Spieckermann 1998: 272f.) und der sich gleichwohl zur Offenbarung Gottes und seiner eigenen Kreatürlichkeit bekennt, wird in der Endgestalt des Buchs zugestanden, er habe recht (n ekonāh; LXX: ἀληθές »Wahres«) von Gott geredet (Hi 42,7). Der leidende Gerechte, der zum Schluss (Hi 42,10) zum Fürbitter für seine Freunde, nach der Überlieferung eines ebenfalls aus Qumran bekannten Targums aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. sogar zu einem Sündenvergebung bewirkenden Stellvertreter wird (11QtgJob XXVIII,3), steht damit für eine vierfache Erkenntnis: 1) Leiden ist kein Zeichen für Gottes Ferne; 2) es gibt unschuldiges Leiden; 3) die Gerechtigkeit Gottes entzieht sich zwar menschlichen Maßstäben, aber nicht dem Menschen selbst; 4) das Leiden des Gerechten kann eine gemeinschaftstiftende Funktion haben. Letzteres wird in der Vorstellung vom leidenden Gottesknecht im Jesajabuch, der als der Gerechte durch sein Leiden Vielen Gerechtigkeit schafft (vgl. Jes 52,13–53,12), entfaltet und in der neutestamentlichen Christologie rezipiert (Mk 10,45; vgl. Janowski/ Stuhlmacher 1996). Das heißt: Der leidende Gerechte lernt durch die ungerechte Behandlung durch Gott – und das Hiobbuch lässt in keiner seiner literarischen Schichten einen Zweifel daran, dass Gott selbst die Ursache von Hiobs Leiden ist, auch nicht in den so ge-
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nannten Himmelsszenen, die den Satan als einen innergöttlichen Dialogpartner einführen (vgl. Hi 2,3) –, dass menschliche Gerechtigkeit allein darin gründet, dass sich Gott selbst in Beziehung zum Menschen setzt und ihm durch seine Gerechtigkeit die Sünde vergibt (vgl. 1QS X,11; XI,3.12–14). Damit steht Hiob wie seine qumranischen Verwandten im Vorhof der paulinischen Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Sünders. Allerdings ist hier zu betonen, dass der für die christliche Theologie so zentrale Topos der Rechtfertigung im Alten Testament aufs Ganze betrachtet nur in wenigen, späten Schichten begegnet, wobei sich in der griechischen Übersetzung, vor allem der Psalmen (vgl. PsLXX 72,13; PsLXX 142,2), eine charakteristische Weiterentwicklung in Richtung des neutestamentlichen Verständnisses findet (Spieckermann 1997: 282–285). Das am Beispiel des Hiobbuchs nachgezeichnete Denkmuster ist nicht auf dieses beschränkt, auch wenn es sich hier in literarisch und theologisch einzigartiger Weise findet, sondern hat im Alten Testament mehrfach Spuren hinterlassen, zumeist in poetischen Texten, die sich allesamt dem in persischer und vor allem in hellenistischer Zeit vertieften Nachdenken jüdischer Weiser über die Gerechtigkeit Gottes und des Menschen und damit der Rechtfertigung beider verdanken, so in konzentrierter Form in Ps 51 und Ps 143 (PsLXX 142), in den Klageliedern Jeremias 3 oder jenseits der Grenze des Kanons in den Lobliedern/Hodayot aus Qumran (1QHa) und den Psalmen Salomos, einer aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammenden Sammlung nur auf Griechisch und Syrisch erhaltener Gebete mit einer ausgeprägten Theodizee- und Messiasvorstellung (vgl. PsSal 3 bzw. PsSal 17).
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5. Von Habakuk zum Lehrer der Gerechtigkeit – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den Prophetenbüchern Als prophetische Stimme innerhalb des alttestamentlichen Gerechtigkeitsdiskurses soll hier nicht, wie vielleicht zu erwarten, eines der großen Prophetenbücher (Jesaja, Jeremia, Ezechiel) zu Wort kommen, sondern aufgrund seiner eigentümlichen Mischung aus Gerechtigkeitsvorstellungen der rechtlichen, prophetischen, kultischen und weisheitlichen Überlieferungen sowie aufgrund seiner überragenden Rezeptionsgeschichte das Habakukbuch, das gemäß seiner literarischen Stellung im Zwölfprophetenbuch narrativ in das 7. Jahrhundert v. Chr. gehört, nach seinen verarbeiteten Traditionen und theologischen Themen aber eine aus dem 4./3. Jahrhundert v. Chr. stammende protoapokalyptische Schrift darstellt. Genau in ihrer kompositionellen und sachlichen Mitte steht die für die paulinische und spätere lutherische Rechtfertigungsvorstellung so wichtige Sentenz »Der Gerechte aber wird aufgrund seines Glaubens/seines Vertrauens (’ æmûnātô) leben.« (Hab 2,4). Eingebettet in die Redefigur einer prophetischen Vision handelt es sich um eine Neubestimmung der Relation zwischen Gott und Mensch. Diese erschließt sich anhand der kompositions- und traditionsgeschichtlichen Struktur der Habakukschrift, die vor dem Hintergrund ihrer Überschrift in Hab 1,1 und des Verschriftungsbefehls in 2,2 als eine Visionsschilderung zu verstehen ist. In dieser Vision sieht der Prophet zunächst das Zusammenbrechen des Rechts in seiner eigenen Gemeinschaft, das sich an dem Überhandnehmen von Gewalt (hāmās, was in Gen 6,11 als Auslöser der Flut gilt), dem Erschlaffen der Tora und der Misshandlung des Gerechten durch den Frevler zeigt (Hab 1,2–4). Sodann erblickt der Prophet das Heraufziehen eines fremden Volkes, das die Welt erobert und sich selbst als Gott versteht (1,5–17). Dies veranlasst ihn zu wiederholten Klagen und Bitten, Gott möge sich als gerecht erweisen (1,12f.; 2,1–5). Schließlich hört der Prophet die Völkerwelt Weherufe (vgl. Jes 5,8–24; Jer 22,13f.; Mi 2,1) über die sich von allen sozialen, religiösen und moralischen Normen emanzipierende Weltmacht anstimmen (2,6–
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20) und sieht endlich, wie Jhwh selbst zur Wahrnehmung seiner richterlichen Macht erscheint (3,1–19). Was als Klage über die Unterdrückung des Gerechten zu und gegen Jhwh begann, mündet so in dem Vertrauensbekenntnis zu Jhwh. Charakteristisch ist, wie das dramatisch gestaltete Buch unter Rezeption prophetischer, psalmistischer und weisheitlicher Sprachformen und Motive sowie genuiner Pentateuchtraditionen, namentlich der Verschriftung der göttlichen Offenbarung auf Tafeln, was auf die Verschriftung des Dekalogs als Inbegriff der Tora anspielt (Dtn 1,5; 27,8) und des Aufbruchs Jhwhs zum Gericht aus Teman und Paran, was gleichfalls die Gabe der Tora in Erinnerung bringt (Dtn 33,2), das Überleben des Gerechten begründet: nämlich durch das Vertrauen auf die von Habakuk geschaute Gerichtstheophanie. Die prophetische Vision als Gegenstand des das Leben erhaltenden Glaubens tritt hier neben die Tora des Mose, die dem, der ihre Gebote hält, das Leben schenkt (Dtn 30,19). Die besonders durch das Deuteronomium geprägte Vorstellung, dass Gehorsam gegenüber der Tora Leben gewährt, hat im antiken Judentum stark gewirkt (vgl. Ps 119,142–144; Sir 17,11; 45,5; PsSal 9,5). Sie steht z.B. auch hinter der in der Mischna, der um 200 n. Chr. redigierten und im Talmud gesammmelten jüdischen Bibelauslegung, überlieferten Sentenz »Wer Tora mehrt, mehrt Leben« (Traktat Avot II,8). Gleichwohl unterliegt diese Vorstellung einer innerbiblischen Kritik, die alttestamentlich ihren Höhepunkt in den spätprophetischen Ankündigungen eines »neuen Bundes« (Jer 31,31–34) und eines »neuen Herzens« (Ez 36,26) findet und neutestamentlich in der Theologie des Paulus transformiert wird, wenn die Befähigung des Menschen zur Erfüllung der göttlichen Forderung, Gerechtigkeit zu üben (Mi 6,8), von einer grundsätzlichen Neuschöpfung des Menschen abhängig gemacht wird (2Kor 5,16–21). Mit Hab 2,4 wird die mosaische Tora zwar nicht aufgehoben, aber um die prophetische Tora erweitert. Die nachbiblische jüdische Tradition hat die Bezüge zwischen der Vision des Habakuk und der Tora des Mose erkannt, wenn sie im babylonischen Talmud die Sentenz überliefert, Habakuk habe die 613 mosaischen Gebote auf ein Gebot reduziert (Traktat Makkot 24a). Allerdings ist gegen diese rabbinische Tradition, hinter der die (auch in der neue-
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ren kritischen Forschung wieder zu Recht beachtete) Vorstellung steht, die alttestamentlichen Propheten(bücher) seien Ausleger der Tora, Hab 2,4 weniger ein Zeuge für die Identität der Botschaft des Propheten mit der Tora als für den im perserzeitlichen und hellenistischen Judentum geführten kritischen Diskurs über Gehalt, Gestalt und Geltung der mosaischen Tora. Im Blick auf die Bestimmung von Gerechtigkeit ist für das Beispiel Habakuk zu betonen, dass sich diese als Gerechtigkeit Gottes in Gestalt eines kosmische Dimensionen annehmenden Weltgerichts realisiert (vgl. Jer 25,31; Joel 4; Sach 14; Dan 2; 7; Ps 9,20) und sich als menschliche Gerechtigkeit durch Vertrauen in das geschaute Gerichtshandeln Gottes artikuliert. Diese von ihrem Autor intendierte Lesart von Hab 2,4 war schon in der Antike nicht die einzig mögliche, wie eine aus Qumran bekannte Auslegung (pešer) des Habakukbuchs aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. zeigt. So identifiziert diese Auslegung die Gerechten mit allen »Tätern der Tora im Hause Juda«, die Gott »aufgrund ihres Glaubens an [d.h. ihres Vertrauens auf] den Lehrer der Gerechtigkeit«, den Gründer der Gemeinschaft von Qumran, aus dem endzeitlichen Gericht retten wird (1QpHab VIII,1–3). Paulus deutet den Vers, nicht zuletzt aufgrund einer leichten Differenz zwischen seiner Vorlage und dem Masoretischen Text, noch einmal anders: »Der aus [d.h. infolge des] Glauben[s]/Vertrauens (πίστις) Gerechte wird leben« (Röm 1,17) (vgl. dazu Bormann, in diesem Band, S. 80; 84f.).
6. Von Alexandria nach Golgatha – Theologische Spuren von Gerechtigkeit in den deuterokanonischen (apokryphen) Büchern des Alten Testaments Wohl in der frühen römischen Kaiserzeit in der Weltstadt Alexandria entstanden, setzt das jüngste Buch im Alten Testament, die so genannte Sapientia Salomonis, im Stil einer königlichen Lebenslehre mit dem Ruf an die Herrscher der Welt, Gerechtigkeit zu lie-
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ben (SapSal 1,1), ein, bevor es sich dann zu einer rhetorisch ausgefeilten Werbeschrift für die Gerechtigkeit überhaupt entfaltet. Dabei verbindet der in den jüdischen Schriften ebenso wie in der griechisch-hellenistischen Literatur und Philosophie gebildete, auf Griechisch schreibende anonyme Verfasser, der in der nachbiblischen Tradition aufgrund der Anspielungen von SapSal 6,24f.; 7,1; 9,7f. auf 1Kön 8–10 wie der ebenfalls in hellenistischer Zeit über die Gerechtigkeit nachdenkende Kohelet/Prediger (vgl. 1,6; 5,7; 7,15) mit Salomo gleichgesetzt wurde, in eigentümlicher Weise pagane Vorstellungen mit genuin jüdischen. Wenn der Autor der Sapientia die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) neben der Besonnenheit, Klugheit und Tapferkeit als eine der Kardinaltugenden (ἀρετή) bezeichnet (SapSal 8,7), dann bewegt er sich auf klassischen Pfaden griechischer Philosophie, wie sie von Platon (428/427–348/347 v. Chr.) bis in die hellenistisch-römische Tugend ethik betreten wurden. Hingegen folgt er in der materialen Füllung des Begriffs der δικαιοσύνη ganz dem jüdischen Erbe, wenn er die Gerechtigkeit mit dem Nachdenken über und der Suche nach Gott, also mit dem Willen zur Gemeinschaft mit Gott, parallelisiert (SapSal 1,1), oder wenn er die Gerechtigkeit als Wesensmerkmal des machtvoll in Schöpfung und Geschichte agierenden einen Gottes Israels versteht (SapSal 12,16f.; vgl. Jer 32,17–20; Sir 18,1f.). Ebenso entsprechen die Bezeichnung der Frommen, das heißt derer, die sich unter den Bedingungen der Diaspora an die Tora und ihre Normen halten (SapSal 2,12f.), und die Benennung der heilsgeschichtlichen Vorfahren Israels als Gerechte (δίκαιοι), die mittels der göttlichen Weisheit geleitet und bewahrt wurden (SapSal 10), der sich in den hebräischen Texten der persischen und hellenistischen Zeit andeutenden Verwendung des Begriffs »gerecht«. Innovativ ist die Kombination der Vorstellungen von Gerechtigkeit und Unsterblichkeit. So bestimmt der alexandrinische Denker die göttliche Gerechtigkeit, die durch eine offenbar aktuelle Bedrohung toraobservanter Juden in Alexandria in Frage gestellt ist, neu mittels eines doppelten eschatologischen postmortalen Ausblicks: 1) Wenn der um seiner Gerechtigkeit, d.h. um seiner Treue gegenüber Gott und seiner Tora, willen verfolgte Gerechte sein Leben verliert (SapSal 2,12f., vgl. Jes 52,13–53,12), dann nur, um nach dem
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Tod in eine noch intensivere Gemeinschaft mit Gott zu kommen. Denn »die Seelen der Gerechten sind«, wie SapSal 3,1, in Weiterführung von Ps 49,16 und in motivischer Parallele zu Dan 12,1–3 und 2Makk 7,9 formuliert, »in Gottes Hand und keine Folter kann sie antasten« (vgl. SapSal 4,7; 5,15) (Witte 2000: 540–560). 2) Gerechtigkeit im Sinne der Gottesgemeinschaft ist unsterblich (ἀθάνατος, SapSal 1,15) – Gerechtigkeit verwirklicht sich in Gotteserkenntnis und Unsterblichkeit (ἀθανασία, SapSal 15,3). »Dich [Gott] zu kennen, ist nämlich vollkommene Gerechtigkeit, und um deine Macht zu wissen, ist die Wurzel der Unsterblichkeit.« (SapSal 15,3)
Mit diesem Zusammenspiel von Gotteserkenntnis, Gerechtigkeit und Unsterblichkeit bewegt sich der unbekannte Verfasser, der im weiteren Umfeld des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandria (ca. 20 v. Chr. – 50 n. Chr.) zu suchen ist, in einem geistigen Milieu, das dem des Johannesevangeliums vergleichbar ist (vgl. SapSal 15,3 mit Joh 17,3). Mit diesem teilt die Sapientia nicht zuletzt auch die Vorstellung, dass sich die Gerechtigkeit Gottes in der endzeitlichen Verherrlichung seiner Anhänger erweisen wird (vgl. SapSal 19,22 mit Joh 17,1.5).
7. Der theologische Beitrag des Alten Testaments zum Thema Gerechtigkeit Insofern Gerechtigkeit im Alten Testament immer eine auf Gott bezogene, durch Gott gestiftete und auch im zwischenmenschlichen Bereich von Gott her zu gestaltende Beziehung beschreibt, gibt es letztlich, unbeschadet unterschiedlicher traditions- und literaturgeschichtlicher Hintergründe, inneralttestamentlicher Fortschreibungen, unterschiedlicher anthropologischer, kosmologischer und theologischer Horizonte sowie unterschiedlicher hermeneutischer Funktionen im Kontext kultischer, historiographischer, juridischer, prophetischer und weisheitlicher Überlieferungen, nur eine Konzeption von Gerechtigkeit im Alten Testament. Wie im Neuen Testament der Ausgangspunkt der theologischen und anthropolo-
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gischen Füllung und Verwendung von δικαιοσύνη das Heil in Jesus Christus ist (Lührmann 1984: 419), so ist im Alten Testament Gott selbst der wesentliche Ausgangs-, Bezugs- und Zielpunkt von Gerechtigkeit; exemplarisch sei hier nochmals auf den Dekalog hingewiesen. Was sich theologisch ausdifferenzieren lässt und was dementsprechend für eine Korrelation mit neutestamentlichen und systematisch-theologischen Vorstellungen, aber auch mit außerbiblischen religiösen und philosophischen Konzeptionen weiterführend ist, sind die verschiedenen Dimensionen, Problematisierungen und Neubestimmungen der Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: die Fragen, auf welchen theologischen und anthropologischen Ebenen Gerechtigkeit im Alten Testament thematisiert wird, wie und wodurch Gerechtigkeit jeweils in Frage gestellt wird, wie dies jeweils sprachlich und motivisch artikuliert wird und wie und wodurch Gerechtigkeit dann so neu bestimmt wird, dass Gott und den Menschen ein gemeinschaftsgerechtes und lebensförderndes Verhalten und Handeln zugeschrieben werden kann. Die Klärung dieser Fragen beinhaltet die Freilegung der alttestamentlichen Potentiale zur Deutung von Leben, das ohne eine stabile Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Umwelt, also ohne Gerechtigkeit in ihren vertikalen und horizontalen Dimensionen, keine Zukunft hat. Das Alte Testament präsentiert also in seinen verschiedenen literarischen Schichten und in seinen Endgestalten Beschreibungen von Gerechtigkeit, die jeweils darauf zu befragen sind, inwiefern sie zur Lebensdeutung und Lebensgestaltung zur Zeit ihrer Entstehung beigetragen haben und wie sie dies gegenwärtig leisten können. Dazu kommt gerade beim Thema Gerechtigkeit ein starkes innerbiblisches kritisches Korrektiv: beispielsweise durch den Aufweis, dass das paulinische Verständnis von Hab 2,4 nicht das einzig mögliche ist – was sich ja auch schon beim Gegenüber der aus Qumran bekannten Habakuk-Auslegung/Pesher (1QpHab), des Römer- und des Jakobusbriefs zeigt –, oder durch die Thematisierung von Aspekten von Gerechtigkeit, die im Neuen Testament entweder gar nicht oder nur verhalten zur Sprache kommen, wie die letztlich im Alten Orient und im alten Ägypten gründende, aber auch im klassischen griechischen Raum bekannte Vorstellung
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von der kosmischen Dimension der Gerechtigkeit als einer vom Schöpfergott in die Welt eingesenkten und alle Zeithorizonte von der Urzeit bis zur Ewigkeit umfassenden Lebensordnung (Kaiser 1965: 1–23; Schmid 1968: 23–66; Assmann 1995). Im Verbund mit dem Neuen Testament bildet das Alte Testament die wesentliche Basis für eine kritische Reflexion von Gerechtigkeitskonzeptionen in Kirche und Gesellschaft (Dietrich 1989: 28). Gemäß der prophetischen Mahnung »Bewahrt Recht und übt Gerechtigkeit« (Jes 56,1) steht das Alte Testament für die Einforderung von Gerechtigkeit im Namen Gottes, den Altes und Neues Testament als den einen Herrn von Schöpfung und Geschichte, mithin als den Herrn aller Lebensbereiche bekennen. Der weisheitliche Wahrspruch, dass »Gerechtigkeit ein Volk erhöht« (Spr 14,34), die spätprophetische strikte Betonung individueller Verantwortung gegenüber Gott mit ihrer scharfen Dialektik von Sünde (hātā’) und Gerechtigkeit in Ez 18 oder der Eröffnungsruf der Sapientia, die politisch und ökonomisch Verantwortlichen in der Welt mögen Gerechtigkeit lieben (SapSal 1,1), sind hier von bleibender und angesichts der mit der Globalisierung verbundenen radikalen wirtschaftlichen und sozialen Probleme von ganz aktueller Bedeutung.
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Gerechtigkeitskonzeptionen im Neuen Testament 1. Gerechtigkeitsdiskurse in der Antike In der Septuaginta und im Neuen Testament wird für die Bezeichnung des Sprach- und Sachzusammenhangs (kognitive Linguistik: engl. »frame«) »Gerechtigkeit« (δικαιοσύνη) die Wortgruppe um die Wurzel δικ- oder δεικ- von δείκνυμι/»zeigen«/»weisen« verwendet, die auch im lateinischen iudex/»Richter« (ius-dics, dico von δείκνυμι) aufgenommen ist. Die (nicht ganz sichere) Etymologie gibt schon einen Hinweis darauf, wie in der griechisch-römischen Welt über Gerechtigkeit gedacht wird. Sie ist nicht einfach »da«, sondern bedarf der Wahrnehmung und der Erschließung. Begriff und Sache der Gerechtigkeit stellten aufgrund dieses Er schließungscharakters bereits in der Antike eine hermeneutische Herausforderung dar, die man nicht alleine durch die geschulte Interpretation von traditionellen Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen zu meistern suchte, sondern auch anhand kritischer Analysen, die bis heute grundlegend sind für theologische, philosophische und politische Überlegungen zu Recht und Gerechtigkeit.
1.1. Griechentum, Hellenismus, Rom Die ersten literarischen Belege für eine kritische Analyse der Gerechtigkeitsvorstellungen finden sich bei Hesiod (geb. ca. 705‒720 v. Chr.). Er vertritt ein Weltbild, nach dem die Gerechtigkeit, nicht aber das Unrecht dem menschlichen Leben entspricht. Zeus selbst habe den Menschen ein Recht gegeben, das die menschlichen Ver-
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hältnisse zu Gerechtigkeitsbeziehungen ordne (Hes.erg. 274‒285). Im ältesten erhaltenen Satz der griechischen Philosophie formuliert der Vorsokratiker Anaximander (ca. 610‒540 v. Chr.) ebenfalls den Zusammenhang von Weltbild und Gerechtigkeitsvorstellungen: Werden und Vergehen »leisten einander Recht (δίκη) und Strafe für das Unrecht (ἀδικία), gemäß der zeitlichen Ordnung« (Frgm. 15). Bereits Theophrast (371‒287 v. Chr.) nennt die Formulierung, die Anaximander gewählt hat, »poetisch« (Vorsokratiker 1999: 62f.; Rapp 1997: 44f.). Die Eigenart der griechischen Philosophie, analytisch und rational Wissen zu erarbeiten, führt dazu, dass deren Gerechtigkeitsdiskurse auf mythologische und religiöse Erwägungen weitgehend verzichten. Grundlegend für die philosophische Analyse der Gerechtigkeit ist Platons (427‒347 v. Chr.) Auseinandersetzung mit dem führenden Sophisten Kallikles, der die Ansicht vertrat, das Gerechte (τὸ δίκαιον) entspreche dem Natürlichen (τὸ κατὰ φύσιν), so dass er folgerte, auch die Dominanz des Starken sei gerecht, während der Schwächere keine schutzwürdigen Rechte habe (Plato Gorg. 488b). Platon hingegen bestand darauf, dass es in Konflikten zwischen Macht und Gerechtigkeit besser sei, das Unrecht zu leiden als dasselbe zu tun (Gorg. 527b: τὸ ἀδικεῖν μᾶλλον ἢ τὸ ἀδικεῖσθαι; vgl. 1Kor 6,7). Der Behauptung, dass das Unrechttun dennoch die erfolgreichere Variante sei, stellt Platon seine mythologische Gerichtsvorstellung entgegen: Im postmortalen Gericht werde derjenige belohnt, der sein Leben »gerecht und fromm« (δικαίως καὶ ὁσίως) geführt habe (Gorg. 523b). In Platons »Staat« ist demgegenüber der Gedanke leitend, dass derjenige, der das »Gute« und damit auch das »Gerechte« aufgrund seiner guten Bildung erkenne, es auch tun werde (Plato rep. 358a). Deswegen sollen ihm zufolge alleine die Philosophen die Herrschaft ausüben. Aristoteles (384‒322 v. Chr.) betont, dass neben der Bildung (Arist.e.N. 1129a) auch die Gesetze die Funktion haben, die Menschen über das, was gerecht ist, zu informieren. Vor diesem Hintergrund definiert Aristoteles das rationale Prinzip von Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva), die jedem das Seine zukommen lassen müsse (Arist.e.N. 1137b: τὸ κατ᾿ ἀξίαν ἑκάστῳ; Ulpian, Liber primus regularum, D I,1,10: suum cuique).
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Aufgrund der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles sei aber das korrigierende Prinzip der Billigkeit (aequitas, ἐπιείκεια) zu berücksichtigen (Arist.e.N. 1137b). An diesem Umgang mit Rechtsfragen (τὰ δίκαια) seien die Götter nicht beteiligt (Arist.e.N. 1137a). Die griechische Polis war der soziale Ort, an dem autonome Rechtsschöpfungen verwirklicht werden konnten. Die herausragenden Gründergestalten, Lykurg für Sparta und Solon für Athen, setzten als Gesetzgeber an die Stelle der alten Ordnungen neue, die einen rationalen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen, besonders zwischen Elite und Nicht-Elite, erreichen sollten (Arist.Ath. 12). Daraus entwickelten sich Grundüberzeugungen, die auch für die neutestamentlichen Texte bedeutsam sind. So überliefert Aristoteles die Vorstellung, dass der Mensch gerecht sei, der die Gesetze seines Staates achte (Arist.e.N. 1129b). Der römische Politiker und Staatstheoretiker Cicero (109–43 v. Chr.) folgt ihm in dieser Hinsicht (Cic.leg. I 48) und ergänzt den für die römische Staatsräson bezeichnenden Gedanken (Cic.rep. III 33): »Mir gilt nur das als ein Volk, was durch die Anerkennung des Rechts (consensus iuris) zusammengehalten wird.« Auf diesen Gedanken beruht das hellenistische Tugendideal des »δίκαιος καὶ ὅσιος« (s.o. zu Platon), nach dem der Mensch im Rahmen der Gesetze seiner Polis oder seines Ethnos gerecht (δίκαιος) zu seinen Mitmenschen und ehrfürchtig (ὅσιος) gegenüber den Göttern sein soll (Dihle 1978: 240). Dieses Tugendideal ist vom Judentum des Zweiten Tempels aufgenommen worden und findet sich sogar als Gottesattribut in der Septuaginta wieder (Dtn 32,4; Ps LXX 144,17; vgl. Dtn 9,5).
1.2. Judentum Im Judentum des Zweiten Tempels sind neben dem Einfluss von Seiten des Hellenismus auch Elemente des altorientalischen Denkens weiter lebendig. Im Unterschied zum begrifflichen Rationalismus der Griechen dominiert dort das Erzählen, die Narration (Schwindt 2002: 135). Diese denkt in Entwicklungen und Krisen, sie kann Gegensätze wie »gut und böse«, »gerecht und ungerecht« einander dramatisch und konfliktartig gegenüberstellen und miteinander gleichgegenwärtig existieren lassen, ohne die dadurch
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entstehende spannungsreiche und Sinn bildende Raumkonstellation begrifflich definieren zu müssen (Dalferth 1992: 242). Die somit ermöglichte anthropomorphe Darstellung der Götterwelt und die geschichtlich-narrative Konstruktion des Weltbildes prägen auch die biblischen Gerechtigkeitskonzeptionen, die für das Neue Testament grundlegend sind. Gerechtigkeit bezeichnet hier zum einen die Beziehung zwischen Gott und der Welt als Schöpfung, aus der die Vorstellung des Rechtsanspruchs des Schöpfergottes und seiner Barmherzigkeit abgeleitet wird, und zum anderen die Beziehung zwischen Gott und Mensch, die als Bundestreue des Gottes Israels vorgestellt wird. Die damit angelegte Dramatik zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit kommt insbesondere in der »Wesensdefinition Gottes« (Spieckermann 1989: 291), der Gnadenformel (Ex 34,6f.; etwa 12x im Alten Testament), zum Ausdruck: »Barmherzig und gnädig ist Jhwh, langmütig und von großer Huld.« Sie begegnet jeweils in Kontexten, in denen es um den »Verzicht auf Strafe für Vergehen Israels« und um das Bekenntnis Israels zum »Verschonungswillen Jahwes« geht (Jeremias 1997: 95). Die Gnadenformel akzentuiert die Barmherzigkeit (ræhæm, ἔλεος) im Sinne der Strafverschonung, der Gnade (hæsæd, οἰκτιρμός). Die Formel wird zu einem »diskursiven Interpretament Gottes« (Franz 2003: 269). Die »Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit« (Janowski 2000) in Gott erschließt sich demnach als das »Drama der Barmherzigkeit Gottes« (Scoralick 2000; vgl. Ansorge 2009), das sich immer wieder auf neue Weise in den Krisen der Gottesbeziehung Israels inszeniert. Sie ist auch der Ausgangspunkt des neutestamentlichen Gottesverständnisses (Wilckens 2002: 8‒11). Die betonte Anknüpfung christlicher Exegeten der Gegenwart an die Dramatik des biblischen Gottes bedarf jedoch einer Ergänzung. Neusner verweist darauf, dass die rabbinische Tradition nicht das tragische Moment des biblischen Gottes aufnehme, sondern vielmehr das zeitlos Gültige betone, das sich in der Tora ausdrücke. Die Tora sei für die Rabbinen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer auf dieselbe Weise als Grunddokument Gottes für Israel in Geltung (Neusner 2005: 1491f. u. 2350). Daneben reflektiert aber auch die rabbinische Literatur die Frage nach der Verfasstheit
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Gottes in Form eines Gerechtigkeitsdiskurses. Nach dem Midrash Leviticus Rabba 29:4.10, ca. 5. Jahrhundert, erinnert sich Gott beim Blasen des Schofar, des Widderhorns, an die Bindung Isaaks und erhebt sich von seinem Gerichtsthron (kisse’ hāddîn), um sich auf seinen Gnadenthron (kisse’ hārah amîm) zu setzen und damit von der Gerechtigkeit zur Gnade zu wechseln (ähnlich babylonischer Talmud Traktat Berakhot 7a; Midrash Bereshit Rabba 33,3). Die mit der Tora verbundenen Konzeptionen von Gerechtigkeit haben sich im Zeitalter des Hellenismus zunehmend auch vor einem rational-analytischen Gerechtigkeitsbegriff zu rechtfertigen, wie er durch die griechische Philosophie vertreten wird. Für den jüdischen Religionsphilosophen Philo boten die stoische Lehre vom Naturgesetz (νόμος φύσεως, Cicero: lex naturae) und die neupythagoreisch-platonischen Schöpfungsvorstellungen (besonders Platons Timaios) eine mögliche Verbindung von Judentum und Hellenismus, die dann bei den Kirchenvätern aufgenommen wurde. Das rabbinische Judentum entwickelte die Tora als den entscheidenden Diskursraum von Gerechtigkeitserwägungen für Israel weiter. Die neutestamentlichen Gerechtigkeitskonzeptionen hingegen sind weder eigenständig noch bilden sie eine Einheit, sondern haben jeweils an verschiedenen Gerechtigkeitsdiskursen ihrer Umwelt Anteil (Lührmann 1984: 419).
2. Die Wortgruppe »Gerechtigkeit« im Neuen Testament Sache und Begriff der Gerechtigkeit sind für das Neue Testament zentral (Kertelge 1980: 785: »Leitbegriff ersten Ranges«). Darauf verweist bereits die Wortstatistik, denn das griechische δικαιο σύνη/»Gerechtigkeit« (92x, davon Röm 34x, Mt 7x, Heb 6x), das Adjektiv δίκαιος/»gerecht« (79x, davon Mt 17x, Lk 11x, Röm 7x) sowie das Verb δικαιόω/»als gerecht hinstellen« (39x, davon Röm 15x, Lk 5x, Jak 3x) werden sehr häufig verwendet. Daneben begegnen noch δικαίωμα/»Gebot« (10x, davon Röm 5x), δικαί ωσις/»Rechtfertigung« (2x Röm), δικαστής/»Richter« (2x Apg) und δίκη als »Strafe« sowie als Eigenname für die Zeustochter Dike (3x). Schließlich sind noch die nicht sehr häufigen Bildungen mit
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Präfixen zu nennen wie ἐκδικέω/»rächen« (6x), ἐκδίκησις/»Rache« (9x), ἔκδικος/»Rächer« (2x), καταδικάζω/»verurteilen« (5x) und καταδίκη/»Verurteilung« (1x). Als Opposita sind zu nennen: ἀδικέω/»Unrecht tun« (28x, davon Apk 11x, Apg 5x), ἀδίκημα/ »Unrecht« (3x, davon Lk 2x, Apk 1x), ἀδικία/»Unrecht« (25x, davon Röm 7x, Lk 4x), ἄδικος/»ungerecht« (12x, davon Lk 4x, 1Kor 2x), aber auch ἀνομία/»Gesetzlosigkeit« und Derivate. Die Schwerpunkte des Vorkommens der Wortgruppe liegen deutlich im Corpus Paulinum, dort besonders im Römerbrief, sowie im Matthäusevangelium, dann aber auch im lukanischen Schrifttum (Lk/Apg) und in der Johannesoffenbarung. Paulus und Matthäus entfalten ihr Verständnis von Gerechtigkeit in enger Beziehung zur Christologie und zur Soteriologie. Diese formale Gemeinsamkeit verstärkt allerdings den Eindruck, dass diese unter theologischen Gesichtspunkten profiliertesten Gerechtigkeitskonzeptionen zueinander in einer spannungsvollen Beziehung stehen. Denn während Paulus von der Gerechtmachung durch den Glauben spricht (Röm 3,28 u.ö.), thematisiert Matthäus die Gerechtigkeit als eine Größe, welche durch Lebensgestaltung (z.B. Mt 21,32: »Weg der Gerechtigkeit«) und eine zwischenmenschliche Praxis konstituiert wird, die mit dem Willen Gottes übereinstimmt und den Zugang zur Königsherrschaft Gottes eröffnet (Luz 2002: 545: »Einlaßforderungen für das Himmelreich«). Angesichts der Debatte um das Verhältnis der matthäischen und der paulinischen Gerechtigkeitskonzeptionen im Horizont des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses geraten leicht die Gerechtigkeitskonzeptionen des lukanischen Schrifttums und der Johannesoffenbarung aus dem Blick. Im lukanischen Schrifttum finden sich δικαιοσύνη (5x), δίκαιος (17x), δικαιόω (7x), δικαίωμα (1x), δικαστής (2x), δίκη (1x), ἐκδίκησις (4x), καταδικάζω (2x) und καταδίκη (1x). Die lukanische Gerechtigkeitskonzeption verbindet anders als Paulus und Matthäus Sache und Begriff der Gerechtigkeit nicht aufs engste mit der Christologie (Lührmann 1984: 415). Im Falle der Johannesoffenbarung liegen die Dinge ein wenig anders. Das Interesse an weltlicher Gerechtigkeit ist hier sehr ausgeprägt. Die Perspektive auf eine Welt, die der Gerechtigkeit bedarf, ist allerdings so gewählt, dass gerade die Ungerechtigkeit deutlich in den
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Blick kommt. Das zeigt sich bereits wortstatistisch, wenn man auf das Vorkommen der Wortgruppe Gerechtigkeit (δικαιοσύνη 2x, δίκαιος 5x, δικαίωμα 2x) im Vergleich zu den Opposita (ἀδικεῖν 11x, ἀδίκημα 1x) blickt. Die Welt leidet unter dem Schaden, den das ungerechte Tun (ἀδικεῖν) anrichtet, und die Gemeinschaft der Apokalypse des Johannes hofft auf die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Es wird aber keine Ethik entfaltet, die der Ungerechtigkeit begegnet, sondern vielmehr das kommende Eingreifen Gottes als Herrscher und Richter in den Mittelpunkt gestellt (Apk 6,9–11). So breit also die Wortgruppe über das Neue Testament verteilt ist, so wenig einheitlich ist das Verständnis der mit ihr bezeichneten Sache. Diese Unterschiede relativieren sich erst, wenn man die Herkunft der verschiedenen neutestamentlichen Gerechtigkeitskonzeptionen reflektiert. Sie beziehen sich jeweils auf die Gerechtigkeitsdiskurse, die im Judentum des Zweiten Tempels geführt wurden, und werden auf sehr unterschiedliche Weisen durch christologische Erwägungen beeinflusst.
3. Gerechtigkeit und Reich Gottes in der Verkündigung Jesu In der Logienquelle (Q) findet sich der Begriff »Gerechtigkeit« nicht (Hoffmann 2009: 148, 152). Auch die Gleichnisüberlieferung und die weitere Spruchüberlieferung Jesu geben keinen Anhalt für die Annahme, dass diese Wortgruppe ein wichtiger Bestandteil der Verkündigung Jesu gewesen sei. Erst in der Fassung der Verkündigung Jesu, wie sie das Matthäusevangelium überliefert, nimmt der Begriff »Gerechtigkeit« eine zentrale Position ein. An allen Stellen in Matthäus ist das Wort δικαιοσύνη aber redaktionell eingetragen (Strecker 1962: 150–153). Es wird also erst bei Matthäus zu einem tragenden Begriff der Verkündigung Jesu (s.u.). Der Sachzusammenhang »Gerechtigkeit in der Verkündigung Jesu« erschließt sich aber über deren zentralen Inhalt: die Königsherrschaft Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ). Die weisheitliche Mahnrede zur Feindesliebe (Kirk 1998: 153–165) in der Logienquelle (Lk 6,27–36 par.) schließt mit der paränetischen Erinnerung an den
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barmherzigen Schöpfergott (6,36): »Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist.« Mit οἰκτίρμων/ος/»barmherzig« bezeichnet die Septuaginta ganz überwiegend eine Eigenschaft Gottes (Bovon 1989: 322). Viel zu selten wird aber in der neutestamentlichen Exegese vermerkt, dass damit eine Textbeziehung zur Gnadenformel hergestellt wird (Ex 34,6; Ps 103,8; 145,8 u.ö.). Im Hintergrund der jesuanischen Aussage steht jene Gottesvorstellung, nach der sich in Gott selbst und in seinem Handeln das Drama der Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ereignet (s.o.), dessen Lösung sich im Tun und in der Durchsetzung der Barmherzigkeit vollzieht. Der Macht- und Herrschaftsbereich Gottes, seine Königsherrschaft, wird bestimmt durch die Barmherzigkeit. Q 6,36 (= Lk 6,36) schließt die weisheitliche Mahnrede Jesu, welche durch die Forderung der Feindesliebe eröffnet und bestimmt wird, ab. Diese allgemeine Mahnung wird im Kontext der dörflichen Alltagswelt konkretisiert: Respektlose Gewalt (»schlägt dir einer auf die eine Wange«), Aneignung von fremdem Besitz (»nimmt dir einer den Mantel«) und schließlich die Hilfe durch Verleihen (»bittet dich einer«) sollen nicht nach der Maßgabe einer reziproken Ethik erwidert werden. Stattdessen fordert Jesus barmherziges, verschonendes Verhalten, das Ausdruck der Feindesliebe ist und als Gewaltverzicht, Besitzverzicht und Rechtsverzicht im Rahmen der sozialen Gemeinschaft des Nahbereichs nicht nur als Beitrag zu einem gelingenden Leben der Gemeinschaft bewertet wird, sondern auch als mimetische Repräsentanz der Barmherzigkeit des Schöpfergottes gilt. Die matthäische Fassung der Feindesliebe nimmt in Mt 5,45 noch deutlicher den barmherzigen Schöpfergott in Anspruch und knüpft damit an Aussagen des Psalters an. Gott »lässt seine Sonne über Böse und Gute aufgehen und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte (ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους)«. Die Gleichnisse führen diese Gedanken näher aus. Sie liegen in einer Gestalt vor, die nicht ohne weiteres auf Jesus zurückgeführt werden kann. Eine Unterscheidung des szenischen Rahmens der Evangelien und der eigentlichen Gleichniserzählung ist gleichwohl möglich und erlaubt es, diese Texte der ältesten Jesusüberlieferung zuzuweisen. Die Gleichnisse im Markusevangelium und in der Logienquelle thematisieren überwiegend die überraschende Präsenz
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der Königsherrschaft Gottes, indem sie Bilder aus dem Alltagsleben von Männern und Frauen heranziehen (z.B. Q 13,18–21 [= Lk 13,18– 21]: Doppelgleichnis vom Senfkorn und vom Sauerteig). Der Inszenierung von Gerechtigkeit in Form von Barmherzigkeit als Grundstruktur der βασιλεία/»Königsherrschaft« dienen hingegen einige der Parabeln bzw. Gleichniserzählungen im Matthäus- und Lukas evangelium. Sie sind durch einen szenisch-dramatischen Aufbau bestimmt, der mit der variierenden Reihenfolge der drei Szenen Tat, Krise und Lösung vor allem den dramatischen Zusammenhang von Krise und Lösung betont (Harnisch 1995: 71–77). In der Krise steht die Entscheidung darüber an, ob die Handlungsträger im Sinne der Barmherzigkeit agieren und sich für die liebevolle und tatkräftige Zuwendung entscheiden oder nicht. Einige Gleichniserzählungen stellen besonders deutlich das Drama von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in den Mittelpunkt. So werden nach Mt 20,1–16 mehrfach Tagelöhner in einen Weinberg zur Arbeit gerufen, die letzten nur eine Stunde vor Arbeitsende. Bei der Auszahlung des Lohns werden zuspitzend nur die ersten und die letzten gegenübergestellt. Diese zuletzt Eingestellten erhalten zuerst ihren Lohn. Da nun diejenigen, die mehr gearbeitet haben, einen höheren Lohn erwarten, aber den gleichen bekommen, protestieren sie gegen die eklatante Verletzung des suum cuique, das nach Aristoteles das Prinzip von Gerechtigkeit als iustitia distributiva ist. Der Besitzer des Weinbergs gibt sich keine Mühe, sein Verhalten als »ausgleichende Gerechtigkeit« (aequitas, ἐπιείκεια) zu begründen, etwa im Sinne der sozialgeschichtlichen Deutung, jeder erhalte das, was er für die Ernährung seiner Familie für einen Tag benötige, sondern reagiert vielmehr zunächst mit dem Verweis auf das Vereinbarte und betont: οὐκ ἀδικῶ σε/»Ich habe dich nicht ungerecht behandelt« (Mt 10,13), um dann den Widerstand gegenüber sein die Grenzen der Gerechtigkeit überschreitendes, großzügiges Handeln mit dem harschen Vorwurf zu brechen: »Ist dein Blick böse, weil ich gut bin?« (Mt 10,15). Gerade diese dramatische Gestaltung führt dazu, dass die konkrete Geschichte, in der sich die Barmherzigkeit durchsetzt, nicht unmittelbar eingängig und auch nicht ohne weiteres plausibel ist. Dasselbe gilt auch für die Gruppe von Gleichnissen, die ebenfalls dieses Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Konflikt der Lebenswelt thematisieren.
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In den Gleichnissen vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30), vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), vom ungerechten Haushalter (Lk 16,1–12) und vom Richter und der Witwe (Lk 18,1‒8) werden jeweils nicht völlig plausible, teilweise sogar ethisch anstößige Überlegungen und Handlungen in den Mittelpunkt gestellt, die aber gleichwohl den Durchbruch zur Lösung des Konflikts bewirken. Das Wortfeld »Gerechtigkeit« kommt in der Verkündigung Jesu nur am Rande vor, und doch wird in der Ausgestaltung und Konkretisierung der Barmherzigkeit das Sachanliegen des biblischen Gerechtigkeitsdiskurses weitergeführt. Die Gerechtigkeit soll dort die Gestalt der Barmherzigkeit annehmen, wo sie durch Strafverschonung und Verzicht das Überleben sichert und gelingendes Leben ermöglicht. Diese Einschränkung verweist nun aber auch darauf, dass es Situationen und Konflikte gibt, die so nicht zu lösen sind. Dort, wo das Unrecht als so eklatant bewertet wird, dass es die lösende Tat nicht gibt, wird auf Gott selbst verwiesen, der mit seinem Gericht Recht schaffen und Gerechtigkeit herstellen wird (Q = Lk 10,14; 11,31; 22,30). Das Rechtssystem als solches bleibt in der Verkündigung Jesu deutlich im Hintergrund und dort, wo es in der Bildwelt der jesuanischen Verkündigung auftaucht, wird ihm nicht viel Vertrauen entgegengebracht. So gibt es Richter, die weder Gott noch die Menschen fürchten (Lk 18,2.4), d.h. die sich absolut jenseits des antiken Tugendideals bewegen, nach dem der Mensch gerecht zu seinen Mitmenschen und ehrfürchtig gegenüber den Göttern sein solle (s.o.). In Q 12,58f. wird die Vorstellung aufgerufen, dass man vor Gericht recht schnell vom Richter ins Gefängnis geworfen wird, was im antiken Kontext nur die Schuld- oder Beugehaft, nicht aber die Strafhaft meinen kann (Arbandt 1976: 329f.). Jesus weist die an ihn gerichtete Bitte zurück, als Richter oder Mediator (κριτὴς ἢ μεριστής) aufzutreten, d.h. als jemand, der in einer materialrechtlichen Streitfrage um Erbbesitz einen Schiedsspruch vorschlagen soll (Lk 12,14).
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4. Die »bessere« Gerechtigkeit im Matthäusevangelium Im Begriff δικαιοσύνη fasst das Matthäusevangelium die Verkündigung Jesu an seine Jüngerinnen und Jünger zusammen. Ihre Gerechtigkeit soll »besser« sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 5,20). Es fällt allerdings auf, dass das Wort selbst vor allem in der Bergpredigt und dann nur noch in 3,15 und 21,32 verwendet wird. Diese Beobachtung wird insbesondere für die Frage wichtig, in welchem Verhältnis die Bergpredigt zum Ganzen des Matthäusevangeliums steht, welche Vorgeschichte dieser Text hat, ob er wesentlich eine matthäische Überarbeitung der Logienquelle darstellt oder aber sich ausschließlich einer jüdischen Tradition verdankt (Betz 1992: 270f.). Ungeachtet der Frage nach der Textentstehung der Bergpredigt kann es nach heutigem Stand der Forschung nicht mehr darum gehen, eine jüdische oder eine christliche Ethik der Bergpredigt zu unterscheiden. Die altruistische Ethik, die in der Bergpredigt und an anderen Stellen im Neuen Testament vertreten wird (1Kor 4,12; Röm 12,19–21), entstammt der jüdischen Dorfgemeinschaft und der Synagoge (Hamel 1989: 239–241; Zerbe 1993: 294). Welche Sachverhalte werden im Matthäusevangelium mit dem Begriff »Gerechtigkeit« erfasst? In Mt 3,14f. wird das Taufgeschehen zwischen dem Täufer und Jesus in einem Dialog kommentiert, der über die Fassung in der Logienquelle und in Mk 1,9–11 hinausgeht, also dem matthäischen Sondergut angehört. Der Täufer lehnt es zunächst ab, Jesus zu taufen, vielmehr bedürfe er selbst, von Jesus (im Sinne von Abwaschung der Sündenschuld) getauft zu werden. Die Antwort Jesu stellt heraus, dass es für ihn dennoch angemessen sei, wenn Johannes ihn taufe, um damit »alle Gerechtigkeit zu erfüllen« (πληρῶσαι πᾶσαν δικαιοσύνην). Bereits hier wird deutlich, dass Gerechtigkeit im Matthäusevangelium unter einem Handlungsaspekt (»erfüllen«) und quantitativ (»alle«) verstanden wird. Das Wort in Mt 21,32 bringt nun erneut die Gerechtigkeit mit dem Täufer in Zusammenhang. Er sei »auf dem Weg der Gerechtigkeit« (ἐν ὁδῷ δικαιοσύνης) gekommen, aber man habe ihm »nicht geglaubt« (οὐκ ἐπιστεύσατε αὐτῷ). Die besondere Prägnanz der Formulierung kann durch den Vergleich mit den qumrani-
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schen Aussagen zum »Lehrer der Gerechtigkeit« unterstrichen werden. Dieser religiös hochqualifizierte Dissident aus der Jerusalemer Priesteraristokratie steht wohl hinter der Gründung der religiösen Gemeinschaft des jahad (»Versammlung«), deren Gemeinschaftsregeln in den Texten vom Toten Meer überliefert sind. Er wird in einem Pescher (»Kommentar«) zum Buch Habakuk erwähnt, wo es zu Hab 2,4, dem Vers, der auch in Röm 1,17 und Gal 3,11 zitiert wird (1QpHab VII, Übers. Lohse), heißt: »Aber der Gerechte wird durch seine Treue (’ æmûnāh) leben. Seine Deutung (pešer) bezieht sich auf alle Täter des Gesetzes um ihrer Mühsal und ihrer Treue (’ æmûnāh) willen zum Lehrer der Gerechtigkeit (môræh hassædæq).« (vgl. dazu Witte, in diesem Band, S. 59) Die Septuaginta übersetzt das hebräische ’ æmûnāh/»Treue« mit πίστις/»Glaube« und s edāqāh/ »Gerechtigkeit« mit δικαιοσύνη. Die tragenden Begriffe der Aussage von Mt 21,32, nämlich Gerechtigkeit und Glaube bzw. Treue, finden sich also auch in 1QpHab VII, einem Text, der auch für die paulinische Interpretation von Hab 2,4 bedeutsam ist (s.u.). In 1QpHab wird das Tun der Tora unmittelbar mit der Treue zum Lehrer der Gerechtigkeit verbunden. Dieser ist es, der die Tora wie aus dem Munde Gottes lehrt, und seine Anhänger halten den Bund Gottes (1QpHab II,1–4). Diejenigen, die dieser Tora folgen, werden leben. Das bedeutet im emphatisch-biblischen Sinn, dass sie in die Gottesbeziehung der Gerechtigkeit treten werden. Zieht man noch Mt 21,33 heran, dann wird der Sinn deutlich: Dem Täufer, der auf dem Weg der Gerechtigkeit gekommen ist und ihn gelehrt hat, vertrauen die einen nicht, die »Zöllner und Dirnen« hingegen schon. Mt 3,15 und 21,32 sehen den Täufer nicht nur als jemanden, der selbst auf dem Weg der Gerechtigkeit wandelt und diese somit tut, sondern auch als denjenigen, der die Lehre der Gerechtigkeit verkündet, der man mit aktivem Vertrauen begegnen sollte. Dieses Vertrauen findet er allerdings nur bei den gesellschaftlich marginalisierten, nicht aber bei den führenden Gruppierungen des Volkes. In der Bergpredigt wird das Verständnis der Gerechtigkeit weiter entfaltet und präzisiert. Die Abfolge der neun Seligpreisungen bei Matthäus wird durch die Inclusio zwischen der ersten und der achten – die neunte ist aus der achten entstanden – auf die Kö-
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nigsherrschaft Gottes (bei Matthäus: Königsherrschaft der Himmel) konzentriert. Die erste Seligpreisung stellt mit dem Makarismus über die »im Geist Armen« die Beziehung zur »Armenfrömmigkeit« her, wie sie in der Redaktion des Psalters ihre Wurzeln hat (Hossfeld 1999: 692). Die in Mt 6,1 genannten οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι entsprechen den ‘ anāwîm aus Ps 9,19; 10,2.9 u.ö. bzw. noch näher den ‘anwê rû ah aus 1QH XIV,3; 1QM XIV,7. Dort treten die Frommen als »im Geist Arme« und das heißt als »Demütige« für das Recht und die Gerechtigkeit in Israel ein, werden aber zu Opfern der triumphierenden Frevler und Gottlosen. In der vierten und der achten Seligpreisung wird die Gerechtigkeit explizit genannt. Während die vierte in Lk 6,20b in ihrer ursprünglichen Form überliefert und dort als direkte Zusage an die marginalisierten Angehörigen der Nicht-Elite gerichtet ist (οἱ πτωχοί/»die [materiell] Armen«), fügt in Mt 6,6 wohl wieder der Redaktor den Begriff »Gerechtigkeit« ein. In der Tradition der Armenfrömmigkeit steht bei Matthäus anders als bei Lukas nicht die materielle Armut im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Demut derjenigen, die den Willen Gottes tun, obwohl es sich für sie nicht erkennbar auszahlt. Durch körperbezogene Metaphern (hungern, dürsten, satt werden) wird veranschaulicht, wozu das aktive Eintreten für und das Handeln nach der Gerechtigkeit führt, nämlich zur Königsherrschaft Gottes. An eine göttliche Gerechtigkeit als »Gabe« für die, die nach ihr hungern und dürsten, ist hier nicht gedacht (vgl. Klaiber 2000: 705). Vielmehr werden nach Mt 6,8 diejenigen, die aufgrund dieses Tuns der Gerechtigkeit Nachteile erfahren (»verfolgt werden«), die Königsherrschaft Gottes erlangen. Die übrigen Seligpreisungen stehen durchweg in der Tradition der Armenfrömmigkeit und thematisieren Eigenschaften und Haltungen, die der Königsherrschaft Gottes entsprechen. Sie vertiefen das Bild der Gerechtigkeit: Die Trauernden (Jes 61,1), die Sanftmütigen (Ps 36,11.29; 146,6), die Barmherzigen (Spr 19,11), die reinen Herzens sind (Ps 23,4; 50,12), die Friedensstifter (Spr 10,10), sie alle übernehmen und inszenieren die Eigenschaften des Schöpfergottes. Sie gestalten dadurch den Handlungsraum der Gerechtigkeit als sozialen Raum symbolischer und materieller Kommunikation, dessen Sozialbeziehungen »Gerechtigkeit« und dadurch Königsherrschaft Gottes sind. Die innere
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Struktur dieses Handlungsraums, die Frage, wer dort wie handelt, ist jene Gerechtigkeit, die Matthäus in 5,20 die »bessere« nennt; sie schafft die Königsherrschaft Gottes. In diesem Sinne ist es richtig, davon zu sprechen, dass die Seligpreisungen und damit auch die in ihnen ausgesprochene Gerechtigkeit als Einlassbedingungen oder Zugangsbedingungen zur Königsherrschaft gelten (Luz 2002: 545). Es ist aber wohl erst angemessen verstanden, was hier Königsherrschaft Gottes als Handlungsraum und Gerechtigkeit als Handlungsprinzip in diesem sozialen Raum meint, wenn man in Rechnung stellt, dass hier das eschatologische Moment durch das Tun vollzogen und herbeigeholt wird. Die Seligpreisungen formulieren damit nicht Einlassbedingungen als Voraussetzungen, sondern vielmehr ein synergistisches Handlungskonzept der aktiven menschlichen Inanspruchnahme göttlicher Eigenschaften, das die Königsherrschaft Gottes selbst ist (Bormann 2008: 123). Dieser Handlungsaspekt des matthäischen Gerechtigkeitsbegriffs wird noch durch die deutlich quantitativen Aussagen unterstrichen. Mt 5,20 hebt hervor, dass die Gerechtigkeit der Jüngergemeinschaft weit mehr (πλεῖον) sein müsse als die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer, um den Handlungsraum der Königsherrschaft Gottes zu inszenieren. Diese Jüngergerechtigkeit entfaltet ihre Wirkungen in dem Maße, in dem ihre Aktivitäten dem Gerechtigkeitswillen Gottes entsprechen. Von einer »Jesusgerechtigkeit«, von der gelten solle, »dass diese Gerechtigkeit ohne Jesus nicht möglich ist« (Deines 2004: 647), sollte man nicht sprechen, denn es gibt keine Hinweise darauf, dass die Gerechtigkeit in einer Weise an die Person Jesu gebunden sein soll, die über seine Funktion als Lehrer der Jüngergemeinschaft hinausgeht. Die Frömmigkeitsregeln in Mt 6 führen den Gedanken weiter, dass das aktive Tun der Gerechtigkeit die Handlungsstruktur der Königsherrschaft Gottes sei. Mit Mt 6,1 und 33 bildet hier die Gerechtigkeit erneut eine Inclusio um die Regeln zu Almosen, Beten, Fasten, Besitz und Vorsorge. Jetzt wird betont, dass diese Taten im Verborgenen geschehen sollen, da Gott in das Herz, in das Willenszentrum des Menschen, schaut und um seine Absichten weiß. Die Gerechtigkeit und die Königsherrschaft Gottes werden dann in 6,33 direkt miteinander verbunden: »Suchet aber zuerst die Kö-
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nigsherrschaft (Gottes) und seine Gerechtigkeit, und dann wird euch dies alles hinzugefügt werden.« Diese Aussage stellt den Höhepunkt der Überlegungen zur Gerechtigkeit dar. Sie, die Gerechtigkeit, ist als »seine«, Gottes Gerechtigkeit die Handlungsstruktur seiner Königsherrschaft. Der Handlungsaspekt der Gerechtigkeit, der für Matthäus so charakteristisch ist, bildet dann auch die Brücke zur Gerichtsvorstellung (Mt 25,31–46). Die gewählte Bildwelt ist anschaulich und drastisch zugleich. Diejenigen, die in ihrem Verhalten keine Barmherzigkeit zeigen, kommen an einen Ort der Strafe, der durch »Finsternis«, »ewiges Feuer« und »Heulen und Zähneklappern« charakterisiert ist (Mt 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30). Diejenigen aber, die die Barmherzigkeit Gottes durch ihr Handeln verwirklicht haben, erweisen sich im endzeitlichen Gericht als die »Gerechten« (Mt 25,37.46). Die Gerichtsvorstellung im Matthäusevangelium hat vor allem eine orientierende Funktion und soll die Notwendigkeit einer Praxis der Gerechtigkeit unterstreichen.
5. Gerechtigkeit Gottes, Rechtfertigung der Gottlosen und Gottes Treue zu Israel bei Paulus Das Syntagma »Gerechtigkeit Gottes« (δικαιοσύνη θεοῦ) bezeichnet bei Paulus eine Relation zwischen Gott und Mensch, die ihren Rechtsgrund in der Schöpfung hat (Käsemann 1973: 31f.). Der Schöpfergott erhebt seine Rechtsforderung gegenüber allen seinen Geschöpfen, nicht nur gegenüber Israel. Diese Rechtsforderung umfasst seine Anerkenntnis als Schöpfer und damit den Verzicht auf den Dienst an anderen Göttern, das Tun seiner Gerechtigkeit und damit die Zurückweisung der Macht der Sünde und schließlich den Verzicht auf eine »eigene« Gerechtigkeit und damit das volle Vertrauen auf seine Barmherzigkeit. Aus der Missachtung dieser Rechtsforderung durch das faktische Handeln der Menschen, der Juden wie der Nicht-Juden, folgt ihre Verurteilung und ihre Überstellung an das Zorngericht Gottes (Röm 3,19).
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In welchem Verhältnis die Rechtfertigung aus Glauben (Röm 3,30) zu einem endzeitlichen Gericht nach Taten (Röm 2,5–16) steht, d.h. ob über die gerechtfertigten Sünder noch Gericht gehalten wird, thematisiert Paulus nicht. Diese Problematik, die insbesondere das reformatorische Christentum interessiert, ist nicht eindeutig zu beantworten, weil Paulus zwar in paränetischen Kontexten auch der Gemeinde das Gericht nach Taten mahnend vor Augen führt (2Kor 5,10), in seinen Darstellungen des eschatologischen Geschehens hingegen nicht von einem solchen Gericht über die Gemeinde (1Kor 15,51–53; 1Thess 4,16–18), sondern sogar von der Beteiligung der Gemeinde am Gerichtshandeln spricht (1Kor 6,2f.): »Oder wisst ihr nicht, dass (wir) die Heiligen über die Welt richten werden? […] Oder wisst ihr nicht, dass wir über Engel richten werden?«. Paulus könnte an eine Zwei-Stufen-Rechtfertigung gedacht haben, nach der auf die grundsätzliche Rechtfertigung des Sünders noch ein gesondertes Gericht nach Taten folgt, aus dem diese »wie durch Feuer«, aber doch mit voller Personenidentität hervorgehen (1Kor 3,12–15). Dies wird aber nicht explizit ausgeführt. So stehen die Vorstellungen vom endzeitlichen Gericht nach Taten und die Gerechtigkeit aus Glauben, Gerichtsparänese und Rechtfertigung, letztlich unverbunden nebeneinander. Die Gerechtigkeit Gottes nun bezeichnet die von Gott her (genetivus auctoris oder subiectivus) neu gestaltete und wiederhergestellte Relation, in der die Rechtsforderung des Schöpfergottes durch dessen eigene Tat erfüllt wird, den Menschen Strafverschonung gewährt wird und sie selbst aus der Macht der Sünde befreit werden. Diese Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes bei Paulus hat engste Parallelen in den qumranischen Texten des jahad. Hab 2,4 wird in Röm 1,17 und Gal 3,11 aufgegriffen und wie in 1QpHab VII (s.o.) auf die besondere Interpretationsgemeinschaft (textual community) bezogen (Lim 2009: 29). In 1QpHab VII besteht die »Treue« (Hab LXX 2,4: πίστις, Septuaginta Deutsch übersetzt »Glaube«) im Tun des Gesetzes und in der Loyalität zum Lehrer der Gerechtigkeit, dem Gründer und Führer der vom Jerusalemer Tempel getrennten Sondergemeinschaft, aus der der jahad hervorgegangen ist (Schofield 2009). Darüber hinaus betonen die
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Hodayot (1QH) immer wieder, dass der anthropologisch (»vom Mutterleib an«) der Sünde verhaftete Mensch keine »Gerechtigkeit« habe (1QH IV,29–31) und vielmehr auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sei, die durch die Gerechtigkeit Gottes für die Verschuldungen des Menschen Sühne schaffe (1QH IV,35–37). Die Struktur dieser Verbindung von Schuld, Strafe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit Gottes und Treue/Glaube begegnet auch bei Paulus, doch erweitert er diese Überlegungen in mehrere Richtungen. Erst dadurch gewinnt die paulinische Position zur Gerechtigkeit Gottes ihr besonderes Gepräge. Zunächst werden auch Kreuz und Auferstehung Jesu in die Vorstellung von der Rechtfertigung durch die göttliche Gerechtigkeit als Barmherzigkeit integriert. Es ist der Tod Jesu, der den Schuldzusammenhang, in dem die Menschen stehen, für alle, Juden wie Nicht-Juden, aufbricht. In Röm 3,24–26 verbindet Paulus die Terminologie der kultischen Sühne mit jener der Gerechtigkeit, um diesen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus betont er, dass die Machtstrukturen, die durch Sünde und Tod in der Schöpfung aufgerichtet wurden, nun ebenfalls überwunden sind und der Dienst der Gerechtigkeit an ihre Stelle getreten ist (Röm 5,17.21; 6,16–18). Die Konflikte um die Zugehörigkeit der Nicht-Juden zum Gottesvolk, in die sich Paulus in Galatien, Philippi und Rom gestellt sah, brachten neue Herausforderungen. In Gal 3,11 legt er Hab 2,4 in Verbindung mit Lev 18,5 aus (Avemarie 2009: 98f.). Paulus wendet dabei eine rabbinische Auslegungsregel an, nämlich den Analogieschluss (g ezerāh šāwāh), nach dem zwei verschiedene Schriftbelege aufeinander bezogen werden können, wenn sie wörtlich gleiche Ausdrücke verwenden (tSan 7:11; Sifre Lev prol. 1), hier: ζήσεται/»wird leben«. Paulus stellt heraus, dass nach Hab 2,4 der Gerechte ἐκ πίστεως/»aus Glauben« lebe, während nach Lev 18,5, der lebe, der das Gesetz tue. In einem disjunktiven (ausschließenden) Analogieschluss folgert er aus der Verbindung dieser beiden Bibelstellen, dass das ἐκ πίστεως für die »Gerechtigkeit« notwendig sei, das Gesetz aber, da es des ἐκ πίστεως ermangele, niemanden »gerecht« machen könne. Mit dieser engen Verbindung von Glaube und Gerechtigkeit einerseits und dem Ausschluss des Gesetzes andererseits legt Paulus die Grundlage für die Integration der Nicht-
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Juden in die eschatologische Gemeinschaft der ἐκκλησία τοῦ θεοῦ/»Gemeinde Gottes«, ohne damit die Forderungen nach der Beschneidung und nach der Beachtung der Reinheits- und Speisetora verbinden zu müssen. Aus dieser Überlegung leitet er dann weitere Aussagen über die Glaubensgerechtigkeit als vollgültige Relation zwischen Gott und Mensch ab. Da Paulus zufolge Abraham ebenfalls sein »Glaube« als Gerechtigkeit angerechnet wurde (Röm 4,5.9; Gal 3,6f., vgl. Gen 15,6), sind Juden wie Nicht-Juden ἐκ πίστεως Söhne und Töchter Abrahams (Gal 3,9), ohne dass noch ein Unterschied besteht (Gal 3,26–29; 1Kor 12,13; vgl. Kol 3,11). Schließlich geht Paulus so weit, die Wirkmacht der Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtmachung der Gottlosen zu bezeichnen (Röm 4,5; vgl. 5,6). Diese Aufhebung der Unterschiede zwischen Juden und Nicht-Juden gilt auch aus jüdischer Perspektive als das besondere Kennzeichen der Theologie des »radikalen Juden« Paulus (Boyarin 1994). Nach Daniel Boyarin setzt sich Paulus mit der Differenz zwischen Juden und Nicht-Juden auseinander, weil er der Ansicht sei, mit dem Judentum stimme etwas nicht. Paulus entwickele eine »obsession with Jewish difference« und könne die Überzeugung des Judentums, dass die Unterschiede eben doch bedeutend seien und sich in den entsprechenden Regeln der Tora zu Recht ausdrücken, nicht akzeptieren (Boyarin 1994: 8–56, Zitat 56). Tatsächlich aber weiß Paulus von dieser Grenze jüdischen Selbstverständnisses, an die er mit seiner universalistischen und integrativen Argumentation stößt. Er zieht die Linie, an der sein Universalismus in die Vereinnahmung und Vereinheitlichung des Judentums umzuschlagen droht, allerdings an einer anderen Stelle. So stellt Paulus in Röm 9,30–10,6 die Gerechtigkeit Gottes der »eigenen« (ἰδία) Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit aus Glauben (ἐκ πίστεως) der Gerechtigkeit aus dem Gesetz (ἐκ νόμου) gegenüber. Christus ist für den Glaubenden des Gesetzes Ende (10,3: τέλος). Die Glaubensgerechtigkeit schließt für Paulus alle Unterscheidungen zwischen Juden und Nicht-Juden hinsichtlich der Beziehung zu Gott, d.h. für ihn hinsichtlich der Gerechtigkeit Gottes, aus (10,12). Er setzt nun die universale Geltung der Glaubensgerechtigkeit in Christus zur partikularen Erwählung Israels durch Gott in Beziehung. Angesichts der Treue Gottes zu seinem Volk und angesichts der Verheißungen
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an Israel entfaltet Paulus zunächst den universalen Anspruch der Glaubensgerechtigkeit in seiner positiven Wirkung für »jeden, der glaubt« (10,4.11). Eine Gerichtsaussage über Israel wird daraus aber nicht abgeleitet, denn sonst könnte die Erwählung Israels (11,28) nicht aufrechterhalten werden und bei Gott wäre Ungerechtigkeit (9,14: ἀδικία). Obwohl der gegenwärtig nicht glaubende Teil Israels für Paulus verstockt ist (11,25), hält er daran fest, dass trotz Unglaube und Feindschaft »ganz Israel gerettet werden wird« (11,26: πᾶς ᾿Ισραὴλ σωϑήσεται). Im Rahmen der Schilderung dieser endzeitlichen Rettung Israels (11,25–32) ist nicht daran gedacht, dass dieses zum Glauben komme (vgl. aber 11,23). Vielmehr wird wohl auch der »Retter vom Zion« (11,26; Jes 59,20f.) – selbst wenn Paulus hier an den Messias denken könnte (Wilckens 2003: 256) – ein theozentrisches endzeitliches Geschehen wie in 1Kor 15,24–28 einleiten, in dem das Bekenntnis zu Christus anders als in Röm 10,9 nicht mehr entscheidend ist, sondern vielmehr die endgültige Durchsetzung der Barmherzigkeit Gottes gegenüber »ganz Israel« sowie »der Vollzahl der Nicht-Juden« im Mittelpunkt steht (Röm 11,25f.32). Luther hat zu Röm 11,25f. in seiner Römerbriefvorlesung 1515/16 notiert, dieser Text sei »so dunkel« (ita obscure), dass »keiner aus ihm eine sichere Überzeugung gewinnen kann« (WA 56, 437). Die gegenwärtige Exegese spricht von der »paradoxen Wirklichkeit der Gerechtigkeit Gottes« (Wilckens 2003: 250) oder von einer »theologischen Aporie« (Wolter 2010: 30). Tatsächlich aber handelt es sich bei dem Festhalten des Paulus an der »natürlichen« (Röm 11,24: κατὰ φύσιν) Sonderstellung Israels um eine bedeutende Überlegung zur Beschränkung des christlichen Heilsuniversalismus. Dieser ist durch seine Verhältnisbestimmung gegenüber dem Judentum zu der Einsicht gezwungen, dass der Vereinheitlichung und der Vereinnahmung des Anderen Grenzen gesetzt sind, die durch das Selbstverständnis Gottes selbst bestimmt sind und durch die eine theologische Grundlage für den Respekt vor dem Anderen gelegt ist, ohne dass die Gerechtigkeit Schaden nimmt. Nun bleibt die Frage, in welcher Weise der skizzierte Gerechtigkeitsbegriff zu Vorstellungen einer weltlichen und sozialen Gerechtigkeit in Beziehung steht, wie sie in der prophetischen Tradition, in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, im Matthäusevangelium
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und im Lukasevangelium zum Ausdruck kommt. Paulus verbindet jedenfalls das Wortfeld Gerechtigkeit nicht direkt mit Gerechtigkeitserwägungen der sozialen und rechtlichen Sphäre. Wenn er in Röm 13,1–7 das richterliche Handeln der lokalen Behörden darstellt, dann setzt er auf das Einverständnis mit der Erwartung, dass die Bösen gestraft und die Guten geschützt werden müssen (Röm 13,3–5). Die Konflikte um materialrechtliche Angelegenheiten in 1Kor 6,1–11 sollen innerhalb der Gemeinde und nicht vor öffentlichen Gerichten verhandelt werden. Der kluge Entscheid eines »Weisen« (6,5: σοφός), der als Mediator fungieren soll, müsste zur Klärung ausreichen. Paulus erwägt noch, dass es innerhalb der Gemeinde auch als besser gelten solle, Unrecht zu erleiden als sein Recht mit gerichtlicher Gewalt durchzusetzen (6,7). In der Frage der Kollekte greift er auf die Rechtsfigur der »Gleichheit« (1Kor 8,13f.: ἰσότης) zurück. Nach Aristoteles ist das Gleiche das Gerechte, das Zuviel oder Zuwenig hingegen das Ungerechte (Arist.e.N. 1131a). Entsprechend sieht Paulus die Kollekte als das Mittel der Herstellung von Gleichheit zwischen seinen Gemeinden und der Jerusalemer Urgemeinde an. Die Beispiele zeigen, dass Paulus Konflikte um die iustitia distributiva durchaus im Horizont hellenistischen Rechtsdenkens reflektiert hat.
6. Das hellenistische Tugendideal im lukanischen Schrifttum Der auctor ad Theophilum zeichnet für ca. 28 Prozent des Umfangs des Neuen Testaments verantwortlich. Das Evangelium verweist explizit darauf, dass es die vielen bisherigen Versuche kenne (Lk 1,1: πολλοὶ ἐπεχείρησαν), eine Jesuserzählung abzufassen, und dass es diese an Genauigkeit übertreffen wolle (1,3: ἀκριβῶς). Die Fassung, die die Paulusüberlieferung in der Apostelgeschichte bekommt, verfolgt möglicherweise ebenfalls das Ziel, die Paulustradition zu dominieren und einen »lukanischen« Paulus durchzusetzen. Das lukanische Doppelwerk kann als erster Versuch einer Kanonisierung der neutestamentlichen Überlieferung aus Evangelium und Paulustradition verstanden werden (Barrett 1996: 103).
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Der Sprach- und Sachzusammenhang »Gerechtigkeit« nimmt im lukanischen Schrifttum eine besondere Stellung ein, die mit einer der Hauptlinien des Textkorpus verbunden ist. Lukasevangelium und Apostelgeschichte sprechen davon, dass die auf der Schrift beruhende und aus der Verkündigung Jesu hervorgegangene Kirche die Königsherrschaft Gottes in einer Weise verkündige (βασιλεία τοῦ θεοῦ mit verbum dicendi), welche Gerechtigkeit für Israel, die Völker und für die sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen anstrebe. Diese Aussage wird durch den Erzähler des lukanischen Doppelwerks noch dadurch unterstrichen, dass er die Protagonisten dieses Geschehens (Erzählfiguren) von Anfang an als Menschen schildert, die »gerecht« sind. Diese Gerechtigkeit drückt sich auch in der Beachtung der Tora aus, die im lukanischen Schrifttum nicht kritisiert, sondern im Gegenteil durchweg eingehalten wird. Der Autor bringt seine Überlegungen in Übereinstimmung mit dem hellenistischen Tugendideal (Lk 1,6.75; 2,25; 23,50; Apg 10,22) und mit dem Respekt vor den Sitten, Gebräuchen und Gesetzen, die ein Volk konstituieren. Er teilt die Überzeugung, dass ein Volk, griech. ἔθνος, durch gemeinsame Sitten und Gebräuche (ἔθος bzw. ἦθος) konstituiert wird. Das Volk ist nach diesem Verständnis eine Menge, deren Teile sich durch gemeinsame Gewohnheiten von alters her aneinander angeglichen und gewöhnt haben. Das Fundament dafür bilden Bräuche und Gesetze, die von den »Alten«, den Vorfahren, gelehrt wurden. Die Römer nennen das mos maiorum, Sitte der Vorfahren, die Griechen ἤθη und die Juden Tora, griech. νόμος. Lukas lässt seine Protagonisten häufig »nach der Sitte« (κατὰ τὸ ἔϑος, z.B. Lk 1,9) oder »nach dem Gesetz« (κατὰ τὸν νόμον, z.B. 2,22) handeln. Die Behauptung, dass Paulus gegen das Gesetz des Moses lehre, gilt als Verleumdung (Apg 21,21). Paulus selbst lässt Timotheus beschneiden (16,3), legt ein Gelübde ab (18,18) und löst am Jerusalemer Tempel die Gelübde von vier Männern aus, um seine Toraobservanz unter Beweis zu stellen (21,23–26). Trotz dieser durch Lukas betonten Frömmigkeit finden sich auch kritische Worte gegen religiöse Selbstgerechtigkeit (Lk 18,9; vgl. 10,29; 16,15). Die Bedeutung von weltlicher Gerechtigkeit für Lukas wird auch darin deutlich, dass Jesus während des Prozesses von Pilatus drei
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Mal ausdrücklich als unschuldig bezeichnet wird (Lk 23,4.14f.22). Den Gekreuzigten selbst betitelt nach seinem Tod der Hauptmann unter dem Kreuz als einen »Gerechten« (23,47; vgl. Mk 15,39). Die Darstellungen im lukanischen Doppelwerk versuchen sich innerhalb des skizzierten Konsenses der hellenistischen Gerechtigkeitsvorstellung zu bewegen, obwohl der Kreuzestod Jesu, die Verfolgung und Verurteilung der Apostel, die Konflikte um Paulus wie Haft, Folter, Steinigung und Verurteilung immer wieder deutlich darauf hinweisen, dass die apologetische Darstellungsweise mit der Schärfe der geschilderten Konflikte zwischen öffentlicher Ordnung und Evangeliumsverkündigung nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Eine ähnliche Spannung in der Darstellung lässt sich bei der Behandlung des Themas »Besitz« ausmachen. Auf der einen Seite stehen die Weherufe gegen die gesellschaftliche Elite aus Reichen und Angesehenen (Lk 6,24), die Verachtung gegenüber dem asozialen Verhalten der Reichen (12,16–21), die Integration der Marginalisierten in die Mahlgemeinschaft der Privilegierten (14,12–14.23f.), der Hinweis auf die eschatologische Umkehr von Reichtum und Armut (16,19–31) und die unmissverständliche Forderung des Besitzverzichts (18,22). Auf der anderen Seite gibt es ein besonderes Interesse des Autors daran, hochgestellte und wohlhabende Persönlichkeiten mit seinen Protagonisten in Verbindung zu bringen. So werden unter den Frauen um Jesus eine Johanna, die Ehefrau eines provinzialen Beamten, und andere vermögende Frauen hervorgehoben (8,3) und Jesus besucht das Haus eines »Oberen der Pharisäer« (14,1) sowie des »Oberzöllners« Zachäus (19,2). In der Apostelgeschichte verstärkt sich diese Tendenz noch, wenn die Apostel mit dem Hohen Rat verhandeln oder Paulus vor Vertretern der römischen Provinzialobrigkeit wie Sergius Paulus, Gallio, Felix, Festus, Agrippa und Berenike sprechen darf. Eine ähnliche Unausgeglichenheit besteht in der Frage der politischen Erwartungen, die das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte thematisieren. Wie Lukas diese Widersprüche verstanden wissen will, ob politisch subversiv oder apologetisch affirmativ, ist nach wie vor Gegenstand exegetischer Kontroversen. Eine Lösung der Problematik könnte darin bestehen, dass es im lukanischen Doppelwerk
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weniger um politische Strategien geht, die sich auf die gesellschaftlichen Strukturen richten, als vielmehr um die Wahrnehmung des Politischen als einer Qualität des Handelns der Kirche im Umgang mit Reichtum, sozialem Ansehen und politischer Macht (Bormann 2011: 112f.).
7. Gerechtigkeit durch Gottes Strafgericht (Johannesoffenbarung) Das theologische Grundanliegen der Apokalyptik besteht in der Überzeugung, dass die in der Schöpfung durch Gott gut geordnete Welt, in deren Mitte das Gottesvolk Israel steht, völlig in Unordnung geraten ist, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass nur noch ein göttliches Eingreifen mit der gleichen Macht wie Gottes anfängliches Schöpfungshandeln die rechte Ordnung wiederherstellen kann. Dieses endzeitliche Handeln Gottes wird als ein Gerichtsakt vorgestellt, in dem der Schöpfergott seinen Rechtsanspruch an die Schöpfung wiederherstellt. So steht folgerichtig am Ende der Johannesoffenbarung die Vision des himmlischen Jerusalems. Jerusalem ist eine Stadt von ungeheurer Größe, die vom Himmel auf die Erde herabkommt und deren Eigenschaften an den guten Anfang der Schöpfung im Garten Eden erinnern. Die Zeit bis zur Wiederherstellung der gerechten Schöpfungsordnung erfahren die Menschen, die in der Johannesoffenbarung zu Wort kommen, als Zeit der Ungerechtigkeit. Das Wort ἀδικεῖν/ »Unrecht tun« (11x) wird weit häufiger verwendet als die positiven Begriffe »gerecht« und »Gerechtigkeit«, die nun wiederum voll und ganz mit dem Handeln Gottes und Christi verbunden werden. Gott und Christus sind »gerecht«, kämpfen »in Gerechtigkeit« und vollziehen »gerechte Gerichte« (Apk 15,3; 16,5.7; 19,2.11). Eine Welt, in der massives Unrecht herrscht, steht einem Gott gegenüber, der allein gerecht ist. Die Gerechtigkeitsvorstellung wird als radikaler Dualismus von Unrecht gegen Recht, von Tod gegen Leben, von Herrschaft gegen Freiheit, von Jerusalem gegen Rom expliziert. In dieser Situation der unversöhnlichen und scharfen Gegensätze wird der Ruf nach Gottes Gerechtigkeit laut (6,10): »Und sie schrien
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mit lauter Stimme: Bis wann, heiliger und wahrhafter Herrscher, verurteilst und rächst (ἐκδικεῖν) du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?« Gott soll das gewaltige Unrechttun beenden. Die Offenbarung sieht dieses in einem solchen Maß gesteigert, dass ihm nur ein gerechter und »allmächtiger« (9x παντοκράτωρ) Gott angemessen entgegentreten kann. Die Herstellung der Gerechtigkeit bedarf eines »eschatologischen Machtentscheids« des Pantokrators (Bachmann 2002: 188). Die Hoffnung auf Gericht, Strafe und Allmacht ist als Schrei der Unterdrückten und Marginalisierten zunächst nachvollziehbar. Diese Vorstellungswelt entwickelt aber auch eine gewaltsame Dynamik, die sich unkontrolliert und unterschiedslos in alle Richtungen ausbreitet und als solche letztlich nichts zur Humanisierung der Welt beiträgt (Collins 1984: 171). Die neuere Exegese nimmt die Stimme derjenigen, die unter ungeheurem Unrecht leiden, sehr ernst und folgt der Apokalypse als einer Schrift, die »eine Perspektive von unten und vom Rande her« einnimmt (Wengst 2010: 270; vgl. Schüssler Fiorenza 1994). Die Neuinterpretation des Racheund des Gerichtsgedankens im Psalter unterstreicht, wie wichtig diese Sichtweise für eine Biblische Theologie ist (Wengst 2010: 23– 25). Dennoch: Die Vorstellung von der gewaltsamen Wiederherstellung des Rechts durch Gericht, Krieg und Vernichtung bedarf eines Gegengewichts, damit sie auch tatsächlich als Beitrag zu einer humaneren Welt gelesen werden kann. Die Offenbarung selbst bietet in ihrer Vision des himmlischen Jerusalems ein solches Gegengewicht (Georgi 2005: 166). Das neue Jerusalem ist weit bedeutsamer als das Gericht und die kosmische Katastrophe, die ihm vorangehen. In die Stadt von gigantischer Größe (ca. 2300 km Länge und Breite) ziehen die Völker der Erde ein. In der Mitte der Stadt steht wie im Garten Eden der »Baum des Lebens« (Gen 2,7) zur »Heilung der Völker« (Apk 22,2: θεραπεία τῶν ἐθνῶν). Eine Exegese, die in der Johannesoffenbarung einseitig den Ruf der Unterdrückten nach strafender Gerechtigkeit hört, ohne die Vision einer »Stadt für alle« ebenso zu entfalten, wird weder dem Text noch der besonderen Perspektive der Marginalisierten, die hier zu Wort kommen, gerecht; schließlich werden in der Johannesoffenbarung auch idealisierte Stadtkonzeptionen des Hellenismus aufgenommen. In
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einer narrativ-dramatischen Gestalt bringt die Offenbarung auch das zum Ausdruck, was Aristoteles rational-analytisch in seiner Definition der Stadt formulierte (Arist.pol. 1261a): »Eine Stadt besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die sich der Art nach unterscheiden. Denn keine Stadt entsteht aus Gleichen.« In Analogie zu diesen Überlegungen über die notwendige Diversität städtischen Lebens wird in der Schlussvision einerseits die Zwölfstämmestruktur Israels zugrunde gelegt (21,12) und andererseits herausgestellt, dass auch die nichtjüdischen Völker und die Könige der Erde in diese Stadt einziehen werden (21,24).
8. Zusammenfassung Die neutestamentlichen Gerechtigkeitsdiskurse knüpfen an den antik-jüdischen an, indem sie Gerechtigkeit theozentrisch denken. Gott selbst ist unzweifelhaft gerecht und gestaltet seine Beziehung zu den Menschen nach dem Maßstab der Gerechtigkeit. Diese zeigt sich gegenüber den Seinen (Glaubende, Gerechte, Getreue) als strafverschonende Barmherzigkeit und gegenüber denjenigen, die das Recht des Schöpfergottes missachten, als Strafe und Gericht. Während nun die älteste Jesusüberlieferung, Paulus und Matthäus den Gerechtigkeitsbegriff besonders stark relational verstehen, entwickeln sie ihre soteriologischen Überlegungen mit dem Gerechtigkeitsbegriff als Entsprechung zur Barmherzigkeit des Schöpfergottes (Jesus), als Glaubensgerechtigkeit (Paulus) und schließlich als Tun der Gerechtigkeit (Matthäus). Im lukanischen Schrifttum dominiert das hellenistische Tugendideal des »ehrfürchtig gegenüber Gott und gerecht zu den Menschen«, das in der Achtung der väterlichen Überlieferung (»Gesetz«) realisiert wird. Die Apokalypse hingegen konzentriert sich auf die Forderung nach dem Eingreifen des gerechten und allmächtigen Gottes in Gericht und Strafe als Voraussetzung für die Erschaffung einer integrativen städtischen Lebenswelt (»neues Jerusalem«).
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»Gerechtigkeit«: Entwicklungslinien in der Kirchengeschichte 1. Antikes Christentum: Gerechtigkeit als Ethos der christlichen Gemeinde 1.1. Die christliche Gemeinde als Ort der Gerechtigkeit in Ablösung vom Judentum Im frühen Christentum verschob sich das Gerechtigkeitsverständnis gegenüber dem Judentum im Horizont des Anspruchs, als das neue Volk Gottes das Erbe der dem Judentum geltenden Verheißungen anzutreten. Dies führte zu Vorstellungen von Kontinuität wie Konkurrenz: Gerechtigkeit ist nun zunächst, ganz im Sinne des jüdischen Erbes ein Begriff, der sich aus dem Gottesbezug einer bestimmten Gruppe ergibt. Gerechtigkeit ist also in seinen ersten christlichen Ausprägungen nicht ein Normbegriff, der ethische Prinzipien entfalten oder Einzelanweisungen geben würde, sondern ein Beziehungsbegriff, der Zugehörigkeit definiert. So wird nach dem Polykarpbrief 3,3 in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts Gerechtigkeit durch das Sein in Christus und dem Nächsten definiert. Die paulinische Vorstellung des In-ChristusSeins, die ihrerseits rechtfertigungstheologisch gedacht ist, wird damit also zur Grundlage jeglicher Bestimmung der Gerechtigkeit – deren sozialer Raum aber wird die christliche Gemeinde und ihr geschwisterlicher Zusammenhang. Ebenfalls innerhalb der Gruppe der »apostolischen Väter« konkretisiert sich, gefüllt durch die Bru-
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derliebe (φιλαδελφία, 1Clemensbrief 48), Gerechtigkeit in einer geordneten Gemeinde mit ersten hierarchischen Ansätzen, vor allem aber einer Lebensweise, die der von Christus geschaffenen neuen Geschwisterlichkeit gerecht wird. Gerechtigkeit verwirklicht sich so in ihrer frühen christlichen Rezeption primär binnenkirchlich als Konzept, das auf Grundlage einer von Gott gestifteten Beziehung zu Jesus Christus selbst die gelingende Beziehung unter den Christinnen und Christen normiert. Erst auf dieser Grundlage eines gemeinschaftstiftenden Konzeptes normiert »Gerechtigkeit« dann auch bestimmte Handlungen: Man muss die Gerechtigkeit auch tun (2Clemensbrief 11,7) bzw. die »Werke der Gerechtigkeit« vollbringen (1Clemensbrief 33,8). Gerechtigkeit bleibt dabei normativ am alttestamentlich-jüdischen Erbe orientiert, und entsprechend kann sich christliche Ethik auch unmittelbar in den Rahmen jüdischer Lehre stellen. So bestimmen der 2Clemensbrief 5,7 und der Barnabasbrief 1,4 den christlichen Weg innerhalb des Zwei-Wege-Schemas als den gerechten Weg. Entsprechend der stark binnenkirchlichen Orientierung des ethischen Konzeptes der Gerechtigkeit wird auch hier Gerechtigkeit eher zu einer die Differenz zur Umwelt bestimmenden Vorstellung als zu einer in die Gesellschaft integrierenden Lebensanweisung. Das Interesse beim Tun der Gerechtigkeit ist damit letztlich auf das Ergehen des Gerechten selbst gerichtet, der durch das Tun der Werke der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit den Weg zum Heil beschreitet (Cyprian, De eleomosynis 1). Dafür ist es auch nötig, die Besonderheit der christlichen Ethik material hervorzuheben und als Überbietung der alttestamentlichen Ethik zu charakterisieren. Einerseits kann diese Überbietung darin bestehen, dass volle Gerechtigkeit als Erfüllung aller Gebote erst durch Christus selbst möglich ist (Ioannes Chrysostomus, Homiliae in Mt 12,1 [zu Mt 3,13]). Christliche Ethik erschiene dann als vollkommene Erfüllung des im Alten Bund Gebotenen. Material erfolgt diese Erfüllung anhand der intensivierten Ethik der Bergpredigt, insbesondere durch die Goldene Regel (Ioannes Chrysostomus, Homiliae in Mt 16,2f. [zu Mt 5,17]). Im Unterschied zu dieser Erfüllungsbeziehung kann christliche Ethik aber auch gerade in eine Gegensatzbeziehung zur jüdischen Ethik treten, wofür dann
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ungeachtet seiner alttestamentlichen Wurzeln das Doppelgebot der Liebe angeführt wird (Iustinus Martyr, Dialogus cum Tryphone Judeo 93). Das Christentum erscheint so als die Religion, die überhaupt erst Gerechtigkeit im Sinne eines Gott wie den Menschen angemessenen Lebens ermöglicht hat. Diese Perspektive blieb für die folgenden Jahrhunderte für die spezifisch christliche Füllung des Gerechtigkeitsverständnisses bestimmend. Noch Augustin (354– 430) fasste Gerechtigkeit ausdrücklich im Doppelgebot der Liebe zusammen (Augustin, De trinitate, 8, VIII/12). Damit wurde Gerechtigkeit zum Inbegriff christlicher Ethik, zugleich aber zu einem Konzept, das in der Offenheit seiner Formulierung anschlussfähig für die Aufnahme philosophischer Tugendethik blieb.
1.2. Einordnung in die pagane Tugendethik Christliches Ethos transformierte nicht nur jüdisches Erbe, sondern auch pagan antikes. Hier war Gerechtigkeit neben Klugheit, Tapferkeit und Besonnenheit – in der späteren einflussreichen lateinischen Begrifflichkeit: prudentia, fortitudo und temperantia – Teil der Kardinaltugenden. Diese Zuordnung übernahm bereits Clemens von Alexandrien (gestorben um 220) (Clemens, Stromateis 7, c. 3, 17,3). Gleichwohl sollte das Bewusstsein aufrecht erhalten werden, dass christliche Gerechtigkeit etwas Besonderes sei, für dessen volle Erfüllung man den Logos brauche (Clemens, Paidagogos 1, c. 10, 89,1–4). Verglichen mit den Verhältnisbestimmungen zur jüdischen Ethik handelt es sich hierbei also um eine Erfüllungsbeziehung. Die alexandrinischen Kreise, die sich um eine großkirchliche Adaption des Gnosis-Gedankens bemühten, taten sich mit einem solchen Modell der Erfüllung durch Überhöhung besonders leicht. Origenes (gestorben 254) zeichnete in seinem Kommentar Röm 3,21–24 ganz in einen ethischen und kognitiven Gerechtigkeitsdiskurs ein, ohne dass der soteriologische Gedanke der Rechtfertigung durch den Glauben tragend würde: Die Röm 3,21 ausgedrückte Offenbarung der Gerechtigkeit ist vor allem Mitteilung und Eröffnung der höheren göttlichen Gerechtigkeit. Christlicher Glaube wird mithin zum entscheidenden Schlüssel zur Verwirklichung jener Gerechtigkeit, die in der Natur zwar angelegt,
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aber ohne Christus bei weitem nicht im Vollsinne erfüllbar ist (Origenes, Comm. in Rm). Auch wenn diese komplexe Verhältnisbestimmung zwischen paganem und christlichem Gerechtigkeitsverständnis in dieser Weise nicht fortgeführt wurde, fand die von Clemens und Origenes grundgelegte Aufnahme des Schemas der Kardinaltugenden zum Verständnis der iustitia auch Eingang in die Vorstellungen solcher theologischer Denker, die stärker als Origenes das rechtfertigungstheologische Potenzial der Römerbrief-Stelle entdeckten und entfalteten, etwa Ambrosius (In Lucam 5,62) und Augustin (De diversis quaestionibus 83, q. 61,4).
1.3. Gesamtgesellschaftliche Öffnung und binnenchristliche Zentrierung des Gerechtigkeitsethos Die materiale Füllung der Gerechtigkeit durch das Doppelgebot der Liebe wurde in unterschiedliche Horizonte eingezeichnet. So konnte mit der zunehmenden gesellschaftlichen Öffnung des Christentums im Zuge seiner Akzeptanz unter Konstantin Gerechtigkeit als Norm für die gesamte Gesellschaft erscheinen. Deutlich ist die Ausweitung auf eine gesamtgesellschaftliche Perspektive bei Laktanz (gestorben ca. 320), der geradezu soziale Ungleichheit als Zeichen von Ungerechtigkeit deutete, indem er erklärte, Römer wie Griechen hätten keine wahre Gerechtigkeit halten können, da unter ihnen eine große Ungleichheit zwischen Armen und Reichen geherrscht habe: »Die Ungleichheit selbst schließt Gerechtigkeit aus« (Lactantius, Divinae institutiones 5,14,19f.). Der auf Gerechtigkeit verpflichtete christliche Herrscher hatte so zumindest indirekt auch die Aufgabe, für sozialen Ausgleich in seinem Reich zu sorgen. Der gesamtgesellschaftlichen Öffnung geradezu entgegen lief allerdings eine Entwicklung, in der nicht primär der andere als Gegenstand des gerechten Handelns in den Blick trat, sondern Gerechtigkeit vornehmlich als Ausdruck der Gottzugewandtheit verstanden wurde, die auch die Gestalt der Askese annehmen kann. Dies zeigt sich bei Athanasius (gestorben 373), der in der Vita Antonii Gerechtigkeit pauschal – und im Zusammenhang der Kar-
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dinaltugenden – als eine Mönchstugend benennt (Athanasius, Vita Antonii 17). Das Verständnis von Gerechtigkeit als Inbegriff christlicher Existenz erweist sich mithin als ambivalenter Vorgang, der im Zuge einer grundsätzlichen Aufwertung der Gerechtigkeit deren Spezifik aufhebt.
1.4. Augustin: Menschliche Gerechtigkeit im Horizont der paulinischen Rechtfertigungstheologie Mit der paradigmatischen Bedeutung der iustificatio für jedes Verständnis von Gerechtigkeit entsteht bei Augustin ein neues Sinngefüge, das die Gerechtigkeit unmittelbar in soteriologischer Perspektive verstehen lässt. iustitia beschreibt damit einerseits die letztgültige Gesamtwirklichkeit des Menschen, andererseits das ethische Verhalten des Christen. Gerechtigkeit ist für Augustin nicht eine durch Taten erwerbbare und bestimmbare Größe, sondern wird ganz zu einer dem Menschen durch den Glauben von Gott geschenkten Bestimmung (Augustin, De spiritu et littera c. 9,15). So wird das Bemühen um tugendethische Bestimmungen des Gerechtigkeitsbegriffs zwar nicht gänzlich aufgegeben, aber doch durch eine wesentliche Vorstellung theologisch vertieft. Und diese ist für das theologische Verständnis schlechterdings zentral: In Auslegung von Röm 1,16f. sieht Augustin die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als den eigentlichen Inhalt des Neuen Bundes (Augustin, De spiritu et littera c. 11,18). So kommt die Gerechtigkeit nicht aus dem Gesetz oder irgendeinem menschlichen natürlichen Vermögen, sondern allein aus Christus und dem Glauben (Augustin, Epistulae 177,11). Dass Gerechtigkeit somit nicht als Folge von Taten gedeutet wurde, bedeutete freilich nicht, dass eine Relation zwischen Gerechtigkeit und Taten ganz aufgehoben würde: Die durch Gott erworbene und geschenkte Gnade leitet nun den Menschen zu guten Taten an. Dabei bestimmt die Zuwendung zum Nächsten die Taten der Gerechtigkeit ebenso wie der Kampf gegen die Sünde (Augustin, De perfectione iustitiae hominis XI, 27). In der Verfolgung bestimmter Taten ist es dann dem Menschen durchaus möglich, in hohem Maße selbst Gerechtigkeit zu verwirklichen, freilich nur in
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einem vom Glauben bestimmten Leben (Augustin, De perfectione iustitiae hominis XI, 23). Solche Ausführungen machen Augustin für die weitere Tradition auch für ein ethisch-moralisches Konzept der Gerechtigkeit anschlussfähig. Und doch hat sich bei ihm eine neue Verhältnisbestimmung ergeben, die man durchaus an der tradierten Füllung der Gerechtigkeit durch das Doppelgebot der Liebe nachzeichnen kann. Aus dem Appell an ein liebendes Subjekt, sich gleichermaßen Gott wie dem Nächsten als Gegenstand der Liebe zuzuwenden und hierdurch Gerechtigkeit zu erlangen, ist bei ihm aber eine klare Vorordnung Gottes als des Subjektes geworden, das Gerechtigkeit konstituiert und hierdurch dem Menschen die Zuwendung zum Nächsten ermöglicht.
2. Spannungsvolle Zuordnung der Gerechtigkeit zur Theologie im Mittelalter 2.1. Verselbständigung der Gerechtigkeit im tugendethischen Diskurs Das Mittelalter übernahm von der antiken Theoriebildung sowohl die Transformationen paganer Tugendethik als auch den paulinischen Impuls Augustins. Bedeutsam wurde der Gedanke, dass Gerechtigkeit bedeute, jedem das Seine zu geben (suum cuique), vielfach in der bei Cicero (gestorben 43 v. Chr.) zu findenden spezifischen Fassung zitiert, dass einem jedem seine Würde (dignitas) zuzuerkennen sei (De inventione II,53,160). Dies integrierte für mittelalterliches Denken in die Vorstellung des suum cuique den Gedanken einer vorgegebenen Ungleichheit, die das suum nicht von allgemein-menschlichen Ansprüchen her definierte, sondern von einem spezifischen sozialen Ort aus. Gerechtigkeit wurde damit zu einer die Ungleichheit der gegebenen ordo-Gesellschaft eher stabilisierenden als hinterfragenden Norm. Erst bei Petrus Abae lard (1079–1142) trat in engem Zusammenhang mit der ciceronianischen Formel, dass einem jeden das zu geben sei, dessen er würdig sei, auch die Relativierung auf, dass dies nur unter Wahrung
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des Gemeinwohls, der communis utilitas, erfolgen könne (Abaelard, Dialogus 2065f.). Damit kamen wieder sozial ausgleichende Werte in den Gerechtigkeitsdiskurs wie Wohltätigkeit, Wahrhaftigkeit oder Vergeltung. Den Hintergrund für eine solche stärker das sozial ausgleichende Moment in den Blick nehmende Füllung des Gerechtigkeitsbegriffs bildeten sowohl die neuen sozialen Dynamiken der Städte, als auch Relativierungen des aus der paganen Antike ererbten Gerechtigkeitsbegriffs durch die Potentiale des biblisch-christlichen Ethos. So nahm Petrus Lombardus einen augustinischen Gedanken mit der Formulierung: »Gerechtigkeit besteht in der Unterstützung der Armen« (Petrus Lombardus, Sentenzen III d. 33 c. 1), auf. Das Bemühen, dem paganen Erbe ebenso gerecht zu werden wie dem christlichen zeigt sich auch in der Zuordnung der Gerechtigkeit zu den theologischen Tugenden. Eine intellektuelle Hauptaufgabe wurde die Verhältnisbestimmung zu diesen, wie sie etwa Stephan Langton (gestorben 1228) auf Grundlage von 1Kor 12 zusammenfasste: fides, spes, caritas. Die Zuordnung war dabei auf doppelte Weise zu bestimmen: Zunächst galt es, die doppelte Schematik – einmal vier Kardinaltugenden, ein andermal drei theologische Tugenden – aufeinander zu beziehen. Die hierfür gefundene Lösung war letztlich additiv in Gestalt eines zweistufigen Systems, in dem den Kardinaltugenden propädeutische Funktion zukam (Petrus Lombardus, Sentenzen III d. 33), die theologischen Tugenden hingegen als die spezifisch das Christenleben bestimmenden Eigenschaften gesehen wurden. Dieser Vorgang war freilich nicht neutral für die inhaltliche Bestimmung dessen, was Gerechtigkeit bedeutet – dies ist der zweite Aspekt, der sich aus der Notwendigkeit der Zuordnung ergab. Denn die von der Antike ererbte Zuordnung von iustitia und caritas ließ sich in dieser Weise jedenfalls nicht mehr einlinig aufrechterhalten. Der systematische Ort der Gerechtigkeit war nunmehr vor allem der einer auch paganem Verständnis erschließbaren Tugend, gerade im Unterschied zur spezifisch christlich-theologischen Tugend. Das brachte es wiederum mit sich, dass iustitia und iustificatio nicht ohne weiteres aufeinander zu beziehen waren. Die Rede von der iustitia des Menschen, die Augustin in ein klar subordiniertes Verhältnis zur iustitia Dei
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nach Röm 1,17 gebracht und damit konstitutiv auf die Zentralbegriffe der Rechtfertigungslehre bezogen hatte, verselbständigte sich so wieder und öffnete sich in größter Breite dem allgemeinen philosophischen Diskurs. Dies galt umso mehr, als im 12./13. Jahrhundert die Ethiken des Aristoteles bekannt wurden und sich damit auch inhaltlich neue Anstöße ergaben. In der Nikomachischen Ethik widmete Aristoteles der Gerechtigkeit ein eigenes Kapitel (Arist.e.N. V). In ihm stellte er Gerechtigkeit als die höchste Tugend dar, was in Verbindung mit der Lehre von den Kardinaltugenden für die weitere tugendethische Diskussion das Problem der connexio virtutum aufwarf (vgl. z.B. Ockham, De connexione virtutum): die Frage, wie sich über eine additive Zuordnung innerhalb eines Schemas hinaus die unterschiedlichen Kardinaltugenden zueinander verhalten und sich darin wiederum auf die theologischen Tugenden beziehen. Für die materiale Diskussion über iustitia entscheidend war, dass Aristoteles vor allem den Bezug der Gerechtigkeit auf den zwischenmenschlichen Bereich in den Vordergrund hob, was die Verbindung mit dem Gedanken des suum cuique erleichterte, und dass er in diesem zwischenmenschlichen Bereich zwei Formen von Gerechtigkeit unterschied, die sich aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen ergaben. Einerseits sprach er von einer ausgleichenden Gerechtigkeit, bei der es um den Austausch von Gütern zwischen gleichrangigen, vertraglich miteinander verbundenen Subjekten geht, andererseits von einer austeilenden Gerechtigkeit, in der eine bestimmende Instanz den verschiedenen Angehörigen der Gesellschaft das je Ihre zuteilt, also gegenüber der Gleichrangigkeit die hierarchische Superund Subordination überwiegt. Damit waren neue Aspekte aus der paganen Tradition in das Bewusstsein der mittelalterlichen Theologie gerückt, die zunächst von Albertus Magnus (gestorben 1280), dann aber vor allem von Thomas von Aquin (gestorben 1274) aufgegriffen und weiter entwickelt wurden. Bei letzterem ist der Ort zur Behandlung der iustitia die secunda secundae der Summa Theologiae (ST), quaestio 58–71. Iustitia erscheint hier in der Reihe der Kardinaltugenden und wird als solche entfaltet. Für das iustitia-Verständnis wie für die gesamte Tugendethik leitend ist dabei die Vorstellung, Tugen-
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den seien dem Menschen als habitus gegeben (ST II–II q. 58 a. 1); unter dem habitus wird eine erworbene Eigenschaft verstanden, die den Menschen zu bestimmten Handlungen anleitet. Diese Handlungen, actus, sind für die Gerechtigkeit ganz im Sinne der antiken Bestimmung diejenigen, durch die man einem jeden das suum gibt (ST II–II q.58 a. 11 resp.), und Gerechtigkeit ist dementsprechend der dauerhafte Wille, jedem das Seine zu geben (ST II–II q. 58 a. 1 resp.). Maßgeblich für die weitere aristotelische Begrifflichkeit war auch, dass Thomas dessen Unterscheidung im Gerechtigkeitsbegriff aufnahm und eine iustitia commutativa als gegenseitige Gerechtigkeit zwischen Individuen von einer iustitia distributiva unterschied, in der aus einer gewissen Überblickssituation heraus jedem Individuum das ihm Zustehende gegeben wird (ST II–II q. 61 a. 2) – mit diesem Begriffsapparat ließ sich die menschliche Tugend der Gerechtigkeit analysieren, aber auch die göttliche Gerechtigkeit.
2.2. Ethische Gerechtigkeit als gesellschaftsgestaltende Norm Die Verselbständigung des Gerechtigkeitsdiskurses gegenüber dem Rechtfertigungsdiskurs bedeutete in theologischer Hinsicht einen Verlust an augustinischer gedanklicher Tiefe – in gesellschaftlicher Hinsicht aber konnte sie bemerkenswerte Potenziale freisetzen. Einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung eines gesellschaftlich breit adaptierbaren Gerechtigkeitsbegriffs gab die Kreuzzugsbewegung und die in ihrem Zusammenhang zu einem geschlossenen Gebäude zusammengeführte Theorie vom bellum iustum, dem gerechten Krieg. Der Kirchenrechtler Gratian konnte in seiner Abhandlung hierüber (Decretum Gratiani pars 2 causa 23) auf verstreute Äußerungen des antiken Christentums zurückgreifen, insbesondere auf Ausführungen von Augustin und die Definition, die Isidor von Sevilla in den Etymologien gegeben hatte: »Gerecht ist ein Krieg, der aufgrund einer öffentlichen Ankündigung geführt wird, um Dinge zurückzuholen oder Menschen [die angreifen] abzuwehren« (C. 23 q. 2 c. 1).
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Wiedererlangung von Gütern und Verteidigungskrieg als Normen, die auch im Umgang mit Häretikern und Fremdgläubigen gelten sollten: Das war eine erkennbare Umsetzung des suum cuique. Dieses konnte im Zusammenhang der Aristotelesrezeption auch insgesamt stärker als sozialgestaltende Norm in den Blick kommen. Zu den durch Aristoteles neu ins Bewusstsein tretenden Gedanken gehörte auch, dass er in der Nikomachischen Ethik V,2 Gerechtigkeit vor allem als Förderung der Gleichheit und Beachtung der Gesetze bestimmt hatte. Hieraus entstand für die scholastische Diskussion des 13. Jahrhunderts die Vorstellung einer iustitia legalis, d.h. einer vor allem an der Beachtung der Gesetze orientierten Gerechtigkeit (Albertus Magnus, Super Ethica l. 5 lectio 6; Thomas, ST II–II q. 58 a. 5). Das dabei vorausgesetzte Gesetz aber war das der Gesellschaft, konnte also letztlich, jenseits der theologischen Bestimmungen als Norm verstanden werden, wie sie durch das römische Recht bestimmt wurde. Vor diesem Hintergrund und in Aufnahme antiker Herrschaftstheorien wird etwa bei Thomas zum Ideal der Herrschaft das regimen rectum et iustum, die gerechte Herrschaft, die sich am bonum commune, dem Gemeinwohl, orientiert (Thomas, De regno l. 1 c. 1). Welche Dynamik das Denken in Kategorien des suum cuique entfalten konnte, zeigt sich in den Theorien des Marsilius von Padua, der in seinem Defensor pacis Vorstellungen davon entwickelte, wie in einer schwer übersehbaren Zeit dauerhafter Friede herrschen könne. Der Leitbegriff hierfür ist für ihn nicht iustitia, wohl aber lex, das Gesetz, und dieses wiederum versteht er als ius, als Recht (Marsilius, Defensor pacis dictio 2, c. 12 § 3). Für die Friedensstiftung aber ist es nach Marsilius notwendig, dass die Menschen sich auf Gesetze einigen – und eine solche Einigung kann ihm zufolge nicht durch Vernunft allein erfolgen, sondern dadurch, dass den Gesetzen ein Verpflichtungsbeziehungsweise Zwangscharakter zukommt. Es ist also letztlich die iustitia legalis, die hier der Sache nach ihre Wirkung entfaltet. Zwingende Gültigkeit aber kann hiernach nur einen Grund haben, nämlich den, dass das Gesetz vom zuständigen Gesetzgeber erlassen ist. Dieser zuständige Gesetzgeber aber ist »die Gesamtheit der Bürger oder ihr wichtigster Teil« (Marsilius, Defensor pacis dictio 1, c. 12 § 5). Die Logik, dass ein Gesetz dann zwingend ist, wenn alle,
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die durch es gezwungen werden sollen, an seiner Legitimierung beteiligt sind, lässt also am Horizont den Gedanken der Volkssouveränität erscheinen – und macht die Gerechtigkeit im formalen Sinne der iustitia legalis, nicht jedoch in einem materialen Sinne zum Maßstab politischer Verfassungsvorstellungen.
2.3. Das augustinisch-paulinische Erbe: Gottesgerechtigkeit und Menschengerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit wurde aber nicht durchweg nach den Maßstäben menschlicher Gerechtigkeit behandelt, und Gerechtigkeit erschöpfte sich nicht in der Vorstellung eines suum cuique. Anselm von Canterbury (1033/34–1109) erklärte, dass Gottes Gerechtigkeit insofern gerade von den Vorstellungen menschlicher Gerechtigkeit abwich, als Gott gleichermaßen gerecht sei, wenn er die Bösen bestrafe wie wenn er sie verschone (Anselm, Proslogion c. 10). Besonders war dieser Gedanke aus paulinisch-augustinischer Tradition naheliegender Weise in den Römerbriefkommentaren präsent. So hat Petrus Abaelard in Auslegung von Röm 3,21 ausdrücklich erklärt, dass die Gerechtigkeit Gottes seine Liebe sei (Abaelard, Römerbriefkommentar zu 3,21). Anders versuchte Thomas das Problem zu lösen, das ihm gleichfalls bewusst war, für dessen Behandlung er sich aber an das aristotelische Begriffsgerüst gebunden sah. So fasste er die Gerechtigkeit Gottes zunächst als iustitia distributiva, austeilende Gerechtigkeit (ST I q. 21 a. 1), mithin im Sinne einer Zuteilung nach dem Maßstab suum cuique. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass er die iustificatio impii nicht der Gerechtigkeit Gottes, sondern seiner Barmherzigkeit, der misericordia, zuwies (ST I q. 45 a. 6 ad 3). Doch hat er sich darum bemüht, in mehrfacher Hinsicht iustitia und misericordia in Ausgleich zu bringen. »Das Werk Gottes setzt immer das Werk der Barmherzigkeit voraus und ist in ihm gegründet« (ST I q. 24 a. 1 resp.). So wie die Vorrangstellung der Gerechtigkeit unter den moralischen Tugenden im Menschen durch die theologischen Tugenden in eigener Weise gebrochen wird, wird auch und erst recht für Gott die Wertehierarchie nicht auf die iustitia gegründet, sondern diese steht ihrerseits in Abhängigkeit von Barm-
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herzigkeit und Gnade Gottes – insofern steht ein Handeln Gottes nach seiner Barmherzigkeit nicht gegen die Gerechtigkeit, sondern über ihr (ST I q. 21 a. 3 ad 2). Beide sind nicht auseinanderzudividieren, sondern lediglich aspektiv aufeinander zu beziehen (ST I q. 21 a. 4 ad 1). So kann sich am Ende doch auch in der iustificatio impii die Gerechtigkeit Gottes erweisen (ST I q. 21 a. 4 ad 1) und Thomas letztlich den Gerechtigkeitsbegriff trotz seiner aristotelischen Engführung auf eine Verteilungsgerechtigkeit auch auf das rechtfertigende und vergebende Tun Gottes anwenden. Die von Thomas angesprochene Vorordnung der Barmherzigkeit vor die Gerechtigkeit konnte in anderen Kontexten noch deutlicher zu einer Revitalisierung augustinischer Einsichten führen. So erklärte Johannes Tauler (gestorben 1361) im Zusammenhang der Auslegung der Seligpreisungen ebenfalls, dass Barmherzigkeit bei Gott am höchsten gelte (Tauler, Predigt über Mt 5,1). Vor allem aber bestimmte er Gerechtigkeit auf eine Weise, die fern von den aristotelischen Bestimmungen war: Nicht das suum cuique zeichnet hier Gerechtigkeit aus, ja, letztlich bestimmt Gerechtigkeit gar nicht primär die Beziehung zum Nächsten, sondern die zu Gott: Gerechtigkeit zeichnet sich durch Demut, Gottesfurcht, Gelassenheit und Sanftmut aus (Tauler, Predigten Nr. 40). So wie ihm zufolge die menschliche Gerechtigkeit als solche vor Gott nichts gilt (Tauler, Predigten Nr. 16), gilt umgekehrt, dass der angemessene mystische – und damit gerechte – Stand vor Gott »niemer von menschlichen werken noch von verdiende, sunder von luttere genaden und von dem verdiende unsers herren Jhesu Christi« erlangt wird (Tauler, Predigten Nr. 32) – auch wenn in Taulers Werk die Gerechtigkeitsterminologie eine geringe Rolle spielt, zeigt sich doch, wie hier im mystischen Kontext biblische Potentiale neu entdeckt werden. Die Auflösung fester Schemata des Gerechtigkeitsverständnisses konnte auch innerhalb des scholastischen Diskurses erfolgen. So hat die Vorordnung der voluntas, des Willens, im Verständnis von Gott und Mensch bei Duns Scotus (gestorben 1308) und Wilhelm von Ockham (gestorben 1347) auch dazu geführt, dass das Gerechtigkeitsverständnis stärker an den Willen Gottes als an eine abstrakte Norm gebunden wurde: Den Satz, dass Gott nichts wolle, das nicht gerecht sei, deutete Ockham in dem Sinne, dass etwas gerecht werde,
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weil Gott es wolle (Ockham, Sentenzenkommentar l. 1 d. 43 q. 1). Gegenüber einer abstrakten Normierung der Wirklichkeit durch dem menschlichen Verstand zugängliche Kriterien wird die Macht Gottes zur Bestimmung der Wirklichkeit und ihrer Normen in den Vordergrund gerückt und so faktisch die Vorstellung, Gottes Gerechtigkeit könne man sich nur in Gestalt einer aristotelisch gefassten iustitia distributiva vorstellen, kräftig hinterfragt. Gegenüber dem an Thomas orientierten alten Weg der Spätscholastik, der Via antiqua, gelangte so die Via moderna zur Vorstellung von der Gerechtigkeit nicht als Voraussetzung des göttlichen Handelns, sondern als von diesem bestimmte Folge. Dieser personalen Rückbindung des Gerechtigkeitsverständnisses entsprach es auch, dass das Handeln des Menschen nicht einfach im Sinne einer abstrakten Verhaltens ethik beschrieben werden konnte. Gabriel Biel (gestorben 1495) lehrte, dasselbe Werk könne gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sein – dies hänge nicht an der Tat als solcher, sondern daran, ob es in guter oder in böser Weise ausgeübt werde (Biel, Collectorium l. 1 d. 47 q. un. a. 1). Damit wird bei Biel ebenso wie bei Tauler, wenn auch in anderem Denkhorizont, das Gerechtigkeitsverständnis personalisiert: Nicht eine verhaltensorientierende Regel bestimmt, was Gerechtigkeit ist, sondern der Status des Menschen und seine Intention.
3. Reformatorische Impulse 3.1. Die »iustitia Dei« als Zentrum reformatorischer Theologie bei Luther Martin Luther (1483–1546) hat in seinem späten Rückblick die Frage der iustitia Dei nach Röm 1,17 als Anfangs- und Angelpunkt seiner reformatorischen Entwicklung dargestellt (Vorrede zu den lateinischen Werken; WA 54,185,14–186,8). Freilich sind heute nicht nur Zeitpunkt, Gestalt und genauer Inhalt dieser »reformatorischen Wende« unsicher, sondern es gibt sogar ein früheres Zeugnis, in dem Luther einen ganz ähnlichen Entdeckungsvorgang nicht anhand des Begriffs iustitia, sondern konzentriert auf die Vorstellung
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von poenitentia, Buße, beschreibt (s. hierzu Leppin 2002). Für den Gerechtigkeitszusammenhang ist dies nicht nur deswegen bemerkenswert, weil Luther durchaus auch hier davon spricht, er habe lernen müssen, dass wahre Buße mit der Liebe zu Gott und seiner Gerechtigkeit beginne (Widmungsschreiben zu den Resolutiones an Staupitz; WA 1,525f.). Vor allem ist es bedeutsam, dass diese Entwicklung im Kontext einer starken Prägung durch Johannes Tauler erfolgte, also im Rahmen solcher biblischer Gerechtigkeitsvorstellungen, die nicht in ein aristotelisches Prokrustesbett gezwängt waren. Die Gerechtigkeitsterminologie gewann Luther gleichzeitig durch die Lektüre Augustins und des Römerbriefes. Wie wenig die Dinge für ihn mit einem Mal klar waren, zeigt sich schon allein daran, dass er in zwei eigenen Ansprachen, dem Sermo de triplici iustitia von 1518 und dem Sermo de duplici iustitia von 1519, zwei Anläufe unternahm, die Gerechtigkeitsthematik zu behandeln. Im Blick auf die Semantik des Begriffs ist es bemerkenswert, dass Luther im Sermo de triplici iustitia ausdrücklich als deutsches Äquivalent zu iustitia »fromkeyt« angab (WA 2,43,4f.). Der Horizont ist also eher eine allgemeine Tugendvorstellung als spezifisch aristotelische Begriffsbestimmungen oder ein suum cuique. Der Sermo de triplici iustitia zeichnete das Erbe Taulerscher Tradition in einen Deutungsrahmen ein, in dem entscheidend für das Gerechtigkeitsverständnis ist, dass die erste Art der Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit, durch die man coram hominibus, vor den Menschen, ein guter Mensch wird, in Perspektive des Heils unzureichend ist, ja, dass man sich gerade um sie in religiöser Hinsicht nicht bemühen soll (WA 2,44,5f.). Denn die zweite Art der Gerechtigkeit, die iustitia originalis, die Urstandsgerechtigkeit, ist verloren gegangen, und da nach Mt 7,18 der schlechte Baum keine guten Früchte bringen kann, ist der Mensch, der in der Ursünde gefangen ist, nicht in der Lage in irgendeiner Weise Gutes oder Gerechtes zu tun – Luther argumentiert hier offenkundig im Sinne des spätmittelalterlichen personalisierten Gerechtigkeitsverständnisses. Was letztlich gelten kann, ist lediglich die dritte Gestalt der Gerechtigkeit, eine »iustitia actualis, fluens ex fide et iustitia essentiali«, eine »Tatgerechtigkeit, die aus dem Glauben und der Wesensgerechtigkeit fließt« (WA 2,46,1f.) – diese aber kann nicht verdienstlich
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sein, denn wenn man überhaupt von etwas Verdienstlichem sprechen könne, dann vom Glauben (ebd. Z. 6). So handelt es sich hiernach lediglich um jene Gerechtigkeit, durch die sich der von Gott bewirkte neue Stand des Glaubenden ausdrückt, und auch sie ist letztlich nicht durch einen definitiven Verhaltenskatalog bestimmbar, sondern allein durch das rechte Verhältnis zu Gott. Möglicherweise noch im selben Jahr 1518 entstand der im folgenden Jahr gedruckte Sermo de duplici iustitia, mit dem Luther sein Gerechtigkeitsverständnis weiter präzisierte. Die iustitia coram hominibus spielte nun keine Rolle mehr. Zentral wurde die Unterscheidung alienus – proprius: fremd – eigen. Die fremde Gerechtigkeit war die von außen, von Christus herkommende, durch die der gerechte Christus durch den Glauben rechtfertigt. Luther konnte hier die Vorstellung der mittelalterlichen Tugendethik, dass eine solche Gerechtigkeit eingegossen werde, aufnehmen (WA 2,145,9). Die damit bewirkte Veränderung formulierte Luther nun in einer Begrifflichkeit, die – wurzelnd in mystischen Vorstellungen – vom Austausch zwischen Christus und der Seele sprach. Die dem Menschen eingegossene Gnade bewirkte, dass der Vater den Menschen innerlich zu Christus zieht (WA 2,146,29f.), und so gilt: »Also wird durch den Glauben an Christus Christi Gerechtigkeit unsere Gerechtigkeit und alles, was sein ist, ja er selbst wird unser« (WA 2,146,8f.). Genau dieses mystisch gefärbte Gerechtigkeitsverständnis bezog Luther hier auf Röm 1,17 (ebd. Z. 9–11), also auf jene Bibelstelle, an deren Verständnis er Jahrzehnte später seine reformatorische Entwicklung festmachen sollte. Diese fremde Gerechtigkeit, die ein Gottes- und Christusverhältnis ohne menschliche Taten hervorbrachte, legte die Grundlage für unsere eigene Gerechtigkeit, die Werke des Menschen bewirkte, aber nicht derart, dass diese Werke in irgendeiner Weise Gott gegenüberstünden und vor Gericht im eigenen Sinne in Anspruch genommen werden könnten, sondern so, dass der Mensch in dieser eigenen, sekundären Gerechtigkeit mit der fremden primären Gerechtigkeit zusammenwirkt. Durch die – vornehmlich im mystischen Sinne der Selbstdemütigung verstandenen – Werke sollte der Mensch die conformitas, die Entsprechung zu Christus erlangen (WA 2,147,19). Gerechtigkeit erscheint damit bei Luther primär
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als religiöse Kategorie, begründet in der Gerechtigkeit Gottes, die durch Christus dem Glaubenden zuteil wird.
3.2. Soziale Gerechtigkeit in Luthers Perspektive Die starke theologische Konzentration des Gerechtigkeitsbegriffs in der paulinisch-augustinischen Rechtfertigungslehre führte im sozialen Bereich zu einer gewissen Leerstelle im Gerechtigkeitsverständnis. Zwar bot Luther eine Begründung christlicher Ethik als Folge des rechtfertigenden Handelns Gottes, aber gerade die auf der Linie der mystischen Theologie vollzogene starke Personalisierung des Gerechtigkeitsverständnisses war auf die strukturellen Fragen des sozialen Miteinander nicht unmittelbar anwendbar. Luther wurde aber durch den Verlauf der Reformation gezwungen, sich auch hierüber Gedanken zu machen. Am deutlichsten ist sein Gerechtigkeitsverständnis in seinen Stellungnahmen zum Bauernkrieg zu fassen. Die Schwarzwälder Bauern sprachen von »dem göttlichen rechten vnd […] dem hailigen euangely« und erklärten, dass sie bisher »grosse beschwärden, so wider gott vnd alle gerechtigkait« seien, zu tragen gehabt hätten (Artikelbrief). Das hier eingeklagte Gerechtigkeitsverständnis trug auch schon die zwölf Artikel der Bauernschaft, zu denen Luther zur Stellungnahme gebeten wurde. In ihnen war etwa der alttestamentliche Zehnt als »recht« dem »unzimlichen« Zehnt entgegengestellt worden (Zwölf Artikel Art. 2). Mitten in den reformatorischen Auseinandersetzungen wurde nun also der Gerechtigkeitsbegriff des suum cuique in neuer, gesellschaftssprengender Weise aktiviert. Gerechtigkeit wurde zu einer Formel, mit der eine eigenmächtige und eigensüchtige Überziehung von Machtmöglichkeiten zuungunsten der Abhängigen kritisiert wurde. Luther bestritt diese Position in der Sache nicht, im Gegenteil: Er attestierte den Forderungen der Bauern, sie seien großenteils »billich vnd recht« (Ermahnung; WA 18,298,3f.). Doch wollte er die damit ausgedrückte Berechtigung der Forderungen nicht im Sinne spezifisch christlicher Gerechtigkeitsvorstellungen verstanden wissen. Was er den Bauern vorwarf, war, dass sie den Anspruch erhoben, eine christliche Vereinigung zu sein, obwohl sie doch nur
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auf ihrem Eigenrecht beharrten. Gerade das Beharren auf der Gerechtigkeit für einen selbst, auf dem einem selbst zukommenden »suum«, war Ausdruck des rein innerweltlichen Charakters dieser Forderungen. Ohnehin fand auch der Ruf nach Gerechtigkeit seine klare Grenze in der Friedenswahrung – so kritisierte Luther vor allem die Gewaltanwendung. Für die Obrigkeit war auch die Wahrung der Gerechtigkeit vor allem in den Auftrag eingebunden, die potenzielle Gewaltbereitschaft der Menschen unter Kontrolle zu bringen. Zur gesellschaftlichen Leitmaxime wurde bei Luther in struktureller Hinsicht vor allem die Wahrung von Frieden und Sicherheit. In der Herrscherparänese an den christlichen Fürsten allerdings gewann die Gerechtigkeit dann als Forderung an ein vor Gott verantwortetes und dem Nächsten zugewandtes Handeln großes Gewicht. So partizipiert Luther an der seit der Rezeption des Aristotelismus verstärkt beobachtbaren Entkoppelung zwischen gesellschaftlichen Gerechtigkeitskonzeptionen und theologischer iustitia‑Terminologie, ja, sein Gesellschaftsmodell hat die besondere Stärke, theologisch zu begründen, warum die Wahrung gesellschaftlicher Ordnung vor allem vermittels vernünftiger Regeln zu erfolgen hat. Deren allgemein-rechtliche Ausgestaltung erfolgt aber primär im Horizont eines auf elementare Schutz- und Kontrollfunktionen ausgerichteten Rechtsverständnisses. Iustitia im Sinne einer qualifiziert das Verhalten der Menschen und ihre positive Rechtswahrung bestimmenden Größe wird dann wiederum in spezifisch christlichem Horizont als Herrschertugend relevant, deren Befolgung aus theologischer Sicht zu fordern bleibt.
3.3. Göttliche und menschliche Gerechtigkeit bei Zwingli Im Unterschied zu Luther, der primär an einer strengen theologischen Füllung und Deutung des iustitia-Begriffs interessiert war und erst von hier aus auf die Frage gesellschaftlicher Gerechtigkeitskonzeptionen zu sprechen kam, spielte die iustitia-Terminologie für Zwingli lange keine große Rolle. Ihre erste und umfassende Behandlung war durch gesellschaftliche Fragen veranlasst. 1523 antwortete er auf Forderungen nach der Minderung der Zehnt-
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und Zinspflichten in einem eigenen Traktat über göttliche und menschliche Gerechtigkeit, dessen Grundfigur im Blick auf die Gerechtigkeit nun in weiten Zügen der Lutherschen Argumentation entsprach, die er freilich zugleich charakteristisch brach, indem er erklärte, die göttliche Gerechtigkeit sei der menschlichen so weit überlegen wie Gott selbst den Menschen (Zwingli, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit; CR 89,476,3–5). Zwingli zeichnete die Gerechtigkeitsthematik also vollständig in seine aus dem Scotismus ererbte Grundüberzeugung vom unendlichen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf ein. Im Sinne dieser Differenz sei für Gott nicht das suum cuique leitend, sondern gerecht sei er als Brunnen aller Gerechtigkeit (Zwingli, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit; CR 89,475, 8–19). Die Gerechtigkeit Gottes als Eigenschaft Gottes, die für uns durch Christus erlangt worden ist (Zwingli, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit; CR 89,478), hat nun freilich auch Auswirkungen im Sinne menschlicher Handlungsnormen. Göttliche Gerechtigkeit ist hiernach durch Verzeihen, Verzicht auf Zorn und Streit, Nichtbegehren und weitere Merkmale der Ethik der Bergpredigt geprägt. Eine unmittelbare soziale Umsetzung dieser Handlungsnormen aber vermeidet Zwingli im Blick auf seine aktuelle Gesprächssituation auf zweifache Weise: Nicht nur sind diese Gebote durch den Menschen letztlich nicht erfüllbar, sondern sie beziehen sich auch auf den inneren Menschen (Zwingli, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit; CR 89,484,17), sind also Leitlinien für die Haltung des Menschen vor Gott, nicht für die Gestaltung des sozialen Miteinanders. Für dieses soziale Miteinander wiederum gelten Normen, die als solche erfüllbar sind – und in ihrer Erfüllung unabhängig von der Haltung des inneren Menschen. Man kann äußere Gebote erfüllen und innerlich ein schlechter Mensch bleiben, vor allem durch sie nie Gerechtigkeit erlangen, die vor Gott gilt. Nötig freilich bleiben die äußeren Gebote für das Miteinander der Menschen, und dies, da geht Zwingli ganz konform mit Luthers Obrigkeitslehre, um die Sünde unter Kontrolle zu bringen. So erfolge nach Röm 13 letztlich die Verwirklichung der menschlichen Gerechtigkeit durch die Obrigkeit (Zwingli, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit; CR
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89,500, 10–27). Ähnlich wie bei Luther tritt damit Gerechtigkeit im Sinne einer qualitativ gestaltenden Norm für das menschliche Miteinander in den Hintergrund gegenüber der sichernden und friedenswahrenden Funktion der Obrigkeit.
3.4. Gerechtigkeit als Verwirklichung des Gotteswillens bei Calvin Calvin widmete der Gerechtigkeit einen langen Abschnitt im dritten Buch der Institutio (Fassung von 1559). Dabei war für ihn klar, dass die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht aus den Werken kommt, sondern aus dem Glauben und dass sich beide Formen von Gerechtigkeit sogar gegenseitig ausschließen (Institutio III,11,13). Calvin teilt also die bei Luther begegnende personalisierende Auffassung von Gerechtigkeit, nach der diese sich nicht an einem bestimmten Handlungskatalog orientiert, sondern an der Grundeinstellung des Menschen und seinem Verhältnis zu Gott. Und doch erhält bei ihm die Rede von Gerechtigkeit eine etwas andere Zuspitzung, insofern die für Luther entscheidende Frage nach dem Woher der Gerechtigkeit mit der nach dem Wozu verbunden wird und so auf theologischer Basis neu die Perspektive auf gerechtes Handeln eröffnet wird, die bei Luther durchaus im Blick war, aber nicht so im Vordergrund der Reflexion stand wie bei Calvin. Bei diesem erscheint nun als Zweck der Rechtfertigung geradezu der Erweis der Gerechtigkeit Gottes (Institutio III,13,1) So liegt denn auch beim Menschen der Akzent nicht so sehr auf der gnädigen Zurechnung durch Gott, sondern auf der Heiligung (Institutio III,11,6), was er gerade auch an Röm 1,17 deutlich macht (Calvin, Römerkommentar zu 1,17; 3,21). So wenig die Werke auch das Heil bewirken, so sehr sind sie doch Zeichen der Berufung des Glaubenden (Institutio III,14,21). Damit gewinnt an Taten fassbare Gerechtigkeit einen neuen religiösen Status, und das calvinische Gerechtigkeitsverständnis bildet seiner Tendenz nach einen Ge genakzent zu der mit dem späten Mittelalter beginnenden und bei Luther theologisch prinzipiell begründeten Entwicklung zu einer stärkeren Säkularisierung des Gerechtigkeitsverständnisses.
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4. Neuzeitliche Fortführung der Verselbständigung des Gerechtigkeitsdiskurses Der starke theologische Gerechtigkeitsbegriff Luthers hat eine über die Herrscherparänese hinaus gehende Gerechtigkeitsreflexion eher erschwert, zugleich aber auch den im späten Mittelalter grundgelegten Freiheitsraum für Reflexionen sozialer Gerechtigkeit eher erhöht. Bezeichnenderweise war es dann aber vor allem der reformierte Kontext, indem in Kreisen der gegen den König kämpfenden französischen Protestanten, der Monarchomachen, Gedanken neu aktiviert wurden, die die mittelalterlichen Tyrannistheorien mit ebenfalls in der mittelalterlichen Diskussion wurzelnden Ansätzen zu einer Vertragstheorie verbanden. Eine wichtige Referenzgröße für solche Gedanken, wie sie sich erstmals scharf in den Vindiciae contra tyrannos (ca. 1579) fanden, waren die Theorien des Juristen Bartolus (gestorben 1357). Die hier entwickelten Theorien von einem doppelten Vertrag zur Konditionierung königlicher Macht durch die Bindung an Gott einerseits, an das Volk andererseits vermittelten spätmittelalterliche Herrschaftskonzeptionen an die Neuzeit. Möglicherweise haben sie auch unmittelbar Einfluss auf Thomas Hobbes gehabt (Skinner 2002), so wie dieser sich auch mit der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre auseinandergesetzt zu haben scheint (Zimmermann 1996). Hieraus entstand bei ihm eine Theorie des modernen Staates mit einer starken Zentralmacht auf vertragsrechtlicher Grundlage. Er verband dies mit einer legalistischen Gerechtigkeitsdefinition, die unter den Bedingungen neuzeitlicher Staatskonzeptionen an die iustitia legalis des Aristoteles erinnert: Der Mensch sei, so Hobbes, gerecht, indem er die Gesetze befolge und so das Rechte tue. In staatsphilosophischer Hinsicht war damit ein Konzept entstanden, das ganz an der formalen Gerechtigkeit orientiert war. Mit vertragsrechtlichen Theorien konnten sich allerdings auch zunehmend Vorstellungen im Sinne eines Ausgleichs der unterschiedlichen Ansprüche und Interessen entwickeln. Besonders produktiv war hier das Naturrechtsdenken Samuel Pufendorfs.
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Damit war Gerechtigkeit in hohem Maße zu einem verallgemeinerbaren Konzept geworden, das dazu diente, einen Interessenausgleich jenseits der divergierenden Grundüberzeugungen zu erreichen. Ob wie bei Hobbes die unterschiedlichen Positionen im englischen Bürgerkrieg oder wie bei Pufendorf die auseinandergehenden und einander vielfach entgegenstehenden Interessen der Völker und Staaten: Gerade das antike Verständnis eines suum cuique schien eine Norm zu bieten, die Verständigung gewährleisten konnte. Als spezifisch christliche, auf die Nächstenliebe bezogene Dimension wurde Gerechtigkeit dann in der Entstehung der diakonischen Bewegung im 19. Jahrhundert neu entdeckt. Die Herausforderung, dass die offenkundige soziale Ungleichheit ein solches Ausmaß annahm, dass die Funktion des Staates, den Frieden zu sichern, nicht mehr gewahrt und das Seelenheil der sozial an den Rand Gedrängten gefährdet schien, ließ insbesondere in erwecklichen Kreisen aufs Neue die Forderung nach einem spezifisch christlichen Handeln zur Förderung der Unterprivilegierten aufkommen. Dieses Handeln wurde nicht immer im Horizont von Gerechtigkeitskonzepten verstanden, hat sich aber im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zunehmend eben diese Forderung zu eigen gemacht. Der konziliare Prozess für »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« im ausgehenden 20. Jahrhundert ist Ausdruck eben dieser neuen Zuwendung zu einem material gleichermaßen durch das Gebot der Nächstenliebe wie durch die antike Ausgleichsforderung bestimmten Gerechtigkeitsverständnis.
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Systematische Theologie (Dogmatik und Ethik)
Elisabeth Gräb-Schmidt
Gerechtigkeit systematisch-theologisch 1. Gerechtigkeit als Grundbegriff in der abendländischen Philosophie und Theologie – eine Problemexposition in gegenwärtiger Perspektive Der Ruf nach Gerechtigkeit, obwohl immer ein utopischer und visionärer Begriff, taucht auf, wo Unrecht nicht mehr zu übersehen ist, sei es in der Frage nach Menschenrechten, nach Überwindung von Armut und Hunger oder nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Er taucht auf im Rahmen der Globalisierung, in der Frage nach der ökonomischen und ökologischen Gerechtigkeit, nach gerechter Ressourcenverteilung und Emissionsrechten. Zu Recht haben die beiden großen christlichen Kirchen schon im Titel ihres gemeinsamen Wortes von 1997 Gerechtigkeit vorangestellt, und zwar so, dass sie Zukunft, Solidarität und Gerechtigkeit miteinander verbunden haben. Wo immer der Glaube auf dem Prüfstand steht, ist der Begriff der Gerechtigkeit zur Stelle, sei es in der skeptischen Form der Theodizeefrage bei Hiob (42,1–6), als zentrale theologische Kategorie bei Paulus (Röm 8,28f. und Röm 9–11) oder auch bei Jesus selbst (Mk 15,34; Mt 27,46). Seinen Ort hat der Begriff vor allem in der Erwartung des kommenden Heils. Insofern ist Gerechtigkeit letztlich ein eschatologischer Begriff. Als solcher ist er allumfassend und beinhaltet geradezu eine kosmische Dimension. Zu Recht verweisen nun allerdings – und das ist kritisch zu bemerken – die philosophischen, aber auch politischen Ethiken darauf, dass die christliche Theologie den Begriff der Gerechtigkeit
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nicht für sich gepachtet hat. Der christliche Glaube hat zwar die westliche Gesellschaft geprägt und zur Herausstellung der Leitbilder von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde beigetragen. Doch die biblische Botschaft ist in dieser Hinsicht gerade seitens Theologie und Kirche nicht selten verdunkelt worden. Ja, es muss zugegeben werden: »Das Eintreten für Frieden, eine gerechte Ordnung und für gesicherte Menschenrechte hat sich sogar oft von der K irche getrennt, wurde außerhalb der Kirche überzeugender vertreten und ist eine Sache säkularer oder antikirchlicher Bewegungen. Dies anzuerkennen ist ein Gebot kritischer Einsicht« (EKD 1973: 49f.). Neben der theologischen Bedeutung der Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes, als seine gute Gabe, als seine »rettende Gerechtigkeit« (Janowski 2010), mit der er den Menschen durch den Glauben »gerecht« macht (Röm 3,28) und ihn so vor Gott rechtfertigt (Martin Luther), ist die sozialethische Dimension der Gerechtigkeit lange vernachlässigt worden. Beide Dimensionen zusammen zu sehen, die theologische Dimension der Gerechtigkeit Gottes sowie deren Bedeutung für die Bestimmung des Menschen in seinem Sein und Handeln, ist von entscheidender Bedeutung, nicht nur in systematisch-theologischer Hinsicht, sondern auch im Blick auf den praktisch-philosophischen und sozialethischen Diskurs in der Gegenwart. In diesem nimmt der Gerechtigkeitsbegriff eine zentrale Stellung ein (vgl. Rawls; Höffe 2001). Es macht sich darin das verfahrenstheoretische Erbe der Neuzeit, das mit dem Verzicht auf eine metaphysische Bestimmung des summum bonum über rationale Ausgleichsüberlegungen hinausgeht, geltend. Die verfahrenstheoretischen Ansätze in der Philosophie der Gegenwart stehen in dieser Tradition und versuchen, den Begriff der Gerechtigkeit für die Moderne zu präzisieren. Die verfahrenstheoretische Orientierung an Gerechtigkeit wirft jedoch zum einen Fragen auf im Blick auf ihre Tragfähigkeit nicht nur für rechtlich-politische, sondern auch für ethisch-politische Handlungsfähigkeit. Zum anderen tritt die Frage nach Motivation, Verbindlichkeit und Orientierung des Handelns in unbedingter Weise in den Blick. Diese kann nicht über ausgleichende Interessen allein beantwortet werden. Eine Bestimmung des Gerechten im Sinne des summum bonum scheint hier in Anspruch genommen werden zu müssen,
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die sowohl Orientierung als auch Verbindlichkeit und Motivation des Handelns zu garantieren vermag. Das heißt, Gerechtigkeit ist ein einen Grund und ein Ganzes voraussetzender Begriff. Genau im Blick auf dieses Ganze stellt sich nun aber das ethische Problem, das durch ethische Überlegungen allein nicht mehr gelöst werden kann. In der Beantwortung der Frage, was Gerechtigkeit sei, kommt es auch zu Kollisionen sowohl zwischen Einzelnen, zwischen Einzelnen und Gemeinwesen als auch zwischen den Staaten untereinander. Ein Maßstab der Gerechtigkeit liegt nicht offen zutage. Auch durch rationale Überlegungen allein können solche Fragen nicht gelöst werden. Rationale, verfahrenstheoretische Ansätze übersehen, dass Rationalität immer schon von einer sie orientierenden Bestimmung herkommen muss. Verfahrenstheoretisch liegt das ausgleichende Interesse zugrunde. Gerechtigkeit erschöpft sich jedoch nicht im Interessenausgleich. Im Blick auf die Ungerechtigkeit ist es gefordert, über Interessenausgleiche hinauszugehen. Dafür steht der Begriff der Solidarität. Auch Solidarität lässt sich unter den Begriff der Gerechtigkeit subsumieren, aber sie birgt die Rationalität übersteigende Implikationen in sich. Ein der Verweigerung von Rationalität unverdächtiger Philosoph, nämlich Max Horkheimer, sah die Solidarität auf den Gottesbezug verweisend (vgl. Horkheimer 1970). Ohne den Glauben an Gott ist Solidarität nicht möglich. Damit ist zunächst zweierlei gesagt: 1) dass Gerechtigkeit sich nicht durch sich selbst begründen lässt und 2) dass Gerechtigkeit als Vision nicht ausreicht, um sie wirklich werden zu lassen. Beides hängt miteinander zusammen. Gerechtigkeit gemahnt den Menschen an einen trans zendenten Begründungshorizont, der für sie einsteht. Tragfähig ist die Zielvorstellung Gerechtigkeit also nur, wenn sie Verbindlichkeit und Gültigkeit ausstrahlt. Meine These ist, dass ein theologischer Begriff der Gerechtigkeit oder die theologische Dimension des Gerechtigkeitsbegriffs dazu dienen kann, solche entschwundenen Begründungsmöglichkeiten als Horizontbestimmungen zu gewährleisten. Als Horizontbegriff bietet er eine nachmetaphysische Umschreibung der begründungstheoretisch verlorenen Funktion metaphysischer oder sub stanzontologischer Voraussetzungen. Der Begriff der Gerechtigkeit
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kann so die begründungstheoretische Leerstelle verfahrenstheoretischer Konzepte ausfüllen. Damit kann das theologische Verständnis von Gerechtigkeit einen kategorialen Begründungsversuch bieten, der die Ethik zurückbindet an einen schon verloren geglaubten Geltungsbereich, der ihre Verbindlichkeit zu sichern vermag. Das heißt nun aber nicht, dass in der Theologie geleistet werden kann, was in der Philosophie nicht möglich ist, nämlich eine Begründung im Sinne rationaler Letztbegründung. Theologie fungiert nicht als Lückenbüßerin. Sie geht mit ihrem Verständnis von Gerechtigkeit einen anderen Weg, der allerdings auch philosophische Relevanz besitzt. Diese These leitet die Darlegung der folgenden Abschnitte.
2. Der Begriff der Gerechtigkeit in der philosophischen und theologischen Tradition und seine gegenwärtige Relevanz Gerechtigkeit ist der Horizont jedweden Lebens und Handelns. Der Begriff Gerechtigkeit besitzt damit auch für die Ethik in der gesamten abendländischen Tradition fundamentale Bedeutung. Das gilt nicht nur für die Theologie, sondern auch für die Philosophie.
2.1. Die Gerechtigkeitstradition der griechischen Antike in ihrer gegenwärtigen Relevanz Seit der griechischen Antike ist der Begriff der Gerechtigkeit ein Orientierungsbegriff. Er nimmt sowohl die Orientierung am Ganzen des Seins als auch an der Lebensbestimmtheit des Einzelnen auf. Für die beiden großen Philosophen der klassischen Zeit, Aristoteles und Platon, ist Gerechtigkeit ein zentrales Moment der Philosophie, das den Horizont von Denken und Handeln bestimmt. Die Tugend der Gerechtigkeit ist die höchste Tugend der Kardinaltugenden Klugheit, Tapferkeit und Besonnenheit. Sie dient bei Platon dazu, die übrigen Tugenden ins richtige Verhältnis zu setzen. Gerechtigkeit ist gefasst als integrale Tugend, die die
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Wohlgeordnetheit des Ganzen im Blick hat. Gerechtigkeit wird zum grundlegenden Prinzip für das Leben des Menschen und die Ordnung der Polis, indem die Gerechtigkeit dafür sorgt, dass jedem das Seine zukommt (vgl. Platon, Politeia). Platon setzt damit den Begriff der Gerechtigkeit demjenigen der Ehre gegenüber, der adligen Ehrwahrung, die nicht nach Gerechtigkeit fragt (vgl. Flaig 1998: 137). Ein Gemeinwesen ist nur dann gerecht, wenn jeder der Aufgabe nachgeht, die seiner vorherrschenden Begabung entspricht. Diese platonische Bedeutung des Gerechtigkeitsbegriffs als dasjenige, das jedem das Seine zukommen lässt, wurde in der Folgezeit von dem römischen Juristen Ulpian (170–228) zum Grundsatz der ethischen Gerechtigkeit erklärt: Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zuzuteilen (»iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.«; Ulpian, Liber primus regularum, D I,1,10). Eine besondere Bedeutung erhält diese Definition der Gerechtigkeit dadurch, dass sie notwendig mit der Freiheit des Handelns verbunden ist. Das fest vorgegebene Ethos der traditionellen Ordnung wird in die Freiheit des Einzelnen hereingeholt (vgl. Rohrmoser 1969: 1125–1127). Wenn wir unser heutiges Gerechtigkeitsverständnis daran anlegen, erscheint Platons Gerechtigkeitsverständnis wenig an der Regelung der sozialen Beziehungen ausgerichtet zu sein. Sein Thema ist nicht die gerechte Verteilung der Güter, sondern die harmonische Ordnung der Seelenkräfte. Jedoch kann man gerade darin Anklänge an gegenwärtige Gerechtigkeitskonzeptionen entdecken, etwa an den Gedanken der Befähigungsgerechtigkeit, wie er gegenwärtig von Amartya Sen (Capability and Well-Being) und Martha Nussbaum (Human Capabilities, Female Human Beings) entwickelt wurde. Darüber hinaus haben die platonischen Weichenstellungen funktionstheoretische Relevanz für unsere hochspezialisierte und differenzierte Gesellschaft. In dem Gedanken des jedem das Seine lässt sich eine Kritik möglicher Kompetenzüberschreitungen festhalten – so etwa die Ansprüche seitens der Ökonomie, Leitkriterien nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Politik zu entwickeln. Platon bereits sah eine solche Kompetenzüberschreitung in der Vielgeschäftigkeit, die er als das Eindringen partikularer Interessen in
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die Politik wahrnahm und die er als das Grundübel der attischen Demokratie ansah (vgl. Gadamer 1983: 459). Wegweisend für die Differenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs bis in die Neuzeit waren die Überlegungen des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (vgl. Arist.e.N. V). In der Differenzierung von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit wurde der Begriff jedenfalls bereits daraufhin ausgerichtet, wie die Einzelnen jeweils in den Genuss dieser Gerechtigkeit kommen können. Dafür steht der Gedanke der Epikie (Arist.e.N. V, 14, 1137b–1017), der die individuellen Zueignungsmomente reflektiert. Diese aristotelischen Bestimmungen sind in der Moderne weiter konkretisiert worden. Die Leitidee der Gerechtigkeit führt dazu, dass die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme am Gesellschaftsleben haben und die Gesellschaft ihrerseits die Verpflichtung hat, dem Einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen. Dabei bleiben die von Aristoteles gestellten Fragen weiterhin leitend: Wonach bemisst sich eine gerechte Zuteilung des Verschiedenen und der Verschiedenen unter den Gleichen? In jenem platonischen Grundsatz des suum cuique, in dem sowohl Gleichheit als auch Verschiedenheit impliziert ist, in dem es nicht heißt: Jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine, muss genau abgewogen werden, wie denn Gleichheit unter der Prämisse der Verschiedenheit – und gerade das wird als gerecht bemessen – bestimmt werden kann. Verschiedenheit kann gemessen werden entweder nach Leistung oder nach Bedürfnis. Schon in dieser Unterscheidung wird deutlich, dass eine intuitive Beurteilung dessen, was gerecht ist, nicht ausreicht. Des Weiteren zeigt sich, dass das Problem der Gerechtigkeit durch verschiedene Interessen, Zwecksetzungen und Wertordnungen bestimmt ist. Daraus entstehen Folgefragen: Wie lassen sich Maßstäbe setzen, die als allgemein verbindliche Kriterien der Gerechtigkeit gelten können? Gibt es diese überhaupt, oder entscheidet sich Gerechtigkeit allein auf der Ebene der politischen Macht? Es sind solche Fragen und Maßstäbe allgemein verbindlicher Kriterien, die durch das antike Gerechtigkeitsverständnis paradigmatisch gestellt sind und bis heute wiederkehren. Der Grundsatz, der als allgemeingültiger Nenner betrachtet wird, das platonische
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suum cuique, ist dabei aufgenommen, aber nach Maßgabe des Aristoteles auf seine Durchsetzungsbedingungen hin reflektiert. Dies zeigt sich in der Ausdifferenzierung in Freiheitsrechte, politische und soziale Teilhaberechte, in denen sich die verschiedenen Gerechtigkeitsformen der iustitia correctiva, iustitia commutativa und iustitia contributiva widerspiegeln. Es soll nun im Folgenden nicht auf konkrete Gerechtigkeitskonzeptionen eingegangen werden. Der Gerechtigkeitsbegriff soll hier vielmehr hinsichtlich seiner Voraussetzungsbedingung betrachtet werden, nämlich einen Horizont in Anspruch nehmen zu müssen. Von diesem Horizont her – so die These – erhält Gerechtigkeit allererst die Orientierungskraft für das menschliche Leben und Handeln. Gerechtigkeit selbst setzt eine Ordnung voraus, an der die Verhältnisbestimmungen der Einzelnen zueinander und zum Ganzen gemessen werden können. Nur so kann das je zu bestimmende Gerechte bemessen werden. Umso dringender stellt sich aber dann die Frage: Wie kann Gerechtigkeit ihrerseits – als summum bonum – bestimmt werden? Genau nun auf die Möglichkeit einer solchen Bestimmung des summum bonum ist die Leistungskraft einer theologischen Sicht auf Gerechtigkeit zu befragen.
2.2. Die biblisch-theologischen Traditionen des Verständnisses von Gerechtigkeit Ein universales Verständnis von Gerechtigkeit, wie es in der philosophischen Antike im Blick war, prägt auch die biblischen Vorstellungen. Auch für die biblische Tradition ist der Begriff der Gerechtigkeit zentral. Aber sowohl gegenüber einer tugendorientierten Ausrichtung als auch gegenüber einer symmetrischen Ausgleichsbeziehung hatte sie von Anfang an Distanz gehalten. Im Gegenteil: Gerechtigkeit in Form des Gesetzes war geradezu derjenige Begriff, der nach Paulus den Menschen der Unfähigkeit zur Tugend angeklagt hat (Röm 7), und Propheten wie Amos und Hosea machten nicht den Ausgleich, die Wohlordnung und Harmonie, sondern die Asymmetrie der Gerechtigkeit geltend. Gott ist es, der Gerechtigkeit und Recht schafft entgegen menschlichem Ungehorsam und Unrechttun (Am 5; Hos 2).
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Der hebräische Begriff der s edāqāh – wie auch übrigens das ägyptische Wort ma’at (vgl. Assmann 1995) – drückt dabei, insbesondere bei den Propheten, aber auch in der Weisheitstradition und in den Psalmen, das umfassende Handeln Gottes aus, das in der Vorstellung Gottes vom gerechten Richter Gerechtigkeit und Barmherzigkeit miteinander verbindet. Bemerkenswert ist gegenüber der griechischen Tradition also: Es gilt hier eine grundlegende Asymmetrie, die eine Orientierung der Gerechtigkeit an Proportionalität transzendiert (vgl. Janowski 1994). Insofern ist Gerechtigkeit hier nicht an Gleichheit orientiert, dem leitenden Prinzip der aristotelischen Gerechtigkeitsauffassung, sie wird nicht als Tausch, sondern als Gabe und als Beziehungsverhältnis gefasst, denn diese Gabe versetzt zugleich in den Machtbereich Gottes. Gerechtigkeit resultiert aus dem Gottesverhältnis (vgl. Koch 1953; vgl. Schmid 1968). Dafür steht im Alten Testament der Bundesgedanke, der im Neuen Testament aufgenommen und mit der Menschwerdung Jesu Christi ein für alle Mal bestätigt wird. Gerechtigkeit wird aufgrund ihrer Lozierung im Machtbereich Gottes zur befreienden Macht zu gerechtem Tun, das seinen Ausdruck in der Liebe findet (Gal 5,14; Röm 13,8–10). Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit fokussiert die Vorstellung, dass Gerechtigkeit nicht eine Tat des Menschen, nicht seine Leistung und sein Werk ist, sondern dass sie in Gottes Gerechtigkeit gründet, der wir uns öffnen können, die aber keineswegs durch uns herzustellen oder auch nur aufrechtzuerhalten ist. Biblisch verstanden ist Gerechtigkeit damit ein Beziehungsbegriff, der in einer asymmetrischen Beziehung das Handeln ganz auf Gottes Seite setzt. Gott hat die Aufrechterhaltung der Gerechtigkeitsbeziehung zugesagt. Dafür steht der Bundesgedanke. Und für beide Bezüge, sowohl für den Beziehungsgedanken als auch für den Bundesgedanken, gilt: Gott ist der Handelnde und Gebende in einem durch und durch asymmetrischen Beziehungsverhältnis. Diese Asymmetrie konkretisiert sich im biblischen Verständnis von Gerechtigkeit als Barmherzigkeit. Damit sind Weichen für das besondere Verständnis christlicher Freiheit gestellt, so dass vor allem der Tugendcharakter der Gerechtigkeit in den Fokus der Problematisierung rückt. Denn zum einen wird durch den Bezug der Gerechtigkeit zur Freiheit als solcher die
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menschliche Handlungsfähigkeit bejaht, zum anderen wird aber die menschliche Freiheit selbst durch den Gabecharakter der Gerechtigkeit relativiert und damit die Rolle der Tugend problematisiert. Sie wird selbst durch die Gabe der Gerechtigkeit gewährt, die ihrerseits das Verständnis von Gerechtigkeit als Tugend zwar nicht aufhebt, aber erschwert. Der Mensch muss erst befähigt werden zum tugendhaften Verhalten. Zu den philosophischen Tugenden Klugheit, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit treten daher in der mittelalterlichen Tradition (vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae II/II) die drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung ganz im Sinne des genannten erforderlichen Befähigungscharakters. Insofern spielt auf Seiten des Menschen der Glaube eine zentrale Rolle, um überhaupt in den Genuss der Gerechtigkeit zu kommen. Diese Stoßrichtung des biblischen Verständnisses von Gerechtigkeit gegenüber dem griechischen hat theologische Konsequenzen und gegenwartsrelevante Bezüge. Es ist zunächst das Aufbrechen der Gegenseitigkeit, das das biblische über das antike Gerechtigkeitsverständnis hinausführt: Gott schafft Recht entgegen einem Rechtsanspruch des Menschen. Das wird deutlich im Handeln Gottes über die Zeiten hinweg. Damit werden die philosophischen Gerechtigkeitsbestimmungen, sowohl die Gerechtigkeit als integrale Tugend als auch die Gerechtigkeit als einzelne Tugend, nicht aufgehoben, aber in besonderer Weise spezifiziert und qualifiziert, und zwar vierfach: 1) schöpfungstheologisch, 2) bundestheologisch, 3) kreuzestheologisch, 4) eschatologisch. Ad 1) Schöpfungstheologisch orientiert sich Gerechtigkeit an der Gottebenbildlichkeit und an der in dieser begründeten Würde des Menschen. Ad 2) Bundestheologisch wird Gemeinschaft zum Menschenrecht und damit die gerechte Teilhabe an ihr. Das heißt, der Bundesgedanke nimmt in gewisser Weise den Gedanken der Solidarität vorweg als Einbettung des Individuums in die Gemeinschaft zum Wohl des Ganzen und zu bestmöglicher Entfaltung des Individuums. Diese Hinwendung zum Individuum impliziert gerade auch die Hinwendung zum Schwächsten und Schlechtesten. Sie findet im Neuen Testament in der Zuwendung Jesu zum Bedürftigen ihren Ausdruck,
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ebenso wie zuvor im Alten Testament in der Zuwendung Gottes zu seinem auserwählten Volk. Diese inhaltliche Bestimmung der Auserwählung als Kennzeichen der Gerechtigkeit macht an ihr selber deutlich, dass nicht das Große, Starke, Schöne auserwählt wird, sondern das Kleine, Niedrige, Schwache, Hässliche. Ad 3) Dieses Moment der Hinwendung zu den Schwachen als Ausdruck der Erhaltung der Gemeinschaft in Solidarität kulminiert im Kreuz und führt zu einer möglichen kreuzestheologischen Begründung von Gerechtigkeit, die ihrerseits den Grund jeglicher Solidarität bestimmt. Als solche ist sie eine Rechtfertigung all derer, die sich selbst nicht helfen können und die anscheinend selbst noch nichts oder nichts mehr zu der Gemeinschaft beitragen können. Die »outcasts« und »outlaws« der Weltgesellschaft werden hier ebenso wie die Unmündigen und Hilfsbedürftigen jedes Gemeinwesens zu den Geschöpfen Gottes, denen seine erste Zuwendung gilt, zur Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft für alle. »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« (Mt 25,40) Am Kreuz scheiden sich die Geister in die vermeintlich Starken, die sich im Recht fühlen, und die vermeintlich Schwachen, die aber vor Gott Recht bekommen und in seine Gemeinschaft aufgenommen werden. So kommt es zur Umkehrung von Hierarchien. »Aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.« (Mt 19,30) Ad 4) In dieser Umkehrung der Hierarchien zeigt sich die Gerechtigkeit Gottes, die auf die Wohlordnung der Gemeinschaft der Menschen abzielt, die begründet ist in seinem Gemeinschaft-haben-Wollen mit allen Menschen, an der wir bereits jetzt alle teilhaben auf Hoffnung hin. Diese eschatologische Begründung der Gerechtigkeit verweist nicht auf die utopische oder jenseitige Gerechtigkeit, sondern verpflichtet den Menschen, seine eigene eschatologische Existenz auf diese Hoffnung hin zu gründen und sie zu leben, um zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Zusammenfassend lässt sich insofern für das theologische Verständnis von Gerechtigkeit festhalten: Es muss auf die Asymmetrie im Gerechtigkeitsdenken geachtet werden. Für das biblische Denken beider Testamente gilt: Die Barmherzigkeit umgreift die Gerechtigkeit und gibt ihr ihre inhaltliche Zielorientierung. Der
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Mensch ist allein der Empfangende und steht in Gottes Schuld, die unendlich und durch nichts abzugelten ist. Gerechtigkeit ist biblisch ebenso wie die integrale Tugend Platons und die Gesetzesgerechtigkeit des Aristoteles als Horizontbegriff zu verstehen, als summum bonum, aus dem allererst die Kriterien für menschlich »gerechtes« Handeln abgeleitet werden können. Das Festhalten an einem Horizontbegriff als summum bonum, wie er für die Antike und auch das Mittelalter selbstverständlich war, wurde in der Neuzeit und Moderne allerdings problematisch.
2.3. Die Ausdifferenzierung des Begriffs Gerechtigkeit in der Neuzeit und das Weiterwirken von deren verborgenen Voraussetzungsbedingungen in der Gegenwart Der Begriffshorizont der Gerechtigkeit ändert in der Moderne seine Gestalt. Manifest wird dies durch die herausgehobene Stellung der Freiheit. Die Freiheit des Menschen und seine Autonomie rücken ins Zentrum des Denkens und Handelns. Die antike Tradition war orientiert an der Gerechtigkeit als Tugend und kulminierte in dem Gleichheitsgrundsatz des suum cuique. Die neuzeitlich-moderne Gerechtigkeitstradition nimmt diese Orientierung auf, jedoch nun nicht mehr im Horizont des summum bonum, sondern unter freiheitlich-vertragstheoretischem Horizont, etsi deus non daretur. Es ist hier nicht mehr die Freiheit der vernehmenden Vernunft, sondern diejenige der autonomen, selbst setzenden Vernunft. Freiheit wird zum hermeneutischen Angelpunkt aller Verhältnisbestimmungen des Menschen. Damit wird zugleich die Verbindlichkeit der Orientierung an die Rationalität und Freiheit des Menschen gebunden. Für den universalen Anspruch der Gerechtigkeit selber hat dies nun zur Folge, dass er von jetzt an als Dreigestalt begegnet. Gerechtigkeit differenziert sich in: Freiheit – Gleichheit – und dann auch Solidarität. Dies lässt aber die Stelle des summum bonum offen. Sie wird zur Leerstelle. Das wiederum erweist sich als problematisch für die Gerechtigkeit als ethische Kategorie. Meine These ist nun, dass gerade in dieser neuzeitlichen Dreigestalt einer vom summum bonum als metaphysischer Figur ab-
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sehenden Bestimmung genuin theologische Bezüge des Gerechtigkeitsbegriffs sichtbar werden, und zwar sowohl im Begriff der Freiheit, alsdann vor allem auch im Begriff der Solidarität (vgl. Gräb-Schmidt 2011). Damit zeigt sich nicht nur ein Einklagen eines Horizontes angesichts der metaphysischen Leerstelle, sondern gerade in der Berücksichtigungsfähigkeit dieser Konstellation meldet sich die Weite des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs. Zur Verdeutlichung und Plausibilisierung dieser These gilt es, zunächst die metaphysischen Spuren in den neueren Gerechtigkeitstheorien zu verfolgen.
2.3.1. Metaphysische Spuren in den Gerechtigkeitsmodellen der Gegenwart Die Infragestellung von Autoritäten durch die Autonomie der Vernunft in der Neuzeit greift aus auf ehemals unhinterfragbare und unhintergehbare Vorstellungen. Die metaphysischen Hintergrundannahmen einer »Idee« oder Wesensbestimmung des Menschen, eines Willens Gottes, einer Absicht der Natur im Sinne eines Naturrechts werden vertragstheoretisch eingeholt, so bei John Locke (Über die Regierung [1690]), Thomas Hobbes (Leviathan [1651/1668]), Jean-Jacques Rousseau (Vom Gesellschaftsvertrag [1762]) und Immanuel Kant (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1797]). Die Gerechtigkeitstheorien nehmen so die vertragsrechtliche Einstellung auf, die als eine säkulare beziehungsweise ontologieund metaphysikkritische Fortführung der Naturrechtstradition gesehen werden kann. Seither ist Gerechtigkeit die ausgewiesene Leitkategorie politischen und ethischen Handelns. Als Leitkategorie weist Gerechtigkeit aber zugleich über die ethischen und politischen Aspekte hinaus in die kategoriale Dimension der alles Handeln erst ermöglichenden Horizonte des Handelns. Man kann dieses neuzeitliche triadische Prinzip als quasi-metaphysikkritische Verflüssigung der antiken Idee der Gerechtigkeit verstehen. Insofern sind die gerechtigkeitstheoretischen Konzepte gerade nach der damit erforderlichen Auflösung der naturrechtlichen Begründungstradition in der Moderne neu in die Begründungspflicht genommen worden. Dass Freiheit an erster Stelle
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steht, ist kein Zufall. Sie vertritt den kategorialen Horizont, an dem sich die Gerechtigkeitsforderungen der Gleichheit bemessen. Das spiegelt sich in der Entwicklung der Menschenrechte, der politischen Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte wider. Gerechtigkeit heißt jetzt, der Bestimmung des Menschen zur Freiheit und in dieser zur Gleichheit Rechnung zu tragen. Solche Freiheit zeigt sich insbesondere in der Emanzipation des Menschen von normativen Vorgaben, als welche vor allem auch die traditionellen metaphysischen Hintergrundannahmen jetzt erscheinen müssen. Die Freiheit verweist nun aber zugleich auf das neuzeitliche Problem, einen Horizont zu verkörpern, aber als Horizont selbst vage und unbestimmt zu bleiben und letztlich einer Begründung zu bedürfen. Was soll aber die Freiheit begründen? Manifestiert wird der neuzeitliche vernunftorientierte Freiheitsgedanke im Begriff der Selbstbegrenzung. Selbstbegrenzung aus Freiheit, darin kulminiert sowohl das freiheits- als auch das vertragstheoretische Gerechtigkeitsverständnis der Neuzeit. Freiheit muss sich um der Erhaltung der Freiheit und der Beförderung von Gerechtigkeit willen selbst begrenzen. Denn nur das entspricht ihren Konstitutionsbedingungen. Den Selbstbegrenzungsgedanken bringen die verschiedenen Vertragstheorien in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bis hin zu einer höchstmöglichen Interpretation von Autonomie im Selbstbegrenzungsgedanken bei Immanuel Kant, wenn er sagt: »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen geeinigt werden kann.« (Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre – Metaphysik der Sitten, 1. Teil, 230) Im Blick auf Gerechtigkeit heißt das zunächst zweierlei: 1) Gerechte Verhältnisse herrschen nur da, wo die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen zusammen bestehen kann. 2) Freiheit herrscht nur da, wo alle Menschen in ihren Genuss kommen können. Das Problem solcher vertragstheoretischen Ansätze zeigt sich im Kreisen um die Begründungsfrage der Gerechtigkeit, sei es auf der Ebene des Konsenses bei Jürgen Habermas (vgl. Habermas 1992) oder der Fairness bei John Rawls (A Theory of Justice) oder der kommunitären Werte bei Michael Walzer (Spheres of Justice).
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Mit der Rehabilitation der praktischen Philosophie im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts ging daher eine konzentrierte Neubestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs einher. Es deutete sich mit dieser Hinwendung zur praktischen Philosophie über die Gerechtigkeit zugleich der zentrale Stellenwert der Gerechtigkeit nicht nur für die Interpretation von Mensch und Welt an, sondern vor allem für die Orientierungsfrage des Handelns. Aus der Orientierung an Gerechtigkeit gewinnt das Handeln offensichtlich sowohl seine Legitimation als auch die Verpflichtungskraft, ohne die schließlich der Begriff des Handelns sich selbst auflöste. Die genannten Autoren versuchen das Problem des Verlustes naturrechtlicher Gerechtigkeitstheorien zu lösen, indem sie sich formal an verfahrens- und konsenstheoretischen Begründungskonzepten orientieren. Das soll in gebotener Kürze anhand des schon genannten Konzeptes von John Rawls verdeutlicht werden. Rawls möchte auf verfahrenstheoretischer Ebene eine Lösung der metaphysischen Grundlagenkrise finden. Er versucht, im Anschluss an Kant (und Platon) Gerechtigkeit und Moral wieder aneinander zu binden und damit die bei Kant entstandene Lücke im Blick auf eine Begründung von Gerechtigkeit als summum bonum zu schließen. Rawls versucht dies zunächst noch methodisch durch eine Herleitung der Gerechtigkeitsprinzipien aus der Moral, um damit aus der Existenz von Moral auf die Gerechtigkeit selbst zu schließen. Aber weder allein durch Rekurs auf die empirische noch auf die methodische, verfahrenstheoretische Ebene kann es gelingen, jene Begründungslücke zu schließen. Das liegt daran, dass die Orientierungs- und Motivationsfrage des Handelns weder auf empirischer noch auf verfahrenstheoretischer Ebene zu klären ist. Rawls hat zunächst in seiner »Theorie der Gerechtigkeit« von 1971 sein Gerechtigkeitskonzept an einer vorausgesetzten Moralität von Personen ausgerichtet. Damit hatte seine Theorie »die kennzeichnenden Eigenschaften einer Naturrechtstheorie« (Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 549). In der Fortentwicklung löst sich bei ihm die Überzeugung von der Moralität der Person jedoch auf (vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, 42; vgl. ders., Gerechtigkeit als Fairness, 285). Er strebt nun eine realistische, an politischen Zwecken orientierte und keine metaphysische Gerechtigkeitskonzeption
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mehr an. Das Ziel seiner »Gerechtigkeit als Fairness« ist das Konzept eines vernünftigen Pluralismus. Dieses nimmt dezidiert Abstand von einer metaphysischen Begründung von Gerechtigkeit. Eine Verfahrenstheorie soll ohne normative Vorgaben nach rationalen Entscheidungsgrundsätzen die Gerechtigkeit hervorbringen. Sein Programm einer Gerechtigkeit als Fairness möchte Kant mit dem Utilitarismus versöhnen, und zwar nicht, um Kant unter den Utilitarismus zu subsumieren. Vielmehr möchte er das kategorische Interesse der Ethik Kants, die Unbedingtheitsdimension des menschlichen Sollens, bewahren, um dem Universalismus und der Unbedingtheitsdimension der Freiheit auf der einen Seite nachzukommen, nun aber gleichwohl auf der anderen Seite die inhaltliche Zielorientierung des guten Lebens durch den Utilitarismus zu gewinnen. Der Utilitarismus soll jedoch durch Einbeziehung der Universalisierungsprinzipien Kants gereinigt werden von Eigeninteresse. Dazu dient ihm ein »Schleier des Nichtwissens«. Dieser soll den Gleichheitsgrundsatz in die Freiheit der Entscheidung aufnehmen. Der »Schleier des Nichtwissens« soll dazu führen, unpartei liche Entscheidungen zu treffen, um selbst für die am schlechtesten Gestellten einer Gesellschaft ein lebenswertes Leben zu verbürgen. Hinter diesem Schleier sollen Mitglieder der Gesellschaft jene Gerechtigkeitsprinzipien auswählen, die für deren Grundstruktur am besten geeignet sind. Sie sollen dabei weder ihr Geschlecht, ihre ethnische Herkunft oder ihre soziale Lage, noch ihre religiösen und politischen Überzeugungen und die damit verbundenen Konzeptionen des Guten miteinbeziehen, gleichsam als würden sie sie gar nicht kennen. Eine solche Gesellschaft befinde sich im Überlegungsgleichgewicht und führe zu einer Wohlgeordnetheit, die die Stabilität der Kooperation im Gemeinwesen sichere (vgl. ebd., 63–70). Allerdings ist kritisch anzufragen, ob unter demokratischen Bedingungen der an Gleichheit orientierten Gerechtigkeit Rawls’ Konzept eine tragfähige Grundlage bildet, um die mehr und mehr begegnende Ungleichheit aufzufangen, die spätestens im Zuge der Globalisierung massiv in die Gesellschaft eindringt, kulminierend in den Ungleichheitsverhältnissen zwischen Arm und Reich, Inklusion und Exklusion. In Zeiten der Globalisierung verschärft sich
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die Gerechtigkeitsthematik, weil es deutlich wird, dass der Gleichgewichtsmechanismus der Trias Freiheit – Gleichheit – Solidarität sich nicht mehr ohne Weiteres mit der Idee von Gleichheit und Tausch austarieren lässt, und auch die utilitaristische Nutzenfunktion rückt in eine zu langfristige Perspektive, um Tragfähigkeit zu signalisieren. Die globale Dynamik von Inklusion und Exklusion scheint mithin durch vertragsrechtliche und/oder utilitaristische Modelle, als deren Kombination sich schließlich Gerechtigkeit als Fairness versteht, nicht mehr aufzufangen zu sein. Die bleibende Exklusion breiter Bevölkerungsschichten und ganzer Völker lässt sich nicht mehr unter ein solches gerechtigkeitstheoretisches Modell einreihen. Es ist offensichtlich ein Gerechtigkeitsparadigma gefragt, das nicht an Gleichheit, sondern an Verschiedenheit in einer Weise orientiert ist, die über die in der aristotelischen Tradition stehende, proportionale Unterschiede ausgleichende distributive Gerechtigkeit hinausgeht. Deren Hintergrund ist immer die Erfüllung des Gleichheitsparadigmas, das heißt der proportionalen Zuteilung. Jetzt aber stellt sich die Frage: Wie viel Gleichheit ist gerecht? Diese Frage wird gestellt in jenen philosophischen Neuaufbrüchen, die zeigen, dass die an formaler Gleichheit orientierten Konzepte nun durch inhaltliche Bestimmungen nonegalitaristisch profiliert werden müssen, nämlich Vorstellungen von einem Guten und einem Gerechtigkeitssinn. Allein auf verfahrenstheoretischer Grundlage können solche Orientierungen aber nicht ausgewiesen werden. Es rückt das Paradigma des »guten Lebens« in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit dem Achten darauf, was Menschen zu einem guten Leben brauchen, will man gegenüber an politischer Gleichheit orientierten Gerechtigkeitskonzeptionen auf deren Defizite aufmerksam machen. So entwickelt etwa Martha Nussbaum, die an Aristoteles’ Fragen nach dem guten Leben anknüpft, eine Theorie der menschlichen Bedürfnisse und daran anknüpfenden Grundfähigkeiten (capabilities), die von staatlicher Seite zu gewährleisten sind (vgl. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, 57f.). Eine Theorie des Guten, die die Gewährleistung der Ermöglichungsbedingungen für ein erfülltes Leben enthält, wird hier einer Theorie der Gerechtigkeit vorangestellt (vgl. ebd., 41). Solche inhaltlichen Präzisierungen des Gerechtigkeitsbegriffs führen
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daher direkt zur Frage, ob über verfahrens- und freiheitstheoretische Begründungen hinaus ein inhaltlich bestimmter Horizont angenommen werden muss, um die Bedeutung und Funktion des Gerechtigkeitsbegriffs und damit überhaupt die Ethik zu sichern. Diese neue Fokussierung inhaltlicher Horizonte zeigt sich in der Orientierung an der Bedürftigkeit und Fähigkeit (so bei Sen und Nussbaum). Mit dieser Frage nach dem guten Leben rücken aber nun genau jene Dimensionen in den Blick, die im Rahmen einer vertrags- und verfahrenstechnischen Gerechtigkeitstheorie an die »Leerstelle« der unerschwinglichen Hintergrundannahmen gemahnen. Hier meldet sich der Horizontgedanke, der allein Orientierung zu verleihen vermag. Insofern stellt sich im Blick auf die heutigen Debatten über die Gerechtigkeit dennoch die Frage, ob für die Orientierung an Gerechtigkeit über vertrags- und verfahrenstheoretische Ansätze hinaus inhaltliche Bestimmungen ins Spiel gebracht werden müssen, wie sie vor allem auch das biblische Verständnis von Gerechtigkeit eingeklagt hat.
2.3.2. Spuren inhaltlicher Bestimmungen in den Gerechtigkeitsmodellen der Moderne Auf eine solche inhaltliche Bestimmung verweist die asymmetrische Struktur des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs. Es scheint nämlich genau dieser asymmetrische Aspekt, der Gerechtigkeit an Verschiedenheit und nicht an Gleichheit ausrichtet, in der modernen Forderung der Solidarität aufgenommen zu sein. Die Trias Freiheit – Gleichheit – Solidarität ist mit dem Begriff Solidarität auf die Anwendung des Differenzprinzips verwiesen. Jedoch dasjenige Differenzprinzip, das in der philosophischen Tradition als suum cuique seinen bleibenden Ausdruck findet und das bereits bei Aristoteles in der zuteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit im Blick ist, ist in seinem kommutativen und korrektiven Gestus an Proportionalität orientiert und kann damit Solidarität eigentlich nicht beanspruchen. Solidarität impliziert die Anerkennung radikaler Verschiedenheit und verweist auf eine inhaltliche Bestimmung von Gerechtigkeit. Das zeigt sich in den inhaltlichen Bestimmungen des Differenzprinzips der Gerechtigkeit bei Rawls, dann aber auch vor allem im Konzept der Befähigungsgerechtigkeit, des capability approach, bei
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Amartya Sen und Martha Nussbaum (vgl. Amartya Sen, Capability and Well-Being; Martha Nussbaum, Human Capabilities, Female Human Beings). Ihnen geht es um gerechte Eintrittsbedingungen und damit Zugangschancen. Sie klagen damit den Überschuss der Differenz gegenüber der Gleichheit als solidarisches Handeln ein. Diese inhaltliche Bestimmung erinnert gegenüber den neuzeitlichen Gerechtigkeitsprinzipien der Freiheit und Gleichheit an das dritte neuzeitliche Prinzip der Solidarität, das letztlich genau dieses Moment der Asymmetrie im Gerechtigkeitsdenken festgehalten hat. Bemerkenswerterweise führt uns aber die Berücksichtigung der inhaltlichen Dimension, die der Begriff der Solidarität einfordert, über diese partikulare Beobachtung der Bedeutung der Asymmetrie im Begriff der Solidarität hinaus auf den kategorialen Stellenwert der Asymmetrie des Gerechtigkeitsdenkens und zwar indem jener mit den Überlegungen zur Befähigung den Begriff der neuzeitlichen Bestimmung der Freiheit selbst erhellen kann. Das können wir uns folgendermaßen klar machen: Selbstbegrenzung aus Freiheit, darin kulminiert das neuzeitliche Gerechtigkeitsverständnis. Freiheit muss sich um ihrer Erhaltung und der Beförderung von Gerechtigkeit willen selbst begrenzen. Diese aktive Bestimmung der Freiheit als Selbstbegrenzung koinzidiert strukturell mit der passiven Bestimmung der biblischen Gerechtigkeit. Gegenüber dem neuzeitlichen Verständnis von Freiheit als Autonomie ist Freiheit biblisch grundlegend als Passivität beschrieben. Allerdings muss hier berücksichtigt werden: Es geht nicht darum, Freiheit aufzuheben, sondern um die Erhellung ihrer Strukturbestimmung. Diese zeigt sich in einem Angewiesensein auf Befähigung zu Freiheit und Gerechtigkeit. Hier ermöglicht Gottes Gerechtigkeit als Macht und Gabe die menschliche Gerechtigkeit und damit auch die Freiheit, dieser entsprechend zu handeln. Freiheit ist hier begrenzt im Blick auf ihre Konstitutionsbedingungen. Indem biblisch die Gerechtigkeit und mit ihr die Befähigung zur Freiheit Gabe ist, sind wir nicht frei und autonom im Sinne einer Eigenschaft, sondern wir werden zur Freiheit und Autonomie allererst befähigt. Hier ist die grundlegende Passivität im Blick auf die Konstitution unserer Freiheit angesprochen. Dies scheint sich zunächst diametral vom neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu
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unterscheiden. Aber genau diesen theologischen Begrenzungsgedanken grundlegend passiv konstituierter Freiheit kann man im neuzeitlichen Selbstbegrenzungsgedanken wiedererkennen, indem durch die Selbstbegrenzung die Absolutsetzung von Freiheit zugleich relativiert wird. Man könnte insofern sagen, dass der biblische Begrenzungsgedanke, der die Endlichkeit menschlicher Freiheit ausdrückt, nun unter neuzeitlich-autonomen Bedingungen als Selbstbegrenzungsgedanke weiterwirkt. Mit der Bestimmung von Freiheit als Selbstbegrenzung durch Gleichheit und Solidarität verdanken sich so die neuzeitlichen Gerechtigkeitsprinzipien von Freiheit, Gleichheit, Solidarität ursprünglich nicht nur der antiken philosophischen, sondern gerade auch der jüdischen und christlichen Tradition. Gerade im Begriff der Solidarität kommt nämlich wieder zum Vorschein, was durch die philosophische Tradition verdeckt worden war, dass der alttestamentliche Begriff der s edāqāh mit dem griechischen Verständnis von Gerechtigkeit als δικαιοσύνη nur sehr rudimentär aufgenommen worden war. Dieser Begriff bringt die geforderte Asymmetrie nicht deutlich zur Geltung. Im Blick auf gegenwärtige Gerechtigkeitstheorien bedeutete das aber etwa, dass die Einbeziehung des Aspekts der »Fähigkeit«, wie im capability approach von Nussbaum und Sen, noch eine Stufe tiefer angesetzt werden könnte und müsste, um in aller Schärfe die Asymmetrie des Gerechtigkeitsdenkens in Rechnung zu stellen. Dies versucht das Konzept einer Basisgerechtigkeit, die die Inklusion jener, die sich gar nicht aktiv beteiligen können, einfordert (vgl. Frey 2006). Im Einbeziehen einer solchen näheren Bestimmung der Gerechtigkeit als Basisgerechtigkeit, die gerade aufschlussreich ist und sein kann für den in der »Fähigkeit« mitgesetzten Freiheitsgedanken, berührt sich dieses Gerechtigkeitsdenken der Befähigung mit dem christlichen Verständnis von Freiheit als passiv konstituierter. Jene biblische Tradition von Gerechtigkeit und Freiheit kommt nun in der Moderne erneut zum Vorschein, und zwar indem sich hier in der ausdifferenzierten Dreigestalt der Gerechtigkeit das hebräische Verständnis von Gerechtigkeit gegenüber dem griechischen in den gegenwärtigen Gerechtigkeitskonzepten Bahn bricht.
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Dies geschieht eben in der besonderen Betonung der Solidarität. Denn die Solidarität erfordert eine über die Reziprozität des Handelns und Autonomie der Freiheit hinausgehende Begründung. Sie stellt die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen beziehungsweise dem Garanten der Gerechtigkeit. Diese Frage verweist uns auf die religiöse Dimension der Gerechtigkeit als Horizontbegriff.
3. Gerechtigkeit als Horizontbegriff der Ethik – zur Motivation des Handelns und ihren Voraussetzungsbedingungen Spätestens im Zusammenhang der internationalen Gerechtigkeit wird die Motivationsfrage im Blick auf solidarisches Handeln gestellt. Hier lässt sich Gerechtigkeit nicht mehr mit einem Schielen auf das Eigeninteresse herstellen. Genau das ist aber bis heute immer noch die Voraussetzung einer auf Leistung und Ausgleich zielenden Gerechtigkeitstheorie – und damit auch aller utilitaristischen Varianten, die auf dem Interesse basieren (vgl. Singer 1984). Dies gilt gerade auch für diejenigen Theorien, die den Altruismus evolutionstheoretisch auf Egoismus zurückführen. Was soll die Einzelnen dazu veranlassen, solidarisch eigene Vorteile, seien es persönliche oder gesellschaftliche, zugunsten der schlechter gestellten Menschen, Nationen und Völker aufzugeben? Wird also Gerechtigkeit nicht an Gleichheit gemessen, sondern tatsächlich Verschiedenheit im Sinne dessen, was die Solidarität fordert, in die Gerechtigkeitstheorie implementiert, so wird die Klärung der Motivationsfrage unabdingbar. Die Motivation entscheidet darüber, ob es gelingt, Menschen für die Wahrnehmung ungerechter Verhältnisse zu sensibilisieren und ein diesen entgegentretendes Handeln zu initiieren. Genau dies ist jedoch nicht möglich ohne Hintergrundannahmen, die Verbindlichkeit herstellen. Solche Hintergrundannahmen bilden sich aber letztlich nicht ohne Rekurs auf religiöse beziehungsweise metaphysische Überzeugungen – im weitesten Sinne. Hat die Moderne nicht genau diese verabschieden müssen und ist insofern eine Orientierung an Gerechtigkeit als Ho-
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rizontbegriff nicht umso schwieriger, weil nicht nur theologische Überzeugungen, sondern auch philosophische Hintergrundannahmen im Sinne der »großen Erzählungen« (vgl. Lyotard 1979) brüchig geworden sind? Die Motivationsfrage ist nun in der Tat diejenige, die in den modernen Gerechtigkeitstheorien notorisch ausgeklammert wird. Man beschränkt sich darauf, den Universalisierungshorizont der Gerechtigkeitsfrage in den Blick zu nehmen. Rawls will mit seiner Gerechtigkeit als Fairness dieser Frage durch die Verbindung des Utilitarismus mit der kantischen Theorie begegnen, jedoch gelingt dies nur bedingt. Denn der »Schleier des Nichtwissens« dient selbst weiterhin dem Eigeninteresse. Er soll dazu beitragen, dass unter Verfolgung des Eigeninteresses die anderen nicht benachteiligt werden und daher die Motivation auf das Eigeninteresse reduziert bleibt. Letztlich wird die Motivationsebene also auf der naturalen Instinktebene abgehandelt. So etwa auch bei Peter Singer und Thomas Nagel, die in den naturalistischen Bedingungen des Menschen das Gut-sein-Wollen festmachen (vgl. Singer 1984; Nagel 1970). Ebenso gehört hierher die evolutionstheoretische Altruismusforschung. Solche Theorien sind aber ein Rückfall hinter die kulturellen Errungenschaften der neuzeitlichen Theorie der Freiheit.
4. Gerechtigkeit im Horizont von Barmherzigkeit und Liebe. Zur grundlagentheoretischen Relevanz des reformatorischen Gerechtigkeitsverständnisses Das Problem der Angewiesenheit auf metaphysische Hintergrundannahmen, aber ebenso deren Verlust in der Moderne ist nun speziell von protestantisch-theologischer Seite gesehen worden. Der Protestantismus hat sich faktisch und vor allem der Neuprotestantismus theoretisch dem Freiheits- und Individualisierungsgedanken gestellt, der mit der neuzeitlichen Wende metaphysischer und ontologischer Voraussetzungen gegeben war. Solches in der gegenwärtigen Debatte um Gerechtigkeit hervorzuheben ist deswegen von nicht geringer Bedeutung, weil dieser Ansatz es erlaubt, die
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unverzichtbaren Voraussetzungsbedingungen, Horizontannahmen, ohne die eine konsistente Theorie der Gerechtigkeit nicht auskommt, nun nicht in einer metaphysischen Hinterwelt zu verankern und damit die Probleme der Moderne zu ignorieren, sondern ihnen Rechnung zu tragen. Denn sie werden so thematisiert, dass sie die neuzeitliche erkenntnistheoretische Weichenstellung der Verabschiedung metaphysischer Hintergrundannahmen beachten. Zugleich wird aber bei dieser Beachtung eine Differenzierung der theologischen und philosophischen Ebene vorgenommen, die zentral für einen modernen Neuansatz ist. Man muss zwar akzeptieren, dass diese Voraussetzungsbedingungen und Horizonte nicht theoretisch eingeholt werden können. Gleichwohl werden sie aber erkannt als solche, die in der Praxis immer schon in Anspruch genommen werden. Das war bereits Kants Argumentation. Auf ethischer Ebene sind Horizontbegriffe als Praxisbegriffe einzuführen. Das hat etwa Karl Barth erkannt, wenn er auf ethischer Ebene von der Gerechtigkeit als einem Kampfbegriff spricht (vgl. Barth, Kirchliche Dogmatik IV,4 § 78, 347f.). Das heißt aber zugleich, sie sind nicht letztzubegründen. Und damit verweist die Ethik selbst auf die ihr zugrunde liegende transzendente Dimension, insofern sie auf die Geltungs- und Motivationsebene nicht verzichten möchte. Eine solche nicht metaphysische, aber transzendente Dimension der Gerechtigkeit, die auf der praktischen Vollzugsebene sichtbar wird, wird nun seitens protestantischer Theologie im Rechtfertigungsbegriff aufgenommen und im Gewissheitsbegriff konzentriert. Es ist der Kern des asymmetrischen Gerechtigkeitsverständnisses, seine Struktur der Gabe, die uns in der Begegnung mit der Gewissheit teilhaftig wird, die unbedingte Geltung beansprucht. Dabei konzentriert sich der Kern dieser Gewissheit genau auf den Vollzug der Selbsterkenntnis, in der die Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielt. In der Gewissheit verdichtet sich unsere Selbsterkenntnis zu einer solchen, die auf die Gerechtigkeit Gottes angewiesen ist. Das heißt, sie bedarf einer solchen Gerechtigkeit, die sich weder auf unsere Eigenschaften noch Interessen reduzieren lässt, sondern die sich uns mitteilt im Vollzug unserer Gerechtmachung. So erwächst aus dieser Gerechtigkeitserfüllung jene Verbindlichkeit, die sich für ethisches Handeln als unverzichtbar erweist. Es ist
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diese Gerechtigkeitserfahrung der gewissmachenden Gabe, die in der reformatorischen Rechtfertigungslehre festgehalten ist. Sie verweist genau auf die Praxisdimension, durch die allein sich die Vernunft in der Moderne auf metaphysische Hintergrundannahmen beziehen kann. Der in der Rechtfertigung aufscheinende passive Charakter der Gerechtigkeit, die uns immer nur als Gabe widerfährt, gibt uns nun zugleich Aufschluss darüber, dass der begründungstheoretische Fragehorizont der Gerechtigkeit vom Ansatz her verfehlt ist. Das wird durch die uns passiv widerfahrende Gerechtigkeit Gottes zum Ausdruck gebracht, in die wir nur hineingestellt werden können. Das hat nun für den Gerechtigkeitsbegriff als Horizontbegriff zugleich inhaltliche Konsequenzen. Seine Inhalte können nicht antizipiert werden. Sie weisen damit den Fragenden bezüglich der Erkenntnis und der Herstellbarkeit von Gerechtigkeit in seine Schranken. Das ist der springende Punkt in Luthers Wende vom Hass zur Liebe der Gerechtigkeit, wie er sie in seiner berühmten Vorrede zur Wittenberger Ausgabe seiner Opera Latina aus dem Jahre 1545 darstellt: »Wie sehr ich vorher die Vokabel Gerechtigkeit Gottes gehasst habe, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.« (Luther, Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften Luthers, 23) Diese Wende ist begründet in der befreienden Erfahrung, dass wir nicht für die Gerechtigkeit einstehen müssen. Gerechtigkeit erhält als Horizontbegriff gerade damit ihre Funktion. Sie liegt nicht in der Zielvision der zu erstrebenden, von uns selbst herzustellenden Gerechtigkeit – und damit des vorprogrammierten permanenten Scheiterns –, sondern allein in der Motivation, die als Folge der durch Gottes Gerechtigkeit ermöglichten Begegnung mit der Freiheit entsteht. Es ist die Gewissheit der unverstellten Einsicht in die eigene Freiheit, die zu gerechtem Handeln motiviert. Denn diese erfährt sich als Freiheit nicht im Selbstbehauptungswillen abstrakter Freiheit, sondern im Gemeinschaftsaufbau konkreter Freiheit, die von der Gemeinschaftstreue der Gerechtigkeit Gottes autorisiert ist. Freiheit bleibt damit nicht nur gemäß neuzeitlicher Tradition, sondern auch theologisch der menschliche Bezug zur Gerechtigkeit. Die besondere Qualität des Freiheitsbegriffs liegt dabei in der
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Stellung des Horizontbegriffs. Indem sich der Horizontbegriff der Gerechtigkeit reformatorisch verstanden in der Gewissheit zur Geltung bringt, wird dadurch die Freiheit sowohl in ihrer endlich-abhängigen Bestimmung plausibel als auch die in dieser konkreten Bestimmung gegründete Motivation zum Handeln. Das heißt: In dieser Gewissheit der geschenkten Gerechtigkeit ist Freiheit nicht nur als formaler Grund gegeben, sondern zugleich in ihrer inhaltlich-endlichen Bestimmung. Dadurch ist es eine Gewissheit, die über das eigene Gutdünken hinausführt. Nach Luther ist es die Gewissheit, durch unsere Gerechtmachung tatsächlich cooperator Dei zu sein, die in der Rechtfertigungslehre zum Ausdruck kommt (vgl. Luther, De servo arbitrio, WA 18, 754,1–15). Die Gewissheit ist mithin der Grund, der gerade durch deren Inhalt – nämlich gerechtfertigt zu sein – den Hintergrundannahmen Verbindlichkeit und so der Gerechtigkeit Geltung sichert. Wir können festhalten: Das Verständnis von Gerechtigkeit als einer Horizontbestimmung teilt das reformatorische Christentum mit den ontologischen und metaphysischen Bestimmungen der Gerechtigkeit in der philosophischen Tradition. Aber die grundlagentheoretische Bedeutung des reformatorischen Verständnisses von Gerechtigkeit für die Philosophie der Moderne zeigt sich in der rechtfertigungstheologisch bestimmten Gewissheit, die Wahrheit nur in deren Vollzug – eben der Rechtfertigung – aufscheinen lässt. Denn genau dieses, durch die Vollzugsebene nur noch gebrochene Verhältnis zur Wahrheit, das sich als Gewissheit zeigt, teilt das reformatorische Christentum letztlich mit dem metaphysischen Bruch der Moderne. Dass es keinen metaphysisch-begrifflichen Zugang zur Wahrheit gibt, bedeutet aber nicht, dass der Zugang generell verschlossen ist. Allerdings ist er der Verfügbarkeit entzogen. Er unterliegt der Kontingenz der Erfahrung, gewinnt dort aber als Gewissheitserfahrung seine daseinserschließende und daher motivierende und orientierende Kraft. Wahrheit begegnet also nicht auf rationalem Wege, sondern in je bestimmten Erschließungserfahrungen des Gewissens durch das äußere Wort, und zwar durch das inhaltlich bestimmte Wort der Gerechtigkeit Gottes, das sich als Barmherzigkeit und Liebe zeigt. Diese werden mithin zu Ermög lichungsbedingungen der Erfahrung von Gerechtigkeit.
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Gerechtigkeit ist biblisch und reformatorisch verstanden »Gabe«. Das bringt Luther in seiner Rechtfertigungslehre im Anschluss an Paulus zum Ausdruck. Sie ist insofern eine passive Gerechtigkeit, die nicht durch uns hergestellt wird, sondern durch die wir hineinversetzt werden in den Zusammenhang der Gerechtigkeit und Freiheit Gottes. Das entlastet unser Handeln, ohne uns aus der Verantwortung zu entlassen. Diese Verantwortung wird jetzt unter dem Zeichen von Gottes zuvorkommender Gerechtigkeit allerdings nicht als uns bedrängende Forderung und Pflicht verstanden, der wir uns zu entziehen versuchen, sondern die Teilhabe an Gottes Gerechtigkeit verleiht uns allererst die Motivation des Mitwirkens an der guten Schöpfung. Sie lässt uns mitleiden an der Ungerechtigkeit. Aus dem Sollen macht die Zueignung der Gerechtigkeit Gottes, wie sie uns in der Rechtfertigung zuteil wird, ein Wollen. Allen gegenwärtigen Versuchen, die die ethische Aporie auf empirische Bedingungen reduzieren, indem sie den Altruismus auf Egoismus zurückführen, ist das reformatorische Verständnis der Gerechtigkeit überlegen. Denn dieses vermag es, tatsächlich das Interesse des Anderen im Blick zu behalten, ohne sich verbiegen zu müssen oder an der genannten Aporie zu scheitern. Reformatorische Selbstbestimmung ist nämlich in dieser Selbstbestimmung, die ihre Bestimmtheit durch die Rechtfertigung vor Gott empfängt, immer schon am Anderen ausgerichtet.
5. Fazit: Zur Relevanz des reformatorischen Gerechtigkeits- und Freiheitsverständnisses für die gegenwärtige Ethik Das reformatorische Gerechtigkeitsverständnis ermöglicht es, vor dem Hintergrund des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs Gerechtigkeit als Horizontbegriff festzuhalten. Dabei erhebt es Asymmetrie und inhaltliche Verschiedenheit zum Leithorizont der Gerechtigkeit. In der Hinwendung zum Einzelnen, zum einzelnen Volk in seiner Hilfsbedürftigkeit, zum einzelnen Ausgestoßenen, Unmündigen in seiner Not, zu denen an den Rändern des Lebens, wird die Gerechtigkeit erkannt. Luther bringt dieses biblische Verständ-
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nis der Gerechtigkeit Gottes als Hinwendung und Zuwendung zum Einzelnen reformatorisch erneut auf den Begriff. Aufgrund der Bereithaltung eines Horizonts der Gerechtigkeit Gottes ist es möglich, die Hinwendung zum Einzelnen in seiner unverrechenbaren Würde als Ausdruck der Gerechtigkeit zu bestimmen und damit das Umkreisen der Gerechtigkeitsfrage, ihre Einstellung auf die Reziprozität des do ut des, aufzukündigen. Als Horizontbegriff hat der biblische und reformatorische Begriff der Gerechtigkeit daher bleibende metaphysische Relevanz. In seiner protestantischen Form der Rechtfertigung ist dabei der theologische Begriff der Gerechtigkeit nicht nur anschlussfähig an moderne philosophische Gerechtigkeitstheorien und Konzepte, sondern er vermag es, diese in ihrem Suchen nach Verbindlichkeit und Geltung wegweisend zu unterstützen. Die passiv verstandene Gerechtigkeit des Menschen kann damit den neuzeitlichen Prinzipien von Autonomie und Freiheit als Selbstbegrenzung Rechnung tragen. Begründungen müssen nicht aufgegeben, wohl aber entscheidend modifiziert werden. Sie sind keine Letztbegründungen, nicht verallgemeinerbar, sondern an individuelle Gewissheit und an Vollzugsbestimmungen samt der damit einhergehenden Erfahrung gebunden. Christlich verstanden ist Gerechtigkeit nicht unser Werk, sondern von Gott geschenkt, aber mit diesem Geschenk korrespondiert unsere Freiheit, die wir in Antwort auf Gottes Gerechtigkeit vollziehen und so der Gerechtigkeit nachkommen können. In der Begegnung mit der Gerechtigkeit Gottes geht es um nichts anderes als um den Erhalt beziehungsweise die Rückgewinnung menschlicher Freiheit. Für die Gerechtigkeit heißt das: Obwohl unser Gerechtigkeitshandeln eingebunden ist in Gottes Gerechtigkeit und mithin passiv konstituiert ist, entbindet uns diese damit nicht von unserer aktiven Übernahme dieses Gerechtigkeitszusammenhangs. Das impliziert das Einbeziehen der Voraussetzungsbedingungen der Erfassung von Gerechtigkeit. Sie machen deutlich: Wir können Gerechtigkeit weder aus eigener Kraft erlangen noch fordern. Sie ist immer unverfügbare Gabe. Es ist diese Entdeckung der Gabe der Gerechtigkeit Gottes, aus der sich das Recht auf Gemeinschaft mit der darin implizierten Solidarität, wie auch das Recht auf Freiheit mit der darin implizierten Gottebenbildlichkeit und Würde ableitet.
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Insofern sprechen folgende Gründe dafür, dem Begriff der Gerechtigkeit in seiner reformatorischen Fassung grundlagen- und prinzipientheoretische Relevanz zu attestieren: 1) Mit der Rechtfertigungslehre zeigt sich die protestantische Theologie im Blick auf Gerechtigkeitsfragen anschlussfähig an den interdisziplinären Gerechtigkeitsdiskurs, insbesondere aber auch an den neueren philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs und kann dort auf eine Minderung der Aporien bezüglich der Verbindlichkeitsfrage hinweisen, und zwar gerade durch Erinnerung an die biblische Asymmetriebestimmung von Gerechtigkeit, auf deren Leistungsfähigkeit auch gegenwärtige Ethikkonzeptionen der Befähigungsgerechtigkeit stoßen. 2) Insbesondere in der protestantischen Form der Rechtfertigungslehre ist der Begriff der Gerechtigkeit geeignet, ja sogar wegweisend für die Klärung der Anforderungen der gegenwärtigen Ethik. Er leistet es, die Rolle und Funktion nicht nur der theologischen, sondern gerade auch der philosophischen Ethik in der Moderne zu differenzieren und spezifizieren und hat insofern hermeneutische Dignität. 3) Die in der Asymmetrie bedingte Vollzugsdimension von Gerechtigkeit macht ein modernitätskompatibles Begründungsdenken möglich, das sich nicht als rational letztbegründend, sondern als hermeneutisch-erfahrungsorientiert versteht. 4) Mittels des reformatorischen Gerechtigkeitsverständnisses, das die biblischen Wurzeln aufnimmt, kann die Verbindlichkeitsfrage universaler Geltung jenseits ontologischer und metaphysischer Traditionen wieder Raum gewinnen, indem sie über formale Standards hinausgehende inhaltliche Verpflichtungen als tragfähig ausweisen kann. 5) Mit diesen inhaltlichen Bestimmungen sichert sie die Motivationsbegründung unter der Wahrung der Freiheitsthematik. Darin zeigt sich eine nachmetaphysische Rückgewinnung des für die Gerechtigkeitsthematik unverzichtbaren, diese begründenden und erhaltenden kategorialen Horizontes. 6) Allein eine solche inhaltliche Verpflichtung kann die Motivation für ein über das eigene Interesse hinausgehendes Orientierungs- und Handlungspotenzial erbringen. Denn es ist allein die
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Motivation, mittels derer Gerechtigkeit und Eigeninteresse unterschieden werden können. Nur ein Einblick in die Wahrheit der Bestimmung des eigenen Seins schafft Vertrauen auf die Geltung der Menschenwürde als zuerteilter und daher indisponibler Gabe. Und nur diese Einsicht führt zu der Solidarität, die das Eigeninteresse zu einem eigenen Interesse am Ganzen werden lässt.
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Religionswissenschaft
Bärbel Beinhauer-Köhler
»Gerechtigkeit« als religiöses Konzept und seine Varianten im Islam 1. Methodische Vorüberlegungen »Gerechtigkeit« ist ein prominenter Topos der orientalischen, jüdischen und christlichen Religionsgeschichte. Denken wir an Gott als Richter oder als Schicksalsbestimmer. Er wendet sich den Menschen zu, greift über die Entsendung von Propheten, durch Maßnahmen der Strafe oder Verheißung in die Heilsgeschichte ein, wenn auch der göttliche Ratschluss den Zeitgenossen nicht immer unmittelbar verständlich ist, wie z.B. die Sintflut, der Auszug aus Ägypten, das Leiden Hiobs und nicht zuletzt die Kreuzigung. Der Mensch sucht vor diesem heilsgeschichtlichen Horizont durch sein ethisches bzw. den göttlichen Geboten folgendes Handeln »Rechtfertigung«. Er reflektiert seine Taten und hofft, mit diesen vor Gottes Urteil bestehen zu können. Hier eröffnen sich große theologische Fragen wie die der Theodizee, angesichts Erfahrungen erlebter Ungerechtigkeit, die Menschen unterschiedlichen Lebensbedingungen und Prüfungen unterwirft oder gar ihre gesamte Existenz als unsinnig erscheinen lässt. Oder denken wir an die kritische Diskussion der »Werkgerechtigkeit« mit einer vermuteten andersartigen Dimension göttlichen Urteilens. Es ist eine Herausforderung, nach einer Übertragbarkeit dieses topischen Komplexes auf andere Religionen zu suchen. Eine erste Hypothese wäre, dass er sich in strukturellen Analogien tendenziell dann finden lässt, wenn Gottesbild, Zeitkonzept und Soterio-
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Religionswissenschaft
logie ähnlich konstruiert sind. Auch für beispielsweise Muslime ist Allah ‘adl (»gerecht«) vor allem bezogen auf die Vorstellung, dass er am Jüngsten Tag die Menschen unbestechlich richten wird. Die Baha’i sprechen von Gott als »Sonne der Gerechtigkeit« im Kontext des neuen durch die Offenbarung Baha’u’llahs eingeläuteten Zeitalters (vgl. Esslemont 1986: 16). Hier schwingt noch die anfängliche Naherwartung der Babi und Baha’i in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Iran mit und gleichermaßen eine später eher metaphorische Konnotation eines Epithetons des Religionsstifters. Dabei lebt eine Tradition fort, die man ihrerseits weit zurück verfolgen kann bis hin zur ägyptischen ma’at, der vergöttlichten Idee der »Gerechtigkeit«, die beim Totengericht maßgeblich wird. Jan Assmann hat dies in der komplexen innerägyptischen Entwicklung nachgezeichnet (vgl. Assmann 2001). Alle diese Beispiele verbindet die Vorstellung von Gerichtssituationen, einer Überprüfung menschlichen Handelns am Ende eines Lebens, am Ende eines linearen Heilsgeschichtsszenarios im Rahmen individueller oder kollektiver Eschatologie. Wie sieht es demgegenüber im Bereich asiatischer Religionen aus? Benötigt eine Religion ein bestimmtes Gottesbild, Geschichtsund Erlösungskonzept, um im weiteren Sinne eine typische Ethik, ihrerseits orientiert am Begriff der »Gerechtigkeit«, zu entfalten? Bereits im vedischen Indien um 1500 v. Chr. war die Idee der »Ordnung« (r.ta) von Bedeutung (vgl. Eliade 1993: 188–191; vgl. Gonda 1960: 73–84). Sie war damals verbunden mit der Vorstellung vom Gott Varuna, der die Taten der Menschen beobachtet und an den für das gedeihliche Leben im Diesseits gegebenenfalls Opfer als Ersatzleistungen für Verfehlungen geleistet werden mussten. Hiermit liegt im belohnenden oder strafenden Gott eine gewisse Affinität zu den vorderorientalischen Traditionen vor, wenn auch nicht das Jenseits, sondern das Diesseits die Zielrichtung der Auseinandersetzung bildet und der Begriff der Gerechtigkeit im engeren Sinn fehlt. Der ehemals bedeutsame Gott Varuna wandelte sich bereits in vedischer Zeit in einen deus otiosus, während das System der heilsträchtigen Ordnung des kosmischen Geschehens weiterbestand, wobei später r.ta in den Terminus dharma überführt wurde. Bis
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heute markiert dieses ein größeres gesetzmäßig ablaufendes Geschehen aus einem Zusammenspiel von Kasten und ihren Regelwerken. Dieses ließe sich in gewisser Weise mit der Gerechtigkeit im Sinn der ma’at analogisieren. Auch ihr wohnt ein Aspekt der stimmigen und funktionierenden Weltordnung inne (vgl. Assmann 2001: 32). Damit verbunden stellt sich die Frage, wie das Bewusstsein, in einer komplexen Weltordnung zu leben, auf die indische Kultur wirkte und ob auch hier im Versuch, die Ordnung zu erhalten, eine Ethisierung ihrer Träger einsetzte. Axel Michaels betont für die indischen Religionsformen die Vorstellung der Reinheit. Für ihn stehen in der Nachfolge von Mary Douglas die kognitiven Aspekte der Unterscheidung von »rein« und »unrein« im Mittelpunkt. Dabei sind Verunreinigung und Reinheit relationale Kategorien und ein Versuch, »kulturell erworbene, tradierte und erlernte Kategorien und Orientierungen aufrechtzuerhalten […]« (vgl. Michaels 1998: 205). Die Möglichkeit, dass die hinduistischen Kastenregeln die Inder ethisch und moralisch zu einem bestimmten Tun veranlassen, wird in der ethnologisch-indologischen Debatte offenbar weniger diskutiert (vgl. Klostermaier 1996: 113). Sicherlich verändern sich jedoch die Motivationen und Zielrichtungen in einem kulturellen Raum, wie auch Michaels bei empirischen Beobachtungen heute die Fokussierung auf Reinheitsideale vor allem bei den Brahmanen, jedoch sonst selten, umgesetzt findet (vgl. Michaels 1998: 204). Mit der Entstehung des Buddhismus um 500 v. Chr. änderte sich die Zielrichtung des Verhaltens von Gruppen individuell motivierter religiöser Suchender bei gleichzeitigem Festhalten an der Idee des dharma. Ein Befolgen bestimmter ritueller und auch ethischer Regelwerke galt als vorbereitendes Stadium, quasi als »spirituelle Reinigung« auf einem Weg, der als Ziel eine psycho-physische außeralltägliche Erfahrung hatte. In diesem Konzept spielt zwar das persönliche Verhalten gegenüber der Gemeinschaft und den Göttern eine Rolle. Es besteht jedoch kein begriffliches Analogon zur Gerechtigkeit. Kein anthropomorph gedachter Gott wacht über das Verhalten der Menschen und beurteilt dieses als soteriologisch wirksame Instanz. Vielmehr spielt ein ganzes System ontischer Größen im
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dharma zusammen. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich mit diesem auseinanderzusetzen und in einem Komplex von intellektuellem Verstehen und psycho-physisch gesuchter, aber letztendlich intuitiver Erfahrung eine andere Wahrnehmungsebene zu erreichen. Dies wird als »Heil« oder »Erlösung« verstanden. Die Religionswissenschaft hat sich intensiv theoretisch und methodisch mit der Frage der wechselseitigen Übertragbarkeit von Begriffen aus einem religionshistorischen Kontext in andere beschäftigt. In der Auseinandersetzung mit der Religionsphänomenologie kam man immer wieder zu dem Schluss, dass eine solche Übertragung oftmals unbefriedigend bleiben muss. Dies zeigen auch die vorliegenden Überlegungen. Wenn es auch bei komparatistischen Projekten naheliegt und denkbar ist, Termini der deutschen Sprache zu Platzhaltern für zu Erforschendes zu bestimmen, so treten dabei unwillkürlich methodische Schwächen auf: Handelt es sich um zeitlich und geographisch entfernte Religionen, gehorchen diese oftmals ganz eigenen strukturellen Gesetzen, wie etwa die Suche nach »Gerechtigkeit« im Hinduismus und Buddhismus zeigt. Auch bereits das Ausgangsfeld ist überaus komplex, wie es das Spektrum zu Beginn angedeuteter Aspekte des Begriffs »Gerechtigkeit« im religionshistorischen Umfeld des Christentums hat erkennen lassen. Und dabei wurde der etymologischen Komponente noch nicht einmal Rechnung getragen. Denn die hebräischen, »Gerechtigkeit« analogen Termini des Alten Testaments werden schwerlich mit denen der deutschen Sprache und einer auf sie wirkenden vorchristlichen Kultur (vgl. Kluge 2002: 348) gleichzusetzen sein. Wonach soll eine Religionswissenschaftlerin dann im weiten Feld der Religionen und Kulturen suchen? Welcher Begriff von Gerechtigkeit soll für den Vergleich herangezogen werden? Wie kann sie es vermeiden, einzig einen ahistorischen Überblick zu geben, der primär der Illustration der subjektiven Systematik der Forschenden dient (so u.a. die Kritik von Fritz Stolz [vgl. Stolz 1988: 222f.] an der Methode der Religionsphänomenologie). Der Begriff »Gerechtigkeit« wird aus diesen Gründen somit nicht im großen religionsvergleichenden Überblick, sondern im Rahmen einer ihrerseits vielschichtigen religiösen Tradition näher verfolgt, in dem er historisch gesehen
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einen nennenswerten Stellenwert besitzt. Es handelt sich um den Islam.
2. Theoretische Annäherung Der Begriff »Gerechtigkeit« wird zudem im Horizont theoriebildender kulturhistorischer Perspektiven beleuchtet. Jan Assmann benennt in Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten (1990) (vgl. Assmann 2001) das vergöttlichte Prinzip der Gerechtigkeit im Alten Ägypten als zivilisationsstiftenden Ursprung einer durch Ethik und Selbstverantwortung geprägten Kultur. Dies sei ab einer gewissen Stufe der ägyptischen Religionsgeschichte – deutlich dann im Neuen Reich – mit einer Individualisierung des Einzelnen verbunden worden, der sich bei der Bewertung seiner Taten beim Übergang zum ewigen Leben dem Urteil des Osiris unterworfen sah. Damit liegt sicherlich ein religionshistorischer Markpunkt der Religionsgeschichte des Orients vor mit ihrer Betonung einer Gerichtsidee, einer Konzeption des Gerichts und der »Rechenschaft«, die die Menschen dereinst ablegen müssen. Ewiges Leben erlangt, wer das hiesige Leben ethischen Normen gemäß verbracht hat. In der These Assmans schwingt gleichzeitig mit, dass »archaische Religionen« oder Stammesreligionen bzw. volksreligiöse Strömungen, deren religiöse Praxis anders und eher diesseitig orientiert sei, eine kulturhistorische Vorform bilden, in der weniger ethisches Verhalten angelegt sei und das Individuum weniger Rechenschaft ablegen müsse. Assmann folgt Sundermeiers Unterscheidung von »primärer«, gewachsener archaischer Religion und »sekundärer«, gestifteter Religion als Trägerin eines gewissen gesellschaftlich revolutionierenden Impetus. Assmann rekonstruiert große religionshistorische Entwicklungslinien und scheut sich nicht vor dem Begriff der »Evolution« (vgl. Assmann 2001: 281). Er wagt sich aufgrund seines profunden Wissens über das Alte Ägypten an eine dortige »Genealogie der Moral« (vgl. Assmann 2001: 276), die er für wegweisend für die weitere kultur- und religionshistorische Entwicklung Europas hält. Ohne selbst einem evolutionistischen Ansatz folgen zu wollen, muss an dieser Stelle eingeräumt
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werden, dass gute Geschichtsschreibung und auch solche der Religionsgeschichte immer zu einer thesenartigen Zuspitzung neigt, um die großen Verläufe überhaupt aufzeigen zu können. Bei einer Perspektive auf 4000 Jahre ist dies kaum anders denkbar. Edmund Weber hat eine andere Perspektive auf den Komplex, den Assmann vorwiegend hinsichtlich dessen zivilisatorischer Prägekraft wertet. Er bemerkt – vermutlich vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit römisch-katholischer Theologie – eher die negativen Implikationen einer Betonung des Gerichtsgedankens: die Furcht vor dem Urteil beim göttlichen Gericht, das Gefühl des menschlichen Ungenügens, bei Weber gefasst in den Formulierungen der »Werkreligion« oder »Gesetzesreligion« (vgl. Weber 2005: 63f.). Als evangelischer Theologe betont er vor diesem Hintergrund den Gedanken der göttlichen Gnade als erlösende Ergänzung der Richterfunktion. Bemerkenswerter Weise überträgt er diese Perspektive auf den populären und sufisch orientierten Islam, festgemacht am Gottesattribut ar-rahmān (»der Barmherzige«). Die folgende Auseinandersetzung ist angeregt durch diese beiden theoretischen Ansätze: Assmanns Perspektive würde nahelegen, dass der Islam eine Fortsetzung der religionshistorischen Linie ist, die im aufkommenden Gerechtigkeitsverständnis des Alten Ägypten ihren Ursprung hat, mit einer Entwicklung hin zu individueller Ethik und Moral. Bei Weber stellt sich der Islam in breiten Zügen nicht als »gerichtsorientiert«, sondern als »Gnadenreligion« dar. Beide Theorieansätze stehen also antithetisch gegenüber, und es drängt sich die Frage auf, wie der Islam nun einzuordnen sei. Die moderne Religionsforschung bemüht im Gegensatz zur Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung häufig die Formel, dass es »den« Islam überhaupt nicht gebe, ebenso wenig wie »den« Hinduismus, »das« Judentum etc. Dies scheint auch hier naheliegend. Es wäre müßig, eine komplexe Religion vollständig einem bestimmten Typus zuordnen zu wollen. Zu sehr lassen regionale Schwerpunkte und historische Entwicklungen prozessuale Differenzen erwarten, wie sie Assmann ja etwa für Ägypten nachgewiesen hat und auch Weber in seiner Unterscheidung von Orthodoxie und Sufismus kennt.
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Der im Folgenden daher gewählte hypothetische Zugang besteht somit in der Annahme, dass die Vorstellungen im Komplex »Gerechtigkeit« in der Vielfalt des Islam in Verhandlung befindliche unterschiedliche religiöse »Stile« (vgl. Galtung 1983: 303–338; Stötzel/Wengeler 1995) spiegeln, jedoch ohne normativ den Islam von vornherein einem Typus zuzuordnen. Der Begriff »Gerechtigkeit« wird im Sinne eines »Zeichens« untersucht, also im Hinblick auf konventionalisierte, kommunikable und dabei binnenislamisch divergierende Auffassungen des Terminus. Wichtig ist zudem ein Hinweis auf seine Verwendung. Wenn wir hier einen vielschichtigen Begriff in seine Aspekte auflösen, dann entspricht dies einer typischen Methodik der Wissenschaft. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass im islamischen Kulturraum die Wahrnehmung eines solchen Begriffs in der Lebenswirklichkeit eine andere war und ist. Bernard Lewis weist in Die politische Sprache des Islam (2002) zu Recht darauf hin, dass die von ihm bearbeiteten Begrifflichkeiten als Metaphern wirken, d.h. in einer in hohem Maße oral geprägten Kultur in der Poesie und Rhetorik wirkmächtige und emotionalisierende Elemente sind (vgl. Lewis 2002: 27). Dies ist auch für die vorliegenden Ausführungen zu berücksichtigen.
3. Gerechtigkeit in der Periode des entstehenden Islam Im Arabischen ist der als »Gerechtigkeit« zu übersetzende Terminus ‘adl. Allah gilt als der gerechte Richter par excellence. Enthalten sind Konnotationen der Bewertung ebenso wie der Wiederherstellung eines verlorengegangenen Gleichgewichts. Die Kenntnis der altarabischen Gesellschaft verhilft zur Erfassung einer weiteren Nuance. Für die Oasenstädte Mekka und Medina spielte der Handel eine große Rolle; Karawanen machten Station, das Berechnen von Gütern war eine geläufige Kulturtechnik. Entsprechend sieht bereits Charles Cutler Torrey im 19. Jahrhundert darin eine Wurzel der koranischen Motive, die um die »Berechnung« der menschlichen Taten beim Jüngsten Gericht kreisen (vgl. Torrey 1892). Tilman Nagel gelangt bei seiner Analyse koranischer Motive zu einer ähnlichen Beobachtung wie Jan Assmann im Fall der Sta-
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dien der ägyptischen Religionsgeschichte. Im alten Arabien sei ein ethisch-moralisches Bewusstsein, die Idee der »Schuld«, eher mit der kollektiven Sippe verbunden gewesen. Mit dem Koran wird eine Veränderung greifbar, die die Verantwortung für das Handeln dem Individuum überträgt, z.B. in der Sure 23:101: »Wenn man dann in die Posaune stößt, an jenem Tag gilt unter den Menschen keine genealogische Bindung mehr, und sie brauchen einander nicht danach zu fragen.« (vgl. Nagel 1983: 193f.) Gleichzeitig wird die Idee der Fürsprache durch Mittler im Koran deutlich abgelehnt; nur Allah selbst kann sich den Gläubigen gnädig zeigen, so in Sure 2:254 (vgl. Nagel 1983: 196–198). In Sure 53:26 wird im Zusammenhang mit den vorislamischen Göttinnen Allat, Manat und ‘Uzza gedanklich ausgeschlossen, dass diese im Islam die Funktion als Fürsprecherin bei Allah übernehmen könnten. Im Sinne der oben mit Weber angedeuteten Theoriedebatte bezieht auch Nagel eine Position: Er sieht auf Basis seiner Koranstudien keine unauflösliche Spannung in der Kombination der Motive göttlicher Gerechtigkeit und auch Unbestechlichkeit als Richter und gleichzeitig der Güte Gottes. Er erkennt vielmehr eine Verbindung zwischen der Idee der Schöpfung als Geschenk an den Menschen und als Aufgabe einerseits – dabei werde die Güte und Gnade Gottes nach dem islamischen Gottesbildes deutlich – und andererseits der Idee der Abrechnung, indem Allah am Ende der Zeit beurteile, wie die Menschen mit dem ihnen anvertrauten Gut umgegangen seien (vgl. Nagel 1983: 186). Es ist bemerkenswert, dass die Muslime offenbar entgegen der koranischen Tendenz an der Idee der Fürsprache festhalten wollten. In der Hadithliteratur und der populären Frömmigkeit hält sie wieder Einzug, und Muhammad wird in der Vorstellungswelt zur Vermittlerfigur beim Jüngsten Gericht (vgl. Nagel 1983: 198f.). Schiiten dehnen dies auch etwa auf seine Tochter Fatima aus. Dazu später mehr. Ein weiterer Aspekt des Diskurses um den Begriff »Gerechtigkeit« im Koran ist die Spannung zwischen freier Entscheidung des menschlichen Handelns und göttlicher Vorherbestimmung im Sinne der Fürsorge und Schicksalsbestimmung. Auch hier macht sich mit dem Islam eine Veränderung des Weltbilds bemerkbar.
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Im Vorfeld bestand die Idee eines prädestinierenden »Schicksals« bzw. der »Zeit« (dahr). Über verbreitete Divinationstechniken wie Stäbchenorakel oder Vogelflug versuchten die Menschen die Fügungen dieses Schicksals im Vorfeld abzusehen bzw. sahen in diversen Ereignissen zukunftsweisende Omen (vgl. Rotter 1986: 24, 34f.). Wieder ist es Tilman Nagel, der entsprechende Koranpassagen systematisch untersucht hat. Er kommt zu dem Fazit, dass in allen Perioden koranischer Offenbarung, in der mekkanischen wie der medinensischen Periode, die menschliche Verantwortung für das eigene Handeln betont wird. Die Gerichtsidee gründet darauf, dass der Mensch eine echte Entscheidung für sein Handeln fällen kann (vgl. Nagel 1983: 279). Hier liegt offenbar ein gewisser innerer Bruch des koranischen Gottesbildes vor, den wir nur konstatieren können: Gott ist im Koran einerseits ein Schicksalsbestimmer, andererseits legt er das Schicksal nicht so vollkommen fest, dass dem Menschen keine Freiheit des eigenen Willens mehr bliebe. Folgen wir dem Leitgedanken, religiöse Stile im Umgang mit dem Komplex der Gerechtigkeit rekonstruieren zu wollen, dann stellt sich die frühislamische Periode als eine inspirierte Phase dar. Die Gläubigen sahen sich über die als Wunderzeichen empfundenen koranischen Offenbarungen eng mit dem göttlichen Willen verbunden; dies lässt sich als solches durchaus als eine Fortführung der älteren Tradition der Divination sehen. Neu war jedoch der im Juden- und Christentum bereits etablierte und bis in den Alten O rient zurückreichende Gedanke einer Selbstverantwortung für das eigene Tun. Die Folge war eine Ethisierung im Sinne aller im Koran geforderten Tugenden, besonders der sozialen Fürsorge, kombiniert mit einer spirituellen Hinwendung zu Gott. Häufig ist der fast als topisch wahrzunehmende Aufruf zu salāt wa-zakāt (»Gebet und Armenspende«) (vgl. Beinhauer-Köhler 2005: 104f.). Nicht unwichtig erscheint somit, dass die von den Menschen geforderte Ethik nicht als ein Regelwerk im Sinne einer »Gesetzesreligion« für sich steht, sondern in der Regel verbunden mit der geistlichen Hinwendung zu Gott verstanden wird. Beides in Kombination wird von Allah am Jüngsten Tag positiv angerechnet. Vielleicht liegt in dieser koranischen Ausrichtung bereits der Grund, warum im Islam kaum je eine Debatte um »Werkgerechtigkeit« aufkam.
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Da man zunächst in unmittelbarer Naherwartung lebte, wird der Gedanke des Gerichts in seinen bedrohlichen wie belohnenden Aspekten eine deutliche Motivation für das Handeln der Gläubigen dargestellt haben. Allah als der unbestechliche Richter war eine bezwingende Größe, in deren unmittelbarer Nähe man sich wähnte. Aber gleichzeitig wussten auch die frühen Muslime von anderen Aspekten des Gottesbildes. Er war u.a. auch der »Weise« (al-hakīm); im Koran heißt es an diversen Stellen: allāhu a‘lam/»Allah weiß es am besten«, womit angedeutet ist, dass sein Handeln einer eigenen Gesetzmäßigkeit untersteht, die das menschliche Räsonieren übersteigt.
4. Der gerechte Herrscher im Kontext politisch-theologischer Konzepte Von hier aus entfaltet sich der frühislamische gedankliche Komplex in unterschiedliche Richtungen. Als ein Aspekt von Gerechtigkeit wird die gerechte Herrschaft diskutiert. Nicht unähnlich den Ausführungen Assmanns zu einer »vertikalen Solidarität« und Gerechtigkeit (vgl. Assmann 2001: 277f.) wurde auch im Islam eine Verbindung von Herrschertum und Glauben an eine Gerechtigkeit konstituierende göttliche Dimension konstruiert. Doch war die Verbindung weniger eng, da im Islam keine Identität zwischen Herrscher und Gott angenommen und theologisch sogar deutlich abgelehnt wurde. Dennoch war der Aspekt der Gerechtigkeit vom frühen Islam an Teil politischer Diskussionen und später auch des Herrscherkults (vgl. Lewis 2002: 118–120, 166, 224–226). Ausgangspunkt war ein bestimmtes religiös-kulturelles Milieu, nämlich das sich poten ziell politisch und sozial benachteiligt fühlender Gruppen des entstehenden islamischen Großreichs. Klagen über ein »ungerechtes« Verhalten des dritten Kalifen ‘Uthman (regierte von 644–656) Untergebenen und Mitstreitern gegenüber scheinen im Nachhinein zu dessen Ermordung geführt zu haben, dem ersten politischen Mord im Islam. Watt und Marmura entlarven diese Spannung als eine zwischen Städtern und Bürokraten, die das neue Reich organisier-
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ten, einerseits und dem Stammeswesen älterer Prägung andererseits, das sich in Form eines entstehenden Berufssoldatentums benachteiligt wähnte (vgl. Watt/Marmura 1985: 2–4). Es ist bekannt, dass die theologischen Debatten der ersten Jahrzehnte eng mit der Frage der Herrschaft zusammenhingen. Die Entscheidung darüber , wer die umma lenken sollte, war zunächst mit der Frage der religiösen Legitimation verknüpft. Zur Zeit der ersten beiden Kalifen bestand diesbezüglich kein großer Dissens, da sowohl Abu Bakr (regierte von 632–634) als auch ‘Umar (regierte von 634–644) noch dem engen Kreis der frühen Prophetengefährten entstammten. Mit ‘Uthman jedoch gelangte die alte Nobilität Mekkas erneut an die Macht, was teils hinterfragt wurde, da es sich bei ‘Uthmans Verwandtschaft um die Familien handelte, die zuletzt zum Islam übergetreten waren. Aus dieser Spannung heraus entstand eine erste Oppositionsbewegung, die so genannten hawāriğ (»die die Gemeinschaft Verlas soll der Mörder ‘Uthmans gestammt senden«). Aus ihren Kreisen haben. Der vierte Kalif ‘Ali (regierte von 656–661) bezog seine Legitimation aus einer anderen Quelle, nämlich der leiblichen Verwandtschaft mit Muhammad. Zwischen ihm und einem Gefolgsmann und Verwandten ‘Uthmans, Mu‘awiya (regierte von 661– 680), entspann sich der Konflikt, der für die religiös-politische Entwicklung des Islam maßgeblich wurde. Beide konkurrierten um die Herrschaft. Gedanklich spielte auch hier eine Terminologie im Kontext von »Gerechtigkeit« eine große Rolle, wobei in den später greifbaren, auf diese Zeit verweisenden Quellen eine Formel konstitutiv wurde: al-hukm li-llāh (»das Urteil obliegt Allah«). Lexikalisch geht es hier um ein »Urteil« in der Tradition des damaligen Beduinenrechts. Angenommen wird eine moralisch einwandfreie Instanz, die ein allseits zu akzeptierendes Urteil fällt. Hier erwartete man nicht das Endgericht, sondern die diesseitige Entscheidung über die Herrschaftsfrage. Real standen sich beide Thronprätendenten sowohl auf dem Schlachtfeld als auch vor einem mit der Lösung beauftragten Schiedsgericht gegenüber. Watt und Marmura weisen darauf hin, dass die damaligen Anhängerschaften sich die Formel al-hukm li-llāh nicht im Sinne eines Ordals vorgestellt hätten, son-
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dern jede Partei im Bewusstsein des »rechtmäßigen« Anspruchs auf den göttlichen Zuspruch für ihre Seite angetreten sei (vgl. Watt/ Marmura 1985: 6f.). Hier macht sich erstmals ein bis in die Gegenwart hinein zu beobachtendes Phänomen bemerkbar, dass Koran und Islam einer beliebigen innerislamischen Gruppe Raum bieten, sich selbst als Träger des »wahren« und »rechtmäßigen« Islam zu sehen und dies auch kämpferisch zu vertreten. Dies lässt sich etwa mit den Versen 49:9, 9:29 oder 7:87 begründen, letzteres im Wortlaut: »[…] seid geduldig [und wartet zu], bis Gott [dereinst] zwischen uns entscheidet!« (vgl. Watt/Marmura 1985: 7; vgl. Köhler 1998: 89–100). Die göttliche Entscheidung für die eigene Gruppe wird im Aufruf zur Geduld bereits antizipiert. Dieser Gedankengang findet sich mit leichter Verschiebung, auch bezogen auf die Akteure, in der Theologiegeschichte wieder. Er wird einer Richtung zugeschrieben, die man als Qadariya bezeichnete – entgegen ihrer Bezeichnung handelte es sich um Antiprädestinarier. Diese Gruppe verfolgte ein Konzept des freien Willens, das sich auch auf den Umgang mit der Macht erstreckte. Hier wurde eine Formel zum Umgang mit ungerechter, tyrannischer Herrschaft entwickelt: al-amr bi-l-ma‘rûf wa-n-nahī ‘an almunkar (»Auffordern zur Billigung und Abhalten vom Verwerf lichen«). Auch der Mu‘tazila sprach man diese Position zu Beginn des 9. Jahrhunderts zu (vgl. Watt/Marmura 1985: 214). Hier wird ein Feld erkennbar, in dem während der ersten rund zweihundert Jahre des Islam Erwartungen an Herrscher diskutiert wurden. Eine dritte theologische Schule, die Murği’a, enthielt sich der Diskussion um die gerechte Herrschaft bewusst und erklärte, das Urteil über Kalifen wie ‘Uthman und ‘Ali, deren Verhalten in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts bereits im Sinne von »Fallstudien« diskutiert wurde, obliege allein Allah. Das implizierte, dass im Diesseits bei politischer Unzufriedenheit nicht gegen Herrschende vorgegangen werden sollte, vielmehr gelte das, was Gott bestimme (qad.ā), als richtig (rušd) im Sinne von rechtmäßig (vgl. Watt/Marmura 1985: 123). Hier wiederum wird das Primat des göttlichen Urteils und seiner Herrschaft über das menschliche Schicksal betont. Es mag diese Grundhaltung gewesen sein, die im sich etablierenden sunnitischen Islam die ersten vier Kalifen
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als von Gott »rechtgeleitet« idealisierte, und zwar in der ihnen bis heute zugesprochenen Formel al-hulafā’ ar-rāšidūn. am Hof der Seldschuqen, Nizam Der Staatstheoretiker und Wesir al-Mulk (1018–1092), betont in seinem Fürstenspiegel Siyāsat-nāma, dem »Buch der Staatskunst«, die Aufgabe des Herrschers, für Ordnung und Frieden im Land zu sorgen, um dem islamischen Gemeinwesen die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten. Die gerechte politische Herrschaft wird auch bei ihm in enger Verbindung zum Islam wahrgenommen. Deutlich wird dies etwa in seinem Einleitungs kapitel: »Der erhabene Gott erwählt in jedem Zeitalter einen aus der Mitte der Menschen, schmückt und zeichnet ihn aus mit den Vorzügen eines Herrschers, heftet an ihn das Wohl der Welt und die Ruhe der Gottesknechte und verschließt durch ihn das Tor vor Verderbnis, Verwirrung und Aufruhr. Gott erfüllt die Augen der Menschen mit dem Glanze des Auserwählten und ihre Herzen mit Ehrfurcht vor ihm, damit sie in seiner Gerechtigkeit [‘adl, Anm. d. Verf.] die Zeit hinbringen, Sicherheit genießen und die Fortdauer seiner Herrschaft erflehen.« (Niz.ām al-Mulk, Siyāsat-nāma, 5).
Er umreißt auch die Möglichkeit politischer Unzufriedenheit und Unruhen, wonach mit Gottes Hilfe ein neuer Herrscher das Land befriedet: »Die Untertanen fassen alsdann Zutrauen zum Wege des Gehorsams und gehen ihrer Arbeit nach; der Herrscher aber bewahrt sie vor Aufregungen, damit sie im Schatten seiner Gerechtigkeit ruhig ihre Zeit hinbringen.« (Niz.ām al-Mulk, Siyāsat-nāma, 5).
Obwohl die Dynastie der Seldschuqen nicht den Status des Kalifats besaß, klingt in der Wortwahl eine Reminiszenz an das gängige politische Vokabular an. Wiederholt wurde der Kalifentitel in seiner Bedeutung diskutiert. Er beinhaltete die Assoziation des »Stellvertreters Gottes« (halīfat allāh). Die darin anklingende Aufwertung der Person und Überordnung über die übrigen Gläubigen soll von einzelnen Kalifen, so ‘Umar, abgelehnt worden sein. Dieser soll sich nur als »Nachfolger« des »Stellvertreters Gottes«, des Propheten, oder gar dessen Nachfolgers Abu Bakr gesehen haben. Die Konnotation »Nachfolger« ist in dem Terminus halīfa eben falls enthalten (vgl. Lewis 2002: 81–85). Andere Regierende reizten die Assoziationsmöglichkeiten sicher recht bewusst im Sinne
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eines Herrscherkultes aus und ließen sich zudem mit der Ehrenbezeichnung z-ill allāh, »Schatten Gottes«, anreden. Überhaupt ist die Namensgebung ein Feld, in dem den Dynastien Möglichkeiten offenstanden, ihren politischen Anspruch religiös zu legitimieren. Mannigfach sind die Namensgebungen in dieser Richtung, zum Beispiel bei hārūn ar-rašīd ibn al-mahdī (»Aaron, der Rechtgläubige, der Sohn des Rechtgeleiteten«). Es will scheinen, als habe gerade die etwa zweihundertjährige Periode der konkurrierenden Kalifate der sunnitischen ‘Abbasiden in Bagdad und siebenerschiitischen Fatimiden in Kairo eine Fülle derartig symbolträchtiger Herrschertitel hervorgebracht. So bedienten sich die Fatimiden eschatologischer Assoziationen um den Mahdi, »den von Gott Rechtgeleiteten«, der am Ende der Zeit Gerechtigkeit bringen wird, beginnend in Nordafrika mit al-mahdī bi-llāh (regierte von 909– 934) (vgl. Halm 1991) sowie in Mesopotamien etwa ar-rašīd ibn al-mustaršid (regierte von 1135–1136) (»der Rechtgläubige, Sohn des geistlich Geleiteten«). Nicht selten lesen sich die Herrschertitel auch als grammatikalische Spielarten von Listen von Gottesnamen (vgl. Cahen 1987: 344f.; vgl. Schimmel 1995: 25–41), mittels derer die Nähe der Herrscher zur Sphäre Gottes sicherlich sehr bewusst angedeutet wurde. Man ging – und geht in islamisch orientierten Kreisen bis heute – davon aus, dass die politische Herrschaft für soziale Gerechtigkeit zu sorgen hätte und gleichermaßen für ein Umfeld, in dem sich der Islam entfalten könne. Islamische Gesellschaft und »gerechte« Herrschaft nach dem Willen Gottes bilden eine Einheit.
5. Die sunnitische Theologie Die Interdependenz zwischen Politik und Theologie klang oben bereits an, als die Gruppen der Qadariya, Murği’a und Mu‘tazila erwähnt wurden. Angesichts des gewählten Leitgedankens einer Untersuchung des Gerechtigkeitsverständnisses verschiedener Milieus wird im Folgenden der Blick auf die Kreise gelenkt, die mit theologischem Anspruch im Kontext der politischen Ausgangslage diskutierten. Für die ersten islamischen Jahrhunderte nimmt
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man hier im weiteren Sinne religiös und juristisch Interessierte an, die im Umfeld der Moscheen über ein islamgemäßes Leben diskutierten, den Koran lasen und interpretierten und dort angelegte theologische Probleme in zunehmender Feinheit diskutierten. Alle drei oben erwähnten Gruppen sind Vorläuferrichtungen einer sich aus derartigen Kreisen etablierenden sunnitischen Theologie. Eines der behandelten gedanklichen Probleme waren die göttlichen Attribute, und wieder bildete die »Gerechtigkeit« Gottes (‘adl) eine nicht geringe Herausforderung. Diese bestand wie im Falle anderer Attribute zunächst darin, dass die vielfältigen koranischen Gottesbilder oftmals anthropomorphe Assoziationen nahelegten. Dazu gehörte auch die Imagination von Allah als König auf seinem Thron (Sure 20:5), der von dort die Taten der Menschen beobachtet und später richtet, so in einem ausführlichen Gerichtsszenario mit Allah als Makroanthropos, der am Jüngsten Tag in der einen Hand die Erde und in der anderen die Himmel hält (39:67), mit dem ausliegenden Buch der Taten und den Propheten als Zeugen (39:69) sowie Engeln, die den Thron umkreisen (39:75). Den anderen gedanklichen Pol des Gottesbildes brachte die Sure 112 mit der Idee der amorphen Einsheit Gottes in den Versen 3 und 4 zum Ausdruck: »(3) Gott gebiert nicht und wurde nicht geboren (4) und keiner ist ihm gleich«. Diese Distanzierung von der Christologie wurde generell dahingehend interpretiert, dass man sich Allah nicht in menschlicher Gestalt vorstellen dürfe und er streng von der menschlichen Sphäre geschieden als eine ganz eigene Entität existiere. Zusammengefasst wurde dies im theologischen Dogma des tauhīd (»Einsheit«), welche auch »Einzigartigkeit« implizierte. Nicht nur bezogen auf Gott als Richter, sondern auch bezogen auf seine anderen Tätigkeiten, wie die Schöpfung oder – prominent – die Offenbarung des Koran, diskutierte man lange die Frage, wie sich dann die transzendente Einsheit und die Anthropomorphismen zusammen denken ließen. Die Mu‘taziliten, einzelne Theologen und gleichzeitig Rezipienten der antiken Philosophie mit einem Schwerpunkt in Mesopotamien in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, konzentrierten sich besonders auf die Eigenschaft (sifa) der »Gerechtigkeit« Gottes. Die Mu‘taziliten gingen von der Prämisse aus, dass Gott absolut gerecht
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sei; dies war aus seiner Eigenschaft als Richter am Jüngsten Tag abzuleiten. Er könne aber seiner Funktion als Richter nur nachkommen, wenn im Vorfeld die Menschen die Möglichkeit zur freien Willensentscheidung hätten (vgl. Watt/Marmura 1985: 235). Dies stand in einer gewissen Spannung zur gleichzeitigen Annahme der absoluten Güte Gottes. Gedankliche Lösungen des Problems gingen in Richtung einer Differenzierung der Vorstellungen vom menschlichen Handeln, das in zahlreiche Einzelstadien unterteilt wurde. Oder man konzentrierte sich auf das göttliche Tun, dem in dieser theologischen Richtung mehrheitlich unterstellt wurde, dass es am Wohl des Menschen orientiert sei (aslah). Als generelle Tendenz vermieden die Mu‘taziliten eine Einordnung der Attribute als Hypostasen, wie es aus der antiken Philosophie oder christlichen Dogmengeschichte bekannt war. Sie erklärten die Attribute als unmittelbar mit Gottes Wesen (d-āt) zusammenhängend. Die Anthropomorphismen wurden dadurch als gedankliches Problem aufgelöst, dass man sich um eine metaphorische Koranexegese bemühte, die die Hand Gottes beispielsweise als Gnade Gottes interpretierte (vgl. Watt 1962: 63, 66). Für andere blieb dies unbefriedigend, vor allem die bei der Mu‘tazila beliebte Verknüpfung von Gerechtigkeit beim Gericht und Güte Gottes forderte zu Nachfragen heraus. Überliefert ist eine didaktische Erzählung, die das logische Problem aufzeigt: Es waren einst drei Brüder, die alle drei verstarben. Der Erste war gut und kam ins Paradies, der Zweite war schlecht und gelangte in die Hölle, und der Dritte starb als Kind und wurde in ein Zwischenreich befördert. Der Dritte beklagte sich mit dem Argument, hätte er länger gelebt, hätte er sich durch gute Taten das Paradies erarbeitet. Ihm wurde entgegnet, Gott hätte aber vorhergesehen, dass er schlechte Taten auf sich laden würde, weshalb er ihn aus Gnade habe früher sterben lassen. Dies wiederum rief den zweiten Bruder auf den Plan mit der Frage, warum denn dann er nicht als Kind verstorben sei, sondern nun für seine Taten büßen müsse. Die Anekdote zeigt, dass die mu‘tazilitische Kombination von Gerechtigkeit und Güte Gottes zu neuen, kaum lösbaren theologischen Fragen herausforderte (vgl. Watt 1962: 67f.).
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Erst der sunnitische Theologe al-Aš‘arī (gestorben 936) konnte mehrere dieser logischen Probleme lösen (al-Aš‘arī, Maqālāt al-Islamiyīn, 290–293). Dies gelang vor allem durch seine Kompromiss formel bi-lā kaifa (»ohne ›wie‹«). Er ließ die Frage nach den Eigenschaften Gottes als die eines zeitlich bedingten Mysteriums offen: Der Mensch wisse nicht, wie die Anthropomorphismen im Koran zu denken seien. In keinem Fall dürften sie nicht ernst genommen werden und wie durch die Mu‘tazila rein metaphorisch interpretiert werden. Gleichzeitig könne man sie auch nicht rational auflösen. Al-Aš‘arī verwies auf den Jüngsten Tag als Zeitpunkt, an dem sich das Mysterium um die Attribute Gottes klären würde, nämlich dann, wenn der Mensch Gott beim Gericht von Angesicht zu Angesicht schaue. Auch die Spannung zwischen der Idee des gerechten, Willensfreiheit voraussetzenden Gottes und der Vorstellung von einem schicksalsbestimmenden Gott wurde aufgelöst. Aš‘arī prägte den Gedanken ma‘a l-fi‘l (»gemeinsam[es Agieren] bei der Tat«): Gott und Mensch wirken für eine Handlung des Menschen zusammen. Allah bestimmt den Handlungsrahmen, innerhalb dessen er ein Feld für eine menschliche Entscheidung bereitet. In diesem Raum kann der Mensch dann frei zwischen Gut oder Böse wählen. Bezogen auf die Gerechtigkeit wurde damit ein für die Mehrheit der Muslime bis heute gültiger Referenzrahmen festgelegt. Gott hat am Jüngsten Tag die Rolle des Richters; sich das im Diesseits genauer vorzustellen ist müßig, da rational nicht erfassbar. Er ist gerecht und dabei nicht rein »gut«, weil er einen Rahmen für menschliches Handeln schafft, der auch die Möglichkeit zum Bösen bietet. Der Mensch hat in diesem Konzept die Aufgabe, sich ethisch und rituell im Rahmen des Islam zu bewegen. Die Theodizeefrage stellt sich somit nicht. Zusätzlich zu diesem Räsonieren, das logisch-rationalen Kriterien folgte und Gottes Gerechtigkeit zunächst im koranischen und mathematisch genauen Sinne fasste, finden sich auch in den Kreisen der Theologie Überlegungen zur Idee der Gnade Gottes, die den Gerichtsgedanken abschwächt: Muqatil ibn Sulaiman (gestorben 767) prägte in diesem Sinne die Formel: »Wo Glaube ist, da richtet die Sünde keinen Schaden an.« Als narratives Motiv wurde
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dies mit der »Fürsprache« (šafā‘a) Muhammads beim Gericht assoziiert. Abu Hanifa (gestorben 767), der Begründer einer der großen sunnitischen Rechtsschulen, scheint dies als erster formuliert zu haben. So setzte sich eine innerhalb der sunnitischen Theologie verbreitete Annahme durch, allein die Polytheisten, diejenigen, die Allah andere Wesenheiten zugesellten, kämen mit Sicherheit in die Hölle, alle anderen könnten auf Gottes Gnade und die Fürsprache Muhammads zumindest hoffen. Selbst bei al-Aš‘arī findet sich dieser Gedanke (vgl. Watt/Marmura 1985: 137–139).
6. Erwirken göttlicher Gnade im Rahmen der populären Frömmigkeit Auch im Volksglauben waren Überlieferungen beliebt, die Muhammad eine Fürsprecherrolle am Jüngsten Tag zuwiesen. Denkbar wäre, dass sich diese Vorstellung mit einem besonders beliebten Motiv der Sīra (»Prophetenbiographie«) verknüpfte, gemäß dem der Prophet Gott bei seiner Himmelsreise traf und sich mit ihm zugunsten der Gläubigen auf eine moderate Anzahl der Pflichtgebete einigte (vgl. Rotter 1986: 83; Schimmel 1981: 61–78). In der Mystik ergibt sich zudem eine Bündelung mehrerer Motive: Das der Himmelsreise, der größtmöglichen Annäherung eines lebenden Menschen an die göttliche Sphäre, scheint für islamische Gottsucher besonders attraktiv zu sein, wird zahllos aufgegriffen und in der Poesie oder Metaphysik variiert und ausgeschmückt. Der bekannte ostpersische Mystiker ‘Attar (gestorben 1220) etwa besingt in epischen Versen in seinem Ilāhī-nāma (»dem auf Gott bezogenen Buch«) u.a. die Himmelsreise und lässt Muhammad, bei Allah angekommen, nicht wie im Hadith über die Anzahl der Gebete verhandeln, sondern ersetzt dies durch das Motiv der Fürsprache beim Gericht. Muhammad sagt: »Mysterium des Innen und des Außen – Du kennt ja auch mein innerstes Geheimnis: Ich flehe nur für die Gemeinde mein. Ich hab’ eine Gemeinde voller Sünden, Doch alle wissen sie von Deiner Gnade;
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Sie wissen von dem Meere Deiner Güte; – Wie wär’s, wenn Du dich aller nun erbarmtest?« Und Allah antwortet: »Ich habe ganz und gar vergeben, Reiner, So gräm’ dich nicht um die Gemeinde – wisse: Größer ist als die Schuld ja Mein Erbarmen, Wahrhaft unzählbar ist ja Mein Erbarmen!« (vgl. Schimmel 1981: 148f.)
Hier steht in der Tat, wie bei Weber hervorgehoben, das Motiv der göttlichen Gnade im Vordergrund. Ein bestimmtes Milieu hoffte und hofft auf diese, um nicht im Wissen von den eigenen Sünden mit der Hölle rechnen zu müssen. Möglicherweise werden dabei Affinitäten zu kulturell angrenzenden Regionen spürbar: Die indische Bhaktifrömmigkeit gehorcht einem ähnlichen Muster. Hier hoffen Hindus auf die erlösungswirksame Gnade ihrer Götter, die sie aus dem Kreislauf der Wiedergeburten befreien können oder zumindest den karmischen Abstieg infolge negativ wirksamer Taten verhindern sollen. In der Schia ist von einem gewissen Zeitpunkt an die Idee der Fürsprache Teil der orthodoxen Theologie: Allerdings gilt als Fürsprecherin in besonderem Maße die Prophetentochter Fatima. Die Zwölferschia, die sich seit dem 11. Jahrhundert im irakisch-iranischen Raum zunehmend entfalten konnte, kennt in ihren kanonischen Hadithsammlungen Varianten eines Motivs, bei dem Fatima am Jüngsten Tag mit einem beeindruckenden Hofstaat zum Thron Gottes zieht, um ihre Aufgabe der Fürsprache wahrzunehmen: »Und die Ahl al-Bait überlieferten, dass der Prophet gesagt habe: ›Am Tag der Auferstehung nähert sich meine Tochter Fatima auf einer der Kamelstuten des Paradieses […] deren Halfter ist aus Perlen, deren Hufe sind kühl von grünem Smaragd und deren Schweif ist feucht von dem am stärksten duftenden Moschus; ihre Augen sind zwei Rubine. Über Fatima tut sich eine durchsichtige Kuppel aus Licht auf. In deren Inneren befindet sich die Vergebung Allahs und außen seine Barmherzigkeit. Auf ihrem Kopf ruht eine Krone aus Licht, die besitzt siebzig Spitzen und jede Spitze ist mit Perlen und Saphiren besetzt, die leuchten wie die glitzernden Sterne am Horizont. Im Süden sowie im Norden von ihr befinden sich je 70 000 Engel. Gabriel ruft, das Halfter der Kamelstute haltend, so laut er kann: ›Senkt eure Blicke, bis Fatima vorübergezogen ist!‹ Er sprach: ›Sie wird vorüberziehen, bis sie den Thron unseres Herrn erreicht.‹« (Ibn Šahrāšūb, Manāqib āl Abī Tālib, 107f.; vgl. Beinhauer-Köhler 2002: 133–135).
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Die Schia hat eine andere Geschichte der Entwicklung ihres Dogmas als der sunnitische Islam. Die ersten Jahrhunderte bestand kaum eine eigene Orthodoxie, weshalb später auch von anerkannten Theologen kodifizierte Überlieferungen eher populäre Inhalte enthalten. Hinzu kommt der Status der ahl al-bait (»Familie des Hauses [des Propheten]«) und im engeren Sinne der Nachkommenschaft Muhammads als von Gott gesegnet und unfehlbar (ma‘sūm). Die Möglichkeit, beim Gericht mitzuwirken, also das göttliche Urteil zu beeinflussen, ist somit theologisch gerechtfertigt, da die göttliche und menschliche Sphäre durch den Sonderstatus der Nachkommenschaft Muhammads und seiner Nachkommen, der zwölf Imame, nicht so streng geschieden sind. Es fällt auf, dass mit der Prophetentochter in dieser Erzählung auch die göttlichen Attribute der Vergebung und Barmherzigkeit assoziiert werden. Sie sind Teil des Lichtdoms, der sich über der Prophetentochter erhebt. Nebenbei ist der Vorgang der Personifikation göttlicher Attribute, in diesem Fall in einer historischen weiblichen Gestalt, auch als solcher bemerkenswert. Der im Koran noch abgelehnte Gedanke weiblicher Größen als Fürsprecherinnen bei Allah entfaltet sich in der Zwölferschia. Neben der Fürsprache steht sämtlichen Gläubigen ein ganzer Strauß von Möglichkeiten des rituellen Verdiensterwerbs offen, der, wie man annimmt, ebenfalls von Sünden befreiend wirken kann. Dazu zählen etwa die Schlachtung von Tieren im Ramadan, das qurbān-Opfer, das man auch ganzjährig im Rahmen von Gelübden oder als Dank oder auch Ausgleichshandlung vollziehen kann. Die zakāt (»Armenspende«) hat gleichzeitig die Konnotation der spirituellen Reinigung des Spenders. Das Geben und die Hinwendung zum bedürftigen Nächsten eröffnen ein ganzes Feld von Handlungen, die bei Gott als besonders wohlgefällig gelten (vgl. Beinhauer-Köhler 2005: 98–120). Zudem sind Wallfahrtskulte zu nennen. An erster Stelle steht die Pilgerfahrt nach Mekka (hağğ). Sicher handelt es sich um die für die meisten Pilger am schwierigsten umsetzbare der fünf Grundpflichten der Muslime, die zu leisten nicht selten zum Höhepunkt der religiösen Biographie avanciert. Darin mag der Grund liegen, warum volkstümliche Formeln mit der Pilgerfahrt verbun-
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den werden, welche dieser die Sündenvergebung zusprechen: »Der von Gott gnädig angenommene Hajj [bedeutet] – Vergebung der Sünde« (al-hağğ mabrūr d- anab maġfūr). Eine ebenso große Rolle spielt die ziyāra (»Besuch«) der Grabmoschee Muhammads, weil hier der Fürsprachegedanke räumlich greifbar wird. Im Zusammenhang mit der Pilgerfahrt nach Mekka besuchen die meisten Pilger auch Medina mit den Stätten des Wirkens Muhammads. Neben seinem Grab, wo man sich immer wieder an den Propheten wendet und für sich und seine Angehörigen um Fürsprache bittet, ist ein herausgehobener Platz der Grabmoschee die so genannte raud.a (»Garten«). Populäre Hadithe künden von der Vergebung, die derjenige erzielt, der die Stätten besucht. Im präsentisch zu übersetzenden Tempus Perfekt des Arabischen wird dies als eine Tatsache formuliert: »Wer mein Grab besucht, dem gewähre ich meine Fürsprache (šafā‘a)« (man zāra qabrī wağabtu lahu šafā‘atī). Inhaltlich ähnlich lautet: »Zwischen meinem Grab und meinem Garten (raud.a) liegen die Gärten des Paradieses« (mā baina qabrī wa-minbarī raud.atun min riyād. al-ğanna). Eindrucksvolle Belege für diese Art von Frömmigkeit im Rahmen von Hajj und Ziyara finden sich in den Bildquellen, die Ann Parker und Avon Neal im ländlichen Ägypten erschlossen haben. Dort ist eine traditionelle Art der Hausbemalung üblich, bei der Mekkapilger ihre Häuser mit Szenen der Pilgerfahrt und des Besuchs der Prophetenmoschee schmücken. Neben der Moschee mit der grünen Kuppel – der Grabmoschee Muhammads – finden sich nicht selten die oben zitierten Verse (vgl. Parker/Neal 1995: 53, 115f., 37, 73, 75). Insgesamt ist die Idee der Fürsprache sicherlich prominent. Man kann aber kaum postulieren, dass sich darin eine »Gnadenreligion« spiegele. Gerade im populären Islam erweist sich, dass viele Gläubige auf die Vergebung der Sünden existenziell hoffen. Ebenso wenig wie im orthodoxen Islam scheint dies als Automatismus angenommen zu werden. Ansonsten wären die unzähligen, täglich in Varianten genutzten kleinen und großen Möglichkeiten des Erwerbs religiösen Verdienstes nicht zu erklären. Dahinter steht vielmehr ein unauflöslicher innerer Konflikt: Einerseits besteht eine fortwährende Irritation angesichts eigener Regelverstöße bei
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gleichzeitigem Wissen, welches Verhalten Allah eigentlich wohlgefällig wäre. Andererseits wähnt man sich im Vollzug des rituellen Handelns und in der Vergegenwärtigung frommer Verse in der Sphäre Allahs, die die Gläubigen umfängt.
7. Dynamiken des Gottesbildes im Sufismus Der populäre Islam kann nicht als eine große, der Orthodoxie entgegengesetzte Strömung angesehen werden. Vielmehr lassen sich unterschiedliche, auch ihrerseits noch regional und historisch vielfältige Milieus erkennen. Haben wir soeben eher illiterate, oft auch weibliche sowie auf dem Lande lebende Träger einer lebendigen, aber keineswegs von der Dogmatik völlig unabhängigen Volksfrömmigkeit in den Blick genommen, so gilt der folgende Schwerpunkt der Mystik. Die islamische Mystik ist ihrerseits ein außerordentlich vielschichtiges Phänomen. Historisch lässt es sich in seiner Emotionalität zunächst als eine gewisse Oppositionsbewegung zur rationalen Theologie ausmachen. Allerdings sind immer wieder islamische Theologen auch Mystiker gewesen, und die Zeugnisse von Mystikern weisen diese als hochgelehrt und nicht selten religionsphilosophisch bewandert aus. Insofern wundert es nicht, dass sich in diesem Feld unterschiedliche Perspektiven auf und Begriffe von »Gerechtigkeit« finden. Frühe islamische Mystiker hatten einen Hang zur Askese. Hierher rührt vermutlich ihre Namensgebung als »Sufi« von sūf (»Wolle«), eventuell angelehnt an das grobe Tuch, mit dem sich die Mekkapilger wie schon vorislamische Pilger als Zeichen ihrer Askese kleideten. Sie schienen auch vom christlichen Mönchtum beeinflusst zu sein und traten als Gestalten auf, die sich aus der Gesellschaft zurückzogen. Inhaltlich spiegelt sich dies in den Legenden über solche Gestalten, z.B. eine Frau aus dem Südirak, Rabi‘a al-‘Adawiya (gestorben 801). Hiermit liegt ein bemerkenswertes Dokument eines frühislamischen »Diskurses« über Gerechtigkeit vor. Denn Rabi‘a lebte in derselben Region, in der auch die frühe Mu‘tazila ent-
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wickelt wurde. Rabi‘a nun transzendiert das gesamte Gerichtsgeschehen. Sie löst den Glauben an ein Szenario, wie es der Koran schildert, auf. Sie argumentiert, die Furcht vor der Hölle und die Hoffnung auf das Paradies spiegelten nur einen naiven, auf An thropomorphismen des Gottesbildes fixierten Glauben. Sie hingegen fokussiert die völlige Autonomie Gottes, dessen Wirken sie sich gänzlich ergibt. In diesem Sinne lassen sich Legenden in Tad-kirat al-awliyā’ (»Beschreibungen der Heiligen«) von ‘Attar interpretieren. So soll Rabi‘a eines Tages mit einem Eimer Wasser und einer Fackel durch die Straßen Basras gelaufen sein. Befragt, was sie damit vorhabe, soll sie verkündet haben, sie wolle das Höllenfeuer löschen und das Paradies in Brand stecken, damit niemand mehr Allah nur aus Angst vor der Hölle oder im Wunsch nach dem Paradies verehre (vgl. Schimmel 1982: 21). Damit liegt vordergründig eine Affinität zur Mu‘tazila und Denkern wie Hasan al-Basi (gestorben 728) vor, der Sufi und Theologe war. Die Mu‘tazila konzentrierte sich auf das Attribut der Gerechtigkeit Gottes, wollte aber das gesamte Gerichtsszenario nicht wörtlich, sondern metaphorisch verstanden wissen. Wenn auch eine Affinität spürbar ist, so scheinen doch Milieu und Motivation der Distanz zum Gerichtsgedanken mehrschichtig zu sein. Die rationalen Denker der frühislamischen Theologie bewegten u.a. die logischen Probleme um die anthropomorphen Attribute sowie die Gerechtigkeit in Verbindung mit der Güte Gottes. Rabi‘a hingegen verfolgte konsequent eine Glaubenspraxis der Hinwendung zu und Unterordnung unter Gott, wobei sie alle seine schicksalhaften Entscheidungen ergeben annahm – und wäre es auch seine Entscheidung, sie in die Hölle zu verbannen. Diese Haltung fand ihre historische Fortsetzung in Sufi-Kreisen, die sich antinomistisch verhielten. Eine Strömung bezeichnete sich als malāmatīyā (»diejenigen, die Tadel auf sich ziehen«). Als Übung gegen eine möglicherweise selbstgefällige Tugendhaftigkeit verstieß man bewusst gegen islamische Regeln (vgl. Schimmel 1992: 131f.). Andere Sufis lebten außerhalb der Gesellschaft, im persischen Sprachraum als so genannte bī-šar‘ (»Gesetzlose«) bezeichnet (vgl.
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Frembgen 2000). Gemeint sind Peripatetiker, die als Wanderder wische und Besitzlose umherzogen. Verschiedentlich hielten sie sich nicht an die schariatrechtlichen Regeln, etwa das Alkoholverbot. Oder sie gaben auch symbolisch ihrem Leben jenseits der gängigen Formen Ausdruck, indem sie Fetzenkleidung trugen (vgl. Frembgen 1999: 11f.). Der bekannte Mystiker al-Hallaj (gestorben 922) ist in diese große Strömung einzuordnen. Er lebte lange Jahre auf Wanderschaft und erhob sich über das Grunddogma einer Grenze zwischen Gott und Mensch. Er assoziierte sich selbst mit einem Gottesnamen, indem er verkündete: anā l-haqq (»ich bin die Wahrheit«). Auch er befand sich damit wie Rabi‘a auf einem anderen Weg der Auseinandersetzung mit Gott, als die übliche Orthodoxie und Orthopraxie vorsahen. Er wollte die mystische Erfahrung der Gottesnähe zum Ausdruck bringen, auch auf Kosten einer anerkannten dogmatischen Regel. Gottes Richterfunktion schien diese Kreise nicht zu schrecken; eine monokausale Bemessung der Taten wurde offenbar nicht angenommen. Doch es wäre vereinfacht, hieraus zu schließen, der Sufismus sei generell eine Bewegung, die die emotionale Gotteserfahrung in den Vordergrund stelle, auf Gottes Gnade baue und das Gerichtsszenario hintanstelle. Der Theologe al-Gazali (gestorben 1111) gilt nach einer Phase als wandernder Derwisch als derjenige, der theologisch geprägten Islam und innerliche Hinwendung zu Allah vereinte und die Mystik damit hoffähig machte. Denn vor und nach seinen Wanderjahren als Sufi war er ein anerkannter Dozent der damals berühmtesten Madrasa, der Nizamiya in Bagdad. Sein Hauptwerk Ihyā’ ‘ulūm addīn (»Wiederbelebung der Wissenschaften von der Religion«) behandelt in vierzig Kapiteln einen Weg der Annäherung an Gott. Die ersten Stufen bestehen aus Regeln der Orthopraxie, erst gegen Ende ereignet sich eine vertiefte im engeren Sinn mystische Beschäftigung mit Allah, die in einer Auseinandersetzung mit dem Tod kulminiert. Jedoch von Beginn an steht das menschliche Tun im fortwährenden Bewusstsein Gottes und seiner Bewertung des Handelns im Kontext des Gerichts (vgl. Schimmel 1992: 142–144).
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Hier wurde eine auch durchaus zuvor schon greifbare, aber nun reflektierte Basis gelegt, um ein Leben innerhalb der islamischen Gesellschaft zu führen und sich gleichzeitig im Rahmen einer privaten Spiritualität mystisch zu betätigen. Die klassischen Orden entwickelten Leitfäden, die an den Beginn ihrer mystischen Praxis die šarī‘a (»Orthopraxie«) stellten, gefolgt von der Konzentration auf den »Weg« (tarīqa) und gipfelnd in der Erfahrung der »Wahrheit« (haqīqa) (vgl. Schimmel 1992: 148). Der gerechte, die Taten der Menschen beurteilende Gott spielt auf diesem Weg eine elementare Rolle. Hier wird das Gerichtsszenario nicht mehr metaphorisch verstanden. An dieser Stelle sollte als eine Überspitzung dieser Idee eine Richtung benannt werden, die Christoph Pitschke als »skrupulöse Frömmigkeit« bezeichnet (vgl. Pitschke 2010). Er untersucht das Kitāb al-Wara’ des Ahmad ibn Hanbal (gestorben 855), der über die Jahrhunderte zu einem Vordenker für besonders strenggläubige Muslime geworden ist. In dieser Strömung gilt es als erforderlich, motiviert durch die Gerichtsidee, minuziös sämtliche greifbaren Vorgaben eines islamgemäßen Lebens streng umzusetzen. Ähnlich, nur als mystische Bewegung, verfolgt dies auch die Tarīqa Muhammadīya, ein Orden im indisch-pakistanischen Raum, der dem Leben des Propheten in sämtlichen Details nachspürt und die Aktualisierung dessen als mystische Methode anwendet (vgl. Schimmel 1981: 192f.). Von hier aus ergeben sich, wenn auch mit anderer Motivation, nicht zuletzt Bezüge zu einem populären Islamismus, der das Heil der menschlichen Gesellschaft in der Anwendung der Scharia sieht. Auch dabei steht im Hintergrund die Furcht vor dem Gericht.
8. Die Verwirklichung der Gerechtigkeit am Ende der Zeit Ein letzter gedanklicher Komplex um das Thema »Gerechtigkeit« soll näher in den Blick genommen werden. Er wurde zum Kernbestandteil der Vorstellungswelt der Schia, ist aber nicht auf diese zu beschränken. Gedacht wird an eschatologische Konzepte um einen »gerechten Endzeitbringer« (mahdī) (vgl. Lewis 2002: 40, 202f.).
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Die Idee als solche war bereits vor dem Islam bei Juden und Christen geläufig. Nachdem man zunächst Muhammad selbst für einen Vorboten des Endes der Zeiten gehalten hatte, kam die Idee zunächst verstärkt neu in schiitisch inspirierten Kreisen auf. Sie lebten jahrzehntelang in der Situation politisch Deprivilegierter. Im Jahr 661 kam der politische Hoffnungsträger der Schia, Husain, in der Schlacht bei Kerbela’ durch die Truppen des Kalifen Yazid um. Nach dieser Enttäuschung konzentrierte sich die Anhängerschaft der Familie ‘Alis auf seinen dritten Sohn Muhammad (gestorben 700), den er nicht mit der Prophetentochter Fatima, sondern einer weiteren Frau hatte, die allein namentlich als al-hanafīya in Erinnerung geblieben ist. Im Werk des kufischen Chronisten Abu Mi khnaf (gestorben 774) ist von diesem Muhammad als »Rechtgeleitetem« (mahdī) die Rede, zunächst offenbar noch ohne endzeitliche Konnotation. Er war derjenige, auf den die Schiiten ihre irdische politische Hoffnung lenkten. Er selbst kam dem Ansinnen seiner Anhänger jedoch nicht nach, die Bewegung scheiterte. In der Folgezeit jedoch vernetzten sich Elemente schiitischer Frömmigkeit zu einem bis heute gültigen Tableau: Es entstand die Idee, dass der Mahdi nach seinem Tod weiterlebte, und zwar entrückt auf dem Berg Radwa bei Medina. Am Ende der Zeit werde er wiederkommen und den Unterdrückten zur ihnen rechtmäßig zustehenden Rolle verhelfen. Er werde ein glückliches Zeitalter der Gerechtigkeit (‘adl) einleiten, das dem Endgericht vorausgehe (vgl. Halm 1988: 22–25). Die Endzeitvorstellungen, die immer wieder aktualisiert wurden und auch in sunnitischen Kreisen wenig anders zum Ausdruck kamen, verbanden sich ganz offensichtlich auch mit dem weiter vorne vorgestellten Komplex um die gerechte irdische Herrschaft. Dies ermöglichte die immer wiederkehrende Wahrnehmung, in einer politisch und wirtschaftlich besonders desolaten Situation sei es angemessen, gegen tyrannische Potentaten vorzugehen; Führungspersönlichkeiten solcher Bewegungen wurden und werden immer wieder mit dem Mahdi assoziiert.
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9. Der Zeichenkomplex um das Konzept der Gerechtigkeit Als Fazit lässt sich keine evolutionistische Tendenz der islamischen Geistes- und Moralgeschichte, etwa im Sinne einer fortschreitenden Ethisierung der Muslime infolge der Idee der Gerechtigkeit, ausmachen. Die Beobachtungen lassen sich eher als ein »Netz« oder eine »Textur« umschreiben. Ausgehend vom koranischen Bestand entfalteten sich verschiedene Wege islamischer Beschäftigung mit dem Konzept der Gerechtigkeit. Prominent blieb dabei immer das heilsgeschichtliche Szenario um das Gericht und Allah als gerechten Richter. Dieses wurde in der diesseitigen politischen Sphäre in Verbindung mit der »gerechten« Herrschaft gebracht und ist bis heute Bestandteil politischer Konzepte, die das islamgemäße Leben zum Wohle der Gemeinschaft garantieren sollen. Ein analoges Konzept wird am Ende der Zeiten angesiedelt und mit der Gestalt des »rechtgeleiteten« Mahdi assoziiert, der die irdische gerechte Ordnung im Sinne Allahs wieder herstellen soll. Zudem setzten sich verschiedene Milieus ihren intellektuellen Zugängen gemäß jeweils eigenständig mit dem Begriff »Gerechtigkeit« auseinander. Für die einen bildete er eine logisch-rationale Herausforderung angesichts der Debatte um die Attribute Allahs. Andere schmückten die Gerichtssituation in farbenprächtigen narrativen Motiven aus. Viele sahen und sehen sich in unterschiedlichem Maße durch das verheißene Gerichtsszenario motiviert, ihre Lebensweise im Sinne einer korrekten Befolgung orthopraxer ethischer Regeln zu gestalten. Oder man nähert sich Allah auf den Wegen der Volksfrömmigkeit oder hofft auf seine Gnade. Bis heute durchgehend scheint jedoch die Auseinandersetzung mit dem Gericht und auch der Gerechtigkeit Gottes im Bewusstsein der Muslime eine wichtige Rolle zu spielen. Immer noch scheint die schon im Alten Ägypten nachweisbare Fokussierung auf das Gericht ihre Wirkung zu entfalten.
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›Gerechtigkeit‹ – Thema und Reflexionsperspektive der Praktischen Theologie 1. ›Gerechtigkeit‹ – (k)ein praktisch-theologischer Grundbegriff ›Gerechtigkeit‹ ist auf den ersten Blick kein einschlägiger Begriff der praktisch-theologischen Diskussionslandschaft. Gleichwohl begegnet er im Rahmen der praktisch-theologischen Reflexion auf zwei Ebenen. Zum einen verlangt der Begriff der Gerechtigkeit überall dort Berücksichtigung, wo die Praxis selbst auf ihn bezogen ist (2.). Inwiefern ›Gerechtigkeit‹ ein Thema der christlichen Predigt ist, liturgische Texte darauf Bezug nehmen, inwiefern ›Gerechtigkeit‹ als thematischer Aspekt im seelsorgerlichen Gespräch begegnet oder eine Fragestellung des evangelischen Religionsunterrichts ist – all das sind Fragestellungen der materialen Gestalten der praktisch-theologischen Teildisziplinen: der materialen Homiletik (2.1.), der materialen Liturgik (2.2.), einer an den Inhalten der Seelsorge orientierten Poimenik (2.3.) und der Didaktik des Reli gionsunterrichts (2.4.). Zum anderen begegnet der Begriff der Gerechtigkeit auf der Ebene der theoretischen Rekonstruktion zweier zentraler Bereiche christlich-religiöser Praxis. Sowohl die Diakoniewissenschaft (3.1.) als auch die Religionspädagogik (3.2.) rekurrieren bei der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches explizit auf den Begriff der Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeitsbegriff fungiert hier als zentrale Kategorie praktisch-theologischer Reflexion. Wodurch diakonisches
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Handeln motiviert ist und worauf es abzielt, lässt sich nicht ohne Rekurs auf die Idee der (sozialen) Gerechtigkeit bestimmen; ebenso bedarf die Reflexion auf das christliche Verständnis von Bildung der Berücksichtigung der Idee der Gerechtigkeit, denn nur unter der Berücksichtigung des Begriffs der Bildungsgerechtigkeit lässt sich begreifen, was Bildung aus christlicher Sicht bedeutet. Schließlich zeugt die Idee der Gerechtigkeit auch von kybernetischer Relevanz (3.3.). Die kirchentheoretische Einsicht in die Vielgestaltigkeit von Kirchenmitgliedschaftsprofilen, Frömmigkeitskulturen und religiösen Sozialisationen wirft neu die Frage auf, wie es kirchlichem Handeln gelingen kann, den unterschiedlichen Beteiligungsformen und Erwartungshaltungen ›gerecht‹ zu werden, ohne ein bestimmtes Kirchenmitgliedschaftsprofil zum alleinigen oder bevorzugten Maßstab kirchlicher Praxis zu machen.
2. ›Gerechtigkeit‹ als thematische Bezugsgröße christlich-religiöser Praxis 2.1. ›Gerechtigkeit‹ als Thema der christlichen Predigt ›Predigt‹ ist ein performativer Akt, eine ›Performanz‹, ein flüchtiges Ereignis, das sich im synchronen Zusammenspiel zwischen Predigerin und Predigthörerinnen vollzieht. Der Predigerin entsteht dabei die Aufgabe, mittels Sprache solche Erfahrungsräume zu errichten, in denen sich Zuhörende nicht nur mit ihren eigenen Erfahrungen wiederfinden und wiedererkennen können, sondern auch konfrontiert werden mit fremden Erfahrungen – solchen, die anrühren, mitnehmen, bewegen, oder auch solchen, die bedrücken, abschrecken oder verstören. Derart gestaltete Predigten können für den Einzelnen zum Ereignis werden, zum herausgehobenen Moment, der bereichern, bestärken und erneuern, aber auch kritisch herausfordern und neu orientieren kann. Predigten können auf diese Weise Interpretationsräume eröffnen, in denen sich die Hörerinnen und Hörer mit ihrem je eigenen Lebenskontext einfinden und auf der Folie biblischer Texte neue Deutungsmuster für ihr Leben und für ihren Glauben, für ihr Selbst- und für ihr Weltver-
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ständnis erproben können, sich bisheriger Interpretationsmuster vergewissern oder ihnen auch eine Absage erteilen können. Über Gerechtigkeit zu predigen, fordert den Prediger dazu heraus, solche Erfahrungshorizonte sprachlich in Szene zu setzen, in denen gerade dieses Thema in seiner lebensweltlichen Relevanz begegnet: etwa als Frage danach, ob und inwiefern Gott gerecht ist – auch oder gerade angesichts der Erfahrung von Leid und Ungerechtigkeit in der Welt –, als Frage nach der Bewältigung von Erfahrungen eigenen Scheiterns und nach dem Umgang mit eigener oder fremder Schuld, als Sehnsucht nach der Überwindung ungerechter Zustände in der Welt und dem gerechten Zusammenleben unter den Menschen. Nicht nur hinsichtlich des thematischen Fokus, sondern auch im Blick auf die jeweilige Aussageintention spannt sich dabei ein weiter Horizont an sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten auf. Aufgabe der materialen Homiletik wäre es dabei, die Vielfalt möglicher thematischer und intentionaler Schwerpunktsetzungen theoretisch fundiert herauszuarbeiten und mit dem homiletischen Diskurs in Beziehung zu setzen. Ausgangspunkt wäre hierfür zunächst, die tatsächliche Predigtpraxis – die aus vergangenen Zeiten ebenso wie die der Gegenwart – ausschnittsweise auf das Thema Gerechtigkeit hin zu analysieren und Kriterien zu rekonstruieren, mit denen sich die Vielfalt thematischer Zuspitzungen und Intentionen sortieren und homiletisch interpretieren ließe. Eine solche inhaltlich ausgerichtete materiale Homiletik gibt es bislang nur ansatzweise. Die materiale Homiletik zählt zu den Desideraten praktisch-theologischer Forschung. Die Vielfalt von Predigtinhalten und Predigtabsichten sei daher im Folgenden lediglich andeutungsweise und skizzenhaft am Beispiel einer Fastenpredigtreihe nachgezeichnet, die im Berliner Dom im Jahr 2009 zum Thema Gerechtigkeit gehalten wurden (die Predigten sind als Download im Predigtarchiv der Homepage des Berliner Doms verfügbar: www. berlinerdom.de). Unter dem Thema ›Gerechtigkeit erhöht ein Volk‹ loteten prominente römisch-katholische und evangelische Gastprediger und -predigerinnen aus, wie sich auf der Grundlage der biblischen Texte das Thema Gerechtigkeit in den Erfahrungsraum des Alltags einzeich-
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nen und dabei immer wieder auch regelrecht gegen den Strich bürsten lässt. Als Textgrundlage dienten dabei: Ps 103; Mt 20,1‒16; Gen 18,22–33; Eph 4,17‒24; Mt 5,6.10; Röm 1,16.17 und Jes 58,7‒12. Die Beobachtung, dass sich die biblische Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes mit dem popularen Verständnis von Gerechtigkeit nicht ohne weiteres in Deckung bringen lässt, ist Ausgangspunkt einer Predigt über Psalm 103 und das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Mt 20,1–16 (Wanke, Predigt über Psalm 103 und Matthäus 20,1–16). Mit dem Ziel, die Gerechtigkeit Gottes im Rahmen ihres Konnexes mit der göttlicher Gnade zu deuten, verweist der Prediger auf die »unaufhebbare Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit«: Dass Schuld überhaupt vergeben wird und bei Gott »Gnade vor Recht ergeht«, verletze »zutiefst unseren Gerechtigkeitssinn«, so der Prediger am Sonntag Invokavit (ebd. 3). Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zeige, dass Gott gerecht und »noch mehr als gerecht« ist. Gottes Gerechtigkeit übersteige unser Gerechtigkeitsempfinden, denn sie »gibt ›umsonst‹. Sie ist gratis. Es ist eine Gerechtigkeit, die nicht uns, sondern ihn bluten lässt.« (ebd. 5) Der Zusammenhang von Gottes Gerechtigkeit und dem gerechten Handeln der Menschen steht im Fokus einer Predigt über Gen 18,22–33. Indem der Prediger die Erzählung von Abrahams Fürsprache für die Gerechten von Sodom letztlich christologisch ausleuchtet, zielt auch er zunächst darauf ab, die mit dem Gerechtigkeitsbegriff verbundenen Aspekte von Strafe und Versöhnung aufeinander zu beziehen. Auf Abrahams Frage an Gott, ob dieser den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen wolle, so dass der Gerechte gleich sei wie der Gottlose, lässt der Prediger Gott antworten: »›Ja! Ich habe den Gerechten für die Gottlosen umgebracht; so dass die Gottlosen nunmehr gleich sind wie der Gerechte.‹« Und fügt hinzu: »Das ist geschehen. Es verschlägt uns und jedem, der wie Abraham mit dem Problem der Gerechtigkeit vor Gott tritt, den Atem. Es bringt unsere Auffassung von Gerechtigkeit und unser Bild von Gott und vom Menschen durcheinander, so sehr, dass wir sogar wünschen möchten, es sei nicht wahr.« (Levin, Predigt über Genesis 18,22–33 1) Die »bohrende Menschheitsfrage«, ob »der Richter aller Welt nicht gerecht richte[t]«, werde durch das
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Geschehen am Kreuz »ein für allemal zum Schweigen« gebracht: »Ja, der Richter aller Welt richtet gerecht! Aber er tut es auf seine Weise. Und damit lehrt er uns auf neue Weise, was Gerechtigkeit ist.« (ebd. 2) Die Erzählung von Sodom wird auf diese Weise transparent für das Ereignis auf Golgatha und für die vielen Orte des Unrechts in unserer Zeit. Die Erzählung von den drei Männern, die Lot bei sich aufnahm und die vom »Mob von Sodom«, von der »feige[n] Meute« bedroht werden, liest sich für den Prediger »wie der biblische Text zum 9. November 1938, aber auch zu Hoyerswerda und Mölln und Solingen und vielen weiteren Orten.« (ebd. 3) Der Feuersturm, der in der Erzählung strafend auf Sodom niedergeht, verschwimmt mit dem Feuersturm, dessen Spuren bis heute in Berlin sichtbar sind. Immer wieder von Neuem entzieht der Prediger durch die Frage, was eigentlich als Gerechtigkeit zu begreifen sei, den vermeintlich sicheren alltagssprachlichen Boden und differenziert zwischen den unterschiedlichen Bedeutungsfeldern: die ausgleichende Gerechtigkeit, die mit der Entsprechung von Schuld und Sühne, dem Prinzip ›Leben um Leben, Auge um Auge‹ allererst menschliches Recht begründet – die Gerechtigkeit der ›letzten Gerechten‹, die »in einer Welt von Missgunst und Achselzucken« die Gerechtigkeit lebendig halten – das Ideal einer absoluten Gerechtigkeit, das nicht selten im Gesinnungsterror oder gar im wirklichen Terror endet – die menschliche Gerechtigkeit, die immer zu spät kommt und sich lediglich auf kleinere Reparaturleistungen beschränkt – und schließlich Gottes Gerechtigkeit, das Fundament der Welt, auf dem alles beruht. Angesichts der schmerzlichen Erfahrung, dass die Welt keineswegs im Lot ist, mutet der Prediger schließlich den Hörerinnen und Hörern die Erinnerung daran zu, »dass die Welt durch Gottes Schöpfertat unverrückbar im Lot ist und keine Ungerechtigkeit sie mehr aus dem Lot bringen kann«, dass Gott durch die Gerechtigkeit »jenes einen Gerechten […] selbst seine Gerechtigkeit unter uns aufgerichtet« hat. »Die Welt muss nicht durch unsere Gerechtigkeit gerettet werden. Sie ist um des einen Gerechten willen gerettet.« Dadurch sind wir »umso mehr herausgefordert, die Gerechtigkeit zu unserer Sache zu machen« (ebd. 5) – durch die politische, wirtschaftliche und rechtliche Verantwortung, die wir haben.
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Gerechtigkeit vor allem als Aufgabe des Menschen zu deuten, ist Absicht einer Predigt über Eph 4,17‒24. Dass der Mensch ›in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit‹ geschaffen sei, verlange zugleich danach, Verantwortung zu übernehmen. Die Rede von der Gerechtigkeit verbindet sich so mit konkreten Aufgaben und Herausforderungen: »Gott mutet und traut uns zu, Recht und Unrecht zu unterscheiden, Gerechtigkeit zu tun und ihr Gegenteil kritisch aufzuspüren.« (Breit-Keßler, Predigt über Epheser 4,17–24 4) Dabei benennt die Predigerin als konkrete Maßstäbe für gerechtes Handeln etwa die Achtung vor den anderen sowie ein nachhaltiges und von Zwängen befreites Handeln. Um Alltagsnähe herzustellen, schlägt die Predigerin schließlich exemplarisch als eine konkrete Möglichkeit gerechten Handelns vor, im Wissen um unmenschliche, gesundheitsgefährdende Produktionsbedingungen in Indien, Pakistan, Kolumbien und anderswo, um Kinderarbeit und Armut in aller Welt beim Einkauf auf fair produzierte und fair gehandelte Produkte zu achten (ebd. 3). Eine strikt rechtfertigungstheologische Intention kennzeichnet eine weitere Predigt zu Röm 1,16f., der jeder appellative oder gar moralisierende Impetus fremd ist. Gerechtigkeit gilt hier ganz als Aspekt göttlichen Handelns, als verwandelnde, heilende Kraft Gottes, als »die Schöpferkraft, in der Gott spricht ›Es werde‹ und es geschieht. […] So spricht er die Ungerechten gerecht. Und wenn Gott über uns dieses Urteil ausspricht, dann sind wir gerecht. Dann sind wir die ganz und heil gemachten neuen Menschen.« (Christ, Predigt über Römer 1,16f. 3) Ausgehend von Jes 58,7–12 zeichnet eine andere Predigt den biblischen Begriff der Gerechtigkeit noch einmal direkt in den aktuellen sozialpolitischen Kontext ein. Die Predigerin des Palmsonntagsgottesdienstes zieht eine Linie von Jesaja, einem »der ersten Sozialpolitiker« und »Realpolitiker« (Ueberschär, Predigt über Jesaja 58,7–12 2), zu den Reizworten des aktuellen politischen Diskurses: G20 und G8, Weltbank und IWF, Obdachlosigkeit und Hunger, Finanzkrise und Bonuszahlungen, Fremdenhass und Anti-Globalisierungsbewegung. Der Text von Jesaja lese sich wie eine klare Wenn-Dann-Regel, der zufolge die Gerechtigkeit Gottes eben auch daran geknüpft ist,
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inwiefern es jeder und jedem Einzelnen gelingt, das eigene Handeln an den Maßstäben der Gerechtigkeit auszurichten. Aus dieser jesajanischen Wenn-Dann-Regel stellt die Predigerin schließlich »ein kleines Buch vom guten Leben mit sechs Regeln für Gerechtigkeit« (ebd. 4) zusammen: Brot, Obdach, Wohnung für die, denen es hieran mangelt; und verhindern, dass Menschen in unheilvolle Abhängigkeit geraten, Menschen nicht bloßstellen, nicht schlecht von anderen reden. Anhand des Beispiels dieser Fastenpredigtreihe wird deutlich, wie groß das thematische Spektrum der ›Gerechtigkeit‹ ist und wie sehr die Predigtpraxis davon lebt, Themenfelder wie dieses regelrecht auszuleuchten und die vermeintliche Selbstverständlichkeit solcher ›großen‹ Begriffe aufzubrechen und sie in ihrer Fragwürdigkeit kenntlich zu machen. Der exemplarische Blick auf die Fastenpredigtreihe im Berliner Dom im Jahr 2009 zeigt: Der Begriff Gerechtigkeit wird als in hohem Maße erklärungsbedürftig erfahren und dementsprechend umfassenden Deutungsversuchen unterzogen. Dabei lassen sich unterschiedliche Methoden unterscheiden, auf die die Predigerinnen und Prediger zur inhaltlichen Konturierung des Gerechtigkeitsbegriffs zurückgreifen: Zum einen stellen sie den Gerechtigkeitsbegriff zur Präzisierung in den Kontext anderer biblischer Vorstellungen: Um etwa das Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit vor dem Missverständnis eines strafenden und vergeltenden Gesetzes zu bewahren, wird sie mit dem Verweis auf Gottes Barmherzigkeit und Gnade (Wanke, Predigt über Psalm 103 und Matthäus 20,1–16 3), seine Liebe (Albrecht, Predigt über Matthäus 5,6.10 8) sowie das in Kreuz und Auferstehung Christi begründete Heilshandeln (Levin, Predigt über Genesis 18,22–33 1) interpretiert. Zum anderen sind die Predigten von dem Bemühen getragen, den Begriff der Gerechtigkeit durch die Konkretion, durch die Übersetzung in die Erfahrungswelt des Alltags hinein zu präzisieren. Das beginnt bei der Benennung bestimmter Grundhaltungen und reicht bis hin zur Markierung konkreter Handlungsvorschläge. Insgesamt dominieren im Blick auf diese kleine Auswahl von Predigten die rechtfertigungstheologische und die alltagsethische Pointierung des Gerechtigkeitsbegriffs. Durch diese Zuspitzung tre-
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ten andere, durchaus auch in Spannung dazu stehende Aspekte des biblischen Gottesbildes – der Gerechtigkeit fordernde Gott, der eifernde und zornige Gott – in den Hintergrund, auch wenn sie, wie aufgezeigt, keineswegs gänzlich ausgeblendet werden. Die herangezogenen Predigten zielen dementsprechend vorrangig darauf ab, zu vergewissern, zu trösten, Hoffnung zu stiften, aber auch zu ermahnen und zu motivieren. Lebensweltlich erfahrbare Ungerechtigkeit wird benannt; belehrende, anklagende oder gar drohende Töne werden gemieden.
2.2. ›Gerechtigkeit‹ als thematische Bezugsgröße der christlichen Gottesdienstpraxis Auch innerhalb des liturgiewissenschaftlichen Diskurses der vergangenen Jahrzehnte standen prinzipielle Fragen zum Wesen des Gottesdienstes sowie ästhetische Fragen zur konkreten Gestaltung des Gottesdienstes im Mittelpunkt. Fragen zu den thematischen Implikaten des Gottesdienstes wurden eher am Rande berücksichtigt. Daher kann auch im Folgenden lediglich andeutungsweise der Versuch stehen, am Beispiel ausgewählter Gebetstexte des Evangelischen Gottesdienstbuches sowie des Bands »der gottesdienst. Liturgische Texte in gerechter Sprache« die thematische Vielfalt des Begriffs der Gerechtigkeit zu eruieren, wie sie sich in der Sprache des Gottesdienstes niederschlägt. Gott ist ein gerechter Gott: Dieses Motiv zieht sich in vielen Varianten durch die Gebetstexte der gegenwärtigen Gottesdienstpraxis. Wenn auch die einleitenden Anreden »Guter Gott«, »Barmherziger Gott« oder »Gnädiger Gott« deutlich dominieren, so ist der Gedanke der Gerechtigkeit in den Gottesanreden der vorgeschlagenen Gebete immer wieder präsent – wenn auch selten allein, sondern meist in Verbindung mit einem der anderen Attribute. Gott wird vielfach angesprochen als »gerechter und barmherziger Gott« (EGB 403) oder auch mit dem Ruf: »Du Gott des Heils und der Gerechtigkeit« (ebd. 333). Als gerechter Gott wird er besonders im Blick auf Erfahrungen von Unrecht um Hilfe angerufen. Das Gegenüber von ›Gerechtigkeit Gottes‹ und ›Ungerechtigkeit in der Welt‹ steht dabei gleich-
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sam als argumentative Logik im Hintergrund: Weil Gott gerecht ist, ist er Adressat der Bitte um Gerechtigkeit in der Welt. »Dreieiniger Gott, du bist gerecht und willst, dass es auf Erden gerecht zugehe.« (ebd. 461) »[…] lass alle Menschen in Armut, Hunger und Not gesättigt werden mit Gutem, darin deine Liebe erfahren und erkennen, dass du gütig bist und gerecht.« (ebd. 463) Widerfahrene Gerechtigkeit ist das Resultat göttlichen Handelns – so der Tenor dieser Gebetstexte. Die Gebetsformulierungen zielen dabei auf ganz unterschiedliche Formen des göttlichen Handelns ab. Zum einen ergeht an Gott ganz schlicht die Bitte, dass sich (soziale) Gerechtigkeit – wie auch immer – einstelle: »Für unser Volk und alle Völker der Welt, dass sich Gerechtigkeit durchsetze und Friede werde, wo Krieg ist, lasst uns bitten« (ebd. 77, 172). Oder: »Wir bitten dich für unser Volk und die Gemeinschaft der Völker, daß alle Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit erfüllt wird.« (Domay/Köhler, der gottesdienst 602) Zum anderen wird Gott in Fürbitten darum gebeten, bei den von Unrecht betroffenen Menschen zu sein, sie zu stärken und zu trösten. Teils gilt die Fürbitte denen, die selbst Opfer von Ungerechtigkeit geworden sind: »Bei dir finden die Ausgenutzten Erfüllung, die Überanstrengten Ruhe; die Armen finden Schätze und die Reichen begreifen ihre Armut. Alle, die sich beugen und ihre Hände ausstrecken, werden überreich gesättigt.« (EGB 259) Teils soll er diejenigen unterstützen und ermutigen, die sich für ein gerechtes Zusammenleben einsetzen: »Gerechter Gott, du widerstehst dem Unrecht und vertrittst die Sache der Armen und Schutzlosen. Treibe uns dazu an, beharrlich zu widerstehen, wo Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird, und gib uns den Mut, dafür zu streiten, dass Frieden werde und Recht an allen Orten, um deines Namens willen.« (ebd. 401) »Allen, die sich um eine gerechte Ordnung und um erträgliche Verhältnisse bemühen, gib Mut und Geduld« (ebd. 145). Insgesamt fällt zweierlei auf. Die Gebetstexte sind von dem Bemühen getragen, den Begriff der Gerechtigkeit in konkrete Erfahrungen einzuzeichnen. Und es dominiert die Vorstellung von (sozialer) Gerechtigkeit als Maßstab menschlichen Handelns bzw. als Zustand menschlichen Zusammenlebens. Subjekt gerechten Han-
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delns ist der Mensch: »Verwundbarer Gott, […]. Lass uns mit Jesus nach Gerechtigkeit hungern und dürsten und gegen allen Widerstand dafür einstehen.« (ebd. 291) Bei der Beschreibung jener ungerechten Strukturen, die zum Handeln herausfordern, kann das Stichwort der Gerechtigkeit auch gänzlich fehlen. Die Grenzen zwischen dem gerechten Handeln und dem der Liebe, dem Frieden, der Solidarität verpflichteten Handeln verschwimmen dann. Dies zeigt sich in Texten, die den Blick auf die Opfer von Gewalt und Unrecht lenken: »Sieh an die Menschen, die nichts haben als das nackte Leben, die fliehen müssen vor Gewalt, Terror, Hunger und Krieg, die auf der Suche nach einer Zuflucht ihr Leben riskieren. Für sie, für ihre Familien, aber auch für die, die ohne Gewissen Menschen ihren Interessen opfern.« (ebd. 184) Deutlich wird dies ebenso im Blick auf das jeweils eigene ungerechte Handeln: »Gott hat uns geboten, unsern Nächsten zu lieben wie uns selbst. Lasst uns bedenken, wo wir unsern Nächsten vergessen und übergangen haben, wo wir auf Kosten und zum Schaden anderer gelebt haben, wo wir hart und unversöhnlich waren und zur Vergebung nicht bereit.« (ebd. 200) Oder: »Du starker Heiland und Erretter, befreie und erlöse uns: Von Hass und Neid – von Hochmut und lieblosem Richten – von Selbstsucht und Härte des Herzens.« (ebd. 186) In einigen Textvorschlägen verbindet gerade dieser Blick auf den Menschen, der gerecht oder auch ungerecht handeln kann, das Thema Gerechtigkeit mit dem Eingeständnis eigener Schuld. Dieser Aspekt steht in der gegenwärtigen Gottesdienstpraxis deutlich im Hintergrund; explizit findet er sich im Evangelischen Gottesdienstbuch vor allem in Bußgebeten bzw. in Gebeten zum Bußund Bettag: »Hilf uns die Wahrheit erkennen und annehmen, die Wahrheit unserer Schuld und die Wahrheit deiner Gerechtigkeit.« »Herr, unsere Erde ist voll von Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Krieg […]. Gott, sieh nicht auf unsere Ungerechtigkeit, unser Schweigen und unsere Trägheit. Schau auf deinen Sohn Jesus Christus, der für uns gestorben ist und die Gerechtigkeit erworben hat, die vor dir gilt.« (ebd. 496) Der rechtfertigungstheologische Aspekt der Gerechtigkeit lässt sich gegenüber dem der sozialen Gerechtigkeit, die in menschlicher
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Verantwortung liegt, nur am Rande entdecken. Innerhalb des Evangelischen Gottesdienstbuches nimmt allein das zum Reformationstag vorgeschlagene Tagesgebet das Thema der Glaubensgerechtigkeit explizit auf: »O Gott, befreie uns von dem ängstlichen Bemühen, uns vor dir zu rechtfertigen – Dir sind wir recht – allein durch Jesus Christus.« (ebd. 437) Die Fokussierung des Gerechtigkeitsbegriffs auf die Vorstellung sozialer Gerechtigkeit und deren Verortung im Horizont menschlicher Verantwortung spiegelt den Einfluss wider, der von den politischen Liturgien der Kirchentagstradition und dem Konziliaren Prozess der Ökumenischen Bewegung mit den Zielbegriffen ›Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung‹ auf die liturgische Praxis der Gegenwart ausging. Die reformatorische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, die Frage nach eigener Schuld, eigenen Zweifeln und Erfahrungen des Scheiterns bleiben demgegenüber – zumindest in den hier exemplarisch durchgesehenen Gebetstexten – weitgehend ausgeblendet.
2.3. ›Gerechtigkeit‹ als Thema des seelsorgerlichen Gesprächs Besonders ausgeprägt begegnet der Gedanke der Gerechtigkeit im Rahmen der Seelsorgepraxis. Lebenskrisen – eine schwere Krankheit oder der Verlust eines nahen Angehörigen – können bei Betroffenen Sinnkrisen auslösen. Ausdruck finden diese in der Frage nach dem Sinn und der Ursache von Leiden, der Frage nach der Gerechtigkeit dessen, was Menschen widerfährt, oder auch als Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: »Solche Schmerzen müssen eine Strafe für irgend etwas sein.« »Da fragt man sich: Womit habe ich das verdient?« (Hartmann 1993: 29) Die »Warum-Frage« (van der Geest 1986: 159–166) begegnet in der Seelsorgepraxis allerdings nicht nur im Blick auf das eigene Leiden, sondern auch indirekt in der Auseinandersetzung mit fremdem Leid, von dem die Medien täglich berichten. In der Erörterung des Leidens etwa in den Krisenregionen der Welt kann ein existentieller Zweifel zur Geltung kommen, der in der Auseinandersetzung mit der eigenen Situation wurzelt. Wenn etwa eine schwer-
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kranke Frau mit Blick auf die Zustände in einem Flüchtlingslager in Pakistan den Seelsorger mit der Frage konfrontiert, »warum Gott so etwas Schreckliches zuläßt« (ebd. 159), und sogleich die Frage nach der göttlichen Weltregierung anschließt, dann ist die Vermutung berechtigt, dass sich in der Auseinandersetzung mit dem tagespolitischen Thema im Grunde die Suche nach einer Antwort auf die eigene Situation und die Sehnsucht nach Trost angesichts der eigenen Krankheit widerspiegelt. In der Seelsorgetheorie der vergangenen Jahrzehnte war es nicht zuletzt das Verdienst der an den Methoden der Gesprächspsychotherapie orientierten Seelsorgebewegung der 1970er Jahre, den Blick für solche thematischen Verschiebungen und Überlagerungen neu geschärft und für die Methodik einer am Gesprächspartner orientierten Seelsorgepraxis fruchtbar gemacht zu haben. Die psychologisch geschulte Seelsorgebewegung hatte deutlich gemacht, inwiefern es angesichts solcher ›Warum-Fragen‹ geboten sein kann, zum Seelsorgesuchenden eine Vertrauensbeziehung aufzubauen und ihn zu ermutigen, der eigenen Verzweiflung und der Wut in Form von Protest und Klage Ausdruck zu verleihen, anstatt ihn über mögliche theologische oder philosophische Antworten auf die – vordergründig vorgebrachte – Theodizeefrage zu informieren. Dass die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes allerdings auch jenseits konkreter Krisensituationen Thema des seelsorgerlichen Gesprächs werden kann, zeigen die Rekonstruktionen einer in den Alltag eingelassenen Seelsorgepraxis. Kennzeichen solcher Begegnungen der ›Alltagsseelsorge‹, wie sie anlässlich des Geburtstagsbesuches des Pfarrers oder der Pfarrerin oder auch bei zufälligen Begegnungen im Alltag vorkommen, ist die Verschränkung alltagsweltlich geprägter Small-Talk-Sequenzen mit ›typisch‹ seelsorgerlichen, im Kontext der Krisenbewältigung verankerten Gesprächsformaten. Auf das Format des Seelsorgegesprächs wirkt sich dies dahingehend aus, dass die zwischen »Transzendenzrede und Small talk« (Hauschildt 1996: 292) changierenden Gespräche in ihrem Gesprächsgang sehr offen und in der Rollenverteilung unter den Gesprächspartnern sehr flexibel sein können.
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Die anlässlich eines Geburtstagsbesuchs an den Pfarrer gerichtete Frage, wie dieser sich angesichts des Leidens kranker oder behinderter Menschen die Liebe und Gerechtigkeit Gottes vorstellt, lässt sich vor dem alltagstypisch weiten Horizont des von den Konventionen alltäglicher Kommunikation geleiteten Gesprächs zunächst nicht eindeutig zuordnen. Sie »könnte die rationalisierte Fassung eines erlebten psychischen Konflikts sein (›ich will nicht leiden‹)« oder »eher ethisch (›welche Werte gelten?‹), eher existentiell (›meine Endlichkeit‹), eher allgemein religiös (›vom Sinn des Schicksals‹) oder eher spezifisch christlich (›wie kann der christliche Gott so sein‹) akzentuiert sein.« Sie kann zur behutsamen Suche nach dem Umgang mit eigenem Leid führen oder auch einen »Streit um die richtige Deutung der Wirklichkeit« (ebd. 353) eröffnen. Das Spektrum möglicher Intentionen und Gesprächsmodi ist breiter als im situativ deutlicher vorgeprägten Besuch im Krankenhaus oder im Trauerfall. Das Thema ›Gerechtigkeit‹ zieht sich in ganz unterschiedlichen Fragestellungen durch das breite Spektrum seelsorgerlicher Kommunikation. Mit diesem Spektrum vertraut zu sein und mit den unterschiedlichen Facetten dieses Themenfeldes situationsgerecht umgehen zu können, ist Voraussetzung für die situationsgerechte Gestaltung seelsorgerlicher Praxisvollzüge.
2.4. ›Gerechtigkeit‹ als Thema des Religionsunterrichts Die Frage, ob und wie ›Gerechtigkeit‹ Gegenstand des schulischen Religionsunterrichts oder des Konfirmandenunterrichts ist, zählt schließlich zum Aufgabenfeld der Didaktik des Religionsunterrichts. Das Thema Gerechtigkeit begegnet innerhalb der Lehrpläne für den evangelischen Religionsunterricht im Zusammenhang ganz unterschiedlicher Themenbereiche: ganz schlicht im Sinne von ›Fairness‹, wenn der Lehrplan für verschiedene Jahrgangsstufen dazu anregt, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern grundlegende Regeln für das Verhalten innerhalb der Klassengemeinschaft aufzustellen; oder etwa in der Bedeutung einer Tugend oder einer Norm menschlichen Handelns, wenn der Lehrplan die Einführung in ethische Grundbegriffe vorsieht; der Begriff der Ge-
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rechtigkeit begegnet noch einmal ganz konkret in der Bedeutung sozialer Gerechtigkeit, wenn die christliche Verantwortung in der Welt thematisiert wird, oder er findet sich im Zusammenhang mit der Diskussion über Gottesbilder im Sinne einer der Eigenschaften Gottes. Exemplarisch lässt sich der vielschichtige und ambivalente Umgang mit dem Thema Gerechtigkeit anhand des bayerischen Lehrplans für den evangelischen Religionsunterricht der 4. Jahrgangsstufe skizzieren. Der Lehrplan sieht in der 4. Grundschulklasse eine erste Annäherung an die reformatorische Rechtfertigungsbotschaft vor. Martin Luthers Neuentdeckung der Barmherzigkeit Gottes begegnet dort im Rahmen des Themenbereichs ›Nach den Wurzeln des Glaubens suchen – Wege zueinander finden‹. Dieser Themenbereich will dazu anstiften, dass sich die Schülerinnen und Schüler der Wurzeln ihres eigenen – immer auch konfessionell geprägten – Glaubens bewusst werden und offen werden für die Verständigung mit anders geprägten Frömmigkeitsstilen – etwa der römisch-katholischen Glaubenstradition. Er ist dabei direkt auf die Wirklichkeit der Schülerinnen und Schüler bezogen: In der Schule, in der Familie, im Freundeskreis nehmen die Schülerinnen und Schüler wahr, dass Menschen verschiedenen Konfessionen angehören. Worin sich die Konfessionen genau unterscheiden und was ihnen gemeinsam ist, das ist ihnen aber meist überhaupt nicht oder nur sehr schemenhaft bewusst. Der Aufbau des Themenbereichs folgt der Einsicht, dass die Verständigung zwischen den Konfessionen die Vergewisserung der eigenen Identität voraussetzt und mit ihr in einem engen Wechselverhältnis steht. Ein Teilziel dieses Themenbereichs ist daher, dass die Schülerinnen und Schüler die reformatorische Entdeckung des barmherzigen Gottes nachvollziehen und darüber nachdenken, welche befreiende Wirkung diese Entdeckung für den eigenen – evangelischen – Glauben hat. Zur Plausibilisierung dieser Neuentdeckung der göttlichen Gnade sehen die entsprechenden Schulbücher vor, die Schülerinnen und Schüler zunächst kurz in das vorreformatorische Gottesbild und die entsprechende Frömmigkeitspraxis einzuführen. Vor dem Hintergrund der Vorstellung Gottes als strafendem, zürnendem Richter, der Angst vor dem Jüngsten Gericht
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sowie der spätmittelalterlichen Ablasspraxis, die letztlich Auslöser für die reformatorische Bewegung war, soll für die Schülerinnen und Schüler deutlich werden, wie unterschiedlich das Bild von Gott als einem ›gerechten‹ Gott aussehen kann – der richtende, das individuelle Sündenstrafmaß abwägende Gott auf der einen Seite, der gerecht machende, barmherzige, den Menschen aus der heillosen Verstrickung in Sünde befreiende Gott auf der anderen Seite. Nun fällt auf, dass bei der Thematisierung der reformatorischen Anfänge in den Unterrichtsmaterialien das Stichwort der Gerechtigkeit keine zentrale Rolle spielt. Vielmehr werden das spätmittelalterliche und das reformatorische Gottesbild – in Umgehung des semantisch komplexen Gerechtigkeitsbegriffs – mit Hilfe terminologisch eindeutigerer Vokabeln umschrieben: strafend, richtend, unnahbar der Gott der spätmittelalterlichen Endzeitängste auf der einen Seite; liebend, gnädig und barmherzig der Gott Luthers auf der anderen Seite. Der Gerechtigkeitsbegriff bleibt weitgehend ausgespart – obwohl er theologisch im Zentrum des reformatorischen Umbruchs steht. Die Umgehung des Gerechtigkeitsbegriffs ist zum Teil der komplexen Semantik geschuldet. Doch diese terminologische Wahl lässt sich ebenso darauf zurückführen, dass sich das altersspezifische Gerechtigkeitsverständnis von Viertklässlerinnen und Viertklässlern nur schwerlich mit dem reformatorischen Gerechtigkeitsbegriff vermitteln lässt. Gerechtigkeit ist für Schülerinnen und Schüler dieses Alters ein zentrales Thema – allerdings ganz in dem Sinn einer formalen, auf Lohn und Strafe beruhenden Gerechtigkeit. Gerechtigkeit im Sinne eines transparenten Lohn- und Straf-Systems ist für sie Bestandteil ihrer Alltagserfahrung. Wer gegen bestimmte Regeln verstößt – Regeln der Familie oder Regeln der Schule –, muss die entsprechenden Konsequenzen tragen – strafende Blicke, strenge Worte, Sanktionen unterschiedlicher Art. Dass man für regelwidriges Verhalten bestraft und für regelkonformes Verhalten belohnt wird, gehört zu den Alltagserfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Dieses System von Lohn und Strafe empfinden Kinder prinzipiell als gerecht. Und dieselbe Logik bestimmt auch den Umgang miteinander: Wenn einer dem anderen Unrecht zufügt, ihm etwas wegnimmt oder ihn belügt, hat der eine Strafe verdient und/oder muss eine Wiedergut-
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machung leisten (Fraas 1990: 207). Die Freundin wird vorübergehend mit Nichtbeachtung bestraft oder der Banknachbar wird geschubst oder getreten. Fordert man Kinder und Jugendliche auf, Regeln für das Verhalten im Unterricht aufzustellen, ist Gerechtigkeit in diesem Sinne eins der zentralen Kriterien. Das Bild, das die Schülerinnen und Schüler dieses Alters von Gott haben, trägt sehr menschliche Züge, Gott hat Gefühle, er reagiert auf Gebete und lässt sich auch umstimmen. Besonders eindrücklich zeigt sich das in selbst formulierten Gebeten von Schülerinnen und Schülern. Für alles Wünschenswerte wird Gott in Anspruch genommen, Gott scheint verantwortlich für alles, was geschieht (deus ex machina), aber er lenkt die Welt nicht irgendwie, sondern reagiert auf die Bitten und Wünsche der Menschen (do ut des). Dass gerade Gott der Inbegriff einer solchen formalen, auf Lohn und Strafe beruhenden Gerechtigkeit ist, diese Auffassung taucht immer wieder im Unterrichtsgespräch mit Schülerinnen und Schülern auf. Gott belohnt die Guten und er bestraft die Bösen, das gilt für viele ohne jeden Zweifel. Zwar liebt Gott alle Menschen, aber dass man für seine Fehler auch vor Gott gerade stehen und Strafe in Kauf nehmen muss, scheint den Kindern generell klar zu sein. Zweifellos erfahren Kinder auch eine Form der Zuneigung und Liebe, die jenseits eines solchen Lohn- und Strafmechanismus liegt. Wer sein Vergehen einsieht und kleinlaut eine Entschuldigung herausbringt, bleibt von einer Strafe oft verschont. Theologisch gesprochen liegt die Erfahrung, dass Schuldeinsicht und Reue mit der Vergebung von Schuld beantwortet werden, durchaus ebenfalls im Horizont der Lebenswelt von neun- bis zehnjährigen Kindern. Gleichwohl dominiert in dieser Altersstufe das andere Gottesbild. Die Entwicklungspsychologen untermauern diese Beobachtung, indem sie die religiöse Vorstellungswelt von neun- bis zehnjährigen Kindern den Phasen der gängigen entwicklungspsychologischen Stufenmodelle zuordnen. Fritz Oser und Paul Gmünder (Oser/ Gmünder 1984: 193) zufolge sehen knapp die Hälfte der acht- bis neunjährigen und noch knapp 10 % der elf- bis zwölfjährigen Kinder Gott als absolute Macht und Autorität, die wie ein deus ex machina in den Weltablauf eingreift: Gott »handelt, weil er so handelt.« (ebd.
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89) Der Mensch empfängt den verdienten Lohn oder die verdiente Strafe und bleibt Gott gegenüber rein reaktiv (Stufe 1). Für etwas mehr als die Hälfte der acht- bis neunjährigen und die große Mehrheit der elf- bis zwölfjährigen Kinder hat sich das Verhältnis zwischen Mensch und Gott bereits verändert: Sie gehen davon aus, dass man Gott in seinem Handeln durch Gebete, Riten oder gutes Verhalten beeinflussen kann. Der Mensch gilt nun als eigenständiges Gegenüber zur göttlichen Macht. Das Verhältnis zu Gott folgt dem Prinzip ›do ut des‹. Auch hier wird erfahrenes Glück als Lohn, erfahrenes Leid als Strafe gedeutet; jedoch kann die Strafe durch entsprechendes Intervenieren abgemildert werden (Stufe 2). Ein kleiner Anteil der Elf- bis Zwölfjährigen hat allerdings diese Annahme eines in seinem Wirken beeinflussbaren Gottes bereits hinter sich gelassen, indem nun der Mensch als eigenverantwortliches Subjekt neben oder gegenüber Gott verstanden wird. Auf dieser 3. Stufe wird die Wirkmacht Gottes auf seine bloße Existenz reduziert. Gott bzw. eine absolute, ultimative Kraft gibt es, aber sie lässt sich in den Widerfahrnissen des Lebens nicht greifen. Menschen auf der 4. Stufe des von Oser und Gmünder entworfenen Stufenmodells entwickeln die Fähigkeit, die Vorstellungen von menschlicher Freiheit und göttlicher Souveränität miteinander zu verbinden. Die entwicklungspsychologische Einsicht in den alterstypischen Wandel des Gottesbildes von Kindern und Jugendlichen lässt plausibel erscheinen, warum die Begegnung mit dem reformatorischen Ablassstreit bei den Schülerinnen und Schülern Irritationen auslösen kann. Dass Gott gerecht ist, indem er gerade von jeder Bestrafung absieht, widerspricht zunächst dem Gottesbild und dem Gerechtigkeitsverständnis vieler Kinder. Gott lässt sich nicht durch Gegenleistungen besänftigen, er verrechnet die Schuld nicht mit Leistungen, sondern macht den Glaubenden allein aus Gnade gerecht, spricht ihn frei, ohne dass der Mensch etwas dazu beitragen könnte. Doch nicht nur das Gottesbild, auch das Verständnis von Gerechtigkeit ändert sich in der Kindheit und Jugend entscheidend. Der Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg unterscheidet im Anschluss an Jean Piaget sechs aufeinander folgende Phasen in der Entwicklung des Gerechtigkeitsempfindens. Zunächst orientieren sich
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Kinder in ihrem Verständnis von Gerechtigkeit ganz an den Regeln, die von Autoritäten wie Eltern oder Lehrern vorgegeben sind. Als gut gilt jenes Handeln, das Belohnung verspricht und Bestrafung vermeidet (präkonventionelle Ebene, Stufe 1). Dies wandelt sich zu einem moralischen Kosten-Nutzen-Kalkül, das der Logik entspricht: Wenn du mir hilfst, helfe ich dir auch. Ein Sinn für Fairness und gerechte Verteilung ist hier zwar präsent, aber leitend ist das Prinzip der Gegenseitigkeit (präkonventionelle Ebene, Stufe 2). Mit etwa zehn Jahren tritt erneut ein Wandel in der Vorstellung von Gerechtigkeit ein: Übergeordnete Regeln kommen nun ins Blickfeld. Maßstab für das moralische Urteil wird das Bedürfnis nach Anerkennung im eigenen Umfeld, besonders in der Familie und der Schule: Man will anderen gefallen und bemüht sich daher um Konformität (konventionelle Ebene, Stufe 3). Der nächste Übergang ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Horizont dieser Konformität ausweitet: Orientierungsmaßstab ist nun die gesellschaftliche Ordnung und die Geltung gesellschaftlicher Institutionen samt den entsprechenden stereotypen Verhaltensregeln. Das Wohl der Gesellschaft wird zum Maßstab dafür, was als gut und gerecht gelten kann. »Richtiges Verhalten heißt, seine Pflicht tun, Autorität respektieren und für die gegebene soziale Ordnung um ihrer selbst willen eintreten.« (Kohlberg/Turiel 1978: 19) (konventionelle Ebene, Stufe 4). Auf dieser Stufe verortet Kohlberg einen Großteil der Jugendlichen und Erwachsenen. Der Übergang zur nächsten Stufe der moralischen Entwicklung lässt sich ab etwa zwanzig Jahren beobachten, wird allerdings – so Kohlberg – nicht von allen Erwachsenen erreicht. Erst hier wird die Geltung gesellschaftlicher Regeln konstruktiv in Frage gestellt; die Frage, was Gerechtigkeit ist, wird nun vor dem Hintergrund allgemeiner Prinzipien beantwortet. Auf dieser Stufe sind Menschen fähig, vom eigenen Standpunkt abzusehen, die eigenen Interessen kritisch zu prüfen und mit denen anderer abzuwägen (postkonventionelle Ebene, Stufe 5). Die sechste Stufe erreichen nur wenige. Als Orientierungsmaßstab für die Entscheidung über richtig und falsch gelten hier allgemeingültige ethische Prinzipien, die hinsichtlich ihres Abstraktionsgrades über das Maß moralischer Regeln hinausgehen. Maßgeblich werden universelle Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit und der Gleichheit.
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Religionsdidaktisch empfiehlt es sich dem entsprechend, die entwicklungspsychologische Differenzierung der Vorstellungswelt von Schülerinnen und Schülern für die Gestaltung von Bildungsprozessen fruchtbar zu machen. Die Rekonstruktion der altersspezifischen Typik von Gottesbildern oder moralischen Urteilen befähigt, die Äußerungen von Schülerinnen und Schülern entsprechend einzuschätzen und wertzuschätzen. Der Unterrichtende kann mit diesem Wissen »die vom Kinde geleistete und ihm optimal mögliche Deutung als Wert akzeptieren, entspricht sie doch seiner religiösen Entwicklungsstufe, ist sie ihm doch gemäß.« (Bucher/Oser 1987: 179) Darüber hinaus ermöglicht die Orientierung an der Entwicklungslogik die gezielte Begleitung der Schülerinnen und Schüler hin zur weiteren Entfaltung ihres Vorstellungshorizontes. Die Auseinandersetzung mit grundlegenden Aspekten des christlichen Gottesbildes oder mit zentralen Prämissen der theologischen Ethik kann didaktisch so gestaltet werden, dass die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, »selber neue Argumente zu entwickeln und die [ihnen] bekannten in Frage zu stellen oder zu transformieren.« (ebd. 178)
3. ›Gerechtigkeit‹ als Grundkategorie praktisch-theologischer Reflexion Der Begriff der Gerechtigkeit ist nicht nur materialiter, sondern auch konzeptionell Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion. Gerechtigkeit kommt so als Maßstab christlich-religiöser Praxis insgesamt in den Blick. Exemplarisch lässt sich das zunächst an zwei Praxisbereichen zeigen, deren praktisch-theologische Rekonstruktion ohne den Rekurs auf den Gerechtigkeitsbegriff schwerlich auskommt: an der Diakonie und der Bildungsarbeit. Dass darüber hinaus auch die kirchliche Praxis insgesamt auf den Begriff der Gerechtigkeit bezogen ist, soll schließlich durch einen kurzen Einblick in den kybernetischen Diskurs kenntlich werden.
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3.1. Diakoniewissenschaft – Gerechtigkeit als Maßstab helfenden Handelns ›Barmherzigkeit‹ und ›Gerechtigkeit‹ stehen im Zentrum des diakonietheoretischen Begründungszusammenhangs helfenden Handelns. ›Barmherzigkeit‹ und ›Gerechtigkeit‹ markieren jenes »Spannungsfeld«, in dem sich diakonisches Handeln verortet (Jähnichen 2004: 112‒114). Die beiden Pole dieses Spannungsfeldes verweisen dabei auf unterschiedliche Aspekte gegenwärtiger diakonischer Praxis. Traditionell begründet sich diakonisches Handeln durch den Bezug auf die biblischen Leitbegriffe Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Beide verweisen auf das liebende und barmherzige Handeln Gottes, das sich nicht zuletzt im Auftreten Jesu offenbart und selbst wiederum zu einem entsprechenden Handeln anstiftet. In der Erzählung vom barmherzigen Samariter bildet sich dieser Zusammenhang ab. Der Begriff der Barmherzigkeit verweist auf die Spontaneität und Unmittelbarkeit des helfenden Handelns angesichts akuter Notlagen, bleibt aber hinsichtlich der näheren Bestimmung gegenwärtiger diakonischer Praxis gleichwohl missverständlich und daher ergänzungsbedürftig. Handeln aus Barmherzigkeit setzt ein spezifisches soziales Ungleichgewicht voraus, insofern es in der Regel ein »Eintreten der Stärkeren für Bedürftige« (ebd. 113) impliziert. Um das Missverständnis auszuräumen, Diakonie verbleibe unabdingbar in solch asymmetrischen Beziehungskonstellationen, bedarf es eines ergänzenden Korrektivs. Der Begriff der Gerechtigkeit vermag dies zu leisten, indem er darauf verweist, dass diakonische Praxis auf die Überwindung einseitiger Abhängigkeitsbeziehung abzielt. Versteht man Gerechtigkeit als »eine sich in Rechtssätzen ausdrückende Verhältnisbestimmung über das, was man sich gegenseitig schuldet, d.h. worauf man einen moralischen, vor allem aber rechtlich kodifizierten Anspruch hat« (ebd.), dann wird deutlich, in welcher Weise der gegenseitige Verweisungszusammenhang der Begriffe Barmherzigkeit und Gerechtigkeit das Profil diakonischer Praxis zu präzisieren vermag. Die spontanen Impulse der Barmherzigkeit verlangen nach Verwirklichung in konkreten, Gerech-
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tigkeit sichernden, verlässlichen Rechtssätzen. Ist Barmherzigkeit »der Ausgangspunkt, die motivierende Kraft und das bleibende Korrektiv eines rechtlich geordneten Sozialwesens«, so nimmt das Recht »diese Impulse auf und stellt sie auf eine verlässlich geordnete Grundlage, welche sich an der Idee der Gerechtigkeit als normativer Meta-Norm der Rechtsentwicklung stets zu messen hat.« (ebd. 114) Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bleiben somit eng aufeinander bezogene Maßstäbe helfenden Handelns. Während ein an der Barmherzigkeit orientiertes Handeln ohne das Korrektiv der Perspektive der Gerechtigkeit in der Gefahr steht, immer nur punktuell zu wirken und einseitige Abhängigkeiten zu verstärken, droht umgekehrt eine allein am Prinzip der Gerechtigkeit ausgerichtete Praxis »formal zu werden und zu erstarren« (ebd.). Angesichts des breiten Bedeutungsspektrums bedarf das Kriterium der Gerechtigkeit im Blick auf diakonisches Handeln der weiteren Differenzierung und Präzisierung. Zu favorisieren sei, so etwa der Tenor der Denkschrift der EKD zur Armut in Deutschland, ein Verständnis von Gerechtigkeit im Sinne einer Beteiligungsgerechtigkeit, deren Ziel die »möglichst umfassende Integration aller Gesellschaftsmitglieder« ist: »Niemand darf von den grundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung, ausgeschlossen werden.« (Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität 43) Dieses Verständnis von Gerechtigkeit umfasst dabei insbesondere die Aspekte der Teilhabe-, der Befähigungsund der Verteilungsgerechtigkeit. Während sich die Teilhabegerechtigkeit in dem allen zustehenden »Recht auf einen Zugang zu den Gütern Recht, Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit« verwirklicht, bezieht sich der Begriff der Befähigungsgerechtigkeit auf »die politische Aufgabe der Schaffung sozialer Institutionen des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens, die allen Bürgern eine zumindest elementare Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.« (Jähnichen 2004: 116) Orientierungsmaßstab ist dabei die theologisch begründete »Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten« (Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 105‒107). Der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit oder
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Bedarfsgerechtigkeit schließlich gilt der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums – ein Aspekt, der gerade in der jüdischchristlichen Tradition fest verankert ist. Erst auf der Basis dieses dreifachen gerechtigkeitstheoretischen Fundaments kommen aus der Perspektive christlicher Sozialethik weitere Aspekte der Gerechtigkeit in den Blick: die Tauschgerechtigkeit, die sich auf die Regeln bezieht, die im Rahmen von Austauschbeziehungen zwischen Menschen gelten, sowie das Prinzip der Nachhaltigkeit, das im Aspekt der intergenerativen Gerechtigkeit und der Mitweltgerechtigkeit Ausdruck findet. Dass das Prinzip der Gerechtigkeit für das Selbstverständnis der Diakonie von maßgeblicher Bedeutung ist, zeigt sich im Profil diakonischer Praxis selbst sowie insbesondere in der diakonietheoretischen Rekonstruktion dieser Praxis. Ebenso zeigt es sich aber in den kirchlichen Beiträgen zum gesellschaftlichen Diskurs über sozialethische und sozialpolitische Fragen, etwa in offiziellen Verlautbarungen wie dem vom Rat der EKD und der DBK 1997 veröffentlichten Sozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, der Denkschrift des Rates der EKD Herz und Mund und Tat und Leben zu den Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie (1998), der Denkschrift Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität zur Armut in Deutschland (2006) oder auch der Denkschrift Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen von 2007.
3.2. Religionspädagogik – Die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit Die theologische Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff hat eine lange Tradition. Nicht zuletzt durch das pädagogische und bildungspolitische Engagement Martin Luthers und Philipp Melanchthons galt dem Bildungsthema innerhalb des Protestantismus stets großes Interesse. Angesichts dessen erstaunt, dass das Thema Bildungsgerechtigkeit lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit fand. Die sozialethischen Aspekte des Bildungsthemas scheinen erst jüngst wieder in den Fokus zu treten. Seit empirische Befunde den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg
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neu in das Blickfeld rückten und eine eklatante Bildungsungerechtigkeit besonders im deutschen Bildungssystem sichtbar machten (Rösner 2007), erinnern sich Theologinnen und Theologen wieder daran, in welchem Maße gerade aus evangelischer Sicht Bildung und Gerechtigkeit konstitutiv zusammengehören (Schweitzer 2007: 57, vgl. auch Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität 61‒69). Im Rahmen des religionspädagogischen Diskurses lassen sich unterschiedliche argumentative Zugänge zum Thema der Bildungsgerechtigkeit beobachten. Heinrich Bedford-Strohm etwa argumentiert unter Bezugnahme auf den christlichen Freiheitsbegriff, wie er sich in der paulinisch-lutherischen Deutungstradition herauskristallisiert hat. Wenn gilt, dass sich die christliche Freiheit nicht nur auf den individualethischen Bereich begrenzen lässt, sondern immer auch als »kommunikative Freiheit« (Huber 1990: 61) zu verstehen ist, dann werde offensichtlich, dass die Rede von Freiheit »zugleich mit dem Engagement für eine Gestaltung der Gesellschaft verbunden ist, in der auch wirklich alle auf die äußeren Bedingungen – und das schließt auch die Bildungschancen ein – zurückgreifen können, die nötig sind, um ihre Freiheit zu gebrauchen« (Bedford-Strohm 2009: 45). Eine andere Argumentationslinie verfolgt Friedrich Schweitzer in seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und Gerechtigkeit. Er rekurriert insbesondere auf das Bildungsverständnis Johann Amos Comenius’, des großen evangelischen Reformpädagogen des 17. Jahrhunderts. Comenius markiere in der pädagogischen Theoriegeschichte einen Wendepunkt, insofern er einer der ersten gewesen sei, »der aus dem biblischen Schöpfungsglauben ausdrücklich demokratische Konsequenzen ziehen wollte«: sein Ideal war eine »Bildung für alle«. (Schweitzer 2007: 58) In seinem Werk Pampaedia schreibt Comenius dementsprechend: »wo Gott keinen Unterschied gemacht hat, da soll auch der Mensch keine Schranken aufrichten« (Comenius, Pampaedia 31f.). Darüber hinaus werde bereits bei Comenius deutlich, dass die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit unmittelbar verknüpft ist mit der Frage nach einer ›Bildung zur Gerechtigkeit‹. Im Rahmen der Gestaltung von Bildungsprozessen gehe es immer auch darum, »welches Ge-
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rechtigkeitsverständnis dabei an die nachwachsende Generation vermittelt wird.« (Schweitzer 2007: 58) Da sich bereits der Begriff der Bildungsgerechtigkeit dem Bemühen verdanke, über das Ziel einer bloßen Chancengleichheit hinaus die individuell unterschiedlichen Voraussetzungen von Bildungsprozessen durch entsprechend unterschiedliche Instrumente der Förderung zu berücksichtigen, plädiert Schweitzer für eine Entgrenzung und Differenzierung des bildungstheoretischen Diskurses. Entgrenzt werden müsse der Gedanke der ›Bildung zur Gerechtigkeit‹ in mehrfacher Hinsicht. Zum einen müsse der weltweite Horizont deutlicher in den Blick kommen, wie dies etwa in Ansätzen ökumenischen Lernens sowie entwicklungspolitischer Bildung und globalen Lernens der Fall ist. Zum anderen bedarf es einer doppelten Entgrenzung in zeitlicher Hinsicht. Die Vergangenheitsdimension, die etwa in den Fragen nach Erinnerung und Gedenken, nach den Opfern der Geschichte und des Unrechts relevant wird, sei im Rahmen einer ›Bildung zur Gerechtigkeit‹ ebenso fruchtbar zu machen wie die Dimension der Zukunft, die etwa in der Frage nach der Gerechtigkeit zwischen den Generationen Gestalt gewinnt. Die geforderte Differenzierung des bildungstheoretischen Gerechtigkeitsbegriffs bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen einer am Gleichheitsprinzip orientierten Verteilungsgerechtigkeit einerseits und einer ausgleichenden, individuell fördernden und unterstützenden Gerechtigkeit andererseits. Friedrich Schweitzer fordert auch im Hinblick auf diese Alternative, den Blick mit Hilfe der Frage zu öffnen, ob nicht jenseits dieser Alternative ein weiteres Verständnis von Gerechtigkeit heranzuziehen sei: eines, »das vom biblischen Gedanken einer bewahrenden, schützenden und rettenden Gerechtigkeit her auf Empathie und Solidarität, auf Mitleid und Diakonie verweist« (Schweitzer 2007: 60). In den Ansätzen des »diakonischen Lernens« sei dieser Aspekt bereits in der pädagogischen Praxis leitend. Eine begriffliche Klärung und Präzisierung könnte den gegenwärtigen Bildungsdiskurs von seiner einseitigen Fixierung auf die gängigen Schulleistungsvergleichsuntersuchungen befreien und für ein vielschichtiges Verständnis von Bildungsgerechtigkeit fruchtbar machen.
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Anlässlich der Tagung der EKD-Synode 2010 zum Thema Bildungsgerechtigkeit plädierte Christoph Markschies für ein Verständnis von Bildung, das die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit unmittelbar nach sich zieht (Markschies 2010: 3). Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu einem evangelischen Verständnis von Bildung und Bildungsgerechtigkeit ist eine christologisch grundierte Interpretation des Gedankens der Gottebenbildlichkeit, die in der Traditionslinie der Mystik, insbesondere Meister Eckharts, beheimatet ist. Die Aussage des Schöpfungsberichts, dass der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist, wird dabei dahingehend ausgelegt, dass man »zwischen Schöpfer und Geschöpf […] ein Bild oder ein Modell annehmen« müsse, »nach dessen Urbild Gott den Menschen als Abbild schafft.« (Markschies 2010: 3) Das modellgebende Bild Gottes ist – so wurde es seit dem frühen Christentum immer wieder verstanden – Jesus Christus selbst; der Mensch ist somit »nach dem Bild und Gleichnis Jesu Christi geschaffen«, »jeder theologisch orientierte Bildungsbegriff« sei daher »mit Blick auf Jesus Christus zu entwickeln.« (ebd. 3f.) Berücksichtigt man, mit welcher Offenheit sich Jesus den Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Stand und Geschlecht zuwandte, wird der enge Zusammenhang zwischen diesem biblisch fundierten Bildungsbegriff und der Forderung nach Bildungsgerechtigkeit offensichtlich. »Wer auf Jesus Christus schaut, nach dessen Bild wir einst geschaffen worden sind, sieht gleichsam eine Ikone der Bildungsgerechtigkeit, die Christusikone der Bildungsgerechtigkeit.« Jesus nachzufolgen hieße dementsprechend, »dass wir uns nach diesem Ebenbild Gottes wieder zum Bild Gottes bilden lassen, dass auch wir unser Verhältnis zu Gott und zum Nächsten nach diesem maßstabsetzenden Modell und zugleich von diesem Mittler formen lassen.« (ebd. 4) Die Orientierung am Handeln Jesu fordere alle Christen auf, sich für Bildungsgerechtigkeit einzusetzen. In dreifacher Hinsicht könne dies, so Markschies, konkret werden. Erstens gelte es, die unterschiedlichen Begabungen zu berücksichtigen und ein dementsprechend differenziertes Modell von Bildung zu entwickeln, dessen Ziel gerade nicht die Vermittlung möglichst vieler Bildungsinhalte ist. Zweitens lege ein derart christologisch fundierter Bil-
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dungsbegriff nahe, Bildung in Anlehnung an »das besondere Einfühlungsvermögen Jesu, sein Mitleid für Menschen in Not und seinen Respekt für die Schwachen« wesentlich als ›Herzensbildung‹ zu verstehen und Bildungsprozesse entsprechend zu gestalten. Drittens verlange die Berücksichtigung von »Wort, Werk und Person Jesu«, dass der Bildung von Kindern grundsätzlich eine größere Aufmerksamkeit zuteilwerden müsse. Insgesamt könne durch die Berücksichtigung des engen Konnexes von Bildung und Bildungsgerechtigkeit neu deutlich werden, inwiefern das Christentum als »Bildungsbewegung« zu begreifen sei.
3.3. Kybernetik – Gerechtigkeit als Maßstab kirchenleitender Praxis Kennzeichen der spätmodernen Volkskirche ist die Pluralität unterschiedlicher Frömmigkeits- und Kirchlichkeitsprofile. Die für die Gestaltung kirchlicher Praxis Verantwortlichen – Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakoninnen und Diakone sowie alle weiteren haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – stehen im Zentrum ganz unterschiedlicher Erwartungen an Kirche. Am konkreten Profil kirchlicher Praxis lassen sich Präferenzen ablesen, Entscheidungen darüber, welche Praxisfelder angesichts der begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen schwerpunktmäßig berücksichtigt werden und welche nur nachrangig oder auch gar nicht. Die Frage der Priorisierung volkskirchlich differenter Bedürfnislagen stellt sich als Frage nach einer kybernetischen Gerechtigkeit. Diese Frage nach kybernetischer Gerechtigkeit begegnet etwa dann, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer entscheiden müssen, welches Gewicht der Begleitung von Menschen im Umfeld von Kasualien, der pastoralen Präsenz in den wöchentlichen Gruppen und Kreisen der Kirchengemeinde oder der Gestaltung des Gemeindebriefes einzuräumen ist und wieviel Zeit dementsprechend für die einzelnen Aufgabenbereiche im Rahmen des pastoralen Alltags vorzusehen ist. Auch in der derzeit vielerorts geführten Diskussion darüber, was zu den Kernaufgaben der kirchlichen Praxis zählt und dementsprechend bei der Verteilung finanzieller Mittel
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vorrangig zu berücksichtigen sei, verbirgt sich die Frage nach der kybernetischen Gerechtigkeit. Die Frage drückt sich ebenfalls im aktuellen Diskurs über das Verhältnis von parochialer und überparochialer kirchlicher Praxis im Sinn eines gerechten Umgangs mit den für die gegenwärtige Volkskirchenkultur typischen Bedürfnislagen aus. So sehr der Gedanke der Gerechtigkeit zu vermeiden hilft, bestimmte Bedürfnislagen einseitig zu priorisieren und dadurch ungerechte Benachteiligungen in Kauf zu nehmen, so wenig darf er dazu verleiten, alle Bedürfnisprofile in gleichem Maße berücksichtigen zu wollen. Gerechtigkeit als Maßstab für die Gestaltung kirchlicher Praxisspielräume ernst zu nehmen, hieße vielmehr, die unterschiedlichen Erwartungen hinsichtlich Nähe und Distanz, Bewahrung von Tradiertem und Öffnung für Unkonventionelles, Gemeinschaft und Selbstfindung, Beheimatung und Aufbruch, Betreuung und Beteiligung im Blick zu behalten und die verschiedenen Praxisfelder kritisch gegeneinander abzuwägen – vor dem Hintergrund eines theologisch verantworteten Verständnisses davon, was Kirche ist, und einer an die Realität rückgebundenen Einschätzung vom gegenwärtigen Zuschnitt der unterschiedlichen Kirchenmitgliedschaftsprofile. Ziel wäre eine kirchliche Praxis ohne Benachteiligungen – von Männern oder Frauen, alten Menschen oder jungen, reichen Kirchenmitgliedern oder solchen mit nur wenig Geld, regelmäßigen Gottesdienstbesuchern oder solchen, die das Kirchengebäude nur von außen kennen, Glaubensstarken oder Zweiflern.
4. Schluss Das Thema Gerechtigkeit ist vielfältig in der christlich-religiösen Praxis präsent – als inhaltlicher Aspekt wie auch als ein Ideenkomplex, der christliches Handeln begründet, motiviert und ihm spezifische Konturen verleiht. Die wissenschaftliche Praktische Theologie befindet sich mit der Erschließung solcher praxisleitender Themenbegriffe erst in den Anfängen. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen ist die praktisch-theologische Dis-
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kussion noch immer durch die Gliederung der Aufgabenbereiche pastoralen Handelns strukturiert. Die Frage nach spezifischen, in den einzelnen Praxisfeldern unterschiedlich präsenten thematischen Aspekten lässt sich an dieses traditionelle, der Pastoraltheologie entliehene Schema praktisch-theologischer Arbeit nicht ohne weiteres anschließen. Ein solches Querschnittsthema erschwert dessen praktisch-theologische Analyse. Zum anderen steht der Rekonstruktion solcher thematischer Aspekte religiöser Praxis das gegenwärtig dominierende Interesse an prinzipiellen und methodischen Fragen zum christlich-religiösen Handeln entgegen. Die Erschließung und Erörterung inhaltlich orientierter, ›materialer‹ Fragestellungen ist innerhalb der Praktischen Theologie noch immer ein Desiderat. Die praxisfeldübergreifende Untersuchung dieser Themen käme jedoch nicht zuletzt dem Verständnis des Zusammenhangs christlich-religiöser Praxis und damit auch der Einheit der Praktischen Theologie zugute.
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Bilder und Bildung der Gerechtigkeit 1. »›Sie muß noch ein wenig ausgearbeitet werden‹, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rändern der Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. ›Es ist die Gerechtigkeit‹, sagte der Maler schließlich. ›Jetzt erkenne ich sie schon‹, sagte K., ›hier ist die Binde um die Augen und hier die Waage. Aber sind nicht an den Fersen Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf?‹ ›Ja‹, sagte der Maler, ›ich mußte es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in einem.‹ ›Das ist keine gute Verbindung‹, sagte K. lächelnd, ›die Gerechtigkeit muß ruhen, sonst schwankt die Waage, und es ist kein gerechtes Urteil möglich.‹«
Gerechtigkeit lässt sich unterschiedlich malen. Die kleine Szene aus Franz Kafkas (1883– 1924) posthum veröffentlichtem Roman Der Proceß (1935 [2007], 153) zeigt es ebenso wie die zurückliegenden Seiten dieses Bandes. Dennoch gibt es Grundkonstanten, die über spezifische historische und kulturelle Kontexte hinaus ein Wiedererkennen möglich machen – hier sind es die Augenbinde als Zeichen eines unbestechlichen Richtens, ohne Ansehen der Person, und die Waage als Symbol des gerechten Ausgleichs; Merkmale der personifizierten Gerechtigkeit, der Iustitia, wie sie von der Antike bis heute die Brunnen zahlreicher Städte schmücken, gleichsam als Verkörperung des existentiellen Zusammenhangs von Wasser und Gerechtigkeit, als Sinnbild des Wassers des Lebens und der Ströme der Gerechtigkeit, die sich in die Gemeinschaft ergießen und deren Bestand ermöglichen. Dabei steht die Figur der Iustitia immer in der Spannung zwischen erwarteter und erlebter, vermisster und ge-
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währter Gerechtigkeit. Sie ist Gegenstand der Sehnsucht und Ausdruck der Selbstverpflichtung der Gemeinschaft, die sie errichtet hat – nicht selten auf einem zentralen Platz der Stadt, oft in ihrer baulichen Mitte, wie zum Beispiel in Frankfurt am Main, wo der Iustitia-Brunnen genau auf der Achse zwischen dem Römer, dem alten Rathaus, und dem Kaiserdom liegt und so auf seine Weise den Zusammenhang von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit, aber auch von Gerechtigkeit und Macht veranschaulicht. Neben diesen Grundmerkmalen der Gerechtigkeit, die ein Wiedererkennen ermöglichen, zu denen auf der Ebene der christlichen Ikonographie z.B. auch das Schwert im Munde Christi, wie es als stete Vergegenwärtigung des Jüngsten Gerichts auf den Portalen mittelalterlicher Kathedralen zu sehen ist, oder auf der Ebene der Sprache (nicht nur) der Theologie Begriffe wie Recht und Richten, Gesetz und Gebot, Gnade und Barmherzigkeit, Sünde und Schuld, Rechtfertigung und Vergebung zu zählen sind, gibt es spezifische Ausprägungen von Gerechtigkeit, einzigartige Codierungen, unerwartete Verknüpfungen, offenbare Lücken und unzählige Leerstellen. Für den unvermittelt und unerklärlich in einen undurchschaubaren Prozess mit tragischem Ausgang verwickelten Josef K. sind es die Flügel und die wehenden Schritte der Siegesgöttin, die sich nicht zu seinem Bild der Gerechtigkeit fügen. Gerechtigkeit muss für ihn ruhen, um als solche wirken zu können. Gilt dies auch für die Gerechtigkeit, wie sie in den hier versammelten Skizzen aus der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte, der alt- und der neutestamentlichen Wissenschaft, der Geschichte der abendländischen Kirche und der protestantischen Dogmatik und Ethik sowie der vergleichenden Religionswissenschaft und der Praktischen Theologie gezeichnet wird? Müssen das akkadische Paar kittum und mīšarum, die biblisch-hebräische s edāqāh oder die neutestamentliche δικαιοσύνη »ruhen«, um als Grundordnung der Welt, Gabe des Schöpfergottes, wesentliches Prinzip der Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch erkannt und erlebt zu werden? Was sind Konstanten einer theologischen Reflexion der Gerechtigkeit, und wo zeigen sich Differenzen zwischen Erwartetem und Erlebtem? Was erweist sich als wesent licher, unmissverständlicher theologischer Pinselstrich, und was ist
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»keine gute Verbindung«, wenn Gerechtigkeit aus der Perspektive der Theologie betrachtet wird, die sich auf biblische Grundlagen und ihre altorientalischen und paganen griechischen Verwurzelungen bezieht, die wichtige kirchliche und frömmigkeitsgeschichtliche Traditionen im Blick behält, die die Welt der Religionen als ihren ureigenen Gegenstand versteht und die sich der Vielfalt und Widersprüchlichkeit gegenwärtiger Erfahrungen und Artikulationen des Glaubens verpflichtet weiß?
2. Grundlegend für die theologische Reflexion verschiedener Gattungen, Orte und Begründungen von Gerechtigkeit ist zunächst das Verständnis von Gerechtigkeit als einer universalen und theonomen Größe. Gerechtigkeit ist aus der Perspektive der Theologie nicht nur auf einen Bereich der Erfahrung und der Wirklichkeit beschränkt, sondern individuelle und kollektive, politische, soziale und religiöse Gerechtigkeit werden in einem engen Wechselverhältnis gesehen. Das heißt weitergehend: Gerechtigkeit als Eigenschaft und Gabe des Schöpfergottes bezieht sich auf den Menschen und seine Welt, sie ist entscheidendes Merkmal der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf sowie Maßstab menschlichen Handelns in Entsprechung zu dem von Gott und dem Nächsten erwarteten Handeln. In der durch das Alte Testament vermittelten Tradition des altorientalischen und altägyptischen, in Spuren auch des altgriechischen Weltordnungsdenkens, kann Gerechtigkeit als eine den Kosmos durchwaltende und bestimmende Macht angesehen werden. Dies schließt nicht aus, dass punktuell das Chaos losbricht und dieses die Schöpfung als ersten Akt der Götter zu negieren droht, wie es in der von Mesopotamien bis nach Kleinasien, Syrien-Palästina, in das antike Griechenland, aber auch in die Arabische Welt und nach Indien wandernden Sintflutmythe verdichtet ist. In ihrer alttestamentlichen Prägung erscheint dieses poetische Grundsymbol menschlicher Existenzerfahrung, die Sintflut, als urzeitliche, damit paradigmatische und zeitübergreifende Erzählung von der Gerechtigkeit des Schöpfergottes, insofern die Sint-
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Zusammenschau
flut hier als Gericht über die Sünde des Menschen gedeutet wird. Als Quelle der Gerechtigkeit und als Zielpunkt von Gerechtigkeit wird hier Gott selbst angesehen. Dieses theonome Verständnis von Gerechtigkeit zieht sich durch alle Phasen der jüdischen, christlichen und, wie der religionswissenschaftliche Beitrag in diesem Band zeigt, der islamischen Religion: Gott setzt Gerechtigkeit, ist gerecht und wirkt in individuelle und kollektive Lebensgeschichte hinein als Richter. In dieser Aussage konvergieren jüdische, christliche und muslimische Glaubensbekenntnisse. Das Bekenntnis »Gott ist gerecht« wird aber, lässt man nochmals die in den bibelwissenschaftlichen und kirchengeschichtlichen Beiträgen dieses Bandes exemplarisch diskutierten Quellentexte Revue passieren, durchgehend begleitet von der Problematisierung dieses Bekenntnisses. Es sind jeweils die als Bruch der Beziehung zwischen Gott und Mensch – und Gerechtigkeit ist im Verständnis christlicher Theologie wesentlich ein Beziehungsbegriff – gedeuteten Negationserfahrungen, die dieses Bekenntnis in die Frage nach Grund und Ziel erlittenen Unrechts verwandeln und die die Gerechtigkeit Gottes selbst zur Disposition gestellt sehen. Der Verlust des Königs, der im alten Israel/Juda wie in Mesopotamien als ein von Gott eingesetzter Garant des Rechts angesehen wurde, die Zerstörung des Tempels, der im eisenzeitlichen Juda wie im Alten Orient als Stätte der heilvollen Präsenz Gottes verstanden wurde, der Entzug des Landes, das den unbekannten Verfassern der Vätergeschichten und der deuteronomistischen Geschichtsschreibung als von Gott geschenkte Lebensgrundlage galt, waren solche Negationserfahrungen, die in den Jahrhunderten nach der Katastrophe von 587 v. Chr. die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, nach seiner Gemeinschaftstreue aufkommen ließen. In den großen historiographischen, prophetischen und weisheitlichen Entwürfen der persischen und hellenistischen Zeit fanden sie Sprache und Gestalt. Es sind im Alten Testament und – wie die Ausführungen zum Neuen Testament und zu Etappen der Kirchengeschichte zeigen – auch in der späteren christlichen Theologiegeschichte durchgehend ›Theologien der Krise‹, die die Frage der Gerechtigkeit, zumal der Gerechtigkeit Gottes, in besonderer Weise artikulieren und dabei mit unterschiedlichen Begründungsmustern als ›Anti-Chaos-Theolo-
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gien‹ fungieren. Ein bleibendes Vermächtnis der jüdischen Gerechtigkeitsdiskurse der persischen und hellenistischen Zeit ist nicht zuletzt eine ›Demokratisierung‹ der Gerechtigkeit, d.h. die Übertragung der Aufgabe des Königs, als Gottes Stellvertreter auf Erden Recht und Gerechtigkeit zu repräsentieren, auf alle Menschen. Vorbereitet durch die alttestamentliche Vorstellung, dass erstens Gottes Barmherzigkeit letztlich stärker ist als sein Zorn, wobei Barmherzigkeit und Zorn jeweils als Metaphern der Gerechtigkeit Gottes verstanden werden können, und dass zweitens der Mensch in seiner geschöpflich bedingten Endlichkeit und Begrenztheit immer hinter den Ansprüchen zurück bleibt, die er an die von ihm selbst geübte und selbst erfahrene Gerechtigkeit hat, was sich theologisch mit dem Begriff der Sünde trifft, kommt es im Angesicht der absoluten Negationserfahrung, des Todes des Gottessohnes am Kreuz, zu einer Fokussierung der christlichen Theologie auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen. Der Tod des Menschen, in dessen Nähe die unmittelbare Zuwendung Gottes, in den Metaphern des Alten Testaments der Anbruch der Königsherrschaft Gottes und die Inkarnation der kosmischen Weisheit, spürbar war und über diesen Tod hinaus lebendig blieb, wird zu einem fundamentalen theologischen Fixpunkt der Rechtfertigung Gottes und des Menschen im Horizont des denkenden Glaubens. Auch wenn in den unterschiedlichen Begründungen und Ausmalungen von Gerechtigkeit im Neuen Testament, sei es im Matthäusevangelium, im lukanischen Doppelwerk, in den paulinischen Briefen oder in der Offenbarung des Johannes, im Alten Testament vorliegende (Neu-)Bestimmungen von Gerechtigkeit erhalten blieben bzw. modifiziert weitergeführt wurden, so ist doch mit dem Neuen Testament Gerechtigkeit zu einem Zentralthema der christlichen Theologie geworden. Unbeschadet der Pluralität von Gerechtigkeitsvorstellungen im Neuen Testament, die sich einerseits der Partizipation an den verschiedenen paganen Gerechtigkeitsdiskursen, andererseits unterschiedlichen pragmatischen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Schriften verdanken, hat das Neue Testament der ihm nachfolgenden und es in Leben und Schrift auslegenden Theologie Gerechtigkeit als bleibende Aufgabe gestellt – und zwar in dem doppelten Sinn, dass Theologie seitdem
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Zusammenschau
immer wieder den Begriff der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Gegenüber von biblischer Überlieferung und gegenwärtiger Erfahrung reflektieren und neu zur Sprache bringen sowie Gerechtigkeitsdiskurse in Kirche und Gesellschaft kritisch begleiten muss. Auch wenn christliche Theologie primär eine Funktion der Kirche ist, so kann sie sich nicht auf diese als soziales Gegenüber beschränken. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem geglaubten Anspruch des Gottes des Alten und Neuen Testaments, Richter der Welt zu sein (Gen 18,25; Apostolicum). Durch die biblischen Schriften zieht sich die Überzeugung, dass dieser Gott nicht nur vom einzelnen Menschen Gerechtigkeit erwartet, sondern vom Leben der Völker insgesamt. Die universale Konzeption der Gerechtigkeit in der biblischen Tradition bedingt, dass die sich zum biblischen Gott bekennenden Gemeinschaften nicht nur gruppenimmanent Gerechtigkeit üben und einfordern, sondern dies auch im Blick auf die gesamte Welt tun. Wie die Erwählung Israels zum Volk Gottes die Verpflichtung Israels beinhaltet, diesen Gott in der Welt zu bezeugen, so beinhaltet die im Glauben an Jesus Christus erfahrene Rechtfertigung, Gerechtigkeit im Sinne der heilvollen Gemeinschaft mit Gott universal zu verkündigen und vorzuleben. Die Geschichte der K irche lässt sich als ein solcher Versuch lesen, die Gerechtigkeit Gottes und des Menschen universal zu verkündigen und vorzuleben. Dabei zeigen sich sowohl die Transformationskraft christlichen Glaubens und christlicher Theologien, insofern genuin pagane Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen aufgenommen und neu bestimmt wurden, als auch epochale Schwankungen in der Schwerpunktsetzung, insofern zu unterschiedlichen Zeiten und aufgrund wechselnder sozialer, ökonomischer und geistesgeschichtlicher Faktoren die religiöse, soziale oder ethische Dimension von Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der theologischen Reflexion und der gelebten Religion tritt. Mitunter ist dieser Versuch aber auch furchtbar gescheitert, wenn im Namen der Gerechtigkeit Gottes die Menschenrechte alias die Menschenwürde mit Füßen getreten und die für den christlichen Glauben grundlegende Erfahrung des leidenden Gottesknechts und des mitleidenden Gottes pervertiert wurden. Die im Glauben an Jesus
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Christus gewonnene Befreiung zur Gemeinschaft mit Gott wurde im Laufe der Geschichte der Kirche immer wieder verspielt, wenn Andersgläubige mit Gewalt in diese Gemeinschaft gezwungen werden sollten. Tragischerweise waren es nicht selten dieselben Theologen, die einerseits der Kirche zu einem neuen, dem Leben dienenden Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen verhalfen und die andererseits zumindest als geistige Brandstifter mitverantwortlich waren für die Ermordung von Juden, die Verfolgung von Frauen und die koloniale Unterdrückung indigener Bevölkerungsgruppen. Der kirchengeschichtliche Beitrag in diesem Band hat darauf aufmerksam gemacht, ebenso wie gegenwärtige philosophische Reflexionen religiös begründeter und legitimierter Gewaltanwendung (›heiliger Krieg‹; vgl. Triki 2010: 45‒55). Die Geschichte der Kirche war – und ist es bis in die Gegenwart immer wieder – auch eine Geschichte des Unrechts und der Ungerechtigkeit. Die Theologie hat dies oft nicht nur nicht verhindert, sondern sogar befördert. Im Hintergrund dieser theologischen Abwege und Abgründe standen zumeist a) die Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf, b) die krasse Fehlinterpretation des Motivs der Gottes ebenbildlichkeit, die jedem Menschen, unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Rasse, seiner ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, seinem Bildungsstand oder seiner Religion, dasselbe Recht auf die Repräsentanz Gottes in dieser Welt und auf eine Gott gegenüber verantwortliche Gestaltung der Schöpfung zuweist, c) die gedankliche Auslassung der zweiten Hälfte der Vergebungsbitte des Vaterunsers oder d) die Nivellierung einer theologia crucis, in deren Zentrum gerade die von Gott im Kreuzestod Jesu in Kauf genommene Ohnmacht und damit der Verzicht auf Macht und Gewalt stehen. Der von den Kirchen ins Leben gerufene konziliare Prozess »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« ist in diesem Sinn nicht nur ein Aufruf an die Welt zu radikaler militärischer Abrüstung, umfassender wirtschaftlicher Solidarität und einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt, sondern auch ein Bekenntnis der eigenen Schuld.
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Zusammenschau
3. Aus dem Dreiklang des konziliaren Prozesses ergibt sich als weiteres grundlegendes Element des Nachdenkens über Gerechtigkeit im Raum der Theologie und ihrer Disziplinen das Stichwort der Schöpfung. Dieses zieht sich ganz sachgemäß mit mehr oder weniger deutlichen Akzenten durch alle hier versammelten Aufsätze, am deutlichsten wird dies wohl im alttestamentlichen Beitrag, am wenigsten ausgeprägt im religionswissenschaftlichen Teil, weil in der dort im Mittelpunkt stehenden Religion des Islam das Thema Schöpfung keine besondere Rolle spielt. So lassen sich mit dem Begriff der Schöpfung für die unterschiedlichen theologischen Konzeptionen und Modellierungen von Gerechtigkeit erstens die Quelle, zweitens das Ziel und drittens das Wesen von Gerechtigkeit beschreiben: Gerechtigkeit gründet in Gott, findet in ihm und durch ihn ihre Erfüllung und realisiert sich als gelingende Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die gekennzeichnet ist durch Freiheit vom Zwang der Selbstrechtfertigung, an deren Ende nicht der »Tod Gottes« steht (Einführung, S. 12), sondern, wie das Scheitern aller menschlichen Rechtfertigungsversuche im Kontext der globalen Umwelt- und Wirtschaftskatastrophen zeigt, der sich selbst zerfleischende Mensch in all seiner Einsamkeit und Hilflosigkeit. Weiterhin gibt der Begriff der Schöpfung den anthropologischen und theologischen Rahmen von Gerechtigkeit vor. Als Geschöpf ist der Mensch einerseits befähigt, Gerechtigkeit in Gestalt des Lebensförderlichen und Sinnvollen zu üben, andererseits ist er endlich und fragmentarisch, so dass er immer wieder hinter den Forderungen nach einem gerechten Handeln und Verhalten zurückbleibt. Die Geschöpflichkeit des Menschen erklärt Gelingen und Misslingen von Gerechtigkeit. Wo dementsprechend Gerechtigkeit theologisch betrachtet wird, gehört die Reflexion der Geschöpflichkeit des Menschen und der Sünde dazu. Ohne diese beiden Aspekte lässt sich theologisch nicht adäquat von Gerechtigkeit reden. Eine theologische Reflexion und Konzeption von Gerechtigkeit, die nicht auch das Phänomen der Sünde, und zwar in ihren individuellen und kollektiven, persönlichen und strukturellen Ausprägungen, bedenkt, ist defizitär.
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Insofern die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf immer ein Gefälle aufweist, spiegelt der Begriff Schöpfung auch die für das theologische Verstehen von Gerechtigkeit wichtige Asymmetrie wider. Die Gerechtigkeit Gottes ist umfassender als die des Menschen, Gottes Erbarmen größer als sein Strafen, sein Aufrichten stärker als sein Vernichten. Gleichwohl bleiben unter den Bedingungen der Endlichkeit die Erfahrungen der Negation, für die die theologische Tradition eben die Metaphern von Gottes Zorn und Gottes Gericht kennt. Diese sollten auch nicht vorschnell im Zuge einer vermeintlichen Aufgeklärtheit über Bord geworfen werden. Erst mit der Aufhebung der Zeit, biblisch geprochen mit der Durchsetzung des Reichs Gottes, mit dem endgültigen und irreversiblen Vollzug des Weges der Gerechtigkeit oder der Errichtung des Neuen Jerusalems ‒ um nur einige Bilder der Gerechtigkeit zu nennen ‒ wird diese Asymmetrie in Richtung der Barmherzigkeit aufgelöst sein. Gerechtigkeit ist damit nicht nur ein Thema der Kosmologie, der Anthropologie, der Ethik und der Ekklesiologie, sondern vor allem auch ein Gegenstand der Eschatologie. Dabei kann die Hoffnung auf eine jenseitige vergeltende Gerechtigkeit, wie sie vor allem durch apokalyptische Kreise wach gehalten wurde und wird, angefangen bei den hinter Dan 12, SapSal 3 oder Mt 25 stehenden Verfassern über die mittelalterlichen Maler des Jüngsten Gerichts bis zu fundamentalistischen Gerichtspredigern heute, immer nur ein Korrelat zu der Erfahrung sein, dass sich Gottes Gerechtigkeit bereits jetzt jeden Tag neu ereignet und durch Jesus Christus schon jetzt einen Raum konstituiert, in dem Gerechtigkeit der Geschlechter, der Generationen und der verschiedenen sozialen Gruppen herrscht (Gal 3,28). Zur theologischen Reflexion von Gerechtigkeit gehört damit auch die Frage, wie Gerechtigkeit im Raum der Kirche Gestalt findet. Dies impliziert die Reflexion der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Blick auf die Predigt und das öffentliche Gebet, den Unterricht und die Gemeindeorganisation, die Diakonie und vor allem auch im Blick auf die Seelsorge – gehört doch die Frage »Womit habe ich das verdient?« zu den grundlegenden Varianten der »Warum-Fragen«, die auf je spezifische Weise die Anwesenheit, die Macht oder die Gerechtigkeit Gottes artikulieren (Hartmann 1993: 29–47).
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Zusammenschau
Im Begriff der Bildung (παιδεία), der über die alttestamentliche Weisheit, vor allem in ihren jüdisch-hellenistischen Wurzeln, über altkirchliche Theologen wie Clemens von Alexandria, die mittelalterliche Mystik oder den Pietismus, zum Grundwortschatz der Theologie gehört, könnten unterschiedliche Gerechtigkeitsbilder, die im Raum des theologischen Nachdenkens und kirchlichen Handelns existieren, zusammengeführt und der spezifische Beitrag der Thematisierung von Gerechtigkeit im Rahmen der Theologie zu einem gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskurs benannt werden: Gerechtigkeit gründet in einem allen menschlichen Handeln und Verhalten zuvorkommenden Bildungsprozess Gottes, der den Menschen zu seinem Gegenüber gebildet hat. Gerechtigkeit vollzieht sich in einem steten Dialog von Gott und Mensch, der auf Bildung, von, durch und zu Gerechtigkeit angelegt ist (Buber 1984: 131–146, 227–246). Gerechtigkeit muss – theologisch betrachtet –immer in Bewegung sein. Dabei vermag die Theologie einerseits, mit guten Gründen auf die letztliche Unverfügbarkeit und auf die absolute Notwendigkeit, auf die göttliche Gabe und die menschliche Aufgabe von Gerechtigkeit hinzuweisen. Andererseits kann sie die Diskrepanz von erwarteter, geübter und enttäuschter Gerechtigkeit deuten, indem sie zu einem Absehen von einer an thropozentrischen Perspektive anleitet, ohne unter Ungerechtigkeit Leidende aus dem Blick zu verlieren, die Mahnung zu sozialer Gerechtigkeit zu vergessen (Armes reiches Deutschland. Jahrbuch Gerechtigkeit I) oder die Skepsis der vielen Hiobsgestalten in der Geschichte gegenüber der Theonomie der Gerechtigkeit auszublenden. Dazu gehört auch, dass die Theologie die Gewissheit, dass einst »Gerechtigkeit blühen wird« (Ps 72,7), immer wieder neu reflektiert zum Ausdruck bringt, ohne Erfahrungen von Unrecht aus dem theologischen Denken zu verbannen. Die Spannung zwischen erlebter Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit kann Theologie nicht auflösen – sie kann und muss diese aber jeweils neu und in der Sprache ihrer Zeit in Relationen zu einem Handeln Gottes stellen, den sie von ihren Anfängen an als gerechten Schöpfer und transzendente Quelle der Gerechtigkeit bekennt. Die Theologie wird dabei gegenüber philosophischen Forderungen einer post-monotheistischen und sich selbst als post-religiös verstehenden Begrün-
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dung von Gerechtigkeit (Meskini 2010: 158‒160) an ihrem Grundbekenntnis zu dem einen Gott, der als Herr über Leben und Tod der Welt gegenübersteht, festhalten.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellen Armes reiches Deutschland. Jahrbuch Gerechtigkeit I: Armes reiches Deutschland. Jahrbuch Gerechtigkeit I, hg. vom Kirchlichen Herausgeberkreis Jahrbuch Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2005. Kafka, Der Proceß (1935): Kafka, Franz: Der Proceß. Roman. In der Fassung der Handschrift, Frankfurt a.M. 2007.
2. Sekundärliteratur Buber 1984: Buber, Martin: Der Glaube der Propheten (1950), Heidelberg 19842. Hartmann 1993: Hartmann, Gert: Lebensdeutung. Theologie für die Seelsorge, Göttingen 1993. Meskini 2010: Meskini, Fekti: Entschuldigung, Verzeihen und Rechtfertigung oder Monotheistische Politiken, in: Poulain, Jacques/Sandkühler, Hans Jörg/Triki, Fathi (Hgg.): Gerechtigkeit, Recht und Rechtfertigung in transkultureller Perspektive (Philosophie und Transkulturalität 10), Frankfurt a.M. 2010, 137‒160. Triki 2010: Triki, Fathi: Rechtfertigung und Gewalt, in: Poulain, Jacques/ Sandkühler, Hans Jörg/Triki, Fathi (Hgg.): Gerechtigkeit, Recht und Rechtfertigung in transkultureller Perspektive (Philosophie und Transkulturalität 10), Frankfurt a.M. 2010, 44‒55.
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Autoren und Autorinnen
Beinhauer-Köhler, Bärbel, geb. 1967, ist Professorin für Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Bormann, Lukas, geb. 1962, ist Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Gräb-Schmidt, Elisabeth, geb. 1956, ist Professorin für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Leppin, Volker, geb. 1966, ist Professor für Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Mittelalter und Reformationsgeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Pfeifer, Guido, geb. 1968, ist Professor für Antike Rechtsgeschichte, Europäische Privatrechtsgeschichte und Zivilrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Roth, Ursula, geb. 1967, ist Privatdozentin für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Witte, Markus, geb. 1964, ist Professor für Exegese und Literaturgeschichte des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiter des Instituts Kirche und Judentum – Zentrum für christlich-jüdische Studien an der Humboldt-Universität.
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Stellenregister
Altes Testament
Ps 143
54, 56
Spr 14,34
63
Jes 5,8–24 Jes 11,1-9 Jes 11,4 Jes 45,21 Jes 52,13–53,12 Jes 56,1 Jes 58,7–12
43, 57 6 48 51 55, 60 63 190, 192, 215
Jer 31,31–34
58
Gen 1,31 Gen 3,1–7 Gen 4 Gen 6,9 Gen 6,11 Gen 15,6 Gen 18,22–33 Gen 18,25
2, 41 41 40–43, 55 38, 42 57 37, 43, 86 190 42, 222
Ex 21,1–22,29 Ex 34,6f.
42 10, 72, 76
Lev 17–26 Lev 18,5
38 85
Ez 18 Ez 36,26
55, 63 58
Dtn 6,4f. Dtn 9,4–6 Dtn 9,5 Dtn 17,14–20 Dtn 32,4
12 44 71 52 38, 44, 71
Dan 12
61, 225
Hi 3,20 Hi 7,17 Hi 15,14 Hi 25,4 Hi 42,5f.
2 12 12 54 55
Hos 2 Am 5 Mi 2,1–3 Hab 2,4
31, 51 131 43, 57 57–59, 62, 80, 84f. 38, 47
Ps 8,5 Ps 49,16 Ps 51 Ps 72 Ps 72,7 Ps 89,15 Ps 97 Ps 103
12 61 56 48, 50, 226 226 37, 51 51 38, 76, 190
Mal 3,20
Alttestamentliche Apokryphen 2Makk 7,9
61
Neues Testament Mt 3,15 Mt 5,20 Mt 6,1
79f. 79, 82 81f.
232
Stellenregister
Mt 6,12 Mt 20,1–16 Mt 21,32
10 77, 190, 216 74, 79f.
Lk 11,4
10
Röm 1,16f.
103, 190, 192, 214 59, 80, 84, 106, 111, 113, 117 83 101, 109 101 74, 126 131
Röm 1,17 Röm 3,19 Röm 3,21 Röm 3,21–24 Röm 3,28 Röm 7
Gal 3,11 Gal 3,28
80, 84–86 86, 225
Eph 4,17–24
190, 192, 214
Qumran 1QpHab
59, 62f., 80, 84
Apostolische Väter 1Clemensbrief 2Clemensbrief
100, 121 100, 121
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Namenregister
Abel 40, 43 Abraham 12, 37, 43f., 55, 86, 190 Abu Hanifa 174 Abu Mikhnaf 182 Adam 41f. al-Aš‘arī 173f., 184 al-Basi, Hasan 179 Albertus Magnus 106, 108, 120 al-Gazali 180 al-Hallaj 180 al-Mulk, Nizam 169, 184 Anaximander 70 Anselm von Canterbury 109, 120 Aristoteles 4, 10f., 13, 28, 70f., 77, 88, 93f., 106–112, 115, 118, 120, 128, 130–132, 135, 140f., 152 Assurbanipal 48, 64 Athanasius 102f., 120 ‘Attar 174, 179 Augustin 101–105, 107, 109f., 112, 114, 120 Barth, Karl 146, 152 Bartolus 118 Buber, Martin 226f. Calvin, Johannes 5, 117, 120f. Cicero 4, 71, 73, 104, 121 Clemens von Alexandria 101f., 121, 226 Comenius, Johann Amos 209, 214 Cyprian 100, 121 David 46f. Douglas, Mary 159 Fatima 164, 175, 182, 184
Gratian 107, 121 Hammurabi 4, 18, 21, 24–26, 29–33, 47, 52 Hesiod 69 Hiob 1f., 7, 11f., 13, 53–56, 66, 72, 125, 157, 226 Hobbes, Thomas 118f., 123, 136, 152 Ibn Hanbal, Ahmad 181 Ioannes Chrysostomus 100, 121 Isidor von Sevilla 107 Iustinus Martyr 101, 121 Jesus 5, 62, 75f., 78f., 82, 85, 87–90, 93, 100, 125, 132f., 196f., 206, 211f., 222f., 225 Kafka, Franz 217, 227 Kant, Immanuel 11–13, 19, 136–139, 145f., 152 Kohelet/Prediger 54, 60 Kohlberg, Lawrence 203f., 216 Laktanz 102, 121 Langton, Stephan 105 Leibniz, Gottfried Wilhelm 2, 11, 13 Locke, John 136, 152 Luther, Martin 5, 11, 14, 57, 87, 97, 111–118, 121f., 126, 147–149, 152, 200f., 208f. Marduk 21 Marsilius 108, 121 Melanchthon, Philipp 208
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Namenregister
Mose 10, 44f., 51f., 58f., 89
Rousseau, Jean-Jacques 136, 153
Nietzsche, Friedrich Wilhelm 12, 14, 154 Noah 38, 42f.
Salomo 47, 60 Šamaš 20f., 23, 26, 31, 34, 47
Origenes 101f., 122 Paulus/paulinisch 5, 56–59, 62, 74, 80, 83–90, 93, 99, 103f., 109, 114, 125, 131, 149, 209, 221 Petrus Abaelard 104, 109, 119 Petrus Lombardus 105, 122 Philo von Alexandria 61, 73 Platon 4, 60, 70f., 73, 94, 122f., 128–130, 135, 138, 152–154 Pufendorf, Samuel 118f. Rawls, John 126, 137–139, 141, 145, 152f. Re 47
Tauler, Johannes 110–112, 122 Theophrast 70 Thomas von Aquin 106, 122f., 133, 153 Ulpian 4, 70, 94, 129, 153 Urukagina 27, 33 Voltaire 1f., 7, 14 Wiesel, Elie 7, 14 Wilhelm von Ockham 106, 110f., 122 Zeus 14, 48, 64, 69, 73 Zwingli, Ulrich 5, 115f., 122
235
Sachregister
Abrahamgeschichte 37 ‘adl 158, 163, 169, 171, 182 Allmächtiger 6, 92f., 95 Älteste 30 Anthropodizee 12 Anthropologie 3–5, 39, 54, 61f., 64, 85, 224f. Antijudaismus 45 Apostolisches Glaubensbekenntnis (Apostolicum) 6, 222 Apostolische Väter 99, 120–122 Aristotelismus 115 Armut 42, 48, 81, 90, 125, 192, 195, 207f., 215, 226f. Aufklärungsphilosophie 6 Aufklärungstheologie 9 Auszug aus Ägypten 44, 95, 156
Codex Hammurabi (CH) 4, 18f., 21, 24–26, 29–33, 47, 52 Codex Urnamma (CU) 21, 33 Corpus Paulinum 74
Barmherzigkeit 6, 9f., 37, 40, 51, 65, 72, 76–78, 83, 85, 87, 93, 94, 96, 100, 109f., 132, 134, 145, 148, 175f., 193, 200, 206f., 216, 218, 221, 225 Barnabasbrief 100, 120 Bergpredigt 79, 100, 116 Bildung 19, 30, 70, 188, 205, 207–212, 215f., 217, 223, 226 Bruderliebe 99f. Buddhismus 8, 159f. Bund 44f., 58, 72, 80, 100, 103, 132f. Bundesbuch 19, 37f. Bürgermeister 30
Eigenschaft 9f., 76, 81f., 91, 105, 107, 116, 126, 138, 146, 171–173, 200, 219 Ekklesiologie 225 Emissionsrechte 124 Eschatologie 6, 49f., 60, 82, 84, 86, 90, 92, 125, 133f., 158, 170, 181, 225 Eschatologisierung 49f. Ethik 3, 5, 10f., 13f., 60, 64, 66, 67, 75f., 79, 94, 100f., 104, 106, 108, 111, 113f., 116, 125, 128, 130, 139, 141, 144, 146, 149, 151–154, 158, 161f., 165, 205, 208, 218, 225 Evangelium 5, 9, 61, 74–77, 79, 83, 87–90, 95–97, 221
Chaos 2, 50, 219f. Christologie 55, 74f., 171, 190, 211
Dekalog 38, 52, 54, 58, 62 Demokratisierung 50, 221 deus ex machina 202 Deuteronomium 12, 38, 42, 44f., 52, 58, 71 Diakoniewissenschaft 187, 206–208 Dialog 7, 40, 54, 56, 79, 226 – Dialog der Religionen 7 Didaktik 172, 187, 199, 205, 216 do ut des 150, 202f. Dualismus 12, 91
Fatimiden 170
236
Sachregister
Feindesliebe 75f. Freiheit 3, 5f., 11, 13f., 91, 118, 123, 126, 129, 131–133, 135–137, 139–145, 147–151, 165, 173, 203, 209, 216, 224 Frieden 6, 22, 39, 48, 51, 81, 108, 115, 117, 119, 121, 126, 153, 169, 195–197, 208, 215, 223 Fürbitte 48, 55, 195 Fürsprache 164, 174–177, 190 Gebet 8, 56f., 63, 165, 174, 194–197, 202f., 225 Gebot 9, 12, 39, 44, 58, 65, 73, 100–102, 104, 116, 119, 126, 157, 196, 218 Gerechtigkeit – δικαιοσύνη 9, 43, 60, 62, 69, 79f., 83, 96, 143, 218 – s. edāqāh 9, 38, 43, 46–48, 65, 80, 132, 143, 218 – iustitia 4, 9–11, 28, 70, 77f., 102f., 105–107, 108–109, 111–113, 115, 118, 120f., 129, 131, 217 – iustitia commutativa 10, 28, 107, 131 – iustitia contributiva 11, 131 – iustitia correctiva 131 – iustitia Dei 105, 111 – iustitia distributiva 11, 28, 70, 77f., 107, 109, 111 – iustitia generalis/legalis 11, 108f., 118 – Bedarfsgerechtigkeit 208 – Befähigungsgerechtigkeit (capability approach) 129, 141–143, 151, 207 – Bildungsgerechtigkeit 188, 208–212, 216 – Glaubensgerechtigkeit 9, 86f., 93, 197 – Selbstgerechtigkeit 89 – soziale Gerechtigkeit 26–28, 114, 170, 195
– Tausch-/Vertragsgerechtigkeit s. iustitia commutativa – Verteilungsgerechtigkeit 70, 110, 207, 210, s. auch iustitia distributiva – Werkgerechtigkeit 9, 157, 165 Gericht 2, 6, 10, 12, 14, 29–31, 39f., 49f., 58f., 64–66, 70, 73, 78, 83f., 87f., 91–93, 97, 113, 158, 161–167, 171–174, 176, 179–183, 200, 218, 220, 225 – Endgericht 167, 182 – Weltgericht 50, 59 Geschäftsurkunden 18f. Gesetz 4, 9, 11f., 18, 22, 24, 26, 34, 38f., 44f., 51f., 64, 70f., 73, 80, 84–86, 89, 93, 103, 108, 118, 131, 135, 137, 160, 162, 165f., 179, 186, 193, 218 – Lex 9, 45, 73, 108 – νόμος 9, 45, 89 Gewalt 1f., 24, 43, 57, 76, 88, 92, 115, 195f., 223, 227 Glaube 4, 6, 8–13, 39, 41–43, 47, 49, 54, 57–59, 74, 80, 84–87, 93, 101, 103f., 112f., 117, 125–127, 133, 153, 166, 173f., 179, 188, 197, 200, 209, 219–222, 227 Gnade 9f., 72f., 76, 95, 103, 110, 113, 162, 164, 172–175, 177, 180, 183, 190, 193, 200, 203, 218 Gnadenformel 10, 72, 76 Gnadenreligion 162, 177 Gnadenthron 73 Gnosis 101 Gottebenbildlichkeit 133, 150, 211 Gottesknecht 50, 54f., 65, 169, 222 Güte Gottes 11, 13f., 164, 172, 175, 179 das Gute (bonum) 11, 70, 108, 112, 126, 131, 138–140, 195 – summum bonum 126, 131, 135, 138
Sachregister
Habakukbuch 50, 57–59, 62, 80, 84f. Heiligkeitsgesetz 38 Heiligung 8, 117 Herrschaft (irdisch/politisch) 10, 20, 24, 26, 46, 108, 118, 166–170, 182f. Herrschaft Gottes 10, 50, 74–77, 80–83, 89, 91, 170, 221 himmlisches/neues Jerusalem 91–93, 225 Hinduismus 8, 159f., 162, 185 Homiletik 187, 189 Horizontbegriff 127, 135, 144, 146–150, 153 Individualisierung 50, 145, 161 Islam 157, 161–171, 173f., 176–186 Jakobusbrief 62 Jesus Sirach 4, 37, 45, 58, 60 Jhwh-Königs-Psalmen 50 Johannesevangelium 44, 61 Johannesoffenbarung 5, 74f., 91f., 221 Jüngster Tag 158, 165, 171–175 Jüngstes Gericht 6, 163f., 200, 218, 225 Kirche 5–7, 9, 63, 89, 91, 125f., 153, 188, 197, 212f., 215 f., 218, 222f., 225 kittu/kittum 17, 23, 38, 218 König 4, 18, 20–24, 27–29, 31f., 33f., 46–52, 59, 64f., 93, 118, 171, 220f. Königsideologie 46, 49, 65 konziliarer Prozess 6, 119, 197, 223f. Koran 163–166, 168, 171–173, 176, 179, 183–186 Kosmodizee 12 Kosmologie 4, 6, 39, 61, 225 Kreuz 85, 90, 133f., 157, 191, 193, 221, 223
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Kreuzigung 17, 157 Land 17, 21, 26, 31, 40, 44, 48, 169, 178 Landvergabe 26 Leiden 12, 50, 53–55, 65f., 157, 197, 199, 222, 226 Liebe 6, 13, 47, 51, 63, 75–77, 99–102, 104, 109, 112, 119, 132, 145, 147f., 186, 193, 195f., 199, 201f., 206 Lipit-Ištar von Isin 21, 32 Liturgik 42, 54, 187, 194, 197, 214 Logienquelle (Q) 75f., 78f. Loyalität 48, 84 lukanisches Schrifttum 5, 74, 88–90, 93, 221 ma’at 16, 38, 64f., 132, 158f., 161, 184 mahdī 170, 181–183, 185 Matthäusevangelium 5, 10, 43, 50, 73–83, 87, 93, 95f., 100, 110, 112, 121f., 125, 134, 190, 193, 214– 216, 221, 225 Menschenrechte 6, 125f., 133, 137, 222 Menschenwürde 6, 126, 152, 222 Mesopotamien 3, 15f., 33f., 38, 46, 66, 170f., 219f. Messias 42, 46, 50, 56, 87, 95 mīšaru/mīšarum 17, 20, 22f., 26, 38, 218 Mönchtum 178 Murği’a 168, 170 Mu‘tazila 168, 170, 172f., 178f. Mystik 110, 113f., 122, 174, 178, 180f., 185, 211, 226 Nächstenliebe 119, 186, 206 Neuschöpfung 58 Neuzeit 5f., 10, 118, 126, 130, 135–137, 142f., 145–147, 150
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Sachregister
option for the poor 6, 207 Ordal 167 Pantheon 23, 31 Paradies 172, 175, 177, 179 Pietismus 226 Pilgerfahrt 176f., 178, 185 Poimenik 187 Polis 71, 129 Polykarpbrief 99, 122 Predigt 110, 122, 187–194 Priesterschrift 41f., 44f. Prophetie 3f., 37f., 43, 45, 49, 57–59, 61, 63, 87, 131f., 157, 220, 227 Prozessprotokolle 18f., 29 Psalmen Salomos 56, 58 Qadariya 168, 170 Qumran 10, 53, 55f., 59, 62, 79, 84, 94, 96 qurbān-Opfer 176 Recht 3f., 7, 9, 11, 14, 15–35, 37–39, 42f., 45–51, 55, 59, 63, 66f., 69f., 78, 81, 86, 88, 91, 93, 96f., 108, 123, 125, 129, 131, 133f., 137, 150, 154, 186, 190–192, 195, 207, 218, 221, 223, 227 – ius 9, 68, 108, 129 – δίκη 9, 70, 73f. – θέμις 9 – s.ædæq 9, 37–39, 43, 48, 80 – Naturrecht 118, 136, 138 Rechtfertigung 3, 5, 56, 65f., 73, 83–85, 101, 117, 123, 134, 147–150, 157, 186, 218, 221f., 227 – iustificatio 103, 105, 109f. – Rechtfertigungslehre 7, 9, 106, 114, 147–149, 151 – Selbstrechtfertigung 12, 224 Rechtsgeschichte 3f., 15ff., 39, 67, 218
Rechtssammlungen 4, 18–22, 26–31 Reich Gottes 75, 87 Reinheit 8, 86, 159 Religionsgeschichte 9, 42, 157, 161f., 164 Religionspädagogik 8, 187, 208f. Religionsunterricht 8, 187, 199f. Ressourcenverteilung 125 Richten 14, 34, 39, 48, 51, 64f., 84, 153, 158, 196, 201, 217f. Richter 2, 23, 29–34, 39f., 42, 46, 58, 65, 69, 73, 75, 78, 88, 96, 132, 157, 162–164, 166, 171–173, 180, 183, 190f., 200, 220, 222 Römerbrief 11, 44, 59, 73f., 79f., 83–88, 97, 101–103, 106, 109, 111–113, 116f., 120, 122, 125f., 131f., 190, 192 Sapientia Salomonis 4, 37, 43, 59–61, 63, 225 Schia 175f., 181f., 185 Schicksal 11, 65, 157, 164f., 168, 173, 179, 199 Scholastik 5, 9, 108, 110f. Schöpfung 4, 6, 17, 23, 40–42, 58, 60, 63, 72f., 83, 85, 91, 119, 133, 149, 164, 171, 197, 209, 211, 219, 223–225 Schuld 10, 22, 27, 34, 78f., 85, 135, 164, 175, 189–191, 196f., 202f., 218, 223 Schuldknechtschaft 22, 27 Schwert 218 Seelsorgebewegung 198 Septuaginta 5, 45, 48, 53, 64, 69, 71, 76, 84, 94 Shoah 2, 14 Sintflut 42, 157, 219 Solidarität 6, 48, 125, 127, 133–136, 140–144, 150, 152, 166, 196, 207–210, 215, 223 Sozialethik 5f., 11, 126, 154, 208
Sachregister
Sprüche Salomos 42, 47, 53, 63, 81 Stellvertreter Gottes 169, 221 Sufismus 162, 178–180, 184 Sünde 1, 10, 42, 55f., 63, 79, 83–85, 103, 112, 116, 173–177, 201, 218, 220f., 224 – Erbsünde 1 – Sündenschuld 79 – Sündenvergebung 55, 177 – Sünder 9, 84, 110 – Sündigen 55 Sunniten/sunnitisch 168, 170f., 173f., 182 Talion 19 Tempel 26, 30, 33, 42, 49, 71, 84, 89, 220 Tempelgerichtsbarkeit 30 Theodizee 11, 13, 37, 56, 125, 157, 173, 198 Theokratisierung 50 theologia crucis 223 Tod Gottes 224 Tora (tôrāh) 9, 38f., 40, 45, 52, 57–60, 64, 72f., 80, 86, 89, 95 Tugend 5, 9, 60, 71, 78, 88f., 93, 101–107, 109, 112f., 115, 122f., 128, 131–133, 135, 165, 179, 184, 199 – Kardinaltugenden 5, 60, 101f., 105f., 123, 128 – Tugendethik 60, 101, 103f., 106, 113
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– Tugendideal 71, 78, 88f., 93 Tun-Ergehen-Zusammenhang 53, 154 umma 167 Unsterblichkeit 60f., 64, 153, 161, 184 Urgeschichte 41f., 66 Vaterunser 10, 223 vedisches Indien 158 Verantwortlichkeit 6 Verantwortung 11, 34, 63, 149, 161, 164f., 191f., 197, 200, 207–209, 215 Verdienst 112f., 176f., 198 Vergebung 10, 55, 94, 175–177, 196, 202, 218, 223 Versammlung 30f., 80 Waage 26, 217 Weherufe 57, 90 Weise, der 56, 88, 166 Weisheit 3, 5, 11, 14, 37, 41f., 49, 53, 55, 57f., 60f., 63, 65, 75f., 132, 220f., 226 Werke 9, 100, 110, 113, 117 Werte 8, 11, 109, 137, 199 zakāt 165, 176 Zwei-Reiche-Lehre 118, 123
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