Familiaria: Band 2 Buch 13-24 9783110215946, 9783110191592

In 1350, the Italian humanist and poet Francesco Petrarca decided to form a collection of all his correspondence. The le

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German Pages 965 Year 2009

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Inhalt
Adressaten und Inhaltsangaben zu den einzelnen Briefen Petrarcas
Vorbemerkungen mit Überblick über die einzelnen Briefe
Überblick über die einzelnen Bücher
Übersetzung der Briefe Buch 13 bis Buch 24
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Familiaria: Band 2 Buch 13-24
 9783110215946, 9783110191592

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Francesco Petrarca · Familiaria Band 2



Francesco Petrarca

Familiaria Bücher der Vertraulichkeiten Herausgegeben von Berthe Widmer

Band 2 Buch 13-24

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019159-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Claudia Wild, Stuttgart Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Inhalt Adressaten und Inhaltsangaben zu den einzelnen Briefen . . . . . . . . . . . . . .

VII

Vorbemerkungen zu Petrarca, Familiares Buch 13 bis 24 . . . . . . . . . . . . . . .

1*

Überblick über die einzelnen Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4* Zu Fam. 13,1–13,12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4* Zu Fam. 14,1–14,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15* Zu Fam. 15,1–15,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23* Zu Fam. 16,1–16,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34* Zu Fam. 17,1–17,10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45* Zu Fam. 18,1–18,16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54* Zu Fam. 19,1–19,18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63* Zu Fam. 20,1–20,15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75* Zu Fam. 21,1–21,15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92* Zu Fam. 22,1–22,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104* Zu Fam. 23,1–23,21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119* Zu Fam. 24,1–24,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135* Übersetzung der Briefe Buch 13 bis Buch 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buch 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 3 56 97 154 207 259 318 388 447 508 573 645

Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adressaten und Inhaltsangaben zu den einzelnen Briefen Petrarcas, Fam. 13–24 (Die Angaben zu den Briefabschnitten 1 ff. stammen von der Übersetzerin) Fam. 13,1, an Guy de Boulogne, Kardinal-Bischof von Porto Trostbrief zum Tode seiner Mutter. 1. Petrarca vertraut auf Nachsicht des Adressaten. 2. Einen Trostbrief für einen Sohn zum Tod seiner Mutter hat Petrarca noch nie geschrieben, doch hat er selber seine Mutter früh verloren. 4. Die Mutter des Angesprochenen hat grösstes Glück erlangt. 10. Sie ist zur besten Zeit gestorben. 11. Die natürliche Ordnung ist gewahrt worden. 12. Beispiele trauernder Eltern beim Tod ihrer Kinder. 13. Kinder weinen beim Tod ihrer Eltern wenig; so will es die Ordnung der Natur. Avignon, am 14. Mai (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fam. 13,2, an den Dichter Rinaldo in Verona Empfehlung eines jungen Mannes, den Petrarca dem Adressaten zur Unterweisung schickt. 1. Jener hat eine Zeit lang in Parma den Unterricht Gibertos genossen. 2. Petrarca kann seine Begabung nicht beurteilen. 4. Er hat ihn aber mit sich nach Avignon genommen. 6. Auch hat er vom Papst ein Kanonikat in Verona für ihn erlangt. 7. Eben da möchte er ihm beim Adressaten eine Unterkunft sichern. An der Quelle der Sorgue, am 9. Juni (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fam. 13,3, an Guglielmo da Pastrengo in Verona Zum selben Thema. Petrarca empfiehlt dem Adressaten einen Jüngling zur Erziehung. Am 9. Juni (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Fam. 13,4, an den päpstlichen Protonotar Francesco il Calvo von Neapel Über das Leben der Vielbeschäftigten. 1. Petrarca bemitleidet den Adressaten. 2. Das Leben der Hochgestellten ist ehrenvoll, aber ruhelos. 9. Für ihre Mühen dankt man ihnen mit noch grösseren Mühen. 10. Dass Tüchtigkeit und Ruhm nur gegen grossen Einsatz zu haben sind, lässt sich mit Beispielen belegen. 19. Petrarca wünscht jedoch nicht den Verzicht auf das Streben nach Ruhm. 20. Er ermuntert bloss zum Masshalten und schildert das ideale, vernünftige Leben eines Bildungsbeflissenen. 27. Dass er hierüber schreiben könnte, ist ihm aus guten Gründen gerade an der Quelle der Sorgue eingefallen. An der Quelle der Sorgue, am 10. Juni (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

VIII

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 13,5, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Von den Erfolgen an der römischen Kurie und von den drei Stilen. 1. Petrarca ist einem Ruf nach Avignon gefolgt. 3. Besser war es, zu gehen, als sich schleppen zu lassen. 5. Er fasst die Rede seiner Selbstverteidigung zusammen. 6. In der Jugend war er wegen seiner und mancher Freunde Armut auf kirchliche Ämter angewiesen, jetzt ist er es nicht mehr. 9. Noch im Alter nach Reichtum verlangen, ist lächerlich. 11. Seiner Verschwiegenheit wegen will man ihn zum päpstlichen Sekretär machen. 12. Seinen Schreibstil soll er jedoch ändern. 16. Es gibt drei Stilarten. 19. Petrarca stellt Anforderungen an den eigenen Stil und an die Aufmerksamkeit der Leser. Am 9. August (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Fam. 13,6, an Francesco Nelli Über das Wort Poesie und seine Profanation durch Ungebildete. 1. Petrarca führt die Darstellung des vorangehenden Schreibens fort. 3. Die Poesie ist göttlichen Ursprungs. 4. Man spricht über sie trotz grosser Unkenntnis sehr viel. 5. Cola di Rienzo ist als Gefangener in Avignon. 12. Er hat sich von löblichen Plänen abgewendet und hat die gute Sache verraten. 22. Das Volk aber hält ihn für einen Dichter und verlangt daher für ihn Schonung. 26. Ein Dichter ist Cola nicht. 30. Selbst einer der würdigsten Kardinäle kennt die einfachsten Begriffe der Poesie nicht. 35. Petrarca belehrt ihn über Grundsätzliches. An der Quelle der Sorgue, am 10. August (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Fam. 13,7, an Pierre aus der Auvergne, Abt des Klosters Saint-Bénigne Über die Lust am Schreiben und die ansteckende Schreibkrankheit. 1. Petrarcas Schreibwut. 4. Ein Geschichtlein belegt sie. 7. Petrarca trägt eine grosse Verantwortung für die Verbreitung dieser Seuche. 11. Er wird von Dichtern scharenweise überfallen und mit Gedichten eingedeckt. 13. Über falsche Dichtkunst. 16. Petrarca hat ein schlechtes Gewissen. 16. Spasshaft übertreibende Schilderung seiner Lage. 18. Der Adressat soll zur Nachsicht bewogen werden, weil Petrarca auf Briefe nicht schriftlich geantwortet hat. Er gehorcht aber dem Befehl, die Abreise zu verschieben. 21. Nun harrt er in Vaucluse aus. Die genannte Schreibwut droht auch hier einzudringen. (Vaucluse, 8.–11. November1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Adressaten und Inhaltsangaben

IX

Fam. 13,8, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Über das ländliche Leben in der Einsiedelei von Vaucluse. 1. Petrarca übt sich im Kampf gegen Anfechtungen seines Leibes. 4. Lobrede auf seine Wirtschafterin. 8. Vorzüge seines Wirtschafters. 9. Der Dichter greift gern zur Angel. 10. Die Kleidung hat er geändert. 12. Ein Wort über seine Gärtlein und sein Haus. 15. Schilderung des für Studien bestens geeigneten Ortes. (An der Quelle der Sorgue, Juni/August 1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Fam. 13,9, an den florentinischen Grammatiker Zanobi Petrarcas Ratschlag fand in Neapel Beachtung. 1. Zanobi habe sehr rasch gehorcht. 3. Seinen Brief und den von Acciaiuoli habe Petrarca erhalten. Der des Gross-Seneschalls scheine zu beweisen, dass Redekunst eine Naturbegabung sei. 4. Die Kritik an einem Vers habe Zanobi gut aufgenommen. 5. Er wird gebeten, seinerseits den Werken des Dichters gute Dienste zu leisten. 7. Petrarca wird von Neidern verfolgt. 9. Er freut sich, mit seiner Feder die Versöhnung von Hofleuten gefördert zu haben. An der Quelle der Sorgue, am 10. August (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Fam. 13,10, an denselben Zanobi Erklärung zu einem vorangehenden Schreiben. 1. Menschliche Werke sind nie vollkommen. 2. Petrarca hat bei der Aufzählung von Freundespaaren gewisse mit Absicht weggelassen. 4. Für diese Weglassung gibt er Gründe an. An der Quelle der Sorgue, am 25. August (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Fam. 13,11, an den Archidiakon Matteo Longhi von Bergamo an der Kirche von Lüttich Über die Natur und Treue der Hunde. 1. Der Hund des Adressaten stutzt, weil er seinen Herrn nicht vorfindet. 3. Beispiele für die besondere Abhängigkeit der Hunde vom Menschen und für ihre Anhänglichkeit. 8. Über das Verhalten des vom Adressaten zurückgelassenen Hundes. An der Quelle der Sorgue, am 25. August (1351/1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

X

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 13,12, an den Abt von Corvar(i)a Das Begehren nach neuen Werken ist mit Geduld und Mässigung zu zügeln. 1. Der Dichter freut sich, dass der Adressat aus den Stürmen des Lebens gerne zu ihm flüchten wollte. 2. Er spricht von dessen Durst nach Bildung und weiss, dass dem Durstigen jede Quelle recht ist. 5. Das vom Abt begehrte Werk Afrika kann ihm noch nicht vorgelegt werden. Er hat sich zu gedulden. 7. Das weite Land muss weiterhin bearbeitet werden und bedarf der Obhut eines Pflegers. An der Quelle der Sorgue, am 1. September (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Fam. 14,1, an den Kardinal Talleyrand, den Bischof von Albano Von den Schwierigkeiten und Gefahren im Leben der Höhergestellten. 1. Petrarca ist bereit, auf Wunsch des Kardinals etwas Einfaches klar zu behandeln. 3. Gegenstand der Ausführung sollen die Sorgen der Menschen auf ihrem Weg zum Ziel sein. 5. Sie gehen auf verschiedenen Ebenen, und die auf der höchsten sind am meisten gefährdet. 13. Die Gefahren, denen niemand entgehen kann, sind bei Vergil im Vorhof zur Hölle angesiedelt. 22. Doch jede Ebene hat ihre besonderen Gefahren, und wer immer nur auf der einen und gleichen wandelt, kann die der anderen nicht beurteilen. 23. Dennoch will Petrarca dem Kardinal den höchsten Stand charakterisieren. 25. Hier haben bedeutendste Menschen schwerstes Ungemach erlitten, wie Beispiele beweisen. 30. Gefahren der Mächtigen werden aufgezählt. 37. Petrarca nennt Vorzüge und Vorrechte des Kardinals und gibt ihm Ratschläge für seinen Alltag. 40. Er nennt die drei wichtigsten Tugendwerke. 44. Ob Petrarcas Stil einfach genug war, möge der Kardinal entscheiden. An der Quelle der Sorgue, am 22. September (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Fam. 14,2, an seinen Sokrates Der Adressat möge den vorangehenden Brief seinem Adressaten übergeben. 1. Nur der Papst steht über dem Kardinal. 3. Dieser hat Petrarca gebeten, einfach und klar zu schreiben. 4. Seine Begabung ist erstaunlich, doch versteht er einzig die Sprache der Legisten. 4. Er bittet, Petrarca möge verständlich schreiben. 8. In der Diskussion unterwirft sich der Dichter oft seinen Wünschen. An der Quelle der Sorgue, am 22. September (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Adressaten und Inhaltsangaben

XI

Fam. 14,3, an den Priester Luca von Piacenza Trostbrief zum vorzeitigen Tod eines jungen Mannes. 1. Petrarca erlaubt sich keine Tränen. 2. Der Tod erinnert erneut an die Ungewissheit menschlichen Schicksals. 3. Aufzählung leiblicher und geistiger Vorzüge; keiner hat dem Freund gefehlt. 6. Dieser ist nicht gestorben, sondern täglichem Sterben entronnen und wird auferstehen. 8. Seine Tugend lebt weiter, Petrarca hat eben diese geliebt. An der Quelle der Sorgue, am 25. September (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Fam. 14,4, an den Priester Luca von Piacenza Antwort auf verschiedene Verleumdungen durch Neider. 1. Der vorgebrachte Tadel ist ungerecht. 4. Das Kläffen der Menge macht Petrarca keinen Eindruck. 7. Seine Gegner suchen nach Gründen für seinen Aufenthalt in Avignon und für sein Weggehen von dort und ertragen beides nicht. 13. Einige werfen ihm Unbeständigkeit vor. 14. Andere beschuldigen ihn des Geizes und der Habgier. 17. Petrarca will die Vorwürfe widerlegen. 18. Er macht eine Verfügung nach Art eines Testaments. 21. Einige sprechen von Argwohn; der Vorwurf ist unhaltbar. 24. Petrarca gibt Rechenschaft über ein Kirchengut und wie er es verschenkt hat. 30. Richtig ist der Vorwurf der Entrüstung. Petrarca definiert sie. An den Flüssen Babylons, am 19. Oktober (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Fam. 14,5, an den Dogen von Genua Ermahnung zum Frieden mit Venedig und zu bürgerlicher Eintracht. 1. Petrarca hat den richtigen Augenblick zum Schreiben abgewartet. 4. Die Genuesen sollen sich mit dem errungenen Sieg begnügen. 7. Ihre Tapferkeit in der Schlacht auf dem Bosporus war eine unerhörte Leistung. 11. Mit dem auswärtigen Feind hat Petrarca kein Mitleid, denn er hat Unrecht begangen; zu bedauern ist allerdings das arme Volk. 12. Hoffnung auf Sieg über die häretischen Griechen. 14. Der Kampf der Italiener solle sich gegen die Ungläubigen richten. 15. Den echten Sieg gewinne man durch gute Gesinnung. 17. Äussere Feinde zu haben, sei nützlich. Zu vermeiden seien innere Spannungen. 19. Beispiele für den Niedergang von Städten infolge moralischer Schwächen und Parteiungen in den eigenen Mauern. 22. Schilderung Genuas in seiner Glanzzeit. 27. Erinnerung an seinen Niedergang. 29. Rettung der Stadt durch die Wahl eines Dogen. Avignon, am 1. November (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

XII

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 14,6, an die Genuesen Aufmunterung zum Krieg gegen auswärtige Feinde. 1. Die Genuesen verlegen ihren Kriegsschauplatz von Osten nach Westen. 2. Ihr Gegner ist meineidig. 4. Entgegen seiner Gewohnheit ermuntert Petrarca zum Kampf. 7. Aus Goldgier hat sich der Gegner mit den Venezianern verbunden. 8. Kriege mit äusseren Feinden helfen den Genuesen, inneren Streit überwinden. (Februar oder kurz nachher 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Fam. 14,7, an Guy de Boulogne, Kardinal-Bischof von Porto Vergebliches Warten auf die Rückkehr des Kardinals. 1. Eine erteilte Erlaubnis zur Abreise hat der Kardinal zurückgenommen; er will für den Dichter etwas Bedeutendes erwirken. 4. Petrarca wartet vergeblich auf den Kardinal. 7. Dann macht er sich in Vaucluse zur Italienreise bereit. Er bittet den Kardinal, das für ihn Bestimmte seinen Freunden zukommen zu lassen. An der Quelle der Sorgue, am 8. November (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Fam. 14,8, an Ponzio Sansone, Vorsteher von Cavaillon Bitte um Entschuldigung wegen einer grusslosen Abreise. 1. Petrarca hat zum voraus mit der Nachsicht des Vorstehers gerechnet; er ist stark beschäftigt. 3. Er stellt aber den Wert seiner eigenen Studien in Frage. 5. Jetzt teilt er seine bevorstehende Italienreise mit. An der Quelle der Sorgue, am 18. November (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Fam. 15,1, an seinen Lelio Aufmunterung, die Regierung der römischen Republik kraftvoll zu leiten. 1. Petrarca entschuldigt sein langes Schweigen. 3. Er arbeitet bei zunehmendem Alter mit vermehrtem Eifer. 6. Von der Tätigkeit des Freundes in Rom hat er vernommen. Er ist im Gegensatz zu vielen überzeugt, dass dem Freund daraus grosse Verdienste erwachsen. 9. Dieser darf jedoch nicht vergessen, was ein erfahrener Greis über die Kirche geäussert hat. (Vor dem 8. November 1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Fam. 15,2, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Über Hindernisse zu Beginn einer Reise. 1. Petrarca hat selten das Glück, bei gutem Wetter zu reisen. 3. Er übernachtet während sintflutartigen Regens beim Bischof von Cavaillon. 6. Ein Weg wird durch Kriegsleute versperrt, alle Wege sind überschwemmt. 10. Notgedrungen kehrt er an die Sorgue zurück. An der Quelle der Sorgue, am 18. November (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Adressaten und Inhaltsangaben

XIII

Fam. 15,3, an den Grammatiker Zanobi aus Florenz Über eine verhinderte Reise. 1. Petrarca will berichten, wo er sich entgegen seinen Plänen aufhält. 5. Die Verhinderung der Reise nach Italien versteht er als Hinweis auf Gottes Willen. 8. Er wird durch einen Diener vor den Umtrieben gewarnt, die in Italien auf ihn warten. 10. Er beschreibt seine Lebensweise in Vaucluse; das Tal ist ihm Rom und Athen. 14. In Gedanken verkehrt er mit allen Freunden, auch mit den Toten aus allen Zeiten. An der Quelle der Sorgue am 22. Februar (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Fam. 15,4, an Andrea Dandolo, den Dogen von Venedig Rechtfertigung der häufigen Ortswechsel. 1. Der Doge wundert sich über Petrarcas häufige Ortswechsel. 2. Dieser verweist auf die Vorteile des Reisens. 7. In der Jugend war der Dichter darauf sehr begierig, jetzt sucht er bloss einen ruhigen Ort zum Verweilen. 10. Doch er kann ihn nicht finden. 11. Sein Leben ist ihm ein hartes Bett, das er nur dank Veränderungen seiner Lage aushält. 14. Leichte Beweglichkeit deutet auf himmlische Abkunft des Menschen. 15. Aber Petrarcas Reisen zeugen von einer Krankheit. An der Quelle der Sorgue, am 26. Februar (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Fam. 15,5, an Pierre aus der Auvergne, Abt von Saint-Bénigne Über Persönliches und über den Aufschub der Italienfahrt des Cäsars. 1. Der Angesprochene kann sein langes Schweigen nicht mit seinem Schreibstil entschuldigen. 3. Petrarca dankt für eine Ermahnung. 4. Er bedauert eine verspätete Herausgabe seiner Invektive gegen die Mediziner. 6. Auch ist er enttäuscht, weil Karl IV. seine Italienfahrt aufschiebt. 9. Für die Erhaltung Italiens wird Gott selber besorgt sein. An der Quelle der Sorgue am 3. April (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Fam. 15,6, an den vorgenannten Abt Pierre Gegen feindselige Interpreten. 1. Petrarca streitet nicht mit allen Ärzten, aber mit den schlechtesten. 3. Er nimmt sich einen bestimmten vor. 5. Dieser hat gegen Petrarca eine Schrift verfasst, die von Unkenntnis zeugt. 6. Ihn ausfindig zu machen, war schwierig. 7. Aus den Kreisen der selben Gegner kommt Kritik zu Worten Petrarcas über den Stuhl Petri. Doch sie sollen den Worten nichts unterschieben. 9. Petrarca zitiert den Kirchenlehrer Hieronymus. An der Quelle der Sorgue, am 17. April (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

XIV

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 15,7, an Stefano Colonna, Prior von St-Omer Von den Wirren fast in der ganzen Welt. 1. Lage in Rom. 3. Lage im cisalpinen Gallien bis zum Rubicon. 4. Lage in Venezien. 5. Lage in Tuszien. 6. Kämpfe zwischen Venedig und Genua. 8. Unruhen in der Gegend von Piceno, Ascoli und Ancona. 9. Lage in der Campagna von Latien bis Terra di Lavoro, Capua und Neapel. 10. Der Niedergang des Reiches Neapel. 11. Zustände in Gallien, Germanien, Britannien und Spanien. 13. Über Sardinien und die andern Inseln im Mittelmeer. 14. Über das häretische Griechenland. 14. Verlust der Heiligen Stätten in Jerusalem und Verluste des Christentums in Asien und Afrika. 16. Unerwartete Entwicklungen bei den Mächten Europas. 19. Ratschlag, den Wohnort nicht zu wechseln. 21. Von der Kunst, im Versteck zu leben. (1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Fam. 15,8, an seinen Lelio Beratung über die Wahl eines geeigneten Wohnortes. 1. Kein Platz auf Erden kann Petrarca gefallen, doch redet er sich ein, er befinde sich wohl, wo er ist. 4. Am liebsten wäre er in Rom; jetzt lebt er zu nahe bei Babylon. 7. Er wünscht Auskünfte über die Lage in Rom. 11. Aber verschiedene Höfe laden ihn zu sich. 15. Lautet die Antwort von Lelio ungünstig, wird er für immer an der Sorgue leben. 19. Es bleibt aber dabei, dass er in Rom zu leben wünscht. An der Quelle der Sorgue, am 24. April (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Fam. 15,9, an seinen Lelio Erörterung gewisser Ansichten, die gegen den Ruhm der Stadt Rom vorgebracht werden. 1. Petrarca rechtfertigt seine Ortswahl. Diese ist ehrenwert. 4. Getadelt wird sie von jenen, die Rom mit Babylon gleichsetzen. 5. Inwiefern Augustinus Rom als ein zweites Babylon bezeichnen konnte. 8. Dieser anerkennt immerhin die Auserwählung Roms zur Weltherrschaft. 11. Hieronymus hält Blitzschläge und anderes Unglück, das die römischen Hügel traf, für Strafen Gottes. 15. Petrarca setzt sich mit den beiden Kirchenlehrern auseinander. 17. Die Blitze und Erdbeben sind keine Beweise für Gottes Zorn. 26. Petrarca hält an seiner Ortswahl fest. (An der Quelle der Sorgue, im April 1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Fam. 15,10, an Ponzio Sansone Dank für eine Gabe. Petrarca weiss, er hätte den Freund aufsuchen sollen und hätte es bald auch wirklich getan. (Sommer 1351-September 1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Adressaten und Inhaltsangaben

XV

Fam. 15, 11, an Bischof Philippe von Cavaillon Vor dem Neid muss man sich verstecken. 1. Petrarca kann nicht herausfinden, was er sowohl kann wie auch will. 3. Er verlässt Avignon, als würde er nach Italien verreisen, verbirgt sich jedoch in Vaucluse. (November 1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Fam. 15,12, an Bischof Philippe von Cavaillon Petrarca schickt dem Adressaten drei Geschenke. 2. Den von ihm verfassten Brief möchte er jedoch zurückerhalten. An der Quelle der Sorgue, am 14. Dezember (1352). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Fam. 15,13, an Bischof Philippe von Cavaillon 1. Der Bischof hat Petrarcas Brief wunschgemäss zurückgesandt. 2. Er soll einen neuen erhalten, um ihn zu beurteilen. 3. Vor allem fragt der Dichter nach seiner Urteilsfähigkeit. An der Quelle der Sorgue, am 15. Dezember (1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Fam. 15,14, an den Klerus von Padua Vom Hinschied und Ruhm des Kirchenvorstehers Ildebrandino. 1. Die Kirche von Padua hat ihren Bischof in den Himmel vorausgeschickt. 10. Dort gedenkt er der Kirche und tritt vor Gott für sie ein. 14. Sterbend hat er die Kurie um einen geeigneten Nachfolger gebeten. 15. Die meisten Menschen denken sterbend nur an sich. Beispiele. 19. Das Problem der Nachfolge stellte sich für Könige wie David und für manchen römischen Kaiser. 20. Verwerflich ist, schwache Nachfolger guten vorzuziehen. Beispiele für pflichtbewusste Vorsorge. 29. Petrarca denkt nicht daran, dem Verstorbenen zu schmeicheln. 30. Er beschreibt seinen früheren Umgang mit dem Bischof. 34. Dieser hatte umsonst versucht, ihn von der Reise nach Avignon abzuhalten. 36. Nun ermahnt Petrarca den Klerus von Padua, an Lehren und Gebräuchen des Verstorbenen festzuhalten. (Padua, November/Dezember 1352) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Fam. 16,1, an die Kardinäle Elie de Talleyrand und Guy de Boulogne Bitte um Beurlaubung aus einem einfachen, doch triftigen Grund. 1. Petrarca verweist auf Urlaubsgesuche antiker Feldherren und nennt als Grund für sein Gesuch den Tod seines Wirtschafters. 3. Er ist mehr um seine Bibliothek besorgt als um seine Anbaufläche. 4. Dem Verstorbenen spendet er grösstes Lob für seine Zuverlässigkeit. Dieser hatte trotz mangelnder Bildung eine grosse Verehrung für Bücher. 8. Der Dichter wünscht ihm ewige Ruhe. Avignon, am 5. Januar (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

XVI

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Fam. 16,2, an den Bruder Gherardo, den Kartäusermönch Ermahnung an den Bruder Gherardo, den Kartäuser. 1. Petrarca war beim Bischof von Padua zu Gast, als zwei Kartäuser bei diesem vorsprachen. 3. Die beiden berichteten von Gherardos tapferem Verhalten während der Pest. 6. Er pflegte die erkrankten Brüder. 7. Er schützte das Kloster vor Räubern und sorgte für seine Erneuerung. 10. Die Erzählenden erkennen plötzlich in Petrarca den Bruder des Gelobten. (November 1352/Mai 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Fam. 16,3, an seinen Sokrates Gegen Freunde, welche Begehren schüren. 1. Petrarcas Abwehr richtet sich gegen einen gemeinsamen Freund, dessen Ratschlag schädlich ist. 3. Er bekräftigt seinen Vorsatz, mit seiner Habe zufrieden zu sein. 5. Er zählt seine Güter auf. 10. Seine Freunde sollen seine Freiheit respektieren. 11. Vom neuen Papst begehrt er für sich nichts. An der Quelle der Sorgue, am 28. März (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Fam. 16,4, an einen Freund Über Glaubenszweifel 1. Zweifel an der Erlösung des Menschen sind unerträglich. 2. Allerdings ist der Mensch, seit Gott es bereute, ihn geschaffen zu haben, nicht besser geworden. 4. Gottes Menschwerdung ist scheinbar überflüssig gewesen. Doch mit zunehmender Unwürdigkeit des Menschen wächst Gottes Grossmut. 5. Dafür schuldet man vermehrten Dank. 6. Zu beherzigen ist, was Augustinus über das Werk der Erlösung gesagt hat. 9. Die Schuld und die Strafe wurden uns genommen. 14. Jeder Glaubensartikel der Kirche zeigt Mittel, die unserer Erlösung dienen. 16. Sowohl Gottes Macht wie auch Gottes Güte sind unendlich. 18. An der Verzeihung zweifeln heisst, entweder seine Allmacht oder seine überragende Güte leugnen. Kain und Judas haben dieses grösste Unrecht begangen. 21. Nicht Zweifel, sondern Dankbarkeit müssen wir hegen. Am 29. März (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Fam. 16,5, an einen Ungenannten 1. Man geht auf den Tod zu, selbst wenn man ins Leben zurückzukehren meint. 2. Man gehe unerschrocken. Das Tor zum Leben steht offen. 4. Was wir Tod nennen, gilt den Philosophen als Ende des Todes. (Vor oder nach Ende März 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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XVII

Fam. 16,6, an den Bischof Niccolò von Viterbo Ermunterung des Kranken 1. Der Bischof hat im Heer Christi eine Führerstellung übernommen. 5. Der Angriffe gibt es viele, und eine hohe Stellung schützt dagegen nicht. 7. Bis in die Einsiedelei des Dichters ist die Nachricht von der Krankheit Niccolòs gedrungen. 9. Dessen Vater leidet in seinem Sohn und befindet sich auf der Reise zu ihm. 12. Mannhaftigkeit und Gottvertrauen sollen zur Genesung beitragen. 14. Über den Schmerz urteilen die Peripatetiker richtiger als die Stoiker. 17. Als Mediziner kann der Bischof sein Leiden beurteilen; er kennt auch die Wirkung seelischer Zustände auf körperliches Befinden. 19. Niccolò wird von Petrarca und seinem Freund Sokrates in die Einsiedelei Vaucluse eingeladen, damit er sich da erhole. (15. Februar 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Fam. 16,7, an seinen Sokrates Sorgen nach dem Weggang eines Freundes. 1. Petrarca hat den von Sokrates gesandten Freund freudig bei sich aufgenommen. Er hat ihm sein Gut gezeigt. 3. Der Freund zeigte Lust, eine Insel aufzusuchen und lehnte Begleitung ab. 4. Zurückgekehrt ist er nicht, und Petrarca lebt in Angst. An der Quelle der Sorgue, am 1. April (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Fam. 16,8, an seinen Lelio Über Römerinnen und die Lage in Rom. 1. Auf einer Reise spricht Petrarca römische Pilgerinnen an. 3. Sie geben ihm Auskunft über die Lage in Rom und insbesondere auch über Lelio. 4. Petrarca tadelt die Fehler des gestürzten Senators. 5. Das edle Benehmen der Pilgerinnen hält er für eine römische Besonderheit. 9. Er erkennt an ihnen die Würde antiker Frauen. 10. Er besucht den Bruder und Kartäuser Gherardo und unterhält sich mit ihm über vieles, nicht zuletzt über Lelio. An der Quelle der Sorgue, am 24. April (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Fam. 16,9, an Zanobi da Strada Empfehlung der Kartause von Montrieux. 1. Bericht über die Klostergründung durch Handelsleute. 6. In der Kartause hat Petrarca seinen Bruder besucht. 9. Er erfährt von schweren Anfeindungen der Mönche durch Kleintyrannen der Umgebung und durch die Kirche von Marseille. 12. Einst hatte Carlo d’Angiò den Kartäusern Schutzbrief und Protektion genehmigt. 13. Sich eines solchen Beistands auf Dauer zu versichern, haben sie in ruhigeren Tagen vernachlässigt. 17. Petrarca entspricht einem Wunsch der Mönche, sich am Hof von Neapel für das Kloster einzusetzen. (April 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

XVIII

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Fam. 16,10, an Zanobi da Strada Neuer Entschluss zur Abreise nach Italien. 1. Zur Bedeutung des Wortes intercedere. 2. Petrarcas Einsiedelei leidet unter der Nachbarschaft von Avignon. 2. In Italien können die Zustände nur besser sein. 3. Deshalb ist Petrarca nun entschlossen, die Reise nicht mehr aufzuschieben. Babylon, am 28. April (1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Fam. 16, 11, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Über den Wert der Zeit. 1. Über Raritäten. 2. Petrarca lernt den Wert der Zeit kennen, da sie entflieht. 4. Er nennt, was er der Zeit einst fälschlicherweise vorzog. 6. Von nun an wird er nur noch kurze Briefe schreiben. 8. Er berichtet von seiner Abmachung mit dem Stadtherrn von Mailand. 11. Er schildert seinen Wohnort bei Sant’Ambrogio, wo ihn ein Bildnis dieses Kirchenvaters beglückt. Mailand, am 23. August (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Fam. 16,12, an Francesco Nelli Vertraulich. 1. Zur Erledigung vieler Dinge muss Petrarca eine einzige Nacht genügen. 3. Der Dichter freut sich über das Verständnis des Freundes. 5. Er rechnet mit grossem Unverständnis der Menge. 7. Er hat der Notwendigkeit gehorcht. 8. Die Bitten des mailändischen Herrn waren Befehle. 9. Dessen Freundlichkeit hat ihn besiegt. Mailand, am 27. August (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Fam. 16,13, an Francesco Nelli Fabel zum Beleg, dass alles, was man tut, seine Tadler finde. (1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Fam. 16,14, an Francesco Nelli Die Menschen sorgen sich mehr um ihre Schreibart als um ihre Lebensweise. 1. Petrarca lacht, weil der Freund sich eines Grammatikfehlers bezichtigt. 2. Probleme der Grammatik waren auch Cicero oft lästig. 5. Darin besteht eine Verkehrtheit der Menschen, veränderbare Regeln wichtiger zu nehmen als das ewige Gesetz. 12. Grössten Tadel verdient die Theologie. 14. Petrarcas Ruhe und Freiheit werden vermindert; das wird ihm vielleicht zum Guten gereichen. 17. Mit dem Freund teilt er alles, was er hat. Mailand, am 16. September (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

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XIX

Fam. 17,1, an den Bruder Gherardo, den Kartäuser Über wahre Philosophie, wahres Gesetz und ihren wahren Lehrer. 1. Petrarca ist erstaunt über einen kenntnisreichen Brief des Bruders. 3. Er lobt dessen Lehrmeister Christus. 5. Echte Philosophie findet man nicht an den Bildungszentren. 8. Philosophie wäre die Kunst, auf das wahre Ziel hin zu leben, wäre Liebe zur Weisheit. 11. Das lernte Petrarca von Augustin und anderen Autoritäten. Von den vorchristlichen Philosophen kam Platon der wahren Philosophie am nächsten. 13. Er wusste, Gott ist das Ziel, das wahre Gut; es geniessen, ist wahres Glück. 15. Philosophie als Liebe zur Weisheit ist Liebe zu Gott-Sohn, der die Weisheit ist. 18. Durch diese Weisheit wurde und besteht alle Kreatur. 20. Der Liebhaber wahrer Weisheit muss Verehrer Christi sein. 23. Dieser ist als Weisheit auch das wahre Gesetz, das sich aller Kreatur mitteilt. 25 Er hat das Gesetz des alten Testamentes erfüllt und das Gesetz der Gnade gebracht. 27. Das alte Gesetz brachte Verheissungen; sie wurden offenbar, als der Vorhang des Tempels zerriss. 30. Cicero hat das wahre Gesetz glänzend definiert. 38. Die Grösse der alten Philosophen zerfällt neben der Grösse Christi. 44. Petrarca hat diesem Brief bewusst viele wörtliche Zitate eingefügt. Monza, am 7. November (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Fam. 17,2, an einen ungebärdigen jungen Mann 1. Petrarca klagt über bedenkliche Gerüchte. Er strafte den jungen Mann bisher mit Schweigen und denkt an härtere Strafen. 2. Er hofft aber auf Besserung. (Herbst 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Fam. 17,3, an Guido Sette, Archidiakon von Genua Über allgemeine Schwierigkeiten und eine unglückliche Unternehmung der Genuesen. 1. Petrarca ist froh, dass der Freund das Unglück Genuas nicht mitansehen muss. 3. Kein Ort auf Erden ist frei von schweren Unruhen. 5. Trotzdem darf man nicht freiwillig aus dem Leben scheiden. 11. Den Freund erwartet Petrarca in Italien. Materielle Rücksichten dürfen ihn nicht in Avignon festhalten. 15. Die genuesische Niederlage wirkt bestürzend. 8. Unerwartete Schicksalsschläge beweisen die Unbeständigkeit der Fortuna. 20. Das lehrt auch die Geschichte. 26. Der Wechsel hat teils angenehme Wirkungen. 31. Grossreiche und Städte können, weil langlebig, dem Wandel nicht entgehen. 34. Den Genuesen hatte Petrarca vergebens Einigkeit empfohlen, 36. Sein Aufruf zu tapferem Durchhalten kam zu spät. 41. Die Glanzzeit Genuas scheint beendet zu sein. 44. Alle Grossreiche haben ein Ende gefunden. 47. Auslegung zu einer Vision Nebukadnezzars. (September 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

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Fam. 17,4, an Guido Sette Zur Niederlage der Genuesen. 1. In Mailand ist eine genuesische Gesandtschaft eingetroffen. Petrarca wird mit Hofleuten in den Ratsaal des Stadtherrn gerufen. 3. Er findet eine Gelegenheit, sich mit dem Haupt der Gesandtschaft zu unterhalten. 5. Er gibt dessen Ansichten wieder. 6. Die Bitte einiger Räte, der Gesandtschaft zu antworten, lehnt er ab. 7. Die Versprechungen des Erzbischofs wirken ermutigend. 10. Petrarca hofft auf Verbesserung der genuesischen Lage durch Einherrschaft. 12. Er schliesst mit Zitaten Augustins. (Oktober 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Fam. 17,5, an Guido Sette Lob des Landlebens. 1. Mahnung, sich Heiterem zuzuwenden. 3. Erholung bietet das Leben auf dem Land. 4. Der Adressat, der sich in Vaucluse aufgehalten hat, wird ermuntert, das oft zu tun. Ihm und Sokrates wird die Aufsicht über das Landgut anempfohlen. 9. Petrarca gibt Ratschläge für rechtzeitiges Pflanzen. 11. Er beschreibt die Gegend, in der er sich aufhält. 15. Dabei denkt er an Vaucluse und seine Freunde zurück. Am 21. Oktober auf dem Kastell San Colombano (1353). . . . . . . . . . . . . . . . 238 Fam. 17,6, an Bernardo Anguissola, Statthalter in Como 1. Petrarca nennt Gründe, den Freund zu besuchen. 2. Sein Versprechen kann er wegen der schlechten Witterung nicht halten. 3. Sein Herr (Visconti) schickt ihn über die Alpen, damit er zwischen zwei Mächten Frieden vermittle. (Ende 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Fam. 17,7, an Bernardo Anguissola Petrarca bittet den Freund, einem Deutschen, der mit einem päpstlichen Legaten nach Italien gekommen war, den Weg in die Heimat zu weisen. (Juli 1354) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Fam. 17,8, an Bruder Matteo von Como Das Verlangen nach Weiterbildung ist ehrenhaft, nicht aber das nach grösserer Habe. 1. Vom Unterschied zwischen dem Begehren nach materiellem Reichtum und dem nach Wissen und Weisheit. Das erste macht arm, das andere reich. 3. Geld kann man in Behältnissen ruhen lassen, das Gedächtnis aber bedarf ständiger Pflege bis zum Tode. 5. Grosse Vorbilder aus der Antike. 10. Der Adressat ist reich an Büchern. Was er jetzt sucht, besitzt Petrarca nicht. (Oktober/Dezember 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

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Fam. 17,9, an Marco von Genua Wer sehr liebt, urteilt falsch. 1. Das alte Wort verliere durch neuen Gebrauch nicht an Wahrheit. 2. Der Freund möge den Schaden beachten, den sein blindes Urteil anrichten könne. 3. Vor den Freunden will Petrarca nichts verstecken; sie sollen sehen, was sie beurteilen. (Oktober/Dezember 1353) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Fam. 17,10, an Giovanni (Aghinolfi) von Arezzo Warum man das eine will und das andere tut. 1. Dank für einen Brief. 3. Die Vorwürfe seien berechtigt. Aber Petrarcas Fehler seien die von jedermann. 6. Hauptfrage: Weshalb er als Freund der Einsamkeit sich in städtische Geschäfte verwickle. 9. Petrarca habe die Bitte seines Herrn als Befehl betrachten müssen. 10. Er tue nicht, was er wolle, sondern was er nicht wolle. 14. Er streite mit sich an der Stätte, wo Augustinus einst seinen inneren Widerstreit beendete. 20. Über die beiden gegensätzlichen Willen. 24. Petrarca habe den Willen, dem besseren Willen zu gehorchen. Doch ihm schade sein vorzeitiger Ruhm. 26. Umsonst versuche er, ihm zu entfliehen. 28. Unter seinen Geschäften sehne er sich nach Musse. Mailand, am 1. Januar (1354). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Fam. 18,1, an Karl IV. Antwort auf einen Brief Karls, in dem die Verzögerung der Italienfahrt begründet wurde. 1. Hinweis auf die verspätete Ankunft des kaiserlichen Schreibens. 3. Petrarca erhalte Lob auf seine Treue, aber sein Rat werde nicht angenommen. 6. Er mahne zu Raschheit, nicht zu überstürzter, doch zu besonnener. 11. Die Lage in Italien sei Karl günstig. Sein Hinweis auf ruhigere Verhältnisse in der Antike sei unrichtig. 17. Ein Umschwung zum Guten sei für den Mutigen noch immer erreichbar. 21. Das Imperium sei in der Tat „ein wildes Tier“; ein Kaiser aber vermöge dieses Tier zu bändigen. 26. Das Eisen sei erst als das letzte aller Heilmittel einzusetzen, doch habe der Kaiser alle anderen schon erfolglos angewandt. 30. Beispiele für kühnes Handeln in der Antike. 36. Missstände bedeuteten eine Aufforderung an die Macht des Kaisers. 37. Italien habe schon immer unter Kriegen und Aufständen gelitten, und immer sei Handeln nötig gewesen. 45. Mangel an Geld und Gefolgschaft könne im Krieg behoben werden. Am 23. November (1353). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

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Fam. 18,2, an Nikolaos Sygeros Dank an den griechischen Prätor Sygeros für die Sendung eines Buches. 1. Der Adressat hat ein Geschenk geschickt. 3. Nicht ein materieller Wert zeichnet es aus, sondern ein geistiger. 5. Einen Homer hat Petrarca empfangen. 7. Der Spender kann dem Empfänger nicht als Griechischlehrer helfen, und einen andern hat Petrarca nicht. 11. Einen Text Platons besass er schon; doch hofft er seine Kenntnisse des Griechischen zu verbessern. 13. Er bittet noch um Hesiod und Euripides. Mailand, am 10. Januar (1354). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Fam. 18,3, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio) Dank für die Zusendung von Augustins Schrift zum Psalter Davids. 1. Petrarca dankt für die Gabe; sie bedeutet ihm so viel wie ein Schiff für eine wogende See. 3. Das Studium des Werks wird die letzten Mussestunden aufschlucken. 6. Ein Wunder, dass der Verfasser zur Niederschrift nicht alle Lebenstage benötigte. 9. Der Band ist auch von grosser Schönheit. 10. Petrarca hat ihn sehnlichst erwartet. (Mailand, am 11. April 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Fam. 18,4, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio) Dank für die Übersendung von Schriften Varros und Ciceros. 1. Petrarca hat in einem Band vereint kleine Schriften Ciceros und Varros geschenkt erhalten. Boccaccio hat sie selber kopiert. 2. Dass Boccaccio einst als Dichter berühmt werde, ist denkbar. 3. Nicht leicht hätte er ein anderes Paar Autoren von gleicher Bedeutung vereinen können. 4. Nur unter Bedenken wagt Petrarca zu verraten, wen er von den beiden für den Grösseren halte. (Mailand, Anfang Dezember 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Fam. 18,5, an den Kartäuser Gherardo Oft enthalten die Bücher der Gelehrten mehr Fehler als die anderer Leute. 1. Der Bruder darf nicht hoffen, die übersandte Schrift sei fehlerfrei, weil sie Petrarca gehört habe. Die Liebe verfälscht sein Urteil. 4. Viele Gelehrte vermeiden bescheidene Arbeiten wie Ausstattung und Korrektur der Bücher. 6. Um solche bemühen sich eher die weniger Gebildeten. Mit groben Fehlern braucht der Bruder aber nicht zu rechnen. Mailand, am 25. April (1354). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

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Fam. 18,6, an den Pfarrer Forese Donati Über grosse Verschiedenheit des Verhaltens bei Wesen der selben Gattung. 1. Liebenswürdige Vorwürfe des Freundes haben Petrarca gefreut. 2. Über verschiedene Ausdrucksweisen von Gattung zu Gattung staunt man nicht, aber über die Vielfalt in ein und der selben Gattung. 3. Erfahrungen mit einem monströsen Hausgenossen. 6. Oft kann in der Freundschaft ein kleines Vergehen gute Folgen haben, und grösste Not vermag Stummheit zu brechen. Mailand, am 15. März (1354/1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Fam. 18,7, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Oft sei etwas um so erfreulicher je weniger ausgefeilt. 1. Die rasch hingeworfene Epistel hat Freude bereitet. 3. Beispiele für den Reiz des Ungepflegten. 4. Petrarca will sich kurz fassen, darum von häuslichen Geschäften im Brief nichts berichten. Ohnehin sind sie ihm völlig fremd. Seine Leidenschaft für Bücher leugnet er dagegen nicht. 6. Aber Cicero hegte sie auch. 7. Verschiedene Briefe an Nelli sind von Strebern abgefangen worden. Diese sind dem Dichter verächtlich. Mailand, am 1. April (1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Fam. 18,8, an Francesco Nelli In Gesprächen unter Freunden genüge das Vertrauen; nach dem Stil habe man nicht zu fragen. 1. Niemand dürfe denken, Petrarca kümmere sich in Freundesbriefen sehr um seinen Stil. 3. Den guten Stil, den er da nicht bietet, fordert er auch nicht von andern. Wichtig ist nur die Verständlichkeit des Gesagten. 4. Und am Freund ist einzig die Freundestreue wichtig, da ohnehin Glücksgüter blosse Zufälligkeiten sind. 5. Durch Zufall findet man in Rom Kulturgüter aus der Antike. 10. Petrarca spricht mit Freunden wie mit sich selber und ist dabei der Nachlässigkeit verfallen. 11. Er legt einem Freund nicht feste Ergebnisse seiner Überlegungen vor, sondern macht ihn zum Teilnehmer an einem Denkvorgang. 14. Das hat auch Cicero so gehalten. 16. Allerdings sucht Petrarca mit besonderer Wortwahl oft grössere Wirkung zu erzielen. 17. Deshalb schickt er eine Ergänzung zum vorangehenden Brief. (April/Juli 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

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Fam. 18,9, an Francesco Nelli Ein deutliches Anzeichen für persönlichen Wert ist Unbekanntheit in der Menge. 1. Petrarca merkt in einem Gespräch mit einem Florentiner, dass Nelli in seiner Vaterstadt wenig bekannt ist. 2. Bedeutende Menschen, unter ihnen grosse Philosophen, waren der Menge auch nicht bekannt. 3. Der Florentiner konnte sich über Petrarcas Lob auf Nelli vor Staunen kaum fassen. (April/Juli 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Fam. 18,10, an Francesco Nelli Vorschriften Varros über das Gastmahl. 1. Bei Nelli haben sich Freunde versammelt, denen Petrarca Verhaltensregeln aus Varro zitiert. 4. Er fügt solche für Diener und Gastgeber an. 5. Nellis Einladungen übertreffen die Gebräuche der Antike durch Vornehmheit. 6. Petrarca ist dank seinen Briefen gegenwärtig. (April/Juli 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Fam. 18,11, an Francesco Nelli 1. Petrarca fragt nach dem Aufenthaltsort eines Freundes. 2. Dieser hat wegen politischer Unruhen seine Studien unterbrochen. 3. Ein Buch, das er einst Petrarca geliehen hat, soll ihm durch den Adressaten zugestellt werden. Mailand, am 14. November (1353/1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Fam. 18,12, an Lapo da Castiglionchio Viel schlimmer ist der Verlust an Schriften grosser Gelehrter als der an Orakeln alter Götter. 1. Klage über den Mangel an Kopien der Werke antiker Schriftsteller. 3. Petrarca entschliesst sich, einen Text Ciceros selber zu kopieren. 4. Dabei beobachtet er eine Methode, die er zur Nachahmung empfiehlt. 6. Sie erlaubt, das Lästige an der Arbeit zu übersehen. 9. Um Ciceros Ruhm zu fördern, opferte er sogar den letzten Rest seiner Zeit. (November 1353/1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Fam. 18,13, an den Grammatiker Crotto aus Bergamo Vergleich zwischen den Leistungen Ciceros und den Mühen des Herkules. 1. Petrarca hat vernommen, dass Crotto Bücher von Cicero besitzt. 3. Vom Lob auf den Redner geht er zum Bitten über. Er hofft auf Leihgaben. (21. August 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Adressaten und Inhaltsangaben

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Fam. 18,14, an den Grammatiker Crotto aus Bergamo Lob auf Ciceros Gespräche in Tusculum und auf Cicero selber. 1. Petrarca hat von Crotto Werke Ciceros als Leihgabe erhalten. 2. Zu den Taten des Herkules gibt es Parallelen bei Cicero. 3. Petrarca kann das mit Leichtigkeit belegen. 4. Die Taten Ciceros sind denen von Herkules jedoch weit überlegen. 5. Petrarca hält Cicero für das grösste Sprachgenie der lateinischen Antike. 7. Seine Meinung stützt sich nicht zuletzt auf Urteile Senecas und Quintilians. 11. Die ihm gesandte Abschrift ist fehlerfrei. Mailand, am 1. September (1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Fam. 18,15, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio) Kein Geschoss Fortunas fliegt hinauf in die Burg der Vernunft. 1. Petrarca verweist dem Freund sein vieles Klagen. 2. Dass Boccaccio nicht als Poet bezeichnet werden will, quittiert Petrarca mit Spott. 4. Eingetroffen sind bei ihm die vom Adressaten gesandten Bücher; und dass sein Dankesbrief nie ankam, wundert ihn nicht. Der Bote wird manches mündlich berichten. Mailand, am 20. Dezember (1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Fam. 18,16, an Andrea Dandolo, den Dogen von Venedig Warnung vor Kriegsplänen. 1. Petrarca erinnert an seinen früheren Brief ähnlichen Inhalts. 3. Er gedenkt auch der von Mailand versuchten, ihm anvertrauten Friedensvermittlung. 4. Seine Bemühungen in Venedig waren vergeblich. 5. Verhängnisvoll war das Gerücht von sich nahenden ausländischen Söldnertruppen. 6. Keinen grösseren Wahnsinn gibt es, als für den Kampf unter Italienern sich fremder Söldner zu bedienen. 8. Aus Venedig hat Petrarca nur Selbstvorwürfe heim getragen. 11. Die Hoffnung auf eine Gesinnungsänderung des Dogen gibt er nicht auf. 13. Er schildert erneut das Unglück eines Krieges. 17. Der Doge könnte den Herrn von Mailand zum Freund haben, wenn er wollte. 19. Unfassbar, dass er die Republik den Söldner ausliefern könnte. 28. Er soll sich den Namen eines Friedensstifters verdienen. Der Dichter nimmt Gott und seinen Brief zum Zeugen, dass er die Kriegspläne verurteilt. Mailand, am 28. Mai (1354). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Fam. 19,1, an Karl IV. Glückwunsch zur lang erwarteten Ankunft. 1. Petrarca findet vor Freude kaum Worte. 2. Karl gilt ihm bereits als wahrhafter Cäsar. 3. Alles jubelt, den lang Erwarteten zu empfangen. (Mitte Oktober 1354) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

XXVI

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 19,2, an Zanobi da Strada Beschreibung eines besonders kalten Winters. 1. Der Norden Italiens leidet unter aussergewöhnlichem Winterwetter. 2. Petrarca hört in Mantua Karl IV. von der grossen Kälte in Germanien sprechen und vermutet eine geheimere Ursache. Er hätte auf Briefe Zanobis trotz der Kälte geantwortet, doch er hat sie nicht rechtzeitig empfangen. 6. Immer wieder erreichen Briefe ihre Adressaten nicht; sie werden oft auf ihrem halben Weg abgefangen. Am 27. Dezember (Mailand 1354). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Fam. 19,3, an seinen Lelio Falscher Ruhm sei nicht zu begehren und wahrer nicht zu verschmähen. 1. Lelio sei aus Liebe leichtgläubig wie seine Namensvettern in der Antike. An Friedensverhandlungen in Mantua hat Petrarca nicht teilgenommen. 8. Doch Karl IV. hat ihn dorthin gerufen. 9. Schilderung der Reise dorthin durch eisige Kälte. 11. Freundschaftlicher Empfang durch den Fürsten. 12. Gespräche über Werke Petrarcas. 14. Geschenke Petrarcas, die Karl gefallen. 16. Auf dessen Verlangen erzählt Petrarca sein Leben. 19. Streit über den Wert des Einsiedlerlebens. 22. Karl bittet den Dichter vergeblich um Begleitung nach Rom. 25. Petrarca vergleicht sein ruhmvolles Erlebnis mit einem ähnlichen Platons. (Mailand, Februar 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Fam. 19,4, an Karl IV. Empfehlung seines Freundes Lelio. 1. Die Freundlichkeit des Kaisers ermutigt Petrarca, eine Bitte vorzutragen. 3. Er rühmt die Urteilskraft des Kaisers. 4. Er zählt die Persönlichkeiten auf, bei denen sein Freund Ansehen geniesst. 5. Auch erinnert er den Kaiser an eine Begebenheit in Avignon. 7. Er versichert, dass für Lelio alle seine hohen Freunde vor dem Kaiser eintreten würden. Mailand, am 25. Februar (1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

Fam. 19,5, an den Grammatiker Moggio von Parma Aufmunterung zu gemeinsamen Studien. 1. Ein Wunsch, den Petrarcas Sohn dem Adressaten ausgedrückt hat, wird unterstützt. 2. Moggio wird eingeladen, als Freund bei Petrarca zu wohnen. 4. Er soll da über sein Leben völlig frei verfügen. 5. Doch wird er gebeten, sich um die Weiterbildung von Petrarcas Sohn zu kümmern. 7. Der Dichter verspricht ihm eine Freiheit, die er wegen seines Ruhmes selber nicht geniesst. 9. Den Freunden wird in Mailand Ambrosius nahe sein. Mailand, am 1. Mai (1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

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XXVII

Fam. 19,6, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Empfehlung eines Rompilgers. 1. Petrarca lobt den Rompilger; er kennt ihn seit vielen Jahren. 2. Dieser kann über das Leben des Dichters gewissermassen Auskunft geben. (Ende Dezember 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Fam. 19,7, an Francesco Nelli Dank für einen Bescheid über den Rompilger. 1. Viele Gedanken, die Petrarca nachts dem Gedächtnis anvertraut, kann er am Tag aus Zeitmangel nicht niederschreiben. 4. Eine geplante Romreise verschiebt er wegen Unruhen in Ligurien auf später. (Februar/März 1356) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Fam. 19,8, an den Archidiakon Guido Sette von Genua Guido Sette rühmt sich, in Petrarcas Briefen genannt zu werden. 1. Petrarca weiss, dass die Freundschaft ihm Wertschätzung verschafft. 2. Jeder sucht eher das ihm Liebe und Vertraute als das Wertvollere. 5. Der Dichter bittet um Nachsicht, da er den Freunden die Plätze nicht gemäss ihrer Würde zuweisen kann. (1355/1356) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Fam. 19,9, an Guido Sette Dem in Gallien Weilenden wird von den Unruhen in Italien und insbesondere von der Hinrichtung des Dogen von Venedig berichtet. 1. Petrarca klagt über unablässige Wirren in ganz Italien. 9. Er erwähnt Unruhen, die dem Adressaten schon bekannt sind. 11. Er wendet sich Venedig zu; seine Mahnungen zum Frieden quälten den Dogen, ohne ihn zu bekehren. 20. Diesem ersparte der Tod den Anblick der besiegten Stadt. 22. Bericht von der Wahl und Ermordung des neuen Dogen Falier. Mailand, am 24. April (1355). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Fam. 19,10, an Guido Sette Zweifel, ob dem neu gewählten Erzbischof Mitfreude oder Mitleid auszudrücken sei. 1. Die neue Würde raubt dem Freund Ruhe und Freiheit. 2. Doch besser ist es, ein Diener Gottes als wie bisher ein Diener der Menschen zu sein. Der Angesprochene ist auf sein neues Amt bestens vorbereitet. 4. Petrarca will auf Ratschläge verzichten und bloss einen Segensruf nachschicken. (Juli/August 1358) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

XXVIII

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Fam. 19, 11, an den venezianischen Kanzler Benintendi Wer durch fremdes Lob erregt wird, muss zur Feste der Vernunft und zum eigenen Gewissen flüchten. 1. Ein Brief voller Lob bringt den Dichter zum Erröten. 2. Doch Vernunft und Gewissen schützen Petrarca gegen den Zwang einer beredten Liebe. 4. An der Aufrichtigkeit des Freundes zweifelt er nicht. 5. Die Tore der Freundschaft hat er ihm längst aufgetan. 6. Freundschaften schliesst er nie unbedacht; geschlossene löst er nicht auf. 9. Er schickt dem Freund die gewünschten Werke. 10. Auch empfiehlt er ihm zwei Musiker. Mailand, am 19./26. Mai (1356). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Fam. 19,12, an Karl IV., den römischen Kaiser Vorwurf wegen des Abzugs aus Italien. 1. Die Lage Italiens hat sich seit der Ankunft Karls völlig verändert. 3. Karls Abzug ist so viel wie eine Flucht. 4. Er bleibt trotz Kaisertitel blosser König von Böhmen. 7. Das Geschenk des Kaisers für Petrarca ist diesem ein Anlass zu grossem Schmerz. (Mailand, Juni 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Fam. 19,13, an Francesco Nelli, Vorsteher der Apostelkirche Über die Gesandtschaft zum Kaiser. 1. Petrarca wird bis fast zum Nordmeer gesandt. 3. Er geht in der Hoffnung, sein Auftrag werde den politischen Frieden fördern. Bei dieser Gelegenheit wird er dem Kaiser seine schmähliche Flucht aus Italien vorhalten. Mailand, am 19. Mai (1356). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Fam. 19,14, an Francesco Nelli Mitteilung von der Rückkehr. 1. Petrarca hat für Briefe kaum Zeit. Er stellt aber den Vorrang Italiens über alle Länder fest. 3. Dem Adressaten empfiehlt er, sich vom Briefboten Wissenswertes erzählen zu lassen. Mailand, am 20. September (1356). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Fam. 19,15, an Francesco Nelli 1. Petrarca hat in Germanien erkannt, was zum Lob auf Italien zu sagen wäre. 2. Er hat darüber zu schreiben begonnen, aber wegen der Fülle der Gedanken und der mangelnden Zeit die Feder wieder weggelegt. 3. In Mailand hat die Lage sich beruhigt. Mailand, am 30 Mai (1357). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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XXIX

Fam. 19,16, an Guido Sette, den Erzbischof von Genua Bericht über den eigenen Zustand. 1. Der Freund hat schon früher über die Lebensweise Petrarcas Bescheid erhalten. 3. Dieser liest und schreibt und gönnt sich nur die nötigste Erholung. 5. Da die Zahl der Aufgaben wächst, arbeitet Petrarca immer rascher. 7. Über seinen Erfolg entscheidet ein anderer. 9. Die Hoffnung auf Gottes Hilfe im Tod bleibt bestehen. 12. Noch immer sucht Petrarca in allem die Mitte der Extreme. Aber sein Ruhm gefährdet diese Position. 14. Er findet in Mailand Ruhe und Ansehen bei jedermann. 23. Den Sommer verbringt er in Garegnano; er geniesst die reizvolle Landschaft und die Freundlichkeit der Bevölkerung. 27. Doch vermisst er die Freunde. Dabei schätzt er den Verkehr mit den Mönchen des Kartäuserklosters ebendort. (Mailand/Garegnano, Juni/August 1357) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Fam. 19,17, an Guido Sette Gleiches Thema wie im vorangehenden Brief. 1. Ein Gerücht spricht vom Reichtum Petrarcas. 2. Dieser leugnet nicht eine Vermehrung seiner Güter. 3. Es gehört zum Wesen des Reichtums, Begehren zu steigern; doch dieses Begehren kennt Petrarca nicht. 4. Das Mittelmass zwischen Reichtum und Armut bewahrt ihn vor gefährlichen Ansprüchen. 6. Doch gehört es auch zum Wesen des Reichtums, dass mit seiner Vermehrung die Schar der Verzehrer zunimmt. 8. Gold hortet Petrarca nicht, sondern lässt es weitergehen. 9. Für seinen Sohn erhofft er eine gute Entwicklung. Er ist begabt. 11. Bücherwissen aber lehnt er ab. 12. Hauptsache, er wird ein guter Mensch. (Sommer 1357) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Fam. 19,18, an Bruder Iacopo vom Augustinerorden, Tyrann von Pavia Geharnischte und vielfältige Schelte. 1. Petrarca beschwört den Augustiner zum wiederholten Mal, sich von Kriegsplänen abzukehren. 4. Zitate aus Augustinus und den heiligen Schriften, die zum Frieden mahnen. 11. Der Augustiner diene im Gewand Christi dem Kriegsgott. 12. Er hindere Tausende von Menschen, in Frieden zu leben. 16. Mit Beredsamkeit und ohne Waffen glorreiche Kriege führen zu wollen, sei unerhörte Torheit. 18. Dabei missachte er über dem Ruhm der Beredsamkeit sein Gewissen. 20. Der Bruder wolle die dreifache Leistung eines Cato und Scipio vollbringen. 22. Doch sei er nicht einmal ein wahrer Redner, da er kein guter Mensch sei. 24. Mit Redekunst habe er Pavia zerstört. 30. Keiner der alten Feldherrn habe so unbesonnen auf geringe Mittel vertraut. 33. Die Gutgläubigkeit des Volkes missbrauche er. 35. Nur spottend lasse sich von Erfolgen sprechen. 42. Caesar sei nur bedingt ein Vorbild. 43. Das Wohl des Augustinerordens müsse der Bruder im Auge behalten. Mailand, am 25. März (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

XXX

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Fam. 20,1, an Neri Morando von Forlì Verdammung der gegenwärtigen und Voraussage der späteren Lage. Von der Macht des Goldes. 1. Da die Zukunft noch schlechter sein wird, ist es ein Trost, dass man nicht später geboren wurde. 5. Das kurze Leben auf der Welt ist ein langer Tod. 6. Schlimmer als äussere Feinde sind die eigenen Laster. Man fördert sie mit zunehmendem Alter. 8. Ein Beispiel: Kaiser Tiberius. 10. Schlechter ist es, Verbrechen zu wollen, als Verbrecher zu sein. 10. Man lebt unter Sündern, und fliehen kann man nicht. 14. Da wir die Hilfe des Himmels ausschlagen, erobern die Laster unsere Seele wie die Krieger einst Ilion. 17. Das eigentliche Thema: Dem Kaiser, der Italien fluchtartig verliess, hat der Dichter einen Tadel nachgeschickt. 20. Doch in Pisa hat sich der Kaiser richtig verhalten. 20. Mächtiger als alles ist das Gold. (Juni 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Fam. 20,2, an Neri Morando Überall sei die römische Kaisergewalt glücklicher als unter dem Arktos. 1. Petrarca füge dem beendeten Schreiben eine kürzere Antwort auf das neue Schreiben an. 2. Er meint aber, seinen Kummer selbst im Schweigen auszudrücken. 3. Das Kaisertum findet im Norden nicht die ihm nötige Wärme. 4. Des Cäsars unwürdig ist eine Unterwerfung seiner Macht unter einen Papst. 5. Dass das Pferd des päpstlichen Gesandten gegen den Kaiser ausschlug, bereitet ihm geringe Sorgen. 6. Er tadelt aber, dass der Papst dem Kaiser den Aufenthalt in Rom verbietet und dass dieser nur gekommen ist, um die Kaiserkrone zu holen. 8. Er lobt seinen Freund Lelio. (Juni 1355) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Fam. 20,3, an Galeotto Spinola Ermahnung, die Leitung der Republik Genua zu übernehmen. 1. Petrarca freut sich über politische Pläne des Angesprochenen. 2. Er dankt dem Schicksal, das den Verbannten nach Mailand verschlagen hat. 3. Auch ermahnt er ihn, auf eine leitende Stellung in Genua nicht wegen seines Alters zu verzichten. Mailand, am 18. Dezember (1357). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

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XXXI

Fam. 20,4, an den Genuesen Marco Ermahnung, bei begonnenen Studien auszuharren. Über antike Redner und Rechtsgelehrte und über moderne Advokaten. 1. Für Petrarca ist es gefährlich, über Jurisprudenz zu sprechen. 4. Ob er seine Rechtsstudien bedauern soll, bleibt ihm unklar. 6. Man muss das Studium wählen, für das man sich eignet. 8. Von der Wertschätzung der frühesten Rechtsprechung. Der Rechtsgelehrte Solon wandte sich im Alter der Dichtung zu. 11. Der Rechtsgelehrte war Redner. 12. Die Leistung Justinians. 13. Die Bewältigung der verschiedenen Teilgebiete der Jurisprudenz stellten ungeheure Anforderungen an die Juristen. 16. Von der höchsten Stufe ist die Rechtswissenschaft zu einer unteren und noch tieferen abgesunken. Vertreter der verschiedenen Stufen. 25. Gute Juristen sind jetzt selten; doch bleibt ihre Wissenschaft an sich gut. 30. Bei allen Taten kommt es auf die Gesinnung an, und über diese urteilt nur Gott. 34. Hindernisse im Studium sind zahlreich. 37. Wichtig ist vor allem, dauerndes Schwanken aufzugeben. Mailand, am 28. Mai (1355–1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Fam. 20,5, an Barbato da Sulmona Bitte um grössere Vorsicht. 1. Verehrende Worte über Niccolò Acciaiuoli. 2. Von zwei Personen, die sich Barbato als Freunde Petrarcas vorstellten. 3. Die eine von ihnen hatte der Dichter mit Werken zu Barbato geschickt. 4. Unruhen in Ligurien haben Petrarca an einer Reise in den Süden gehindert. 27. August (Mailand 1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Fam. 20,6, an Francesco Nelli, Vorsteher an der Apostelkirche Beschwerde wegen abgefangener Briefe. 1. Gründe für langes Schweigen: Forschungen und Schreibwut. 2. Freimütige Aussagen kann man nicht verschicken. 4. Häufig erreichen Briefe den Adressaten nicht. 6. Auf dem Rückweg von Padua hat Petrarca zwei Briefe Nellis entdeckt; einer wurde ihm überlassen. 7. Petrarca freut sich über den Besuch eines Freundes (Boccaccio). Auskunft über sein Leben kann dem Freund der Briefbote geben. (März 1359) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Fam. 20,7, an Francesco Nelli 1. Neue Klage über Zeitknappheit. 2. Nach kurzem Aufenthalt in Mailand ist Boccaccio bei schlechtem Wetter abgereist. 5. Nelli ist hinsichtlich der Briefzahl wahrscheinlich Petrarcas Schuldner. 6. Eben ist dieser damit beschäftigt, seine Briefe zu sammeln und erfreut sich der Hilfe eines gescheiten Freundes. Neue Feststellung, dass viele Schreiben abgefangen werden. Mailand, am 11. April (1359) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

XXXII

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Fam. 20,8, an Agapito den Jüngeren Eine Richtigstellung unter Verwunderung. 1. Ratlosigkeit wegen eines Briefes. 3. Dank für die Aufzählung von Petrarcas früheren Bemühungen. 5. Staunen über die Klage, der reiche Petrarca verachte den Armen. 9. Einen „Baum der Eitelkeiten“ habe der Dichter nie geschrieben, den Namen des Adressaten nie in solchen eingefügt. 12. Mit der Vermehrung an Gut vermehrte sich der Aufwand. 14. Petrarca sei bedürfnislos. 16. Er preist das goldene Mittelmass, das ihm beschieden wurde. 18. Frage, wie er die Vorwürfe verdiente. 21. Er vermutet eine Strafe für sein langes Schweigen. Mailand, am 13. April (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Fam. 20,9, an drei Freunde Antwort auf ihren gemeinsamen Brief. 1. In der Zeitknappheit hätte Petrarca lieber gar nicht geschrieben. 2. Er beneidet die drei in Babylon gemeinsam lebenden Freunde. Am 12. Januar (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Fam. 20,10, an Giovanni Aretino Wünscht Glück zu dessen Lebensumständen und gibt Nachricht von sich selber. 1. Petrarca kann nur einen kurzen Brief abfassen. 2. Während der Freund sich aus Stürmen retten konnte, muss der Dichter noch darin ausharren. 3. Er darf sich aber vielleicht mit Cato vergleichen. Mailand, am 27. Januar (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Fam. 20, 11, an Stefano Colonna, Prior von Saint-Omer Freundschaftsbrief. 1. Petrarca freut sich über gegenseitiges Vertrauen. Er erwähnt einen Cicero aus Bergamo. 2. Die auserwählten Väter in Avignon durchschaut er; und die ganze Welt erkennt ihre Taten zunehmend genauer. 4. Der Dichter ist des Schreibens rascher müde als sonst. Mailand, am 1. Mai (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Fam. 20,12, an Lelio Aufmunterung, Gleichmut zu wahren. 1. Der beste Trost besteht in der Vergänglichkeit alles Irdischen. 4. Nachricht vom Tod eines Mailänder Freundes. 5. Beschreibung des alten Mannes, seiner Streitlust und Verrücktheiten; Petrarca liess sich durch ihn erheitern. 11. Er kam weitgehend für seinen Lebensunterhalt auf. Mailand, am 1. Mai (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Adressaten und Inhaltsangaben

XXXIII

Fam. 20,13, an Lelio Klagende Ermunterung, sich mit dem Freund zu versöhnen. 1. Petrarca hat durch eine Drittperson von der Trennung seiner Freunde Lelio und Sokrates gehört. 5. Er tadelt Lelio, weil er einem Verleumder geglaubt habe. 6. Er zeigt, dass Sokrates den Freund Lelio niemals vor Petrarca schlecht machen konnte. 13. Über wahre Freundschaft, die alles Misstrauen ausschliesst. 17. Ein Beispiel für richtiges Verhalten gegenüber Verleumdern: Alexander der Grosse. 21. Petrarca kennt von Sokrates nur Briefe, die Lelio loben. 24. Er beschwört Lelio, den Freund sogleich aufzusuchen. Mailand, am 30. Juli (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Fam. 20,14, an Lelio Freudiger Glückwunsch zur Annahme von Ratschlag und Bitten. 1. Petrarca ist mit seinen alten Studien beschäftigt. Einen guten Teil des Winters hat er in Padua und in Venezien verbracht. 3. Am Schreiben hindert ihn ausser seiner Arbeit auch die Kälte. 4. Noch nie ist so viel Schnee gefallen. 8. Dass Lelio sich täuschen liess, kann der Dichter begreifen. 9. Die Meinungen des Aristoteles über den Zorn lehnt er jedoch ab. 13. Glücklich macht ihn die Versöhnung zwischen Lelio und Sokrates. 15. Zur Übernahme hoher Ämter und Würden lässt er sich nicht überreden. 25. Dabei bedauert er Zanobi, der eine Stelle an der Kurie übernommen hat. Mailand, am 9. Februar 1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Fam. 20,15, an seinen Sokrates Über das selbe Thema wie im vorangehenden Schreiben. 1. Der Briefwechsel mit Sokrates unterbleibt seit langem. Die Freunde haben sich nichts mehr zu sagen. Einziges Thema dieses Briefes: die wiederhergestellte Freundschaft zwischen Sokrates und Lelio. 4. Petrarcas Ermahnung war schlecht geschrieben, nur seine Absicht war gut. Der Erfolg war Gottes Werk. Mailand, am 10. Februar (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Fam. 21,1, an Erzbischof Ernst von Prag Weshalb die Wahrheit so viele Feinde habe. 1. Ein Bote übernimmt es, mündlich mitzuteilen, was Petrarca nicht dem Papier anvertrauen will. 2. Für Wahrheit einzustehen, ist gefährlich. 3. Dankbar denkt der Dichter an den guten Empfang am Kaiserhof in Prag. Mailand, am 29. Februar oder April (1357). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

XXXIV

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 21,2, an Bischof Johann von Olmütz Dem kaiserlichen Kanzler vielfache Danksagung. 1. Petrarca erkennt die ihm geschenkte Gunst des Kaisers und des Adressaten. 2. Die Hochschätzung, die er empfängt, ist Ausdruck der Liebe. 5. Sie stärkt sein Selbstgefühl. Er dankt für die Ehren, die ihm in einer goldenen Bulle verliehen werden. Das Gold überbringt sein Bote dem Adressaten. Mailand, am 29. Februar oder April (1357). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Fam. 21,3, an Checco von Forlì Entschuldigung wegen unterlassener Hilfe, Trostworte und heimlicher Ratschlag. 1. Petrarca antwortet spät auf Checcos Brief. 3. Da er unmöglich mit Taten helfen kann, erinnert er an Ratschläge alter Autoren. Am 26. Oktober (1357). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Fam. 21,4, an Bartolommeo von Genua Vom Unterschied zwischen den Gewohnheiten und Bemühungen der Alten und Jungen. 1. Petrarca nennt den jungen Mann seinen Freund, schildert aber die Folgen der Altersunterschiede. 3. Er bittet um Verständnis, dass er bei seinem hohen Alter auf das Briefeschreiben weitgehend verzichten muss. (Mailand 1357/1359) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Fam. 21,5, an Bischof Johann von Olmütz Empfehlung eines gemeinsamen Freundes. 1. Sagremor ist, wie sein Name verrät, ein Mann der heiligen Liebe. 2. Er kommt als Bote an den Hof in Prag. 4. Mit seiner liebevollen Hingabe verdient er Gegenliebe. 5. Dass der Bischof über den Stil eines andern verblüfft sei, glaubt Petrarca nicht. 6. Er wiederholt, dass er kein Gold benötige. (Mailand, Anfang 1358) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Fam. 21,6, an Erzbischof Ernst von Prag Empfehlung eines Freundes. 1. Petrarca empfiehlt einen Freund, der im Dienst zweier Herrschaften stand, doch mit ganzem Herzen dem Hof in Prag dienen wollte. 3. Der Hof handelt gut, wenn er sich diesen Mann verpflichtet. Mailand, am 25 März (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458

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Fam. 21,7,an den Kaiser Karl Empfehlung eines Freundes, der sich um den Kaiser und das Reich sehr verdient gemacht hat. 1. Die Liebe gibt Petrarca die Kühnheit, Bitten vorzutragen. 3. Er weiss und kann belegen, wie sehr der von ihm empfohlene Freund dem Kaiser ergeben ist. 5. Grösste Strapazen erachtet er für nichts, um dem Kaiser zu dienen. 10. Dieser sollte sich tüchtige Männer verpflichten. Mailand, am 25. März (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Fam. 21,8, an die Kaiserin Anna Antwort mit Glückwünschen zur Geburt eines Mädchens und grosses Lob auf die Frauen. 1. Dank für die persönliche Nachricht der Kaiserin. 3. Die Geburt eines Mädchens bedeutet einen guten Anfang. 4. Gott hat mit seiner Geburt das weibliche Geschlecht geehrt; er will, dass man es ehre. 5. Antike Beispiele tüchtiger Frauen. 15. Tüchtig war später die Markgräfin Mathilde. 16. Weibliche Beispiele für Pietät. 21. Der Erdkreis zeugt mit vielen Namen für die Bedeutung der Frauen. 24. Überragend sind die Römerinnen. Mailand, am 23. Mai (1358). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Fam. 21,9, an seinen Sokrates Trost und Ratschlag. 1. Petrarca zeigt Mitleid mit dem klagenden Freund. 3. Diesem droht das Schicksal eines Vertriebenen. 5. Ohne Gottes Hilfe wird er die nötige Seelenstärke nicht aufbringen. 7. Doch jedes Menschenleben ist Kriegsdienst, und am meisten leidet der Tüchtigste. 14. Geduld kennt keine Verbannung. 17. Sokrates duldet Feindschaft wegen Petrarca. 21. Dieser hat schon jemanden um Hilfe ersucht. 23. Doch er ruft den Freund nach Mailand. Mailand, am 23. Juni (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Fam. 21,10, an Neri Morando von Forlì Glückwunsch zur Genesung und eine Mahnung, gefährliche Mühen zu meiden. Bericht über den eigenen Zustand. 1. Hinweise auf Undankbarkeit gegen Gott. 5. Das Waffenhandwerk soll der Freund aufgeben, um wieder ausschliesslich literarische Studien zu treiben. 8. Über Cicero, der den rechten Glauben nicht hindert. 14. Gründe für den Willen Christi, seine Weisheit nicht durch grosse Gelehrte und Redner zu verkünden. 16. Von Briefen Ciceros, die Petrarca selber kopierte. 18. Seine schwere Verletzung durch

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den Briefband. 22. Sogar jedes Körperglied hat sein besonderes Los. 25. Ein Streit unter Auguren. Am 15. Oktober (Pagazzano 1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Fam. 21,11, an Neri Morando Von einem seiner sehr treuen Freunde, einem wunderlichen Menschen. 1. Schilderung eines Goldschmieds und seiner Bewunderung für Petrarca. 3. Er erzwingt einen Besuch beim Dichter. 6. Seinen Beruf gibt er auf und besucht Schulen. 8. Er heisst Capra und ist diesem Tier vergleichbar. 10. Auf drängende Bitten hin besucht ihn Petrarca und wird königlich geehrt. Am 15. Oktober vor Tagesanbruch (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Fam. 21,12, an Francesco Nelli, Vorsteher an der Apostelkirche in Florenz Über die Kunst, knappe Zeit zu strecken und die Flucht der Zeit zu hemmen. 1. Es gibt eine einzige Geschwindigkeit der Zeit; sie ist für alle Menschen gleich. 5. Um sie zu dehnen, muss man sich mit dem Sterben anfreunden. 6. Damit erreicht man ein vollendetes Leben. 6. Begehrlichkeit verhindert diese Vollendung. 10. Das Dehnen der Zeit gelingt nicht ohne strikte Einteilung der Zeit; spät macht Petrarca damit Ernst. 21. Seine Tageseinteilung schildert und verteidigt er. 25. Er folgt dem Beispiel des Augustus und fügt Besonderheiten hinzu. 30. Wie der Winter so kann auch das hohe Alter angenehm und nützlich sein. Mailand, am 13. November um Mitternacht (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Fam. 21,13, an Francesco Nelli Fortsetzung zum vorangehenden Brief. Mehreres zur Lebensführung. 1. Petrarca bezeichnet eine philosophische Sitte des Freundes. 2. Er weckte ein Verlangen nach weiteren Auskünften über seine Lebensführung. 3. Frage, ob seine Gewohnheiten sich am neuen Aufenthaltsort geändert haben. 4. Seine Abneigung gegen das Wohlleben ist kaum Tugend, vielmehr angeboren. 7. Einiges verrät ihm sein Spiegel. 8. In Mailand hat er einiges geändert. 9. Der Verzicht auf teure Kleider fällt ihm noch schwer. Mailand, am 7. Dezember (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Fam. 21,14, an Francesco Nelli Umzug von Ambrosius zu Simplicianus. Einige Angaben über dessen Leben. 1. Erklärung der Ortsangabe im vorangehenden Brief. 2. Gründe für den Umzug: Grössere Freiheit und Ruhe. 3. Vorzüge der neuen Wohnung und Wohnlage. 5. Simplicianus war „Vater“ des Ambrosius. 6. Petrarca liest seine Vita, die ein Scholastiker verfasste. 8. Ein ketzerisches Wort über die Glorie der Heiligen. Der

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Dichter korrigiert es. 10. Er notiert, was er über den Bischof weiss. 13. Er tut es unter Schmerzen in der Nacht. (Mailand, 13. November oder bald darauf ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Fam. 21,15, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio) Reinigung von einer Anklage, die Neider erheben. 1. Auf zwei Stellen in Boccaccios Brief geht Petrarca ein. 2. Der Angesprochene meint, seine Lobreden auf sein Vorbild bei Petrarca entschuldigen zu müssen. 6. Petrarca aber beneidet und verleumdet jenen Belobten nicht und kann das beweisen. 7. Er hat ihn als Kind einmal kurz gesehen. 10. Dass er dessen Buch nicht gekauft hat, geschah aus andern Motiven. Er fürchtete, Nachahmer zu werden. 3. Er reicht jenem für volkssprachliche Dichtung die Palme dar. 14. Er kann ihn besser beurteilen als die Schar seiner Lobredner. 21. Dass er gegen Neid nicht ganz gefeit ist, merkt er im Alter. 22. In einer einzigen Literaturgattung Höchstes zu leisten, genügt. 26. Erinnerung an die erste Begegnung mit Boccaccio. (April/Mai 1359) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Fam. 22,1, an Pandolfo Malatesta den Jüngeren, den Herrn von Rimini Frage, ob man eine Gattin nehmen solle und welche. 1. Petrarca fehlt die Erfahrung, die zur Lösung der Frage nötig wäre. 2. Er verweist auf Bücher und zitiert Sokrates. 4. Mühen und Gefahren gibt es bei jeder Lebensweise. 5. In aller Unsicherheit kann einzig die Tugend raten. 7. Pandolfos Stellung fordert die Ehe. 9. Wichtig ist eine gute Wahl. 9. Petrarca rät zur Heirat einer Frau ferner Herkunft. 12. Er nennt die Eigenschaften einer guten Ehefrau. Venedig, am 11. September (1362). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Fam. 22,2, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio) Oft täuscht sich ein Schreiber besonders leicht in den ihm vertrauten Dingen. Gesetzmässigkeit bei der Nachahmung. 1. Petrarca korrigiert an der Adda Fehler in seinem Hirtengedicht. Ein Lektor hat Fehler aufgedeckt. 8. Genaue Kenntnis alter Werke kann ein Gedächtnis irreführen. 10. Petrarca erläutert das mit Beispielen. 14. Er hält oft für etwas Eigenes, was er übernommen hat. 15. Rauben will er nie; er ahmt die Arbeitsweise der Bienen nach. 19. Ein grosser Neuerer ist er nicht. 20. Vorbilder, die Zwang ausüben, lehnt er ab. 22. Wendungen in seinen Werken, die an fremde erinnern, ändert er. 27. Lateinische Dichter, die Anleihen bei griechischen Autoren machten, hatten ihre eigenen Grundsätze. (Pagazzano, um den 8. Oktober 1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512

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Fam. 22,3, an Barbato da Sulmona Mit einem ihm gewidmeten Gedicht in Briefform. 1. Zweifel, ob die vor langer Zeit verfassten metrischen Briefe zu veröffentlichen seien. 2. Die Erinnerung an jene Zeit hat gewaltige Kraft. 3. Entschluss, die seither überarbeiteten Gedichte zur Korrektur der früher herum gebotenen Fassungen vorzulegen. (Januar/März 1360) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Fam. 22,4, an Barbato da Sulmona Betrübliche Trennung kann durch fingierte Präsenz verringert werden. 1. Petrarca klagt über die Trennung vom Freund, den König Roberto ihm geschenkt habe. 2. Seine leibliche Gegenwart wäre ihm eine Freude. 4. Da das Los eine Verbindung im Geiste nicht verhindern kann, soll man bei aller Tätigkeit das geistige Beisammensein pflegen. 6. Ausblick auf eine Vereinigung im Himmel. Venedig, am 20. April (1360 oder 1363). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 Fam. 22,5, an Bischof Philippe von Cavaillon Ermahnung, Ruhe zu suchen und Schwierigkeiten zu vermeiden. 1. Petrarca freut sich über die Rückkehr des Freundes in seine Diözese. 2. Reisetätigkeit bringt grosse Gefahren auch den Fähigsten. 4. Als verwegen wird der Bischof getadelt. 5. Ein Befehl des Papstes kann ihn nicht entschuldigen. 7. Entschlossene Abwehr gegen höhere Befehle kann nötig sein; Irreführungen und Notlügen sind erlaubt. 10. Der Bischof trägt allein die Verantwortung für seine Herde, die er zu oft verlässt. 15. Abgaben eintreiben schickt sich für andere besser. 19. Nach einem Besuch in Vaucluse, wo sich Sokrates aufhält, sehnt sich der Dichter. Mailand, am 9. August (1360). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Fam. 22,6, an den Florentiner Zanobi da Strada Über die Ankunft des Gross-Seneschals von Sizilien. 1. Niccolò Acciaiuoli besucht Mailand und besonders auch den Dichter. 3. Er zeigt grosses Interesse an Petrarcas Büchern. 4. Dessen Verehrung für den Florentiner wächst. Mailand, am 17. August (1360). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Fam. 22,7, an einen Unbelehrbaren Heftiger Tadel und Ablehnung der erbetenen Rückkehr. 1. Frage, wer sich nicht liebt oder wer sich zu sehr liebt. 2. Wer Gott hasst, liebt sich selber nicht. 5. Er wird auch von Petrarca gehasst. 6. Durch nichts und niemand empfing Petrarca grösseren Schmerz. 7. Seine Kraft ist aufgebraucht. 8. Er fordert vollständige Änderung in Gehaben und Lebensweise. 8. Verächtliches

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Benehmen ist dem Angeschuldigten besonders verderblich. 11. Grosse Liebe hat Petrarca zu falschem Urteil verführt. 12. Nur einem Reuigen wird er verzeihen. 21. Den Verstockten wird er nur schweigend begleiten. 23. Die Schuld Petrarcas besteht in der Gutmütigkeit. Mailand, am 30. August (1359). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Fam. 22,8, an seinen Sokrates Über den Unterschied zwischen Gast und Gast. 1. Ein schwer erträglicher Gast trifft mit Gefolge ein. 2. Dass er weitergeht, ist für Petrarca ein Glück. 4. Umgekehrt ist die Sache, wenn ein Freund kommt und geht. (Januar/März 1360) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Fam. 22,9, an seinen Sokrates Petrarca wolle lieber Bösen Gutes tun als Guten Böses. 1. Petrarca antwortet auf die Frage, wie er sich seinem Sohn gegenüber verhalte. (Januar/März 1360) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Fam. 22,10, an Francesco Nelli, Vorsteher an der Apostelkirche Über die Schreibmischung aus heiliger Schrift und weltlicher Literatur. 1. Vorzüge dieser Mischung. 2. Von den Musen Petrarcas wird sie gebilligt. 3. Nicht mehr zum eigenen Ruhm, sondern zum Gotteslob kürzt Petrarca seinen Schlaf. 6. Er nennt seine heidnischen Vorbilder und fügt seine christlichen an. 11. Er nennt sein wichtigstes Vorbild unter den sakralen Dichtern. Mailand, am 18. September (1360). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Fam. 22,11, an Guglielmo da Pastrengo in Verona Empfehlung eines alten, doch ungemein feurigen Studienbeflissenen. (Padua, am 17. April 1360). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Fam. 22,12, an den Arzt Albertino in Cannobio Gute Menschen seien gutgläubig. Bericht von der Vernachlässigung häuslicher Geschäfte und von der Bosheit der Diener. Gegen den unausweichlichen Tod hilft nichts als Gleichmut. 1. Dank für ein Schreiben und für Gutgläubigkeit. 4. Petrarca sei als Ökonom so schlecht wie als Politiker. Diener hintergehen und rauben ihn aus. 6. Die Grösse und Einsamkeit des Hauses bedeuten Gefahr. 10. Der Freund mahnt zum Verlassen des von der Pest bedrohten Gebietes. 12. Doch niemand kann seiner vorbestimmten Todesstunde entgehen. 16. Beispiele aus der Antike. 25. Petrarca würde den Rufenden als einen Freund, nicht als Arzt aufsuchen. Er ist jedoch verhindert. Mailand, am 26. Oktober (1360). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

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Fam. 22,13, an Pierre von Poitiers, den Prior von Saint-Eloi zu Paris 1. Eine Rede Petrarcas am französischen Königshof macht tiefen Eindruck. 3. Der König und der Dauphin staunen vor allem über die Schilderung Fortunas. 6. Der Dichter soll später ausführen, was er unter Fortuna versteht. 8. Die Gelegenheit dazu wird vertan. 10. Für eine Abhandlung über die Frage, geschrieben auf der Heimreise, findet Petrarca erst viel später einen Boten. Padua, am 6. September (1361). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Fam. 22,14, an Pierre von Poitiers Über den Wandel Fortunas gemäss ihrem Brauch und besonders über den Wandel der Kriegführung. 1. Aufstieg der Engländer zur Kriegsmacht. 2. Ihre Verwüstung Frankreichs. 5. Der Erfolg der Bogenschützen. 6. Translation der Macht gemäss dem Wandel der Gesittung. 11. Verweichlichung als erster Grund für den Niedergang eines Volkes. 14. Wohlleben moderner Soldaten bei Absenz jeder militärischen Leistung. 20. Strapazen im alten römischen Heer. 22. Soldatische Vorbilder im alten Heerwesen. 24. Damalige Auszeichnungen für Soldaten zur Steigerung des Kampfwillens. 27. Vorbilder für eiserne Strenge zur Förderung der Kriegszucht. Piscenius Niger. 32. Cassius Avidius. 38. Maximinus und andere. 40. Erziehung durch exemplarische Strafen: bei Manlius Torquatus, Fabius Maximus, den Scipionen und anderen. 59. Die Unterwerfung der Erde durch das unbesiegbare römische Heer. 69. Der Verlust aller Tüchtigkeit im modernen Heer führt zu unablässigen Kriegen. 73. Zwangsläufig folgt der Untergang der bestehenden Ordnung. Auf der Reise, am 27. Februar (1361). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 Fam. 23,1, an Unbekannt Entrüstung und Klagen vor einem, wer immer er sei, weil er jene sogenannten Räuberbanden zerschlagen müsste, die eben Italien durchstreifen. 1. Aufrufungen an Feldherren der Antike. 10. Frage an Christus. 14. Anrufung Gottes. 1. September (1360 oder 1361/62). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Fam. 23,2, an unseren Cäsar Zuerst liebevoller Dank für geschenkte Vertraulichkeit, dann wegen Vernachlässigung der Republik und der Kaiserherrschaft scharfer Tadel und eindringlichste Ermahnung. 1. Das Wohlwollen des Kaisers macht Petrarca glücklich. 6. Die Seltenheit der Begegnungen kommt zum Teil von des Dichters Unfähigkeit, sich von Italien zu trennen. 9. Zum andern Teil ist sie Folge von Karls Vernachlässigung seiner kaiserlichen Pflichten. 10. Erneute Ermahnungen, sie unverzüglich wahrzunehmen. Zitate aus alten Dichtern. 14. Der heutige Tag ist zum Handeln stets der beste.

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23. Beim Romzug von 1355 war Furcht nicht angebracht. 27. Die Gefahren waren unerheblich. 28. Liebe zur Heimat darf Karl nicht geltend machen. 31. Seine hohe Stellung verbietet ihm diese Freiheit. 34. Frühere Gründe zum Aufschub sind weggefallen. 35. Der Papst darf den Kaiser an der Besitznahme Roms nicht hindern. 40. Zu den Aufgaben des Kaisers gehört die Hilfe für Jerusalem. 43. Auf ein geheimes Anliegen Karls antwortet Petrarca in einem besonderen Schreiben. Mailand, am 21. März (1361). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 Fam. 23,3, an unseren Cäsar Dringendere Empfehlung eines Freundes. 1. Petrarca ist zu einer Bitte verpflichtet. 2. Es gehört sich für Karl, getreuen Dienst zu belohnen. (Zwischen Frühling 1361 und Frühling 1363) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Fam. 23,4, an Bonincontro Glückwunsch zu seiner zwar späten Errettung aus den Stürmen der Kurie ins Privatleben. Mailand, am 27. Januar (1362). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Fam. 23,5, an Bonincontro Dem hohen Alter und Tod soll man mutig, ja heiter entgegengehen. 1. Im Alter hat man den Nebel der Leidenschaften überstiegen. 3. Cicero hat ausführlich über das Alter gesprochen. 4. Der Weise fürchtet den Tod nicht. 6. Aus Erbarmen hat Gott den Menschen sterblich gemacht. Ein Zitat Plotins. Mailand, am 23. Februar (1362) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Fam. 23,6, an den Bischof von Olmütz, den kaiserlichen Kanzler Einem Lobredner kann man um so weniger glauben, je grösser seine Liebe ist. 1. Der Bischof pflege seine Freunde über sich selber zu erhöhen. 3. Petrarca gibt sich dem Bischof zu eigen. 4. Er bittet um Nachsicht wegen seines Freimuts. 5. Mit dem Brief schickt er durch Sagremor sein Hirtengedicht. Mailand, am 21. März (1361). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 Fam. 23,7, an den Bischof von Olmütz Empfehlung eines Freundes. 1. Der junge Mann, der sich dem Kanzler vorstellt, gehört einer Familie an, die von Karl IV. geschätzt wird. 2. Wer anderen Menschen hilft, ist Gott nahe. 3. Gott am nächsten steht der Kaiser, dem Kaiser am nächsten steht der Kanzler. Der junge Mann wird ihm empfohlen. (Frühling 1361-Frühling 1363) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598

XLII

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Fam. 23,8, an den Kaiser Karl Dank für die grosse Güte des Kaisers und für einen ihm gesandte Becher. Es bleibe die Hoffnung, die Einladung anzunehmen. 1. Der Becher ist von hohem Wert. 2. Petrarca will ihn nur für besondere Feste verwenden. 4. Dass der Kaiser Petrarca zu kommen bittet und nicht zu kommen heisst, hat besondere Wirkung. 5. Richtiger wäre, wenn Karl nach Italien käme. 6. Der Dichter möchte erst bei verminderter Hitze reisen. 8. Er macht sich auch Sorgen um den Büchertransport. Padua, 18. Juli (1361–1363). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Fam. 23,9, an den Kaiser Karl Dem erneuten Ruf antwortet grössere Bereitschaft zu gehorchen. 1. Der Kaiser habe gesiegt. 2. Petrarca hatte gehofft, der Kaiser werde sein Aufgebot vergessen. 3. Er beteuert seine Liebe zum Kaiserreich. 4. Sein Bedürfnis, ein ruhiges Leben zu führen, ist jedoch gross. 5. Er nimmt die Einladung nach Prag an. Doch hätte er den Kaiser lieber in Italien, wo man noch immer auf ihn hofft, getroffen. Mailand, am 21. März (1362). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 Fam. 23,10, an den Bischof von Olmütz, den Kanzler Ein Mensch, der seiner Kleinheit bewusst sei, dürfe nicht durch fremdes Lob vom Sitz seiner Bescheidenheit weggezogen werden. 1. Verwunderung über die Bescheidenheit eines Hochgestellten. 2. Er hat ein Verlangen, andere über sich hinaus zu erheben. 3. Petrarca lässt sich durch fremdes Urteil nicht unsicher machen. 5. Er wird dem Ruf nach Prag Folge leisten. 6. Doch hofft er auf baldige Entlassung. Mailand, am 21. März (1362). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 Fam. 23,11, an den Advokaten Giovanni von Bergamo Der Advokat, bereit zur Fahrt übers Meer, um am Grab Christi die Ritterwürde zu empfangen, wird ermahnt, von diesem Vorhaben abzustehen. 1. Petrarca schreibt, um lieber zu raten als zu tadeln. 2. Zum Grab Christi zu pilgern, kann eine Pflicht der Dankbarkeit sein. 3. Dort aber kostbare Abzeichen der Ritterwürde zu holen, ist falsch. 6. Vorbild für richtiges Verhalten ist der Herzog Gottfried. 10. Höher zu schätzen als die geplante Reise wäre ein kriegerischer Einsatz für die Gerechtigkeit. (Kein Datierungsvorschlag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606

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Fam. 23,12, an den Erzbischof Guido von Genua Nicht der Schmerz, aber Geduld im Schmerz ist zu wünschen; viele Gaben, die dem ersten Empfänger nutzlos sind, können anderen nützen. 1. Der Mensch hat ein unverlierbares Verlangen nach Glück. Im Unglück ist die Kraft zum Durchhalten schon halbes Glück. 5. Poseidonios rechnet Beschwerden nicht zu den Übeln. Er nennt das Laster das einzige Übel. 8. Über Beschwerden spricht am richtigsten, wer solche tapfer erduldet. 10. Petrarca spricht von der Gicht. Die Meinung des Poseidonios überzeugt ihn nicht immer. 14. Er würde zur Frage des Übels eine Schrift vorlegen, doch es fehlen ihm gute Kopisten. 15. Sein Sohn versagt ihm die Hilfe. 17. Auch für dieses Unglück muss Petrarca Geduld aufbringen. 25. Ihn freut, wenn einer seiner Briefe nützlich ist, wenn nicht dem Adressaten so doch einem andern. 29. Cicero und andere versuchten erfolglos ihre Söhne zu Erben ihrer Bildung zu machen. Mailand, am 1. Dezember (1360). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Fam. 23,13, an seinen Sokrates Dass andere die Früchte unserer Arbeit ernten, müsse man ertragen, weil es üblich sei. 1. Sokrates ärgert sich darüber. 2. An verschiedenen Beispielen wird bewiesen, dass der Verzicht auf Eigenes zu Gunsten eines anderen zum Alltag gehört. 4. Zufrieden muss sein, wer Speise und Kleidung hat. Zitate aus Dichtern und Propheten bestätigen das. 5. Sich über allgemeine Übel beschweren, heisst die Vorsehung anklagen. (Ende 1359/Anfang 1360) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Fam. 23,14, an Bischof Johann von Olmütz Vertrauliches Schreiben. 1. Petrarca wundert sich über des Bischofs Anrede mit Ihr statt Du. 3. Letzte Briefe haben den Bischof nicht erreicht. Versperrte Wege haben Petrarca genötigt, die Reise zu Karl abzubrechen. 4. Sein Weg hat ihn nach Venedig geführt. (Venedig, am 11. März 1363) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 Fam. 23,15, an den Cäsar Flehentliche Ermahnung, nach Italien zurückzukehren. 1. Bitte um Entschuldigung für fortgesetzte Ermahnungen. 3. Beteuerung der reinen Absicht. 4. Hinweis auf Erschöpfung aller Überredungskunst und fast aller Hoffnung. 7. Es bleibt der Hilferuf im Verstummen. Venedig, am 11. März (1363). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624

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Fam. 23,16, an Bischof Johann von Olmütz, den Kanzler Er möge tun, was er vermöge und wenn er nicht vermöge, tun, was er wolle. 1. Der Bischof möge schreiben, auch wenn er nicht von erhörten Bitten berichten könne. 3 Petrarca lebe in Venedig einsam wie in einer abgesonderten Welt. 4. Doch betrübe er sich nicht wegen der Verweigerungen des Kaisers. 5. Immer bleibe er diesem zutiefst verpflichtet. 6. Der Mann, der den Brief überbringe, wolle in Prag studieren; Petrarca empfehle ihn dem Bischof. Venedig, am 27. August (1363). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 Fam. 23,17, an den Grafen Ugo von San Severino Über die Hofhunde im Königspalast von Neapel. 1. Petrarca fühlt sich gegenüber der Königin Giovanna als Schuldner und erhebt keinerlei Ansprüche. 2. Seit dem Tod von König Roberto herrscht in Neapel mörderisches Unwesen. 4. Der Adressat ist Petrarca nichts schuldig. 5. Er muss sich vor der Gesinnung der Hofleute hüten. (1362) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 Fam. 23,18, an Niccolò Acciaiuoli, den Gross-Seneschall des Königreichs Sizilien Über seine Ruhmestaten. 1. Lob auf sprachliche Fähigkeiten des Adressaten und auf seine Leistungen. 2. Nur ein Homer könnte sie würdigen. 3. Petrarcas Sprachkunst werde den hohen Erwartungen des Staatsmannes nicht genügen. 5. Grossherzige Angebote an den Dichter und dessen Freund (Nelli) werden gerne beachtet. 7. Tadelnde Worte über den eben verstorbenen König und Bedenken wegen der Zukunft Neapels. Padua, am 8. Juni (1362). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 Fam. 23,19, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio) Über einen jungen Helfer, der als Kopist tätig ist. Nichts sei so vollkommen, dass es keine Fehler enthalte. 1. Petrarca rühmt einen bei ihm wohnenden Kopisten. 3. Erstaunlich ist nicht zuletzt sein Gedächtnis. 4. Doch verfasst er auch schon Gedichte. 5. In der Askese wetteifert er mit Petrarca. 7. Petrarcas Prosabriefe ordnet er und schreibt sie mit einfachen Lettern ab. 9. Von Petrarca erhält er Belehrung über richtige Nachahmung und Originalität. 15. Dabei entdeckt er eine unbeabsichtigte Anleihe Petrarcas. Pavia, am 28. Oktober (1366). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

Adressaten und Inhaltsangaben

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Fam. 23,20, an Francesco Bruni, den florentinischen Rhetor Eine neue Freundschaft wird geschlossen. 1. Freunde des Adressaten haben Petrarca gebeten, er möge ihm schreiben. 3. Doch weigert sich der Dichter. 5. In einem unerwarteten Angriff wird er besiegt. 8. Den neuen Freund reiht er in die Familiares ein. Padua, am 8. September (1361). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Fam. 23,21, an den Cäsar Letzter Aufruf. 1. Petrarca hat alle Hoffnung verloren. 2. Doch lässt er sich durch neue Nachrichten wieder ermutigen. 4. Noch immer kann der Kaiser auf einen ungenügenden Anfang ein gutes Ende folgen lassen. 7. Dann wird er mit dem „Zögerer“ der Römer verglichen werden. 11. Selbst beim Misserfolg ist der Tod während mutiger Tat besser als der in Tatenlosigkeit. Padua, am 11. Dezember (1364/65). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Fam. 24,1, an den Bischof Philippe von Cavaillon Über die unbegreifliche Flucht der Zeit. 1. Über einen Jugendbrief an Raimondo Subirani. 2. Er sprach von der Kürze der Lebenszeit. 10. Schon als Schüler hat Petrarca antike Gedanken zur Kürze der Zeit beherzigt. 13. Was er vorausahnte, erlebt Petrarca jetzt im Alter. 17. Die Kürze der Lebenszeit hat Petrarca gelehrt, nichts Zeitliches zu erhoffen. 20. Doch mit Rücksicht auf Hoffnungen der Eltern hat er eine Zeit lang Jus studiert. 22. Die Kürze des Lebens hat den Dichter auch die richtige Lebenshaltung gelehrt. 24. In Kürze hat er sich und hat sich vieles verändert. 26. Zu jedem Zeitpunkt sterben wir. 28. Nicht länger dauert unser Leben als das eines Eintagstierchens. 30. Der Psalmist bezeugt es. (–1360) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Fam. 24,2, an den Dichter Pulice von Vicenza Über Inhalt und Grund der an Cicero und Seneca adressierten Briefe. 1. Petrarca lässt sich in Vicenza durch Gespräche mit Freunden aufhalten. Thema wird Cicero. 4. Der Dichter weckt mit Kritik Widerspruch und zeigt eigene Briefe an Cicero vor. 7. Ein alter Mann erklärt Cicero für einen Gott. 10. Petrarca korrigiert ihn ungern. 15. Beim Abschied verspricht er, Kopien besagter Briefe zu senden. 16. Er schickt sie mit einer Warnung. Am 13. Mai auf der Reise (1350/1351). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655

XLVI

Adressaten und Inhaltsangaben

Fam. 24,3, an Marcus Tullius Cicero Manches hat er in seinen Schriften gelehrt, was er im Leben nicht beachtete. 1. Petrarca habe Ciceros Briefe gefunden und gelesen; nun wisse er, was Cicero vor sich selber gewesen sei. 3. Klage über das Fehlverhalten des alten Cicero. 4. Hinweise auf Ratschläge und günstige Umstände, die Cicero missachtete. 6. Richtig wäre für ihn gewesen, sich im Alter aufs Land zurückzuziehen. Verona, am 16. Juni 1345. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Fam. 24,4, an Marcus Tullius Cicero Petrarca zieht Cicero allen Rednern vor, wie Vergil allen Dichtern. 1. Dieser zweite Brief an Cicero soll wahr reden wie der erste, ihm aber wohl tun. 4. Cicero ist der höchste Meister der ungebundenen Sprache. 5. Neben ihn tritt als Fürst der gebundenen Sprache Vergil. 8. Sie beide haben der griechischen Redekunst den Rang abgelaufen. 11. Manche Werke Ciceros sind verlorengegangen. 13. Petrarca zählt die wichtigsten unter ihnen auf. 15. Er weist auf den Zustand des Imperiums zu seiner Zeit. An der Rhone, am 19. Dezember 1345. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 Fam. 24,5, an Annaeus Seneca Ein Tadelbrief. 1. Petrarca wird nach Cicero auch Seneca einige Wahrheiten beibringen. 3. Er zitiert ein lobendes Wort des Plutarch über Seneca, beanstandet aber kecke Urteile des Griechen. 4. Die Natur schenkt keinem Geschöpf Vollkommenheit. 6. Aus Ruhmsucht hat Seneca das Schwierige gesucht, als er Lehrer eines Tyrannen wurde. 10. Petrarca schildert ihm sein Fehlverhalten. 16. Er kritisiert Senecas Tragödie Octavia. 20. Er schildert Neros Taten. 25. Seneca muss ihre Niedertracht erkannt haben. Das verrät sein Brief an den Apostel Paulus. Am Po, am 1. August 1348. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 Fam. 24,6, an Marcus Varro Vom Ruhm seiner Bücher und von der Trägheit der modernen Zeit. 1. Gewisse Menschen bringen Nutzen selbst nach dem Tod. 2. Die Nachlässigkeit der modernen Zeit ist schuld daran, dass Varros Schriften keinen Nutzen mehr erbringen. 3. Kenntnis vom Wert seiner Schriften vermitteln verschiedene Zeugen. 5. Zu diesen gehören Cicero, Lactanz und Augustinus. 8. Petrarca hat einst ein Fragment einer Schrift Varros in den Händen gehabt. 10. Er zählt andere Schriftsteller auf, deren Werke grossenteils verlorengingen. Rom, am 1. November 1350. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673

Adressaten und Inhaltsangaben

XLVII

Fam. 24,7, an Quintilian 1. Petrarca hat die Bedeutung des Adressaten nicht sogleich erkannt. 2. Erst spät hat er einzelne Teile von Quintilians Werk zu sehen bekommen. 3. An wissenschaftlicher Gründlichkeit überbietet Quintilian sein Vorbild Cicero. 4. Petrarca charakterisiert die beiden Lehrer der Rhetorik. 8. An Seneca hat Quintilian einen strengen Kritiker gefunden; er hat ihn ebenfalls getadelt. 10. Vom Leben des Adressaten gibt Petrarca einen knappen Abriss. Florenz, am 7. Dezember 1350. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Fam. 24,8, an den Historiker Titus Livius 1. Wünschbar wäre es gewesen, mit Livius im selben Zeitalter zu leben, um mit ihm das ganze römische Reich zu besuchen. 2. Nur ein geringer Teil der römischen Geschichte ist erhalten geblieben, aber mit diesem beschäftigt sich Petrarca, um der eigenen Zeit zu entgehen. 4. Er trifft darin die grossen Vorbilder der Frühzeit. 6. Andere berühmte Historiker lässt er durch Livius grüssen. Padua, am 22. Februar 1351. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Fam. 24,9, an den Redner Asinius Pollio 1. Petrarca kennt die Bedeutung des Adressaten nicht aus dessen eigenen, sondern aus fremden Schriften. 3. Zum Glück des Asinius gehörte, unter Augustus, nicht unter Tiberius zu leben. 5. Tadeln muss ihn Petrarca wegen seiner Angriffe gegen Ciceros Vorrang in der Redekunst. 9. Neid wäre an Asinius besonders widerlich. 10. Er soll andere Redner im Jenseits grüssen. Frage nach deren Gedächtnis. Mailand, am 1. August 1353. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684

Fam. 24,10, an den lyrischen Dichter Horatius Flaccus 1. Würdigung des Dichters. 7. Idyllische Landschaft. 11. Von Horaz besungene Götter und Helden. 40. Lieblingsorte des Horaz. 70. Moralische Anschauungen des Dichters. 80. Literarische Auffassungen. 95. Historische Ereignisse und Legenden. 110. Worte zum Alltag des Dichters. 125. Bekenntnis zur Nachahmung. Kein Datum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 Fam. 24,11, an Publius Vergilius Maro den heroischen Dichter und Fürsten der lateinischen Dichter 1. Huldigung an Vergil und Frage nach seinem Befinden. 10. Hinweis auf das Schicksal einiger Dichter. 22. Frage nach dem Sieg über das Totenreich. 30. Angaben über Verhältnisse in Neapel, Mantua und Rom. 40. Hinweise auf Petrarcas

XLVIII

Adressaten und Inhaltsangaben

Spurensuche in der Gegend von Mantua. 51. Mitteilungen über das bleibende Ansehen der Werke Vergils. Kein Datum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 Fam. 24,12, an Homer Antwort auf einen langen inhaltsreichen Brief, abgesandt unter dem Namen des Dichters Homer und bei den Unterirdischen datiert. 1. Petrarca entschuldigt sein bisheriges Schweigen. 2. Auf Homer hat er sehnsüchtig gewartet. 3. Unter den Lateinern sind Cicero und Vergil die Fürsten der Sprachkunst. 4. Ein Urteil des Hieronymus über Homer teilt Petrarca nicht mehr. 6. Er dankt Homer für seine Belehrungen. 15. Doch seine Klagen, besonders die über Nachahmer hält er für sinnlos. 18. Er verteidigt Vergil und fordert Glauben. 28. Dass es in der modernen Zeit bloss wenige Verehrer Homers gibt, darf diesen nicht bekümmern. 31. Petrarca deutet an, wo es solche gibt. 38. Gar nicht klagen soll Homer, dass er in Florenz festgehalten wird. Hier findet er die beste Unterkunft. 40. Hier werden seine Werke übersetzt. Mailand, am 9. Oktober 1360. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Fam. 24,13, an seinen Sokrates Schluss dieses Buches. 1. Das Werk der Familiares entstand, weil Petrarca sich dem Verlangen der Freunde beugte. 2. Dabei hat er seinen Willen zurückgestellt und seinen Ruf nicht geschont. 3. Erst der Tod wird Petrarcas Briefschreiben beenden. 4. Das Buch 24 wendet sich an Schriftsteller der Antike und ist auch sonst von besonderer Art. 5. In den früheren Büchern folgten die Briefe dem Ablauf von Petrarcas Leben. 7. Briefe, die Petrarca noch verfassen wird, sollen unter einem neuen Titel zusammengefasst werden. 8. Von einem Übermass an Freundesliebe kann Petrarca nur Schaden erwarten. (Juni 1361) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713

Vorbemerkungen mit Überblick über die einzelnen Briefe

Vorbemerkungen zu Petrarca, Familiares Buch 13 bis 24 Teil 2: zu Buch 13–24 Dem Vorwort zu den Familiares Buch 1–12 hier zu Anfang des 2. Bandes, das heisst den Büchern 13–24, ein neues anzufügen, ist nicht nötig. Doch erinnert sei daran, dass die Übertragung sich an die kritische Edition von Vittorio Rossi und Umberto Bosco hält, zu finden in Le Familiari, edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca voll. 10–13, 1933–1942. Eine Fülle von Zitatennachweisen, die dort geboten wird, konnte wiederum übernommen werden; ihre Zahl wurde in dieser deutschen Ausgabe da und dort ergänzt, doch jeweils ohne weiteren Vermerk. Ugo Dottis lateinisch-italienische Ausgabe der Familiares hört auf mit Buch 11; Erläuterungen zu den Briefinhalten kann man jedoch aus seiner Vita di Petrarca herauslesen; und viele wichtige Informationen bieten die Werke von Wilkins. Für biographische, kulturhistorische, politische und anders geartete Anmerkungen mussten allerdings weitere Werke konsultiert werden, und etliche von ihnen werden in der Bibliographie aufgeführt. Dass auf eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Sekundärliteratur wie im ersten Band wieder verzichtet wird, ist bei ihrer fast schon unübersehbaren Zahl eine Notwendigkeit. Die bibliographische Hilfe in diesem 2. Band wird nur in der Art verbessert, dass dem früheren Verzeichnis eines der Literatur zu Persönlichkeiten aus des Dichters Freundeskreis angeschlossen ist. Das Personenregister zum zweiten Band Familiares wiederholt nicht die Angaben im Register des 1. Bandes, sondern begnügt sich mit einem Hinweis auf jene früheren Angaben und ergänzt sie mit der Aneinanderreihung weiterer Briefstellen. Eine kurze Bemerkung zu Petrarcas Stil und zur Übersetzung sei angefügt. Sie kann vielleicht den geistigen Wert von Petrarcas Briefen von der formalen Seite her erläutern und zugleich auf Forderungen an eine Verdeutschung mit einem Hinweis auf Schwierigkeiten antworten. Der Dichter wusste, dass eine bedeutende Wortgewalt ihm fehle (Fam. 1,1,14 ff.; 13,5,12); dem hat er Rechnung getragen. Dass jemand nach einem ihm fremden Stil verlange, erklärte er für falsch, und über seine Kräfte hinaus zu streben, tadelte er als ein vergebliches Bemühen (Fam. 1,8,14 und 22,2 passim und auch anderswo), auf das man besser verzichte. Rhetorische Glanzleistungen dank überraschender Handhabung der verschiedenen Techniken hielt er in Freundesbriefen ohnehin für überflüssig, ja sogar für lächerlich (vgl. z. B. Fam. 18,8). Cicero blieb sein wichtigstes Vorbild, aber nicht der Redner, den nachzuahmen er sich kaum einmal vornahm, sondern der Epistolograph mit seiner sehr gepflegten Umgangssprache. Das klassische Latein, das sich auf einer Ebene des Massvollen bewegte, begnügte sich wohlüberlegt mit einem verhältnismässig bescheidenen Wortschatz, der auch Petrarca vollauf befriedigte. Wenn er nicht an die Grossen der Welt, gar an den Kaiser schrieb, verwendete er einen alltäglichen,

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Vorbemerkungen zu Petrarca, Familiares Buch 13 bis 24

familiären Stil, der persönlich, dabei richtig und gewandt, gut lesbar und auch elegans (wie er einen guten Stil oft rühmte) sein sollte. Doch weit wichtiger war ihm, dass sein Briefstil von Folgerichtigkeit der Gedanken und einer schönen Ordnung zeugte (vgl. Fam.1,9), was er im allgemeinen auch erreichte, und zwar oft – so scheint es – dank einer Denkschulung auch juristischer Art. Sein Bedürfnis, einen Gesprächsstoff als Philosoph und Moralist gründlich, geistreich und hinreichend zu entwickeln, stiess freilich häufig an die engen Grenzen seiner Mussezeit, was ihn zwang, Unzulänglichkeiten in Kauf zu nehmen (vgl. dazu Fam. 18,7 und 18,8 an Nelli), die er bei etwas mehr Zeit hätte vermeiden können. Jene Virtuosität, die sich um zeitliche Einschränkung nicht zu scheren braucht, war ihm nicht eigen. Vielfache spätere Überarbeitungen, Ergänzungen und Abänderungen seiner Texte scheinen übrigens – wenn ich nicht irre – weit eher eine Erläuterung des Inhalts und viel seltener eine Verbesserung der Sprache bezweckt zu haben. Gut hat Petrarca seine häufige, durch Zeitnot erwirkte Bedrängnis selber geschildert, indem er sagte: „Wovon soll ich zuerst und wovon ausführlich reden? Oder besser: Wovon soll ich nicht reden? Verschiedenste Einfälle stürmen von allen Seiten auf mich ein, stossen sich untereinander und verhindern dadurch ihre Verknüpfung. Es fehlt die Zeit, sich um alle zu bemühen“ (Anfang von Sine nom. 11; vgl. z. B. auch Fam. 13,9,5). Unschönes, Schwerfälliges und Unklares immer zu vermeiden, war ihm also nicht möglich, und wo es stehen blieb, belegt es Petrarcas ernsthafte Anstrengung, mit Unzulänglichkeiten zurecht zu kommen. Diese bedeuten für eine Übersetzung eine Schwierigkeit der besonderen Art, da sie für den Briefschreiber gewissermassen charakteristisch, doch als solche nicht übertragbar sind. Übertragene Fehler wären untragbar. Sie zu vertuschen, heisst jedoch, Petrarcas Stil zu glätten, was nicht unbedingt eine wahre Verbesserung bringt, dagegen regelmässig zu einer Verfälschung führt: Das Höckerige wird glatt. Und doch bleibt nichts anderes übrig, als Unklares zu klären und Rauhes zu mildern. Im allgemeinen wird man Stossendes beseitigen und schwer Verständliches verständlicher machen. Andere Schwierigkeiten, wie zum Beispiel den Satzrhythmus nachzuahmen oder einen Wortsinn genau und sogar in seiner Fülle festzuhalten, kommen dazu, und überhaupt sind der Probleme so viele, dass ein Übersetzer, wie lange und gründlich er sich mit dem Originaltext abmüht, wahrlich nie der Illusion verfallen kann, genaue Entsprechungen vorzulegen. Das wird man von ihm auch nicht verlangen, da diese Art Nicht-Vermögen eigentlich naturnotwendig ist. Selbst im Alltag wird alles, was man vermittelt, durch jede Einzelperson mehr oder weniger verändert, und wie hoch die Zahl und Art der Missverständnisse in jedem Gespräch ist, übersteigt wohl eine sorglose Annahme. Deshalb soll hier auch nur dieser eine besondere Fall herausgehoben werden, bei dem eine fragwürdige Verbesserung durch ein stilistisch nötiges, ja unvermeidliches Glätten entsteht. Dafür Beispiele vorzulegen,

Vorbemerkungen zu Petrarca, Familiares Buch 13 bis 24

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ist nicht leicht. Man müsste ganze Abschnitte überprüfen. Der vorzügliche Kenner der lateinischen klassischen Kunstprosa, Eduard Norden, zwar weit davon entfernt, Petrarcas Sprache zu überschätzen, hat sie doch mit Liebe geschildert und gerade in ihrer „widerspruchsvollen Mischung von Wollen und Können, von scholastischer Barbarei und antiker Eleganz“, wie er sich ausdrückt (s. Antike Kunstprosa 2. Auflage 733), einen besonderen Reiz entdeckt, ja im angestrengten Bemühen des Dichters um eine Befreiung von der herkömmlichen Verknöcherung der Sprache einen Ansporn empfunden, seine besondere Leistung um so dankbarer zu würdigen. Einer unbeirrbaren Anstrengung, die jedoch nicht waghalsig über die eigene Begabung hinaus begehrt (Fam. 1,8,8), bedurfte der Dichter, um Schritt für Schritt einen Weg zur Wiedergewinnung eines verschütteten wertvollen Schatzes an Wissen und Vermögen anzubahnen. Die literarische Dürftigkeit und Dürre war zu jener Zeit zu weit verbreitet, als dass er und seine Gleichgesinnten die unter Schutt begrabenen Quellen sogleich zum Sprudeln hätten bringen können, um sie für sich selber zu nutzen und in reichlichem Mass anderen zugänglich zu machen. Vermag nun aber die Übersetzung jener (von Eduard Norden geschilderten) Besonderheit, die dem Stil Petrarcas Charme verleiht, nicht gerecht zu werden und manche andere Fremdheit auch nicht einzudeutschen, so kann sie doch hoffentlich zum lateinischen Text hinführen – denn das muss ihr eigentliches Ziel sein – und eine Beschäftigung mit dem Original erleichtern. Schlichtweg jede Übersetzung ist nur Vorarbeit und verlangt eine zusätzliche Übersetzung von jedermann, der das Vorgelegte wirklich begreifen will; nötig ist eine individuelle Bemühung des einzelnen, sich in die Gedankenwelt des Gegenübers und in seine Zeit hineinzudenken, um sie zu würdigen, nicht abzuwerten. Die Mängel Petrarcas sollen nicht überbetont werden. Zu achten hat man in erster Linie auf seine Vorzüge und kann sich von diesen leicht überzeugen, wenn man seine Schriften mit denen anderer Gebildeter, sei’s zeitgenössischer, sei’s moderner, vergleicht. An seinen besten Leistungen muss man ihn messen. Solche kann man ohne langes Suchen in grosser Zahl erkennen. Briefe an Karl IV. seien „zum Teil glänzend geschrieben“, sagt der genannte anspruchsvolle Sprachgelehrte (vgl. oben). Und es sind nicht ausschliesslich die Leistungen zur Erneuerung der Sprache, die man zu schätzen hat; es sind auch solche des Denkvermögens, der Beobachtungsgabe und eines oft auffälligen Gespürs für vielsagende Kleinigkeiten, die ihn auf dem Weg der Entdeckungen weiterführen. Will sich ein Deutscher über die Verdienste des Humanisten Petrarca in einer verhältnismässig kurzen Darlegung gut informieren lassen, so behilft er sich nicht schlecht, wenn er zum oben erwähnten Buch von Eduard Norden greift, wo dank ausgezeichneter Kenntnis der verschiedenen Epochen und ihrer literarischen Strömungen die besondere Rolle Petrarcas hervorgehoben und sein Schaffen im besten Sinn kritisiert und gewürdigt wird.

Überblick über die einzelnen Bücher Ein Anmerkungsapparat wird hier nicht geboten. Die Anmerkungen, die den Übersetzungen der lateinischen Texte beigefügt sind, können dort leicht gefunden werden und für die Angaben in diesem Überblick genügen. Buch 13 markiert keine Wende und keine neue Situation im Leben Petrarcas. Er hat sich, wie Buch 12 verriet, seit dem Sommer 1351 ganz gegen seinen Wunsch wieder in der Provence, einmal in Avignon, einmal in Vaucluse aufgehalten; hat seltener, als ihm lieb war, Freunde gesehen, auch seltener, als er wünschte, Mussestunden für seine literarischen Arbeiten gefunden, sich von Neidern bedrängt und verfolgt gefühlt und in der Überzeugung, für die gerechte Sache gewisser Freunde einzustehen, mit einflussreichen Prälaten verhandelt, aber weil die übernommenen Geschäfte nicht vorangingen, sich entsetzlich geärgert und gelangweilt, wie er nach Italien meldete (Fam. 9,5,14 ff. und 45; 12,4 etc.). Dabei hat er ohne Unterlass an die Geschicke Italiens gedacht, für dieses Land mancherlei erhofft, nämlich zum Beispiel den Romzug Karls IV. (12,1), einen Frieden zwischen Venedig und Genua (Fam. 11,8), eine Neuordnung in Rom (Fam. 11,16 und 11,17) und eine Stärkung des Königtums in Neapel (Fam. 11,13 und 12,2). Er hat auch nicht unterlassen, Freunden in Italien gute moralische (und politische) Ratschläge zu schicken (Fam. 12,3 und 12,16), hat nebenbei für sich selber gesorgt und alles zu unternehmen versucht, um sich sein Archidiakonat in Parma zu erhalten (Fam. 9,5) und um dahin zurückkehren zu können. Am dringlichsten wünschte er sich für seine Person die Sicherung seiner Freiheit mit der Möglichkeit, sich den ehrenvollen Angeboten, die er von Clemens VI. zu erwarten hatte, mit allem Anstand zu entziehen, um die Provence rasch zu verlassen. Nichts, so gibt er oft zu verstehen, gefällt ihm nun in Avignon weniger, und über nichts entrüstete er sich da so rückhaltlos wie über die Denkart und Lebensweise der Kurialen. Was er an diesen aussetzt, hält er schonungslos in Briefen fest, denen er immer neue hinzufügt und die er im Herbst 1351 aneinanderzureihen beginnt, um eine grössere Zahl ohne Nennung der Adressaten, auch ohne Nennung der getadelten Personen und ohne Hinweis auf seine eigene Verfasserschaft, als Sine nomine zwar nicht sogleich zu edieren, aber für eine Edition nach seinem Tod aufzubewahren. Vor der Nachwelt sollte, so meinte er, diese Sammlung eine traurige Wahrheit verkünden, die er bei seinen Lebzeiten auszusprechen den Mut nicht habe. Das bekennt er im Vorwort, sich halbwegs entschuldigend. In einem dieser Briefe, in Nr. 11, kann man lesen, dass er unter allen Kurialen einen einzigen aus der „allgemeinen, verruchten Sintflut“ gerne ausnehmen wollte, „da er es auch verdienen würde“, dass ihm aber lächerlich vorkomme, mit einer vereinzelten Ausnahme den Gesamteindruck zu verringern. Damit verrät er unter anderem, dass er einem rhetorischen Effekt auf fast spielerische Weise hier

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(oder da und dort?) eine Wahrheit zu opfern bereit ist und dass er nicht alles in so grimmigem Ernst niederschreibt, wie es den Anschein macht. Durchaus alle weiht er also dem Untergang, so vernimmt der Leser, und kann sich darauf nur wundern, wie leicht es Petrarca fällt, sich mit seinen Verdammten zu vertragen. Und zuerst wird er fragen, wer denn jener einzige war, dem in der Sintflut beinah eine Arche gegönnt worden wäre, und da es ihm nicht gesagt wird, hält er sich an das Sichere und stellt fest, dass der Dichter vor allem die beiden Kardinäle Guy de Boulogne und Elie de Talleyrand als seine Gönner betrachten darf und sie in den Familiares mit viel Hochachtung nennt. Von ihnen hat er „Benefizien“ erhalten, was immer das im besonderen Fall heissen sollte (Fam. 13,5,4), und anerkennt jeden der beiden als seinen Herrn (z. B. Fam. 11,11,1; 12,6,7; 13,7,18), wie er früher den verstorbenen Kardinal Colonna genannt hatte, indem er sich beiden verpflichtet fühlt. Er weiss, dass sie an der Kurie den grössten Einfluss ausüben, da eben sie es sind, die er als „die beiden kraftstrotzenden Stiere auf der Weide Christi“ bezeichnet (Fam. 13,5,4). Sie sind es auch, die vor dem Papst am entschiedensten die Meinung vertreten, Petrarca sei der richtige Mann, die vakante Stelle eines päpstlichen Sekretärs zu besetzen, und nicht glauben wollen, dass sich dieser von einer solchen Anstellung nichts Gutes verspricht und sich nach Kräften dagegen wehrt. Dennoch kommen sie mit ihm und er mit ihnen, man möchte sagen: glänzend aus. Das Buch 13 beginnt sogleich mit einem echten Freundschaftsbrief an den einen der beiden, obwohl der Dichter nachweisbar zur selben Zeit die Reihe der Briefe „ohne Namen“ verlängert und sie zu seiner eigenen Erleichterung mit Klagen gegen die Kurialen Avignons vollstopft. „Jeder beliebige Bösewicht steigt auf, jeder redliche Arme wird zu Boden gedrückt“, kann man da zum Beispiel lesen (Sine nom. 11). Kardinal Guy von Boulogne, der Adressat des Briefes 13,1 ist aus Hinweisen in früheren Briefen und Anmerkungen bekannt, und immer ist er dem Leser als ein fähiger und würdiger Mann der Kirche vorgestellt worden. In Fam. 9,13 vom Februar 1350 oder 1351 ist der Kardinal darum genannt worden, weil Petrarca ihm in Padua begegnete, und schon damals haben sich die beiden vertraulich über private Dinge und gemeinsame Freunde wie auch über politische Verhältnisse unterhalten. Begeistert hat Petrarca festgestellt, dass der Franzose an Italien grosses Gefallen finde. Im November 1351 hat dann Guy de Boulogne höchst wahrscheinlich zu den vier Kardinälen gehört, die sich in päpstlichem Auftrag mit einer Neuordnung Roms beschäftigten und es Petrarca erlaubten, ein Wort darüber zu äussern (Fam. 11,16). Dass er seine familiären Beziehungen in höchsten Adelskreisen zu verschiedenen Versuchen einer Friedensstiftung zwischen englischen und französischen Kriegsgegnern nützte, wird Petrarca gewusst haben, und dass er zudem einen Kreuzzug befürwortete, wird ihm ein weiterer Grund zur Hochschätzung gewesen sein. Ob man aber in ihm jenen einzigen Kurialen erkennen dürfe, der für Petrarcas Sintflut recht besehen zu anständig war, kann man schon deshalb

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nicht mit Sicherheit sagen, weil vieles auch zu Gunsten von Talleyrand spricht. Wer sonst noch in Frage käme, bleibt unbekannt; vielleicht einer auf geringerem Rang, doch ist das unwahrscheinlich. Wie dem sei: Petrarca bezeugt dem Kardinal von Boulogne in Brief 13,1 seine Anteilnahme, da eben seine Mutter gestorben war, und seine Worte lauten väterlich gütig, verständnisvoll, ja liebevoll. Gerade auch in diesem Brief deuten mehrere Wendungen an, dass der Dichter jetzt, während seines Aufenthalts in Avignon, eine enge, ja fast beständige Beziehung mit ihm pflegt (3 f.), sich von ihm geachtet weiss und sich eines ausgezeichneten Einvernehmens mit ihm erfreut. Nicht von Ungefähr bestimmt er für diesen Mann der Kirche mit dem ihm zugedachten Schreiben in den Familiares einen Ehrenplatz. Der Anfang eines Buches gilt ihm regelmässig als solcher. Aus Fam.13,2 vom 9. Juni 1352 erfährt man, dass der Dichter seinen Sohn Giovanni von der Provence aus, wohin er ihn mitgenommen hatte, nach Verona schickt, damit er dort von einem seiner früheren Lehrer, dem mit Petrarca lang schon befreundeten Poeten Rainaldo Cavalchini von Villafranca weiteren Unterricht empfange. So jung der Schüler auch ist (fünfzehn- bis sechzehnjährig), kann dem Lehrer doch gemeldet werden, dank einer Gunst des Papstes komme er als ein reicher Kanoniker zu seiner Stadt zurück (6). Ihm ist also nicht irgend eine Pfründe, sondern eine mit ansehnlichen Einkünften zugesprochen worden. Ganz aussergewöhnlich ist das jugendliche Alter des Begünstigten nicht; es gab gerade an den Kathedralen Schulmeister, denen so junge Kanoniker anvertraut wurden, und eine Synode von Ravenna aus dem Jahr 1311 verlangte von diesen nicht viel mehr, als dass sie wenigstens fünfzehn Jahre alt seien und sich auf Lesen und Singen verstünden; anderswo war man noch grosszügiger. Eher kann man sich wundern, dass Petrarca diese kirchliche Stelle für dieses sein uneheliches Kind empfängt, übrigens in einem Augenblick, wo er sich gegenüber den Wünschen der päpstlichen Kurie sehr abweisend verhält. Aber dem berühmten Mann etwas zu versagen, ist offenbar nicht leicht. Vom Sohn die Armut fernzuhalten, kennt er keinen besseren Weg als den kirchlichen, den er selber beschritten hatte; doch diesen Weg in späteren Jahren zu verlassen, ist nicht unmöglich. Für Giovanni bedeutet das Singen und Lesen im Chordienst am Dom und das Erledigen anderer Aufgaben für den Bischof gewiss nichts Schwieriges, doch zweifelt sein Vater, ob er sich für ein Studium eigne und sagt: „Er hasst nichts ausser Bücher“ (2 f.). Der Unterschied zu ihm selber ist gewaltig. Mit eigentlicher Gier griff Petrarca von Kind auf nach Büchern. Mit zwölf Jahren begann er in Montpellier zu studieren, und kaum älter als der neue Kanoniker Giovanni besuchte er schon die Universität von Bologna, wo er sich trotz seinem Widerwillen gegen den Beruf eines Juristen in hohem Mass auszeichnete, daneben nach antiken Schriften fahndete und erste Gedichte schrieb.

Überblick über Fam. 13,1–13,12

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Jetzt wendet er sich in seiner grossen Sorge um das Gedeihen seines Sohnes am selben Tag in Brief 13,3 auch an den bedeutenden Humanisten Guglielmo da Pastrengo, der in Verona als Richter amtet. Dieser ist ihm vor Jahren an der Kurie vertraut geworden, und von ihm, der damals im Gärtchen an der Sorgue beim Pflanzen geholfen hatte (vgl. Metr. 3,3), wünscht er sich jetzt für seinen Sohn eine väterlich gütige Förderung. Übrigens hat Petrarca in Verona noch andere Freunde und Bekannte, von denen er annehmen kann, dass sie seinem Sohn mit Wohlwollen begegnen werden, so den schon oft erwähnten Azzo da Correggio, der ihn einst nach Neapel begleitet und ihm nachher in Parma eine Wohnstatt verschafft hatte. Auch zum Hof der Scaliger besitzt er gute Beziehungen, so dass er sich freuen darf, für Giovanni mit Hilfe des Papstes den denkbar besten Platz ausgesucht zu haben. Brief 13,4 datiert Petrarca in Vaucluse auf den 10. Juni. Es ist ihm soeben geglückt, sich aus dem ihm verhassten Avignon wegzustehlen. Und da Kenner wie Wilkins das Schreiben ins Jahr 1352 setzen, muss man annehmen, es folge unmittelbar auf die vorangehenden Nummern 2 und 3. Der Empfänger, ein Neapolitaner mit Namen Francesco Calvo, hat die Ehre, das Amt eines päpstlichen Sekretärs auszuüben, das die Kurie 1347 dem Dichter schmackhaft zu machen versucht hatte. Eben weil dieser ihren Überredungskünsten ausgewichen war, hat sich der glückliche Inhaber der Stelle jetzt bei ihm für seine frühere Ablehnung wohl bedankt, jedenfalls geht aus dem Schreiben 4 hervor, wie wenig Petrarca ihn um seinen Posten beneidet. Wie so oft schreibt Petrarca fast mehr für sich selber als für den Adressaten, ja vielleicht auch für jene Kurialen, denen er sich widersetzt hat, gleichsam um sich zu rechtfertigen, ja vor ihnen zu frohlocken. Und sich selber fragt er dabei: Was habe ich gelassen, und wohin soll ich mich wenden. Er weiss genau, wie es dem Beamten ergehen wird. Fortwährend werden ihn seine Pflichten verfolgen und ihn sogar im Schlaf beschäftigen (4 f.). Und will er besonders tüchtig sein, wird man ihn nur um so stärker belasten. Er verliert dann alles Lebenswerte, selbst das Bisschen Erholung, das jeder nötig hätte. Ihm gegenüber haben einfache Handwerker wenigstens ihre Eigenständigkeit und einen – wenigstens materiellen – Gewinn (8); und frei Forschende und Studierende haben eine angenehme Genugtuung in ihrer Beschäftigung, während jeder Held sich an seinem Ruhm erfreut (10 ff.). All das bleibt dem abhängigen Beamteten unerreichbar; nichts spricht zu Gunsten seiner Lage. Das Heldentum, obwohl einzig unter grösster Anstrengung erreichbar, ist doch beseligend, denkt man an die höchsten Ziele Virtus und Ruhm. Die Dichter und Denker (19) können dank unermüdlichen Leistungen die selbe Höhe des Glücks erlangen, freilich wieder nicht ohne vollen Einsatz aller Kräfte. An solche Überlegungen hängt Petrarca ein Beispiel ans andere, und die glanzvollen Namen von Dichtern und Denkern, die er aufzählt, sind seine grossen Vorbilder, an deren Ruhm er Anteil gewinnen wollte, das weiss der Leser, aber es folgt eine ihn überraschende Wendung (20), denn es gibt doch noch ein anderes glück-

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liches, es gibt vielleicht ein sogar glücklicheres Leben; es ist das der nur mässigen Arbeit mit mässiger Erquickung, eines, das die Einsamkeit mehr liebt als die Gesellschaft und das Land mehr als die Stadt. Es gibt ein Glück in der Natur, das grösser ist als das in den Palästen (20 ff.), es verbindet sich zwar ebenfalls mit einer Liebe zum Ruhm, doch so, dass man lieber seiner würdig ist, als ihn erreichen will, weshalb man ihn auch gleichmütig entbehren kann (21 und 25). Ein Leben der Gelassenheit auf einem kleinen Acker kann man in aller Zufriedenheit hinbringen, sogar wenn man vergessen wird. „Ich war von Natur aus Demosthenes, nun will ich durch Nachahmung Demokrit werden“, heisst es da; „der eine hat den Ruhm begehrt, der andere ihn verachtet.“ Was alles wird man Petrarca an der Kurie versprochen haben! An sein Verlangen nach Ruhm hat man appelliert, um ihn in der Stadt und in der Gesellschaft der Grossen festzuhalten. Aber man täuscht sich in ihm. Schon früher habe er versucht, so sagt er, den Weg des Masshaltens und des Verzichts einzuschlagen, zwar habe er die Haltung der Gelassenheit sich noch nicht ganz zu eigen gemacht; er sei aber diesem Ziel ein Stück nähergekommen (25). Er weiss jetzt, dass man selbst auf Ruhm verzichten kann, um frei zu sein und in dieser Freiheit seine Aufgabe zu erfüllen. Guten Grund hat er, sich solchen Gedanken anzufreunden. Er steht vor einer wichtigen Entscheidung; nach seiner Ablehnung der ihm gebotenen Gunst ist noch weniger klar als vorher, was aus ihm werden wird. Was er getan hat, ist ihm als eine Notwendigkeit erschienen, weil er unbedingt für seinen Dichterberuf der vollen Freiheit zu bedürfen meint, aber wie hoch der Preis für den erstrebten Gewinn schliesslich sein werde, das kann er sich nicht ausrechnen. Viel hängt jetzt von der Kurie ab, und solange er von ihr abhängt, ist er eben noch nicht frei. In dieser unentschiedenen Lage findet er Zeit, sie zu überdenken, sich in seine Studien zu vertiefen (26), bis ihm etwas Besseres einfalle. Und seine Einsiedelei bietet ihm ihre Hilfe an. Wie eine tröstliche Vision, die auf den richtigen Weg verweist, stellt sich das wunderbare Ende des Briefes dar. Ohne falsche Betonung beschreibt er einen der schönsten Augenblicke seiner Zurückgezogenheit. Denn er steht am Fusse des Felsens, aus dessen Höhle hoch oben die Sorgue „wild jauchzend“ hervorbricht und brausend herunter strömt. Er braucht es Calvo nicht zu sagen, Calvo wird es verstehen: Da ist Seligkeit, da ist Leben; da verstummt der Wunsch nach Grösse und Ruhmestitel. Sitzend auf einem wackeligen Stein schreibt er das mit schlechtem Schreibrohr auf rauhes Papier, lacht über die krummen Buchstaben und schickt sie zum Aktentisch des sich plagenden Beamten, als wollte er ihn einladen, das Glück mit ihm zu teilen, das der Genügsamkeit und der Freiheit. Bis zum Schreiben 13,5 an den besonders geliebten Freund Nelli verstreicht ein Monat. Doch was darin berichtet wird, geht dem vorangehenden Brief voraus. Der Papst und seine wichtigsten Ratgeber von Boulogne und Talleyrand wollen ihm eine hohe einträgliche Stelle verschaffen oder aufbürden, und Petrarca muss immer

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erneut betonen, dass er keinen Reichtum, keine hohe Würde begehrt (2 ff.); sie fordern vom Dichter eine Probe seines Könnens, und dieser sinnt auf eine List, diese Herren zu täuschen. Er schreibt, so wirft man ihm vor, einen zu erhabenen Stil, altior stilus (12); er soll näher am Boden bleiben, prope terram volare (14), nämlich so schreiben, dass ihn jedermann versteht, dann kann man ihm schwarz auf weiss dartun, dass er sich für die angebotene Stelle bestens eigne. Doch von diesem Stil will Petrarca, weil er ihn für verächtlich hält, nichts wissen. Er charakterisiert ihn bloss höchst pauschal, aber so viel ist klar, dass die Kurie ihre alten Formeln verwendet und weiter tradiert, und dies nicht einfach aus Bequemlichkeit, Sturheit und Mangel an Geschmack, sondern auch aus guten Gründen wie der Abwehr von Verfälschung. Doch sich auf die kuriale Forderung einzulassen, davor hütet sich Petrarca. Er holt für sein Probestück sein bestes persönliches Latein hervor und erreicht damit, was er hoffte: Sein gutes Latein versteht man und will man an der Kurie nicht (15). Ob er eher lachen oder weinen solle, das fragt er sich am Ende des Briefes an Nelli. Aber freuen muss er sich jedenfalls, dass die hartnäckig geführte Auseinandersetzung zwischen ihm und den hohen Geistlichen durch eine Stilfrage entschieden ist. Er ist unbrauchbar. Erlöst von einem lang dauernden Bangen – denn man hat ihm hart zugesetzt – erzählt er dem Freund nicht allein die Geschichte seines Erfolges, sondern führt gleich noch aus, was als guter Stil und wer als guter Redner zu gelten hat. Dafür nimmt er sich eine gute Zeit. Darauf malt er sich auch das Leserpublikum aus, wie er es gerne haben wollte, und seine Ansprüche sind sehr beachtenswert. Ihm liegt nichts daran, von vielen gelesen zu werden; aber von den wenigen, die ihn lesen wollen, fordert er etwa so viel wie von sich, dem Schreibenden. Er verfasst seine Werke mit grösster Anstrengung, sagt er, und dass man ihn ohne Anstrengung lese, das wolle er nicht. Solange man die Lektüre fortsetze, habe man ganz und gar bei ihm, dem Verfasser, zu sein, nicht auch noch bei Geschäften oder Liebschaften und anderem. „Ich will, dass wer immer mich liest, mich ganz allein… im Kopf habe“ (23). Das hat man sich zu merken, sonst versteht man ihn eben nicht. Er triumphiert in diesem Brief über viele Kuriale, doch vor allem über die genannten Kardinäle Guy de Boulogne und Talleyrand und über den Papst. Und etwas allzu zuversichtlich glaubt er, in der nächsten Zeit mit Angeboten ähnlicher Art verschont zu werden (10). Auf Brief 5 lässt er am 10. August sogleich eine Fortsetzung in 13,6 folgen. Seine Stilfragen, die er wieder vorträgt, knüpft er jetzt an die Schilderung eines politischen Ereignisses und einer Person an. Kurz zuvor ist Cola di Rienzo (der von Rom nach Prag geflohen war) von Karl IV. nach Avignon ausgeliefert worden. Ihm droht nun, als Häretiker verurteilt zu werden; doch schon weiss Petrarca, dass die grosse Menge in Avignon, welche dem schwer bedrohten Volksfreund ihre Sympathie schenkt, ihn zum Poeten erklärt und hofft, mit diesem Titel das Schlimmste von ihm abzuwenden. Im Volk nämlich sind Dichter, wie man hier feststellt, Menschen

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von besonderem Wert. Colas Schicksal scheint nun wie das von Petrarca gewissermassen von einem Stilproblem abzuhangen, und wieder weiss Petrarca nicht, ob man über den besonderen Fall eher weinen oder lachen soll (1 und 22). Er ist bereit, Cola den Titel Poet zu gönnen, obwohl er bestimmt erklärt, dass er trotz seiner Belesenheit und sprachlichen Gewandtheit keiner ist; doch für weit wichtiger wäre ihm, die Richter würden die eigentliche Schuld Colas erkennen, ihm also nicht das zum Vorwurf machen, was doch sein wahres Verdienst gewesen war. Noch bebend vor Erregung hält Petrarca fest, Cola habe erst dann sträflich gehandelt, als er sich vom Volk abwandte und sich mit Feinden des Volkes verband (14). Doch kehrt er dann rasch zu literarischen Fragen zurück, merkt nicht ohne Bitterkeit an, dass zwar jedermann von Poesie rede, aber keiner eine Ahnung von der Sache habe, was eine Übertreibung, aber keine sehr grosse war. Um einen schlagenden Beweis für seine Behauptung zu erbringen, berichtet er ohne Namennennung von einem ihm vertrauten Prälaten der höchsten Ränge, dessen ausserordentliche Klugheit (29 ff.), Gelehrsamkeit und Herrscherbegabung er kaum hoch genug zu loben weiss. Denn sogar dieser ausgezeichnete Mann versteht von Dichtkunst so überhaupt nichts, dass er, wie Petrarca höhnt, sogar dann, wenn einer einen simplen Geleitbrief ausgestellt hat, schon erwartungsvoll die Frage aufwirft, ob dieser wohl ein Dichter sei (32). Dabei ist gerade ein Geleitbrief als einfachstes Produkt der Jurisprudenz in seiner Formelhaftigkeit und seinem Inhalt der Poesie denkbar fremd. Aber die Juristen herrschen an der Kurie vor und sind da dermassen beschäftigt, dass sie für andere Wissensbereiche keine Zeit auftreiben und Vergil ihnen höchstens ein Name ist, wenn nicht ein Zauberer ist, weshalb auch Petrarca, weil er Vergil bewundert, als ein zweiter dasteht und als solcher verachtet wird. Indem er das berichtet, gerät er in Zorn. Er weiss, was Bildung bedeutet; sie äussert sich nicht zuletzt in einer guten Sprachkenntnis und in der Liebe zu den besten Schriftstellern, denen der Antike. Darum empört er sich nun: „Die ganze Bildung ist ins Bodenlose gefallen“ (30 f.). Und diese Entdeckung macht er ausgerechnet in Avignon, wo man die höchste Wissenschaft und Weisheit hätte erwarten wollen. Bedenklich ist vor allem, dass die beschämende Unkenntnis nicht wahrgenommen wird und Heerscharen sich als Schriftsteller aufführen, ohne schreiben zu können, wie der nächste Brief 13,7 an den Abt Pierre von Saint-Bénigne berichtet. Petrarca kann sich persönlich nicht beklagen; er wird wenigstens in der grossen Menge, die sich um eine Kritik der Kurie nicht kümmert, als Autorität geschätzt. Er wird nachgeahmt, als gäbe es doch ein Neuerwachen der alten Künste, und er kann über die ihm geschenkte Hochschätzung um so freier sprechen, als ihm das Zweifelhafte an der Sache nur allzu klar und geradezu peinlich ist. Mit einer neuen Übertreibung, die er ins Komische und ins ganz Unwahrscheinliche steigert, verdeutlicht er die Folgen seines eigenen literarischen Beispiels. Dass die anstrengends-

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ten literarischen Studien ihm eine wahre Erholung bedeuten (1 f.), gehört zu seinem persönlichen Glück; dass er jedoch auf junge Leute seine Schreibwut überträgt, ist für ihn fatal und richtet überdies in der Gesellschaft einen gewaltigen Schaden an. Viele der Begeisterten widersetzen sich den Wünschen der Eltern, verlassen Jurisprudenz und Medizin (12) und ergeben sich der Schriftstellerei (9 ff.), ob sie dafür begabt sind oder nicht. Kaum weiss sich der Dichter vor den Bittstellern aus allen Himmelsrichtungen, die ihm ihre Erzeugnisse senden, zu retten (11 ff.). Und wenn ihn nun eine Ahnung überfällt, dass man sogar in Avignon zu dichten anfangen könnte, ja dass endlich sogar das verschlossene Tal Vaucluse der Dichtkunst sich zu öffnen bereit wäre –, was dann geschieht, das muss man bei Petrarca selber nachlesen (21); es verbreitet keinen Segen, sondern wahren Schrecken. Alle diese neuen Dichterlinge taugen auf den Markt und sind auf dem Helikon nicht zu finden (14), weshalb sich Petrarca veranlasst sieht, den Nutzen seines Lorbeers, der ihm so viele Nachahmer eingebracht hat, gründlich in Frage zu stellen (16). Die Antwort darauf tönt längst nicht so günstig, wie er sich das vor Jahren geträumt hatte. Doch wie angedeutet, sind die Ausführungen des Briefes nicht ganz ernst zu nehmen. Mit „Lappalien“ hat Petrarca seinen Freund, den Abt Pierre von Saint Bénigne vergnügen (18) und ihn damit günstig stimmen wollen. Ihm auf ein Schreiben zu antworten, das hat er unterlassen; er ist gegen den Freund nachlässig gewesen, doch nicht nur gegen ihn. Denn der Brief des selben hatte einen Befehl enthalten, der vom Kardinal Guy de Boulogne stammte, des Inhalts Petrarca möge auf seine Rückkehr warten und nicht vorher nach Italien abreisen, und Petrarca war der Aufforderung zwar nachgekommen, aber einzig in der Tat, nicht auch in einem höflichen Schreiben. In der Zwischenzeit hat er mit Warten viel Zeit verloren, ja er wartet noch immer, wie er dem Kardinal jetzt melden lässt, jedoch schon nicht mehr in Avignon, sondern in Vaucluse (19 ff.). Dahin sich zurückzuziehen, hatte er sich mittlerweile denn doch gestattet, und weil ihm sein Benehmen doch etwas anstössig vorkommt, hofft er, nicht nur den ihm befreundeten Abt mit ein paar heiteren Zeilen zu erfreuen, sondern mit ihnen auch dem Kardinal etwas an Nachsicht abzunötigen. Vom Aufenthalt in Vaucluse spricht Brief 13,8 vom Sommer 1352. Er wendet sich wiederum an Nelli. Dass dieser Freund genau wissen möchte, was Petrarca da treibe, vermutet dieser mit gutem Grund. Man macht sich in Italien Sorgen um ihn. Seine häufigen Klagen über die Kurie hat man gehört und beherzigt. Längst hätte er, so denkt man, zurückkehren können. Wozu die Kurie ihn am Ende doch noch verpflichten könnte, darüber kann man nur rätseln. Die Freunde fragen sich, was aus ihm werden solle. Denn mehrmals hat er eine sichere Stelle abgelehnt, soeben, wie gesagt, die des päpstlichen Sekretärs in Avignon, übrigens auch einen Bischofsitz (Fam. 9,5,29 und Var.15), vorher eine Professur in Florenz (Fam. 11,5),

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und schon droht ihm eine Pfründe in Parma verloren zu gehen (Fam. 9,5). Dabei ist er für zwei illegale Kinder verantwortlich, und dass er jetzt wieder die Einsamkeit aufsucht, ist vielleicht nicht von Gutem. Nicht lange ist es her, dass er meinte, er benötige dringend die Gemeinsamkeit mit Freunden, um sein Leben samt dem Kampf gegen seine Leidenschaften durchstehen zu können (Fam. 9,2,9 ff. und 8,4–5). Die strengsten moralischen Ziele der Stoiker lässt er zwar keinen Moment aus den Augen, aber das hilft oft sehr wenig. Er leidet immer wieder unter Anfällen von Trübsinn, nicht allein wegen seines moralischen Versagens, sondern nicht zuletzt darum, weil er die völlige Unabhängigkeit für sich als eine Notwenigkeit verlangt und nicht weiss, wo er sie erlangen könnte (Secretum über acedia 2,13,1 ff.). Der Brief Nellis hat sich nicht erhalten; Petrarca aber meldet aus Vaucluse nur Beruhigendes. Wohl ohne sich dessen klar bewusst zu sein, zeichnet er sein ländlich geruhsames Leben gemäss dem Ideal, das er einem Calvo in Fam. 13,4,20 ff. als sein fernes Ziel gerühmt hat. Er macht Fortschritte in seiner Selbstbeherrschung, er zählt auf, was er zu entbehren schon gewohnt ist, freut sich an einer einfachen Ernährung und Kleidung, die denen der Bauern wenigstens gleicht, und weiss, dass er auch die Augen, die ihm besonders gefährlich zu sein pflegen, zu meistern versteht, da ohnehin weit und breit an weiblicher Schönheit nichts zu entdecken ist. Besonders ansprechend ist in diesem Schreiben die Schilderung der kleinen, zähen Wirtschafterin, die ein wahres Ideal an Hingabe, Unermüdlichkeit und Zufriedenheit vorlebt, auch ihres Gatten, des Wirtschafters mit seiner treuen Sorge und steten Hilfsbereitschaft. Voll Wärme und Dankbarkeit spricht er von beiden; darin liegt ein Hauptzweck dieses Schreibens, beiden ein glänzendes Zeugnis auszusprechen. Dann rühmt er auch seine beiden Gärtlein, seine Musensitze, einen am Ufer der Sorgue und einen winzigen mitten im Fluss. Dabei stellt er sich die Frage, ob er hier leben könnte, und die Antwort kennt der Leser zum voraus: Ja, er könnte! Das hat er ja auch im Brief an Calvo angedeutet (Fam. 13,4). Doch dann folgt die Einschränkung: sofern es möglich wäre, das Tal nach Italien und in die Nähe seiner Freunde zu versetzen! Was er stets hassen wird, das sind die Städte, und am meisten die Stadt, welcher er den Namen Babylon auferlegt hat (Ende von 13,8). Viel zu nah ist sie Vaucluse. Und darum hofft er auf eine Einsiedelei in seinem Vaterland. Kurz darauf antwortet Fam. 3,9 auf ein Schreiben von Zanobi da Strada, der meldete, dass er (Fam. 12,3) den Schuldienst in Florenz aufgegeben habe und an den Hof Neapels gezogen sei. Nicht nur hatte Petrarca ihm dazu geraten, er hatte ihm dank seinen Beziehungen zum Seneschall Acciaiuoli eine Einladung dorthin recht eigentlich verschafft und zeigt sich jetzt sehr erfreut, dass der Grammatiker seinen Rat befolgte, verheisst ihm auch gleich, die am Hof Neapels erworbene Freiheit werde seiner Begabung sehr förderlich sein, ja er erkennt in ihm bereits einen Dichter (1). Eine Bitte folgt, die auch andere Freunde ab und zu von ihm hören

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(Fam. 7,16,5; 18,8,11 und 16; 24,13,8 f.): Petrarca wünscht, dass die Liebe seiner Verehrer ihm nicht schade, weshalb Zanobi, wenn er in den Schriften seines Meisters Mängel entdeckt, solche angeben solle. Bedenken möge er, dass er mit der erbetenen Hilfeleistung auch den eigenen Ruhm erhöhe (8). Ein Hinweis auf einen Gewinn fehlt nicht, denn Petrarca hat durch Zanobi erfahren, dass seine Bemühung um eine Versöhnung zwischen Acciaiuoli und einem anderen Hofmann Neapels vom schönsten Erfolg gekrönt worden ist, und mit einem Gruss an den genannten Staatsmann schliesst der Brief. Dieser ist für die bestimmte Art Freundschaft, die Petrarca mit Zanobi pflegt, bezeichnend. Sie gleicht stark einem LehrerSchülerverhältnis, ist zwar echt und – wie sich zeigen wird – dauerhaft, aber eher vernünftig als herzlich und nicht unwesentlich mit Petrarcas Wunsch, Beziehungen mit jenem Hof zu pflegen, verknüpft. Ob Zanobi unverzüglich den Wunsch empfindet, eine Kritik, wie Petrarca sie ja gewünscht hat, anzubringen, oder ob er einfach ein Gespräch unter Sachverständigen weiterführen will: Jedenfalls empfängt Petrarca von ihm bald danach ein Schreiben, in dem er auf einen Mangel in einem früheren Brief aufmerksam gemacht wird. In Brief 13,10 vom 25. August 1352 antwortet er darauf mit der Erklärung, dass kein Versehen vorliege und rechtfertigt sich auf eine Art, dass der Haupteinwand klar erkennbar wird. Er hat im Schreiben Fam. 12,16 bei einer Aufzählung antiker Freundespaare einige übergangen, das ist wahr, aber nicht etwa aus Unkenntnis oder Nachlässigkeit. Mit voller Absicht hat er (2 f.) ausschliesslich Freundschaften edler Art zwischen hervorragenden Männern vorgestellt, die beispielhaft und schon in der Antike mit gutem Recht verherrlicht worden waren. Selbstverständlich kennt er auch die Freundschaften zwischen ganz obskuren Gestalten; er kann sie ohne weiteres aufführen und tut es jetzt. Aber an solche zu erinnern, wäre ganz unpassend gewesen. Nicht alles, was die Antike vorgezeigt hat, ist nachahmenswert; zum Affen soll man nicht werden. Das hat nun Zanobi zur Kenntnis zu nehmen; er wird auch eingesehen haben, dass er für seine falsche Vermutung keinen Dank verdient, und wird bei seinem Meister nicht so rasch einen neuen Mangel entdeckt haben. Petrarca bleibt der überlegene, unanfechtbare Lehrer, wenigstens in seinem Freundeskreis; und recht besehen sind es nur die Verächter einer guten Sprache, wie man sie an der Kurie findet, die ihm den Vorwurf eines literarischen Irrtums machen können. Und mögen die Freunde den Dichter längst in Italien erwarten, er befindet sich weiterhin an der Sorgue, wie Brief 13,11 vom selben Datum, dem 25. August 1352, beweist. Was er darin schildert, ist besonders reizvoll und wird in erster Linie Hundefreunde ansprechen. Denn Petrarca ist auch einer, und unter seinen Zeitgenossen wird man nicht manchen oder eher keinen finden, der mühelos einige Hundeanekdoten aneinanderreihen kann (weil er weiss, wo er sie beisammen findet) und den eigenen Hund in einem Geschichtlein so richtig und ansprechend

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vorstellt. Sehr bezeichnend ist, wie er zu diesem Hund gekommen ist: Ein Geistlicher hat sich aus dem Tal entfernt, und noch bevor jemand bemerkt, dass er nicht mehr da ist, sehen die Einwohner, wie eigenartig, ja verzweifelt sich sein Hund gebärdet, und dass ihm gar nicht zu helfen ist. Doch da kommt Petrarca, er weiss von nichts, aber der Hund lässt sich von ihm sogleich gewinnen, findet in ihm den Freund des früheren Herrn und bezeugt ihm unverzüglich so viel Anhänglichkeit und Dienstwille, dass der Dichter sich daran nicht genug ergötzen kann. Er schreibt dem Fortgezogenen zwar, der Hund, „schwärzer als Pech, rascher als der Wind und treuer sogar als ein Hund…“ sei bereit, zu ihm zurückzukehren; aber er weiss auch zu seiner Zufriedenheit, dass er ihn behalten darf. Er wird nicht oft von einer Leistung dieses Hundes berichten, doch wenn er es tut, dann mit Staunen (Fam. 15,12). Dass er auch Katzen liebte, scheint dagegen reine Dichtung aus dem 18. Jahrhundert zu sein. Mit 13,12 wird ein Abt von Corvar(i)a beehrt, dem die Werke des Dichter so viel wie eine „Zufluchtstätte“ bedeuten. Er hat jedoch eine Bitte vorgebracht, die Petrarca nur allzu oft auch von andern vernommen hat (vgl. Fam. 7.18.7; 10,4,34; 12,7,5 f.) und die er nicht erfüllen kann. Schon hat er eine gewisse Leichtigkeit erworben, seine übliche abschlägige Antwort zu variieren. Was sich der Freund wünscht, ist das Epos Afrika; es hatte dem Ruhm des Dichters eine Strahlkraft wie nichts anderes verliehen und eine Neugier geweckt, die sich nicht zähmen lässt; unter einer langen Wartefrist ist sie nur immer gewachsen. „Ich habe das weite Land schon in Besitz,“ sagt nun Petrarca, fügt aber an, es bedürfe immerhin noch grosser Pflege, wie eben ein Landwirt ständig zu jäten, zu haken und zu pflügen hat. Mit ziemlicher Sicherheit kann man behaupten, dass er nur mehr selten daran glaubt, den grossen Erwartungen, die man in Italien auf diese Verherrlichung römischer Vergangenheit setzt, auch nur einigermassen gerecht zu werden (vgl. auch Fam. 8,3,11 ff.). Im Secretum hat ihm Augustinus (Petrarcas bessere Einsicht) ohnehin geraten, das Werk aufzugeben: Dimitte Africam“ (3,17,6). Aber das publik zu machen, und gar einem beliebigen Bekannten gegenüber, der sich kaum vorzustellen vermag, was die Erfüllung seines Wunsches dem Dichter auferlegen würde, wäre gewiss falsch gewesen. Wüsste man, sagt Petrarca am Ende des Briefes, wie unendlich viele Beschäftigungen, occupationes, ihn bedrücken, fast jedermann hätte Mitleid mit ihm. Doch was für „Beschäftigungen“ meint er? Auch dieser Brief stammt noch aus Vaucluse, und das ist immerhin der Ort, von dem Petrarca immer wieder rühmt, zum dichterischen Schaffen sei er besser als jeder andere geeignet. Zudem hat er im Augenblick, so jedenfalls meint man, keine andere Pflicht, als auf einen Kardinal zu warten.

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In Buch 13 ist Brief 1 an den Kardinal Guy de Boulogne gerichtet, der hierdurch geehrt wird; als einziger trägt er im Datum den Namen Avignon. Alle Briefe, mit Ausnahme von Brief 7 fallen in die Monate Mai bis September des Jahres 1352; sie folgen sich in guter chronologischer Anordnung und sind wohl an der Sorgue geschrieben worden. Dem äusseren Zusammenhalt entspricht weitgehend auch der innere. Der Horizont ist der von Avignon; Vaucluse steht unter dem Einfluss dieser Stadt. Die Sprache stellt das herausragende Thema dar; es bildet ein Bindeglied zwischen mehreren Schreiben und erscheint da gleichsam natürlich eingebettet in solche mit anderen Themen. Denn die Schreiben, die mit Sprachstudien gar nichts zu tun haben, der Trostbrief, die Schilderung des Landlebens, die Geschichte von Petrarcas Hund, schmiegen sich gut an die anderen an, lockern die Kette, ohne trennend zu wirken. Entscheidend ist für Petrarca, dass er dem Amt eines päpstlichen Sekretärs entkommt.

Die harmonische Wirkung (hier besser als in manchen anderen Büchern) ist durch gezielte Anordnung und durch Weglassung mancher Ereignisse erfolgt. Von einigen hatte Petrarca schon in Buch 12 berichtet, so von der Krönung des Lodovico von Tarent in Fam. 12,2, von der Auseinandersetzung mit Bischof Ugolino Rossi in Fam. 9,5–6, von der ihm angebotenen Bischofswürde, die er wie andere Gunsterweise ablehnte, in Var. 15, um nur Wichtigstes zu nennen. Übrigens weiss man, dass er in jener Zeit an verschiedenen prosaischen Werken, wie an Briefen Sine nomine arbeitete, und Sonette verfasste. Im Buch 14 ist Brief 1 vom 22. September (1352) an Elie de Talleyrand, den Kardinalbischof von Albano, gerichtet. Dieser nimmt also einen Ehrenplatz ein wie Kardinal Guy im vorangehenden Buch. Er imponiert dem Dichter an der Kurie in Avignon offensichtlich wie keine andere Persönlichkeit. Mit seinem einnehmenden Wesen vermag der hochgescheite und vornehme Mann ihn recht eigentlich zu beglücken. Während Petrarca zu Guy de Boulogne mehrmals in einem geradezu herzlichen Ton spricht und ihm Dank für vielfache Güte bekundet, ihn offensichtlich schätzt und meint, er werde ihn nach seiner Abreise recht vermissen (Fam. 13,7,21 und 14,7,4), zollt er dem andern der beiden „Stiere, die weit und breit über Gottes Weide herrschen“ (vgl. Notiz zu Fam. 13,1) wahre Bewunderung, obwohl er seine Mängel nicht übersieht. Er anerkennt ihn als Dienstherrn und fühlt sich ihm gewisser „Benefizien“ wegen verpflichtet (Fam. 12,6,7 und 13,5,4), und dennoch enttäuscht er ihn, wenn nötig, mit hartnäckigem Widerstand, denn dieser Kardinal hat womöglich eindringlicher als die anderen Prälaten darauf

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bestanden, er habe einen einfachen, verständlichen Stil zu schreiben. Er insbesondere hält gar nichts von literarischen Höhenflügen, denn ihm ist nur sein eigenes Legistenlatein lieb und geläufig (Fam. 14,5), wenn man vom Französischen absieht. Nachdem er den Dichter nicht dazu bewegen konnte, sich in der offiziellen Prüfung eines einfachen Stils zu befleissigen, bringt er ihn nun nachträglich leicht dazu, wenigstens privatim seinen guten Willen zu einem Versuch zu zeigen und möglichst „nah am Boden“ zu bleiben (1). Kurz erläutert Petrarca am Briefanfang seine eigene Vorstellung vom verständlichen, einfachen und klaren Stil, der Form und Inhalt umfasst, und dann wählt er geschickt ein allen Menschen gemeinsames Thema, zu dem sich jedermann äussern könnte (3 f.). Er handelt von Schwierigkeiten und Gefährdungen im Menschenleben, insbesondere in dem der Höhergestellten und verhüllt dabei nicht seine Absicht, den hohen Herrn zu belehren, ja versteht es gut, in seiner Abhandlung teils diskret, teils deutlich solche Mahnungen zu erteilen, die der Angesprochene direkt auf sich selber beziehen müsste. Er hat, so gibt ihm Petrarca zu verstehen, auf seinem Lebenspfad auf höchster Ebene nur eine geringe Ahnung davon, wie man auf tieferer Stufe lebt, und er hat keinen Grund, sich in seiner Höhe sicher zu fühlen (4 ff.), denn die Gefahren, die allen Wanderern auflauern, sind für die auf einem Berggrat Schreitenden grösser und um so viel fataler, als ein Absturz aus bedeutender Höhe besonders unerwartet und jäh kommt (6 ff.). Grosse Belästigungen sind da übrigens zu ertragen, die auf unteren Pfaden weitgehend fehlen. Sie werden Talleyrand hintereinander aufgezählt, und zu diesen gehört etwa das Fehlen einer Privatsphäre, die gegen die Öffentlichkeit abschirmen kann (9). Dann macht er ihn mit den Übeln bekannt, die alle Sterblichen bedrohen, und weil Vergil sie in die Vorhalle der Hölle verlegt hat, findet er eine Gelegenheit, Talleyrand mit dem Dichter bekannt zu machen, denn annehmen kann er ja nicht, dass der Legist auch bloss seinen Namen je gehört hat (15 ff.). Mit Ereignissen aus der Weltgeschichte, vornehmlich mit solchen aus der jüngsten Vergangenheit, bei denen Könige gestürzt wurden, hofft er dem Prälaten besonders kräftig zuzusetzen, und überhaupt rühmt er sich stolz (und nicht zu Unrecht), die Nöte der auf hohen Posten Thronenden mit allen Einzelheiten genau beschreiben zu können, weshalb er von seinem Gönner schon zum voraus ein beträchtliches Staunen erwartet (23 ff. bis 35). Hat er die erste Lehre vom Elend der Wohlsituierten farbig aufgefächert, macht er sich an die Darstellung einer zweiten Unterweisung. Der hohe Stand, dem Talleyrand angehört, darf diesen nicht hindern, einfach und fromm zu leben. Er hat selbst bei einer äusseren ihm aufgezwungenen Prachtentfaltung die Möglichkeit, freiwillig die geistige Armut zu üben und in seiner Gesinnung so bescheiden zu leben, wie einst die Apostel Christi (38 ff.). Petrarca drückt sich hier also nicht um einen entschiedenen Tadel des Ärgernisses, über das er sich gleichzeitig, aber anonym, in den Schreiben Sine nomine in höchstem Mass ereifert, umgeht aber jede Kränkung und gesteht dem bewunderten Mann vielmehr die bes-

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ten Absichten zu. Dass die Nachfahren der Apostel ein Leben führen, welches jenes der einfachen Fischer von einst geradezu verhöhnt (Sine nom. 5), das ist es, was Petrarca an Avignon vor allem anderen geisselt, wobei er allerdings kaum bedenkt, dass die selbe Kurie, solange sie in Rom sass, gleicherweise für richtig hielt, ihre Autorität auf Macht und Reichtum zu stützen. Übrigens hat er gute Gründe, gerade diesen Kardinal auf eine ständige Bedrohung seiner scheinbar gut gesicherten Stellung aufmerksam zu machen und die Kurie insgesamt an ihre Gefährdung zu erinnern. Sein hoher Gönner möchte wahr haben, dass Avignon als Zentrum der Christenheit unangefochten bestehen bleibe, und hat bei Papstwahlen bewiesen, dass er an der Kurie den französischen Einfluss zu verstärken und den italienischen zu unterbinden vermöge. Dabei sitzt ebenda ein gelehrter Franziskaner mit Namen Jean Roquetaillard im Kerker und hat geringe Hoffnung, befreit zu werden, weil er Talleyrand ins Gesicht zu wiederholen wagte, dass der Papsthof an der Rhone über kurzem ein unglückliches Ende erdulden werde (Guillemain 246 ff. und Register). Selbst wenn Petrarca von der Unterredung der beiden vielleicht nichts weiss, muss er wenigstens vermuten, dass sein geschätzter Herr sich mit dem Gedanken an eine Rückverlegung der römischen Kurie nach Rom ohne Not nie werde anfreunden wollen (Sine nom. 17; Aufrufe 310). Die Notwendigkeit, es zu tun, wird aber kommen, nur wird Talleyrand sie nicht erleben. Erst ein Jahr nach seinem Tod wird Karl IV. 1365 in Avignon eintreffen, um Papst Urban V. seine Unterstützung für die Rückkehr in den Kirchenstaat anzubieten. Von den hohen geistigen Begabungen des Kardinals spricht erst Brief 14,2 gegenüber Sokrates. Er trägt das selbe Datum wie der vorangehende vom 22. September und ist wohl wie jener in Vaucluse geschrieben worden. Zu den Vorzügen, die Petrarca an Talleyrand rühmt, gehören hohe (zwar einseitige) Bildung und Gelehrsamkeit, eine ganz auffällig rasche Auffassungsgabe und ein eminentes Wissen auf seinem Gebiet der Rechtskunde. Hochgeschätzt ist der Kardinal in allen Beratungen dank klaren, überzeugenden Vorschlägen und einem sicheren, einnehmenden Auftreten. Mit solchen und ähnlichen Fähigkeiten hat er fast mühelos die Spitze der Kurie erlangt. Mehrmals hat er bei Papstwahlen darüber entschieden, wer den Stuhl Petri besteigen solle (Fam. 14,2,1); Dank hat er nie verlangt. Doch auch jetzt wird von Petrarca mitten unter den schönsten Lobsprüchen der Mangel an jedem Sprachverständnis betont. Talleyrand kennt nur seinen eigenen Stil, versteht nur den barbarischen der modernen Juristen. Das alles ist natürlich nicht nur Petrarca sondern auch seinem Adressaten Sokrates längst bekannt, und gewiss bemerkte dieser auch längst den freundlich vertraulichen Gesprächston, der zwischen jenem und Petrarca herrscht. Nun aber erhält dieser Freund vom Dichter den Auftrag, seinen soeben verfassten Brief (den über die „einfache“ Schreibart) dem Kardinal zu überbringen, und zwar aus keinem andern Grund, als weil auch ihm das Vergnügen zu gönnen ist, sich mit diesem Mann zu unterhalten. Denn

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von ihm – das mag den Leser doch erstaunen – ist keiner je anders als besser oder fröhlicher weggegangen (a quo nemo umquam nisi aut melior discessit aut letior; Briefende). Ein grösseres Lob könnte kaum ausgesprochen werden, weshalb man sich fragt, was dem Dichter denn einfiel, auch diesen Vortrefflichen mit allen anderen der Sintflut zu übergeben. Die heitere Zufriedenheit, die in einigen aufgeführten Schreiben den Ton bestimmen, ist nicht so beträchtlich, dass es daneben keinen Platz für Unbehagen, Ärger, ja Kummer gäbe. Petrarca hofft damals umsonst auf eine Verständigung mit dem Bischof Rossi von Parma (vgl. Fam. 9,5 und 9,6); und nur wenig später nennt er als seinen neuen Dauerzustand eine grössere Unruhe, Müdigkeit und Hinfälligkeit, als er sonst empfinde (Var. 36). In Trauer versetzt ihn zudem eine Meldung, die ihm der Priester Luca von Piacenza zukommen lässt. Ein junger Mann ist gestorben, dessen geistige und körperliche Vorzüge Petrarca mit Freude erfüllt hatten. Von seinen Versuchen, sich zu trösten, handelt in Buch 14 sein Brief 3 vom 25. September. Die meisten der da geäusserten Gedanken kennt man aus mehreren anderen seiner sowohl Klage- als Trostbriefe, doch die Trauer über den persönlichen Verlust ist hier vom ersten Satz an gebändigt. Tränen zu vergiessen, das will er sich nicht mehr gestatten (1). Doch der selbe Luca gibt Petrarca nicht nur Bescheid von diesem Tod, sondern teilt ihm nicht viel später noch mit, was Neider gegen ihn vorbringen. Er weiss vor allem, welche Gerüchte in Parma über ihn, den Archidiakon dieser Stadt, herumgeboten werden. Dass er gegen den Bischof Rossi in Parma konspiriere, diesen Vorwurf hatte Petrarca von Avignon aus schon in Fam. 9, 5 (am 28. Dezember 1351) zu widerlegen versucht. Jetzt in Brief 14,4 vom 19. Oktober (1352) wehrt er sich gegen eine Missgunst, die ihn schlichtweg nirgends dulden will. Ob er in Avignon eintreffe, ob er sich da aufhalte oder ob er sich von Avignon verabschiede: Immer sind diese Leute bereit, ihm das zu verübeln und dahinter eine böse Absicht zu ihrem Schaden zu argwöhnen. In seinem Schreiben Sine nom. 14 (Aufrufe 280–282) hatte er für die grosse Menge von Bittstellern in der Papstresidenz ein Wort des Mitleids geäussert; jetzt denkt er nicht an wahrhaft bedürftige Kleriker, die ebenda eine zureichende Pfründe zu erhaschen hoffen; er wendet und verteidigt sich gegen solche, die ein – mindestens kleines – Vermögen ins Trockene gebracht haben, doch damit unzufrieden einen Riesenhaufen Goldes bei ihm vermuten und ihn sowohl des Geizes wie der Habsucht bezichtigen. Die schneidenden, sehr gewandt formulierten Widerlegungen des Dichters liest man (von einigen allzu verletzenden Tiervergleichen abgesehen) mit Vergnügen. Er kann es sich schliesslich leisten, testamentarisch seine gewaltigen Schätze insgesamt eben jenen Neidern zu vermachen, die zu ihrer eigenen Qual sie samt und sonders erdichtet haben. Nichts will Petrarca von seiner Habe ausnehmen, ausser einiges an Hausgerät und Büchern, und dass sein

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Erbe darüber leer ausgehe, kann ihm, wie es um die Sache steht, nicht die geringsten Bedenken schaffen (18). Darauf nennt er zu seiner ruhmvollen Rechtfertigung verschiedene einst ihm zugestandene Pfründen, die er – wie sich jederzeit dokumentieren lasse – mit Zustimmung des Papstes an Freunde übergeben habe, und schliesslich legt er als schönsten Beleg für seine Freigebigkeit eben dem Freund, der ihm von den Übelreden berichtet hat, ein Dokument vor, das bezeugt, Luca von Piacenza sei ein Kanonikat in Modena zugesprochen worden, weil Petrarca darauf verzichtet (24 ff.). Es stimmt, so sagt dieser, dass er sich früher mehrere Pfründen verschafft hatte (man kann darüber in den Studies von Wilkins lesen). Doch wenn er sie einmal zu seiner Erleichterung erhalten hatte – nicht zuletzt dank der Gunst seines früheren Herrn, des Kardinals Colonna –, war es ihm immer eine Freude gewesen, sobald als möglich mit einer Weitergabe einen Freund zu beglücken. Das wird man auch später wieder erfahren, dass er grosszügig zu Gunsten anderer verzichten konnte. Denn Habsucht ist wirklich von allen Lastern das letzte, das man ihm vorwerfen dürfte. Dass er sich aber viel Neid zuzieht, hat auch ganz andere Gründe als den Verdacht eines beträchtlichen Besitzes. Höchst ärgerlich ist für viele nicht zuletzt seine Beliebtheit bei den massgebenden Herren, von der man nicht weiss, womit er sie verdient hat. Petrarca wundert sich selber auch, warum man ihm an der Kurie Ämter und Zeichen des Wohlwollens, mehr als er wünschen kann, anbietet und warum gerade er mit auffälliger Auszeichnung behandelt wird (21 ff.). Noch bevor er da oder anderswo auch nur anlangt – so stellt er fest – hat er die einflussreichsten Herren schon gewonnen. „Es kann doch nicht einzig an meinem Ruf liegen“, vermutet er (22), weiss aber nicht, woran er sonst etwa denken sollte. Da gibt es ja mancherlei, was einem guten Auskommen zwischen ihm und den Prälaten abträglich sein könnte, so würde man meinen. Es bestehen zwischen ihm und jenen geistlichen Herrn ausser dem trennenden Unterschied in der sozialen Stellung und in der kirchlichen Hierarchie widersprüchliche Lebensauffassungen, auch starke nationale Gegensätze, die eng mit kirchenpolitischen verknüpft sind, dazu ganz verschiedene kulturelle Ansprüche. Zudem versteckt Petrarca ein Gefühl der eigenen Überlegenheit nur schlecht, während auch die französischen Prälaten sich eines höheren Wertes bewusst sind. Dennoch verstehen sie sich im Alltag gut. Die Mächtigen wollen ihn um sich haben, jetzt wie auch später. Einen Gefallen kann ihnen Petrarca allerdings damit tun, dass er sie rühmend in seinen Schriften erwähnt. Doch wie hoch man diesen Wert veranschlagen soll, ist zu ermessen schwierig. Wie dem sei: Was der Dichter auf der einen Seite an Gunst gewinnt, verliert er auf der andern, und das ist nur natürlich, wie ihm auch meist bewusst ist. Ja man hat Neider geradezu nötig, wie er in seinem Schreiben 14,4 zwar nicht sagt, weil er da zum Kampf bläst, wohl aber in anderen Briefen betont, die nicht geradezu als Invektiven dienen. Von Missgünstigen völlig befreit zu sein, würde mehr schaden als nützen.

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Er hat sie nötig. Sie reiben ihn blank oder richtiger: Er selber reibt sich an den Gegnern blank. Das entspricht einer alten Weisheit (vgl. z. B. Fam. 5,11,3; 16,3,7; 21,9,11). Ist er genötigt, wie jetzt im Herbst 1352, Vaucluse zu verlassen und seinen Pflichten gegenüber den beiden Kardinälen in Avignon nachzukommen, lebt er im Hause seines Jugendfreundes Guido Sette. Dieser ist Genuese und Archidiakon von Genua, trennt sich jedoch nicht gern vom Papsthof. In die fortwährenden Unruhen seiner Vaterstadt verwickelt zu werden, lockt ihn nicht. Dass er mit seinem Freund und Gast Tagesereignisse bespricht, und vor allem solche, die ihn sehr direkt angehen, ergibt sich von selbst, und darum verwundert auch nicht, dass Petrarca, wohl angeregt durch Gespräche mit diesem Sette, am 1. November 1352 ein Schreiben, das ist 14,5, von Avignon aus nach Genua sendet, und zwar an einen nicht genannten Dogen. Ständige Wechsel eben dort gestatten ihm offenbar keine Sicherheit, wen er als solchen anzusprechen hätte. Wie erinnerlich hatte er im Jahr 1351 den venezianischen Dogen Andrea Dandolo vor einem Krieg gegen Genua gewarnt (Fam. 11,8). Die aufsehenerregende Schlacht, die zwischen den gegnerischen Seemächten auf dem Bosporus geliefert wurde, liegt nun einige Monate zurück; aber vieles lässt vermuten, dass die erbitterten Feinde ein neues Treffen fordern. Jetzt ist es nur richtig, dass Petrarca, da er Venedig schon ins Gewissen geredet hat, Mahnungen an die andere Hafenstadt richtet (2). Er kennt deren glanzvolle Vergangenheit und verherrlicht sie und betont, in jedem Seegefecht habe bisher sie den Sieg errungen, fügt aber bei, das sei eben kein Grund zum Weiterkämpfen, vielmehr gelte es, sich zu bescheiden, denn der Übermut würde die Stadt ins Verderben stürzen (6). Darauf beharrt Petrarca, hat aber von einem Pazifisten nichts an sich. Heldentum zeigt sich im Krieg; das hat er von der Antike gelernt, und darum kann er den jüngsten Zusammenstoss der Mächte auf dem Bosporus begeistert als ein wunderbares Schauspiel beschreiben. Dabei sieht er keinen Grund, für die daran beteiligen Nicht-Italiener etwas an Mitleid aufzubringen (11), schon gar nicht für die Griechen, diese ärgerlichen Ketzer, denn dafür hält er sie. Nur mit dem „armen Völklein“, das man für geringes Geld zu Söldnerdiensten angeworben hatte, fühlt er ein recht grosses Erbarmen. Eine wahre Schande aber ist es, dass Veneter und Genuesen, wo sie doch beide Italiener sind, sich gegenseitig bekriegen, dies gar unter Beiziehung jener ausländischen Mächte. Versöhnung, und zwar auf ewig, und gleich auch noch eine gegenseitige Unterstützung fordert er jetzt von den Hafenstädten, ein Zusammengehen nämlich zum Kampf gegen äussere Feinde. Das heisst in jenen Jahren in erster Linie, dass sie endlich einen Kreuzzug zur Befreiung des Heiligen Landes unternehmen müssten, einen „in der Nachfolge Christi“ (14), wie er meint, ohne es weiter zu erläutern. Ein Kreuzzug wird vielerorts propagiert, wie schon angedeutet auch in Avignon, eben da vor allem auch von Talleyrand und Guy de Boulogne, wenn sie zwischen

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England und Frankreich zu vermitteln versuchen. Dass Christen untereinander kämpfen, ist erbärmlich; aber Krieg soll herrschen gegen die Ungläubigen, die man am Machtgewinn und an der Eroberung christlicher Gebiete hindern muss. Diese Art Krieg wäre die beste. Aber Petrarca hält sogar jeden Krieg, der gegen äussere Feinde (Angreifer) gefochten wird, für vertretbar, ja auch für ein wichtiges und unerlässliches Hilfsmittel in einer innergesellschaftlichen Not. Das will er insbesondere gegenüber Genua betonen. Ihr Gemeinwesen, das in langer Friedenszeit schlaff und krank geworden ist, könnte unter kriegerischen Taten seine frühere Gesundheit und Tüchtigkeit zurückgewinnen. Krank ist es geworden, weil es allzu sicher gelebt und einen äusseren Feind vermisst hatte. Nicht anders ist es Genua ergangen als dem alten Rom, denn was hätte den Römern so geschadet, das fragt er, wie die Zerstörung Karthagos, ihres mächtigsten Feindes! An ihrem Wohlergehen sind sie zugrunde gegangen (17 ff.); und nichts belegt die Richtigkeit der genannten Theorie eindrücklicher. Nur eine einzige Art Krieg hält Petrarca für durchaus verderblich, das ist eben der innere Streit, der unter Bürgern, der unter italienischen Mächten. Das hat er in seinem Brief an die Genuesen zu betonen, denn ihr Parteihader ist in aller Welt bekannt. Dabei haben sie tatsächlich einen äusseren Feind, ja einen – das weiss Petrarca bestimmt – der ungerecht und bösartig ist, so dass man sich seiner erwehren darf und auch soll. Daher lautet seine Aufforderung am Schluss schon dieses Briefes: Ite in bella feliciter (31). Er weiss freilich nichts von den Waffen späterer Generationen, die ein Heldentum, wie er es bewundert, ausschliessen. Und er meint natürlich auch, verteidigt werde nach aussen ein wahres Vaterland als ein Hort des Friedens, der geistigen Freiheit und eines der besonderen hohen Kultur. Denn das Vaterland, das gibt es zu seiner Zeit. Und Genua hat er schon in seiner frühesten Jugend gesehen, als es noch herrlich und wohlgeordnet war, wie er wenigstens im Rückblick meint (23 ff.). Zur früheren Gesundheit kann die Stadt zurückfinden, wenn sie die richtigen Mittel anwendet. Ausser dem Krieg nach aussen empfiehlt der Dichter noch die beste Regierungsform, das ist das Dogat, und zwar eines der grossen Machtbefugnisse, eines auf Lebenszeit, wie Venedig es kennt. Noch immer verhindern die unter sich verfeindeten Geschlechter der Stadt (Doria, Spinola, Fieschi, Grimaldi) eine solche Regierungsform. Doch der äussere Feind, von dem Petrarca spricht, handelt schon bald, wie man aus Brief 14,6 erfährt, und nun zögert Petrarca nicht zu zeigen, dass seine Theorie blutig ernst gemeint ist. Der Ruf Pedros (IV.) von Aragon, der eine Eroberung Sardiniens begonnen hat, entspricht völlig seiner Vorstellung vom verruchten äusseren Gegner. Ihm das Geraubte wieder zu entreissen, an ihm Rache zu üben, ihn erbarmungslos niederzuzwingen, ist so durchaus richtig, dass des Dichters Aufruf zum Kampf jetzt mit der Selbstverwünschung schliesst: „Verderben will ich, peream, wenn in diesem Schreiben ein einziges Wort von Frieden zu lesen ist.“ Das Treffen

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mit Pedro steht noch aus; es wird jedoch stattfinden. Wenn es aber richtig ist, den Brief auf Februar/März 1353 anzusetzen, so vergehen Monate, bis sich Reflexionen über seinen Ausgang aufdrängen werden (vgl. Fam. 17,3.17,4). Wilkins, der Petrarcas Briefe mit grosser Sorgfalt chronologisch zu ordnen unternahm, reiht auch jene hintereinander (Studies 171 f.), die in der Zeit zwischen Februar und November 1353 verfasst, jedoch in anderen Büchern (12.13.15. etc.) untergebracht wurden. Von diesen Schreiben hat man früher gehört oder wird man später noch hören. Im Buch 14 folgt dagegen ein Brief an Kardinal Guy de Boulogne als Fam. 14,7 und versetzt den Leser auf den 8. November 1352 zurück. Dabei scheint es gar, er müsse dem Brief 13,7, der oben kurz genannt wurde, unmittelbar vorausgegangen sein. Denn wenn jetzt in 14,7 zu lesen steht, Petrarca habe Monate lang auf die Rückkehr seines Herrn Guy de Boulogne, vielmehr auf dessen Erlaubnis zur Abreise vergeblich gewartet, so erinnert das an die Beteuerung des Dichters, er gehorche dem Wunsch des Kardinals und warte, wie im andern zu lesen war. Wie dem sei: Auf jeden Fall wartet er; jedoch nicht mehr lange. Der Aufenthalt an diesem Ort, wo nur sein Leib sei, „seine Seele aber nicht“ (6), sei ihm unerträglich geworden, so erklärt er und meint mit dem Ort natürlich Avignon. Damit verabschiedet er sich. Der Dank für des Kardinals Güte und menschliche Grossmut ist herzlich und aufrichtig; mit Sicherheit kann Petrarca annehmen, dass er, würde er noch weiter zuwarten, vom Adressaten eine neue beträchtliche Gunst empfangen könnte; denn das wurde ihm angedeutet. Doch nun ist es bereits eine zwingende „Notwendigkeit“, dass er geht, und er bittet nur noch, was ihm zugedacht worden sei, möge an seine Freunde in Avignon übergehen. Vor diesen hält er sich versteckt, in Vaucluse natürlich; da bleibt er ihnen fern, denn gerade auch die Freunde versuchen noch immer, seinen Willen ihren eigenen Plänen zu beugen (vgl. z. B. Fam. 24,13,2 ff. 8 f.). Dass Petrarca aber im Hinblick auf die Abreise von einer Notwendigkeit sprechen kann, wirkt, selbst wenn man die Umstände bedenkt, befremdlich. Was zwingt ihn? In Vaucluse findet er eher als überall sonst die so oft ersehnte Musse für die Ausarbeitung seiner Werke. Man kann sich kaum etwas anderes denken, als dass er gerade auch diese Musse nicht mehr aushält; denn das erlebte er schon früher und erlebt er oft aufs neue. Ein Überdruss stellt sich ein, der ihn fortzugehen zwingt (Fam. 8,3,11 f. und 15; 16,14,14). Er braucht den Ortswechsel, den er in einem späteren Brief zum Hauptthema macht (Fam. 15,4). Noch einen andern Abschiedsbrief fügt er an, 14,8, und diesen etwa zehn Tage später. Er richtet ihn an Ponzio Sansone, den Vorsteher von Cavaillon, der zu seinen vertrautesten Freunden im Umkreis von Vaucluse und Avignon zählt. Er soll hier geehrt werden. Von ihm nimmt Petrarca gerne an– wie das 14. Kapitel im 2. Buch über „das einsame Leben“ festhält –, er werde einst zusammen mit Bischof Philippe, mit Sokrates, Guido Sette und ihm, Petrarca, die kleine Fünfergruppe darstellen, die das Glück des Einsiedlerlebens in Vaucluse begründe und erhalte.

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Nun aber hat er eben unterlassen, diesem Freund den versprochenen Besuch abzustatten, doch zum vornherein mit seiner Nachsicht gerechnet. Der Gütige weiss ja, dass seine Zeitnot jetzt drückender ist als je; er ist occupatissimus (2). Womit, möchte man fragen. Doch er meldet nur kurz: „Ich reise ab“. Das mag die Zeitnot erklären. Doch fast sieht es so aus, als hätten ihm gewisse Herren der Kurie für seine letzten Tage in der Provence noch rasch einige Geschäfte aufgehalst, meinend, niemand könne sie so gut erledigen wie er, ob er nun den „einfachen“ Stil beherrsche oder nicht. Von Petrarca etwas Genaueres zu erfahren, darf man nicht hoffen. Handelt es sich um Pflichten, die ihm auferlegt wurden, sind sie diskret zu behandeln. An der Kurie schätzt man unter seinen Vorzügen keine höher als seine Verschwiegenheit und Verlässlichkeit; und diese Tugenden zu besitzen, hat ihn immer mit Stolz erfüllt (13,5,12; vgl. 5,2,5 über die secretorum participatio und 1,6,6: nullius…fido silentio secundus). Und dass man das Schreiben nur nicht geringschätze, wie einen Anhängsel. Das würde der Gepflogenheit Petrarcas widersprechen. Abschliessende Schreiben gehören zu den wichtigsten.

Buch 14 enthält eine Auswahl von bloss 8 Briefen; davon stammen 7 aus der Zeit zwischen 22. September und etwa 18. November 1352, wogegen das 2. Schreiben an Genua die zeitliche Abfolge sprengt, da es nicht vor dem Frühjahr 1353 verfasst werden konnte. Geschrieben wurden sie teils in Vaucluse, teils in Avignon. Von besonderer Bedeutung und Länge sind Nr. 1 an Kardinal Talleyrand, wo die Gefahren der Würdenträger geschildert werden, dann Nr. 4, wo sich Petrarca gegen Vorwürfe der Neider in Avignon verteidigt, weiter Nr. 5 und 6, in denen sich der Dichter zu Bürgerzwist und Krieg der Genuesen äussert. Den Schluss machen zwei Abschiedsbriefe, in denen Petrarca seine unmittelbar bevorstehende Abreise aus der Provence ankündigt. Einer ist für Kardinal Guy von Boulogne bestimmt, den Petrarca noch immer als seinen Herrn bezeichnet. Ein Blick in andere Bücher verrät, dass Berichte über verschiedene Ereignisse aus der selben Zeitspanne (z. B. Krankheit und Tod von Clemens VI.) hier ausgespart und anderswo eingereiht wurden. Von solchen wird auch in Buch 15 die Rede sein. In Buch 15 muss sich der Leser gleich einige Tage zurückdenken, denn Brief 1 ist auf den 8. November 1352 zu datieren. Petrarca ist also noch nicht abgereist; er verfasst ein Schreiben für seinen langjährigen Freund Lelio, mit dem zusammen er einst sowohl dem Kardinal Colonna als auch dessen Bruder, dem Bischof von Lombez, gedient hat (vgl. etwa Fam. 4,13). Mehrmals hat Petrarca von diesem Freund gute Dienste erbeten, um bei gewissen Prälaten leichter Gehör zu finden (so Fam.

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3,19 und 20–22; 4,13,4; 9,10); immer ist es allerdings schwierig gewesen, von ihm einen Brief zu erhalten; und nur weil sich Lelio jetzt in Rom befindet und von sich reden macht, versucht der Dichter nach längerer Zeit der Resignation jetzt aufs neue, den früheren Kontakt mit ihm wiederherzustellen. Was sich in Rom abspielt, das muss er wissen. Auf eine Reform, wie die Kurie sie plant, wartet man eben da nicht und versucht, sich selber zu helfen. Lelio, ein Römer und Vertrauter der Familie Colonna, hat sich mitten unter andauernden Unruhen einen gewissen Einfluss und Anhang verschafft, und während man in Avignon seine Rolle misstrauisch verfolgt und sogleich an Frevel und Schande denkt (6 f.), hat Petrarca schon eine eigene Überzeugung von Lelios Wirksamkeit gewonnen und spricht sie auch aus, um gewissermassen frohlockend den „Fürsten der Welt“ zu widersprechen. Ein kleines Zeichen des Erfolges genügt, um bei ihm grosse Hoffnungen aufleuchten zu lassen. Lelio ist bereit und fähig, so glaubt er, wesentlich dazu beizutragen, dass in der Republik Rom die Ruhe wiederhergestellt und dem Volk seine Rechte und Freiheiten gesichert werden. Der Dichter weiss zwar, dass der Freund vor Jahren einem Cola di Rienzo gegenüber eine gewisse Zurückhaltung gewahrt hat (Fam. 7,5), wie es für einen Adeligen natürlich war, doch schliesst er daraus nicht (und hat damit recht), dass jener die Sache des Adels jetzt gegen das Volk ausspielen wolle. Er erinnert Lelio an ein beachtenswertes Wort des alten Stefano Colonna und bemerkt dazu, dass dieser würdige Mann allerdings „unsere Vorhaben nicht unterstützte“ (9). „Unsere Vorhaben“: das heisst, jene von 1347, die noch im Jahr 1352 „die unsern“ sind. Sie zielen auf die Kräftigung und Neuordnung der Republik in Rom unter Wiederherstellung der Volksrechte, was immer in Avignon über den Volkstribunen Cola di Rienzo beschlossen wird. Eben deshalb will Petrarca seinen Lelio mit jeder ihm möglichen Aufmunterung unterstützen und ihm damit auch den Weg zum Ruhm erleichtern (8 und 11), ja er deutet eine Verherrlichung durch seine Feder für die Zeit an, wenn das hohe Ziel erreicht sein wird, und ob man das in Avignon schätzt oder nicht, kann den Dichter nicht kümmern. Er ist ohnehin, wie wir wissen, im Begriff, abzureisen, und schon spricht er von den „Grossen der Welt“ eben dort so verächtlich wie verallgemeinernd. Solange er einzelne kuriale Herren vor sich hatte, konnte er ihre persönlichen Eigenarten, ja Vorzüge erkennen, doch schon fasst er aus der Distanz alle mit einem einzigen Blick zusammen, sieht nur noch eine Menge, an der das allgemein kuriale Gehaben mit seinen Lastern hervorsticht. Anonym wird sie ihm nun, eben eine sine nomine, die man insgesamt – wenigstens rhetorisch – in einer Sintflut ertränken kann. In Brief 15,2 an Francesco Nelli hört man dann endlich mit einiger Befriedigung von der lange aufgeschobenen Reise. Petrarca unternimmt sie mit Dienern und Habe bei unsicherem Wetter, nämlich seinem üblichen „Reisewetter“, doch gleich bricht er sie wieder ab. Dass er schon im Städtlein Cavaillon froh ist, bei seinem geliebten Bischof Philippe Schutz vor einem Wolkenbruch zu finden, und

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dass er da eine Nacht lang sich hin und her berät, was er tun solle, weil seine Strasse nach Italien teils durch Wasserströme, teils durch bewaffnete Kriegsleute versperrt ist, berichtet er dem Freund Nelli mit einigem Humor, weil er schon wieder zu Hause an der Sorgue im Trockenen sitzt. Einen guten Teil seiner Bibliothek hat er mit sich geführt und glücklich wieder zurückgebracht. Doch nicht die ganze wurde hin- und hergefahren, denn Vaucluse völlig aufzugeben, daran denkt er jetzt nicht. Söhne seines verstorbenen Verwalters werden auf seinem kleinen Gut weiterhin zum Rechten sehen. Nach der Regennacht in Cavaillon hat er einen Grossteil seiner Diener (er hat ja stets eine gute Zahl) weiter, vielleicht nach Parma oder eher nach Padua, wo ihm sein Kanonikat gesichert ist, geschickt und ist nun recht froh, ihrer ledig zu sein. Fast wunderbar kommt ihm vor, dass es nur eben an seinem Reisetag gegossen, und wie gegossen! und überall Kriegsvolk gegeben hat. In einer für ihn höchst bezeichnenden Weise schliesst er aus den ganz beträchtlichen Hindernissen an diesem einen Tag, Gott sei es, der ihn wissen lasse, er solle jetzt nicht reisen. Das ist ihm auch ganz recht. So meldet er am 18. November 1352 nach Florenz. Drei Monate später, am 22. Februar 1353, erzählt er vom selben Abenteuer in Brief 15,3 seinem Freund Zanobi in Neapel für den Fall, dass dieser nicht schon alles durch Nelli vernommen habe. Der Leser hört hier (wie bei Gelegenheit auch in anderen Briefen) etwas über die Art des Briefverkehrs unter den Freunden. Obwohl die Distanz von Südfrankreich bis Neapel damals schwieriger zu überwinden war als heute eine um die halbe Erde, erreichen die Sendungen ihr Ziel in verhältnismässig kurzer Frist, sofern – diese Einschränkung darf man nicht überhören – sie unterwegs nicht abgefangen werden und verloren gehen. Die Freundesbriefe des einen sind in der Regel vom ersten Adressaten an andere weiter zu schicken; und dass es geschehe, damit möchte Petrarca rechnen können (Fam. 8,4,8; 13,6,36). Gerade von Nelli wird eine Vermittlung häufig beansprucht, teils wegen der mittleren Lage seines Wohnsitzes, teils wegen seiner Zuverlässigkeit und seiner geradezu erstaunlichen Sesshaftigkeit (Fam. 18,11,4). Den Ereignissen, die Zanobi vielleicht doch schon vernommen hat, werden nun in Brief 3 einige Neuigkeiten angefügt. Petrarca ist von einem Diener, der als sein Kundschafter in Italien herumgereist war, bei seiner Rückkehr gewarnt worden, unter den waltenden Umständen dorthin zu übersiedeln, denn da sind zwar nicht irgendwelche Feinde zu fürchten, hingegen viele Freunde ins Auge zu fassen, die schon mit der Aufstellung wahrer „Schlachtreihen“ beschäftigt sind (8), um sich des Dichters zu bemächtigen. Was dieser kluge Bote an Gefahren hervorhebt, antwortet offenbar genau auf die Sorgen, welche die Gedanken seines Herrn am meisten beschäftigen. Wie vermag er den Anforderungen der Freunde gerecht zu werden? Er kann ohne sie nicht leben, doch wird es nötig sein, zu ihnen weiterhin eine gute Distanz zu wahren. Wo er sich aber die richtige Distanz verschaffen und wahren könne, das hat er bereits zu bedenken. Das Problem muss seine Ortswahl be-

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einflussen, und er hat diese wohl noch gar nicht getroffen. Übrigens ist sie sehr beschränkt. In Parma ist er dem Bischof Rossi nicht mehr genehm (Fam. 9,5), was bedeutet, dass er nur noch in Padua eine einträgliche Pfründe, nämlich, wie schon gesagt, ein Kanonikat besitzt. Immerhin hat er nicht vergessen, dass in Neapel der Gross-Seneschall Acciaiuoli ihm einmal von einem Musensitz gesprochen hat, kein Jahr ist es her (Fam. 12,15,5 vom Mai 1352), weshalb er ganz selbstverständlich einen Aufenthalt eben dort in Erwägung ziehen darf. Er preist also im Brief 3 seinem Freund Zanobi da Strada, der am neapolitanischen Hof verkehrt, wie zufrieden er in der Vaucluse lebe, weil er dank seinen Studien sowohl Athen und Rom um sich habe, fügt aber gleich noch an, in seiner Einsamkeit verweile er oft bei ihm, ja auch bei jenem „besten und grössten Mann“ (Acciaiuoli), den „ich zu jeder Stunde vor mir sehe“ (15). Das wird zwar gleichsam nebenbei dem Brief eingefügt, war aber doch wohl das Wichtigste, was Petrarca vorbrachte. Zanobi sollte dafür besorgt sein, so heisst es weiter, dass man ihn am Hof nicht vergesse (14–15), und mit dieser Bitte endet der Brief. Sie hatte gewiss einiges mit seinem Problem der Ortswahl zu tun. Wer einige Zeit lang dem Leben Petrarcas nachgegangen ist, weiss, dass seine heiteren Stimmungen selten lange anhalten, der Wechsel spiegelt sich in seinen Schriften häufig genug. Brief 15,3 datiert vom 22. Februar (1353) aus Vaucluse; Brief 15,4 an den Dogen Andrea Dandolo wird an einem 26. Februar vom selben Ort aus abgeschickt, vielleicht im selben Jahr, doch denkt Wilkins eher an 1352 (Studies 114 f.). Das Einsiedlerleben, dessen schöne Seiten vor dem Freund Zanobi eben gerühmt worden sind, erlebt der Dichter schon wieder völlig anders, was ihn dazu bestimmt, dem Venezianer ein Geständnis zu machen. Man erwartet wohl, das Schreiben an ihn werde erneut Mahnungen zum Frieden mit Genua enthalten; doch trifft das nicht zu. Petrarca bezieht sich auf die ihm vom Dogen gestellte Frage, weshalb er unstet sich einmal dahin, einmal dorthin begebe und noch keinen festen Wohnsitz gewählt habe. Der Wohnsitz ist nun Hauptthema dieses Briefes. Tatsächlich ist der Schreibende einmal da und einmal dort; das will er nicht leugnen; es wird wahrscheinlich auch weiterhin bei einem solchen Wechsel bleiben, obwohl der Gedanke nicht fern ist, dereinst in des Dogen Nähe sein „Lager abzustecken“: prope te iam castrametari incipiam (1 ff. und 6). Zuerst sprich der Dichter moralisch-philosophisch von ehrenwerten, sehr nützlichen Reisebedürfnissen des Menschen, wie er das früher aus anderem Anlass getan hat (z. B. in Fam. 9,13; vgl. 15,4,4 f.), zweifelt dann aber bald, ob er sich auf diese Weise rechtfertigen könne, und sagt schliesslich unumwunden: Ich gestehe, an einer seelischen Krankheit zu leiden: ego vero me egrum non infitior egritudine animi non parva, ja, er fügt an: und hoffentlich nicht auf den Tod: atque utinam non ad mortem (15 f.). Das Reisen mit dem Zweck, die Welt kennen zu lernen und sich dadurch zu vervollkommnen, das war ein Jugendtraum gewesen (7 f.); jetzt ist ihm der häufige Ortswechsel ein Hilfs-

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mittel, sich seine unerträglichen geistigen Beschwerden zu erleichtern. Was er früher seinen Freunden mehr als einmal als eine wunderbare Abwechslung und als ganz gebräuchliche Abhilfe bei Überdruss als fastidii medicina empfohlen hat (z. B. Fam. 8,5,15), das benötigt er jetzt weit häufiger als bei gesunden Menschen üblich ist. Er kann es schlechterdings nirgends lange aushalten und sagt es rund heraus, damit der Doge (gewiss nicht jedermann) Mitleid fühle: ut miserearis.(1). Noch befindet sich Petrarca an der Sorgue, wie das Datum angibt, doch beschäftigt ihn die Frage, ob ihm ein einziger Wohnort als bleibende Stätte genügen könne oder ob für ihn ein regelmässiger Wechsel von Vorteil sein werde. Einige Wochen Neapel, dann einige Wochen Venedig und dann anderswo: Das scheint ihm eine angenehme Vorstellung zu sein. Übrigens hat er schon im Jahr 1351 geschwankt, ob er sich auf immer von Vaucluse trennen könne. Aus einem Brief an den Bischof von Cavaillon konnte man einmal schliessen, er wolle fortan in der Vaucluse weilen; der Brief an Calvo deutete eine gleiche Möglichkeit an; Boccaccio schrieb er, bald komme er zurück, um auf immer in Italien zu bleiben, und einem Luca Cristiani verriet er, der zweijährige Wechsel zwischen Italien und Provence, dieses alternare gelte ihm bereits als eine Gewohnheit (Fam. 11,4; 11,6; 13,2; 11,12). Solche Worte hatten vielleicht jedesmal ein geringes Gewicht; doch wahrte sich Petrarca in der Tat verschiedene Möglichkeiten. Er gab, wie schon angedeutet, sein Gut an der Sorgue nicht auf. Und dass er sich für immer in Venedig oder für immer in Neapel festsetzen würde, gegen einen solchen Gedanken scheint sich sein ganzes Wesen wie gegen einen unerträglichen Zwang gesträubt zu haben. Mit Brief 15,5 wird der Leser, sofern unsere Datierungen stimmen, vom 26. Februar 1353 auf den 3. April 1352 zurückversetzt. Erst im Schreiben 15,14 gelangt er dann erneut zum Zeitpunkt, an welchem ihm (vgl. Fam. 14,8) Petrarcas Abreise nach Italien angekündigt wurde. Folglich ist Clemens VI. noch am Leben. Von den Ärzten, die sich um den todkranken Papst bemühen, hat Petrarca unfreundlich gesprochen, als verstünden sie sich bloss aufs Schwatzen (das sagte schon Fam. 5,19), und sogleich zeigten sich einige sehr erbost über die Beschimpfung, und wenigstens einer – nicht der gescheiteste – hat den Dichter daraufhin angegriffen und, wie man vermuten darf, ihm damit einen Gefallen erwiesen, nämlich einen erwünschten Schreibstoff geboten. Darauf hat Petrarca eine Invektive verfasst, um den neuen Feind von der Dummheit seiner Argumentation zu überzeugen, doch hat er durch seinen Freund, den Abt Pierre von Saint- Bénigne, den Vertrauensmann des Kardinals Guy, vernommen, dass die Herausgabe dieser Schrift verzögert werde (4). Das ist ihm gar nicht recht. Über den Quacksalber (um etwas Besseres kann es sich nicht gehandelt haben) zeigt er sich seinerseits im höchsten Mass aufgebracht, doch hat er sich vorerst zu einer wichtigeren Angelegenheit zu äussern, nämlich zu einer weltpolitischen. Ihm hatte man die Ehre zugedacht, mit dem genannten Freund Pierre und mit verschiedenen anderen Würdenträgern den

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Kardinal Guy de Boulogne zu begleiten, wenn er den Böhmenkönig Karl für dessen Italienzug abhole. Ganz nebenbei vernimmt man das und kann vermuten, es werde sich da um einen weiteren Grund dafür handeln, dass Petrarca seine Abreise aus der Provence noch immer verzögert. Denn wirklich hat man in Avignon gemeint, die Romfahrt Karls stehe unmittelbar bevor, muss nun aber zur Kenntnis nehmen, das längst erwartete Vorhaben des Böhmen werde wiederum aufgeschoben. Wie Petrarca das liest, hält er seine Klage über diese Enttäuschung nicht zurück. Resigniert wiederholt er gegenüber Pierre, was er schon mehrmals ausgeführt hat: Wenn Karl die Kaiserkrone nicht in Rom hole und wenn er nicht den Stuhl Caesars besetze, werde er zum Schaden Italiens, ja der Welt, niemals Kaiser sein. Dass er einmal, nein zweimal sich bemüht hat, König Karl mit Bitten und Beschwörungen zu einer raschen Ausführung des Unerlässlichen zu bewegen, kommt ihm jetzt als der Versuch eines Wahnsinnigen vor; demens ist er gewesen (7). Kaum weiss er in seinem Ärger, ob er sich um Italiens Schicksal überhaupt noch kümmern soll; wozu denn? Sein eigenes Leben läuft bald ab, und noch immer sitzt er in Frankreich! So tönt das, bevor er sich aufrafft, das Schicksal seines Vaterlandes Gott anzuempfehlen (9). Seine Entrüstung über jenen gewissen Mediziner, die in Brief 5 zurückgedrängt wurde, bricht nun heftig in Brief 15,6 hervor. Wie Petrarca tüchtig auf den Gegner einschlägt, tut ihm der völlig Ungebildete in seiner Anmassung beinah leid (5), wie er sich ausdrückt, dies jedoch nur für einen Augenblick. Was die Verzögerung der Herausgabe seiner „Invective“ betrifft, kann er sich aber beruhigen; das Werk wird seine Wirkung nicht verfehlen. Übrigens hat er zum voraus nicht im geringsten gehofft, dem bestimmten Schwachkopf Verstand eintrichtern zu können, und schafft sich daher eine grössere Genugtuung mit dem Gedanken, ein gebildetes Publikum zu belehren und zu belustigen. Vier Bücher füllt er mit seinen Schmähungen. Dabei streitet er, wie er immer wieder beteuert, gegen einen bestimmten Arzt oder vereinzelte Ärzte von der selben Sorte, durchaus nicht gegen alle, aber immerhin gegen jene unter vielen ganz allgemein verbreiteten Irrmeinungen und Missbräuche. Der beste Mediziner der lateinischen Antike, so kann man da lesen, das ist, wie man wissen müsse, Plinius, und eben er werde viel zu wenig beachtet (den römischen Arzt Aurelius Celsus kennt er z. B. noch nicht). Sicheres Wissen fehle den zeitgenössischen Ärzten, so behauptet er weiter; einer echten Wissenschaft dürften sie sich also keinesfalls rühmen; schon gar nicht dürfe man, was sie wissen und treiben, zu den „freien Künsten“ rechnen, es diene ja alles dem Gelderwerb, was die Freiheit und Ehrbarkeit stark beeinträchtige. Blosse ars mechanica (Invect. 1,13) sei das alles, stehe also auf einer ordinären Stufe. Damit beantwortet Petrarca eine Frage, die neu aufgeworfen wurde und ihn besonders ärgert. Denn es gibt nun tatsächlich Leute, die behaupten, die Medizin sei edler als die Poesie (Invect. 1,33 ff.), was natürlich eine völlige Umkehrung der richtigen Ordnung

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menschlicher Werte voraussetzt. Und dass die Mediziner aus der Heilkunst eine Redekunst gemacht haben, ohne von dieser das Geringste zu verstehen (vgl. z. B. Invect. 1,12 und 13; Fam. 9,5) und ohne damit eine Genesung zu fördern, ist so unerträglich, dass es immer von neuem beanstandet werden muss (Sen. 3,8; 5,3; 5,4 etc.), auch vor befreundeten Ärzten, deren Petrarca viele hat, auch solchen, die er denn doch gebildet und höflich nennt, und vor einem, den er sogar als ausgezeichneten Redner rühmt (Fam. 16,6; 22,12). Doch im selben Brief 6 muss er sich noch gegen einen anderen Angriff verteidigen. Einer will unter anderem wissen, er, Petrarca, habe sagen wollen (vgl. Fam. 15,5), der Stuhl Petri stehe in Rom und nirgends sonst. Das ist empörend. Es gilt, was er wirklich gesagt hat; niemand kann wissen, was er sagen wollte. Natürlich muss er für sicher annehmen, dass der an ihn gerichtete Vorwurf von einem Franzosen stammt, von einem Kurialen; ähnliche Anwürfe hat der Italiener in Avignon auch bei anderen Gelegenheiten von seiten der Franzosen vernommen und zurückgewiesen, so in Sine nom. 4 (Aufrufe 184 f.). Seine Neider dort wollen nicht wahrhaben, dass er als sehr patriotisch denkender Italiener in Fragen des Papsttums und der Stadt Rom eine richtige Meinung vertreten könne. Doch kein vernünftiger Mensch kann von ihm annehmen, er sei so leichtsinnig gewesen, sich zu verraten, wenn er sich etwas Gefährliches zu denken erlaubte. Er ist ein viel zu guter Kenner des Kirchenrechts und der kirchlichen Lehren ganz allgemein und sich auch der Risiken einer lockeren Rede allzu klar bewusst, als dass er die Sorgfalt im Formulieren vernachlässigt hätte. Mögen sie doch „delirieren“, wie sie wollen! Er hat gesagt, was er gesagt hat (10). Und länger geht er auf die Sache nicht ein. Während er nun immer weiter in der Provence ausharrt, kann er noch längere Zeit für die Überlegung aufwenden, wo in aller Welt er seinen Wohnsitz wählen solle. Zu den Briefen, die dieser Frage gewidmet sind, gehört auch Brief 15,7, der nicht genauer zu datieren ist, doch höchst wahrscheinlich ins Jahr 1352 gehört. Ein Überblick über die damalige bekannte Welt mit ihren politischen Verhältnissen beweist ihm selber und soll auch den Adressaten Stefano in St-Omer davon überzeugen, dass weder in Italien, noch sonst irgendwo im Abendland, ja auch weder in Asien oder Afrika ein Flecken zu finden ist, wo einem Studienbeflissenen die ihm nötige Ruhe und Freiheit gewährt werden. Wozu er den Adressaten ermuntert, schärft er in erster Linie sich selber ein: Verkriechen muss man sich in seine eigene Behausung und seine Türe vor der ganzen Welt verschliessen, um mit sich allein zu sein (19 f.). In aller Schroffheit wird hier ein Gedanke ausgesprochen, den er in seinem Werk De vita solitaria immer neu und gründlicher, wenn auch milder gestimmt, darlegt. Und bald wird er auch vor Karl IV. die selbe Auffassung wiederholen und sich nicht davon abbringen lassen, das Einsiedlerleben sei die vorzüglichste unter den verschiedenen Lebensweisen. Das allerdings sieht er ein, dass die beste Art sich nicht für jedermann im selben Masse eignet. Das Einsiedlerleben ist

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ihm selber ein nicht immer gleich erstrebenswertes und immer nahes, fast schon erreichtes Ziel, ausser er betrachte es als eine Geisteshaltung, als eine Einsamkeit in medio animi (20). Diese – so meint er – ist von der Aussenwelt unabhängig und bindet an keinen Ort. Und indem er seine Überlegungen niederschreibt, klären und ordnen sich seine alten Vorstellungen und erlauben ihm, einen Wechsel zu neuen zu vollziehen. Am Ende des Briefes denkt er offenbar weniger an eine Verankerung in Vaucluse als vielmehr an eine Trennung davon, wie die fingierte Einsamkeit sie erlaubt. In Brief 15,8 schaut er erneut, jetzt aber recht hoffnungsvoll in die Welt hinaus, obwohl er seine Ansicht von ihrem trostlosen Zustand nicht geändert hat. Seinem Freund Lelio schickt er am 24. April 1352 einen Brief nach Rom (1 ff.), in dem er sein Missfallen an den Zuständen in allen Provinzen nochmals deutlich ausdrückt, doch dann zu einem Entschluss kommt: „Wenn man trotzdem noch leben muss“(7), würde er nirgends lieber sein als in Rom (6). Nebenbei gesagt, hat die Datierung die Frage aufgeworfen, ob dieser Brief Fam. 15,8 nicht etwa Fam. 15,1 vorausgehe. Doch kann das nicht völlig einleuchten. Man müsste dann annehmen, dem vielbeschäftigten Dichter, der mit Lelios Schreibfaulheit zu rechnen gewohnt war, sei die angedeutete Zeitspanne zwischen 24. April (von Fam. 15,8) bis 8. November (von Fam. 15,1), also die Frist von einigen Monaten, als eine überraschend lange Pause im Briefkontakt erschienen. Wie dem sei: In Fam. 15,8,8 bittet Petrarca um Auskünfte über die Lage in Rom, ja er bittet den Freund um einen wohlüberlegten Rat, ob er sich da, wo er immer am liebsten hätte sein und bleiben wollen, sich niederlassen könne und solle (9). Er informiert Lelio über die Einladungen, die er aus Neapel, Paris und andern Höfen erhalten hat, muss aber jeweils anfügen, was er da oder dort zu befürchten hätte, in Neapel die Hitze, in Paris das ihm fremde Wesen und so fort. Erwartet wird er auch in Norditalien (14), so weiss er, und dorthin wird er sich wahrscheinlich wenden, wenn Lelio nach Rom zu kommen abraten sollte. Hierauf ist ihm einen Augenblick lang wieder so zumute, als könnte er auf alle Zeit an der Sorgue verbleiben, um da ein „vollendeter Waldmensch“ zu werden, und das tönt schon fast wie eine Drohung (14), doch ist diese sinnlos, weil Lelio sie gewiss nie ernst nehmen könnte. Sonnenklar ist diesem, dass eine feste Bleibe an der Sorgue gar nicht in Frage kommt. Es fehlt Petrarca (was er doch wohl selber weiss) das meiste, um ein echter oder auch nur halbechter Einsiedler zu sein. Ganz abgesehen davon, dass die ihm auflauernde Melancholie es nicht zulässt, gestattet es auch nicht sein Wunsch nach Umgang mit Freunden, sein angeborenes soziales Pflichtgefühl, sein Bedürfnis, zur Rettung Italiens, zur Bildung der Gesellschaft, zur Gestaltung der Welt so viel beizutragen, als in seinen Kräften liegt. Und im Geheimen nährt er angesichts der politischen Entwicklung jetzt erneut, wie ganz offenkundig ist (vgl. Fam. 15,5), die Hoffnung, Karl von Böhmen werde die Italienfahrt doch noch – und vielleicht sogar bald – unter-

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nehmen, dann aber werde er sich vielleicht irgendwie nützlich machen können (vgl. Fam. 15,5). Und wenn Karl nach Rom kommen und dort den Sitz Caesars einnehmen würde, wie, wenn er dort anwesend wäre! Von solchen geheimen Gedanken verrät er nichts, doch schärft er dem Freund am Ende ein: Halte soviel fest: Habe ich einmal die heilige Stadt betreten, verlasse ich sie niemals mehr. Wenige Tage später schreibt er Lelio aus Vaucluse einen neuen Brief als Fortsetzung, das ist Fam. 15,9. Zwei Fragen beschäftigen Petrarca in erster Linie: Wie wird die Menge, die Öffentlichkeit urteilen, wenn er, der ruhmvolle, allbekannte Dichter, sich in Rom niederlässt? Und wie kann er die Stadt Rom vor jenen Klägern rechtfertigen, die ihm gegenüber behaupten, eben dieses Rom sei Babylon, die von Gott verworfene Stätte, nicht Avignon, wie er behaupte, verdiene diesen Namen, der soviel wie Confusio bedeute. Petrarca muss also „die Königin der Welt“, wie er schon oft getan, – besonders auch in den Briefen Sine nomine – verteidigen und zugleich sich selber, der dieses geschmähte Rom allen anderen Orten vorzieht. Seine Feinde berufen sich auf Augustinus, denn sie wissen, diese herausragende Autorität unter den Kirchenvätern hat Rom als zweites Babylon bezeichnet, und ihnen gegenüber muss Petrarca darstellen, was Augustinus damit ausgesagt hat. Rom, ein zweites Babylon, das hiess, dass die Machtfülle der östlichen Königsstadt an Rom überging, ja dass Rom darüber hinaus von Gott den Auftrag erhielt, die ganze Welt (nicht bloss den Osten) zu unterwerfen (7 ff.), dabei die ungeordnete Vielfalt, die Confusio, die mit dem Wort Babylon bezeichnet werde, zu überwinden, und der Vermischung von Kulturen und Religionen ein Ende zu setzen. Rom habe diesen Auftrag erfüllt, als es sich für das Christentum entschied (17), die Götter verjagte und alles dem Christentum unterordnete. Damit war dargelegt, dass Augustins Meinung über Rom keinen Vorwurf enthielt oder dass der Vorwurf längst seine Berechtigung verloren hatte. Mit diesem Kirchenlehrer verständigt sich Petrarca wie immer leicht, doch muss er sich in einem zweiten Teil des Briefes auch mit Hieronymus auseinandersetzen und zeigt dabei (15 ff.) einige Kampflust bei etwas verringerter Ehrerbietung. Was will dieser Kirchenlehrer der Stadt Rom denn vorwerfen, wenn er feststellt, das Kapitol sei oft durch Blitze vom Himmel getroffen worden, so fragt er herausfordernd und erklärt: Das kommt ja weniger von Gottes Zorn als von der Natur (19), wobei das „weniger“ doch wieder seine übliche Vorsicht ausdrückt, weil er eine Kundgebung Gottes durch Naturerscheinungen nicht rundweg zu leugnen vermag (vgl. Fam. 15,3). Mit einiger Keckheit spottet er dann über eine gute Zahl abergläubischer Bedenken, die ein Donner oder Erdbeben da und dort und zu verschiedener Zeit hervorgerufen hat, mildert allerdings seinen Widerspruch gegen religiöse Deutungen und seine natürlichen Erklärungen wiederum ganz regelmässig mit einschränkenden „fast“ oder „eher“, und ist trotz dieser theoretischen Vorsicht persönlich von allen religiösen Ängsten gerade jetzt, wo er nach Rom gehen will,

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durchaus frei. Vom göttlichen Auftrag Roms ist er so fest überzeugt, dass ihm alle seine Sehnsucht nach der Königsstadt eben deswegen edel, ja heilig vorkommt. Er wird sich da geborgen fühlen und vor keinem Blitz sich fürchten, ja er wird eben da, wie er sagt, in Gottes Hand sein (26–27). Aber noch immer ist er in Vaucluse. Und bei dieser Angabe braucht man sich um die Frage, ob der Brief richtig datiert sei, nicht sonderlich zu kümmern; besser ist, Petrarcas Anordnung der Briefe gelten zu lassen, selbst wenn man damit möglicherweise auf eine (beabsichtigte?) Täuschung hereinfällt. Man kann sich vorstellen, und soll das wohl wirklich tun, dass die vorausgehenden Schreiben und auch dieser Brief 15,10 in der Zeit nach jener ersten rasch abgebrochenen Abreise verfasst wurden, nämlich als er sich erneut in Vaucluse so gut wie möglich versteckt hielt, um sich doch bald – wiederum von Freunden unbemerkt – davonzumachen. Es kann aber auch sein, dass das Schreiben 10 in die Zeit vor den genannten Reiseversuch fiel, denn da hatte er in Vaucluse auch schon versteckt gelebt. Jedenfalls sagt der Brief, er verkehre mit dem Bischof von Cavaillon und auch wieder mit Ponzio Sansone, dem Vorsteher der Kirche dort, von dem er sich schon einmal verabschiedet hat. Er ist jetzt dankbar für ein Angebot, sich im Haus des Geistlichen sogar in seiner Abwesenheit der einen und andern Sache bedienen zu dürfen (1). Vielleicht benötigt er gerade jetzt eher als früher eine Leihgabe; möglich ist ja, dass die vorausgeschickten Diener von seiner Habe schon manches mitgenommen haben (Fam. 15,2 und 3), was ihm jetzt entgegen aller Erwartung fehlt. Seine Bücher allerdings hat er noch bei sich (oder zurückgebracht), aber so ganz zu Hause fühlt er sich nicht mehr, weil da Aufbruchstimmung herrscht. Was übrigens mit seinem anhänglichen Hund geschehen wird (Fam. 13,11), wenn er Vaucluse verlässt, kann man nur vermuten. Der hat sich mittlerweile wohl an die Familie des Wirtschafters gewöhnt. Aber noch immer ist er Petrarcas treuer Begleiter, und schon in Brief 12 wird er nochmals erwähnt. Von den Unstimmigkeiten, die bei einem Vergleich zwischen den Anordnungen der Briefe und ihren Inhalten hervortreten, lassen sich manche wohl nie beheben oder erklären. So ist manches auch im Schreiben 15,11 nur dann begreiflich, wenn es vor dem Schreiben 2 (mit der Schilderung der in Cavaillon verbrachten Regennacht) verfasst worden ist. Mehrere Auskünfte in diesem Brief 11 haben keinen Sinn, wenn sie später geschrieben wurden als Brief 2. Denn der Adressat von Brief 2, der Bischof von Cavaillon, hat in jener abenteuerlichen Regennacht schon alles erfahren, hat also nicht nötig, sich in Brief 11 über die Verhältnisse des Dichters, über seine Rückkehr in sein Versteck und seine Pläne unterrichten zu lassen. Wichtig ist, dass er sich einprägt: Petrarca lebe in Vaucluse versteckt und wolle von niemand entdeckt werden. So ernsthaft wie scherzend wird er durch Petrarca vor jedem leisesten Verrat gewarnt. Würde er versagen, müsste er eine Strafe erdulden, wie man sie in Märchen, in fabulis vernimmt; das heisst: Petrarca würde entschwinden.

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Doch während dieser die Warnung ausspricht, weiss er, dass der Freund jetzt so zuverlässig sein wird, wie er eh und je gewesen ist und selbst in schwierigeren Augenblicken zu sein pflegt. Von seinem Vertrauen zu ihm spricht Petrarca erneut in Brief 15,12. Der Bischof wird mit verschiedenen Gaben beschenkt, so mit einer Forelle und zudem mit einer Ente, die der unglaublichen Behendigkeit des mehrmals erwähnten Hundes zu verdanken ist (1). Doch er wird auch gebeten, Ausführungen zu lesen, die dem Verfasser (wie dem Empfänger) gefährlich werden könnten, und deshalb soll er sie sogleich mit einer Beurteilung zurückschicken. Kein Zweifel: Ein Brief sine nomine wird ihm zur Begutachtung vorgelegt. In Brief 15,13 von Mitte Dezember wird der Bischof um einen ähnlichen Dienst und Rat gebeten. Doch von einer Bedenklichkeit kann nicht mehr die Rede sein. Petrarca zeigt dem Freund eine Abhandlung, weil er seiner Fähigkeit misstraut, einen Priester, der im Ruf der Heiligkeit steht, so zu ehren, wie er es verdient. Ob er auf des Bischofs Ratschlag Änderungen vornahm oder nicht: Jedenfalls ist der nächste Brief 15,14 nichts anderes als eben dieses Erzeugnis von Petrarcas Feder und bildet den prunkvollen Abschluss von Buch 15. Gewürdigt wird darin der Bischof Ildebrandino Conti von Padua, der kurz zuvor, am 2. November 1352, gestorben ist. Er gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeit seiner Kirche, und Petrarca hat mit ihm – als Kanoniker der genannten Stadt – einst vertrauten Umgang pflegen dürfen. In diesem Nekrolog zuhanden der Geistlichkeit von Padua zeichnet der Dichter das Ideal eines Gottesverehrers und Seelenhirten. Ildebrandino, der während seines Lebens auf Erden dank seiner Gottesverehrung schon im Himmel gelebt hat, ist zur gleichen Zeit ein treu besorgter Hirte seiner Herde gewesen und hat sich mit letzter Hingabe und Weisheit um sie gekümmert. Noch in seinem Tod ist er nicht um sich, sondern einzig um die ihm Anvertrauten besorgt gewesen, indem er an der Kurie den denkbar geeignetsten Mann zum Vorsteher für seine Kirche zu gewinnen unternahm (19 ff.). Diese Sorge für einen guten Nachfolger zu unterstreichen, ist Petrarca besonders bemüht. Allzu häufig wird sie vernachlässigt; das weiss er dank seinen Erfahrungen, und er kennt auch die bösen Absichten, die ein solches Versagen fördern. Doch es drängt ihn (30 ff.), von seinen eigenen Begegnungen mit dem Hochverehrten zu sprechen. Er hat dessen Zuneigung in manchen Gesprächen erleben dürfen und bereut zu spät, dass er eine seiner Ermahnungen nicht beachtet hat. Als die Kurie ihn nach Avignon zurückrief, bat ihn der Bischof von Padua dringend, nicht darauf zu hören (34); doch er ging hin und schrieb später dem Freund voller Scham von dieser seiner Unvernunft (vgl. Sine nom. 8). Wie er sich der päpstlichen Anordnung hätte widersetzen dürfen, sagt er nicht. Die Autorität des Heiligen hätte ihm zur Entschuldigung zweifellos genügt. Und sicher ist, dass sein neuer Aufenthalt in der Provence mit verschiedenen üblen Folgen auch die bescherte, dass er den alten Priester entgegen seiner Erwartung nicht wiedersah. Das alles berichtet Petrarca mit Worten grosser Verehrung und mit solchen

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des Dankes für viel gütiges Verständnis. Trotz aller Wortkunst, deren er sich bedient, ist sein Lob von überzeugender Ehrlichkeit. Und selten ist wohl ein Heiliger ausser mit christlichen Vorbildern auch mit so mancher heidnischen Idealgestalt rühmlich vereint und verglichen worden. Zudem hat Petrarca in diesem Heiligenleben eine schöne Verbindung von vita activa und vita contemplativa dargestellt. Er hat sie freilich nicht bewusst zum Thema gemacht, sie zeigt sich in seinem Nekrolog wie von selbst.

Das Buch 15 wirkt in sich einheitlich. Es umfasst einen Zeitraum von ungefähr Dreivierteljahr und zeigt einen Unentschlossenen, der seine Reise nach Italien abbricht und sich darauf mit der Frage beschäftigt, wo er einen geeigneten Wohnsitz finde, um seinen Studien nachzugehen, dabei am liebsten an Rom denkt. Überall meint er eher verweilen zu können als im neuen „Babylon“; doch auch in Italien und allerorten erkennt er Unruhen, die grösste in sich selber und bezeichnet diese als Krankheit. Auf Angriffe eines Mediziners antwortet er mit Invektiven, und auch gegen Vorwürfe gewisser Franzosen verteidigt er sich. Die Hoffnung, mit Kardinal Guy de Boulogne Karl IV. abzuholen, zerschlägt sich. Er lebt versteckt in seiner Einsiedelei und pflegt da den Umgang mit dem Bischof von Cavaillon, dem er Schriften zur Begutachtung vorlegt. Eine von ihnen ehrt den verstorbenen Bischof Ildebrandino von Padua. Bei aller bewussten Absonderung wünscht er doch weiterhin, am Leben der Gesellschaft und an der Politik beteiligt zu sein, wie auch Buch 12 für das selbe Jahr beweist.

In Buch 16 dient Brief 1 wie alle Schreiben der selben Zahl der Auszeichnung einer bestimmten Person oder Sache. Er berichtet von einem Verlust in Vaucluse unter dem Datum: Avignon, am 5. Januar (1353). Petrarca, der in seinem Winkel aufgespürt worden ist, hat sich erneut an die Kurie begeben müssen, und kaum dort angelangt, wird ihm der plötzliche Tod seines Wirtschafters gemeldet. Es ist jener tüchtige Mann, der in Fam. 13,8 höchstes Lob empfangen hat. Seither ist etwa ein halbes Jahr vergangen. Die Bitte um Urlaub, die Petrarca sogleich an die beiden Kardinäle Guy und Talleyrand richtet, liegt uns zweifellos nicht in der ursprünglichen Fassung vor, die wie jeder Notruf das Wichtigste in eine knappe Formulierung zusammenfassen musste, sondern in einer Überarbeitung, die im ersten Teil den beiden Prälaten die Genehmigung so geistreich scherzend nahelegt, dass sie nicht allein geneckt, sondern geradezu belustigt sein mussten. Aber im zweiten Teil steht ein schönes Gebet und ein dankbarer Nachruf auf den hochgeschätzten, überaus zuverlässigen und klugen Diener. Er hat Petrarca manche Stunde erleichtert,

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und zwar nicht zuletzt mit seiner ehrfürchtigen Sorge für Bücher, ja mit seiner kindlichen Freude an ihnen. Sehr oft hat Petrarca über Diener wie über eine wahre Last geklagt; doch das darf nicht zur Annahme verleiten, er habe nie gute gefunden oder er habe keinerlei Verständnis für sie aufgebracht. Er war gewiss selber im Umgang mit ihnen schwierig, aber aufs Ganze gesehen eher zu nachsichtig und weich, allein schon deshalb unfähig, sie im Zaum zu halten. Sein psychologischer Spürsinn pflegte ihn diesen einfachen Leuten gegenüber im Stich zu lassen. Um so kostbarer war für ihn ein rühriger Helfer und kundiger Ratgeber, als welcher der Verstorbene sich bewährte, und als ein Glück musste er es ansehen, dass jetzt dessen Söhne die Leitung des kleinen Gutes übernahmen. Weiter zurück liegt die Begebenheit, die Brief 16,2 von Ende 1352 festhält. In Gedanken kehrt Petrarca zu Bischof Ildebrandino zurück (vgl. Fam. 15,14); er sitzt wieder in dessen Stube und begegnet da zwei Kartäusern, die, ohne ihn zu kennen, vieles aus der Pestzeit, vor allem viel Rühmliches von Gherardo berichten, wie dieser seine Ordensbrüder umsorgt und zu Grabe getragen und wie er schliesslich als einziger Überlebender das Kloster vor Räubern bewahrt und darauf neu begründet habe. Gross war da am Ende des Berichts die Überraschung der Erzähler, als sie im unbekannten Zuhörer den Bruder des von ihnen gelobten Ordensmannes entdeckten. Petrarca selber musste, da er von soviel wunderbarer Selbstaufopferung und von einer fast unglaublichen Errettung seines Gherardo hörte, um so heftiger danach brennen, ihn, den ohnehin Geliebten und lange nicht Gesehenen, am Ort seines asketischen Lebens zu besuchen. Was er längst im Sinn hatte, vor seiner Italienreise sich nach Montrieux zu begeben (vgl. Fam. 15,2), das auszuführen konnte er nun nicht mehr lange aufschieben. Doch inzwischen bringt ihm sein Versteck im Abseits nur halb so viel Nutzen als er hätte hoffen mögen. Brief 16,3 vom 28. März 1353 gibt zu verstehen, dass es Freunde gibt, die es noch nicht lassen können, ihm einträgliche Stellen anzupreisen. Ihre Zähigkeit wirkt nun wahrhaftig erstaunlich, da man bei ihm bisher nichts anderes erreichte, als eine immer schroffere Ablehnung. Er hat alles, was er braucht; er hat so viel, dass selbst der Kaiser nicht mehr hat (5). Zu seinem Wohlergehen rechnet er den Umstand, keine Feinde zu haben, doch dann besinnt er sich auf eine Weisheit, an die er oben in Fam. 14,4 nicht denken wollte: Keine Feinde und Neider zu haben, das wäre ungesund. Man benötigt sie, um sich an ihnen blank zu reiben. Denn da gibt es eine gewisse Analogie zwischen den Bedürfnissen der Individuen und denen eines Staatswesens (16,3,7; vgl. 5,11,3; 12,2,5; 14,5,7 etc.); unangefochtene Ruhe schadet; das hat jeder zu bedenken. Jetzt aber ist Petrarca eine andere Einsicht wichtiger; diese muss den Freunden, die sich als Feinde aufführen, eingebleut werden. Sie kreist um das Verlangen nach Wohlstand, und sie lehrt, so betont er, dass das Bedürfnis nach Habe allen, die es hegen, nichts Besseres als ein stets wachsendes Verlangen und eine immer grössere Unruhe beschert, ihnen

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dadurch zur unablässigen Folter wird. Solche und ähnliche Überlegungen Petrarcas zur nämlichen Sache kennt man längst; er variiert sie immer neu und spricht jetzt vor seinen Freunden kurz und präzis, ja feindselig aus, was er anderswo weitschweifiger, doch als nüchterne Theorie darlegt (Fam. 8,4,27 f.; 11,5,1; 20,14,19 ff. und oft). Man soll ihn in Ruhe lassen; er darf nach seinem eigenen Verständnis „reich“ sein. Da wird ihm gar noch verkündet, vom neuen Papst Innozenz VI. dürfe er Bedeutendes erwarten; denn dieser „liebe die Guten.“ Nach solcher Beteuerung kann der Dichter seinen Brief nur unwirsch schliessen; denn was geht ihn das alles an! Er will nichts! Und er gehört nicht zu den „Guten“! Man wird nicht vermuten, er habe in seinem Versteck in der Erwartung günstiger Umstände zum Abreisen weniger emsig gearbeitet als sonst. Er beschäftigt sich offenbar wechselweise mit mehreren seiner einst begonnenen Werke, so mit De viris illustribus, De vita solitaria, De otio religioso, und dass er nicht vorzugsweise tadelt und Kritik übt, ergibt sich aus seinen mit grosser Liebe geschriebenen, oben genannten Episteln über das Leben von Ildebrandino, über die Zuverlässigkeit seines Verwalters, die fromme Nächstenliebe seines Bruders und anderes, wozu auch die nun folgende, in 16,4 vom 29. März 1353 festgehaltene tiefsinnige Darlegung eines Kernstücks christlichen Glaubens gehört. Er hat das Verlangen, einem Freund bedenkliche Grübeleien auszutreiben. Unerträglich sei es, so betont er, etwas leugnen zu wollen, was in Tat und Wahrheit längst geschehen ist. Gott hat gezeigt, dass er den Mensch retten kann und will (3 ff.). So erbärmlich der Mensch auch sein mag, Gottes Erbarmen und Macht sind stets grösser. Eine schwerere Schuld gibt es nicht, als die offenkundige, die rettende Macht und den gnädigen Willen Gottes zu bezweifeln (18 f.). Das in einem möglichst guten Latein auszusagen, muss Petrarca ein wichtiges Ziel gewesen sein, obwohl er das nicht hervorhebt. Sein noch wichtigeres Anliegen besteht darin, christliche Offenbarung ehrfürchtig im biblischen Sinn zu deuten, also nicht wie zeitgenössische Theologen nach der Art moderner Philosophen zu spekulieren. Das drückt er hier allerdings ebenso wenig aus, er handelt einfach danach und äussert sich anderswo darüber (Fam. 16,14,12; 17,1, 5 ff.). Dort heisst es, die Theologen hätten ihre Wissenschaft zur Dialektik der üblen Art verkommen lassen und an die Stelle von Gottesweisheit menschliche Torheit gesetzt. Als gläubiger Christ will also Petrarca das vermeiden, und wo er die richtige Haltung und die gute theologische Redensart finden kann, weiss er: Teils in der Bibel selber, nämlich vor allem in den Psalmen (vgl. Fam. 22,10,7), dann auch bei seinem verehrten Lehrmeister Augustinus. Von ihm, als dem tüchtigsten Deuter eben der Psalmen, zitiert Petrarca in seinem Brief 16,4 entscheidende Sätze, wie er sie für seine Unterweisung selbstverständlich benötigt. Denn wie vertraut ihm David auch geworden ist (den er für den Dichter des ganzen Psalteriums hält), so würde er sich doch niemals anmassen, den allegorischen Gehalt seiner Gesänge ohne die Anleitung eines überragenden christ-

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lichen Kirchenlehrers ergründen und die eigene Deutung wie eine Autorität vortragen zu wollen. Im Besitz von Augustins gewaltigem Psalmenkommentar ist er freilich im Jahr 1353 noch kaum. Es vergehen wohl zwei Jahre, bis er ihn zu seiner überschwenglichen Freude von keinem geringeren als Boccaccio geschenkt erhält (Fam. 18,3). An den Brief mit theologischem Inhalt fügt er in Brief 16,5 vom März 1353 einen moralisierenden. Was er darlegt, betrifft einen Grundpfeiler seines persönlichen Lehrgebäudes oder eher das Salz für seine vulgärphilosophischen Speisen. Kaum dass er mit einem Gedanken daran streift, und das geschieht sehr oft, gerät er in einen Eifer, der sich in die Materie zu verbeissen droht, denn jedem Leser soll die eminent wichtige Einsicht zu seinem grossen Vorteil eingetrichtert werden, dass sie bis in die Knochen geht. Besonders freundlich wirkt es nicht, wenn er nun einem Genesenden, der eben wieder wagt, sich seiner neuen Gesundheit zu freuen, unvermittelt einschärft, selbst jetzt, wo „Du ins Leben zurückzukehren meinst“, eilst Du dem Tod entgegen (1). Denn so ist es: Wir alle eilen ohne geringsten Aufenthalt, ob wir wollen oder nicht, nein wir rennen stets in der selben Richtung, und nur kurz ist die Lebensstrecke, gleich sind wir an ihrem Ende; und der Tod kommt uns entgegen, unausweichlich (vgl. z. B. Fam. 1,3,2 f.; 4,12,29 ff.; 8,4,14 ff. 24,1–21). Wenn Petrarca seinen Freund aufschrecken wollte, wusste er gewiss, dass er es ihm zumuten durfte. Dies um so mehr, als seine Warnung nur eine Vorbereitung zu einem, nein zum einzigen wahren Trost bedeutet: Was wir Leben heissen, ist ja blosses Sterben, hingegen ist das, was wir Sterben nennen, das Tor zum Leben, zum einen wahren und ewigen. „So pflege ich zu sagen“, heisst es am Schluss (5); und er hat recht, das pflegt er zu tun. Denn er ist überzeugt, darin steckt die Wahrheit, die dem sterblichen Menschen das Leben auf dieser Welt erträglich macht. Vollkommen echt ist seine Erleichterung, ja Freude jedesmal, wenn er hört, dass sich jemand den Tod zum Freund erkoren hat (Fam. 23,5,4). Sobald einer das erreicht, braucht Petrarca für ihn nichts mehr zu befürchten. Obwohl das nächste Schreiben Fam. 16,6 vom 15. Februar 1353 völlig anderer Art ist, lässt sich denken, Petrarca habe es, ohne auf Chronologie zu achten, bewusst an Nr. 5 angereiht. Es hat immerhin mit dem vorangehenden das Eine gemein, dass es sich an einen Genesenden wendet. Diesem, einem Bischof von Viterbo, kann Petrarca jedoch nicht mit der erwähnten Lehre vom Tod unvermittelt auf den Leib rücken, das könnte schlimme Folgen zeitigen. Er hat nicht einmal die Gewissheit, wie weit die Genesung des Angesprochenen gediehen ist; denn er muss sich auf blosse Gerüchte und auf eine Mitteilung stützen, die der Vater des Adressaten ihm gemacht hat. Dieser ist Arzt in Avignon und steht ganz offensichtlich mit Petrarca in freundschaftlicher Beziehung, denn den Ärzten ist Petrarca, wie schon angedeutet, nicht grundsätzlich feind. Er kann sagen: „Die Ärzte, meine Freunde“ (Sen. 3.5; vgl. etwa Sen 3,8; Fam. 22,12), was ihn natürlich nicht davon

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abhält, von ihnen unter Umständen keine Hilfe zu erwarten, sondern einzig auf Gott zu vertrauen (ebenda). Der uns unbekannte Arzt in Avignon, so weiss nun Petrarca dem Sohn in Viterbo zu melden, beeilt sich eben, von Angst beflügelt ihn aufzusuchen. Seine Bedenken hat er auf den Dichter übertragen, ihn wohl auch ausdrücklich gebeten, an den jungen Mann zu schreiben. Aufmuntern soll ihn Petrarca und ihm gute Ratschläge erteilen. Wirklich gibt sich der Dichter alle Mühe, aus seinem Saiteninstrument wie einst ein David vor König Saul immer neue und schönere Töne hervorzulocken, hoffend, den Kranken aus seiner Schwermut – denn an eine solche muss er denken – herauszulocken. Zögernd bringt er sogar ein kurzes Wort des Mitleids hervor, das in seinen Trostworten stets sparsam verwendet wird (8), um jedoch sogleich daran zu erinnern, dass eine herzhafte Aufforderung zu gesunder Selbstschätzung und zu mutigen Taten weit richtiger sein könnte (12). Am Ende bemüht er sich, dem Genesenden mit einer wunderbaren Anpreisung seiner Einsiedelei eine Einladung dahin schmackhaft zu machen. Petrarca und sein Freund Sokrates freuen sich längst auf seine Ankunft und werden versuchen, ihm angenehme Gastgeber zu sein. Liest man im Brief überdies, was alles der Bischof in Vaucluse nicht zu befürchten hat, errät man leicht, was diesem in Viterbo unerträglich geworden ist. Es herrschen da offene Kämpfe und heimliche Intrigen. Für das Amt ist der Adressat wohl ohnehin zu jung, vielleicht dafür auch zu wenig begabt. Die Hilfsbereitschaft Petrarcas ist aber um so höher anzuschlagen, als er eigentlich für gar nichts Zeit hat und am liebsten schon abgereist wäre. Er weiss wohl nicht recht, was er sich auferlegt, fragt auch nicht darnach, denn der Kranke tut ihm wirklich von Herzen leid. Er will für ihn alles tun, was in seinen Kräften steht. Eine Fortsetzung der Geschichte erfährt man in Brief 16,7 vom 1. April 1353, der an Sokrates abgeht. Der geladene Bischof trifft tatsächlich in Vaucluse ein, und Petrarca beschreibt ausgezeichnet, wie er ihn empfängt, ihm alle erdenkliche Aufmerksamkeit schenkt, auf seine Wünsche umsichtig eingeht (2) und unverzüglich gegen alle Erwartung erlebt: Der Gast ist verschwunden, er ist unauffindbar. Jetzt vergeht er vor Angst und berichtet die Geschichte eben in diesem selben Brief 16,7 nach Avignon und hat nur eine Frage: Wo ist er? Dass seine Schilderung vollkommen wahrheitsgetreu ist, das leuchtet dem Leser ein, und dennoch ist dieser Brief an Sokrates in der Fassung, wie er vorliegt, auch wieder ein Kunstprodukt, das erst entstand, als dieser Freund bereits über alles unterrichtet war und Petrarca auch. Selbstverständlich hat der Dichter in seiner Angst nur rasch eine Notiz hingekritzelt und sie einem Boten aufgedrängt, der nach Avignon eilen und mit einem mündlichen Bericht die nötigen Massnahmen veranlassen sollte. Hierüber vernehmen wir nichts, auch nichts über den weiteren Verlauf der Krankheit. Moderne Psychiater werden vielleicht sagen, selbstverständlich habe es so kommen müssen. Aber auch Petrarca ist, so legt sein Schreiben nahe, wiewohl ob der drohenden Gefahr entsetzt,

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dennoch nicht wirklich erstaunt über den Misserfolg. Er hat sich um einen Versuch nicht herum drücken und die Hoffnung für den Kranken nicht vorzeitig aufgeben wollen. Denn es war gewiss so, wie er sagte: „Je härter sein Schicksal, desto liebenswerter der Mann“ (1). Der Bischof hat weitergelebt, doch wir wissen nicht wie. Nach so manchen Berichten über Erlebnisse, die den Dichter noch immer in der Einsiedelei festhalten, vernimmt man endlich im Brief 16,8 vom 24. April 1353 fast erleichtert, dass er sich aufgemacht hat und nach Italien unterwegs ist. Zu seiner freudigen Überraschung kommt ihm eine beträchtliche Schar Frauen entgegen, von denen er schon von weitem weiss: Diesen Gang und diese Gestalt haben nur die Römerinnen. Er spricht sie an; und alles, was er an ihnen sieht und von ihnen hört, beglückt ihn: ihr natürlicher Anstand, ihre Zutraulichkeit und Klugheit, ihre Auskunft über die Lage in Rom, auch über seinen Freund Lelio, der ihnen bekannt ist. Endlos hätte er mit ihnen plaudern wollen (3 ff.). Von ihm etwas anzunehmen, das weisen sie freundlich zurück; auch das ist echt römische Art. Nur beten soll er für ihre glückliche Heimkehr. Sie verabschieden sich, und er erwacht wie aus einem Traum; ihm ist, als hätten die edelsten Frauen der Antike vor ihm gestanden (9). Gewiss, um sich von einer solchen Begegnung so begeistern zu lassen, muss man ein Petrarca sein. Ihm verwandelt sich die Antike immer leicht in Gegenwart, er kennt sie vorzüglich mit Verstand und Herz, und in seiner Phantasie verklärt er sie wunderbar. Vor allem jetzt, wo die Reise nach Italien schon heran rückt, wirkt eine Vorfreude mit und befähigt ihn erst recht, das ersehnte Rom sich vor die Augen zu zaubern. Deshalb erhält diese einfache Begegnung auch so hohen Wert, dass sie unter den sorgfältig ausgewählten Familiares einen Platz finden kann. Nicht das geringste Erstaunen äussert er darüber, dass die Frauenschar, die doch schon eine lange Strecke zurückgelegt und eine lange noch vor sich hat, weder von Geistlichen noch Mönchen begleitet ist. Man wird sich vielleicht fragen, ob er „Emanzipierte“ vor sich hatte. Doch gehörten die Pilgerinnen wahrscheinlich einer religiösen Gemeinschaft an und hatten sich genügend darauf vorbereitet, den touristisch gut erschlossenen Pilgerweg allein zu wagen. Ungewöhnlich war das im Mittelalter – trotz vielen Verboten – nicht. Doch könnte auch sein, dass Petrarca den Mönch oder Priester geflissentlich übersah; das antike Bild hätte er nur gestört. Und nicht dass er jetzt nach Italien weitergereist wäre. Er schreibt von dieser Begegnung, die noch auf französischem Boden stattfand, wiederum an der Sorgue. Er hat nur seinen geliebten Bruder besucht (10 f.), was mehrere Tage beanspruchte (vgl. Fam. 18,5,7). Immerhin ist er jetzt entschlossen, so unverzüglich zu reisen, dass er jeder noch so leisen Gefahr eines Aufschubs zuvorkommen könne (8). Etwas Wichtiges erledigt er allerdings noch vorher. Wenn er in der Epistel 16,9 vom April 1353 über die ihn beglückenden Stunden in der Mönchsgemeinschaft von Montrieux nur kurzen Bescheid gibt, nimmt er sich um so längere Zeit, um von der höchst misslichen Lage des Klosters zu berichten, und zwar nicht an

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irgendeine Adresse, sondern an die einzig richtige, einzige hoffnungspendende. Er wendet sich an den Hof von Neapel, freilich nicht direkt an den König, sondern an seinen Humanistenfreund Zanobi da Strada. Dieser soll dafür besorgt sein, dass Petrarcas Brief in die Hand von Acciaiuoli und durch diesen weiter hinauf bis zum Thronfolger jenes Anjou gelange, auf dessen provenzalischem Boden zwei Genuesen das Doppelkloster einst gegründet hatten. Den Schutzbrief, von Carlo II., König von Sizilien, der frommen Gemeinschaft ausgestellt, hatte diese später in friedlichen Tagen – ein klassisches Beispiel für die Art von Rechtsverlusten – infolge ihrer kurzsichtigen Vertrauensseligkeit nicht erneuern lassen. Das müssen die Kartäuser jetzt sehr büssen. Denn an Räuberbanden, von deren Unwesen schon in einem früheren Schreiben berichtet wurde, ist die Gegend noch immer äusserst fruchtbar, „feracissima“ (vgl. Fam. 16,2,7), und frechste Übergriffe auf klösterliche Güter erlauben sich auch die ringsum angesiedelten Herren (wie früher sogar die Kirche von Marseille), ohne das Geringste befürchten zu müssen. Wie viel oder wie wenig nach dem Pestjahr und während der Anfangskrisen im Hundertjährigen Krieg, wo in der kirchlichen wie weltlichen Gesellschaft die Verwahrlosung überhandnimmt, ein Schutzbrief der Anjous nützen könne, mag sich auch Petrarca gefragt haben. Er tut jedoch für seine Klosterfreunde, was immer er vermag und dies mitten unter Geschäften, die ihn beinah erdrücken. Er hat das Glück gehabt, diese „engelgleiche“ Gemeinschaft (8) zu besuchen und hat feststellen müssen, was er nie hätte vermuten wollen, dass auch sie nicht reine Himmelsfreuden geniessen. Erst im letzten Augenblick vor dem Abschied haben die Mönche von der grossen Bedrängnis durch ihre Feinde gesprochen. Es sind „äussere“, wie man sieht, und einige Anfeindung von aussen haben vielleicht auch Kartäuser nötig, damit im Klosterinnern eitel Frieden herrsche. Petrarca aber erkennt ein Übermass an Missetat, dem ein Ende gesetzt werden muss. Was er in Neapel mit seiner Bittschrift erreicht, hält er in den Familiares nicht fest. Doch arbeitet er jetzt und noch später an seinem Werk de otioso religioso, und von den Erlebnissen in Montrieux (vgl. Fam. 10,3) muss man darin einen Widerschein entdecken können. Einen erdrückenden Haufen von Geschäften erwähnt Brief 16,10 vom 28. April 1353, der wiederum an Zanobi abgeht. Petrarcas Kraft ist am Ende, so gibt er zu verstehen. Einen Brief kann er nie dort beenden, wo er ihn anfängt; stets wird er weggerufen. In Neapel soll man ihn also entschuldigen, wenn er sich von einer Verpflichtung freispricht (1–3). An eine ganz ungewöhnliche Überbeanspruchung hat schon im vorangehenden November eines seiner Schreiben (Fam. 14,8) erinnert; und darauf hat die Belastung offenbar noch zugenommen. An der Kurie hat der Tod von Clemens VI. einen Streit um Reformpläne entfacht, dann zu Vorbereitungen einer schwierigen Papstwahl, zur Wahl selber und zu einem überraschenden Regierungsanfang von Innozenz VI. geführt. Währenddessen besitzt Petrarca kaum die Möglichkeit, sich Aufträgen seiner beiden Kardinäle zu entziehen, wenn sie

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seine Dienste beanspruchen. Sie sind auch geneigt, ihn dem neuen Papst zu empfehlen, doch diesem Ansinnen weicht er aus (Fam. 16,3,11; Sen. 1,4); dem Reformeifer von Innozenz misstraut er vorerst, und hinter seiner Jurisprudenz vermutet er Mangel an Bildung. Dass gewisse unfreundlich gesinnte Kardinäle ihn wegen seiner Vergillektüre als Magier verschrien und Gehör gefunden haben, das kann er nicht vergessen (Sen. 1,4; 1,2; Wilkins, Studies 104); kurz: Das Mass ist voll. Überdies tönen Berichte aus Italien jetzt günstiger. In etwa acht Tagen wird sich Petrarca auf den Weg machen, das ist sein fester Entschluss, den teilt er Zanobi mit. Und was alles schliesst doch seine Bemerkung ein, die weitaus grösste Mühe berechne er für die letzte Vorbereitung, nämlich gut die Hälfte der ganzen Reisezeit! Man male sich die Fuhre und Karawane aus, die eine Alpenüberquerung bestehen und dabei jede Art Wetter gewärtigen muss, überdies an einem nicht klar bestimmten Ort alles, was zur dauernden Niederlassung nötig ist, abladen soll. Doch vieles, auch einen geringen Teil seiner Bibliothek, lässt Petrarca noch jetzt in Vaucluse zurück. Den Söhnen des verstorbenen Wirtschafters kann er sein Haus und seine Gärtlein anvertrauen; ab und zu wird aber auch Sokrates in Vaucluse nach dem Rechten schauen und etwa auch selber Hand anlegen. Die Hoffnung, die liebe Einsiedelei eines Tages wieder aufzusuchen, hält Petrarca wach. Doch das Schreiben an Zanobi, eben Fam. 16,10, ist das letzte, das er in der Provence verfasst und abschickt. Wirklich, die nächste Epistel aus der Sammlung Familiares sendet er in Italien ab. Es ist Brief 16,11 mit dem Datum Mailand am 23. August (1353). Zum Adressaten hat er Francesco Nelli, und ein Hiat von etwa vier Monaten trennt ihn vom vorausgehenden. Die genannte Zeitspanne lässt sich nur dürftig mit einer kurzen Meldung überbrücken, die im Brief Var. 7 wohl vom Mai zu lesen ist und wahrscheinlich ebenfalls für Nelli bestimmt war, wenn sie sich nicht an Zanobi richtete. Petrarca meldete in wenigen Zeilen, er habe sehr gehofft, von nun an mit seinen Freunden zu leben, doch sei er vom Erzbischof Giovanni, dem Stadtherrn von Mailand, so völlig überraschend wie eindringlich gebeten worden, er möge sich bei ihm niederlassen, dass eine Ablehnung völlig ausgeschlossen gewesen sei. Musse und Freiheit seien ihm zugesichert worden, und sie, die Freunde, wüssten ja, wie sehr er sich nach beidem sehne. Im Geiste bleibe er den Freunden verbunden. Kurz angebunden musste das Schreiben wirken, aber wäre es länger gewesen, es hätte die Bestürzung der Freunde kaum gemildert. Schon bald müssen alle benachrichtigt gewesen sein, und sie, die ganze „Schlachtpläne ausgeheckt hatten“, um sich der Person Petrarcas zu bemächtigen (vgl. Fam. 15,3,8), fühlten sich betrogen, und wenn sie Florentiner waren, auch verraten. Denn der Erzbischof Giovanni Visconti war ihnen mit seiner energisch betriebenen Expansionspolitik trotz einem Vertrag von Sarzana (vom vorangehenden 31. März) ein wahrhaft gefährlicher Feind. Das war allbekannt, und der Dichter wusste es auch. Wie viele und wie heftige Einsprachen bald darauf in Mailand bei ihm eintrafen, wissen wir nicht. Es könnte sein,

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dass Boccaccio, als er sich an Petrarca wandte, im Auftrag vieler sprach (Epist. 10). Er vertrat dabei den florentinischen Standpunkt, ging jedoch vorsichtig diplomatisch vor, versetzte nämlich die herrschenden politischen Verhältnisse und die dafür verantwortlichen Personen ins Reich der Bukolik und berichtete von den unerhörten Verfehlungen eines Hirten Silvanus in einer Art, als könnte damit die Schuld des wahren Sünders nicht nur bemäntelt sondern auch bewältigt werden. Fast mit Händen konnte der Dichter den guten Willen und das Entgegenkommen der Freunde greifen. Sein Mangel an Rücksicht auf gegenwärtige Umstände und auf Wünsche der Freunde wurde in dem kleinen Meisterstück klar dargelegt und getadelt, dies jedoch mit einer Schonung, die jeder Gefahr eines harten Zwistes vorbeugte. Der schon erwähnte Brief 16,11 aus Petrarcas Feder bezieht sich nur vage auf ein bestimmtes Schreiben des Florentiners Nelli (Epist. 10; verschiedene haben sich gar nicht erhalten), zudem scheint er aus zwei verschiedenen Teilen etwas gar zu künstlich zusammengesetzt zu sein. Das philosophische Thema, die knapp bemessene Zeit, wird zuerst abgehandelt und endet mit der Ankündigung, von jetzt an werde Nelli nur noch kurze Briefe zu erwarten haben (1–6 vgl. Fam. 15,1,1 ff ), gerade als fühlte sich der Dichter in Mailand schon ziemlich beengt. Dann deutet in Abschnitt 7 eine Bemerkung auf gewisse Befürchtungen Nellis hin. Dieser denkt offenbar weniger an eine Verstrickung Petrarcas in die Politik der Visconti als vielmehr an eine bedeutende Einschränkung seiner literarischen Studien. Doch er trifft beim Dichter auf grossen Optimismus. Für diesen ist der Erzbischof Giovanni maximus iste italus, was man offenbar auch in Florenz begreifen sollte. Seine Freundlichkeit ist es, die Gehorsam verlangt; das wird hier wie in Var. 7 betont. Die von ihm gemachten Versprechen werden erfüllt werden, daran ist nicht zu zweifeln. Und was Nelli überdies noch nicht wissen kann, wird ihm sogleich in den schönsten Farben geschildert. Der Dichter wohnt ganz abseits und unbehelligt am Stadtrand bei der Kirche Sant’Ambrogio und fühlt sich da im Schutz dieses verehrten Kirchenvaters wahrhaftig gut aufgehoben (11). Tatsächlich wird er sich sieben Jahre lang hier geborgen fühlen, nämlich bis ihn denn doch einige lumpige Räuber von da vertreiben (Fam. 22,12). Während sich die Freunde mit Petrarcas Ortswahl nicht sogleich abfinden, erfasst er deren Vorteile unverzüglich, falls er sie nicht sogar zum voraus, als noch alles unentschieden war, ins Auge gefasst hat. Seine Nachgiebigkeit gegenüber dem Erzbischof erspart ihm eine längere Unentschlossenheit. Die Stadt Mailand hat eine für ihn günstige Lage. Er ist da für Freunde recht leicht erreichbar, aber ihrem Zudrang nicht ausgeliefert. Dass sie nicht sehr fern dem Po liegt, weiss er ebenfalls zu schätzen; die Bequemlichkeit von Schiffreisen auf Flüssen (nicht auf dem Meer) lässt er sich gern gefallen und empfiehlt sie auch anderen (Sen. 7). Angenehm ist ihm die schon länger bestehende Beziehung zu Angehörigen der Familie Visconti; schon mit Luchino stand er gut (Fam. 7,15). Ihre feste Hand, die Ordnung schafft

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und sichert, weckt in ihm Vertrauen, und den Gedanken an ein lombardisches Königreich unter ihrer Führung weist er nicht von sich (vgl. Fam. 3,7; 7,15,13). Wenn er über Verhandlungen zwischen dem Erzbischof Giovanni und dem Böhmenkönig oder auch der Kurie nichts Genaues weiss, kann er doch für sicher nehmen, dass sie lebhaft geführt werden und dass von ihrem Ausgang zu einem guten Teil abhangt, ob und wann die Italienfahrt des zukünftigen Kaisers statthaben werde. Verlockend ist daher (vgl. Fam. 15,5), in Mailand eine Weile abzuwarten, wie die nächste Zukunft Italiens sich entwickeln werde. Über die Dauer des Aufenthaltes war nichts verabredet worden. Die Kritik an seiner Niederlassung eben da, lässt ihn dennoch nicht unberührt. Aus seinem Brief 16,12 vom 27. August geht hervor, dass er Nelli nochmals beruhigen muss, weil dieser die Sorgen um seine momentane Lage und um seine Zukunft nicht ablegt, ihm vielmehr neue Ratschläge unterbreitet. Sie bedürften „reiflicher Überlegung“, sagt Petrarca darauf (4), lässt aber von einer gedanklichen Anstrengung nichts verspüren. Zwei Dinge sind ihm klar: Vieles wird der Zufall (Fortuna) entscheiden; daran kann man nichts ändern, und in der grossen Menge wird jeder etwas an Petrarcas Entscheidung auszusetzen haben; das ist er längst gewohnt; und im übrigen hat er getan, was er verantworten kann (5). Anders als zuversichtlich darf er sich gar nicht äussern, er muss sich den Anschein der Sicherheit geben; das verlangt sein natürlicher Stolz. Die Freunde sind wieder einmal geneigt, ihn nach ihren eigenen Einsichten und Wünschen zu lenken; das kann er nicht dulden. Zwar der liebevollen Sorge eines Nelli will er sich nicht völlig entziehen, aber an die Adresse vieler unbedachter Besserwisser schreibt er noch Brief 16,13, wo er die prächtige Fabel vom Müller und seinem Esel erzählt. Da sieht man, wozu es führt, so schliesst er, wenn man es allen recht machen will. Darauf läuft die Zeit weiter, und jeder lässt sich herab, das schon Entschiedene fürs erste zu akzeptieren. Deshalb kann man zu ganz anderen Problemen übergehen. Eines bietet Nelli an. Ihm unterläuft in einem Schreiben an Petrarca ein Versehen, ja ein Lateinfehler, den er zu spät bemerkt; das ist ihm unangenehm, denn Petrarca wird ihn entdecken und sich das Seine denken. Gewiss, das tut er. Aber in Brief 16,14 vom 16. September, der das Buch 16 abschliesst, lacht Petrarca herzlich über solchen Kummer. Von eigenen Fehlern dieser Art sagt er nichts, aber er weist darauf hin, dass sogar Cicero mit der oder jener grammatikalischen Regel im Streit lag (2 und 8 ff.). Den Vorfall nimmt er zum Anlass, das Schuldgefühl der Menschen zu prüfen und hält fest: Gegen die Grammatik, gegen Menschensatzungen zu verstossen, hüten sie sich ängstlich; aber um Gottes Gebote kümmern sie sich wenig. Er hätte auch sagen können: Die Menschen wollen für wissenschaftliche Leistungen gerühmt werden, von sittlicher Meisterschaft versprechen sie sich nicht viel. Um das zu erläutern, nimmt sich Petrarca eine Disziplin nach der anderen vor und zeigt, zu welchem Verlust an Frömmigkeit und Sittlichkeit der falsche wissenschaftliche Ehrgeiz

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geführt hat (9 ff.). Ein grimmiger Zorn erfasst ihn vor allem im Gedanken an die zur Dialektik verkommene Theologie (vgl. Fam. 17,1). Namen von einigen zu seiner Zeit geschätzten Theologen kann man von ihm nicht erwarten. Ein Vorurteil hat ihn vielleicht gehindert, je eine ihrer Schriften zu lesen. Thomas von Aquin ist 1323 in Avignon heilig gesprochen worden; doch Petrarca wird ihn nicht geschätzt haben. Für Lehrer in Paris wie Franciscus de Bacho, Gregorio von Rimini und Michele von Cesena hat er kaum Sympathie aufgebracht. Auch nicht für Jean de Mirecourt oder für Ockham und seine Mitstreiter, denen man in Avignon den Prozess machte. Buridan war wenigstens nicht Theologe, doch was wusste Petrarca von ihm? Von Juristen, die zu seiner Studienzeit in Bologna dozierten, dachte er günstiger, obwohl er die erste Möglichkeit ergriff, den Ort zu verlassen. Das Facit seiner Übersicht lautet: „Sieh da, wie tief die Studien der Menschen gefallen sind!“ (13). Dann aber fügt er eine Bemerkung über seinen eigenen Zustand an, die neue Erfahrungen verrät. Was alles hat er sich von der Musse erhofft! Er hat sie jetzt genossen, länger hat sie gedauert, als üblich, aber sie hat nicht ausschliesslich gute Früchte gezeitigt; sie hat ihn verwöhnt. Ihre Unterbrechung empfindet er jetzt als etwas fast Beleidigendes, und er gesteht: „Allzu glücklich bin ich gewesen und allzu lange frei“ (14 f.). Einsamkeit, Musse, Freiheit sind nur den vollkommenen Seelen förderlich, so heisst es weiter, für andere haben sie etwas Gefährliches: „Schmutzige Gedanken tauchen auf“, obsceni subeunt cogitatus usf. (14). Die alte sprichwörtliche Wahrheit vom Müssigang, der alle Laster fördert, erfährt Petrarca erneut an sich selber, was ihn verwundert, denn er hatte sich geschmeichelt, gute Fortschritte gemacht zu haben (16). Unterbrochen aber wird seine Musse Mitte September durch die Ankunft des Kardinals Albornoz, der mit dem Erzbischof Visconti vieles zu besprechen hat. Zu seinen Aufgaben gehört ja als wichtigste die Wiederherstellung des Kirchenstaates, und wenn Mailand sie nicht dulden will, ist die Aussicht auf einen guten Erfolg sehr klein. Da die halbe Stadt dem Kardinal entgegengeht, reitet auch Petrarca aus, wie die blosse Höflichkeit ihm gebietet; und nachher gelangt er auch heil wieder nach Sankt Ambrogio zurück, obwohl er – samt seinem Pferd in riesigen Staubwolken geradezu erblindet – (Var. 56) sich erst im letzten Augenblick vor dem Sturz in einen Graben bewahrt hat. Nur nicht von Zufällen sprechen, warnt er sich, das wäre Undankbarkeit gegen Christus, der allein ihn gerettet hat (ebenda).

Buch 16 umfasst zwei Teile. Der erste berichtet über die Monate von Februar bis August 1353. Unsicherheiten über die Zukunft quälen Petrarca, während er seine Abreise herbeisehnt und aufschiebt. Er hält sich fast immer in Vaucluse auf und pflegt da Beziehungen fast ausschliesslich mit dem Bischof von

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Cavaillon. Von seinen damals verfassten Familiares sind der über Glaubenszweifel, die beiden über Versuche einer Krankenheilung und der über die Bedrängnis der Kartäuser in Montrieux von besonderem Interesse. Seinen Bruder besucht er in eben diesem Kloster, bevor er von der Provence Abschied nimmt. Der zweite Teil enthält Mitteilungen über bloss drei Wochen von Ende August bis Mitte September, während welcher sich Petrarca in Mailand einlebt und Proteste seiner Freunde gegen seine Ortswahl pariert. Eine längere Mussezeit, die ihm einige Bedenken schafft, wird durch den Besuch des Kardinals Albornoz in Mailand unterbrochen.

Von den Werken, mit denen er sich gleichzeitig beschäftigt, vernimmt man in diesem Buch wenig. Sicher arbeitet er an den Invektiven gegen Mediziner, an der Schrift de vita solitaria und verfasst Briefe sine nomine. Im Buch 17 schliesst Brief 1 vom 7. November 1353 gedanklich an das letzte Schreiben von Buch 16 an. Überhaupt deutet nichts auf irgendwelche beabsichtigte Abgrenzung, eher für ein bewusstes Verklammern der Bücher. Petrarca hat von seiner Niederlassung in Mailand alles Nötige schon in Buch 16 mitgeteilt. Das Ereignis ist nicht würdig, den Anfang eines neuen Buches zu markieren. Vielleicht hätte er nicht ungern dem geschätzten Erzbischof Visconti einen Ehrenplatz eingeräumt, hat aber sicher Gründe, etwa mit Rücksicht auf seine Florentiner Freunde, solches zu unterlassen. Verbindend wirkt vom einen Buch zum andern auch das Thema, nämlich eine Betrachtung der Wissenschaften, zudem der Name des Adressaten von Brief 1. Mit dem Bruder Gherardo hat sich der Dichter seit seinem Beschluss zur Rückreise nach Italien in Gedanken besonders oft beschäftigt. Jetzt wendet er sich ihm erneut zu, um ihn für seine erstaunlich rasch erworbene Gelehrsamkeit zu loben und ihm zu beteuern, dass er sowohl wahre Philosophie wie auch echte Kenntnis der Gesetze viel besser in seinem abgelegenen Kloster als auf den Universitäten hat erwerben können (7). Eben diese Beteuerung erinnert an Gedanken von Fam. 16,14; sie entspricht seiner eingefleischten, oft bekundeten Abneigung gegen allen zeitgenössischen Schulbetrieb (vgl. Fam. 16,14,6 ff.) und gegen den Geist einer modernen Wissenschaft. Was unter wahrer Philosophie zu verstehen ist, legt er dem Bruder an Hand von Texten aus der Heiligen Schrift vor und – wie sich zum vornherein ahnen lässt – mit Zitaten seiner anderen drei grössten Autoritäten: solchen von Augustin, Platon und Cicero. Philosophie ist nicht ein Lehrgebäude, so betont er, sie ist eine Anweisung für ein sittliches Leben, ja sogar die Kunst zu Leben, ars vitae (10); das gehört zum Wichtigsten, was er zu sagen hat. Darauf fällt ihm leicht zu beweisen (15 ff.), dass sie Liebe zur Weisheit meint, dass die Weisheit mit Chris-

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tus gleichzusetzen ist und dass der wahre Philosoph daher ein Christ sein muss (20 ff.). An dieser Logik gibt es nichts zu rütteln. Seine anschliessende Ausführung zur Jurisprudenz (23 ff.) nimmt einen ähnlichen Verlauf. Auch diese Wissenschaft muss ganz auf Christus gegründet sein. Christus ist der Urheber des ewigen Gesetzes; dieses ist allen Menschenherzen eingepflanzt (29 ff.–34), es darf da nicht verkümmern. Alle anderen Gesetze, selbst das mosaische, unterstehen dem ewigen, das eben von Christus stammt. Eine Verheissung, die im mosaischen Gesetz lag, hat Christus geoffenbart. Er ist es, der dieses Gesetz erfüllt und überholt hat (25). Er allein ist Richter, und jede andere Richtergewalt versinkt neben diesem Felsen der Gerechtigkeit Christus (41 ff.). All das schreibt Petrarca nicht in erster Linie für den schon sehr weisen Bruder, sondern für alle, die in ihrer Torheit an den Universitäten grosse Wissenschaft zu erwerben hoffen, dann auch zum Zweck, sich sein Herz zu erleichtern. „Oh wenn Du wüsstest“, hat er kurz vorher an Nelli geschrieben, als er sich wegen des „Niedergangs der Wissenschaften“ auch schon ereiferte, „…welche Schreibwut mich drängt, über diesen Gegenstand endlos weiter zu streiten.“ (Fam. 16,14,13). Er legt einen neuen Versuch vor, über tiefste Geheimnisse der Theologie in der Frömmigkeit eines Christen nachzudenken, wie er das schon früher mehrmals, so vor allem auch in Fam. 16,4 getan hat. Dass der dialektischen Theologie ein rasches Ende bereitet werde, das muss er hoffen, und dass er an Gherardo und anderen Mönchen tüchtige Mitstreiter habe, erwartet er mit guten Gründen. So viel Freude er an diesem Bruder erlebt, so viel Kummer schafft ihm sein Sohn, an den sich Brief 17,2 vom Herbst 1353 wendet. Wahrscheinlich ist nicht mehr als ein Jahr vergangen, seit er den jungen Giovanni als Kanoniker zwei Freunden in Verona zur Unterweisung empfohlen hat (Fam. 13,2 und 13,3); aber schon seit geraumer Zeit straft er ihn mit Stillschweigen, weil er von ihm nichts Rühmliches vernehmen kann, und denkt nun an eine Einschränkung seiner bisherigen Freigebigkeit. Dass er den etwa sechzehn- oder siebzehnjährigen Kanoniker sogar an ein Rütlein erinnert, verstösst vielleicht nicht gegen die damals übliche Erziehungsmethode, aber ihren Nutzen für den bestimmten Fall muss man bezweifeln. Immerhin darf man aus grosser Distanz über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn kein Urteil fällen. Der Vater ist allerdings streng, und nicht alle seine Bekannten loben diese Haltung. Man errät, dass es in Verona mindestens eine Person gibt, die beim Vater für den Sohn ein gutes Wort eingelegt, jedoch nur wenig Gehör gefunden hat, weil sein Urteil „auf Liebe gründet“ (2). Und einem Urteil der Liebe gegenüber hat Petrarca so oft grosses Misstrauen bekundet, dass man es kaum zu zählen vermag. Jetzt hofft er auf ein zuverlässigeres Zeugnis, um glauben zu können, dass Giovanni auf einer guten Strasse voranschreite, und mit einiger Bitterkeit malt er sich aus, dass er auch in Zukunft von seinem Sohn nicht viel Erfreuliches hören werde. An ein eigenes Verschulden, das dem Sohn das Leben möglicherweise erschwert, scheint er nicht zu denken; er selber hatte heitere Schul- und Studien-

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jahre verbracht (Sen. 10,2), dabei manchen Freund für’s ganze Leben gewonnen und sich durch hohe Begabung und Lerneifer ausgezeichnet. Von Giovanni kann man nichts Ähnliches vernehmen. Eine lustvolle Veranlagung für Studien hat er nie gezeigt (Fam. 7,17 und 13,2), und trotzdem weiss ihn Petrarca auf keinen anderen Weg zu weisen – in Wirklichkeit gibt es für ihn wohl keinen andern – als auf den des Klerikerstandes; und wenn ihm dieser zwar nicht ungewöhnliche Probleme stellt, so doch gewiss solche, die drückend genug sein können. Die beste Erziehung will Petrarca seinem Sohn ermöglichen, und er denkt nicht zuletzt an die Notwendigkeit, ihn vor Armut zu bewahren (Fam. 13,2), aber einen herzlichen Dank in Wort und Tat kann ihm der Sohn dafür nicht bieten. Von Vatersorgen lenkt ihn ein politisches Ereignis ab, das herbeizuführen er vor kurzer Zeit hat mithelfen wollen (Fam. 14,6). Davon spricht 17,3 vom September 1353. Der Leser jedoch, der das Schreiben noch nicht überblickt, begreift nicht leicht, wo Petrarca mit seinen Reden hinaus will. Dass ein knappes Wort über das grosse Elend auf der Welt sogleich eine weitschweifende Klage auslöst (2 ff.), ist wenig aufschlussreich. Die Mahnung an Guido Sette, man dürfe nicht verzweifeln oder sich gar den Tod anwünschen (3 ff.), lässt auch noch keine klare Spur erkennen. Eindrücklich wird dargetan, weshalb dem Menschen verboten ist, sich das Leben zu nehmen; warten muss er wie ein Diener auf das Gebot seines Herrn und seinen Posten nur auf Befehl verlassen (5 ff.). Mit dem Abschnitt 11 wird der Leser, der sich etwas ratlos seine Gedanken macht, mit der Frage überrascht, weshalb der Freund Sette noch immer nicht abgereist sei und auf seine Ankunft warten lasse. Petrarca warnt ihn dann vor Ehrgeiz und Habgier und vermutet gar, diese Laster könnten ihn verführt haben, in Avignon zu verbleiben (12 ff.). Hat sich Petrarca aber in dieses Thema fast verloren, macht er eine Kehrtwendung (15) und erschreckt nun mit der unerwarteten Meldung von dem soeben erfolgten grauenhaften Ausgang einer Seeschlacht. Es folgt der Satz, der das Vorausgehende mit dem Nachfolgenden zusammenknüpft: Nicht die Habsucht, eher die Vorsehung hat Sette am Kommen gehindert. „Weh,“ sagt Petrarca zum Freund, „Glück hast Du noch im Unglück.“ Dank dem Aufschub Deiner Reise musst Du vom trostlosen Zustand in der Heimat nur hören, musst ihn nicht auch noch ansehen (15); gnädig geht das Schicksal mit Dir um. Die Genuesen sind in der Tat mit einer bedeutenden Flottenmacht gegen König Pedro von Aragon ausgefahren, wie Petrarca ihnen wärmstens empfohlen hatte (Fam. 14,6), doch Pedro hatte mittlerweile die Venezianer zur Teilnahme an einer Schlacht überredet und der Verbindung dieser Gegner sind die Genuesen unterlegen. Die Erschütterung Petrarcas – und in allen Ländern – ist gross. Jetzt rüttelt Gott die Schlafenden auf (17). Der Krieg der Genuesen gegen einen äusseren Feind ist erneut zu einem inneren, nämlich wieder zu einem mit Venedig entartet (33 ff.). Doch die Katastrophe wäre wohl ausgeblieben, wenn in Genua innerer Friede

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geherrscht hätte; es ist nicht zuletzt der Zwist und Hass der Parteien in der Stadt, der das Unheil verschuldet (35). Auch haben sie mit Übermut und Anmassung das Schicksal herausgefordert (18), haben sich für Götter gehalten (22) und müssen jetzt einsehen, dass sie sterblich sind und dass bei den Sterblichen nichts Bestand hat. Damit ist das Thema für die nächsten Abschnitte angeschlagen: Grosse Reiche erschlaffen, und ihre Macht geht an andere tüchtige über; das fordert ein ewiges Gesetz. Vergehen wird jedes Reich, da selbst die römische Republik, so gewaltig sie war, dem Untergang nah ist (42,ff.; vgl. Fam. 14,5,19; 15,9,9). Ein gewisser Trost liegt für die Genuesen darin, dass ihr Geschick nicht einmalig sondern gewöhnlich ist und dass der ewige Wechsel nicht immer bloss schmerzlich ist, sondern auch Annehmlichkeit schafft (26; vgl. Fam. 8,5,15; 12,1,8). Ein sehr schönes Pathos belebt und eine Vielzahl rhetorischer Kunstgriffe schmückt diese Ausführungen, und an einer Schnittstelle (36) lässt Petrarca den Freund jene gewaltige Erschütterung mitempfinden, die ihn in der Nacht überfiel, als ihn die mit Spannung erwartete Nachricht vom Ausgang der gewaltigen Seeschlacht erreichte. Ermannen muss man sich nun in der Hoffnung auf das eine ewige Reich. Freilich ist es „nicht von dieser Welt“ (7 ff.; 48). Das erwähnte Ereignis ist auf den 27./28. August 1353 gefallen. Im September hat Petrarca dem Freund Sette den eben besprochenen Trostbrief zugeschickt. Und nun setzt er im Oktober – ungewiss an welchem Tag – wiederum für den Genuesen in Avignon einen Brief auf, das ist 17,4, um ihm „die Folter“ langen Wartens abzukürzen. Hierin kann er nun einiges beschreiben, was er als Augenzeuge miterlebt hat. Denn die Genuesen sind zur grossen Überraschung der Welt nach Mailand gepilgert, um sich in ihrer Not dem Schutz des Erzbischofs Visconti (dem mächtigen Gegner Venedigs) zu unterstellen und ihm, den sie doch als ihren Feind zu betrachten gewohnt waren, sich und all ihr Gut anzuvertrauen. Am Tag, an dem unter grosser Feierlichkeit die Übergabe erfolgt, sitzt Petrarca im glanzvollen Regierungsgebäude neben dem Anführer der genuesischen Delegation und kann unmittelbar aus dessen Mund vernehmen, wie es zu dieser unerhörten Selbstverleugnung der Stadt hat kommen können (5 ff.). Es ging zu, wie er vermutet hat: Die Bürgerschaft, ohnehin seit langem gespalten, war nach der erlittenen Katastrophe in sich so völlig zerfallen, dass eine Umwälzung bevorstand; und es war das einfache Volk, das die Übergabe an Mailand erzwang. Fragt sich nun, ob Mailand das Vertrauen verdient, das eine völlig vernichtete Macht ihm entgegenbringt. Petrarca überlegt sich das und vermag auf Giovanni Visconti grosse Hoffnungen zu setzen. Die Rede, in welcher dieser seine Hilfe verspricht, macht ihm wie allen Zuhörern einen tiefen Eindruck (9); man meint aus ihr eine Verpflichtung gegenüber dem Himmel herauszuhören. Dennoch bleibt der Optimismus beschränkt. Entscheidend ist, so betont Petrarca, ob der Erzbischof noch eine gute Weile am Leben bleibt; alles hängt davon ab: in hoc enim rerum tota vis vertitur (9). Und im übrigen gilt: „Wir

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müssen auf alles gefasst sein“, eben auch darauf, dass Genua vergeht wie alle irdischen Reiche. „Gott wacht über Jerusalem,“ so zitiert er aus einem Psalm, und er interpretiert den Satz in dem Sinne, dass einzig das Reich Jerusalem, weil von Gott bewacht, ewig bestehen wird. Der zweite Teil seines Schreibens beschäftigt sich weniger mit den Fehlern, die Genua begangen hat, als mit den Mitteln, deren es zur Festigung der Republik in der Zukunft bedarf. Empfohlen wird erneut die Einherrschaft auf republikanischer Grundlage; sie gilt Petrarca stets als die beste Regierungsform (10). Nicht viel später, am 21. Oktober 1353, schreibt er an Guido Sette den Brief 17,5. Von ihm weiss er, dass er sich nun an der Sorgue aufhält, denn wie er ein gutes halbes Jahr zuvor dem kranken Bischof von Viterbo seine Einsiedelei als wahres Paradies empfohlen hat (Fam. 16,6), so hat er jetzt gegenüber dem von Sorgen beschwerten Genuesen getan, und wie damals ist auch Sokrates wiederum dort und bereit, dem Gast das Leben im Abseits angenehm zu machen. Ihnen beiden gibt der Dichter Anweisungen, wie sie Bäume oder Sträucher pflanzen sollen, und malt sich aus, dass er mit ihnen vielleicht – und wie sehr möchte er das wünschen – einst den Rest seines Lebens eben da verbringen werde. Auch er ist der Stadt und den politischen Sorgen entflohen. Im Augenblick befindet er sich in San Colombano und geniesst eine Aussicht, wie er aus geringer Höhe noch nie gesehen zu haben meint. Hier ist er fern von Avignon, hier ist er in Italien und hier hat er die so oft ersehnten wunderbar weiten Täler unter sich; hier liegt er nicht wie in Vaucluse unter einem Baum, irgend einem, sondern ruht unter einer prachtvollen Kastanie so recht „königlich“ (15). Was sollte er sonst noch wollen! Doch gerade hier überfällt ihn die eben angedeutete Sehnsucht. „Merke Dir“ so sagt er zu Freund Guido, „dass ich nie eine schöne Gegend betrachte, ohne sogleich an mein Bauerngut zurückzudenken und an die Freunde“ – und er wiederholt den geäusserten Wunsch – „mit denen ich gar zu gerne meinen Lebensrest verbringen wollte.“ Er ist fähig, das eine wie das andere im selben Augenblick gleichermassen zu lieben, und nicht wenig wird es ihn bekümmern, wenn er bald (wohl Anfangs 1355) vernehmen muss, rohe Banden hätten Vaucluse mit Feuer und Brand verwüstet und da gestohlen, was sie erlangen konnten. Längst nicht alles zerstören sie; sein Haus brennt nicht nieder; seine Bücher bleiben erhalten. aber etwas rauben sie dem Tal, was er dort von ihm empfangen hatte: die Sicherheit, das Gefühl der Geborgenheit; damit auch ein ruhiges ungestörtes Verweilen in einer menschenleeren Natur. Davon spricht Petrarca besonders in Brief Var. 25 (vgl. Sen. 10,2), in dem er allerdings Boccaccio halb belustigt fragt, wo in aller Welt er denn leben sollte. Selbst Vaucluse erliegt dem Wechsel! Ein warmer Herbsttag ist es, an dem er jene Zeilen in Brief 5 verfasst. Brief 17,6 aber ist ans Ende des Jahres oder in den folgenden Februar 1354 zu datieren, wo ein anderes Wetter herrscht. Petrarca hat dem Statthalter des Erzbischofs Visconti in

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Como, nämlich Bernardo Anguissola (einem Bruder des lang schon bekannten Lancellotto; Fam. 7,18) einen Besuch versprochen, muss ihm jedoch erklären, wie ihm oft geschieht, weshalb er nicht kommen kann. Sein Los besorgt ihm wieder einmal für den Zeitpunkt, da er reisen möchte, einen sintflutartigen Regen (Fam. 15,2). Aber wichtiger ist, dass der Herr von Mailand ihn gebeten hat, mit einer Gesandtschaft nach Avignon zu reisen (3). Dort soll der Streit zwischen Venedig und Genua (das jetzt unter Mailands Schutz steht) vor dem Papst geschlichtet und sollen auch Spannungen zwischen Venedig und Mailand, zudem solche zwischen Mailand und dem Papst, dem Herrn des Kirchenstaates, besprochen werden. Kaum mehr als ein halbes Jahr ist vergangen, seit ihm Musse und Freiheit zugesichert wurden, und schon soll er auf Wunsch gerade des Garanten eine lange Reise unternehmen und das verhasste „Babylon“, das er doch nie wieder hätte sehen wollen, aufsuchen, dies gar im Winter über verschneite Alpen. Man kann sich kaum ausdenken, welche Gefühle dieser Auftrag bei ihm geweckt hat, und vor manchen Freunden darf er nicht einmal klagen, weil er zum voraus ihre wenig tröstliche Antwort kennt, man habe das alles voraussehen können. Helfen muss er sich ganz allein, und während er einen Trost auch wirklich sucht, nämlich im Gedanken an den Nutzen der Gesandtschaft für das Vaterland (3), trifft die Meldung ein, die Reise finde vorläufig nicht statt, die Verhandlung werde verschoben. Bei solchen Wechseln werden die Mängel seines Nachrichtendienstes besonders auffällig, denn die Briefe, die grössere Distanzen überwinden müssen, können die Adressaten weniger denn je „auf dem Laufenden“ halten, selbst im Fall, dass sie ungehindert und in guter chronologischer Reihenfolge eintreffen. Freund Barbato in Neapel ist dadurch sehr benachteiligt, obwohl er eben von Petrarca nacheinander zwei Briefe in Versform erhalten hat. Schildert der eine Brief die Wohnstätte des Meisters in Mailand als einen Hort ungestörten Friedens, wo sich alle erdenklichen Wünsche erfüllen (Metr. 3,18), so meldet der zweite nachher (Metr. 3,19) unter viel Weh und Ach von dem entsetzlichen Ungemach einer Alpenüberwindung im eisigen Winter. Da beruhigt sich der Neapolitaner vielleicht genau dann, wenn Petrarca in Schrecken lebt, und entsetzt sich, wenn Petrarca seine Furcht schon wieder hat begraben dürfen. Mit Bernardo Anguissola, dem Adressaten von Brief 17,6, pflegt Petrarca übrigens weiterhin einen schriftlichen Kontakt, wie Brief 17,7 (wohl vom Juli 1354) andeutet. Er darf von ihm ab und zu eine Dienstleistung erwarten (1), so mehrmals Hilfe für Reisende, die von Italien aus einen Weg über die Alpen in den Norden suchen. Nun empfiehlt er dem Statthalter in Como einen jungen Mann, der in Italien zur Begleitung des schon genannten Kardinallegaten Albornoz gehört hat, aber vorzeitig nach Hause zurückkehren will (2). Er ist in grosser Sorge um seine Mutter, und er hat Heimweh. Pietas gegenüber den eigenen Eltern ist eine der wichtigsten menschlichen Pflichten, was Petrarca zu jeder Zeit vertritt; was aber die Liebe zur Heimat angeht, so hat sich die Haltung des Dichters im Verlauf der Jahre öfters

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in dieser oder jener Richtung geändert. Dem Vaterland schuldet man schlichtweg alles, so hat er mehrfach erklärt (vgl. Fam. 11,16,8); und damit ist klar, dass es ein Vaterland gibt. In jungen Jahren hat er dieser Auffassung allerdings – wohl unbewusst – gewissermassen widersprochen: Er verkündete damals gerne in philosophischer Strenge, der kluge, der tapfere Mann sei Kosmopolit und fühle sich überall zu Hause; ja er predigte das mit Vorliebe den aus ihrer Heimat Verbannten (Fam. 2,1,14; 2,3 und 2,4). Empfand er selber Sehnsucht nach Italien, meinte er, sich dieser Schwäche schämen zu müssen (Fam. 4,1,18), war freilich überzeugt, dass seine Heimat Italien schöner sei als jedes andere Land (Fam. 19,14; 23,2,6), und von gebildeten Freunden im Ausland meinte er, so viel Einsicht erwarten zu dürfen, dass sie die besondere Schönheit Italiens anerkennen müssten (Fam. 9,13,14 f.). Dann versuchte er, den Böhmen Karl IV. davon zu überzeugen, dass seine Heimat Italien heisse, und wichtiger: dass Italien, dass Rom die allen Menschen gemeinsame Heimat sei: omnium est patria; vera patria Roma (Fam. 32,2,34). Sich gegenüber war er später in mancher Hinsicht sehr viel nachsichtiger als in der Jugend; und da sein Vaterland das schönste aller Länder war („sofern ich mich nicht irre“), musste er’s doch wohl vor allen anderen lieben (Fam. 23,2,5 f.), wie hätte es anders sein dürfen. Mit zunehmendem Alter ist er vermehrt bereit, in vielen Fragen, so auch in der des Vaterlandes, „zu denken wie die Menge“. Und jetzt in diesem Brief 17,7 fällt ihm der stoische Kosmopolit schon gar nicht ein, vielmehr lässt er sogar die Meinungen der Barbaren gelten, eben was die Heimatliebe angeht, und zwar ohne korrigierende Worte anzufügen. Nicht bloss begriffen hat er es, nein er findet es auch in Ordnung: Jeder findet seine Heimat schön, ja wohl schöner als Italien, und läge sie in noch so barbarischer Gegend. Das ist zu respektieren, nicht zu bedauern. Und das soll der Freund – es wird scherzend betont – dem Heimreisenden gegenüber nur ja nicht vergessen. Um jene Zeit wird Petrarca eben auch in Como, wohl weil der genannte viscontische Statthalter seinen Namen im Munde führt, weiteren Kreisen vertraut. Da gibt es einen Ordensbruder, der sich mit Bitten um bestimmte Bücher an ihn wendet, vielleicht sogar aufgemuntert durch den Statthalter. Der Dichter muss ihm in Brief 17,8 erklären, dass er das Gewünschte nicht besitzt, bemüht sich aber, die Enttäuschung zu mildern. Er schickt ihm einen langen wohlformulierten Brief, denn für jeden ist es schmeichelhaft, vom Lorbeergekrönten einen erhalten zu haben, und dies insbesondere dann, wenn er eine gewisse Länge hat und gar noch einiges Lob enthält. Der Mönch ist also mit Petrarca gewiss zufrieden. Ähnlich behandelt Petrarca den uns schon bekannten Marco von Genua. Eine Antwort versagt er ihm nicht, doch ist diese in Brief 17,9 abschlägig und vermischt Lob mit Tadel. Denn wie so oft muss der Dichter bitten, man möge ihn nicht aus lauter Liebe überschätzen, man schade ihm bloss. Ganz abweisend bis zur Unfreundlichkeit geht er freilich nicht; er kann blinde Liebe gelten lassen, sofern die Blindheit diagnostiziert ist

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(3). Gleichzeitig will er dazu beitragen, dass Freunde klar sehen können, wenn sie die Augen öffnen; er ist bereit, ihnen alles zu zeigen. Seine Türen stehen für sie offen (3). Das ist ein-für alle mal gesagt, und es gehört zu seiner Art Ehrlichkeit. Diese Bemerkung führt zum nächsten Brief, der Buch 17 abschliesst. Aufrichtig und ehrlich zu sein, nämlich in allen wesentlichen Dingen, verlangt Petrarca von sich selber mit einer oft geradezu verbissenen Unnachgiebigkeit. Es stehen in seinen Schriften nicht selten Konfessionen, die einer Wahrheitssuche gleichkommen. Kaum hat er etwas bekannt, stutzt er, widerspricht sich, zieht dann auch die Korrektur in Frage, verbessert die Verbesserung und lässt auch diese oft nur gelten, wenn er noch eine Wendung: „so ich mich nicht täusche“ nachschiebt (Fam. 4,1,18 ff.). Ganz auffällig häufig sind solche Einschübe. Freilich ist das stufenweise Suchen nach dem Richtigen oft ein rhetorisches Mittel, um Spannung zu schaffen; zeugt überdies von Kenntnis juristischer Verfahren. Petrarca weiss, wie bohrend die Fragen eines Inquisitors sind. Aber auch der Ehrgeiz verlockt ihn zur unerbittlichen Selbstkritik; er gibt gerne zu verstehen, dass die Fehler, die er zu hören bekommt, ihm selber bereits bekannt sind. Daher wundert man sich bei der Lektüre des Briefes 17,10 nicht über eine reiche Mischung von Dankbarkeit gegenüber Anklägern, von aufrichtiger Zerknirschung, bereitwilliger Annahme der Vorwürfe und überlegener Selbsterkenntnis, ja es wirkt auch nicht überraschend, wenn die Selbstkritik schliesslich in Besserwisserei umschlägt, die den Sünder befähigt, die anderen, die vor ihm stehen und auch Sünder sind, darüber zu belehren, woher es denn komme, dass sie alle miteinander sonderbar falsch zu handeln gewohnt sind. Er und sie, ja alle Menschen wollen, so sagt Petrarca, das Gute, und dennoch tun sie alle das Nicht-Gute. Da hat nun dieser Freund Aghinolfi dem Dichter Petrarca ins Gewissen geredet, und zwar in grosser Sorge um das weitere Gedeihen seines Werkes. Mailand kann ihm nur hinderlich sein. Und sofort weiss der Dichter: „Der hat mir die Stricke der Wahrheit gebracht“ (3); fliehen kann ich nicht mehr.“ Auch hat von jenseits der Alpen Freund Sokrates ihm – „so hart wie höflich“ – zugesetzt, dass er die „Schläge noch an seinem Kopf verspürt“ (6). Von ihm hört er Tadel ebenfalls wegen seines Aufenthalts in Mailand. Man hat ihn in die Zange genommen, und sich daraus zu befreien, ist unmöglich. Nun denke man aber nicht, dass einem Petrarca die ihm vorgelegte Wahrheit fremd gewesen wäre. Ihm ist längst bewusst, dass er ein „Dummkopf“ ist und dass er Schaden durch sich selber leidet (5). Ja, und die andern, die wissen noch gar nicht, wie sehr sie recht haben und wie schlimm die Folgen seiner Dummheit sind. Das kann ihnen Petrarca erst noch sagen. Ihnen ist nicht bekannt, dass er sogar über die Alpen geschickt werden soll, auch nicht, von wem: „Von mir selber, der ich sein Eigentum geworden bin“! (8) Und dass er sich von diesem Mann, der ihn an seiner Aufgabe hindert, jetzt nicht befreit, obwohl er es könnte, das ist das Unbegreiflichste von allem. Hat Petrarca das festgehalten,

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geht er zur Belehrung über und erläutert den Anklägern, wie es auch um sie und überhaupt um alle Menschen bestellt ist. Er sündigt in bester Gesellschaft, und an diese Gesellschaft klammert er sich. Er braucht das Richtige nur zu wollen; und er will es ja sogar, und er tut es doch nicht. Ein gewaltiges Problem ist das, und Petrarca nimmt Augustinus zu Hilfe, um es mit ihm von verschiedenen Seiten anzugehen. Ein Meisterstück ist sein Brief, und zwar nicht zuletzt dank der geschickten Zusammensetzung einer sehr lebendigen, fast bis an Komik streifenden Situationsschilderung mit einer Belehrung anhand einschlägiger Zitate aus den Confessionen, wo vom freien, unfreien Willen des Sünders gehandelt wird. Frei ist unser Wille, so hält Petrarca am Ende fest, doch durch unsere sündige Gewohnheit ist die Freiheit beschränkt. Dass er selber gewillt ist, zu wollen, (24), das ist eine aufrichtige Aussage, die er am Ende „vor Christi Ohr“ auszusprechen wagt. Und damit löst er sich aus dem Knäuel dieser Problematik. Er fügt aber noch eine weitere Frage an, die mit der ersten mindestens zusammenhängt. Er leidet unter einem Übel, von dem er nicht weiss, bedeutet es Schuld oder Schicksal. Schon oft hat er darauf hingewiesen, aber noch nie so deutlich: Er ist zu früh berühmt geworden und ist allzu berühmt, er ist durch seinen Lorbeer so sehr gekennzeichnet, dass er sich nie verstecken kann. Und wo er sich zeigt, greift man nach ihm und hält ihn fest wie jetzt in Mailand. Die Frage nach der Schuld bleibt unbeantwortet. Dennoch wird er, und damit schliesst er seinen Brief, nie von den Versuchen lassen, sich seine Freiheit zurückzuerobern, gemeint ist eine tätige Musse, die ihm erlauben würde, seinen dichterischen Auftrag zu erfüllen (28). Denn dass er das tue, wird auch von seinen Freunden energisch gefordert. Datiert ist das Schreiben vom 1. Januar (1354), und Janus ist der Gott des Anfangs.

Im Buch 17 geht der Brief an Petrarcas Bruder als Nr. 1 allen anderen voran, obwohl er wahrscheinlich später verfasst wurde. Petrarca wünscht Gherardo Glück zu seinen Fortschritten in wahrer Wissenschaft und nennt ihm die Quelle echter Philosophie und Rechtskenntnis. Ein Brief an den Sohn verlangt Abkehr von der Trägheit und spricht von Enttäuschung. Für fast alle Briefe kann man als Abfassungsort Mailand annehmen. Hier gewinnt Petrarca neue Freunde, hier vernimmt er von der Niederlage der Genuesen, erlebt die Übergabe Genuas an die Visconti und schreibt über den ewigen Aufstieg und Niedergang der Mächte. Hier wird er beauftragt, nach Avignon zu reisen, um an Verhandlungen gegnerischer Mächte teilzunehmen, doch wird die Reise verschoben. Die ihm vom Erzbischof zugesicherte Freiheit wird dennoch eingeschränkt. Von Freunden nimmt Petrarca Ermahnungen entgegen, sich von den Visconti zu lösen. Er gesteht ihnen die Schwäche seines Willens.

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Ereignisse aus der kurzen Zeit vom September 1353 bis zum Jahresende hat Petrarca in anderen Werken festgehalten, so in Var. 56 den feierlichen Empfang des Kardinals Albornoz in Mailand. Er arbeitet an seinen Werken De viris illustribus und De otio religioso. Kaum einmal hat er auf längere Zeit unterlassen, seine Werke zu bearbeiten, sie zu erweitern, zu kürzen und sonstwie zu verbessern. Am Anfang von Buch 18 lenkt Petrarca seinen Leser von seiner Person auf die Politik hinüber und versetzt ihn damit auch vom Jahresanfang 1354 auf den vergangenen 23. November 1353 zurück. Der zukünftige Kaiser Karl muss hier wie schon in Buch 10 und Buch 12 den Ehrenplatz einnehmen; er hat auf Petrarcas Aufruf geantwortet, und zwar vor längerer Zeit, doch hat sein Brief nur auf beträchtlichen Umwegen den Adressaten erreicht. Dieser, beglückt das Schreiben in den Händen haltend, fühlt sich sogleich berechtigt, ja berufen, den König aufs neue zur Erfüllung seiner Pflichten zu ermahnen, verströmt Worte der Hochachtung und Liebe zum Kaisertum und widerlegt Punkt für Punkt alles, was Karl zur Rechtfertigung seiner Aufschiebung der Romfahrt vorgebracht hatte. Wenn kürzlich einem einfachen Mann aus dem Volk (Cola di Rienzo) die Wiederherstellung der Freiheit Roms beinah geglückt ist (17 ff.), wie könnte ein gleicher Versuch einem Kaiser misslingen (30)! Das Imperium auszuschlagen, ist nicht mehr möglich (34); es jetzt aufzurichten, ist dringende Notwendigkeit und nicht schwieriger als zur Zeit der alten Kaiser (37). Legionen hat Petrarca nicht zur Verfügung, um sie Karl entgegenzuführen; er hat jedoch seine Stimme, und somit wird er nicht aufhören zu rufen: „Komm, und komm sogleich!“ Denn jetzt weiss er: Torheit ist es nicht, den König zu ermutigen (vgl. Fam. 15,5,7). Er hat zweifellos seine Gunst gewonnen. Der Fürst, dem er als gefeierter, im Volk beliebter, von Herren umworbener Dichter (vgl. Fam. 17,10,26) längst bekannt ist, hegt, wie andere auch, das Verlangen, ihn persönlich kennen zu lernen und ihn an sich zu binden. Die Datierung des Briefes an den Kaiser auf Ende 1353 mag richtig sein, doch die folgenden Schreiben von Buch 18 übergehen das Jahr 1354 fast völlig; sie stammen zum guten Teil aus dem Jahr 1355 und gehören in die Zeit von Karls IV. Italienzug, des von Petrarca heiss ersehnten, der das Ereignis allerdings noch nicht erwähnt. Man vernimmt von ihm erst in Buch 19. Vorerst wird nur ganz Privates mitgeteilt. Von einer persönlichen Überraschung meldet immerhin am 10. Januar 1354 Brief Fam. 18,2. Jener byzantinische Würdenträger, der im Januar 1348 mit zwei Begleitern über Venedig nach Avignon gereist war, um mit Papst Clemens VI. über eine Einigung der Kirchen und einen Kreuzzug zu verhandeln, hatte in Verona mit Petrarca Gespräche geführt und ihm einen Homer in griechischer Sprache zu besorgen versprochen. Er war damals dem weltweiten Unheil der Pest entkommen, und wahrhaftig, jetzt, vier oder fünf Jahre später, kommt Homer bei

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Petrarca in Mailand an. Überschwenglich danken will dieser, dass ihm ein so grosser Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Der Griechischlehrer Barlaam allerdings, der ihm einst Anfangskenntnisse beigebracht hat, ist ihm längst abhanden gekommen und dann gestorben (7 f.), grosse Kenntnis des Griechischen hat er nie erlangt, doch sagt er sich wieder vor, was er so häufig in seinem Leben sich und anderen eingeschärft hat: Lernen kann man selbst im hohen Alter, ja man soll es tun bis zum letzten Tag (12; vgl. z. B. Fam. 17,84 ff.). Vorerst beglückt ihn das Buch etwa so, wie es seinen verstorbenen Verwalter in der Vaucluse beglückt hätte, und er wird sich seiner erinnert haben, als er folgenden Satz aufs Papier setzte: „Nur schon im Anschauen des Buches schätze ich mich selig, drücke es häufig an mich und spreche seufzend mit ihm…“ (10). Denn ungefähr das selbe kann man in Fam. 16,1,6 f. nachlesen, wo die ehrfurchtsvolle Bücherliebe des Analphabeten Raymond Moret geschildert wird. Die Grösse von Petrarcas Freude über den Erwerb einer Homerausgabe kann heute wohl niemand mehr auch nur vage ermessen oder gar mitempfinden. Wir gehören zu der grossen Menge, von welcher er überzeugt war, dass sie kaum Sinn für geistige Werte besitze (2,9), und wir schätzen sie heute in dem Mass geringer ein, als sie leichter zu finden sind. Ihm aber bringt das nächste Bücherpaket noch einmal ein wahres Glück. Was ihm Boccaccio bereits angekündigt hatte, trifft am 10. April 1355 ein: Augustins Psalmenkommentare, die Enarrationes in psalmos. Brief Fam. 18,3 vom 11. April des genannten Monats ist eine sozusagen strahlende Dankesbezeugung. Diese Gabe ist nun nicht eine bloss zum Anschauen, sondern eine, der sich Petrarca sogleich und häufig und bis zur Erschöpfung widmen wird (3,4), denn wenn er nun gefahrlos wie auf einem tüchtigen Schiff und mit einem bewährten Steuermann auf das hohe Meer hinausfahren kann, so muss er das auch wirklich tun. Seit langem ist ihm in der ganzen Bibel fast nichts so tröstlich wie sein David (Fam. 22,10,7), das heisst, das Psalterium, das er als ganzes dem König zuschreibt. Dabei kann ihm niemand als Erklärer der dunkeln Stellen grösseres Vertrauen einflössen als sein Augustinus. Das bestätigt er vor dem Spender der kostbaren Gabe. Und was er nun an eigenen Schwimmkünsten schildert, mit denen er sich bisher nur mühsam über Wasser gehalten habe, ist so recht zur Erheiterung eines oft missvergnügten Boccaccio ersonnen. Ihm, der für sprachliche Fragen weit grösseres Verständnis besitzt als andere Freunde, schuldet Petrarca auch immer wieder besonders freundschaftliche Aufmerksamkeit. Eine Notiz, die er in Boccaccios Handschrift einfügt, nennt den genauen Tag, an dem er diese empfing, so dass seine Antwort ausnahmsweise aufs Jahr und fast genau auf den Tag datiert werden kann. Und nur wenige Monate vergehen, bis er noch einmal ein Bücherpaket vom selben Spender erhält. Anfangs Dezember 1355 dankt er ihm in Brief 18,4 fast überwältigt von so grosser Freigebigkeit. Einen wertvollen Schatz hat Boccaccio kürzlich im Kloster Monte Cassino ausgehoben, und einen schönen Teil gibt er davon wei-

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ter, darunter ein von ihm entdecktes Werke Varros und einiges von Cicero, alles in eigenhändiger Abschrift. Ähnliches hat er gewiss nicht oft für andere geleistet. Aber einen verlässlichen Kopisten zu finden, wäre ihm nicht leicht gefallen, einen, der fähig und geduldig genug gewesen wäre, die alten Schriften (in schlechtem Zustand) mit ihren zahlreichen Abkürzungen richtig zu entziffern und sie dann gar noch so schön und fehlerfrei zu präsentieren, dass sie einen Petrarca befriedigen, ja beglücken konnten! Fehler in Freundesbriefen kann dieser lachend entschuldigen (Fam. 16,14,1 ff.); aber an Kopisten stellt er Anforderungen, von denen er weiss, dass er selber ihnen nicht ohne weiteres genügt. Weil aber der Florentiner sich eine beträchtliche Zeit hindurch abgemüht hat, den Freund mit guten Arbeiten zu beschenken, hat man erst recht keinen Grund zur Annahme, Petrarcas Niederlassung in Mailand im August 1353 habe zu einer Verstimmung zwischen den beiden geführt. Im Brief 18,5 vom 25. April (1354) wird hierauf vom Geschenk eines Buches gesprochen, das Petrarca gibt, nicht entgegennimmt. Er hatte seinem Bruder Gherardo bei seinem Besuch im vergangenen April (Fam. 16,8,10 und 16,9) Augustins Confessiones versprochen und stellt sie ihm jetzt zu. Es handelt sich um sein eigenes Buch (meus fuit), und abgeschrieben hat es jener Angestellte (das wird nebenbei angemerkt), den Gherardo von jenem Besuch in Montrieux her kennt, ein junger Mann mit eher flinken Fingern als gutem Verstand (7). Solche Kopisten sind leichter zu finden als die mit hervorragender Lateinkenntnis, doch selbst mittlere Talente aufzutreiben wird – wie spätere Briefe klagen – immer schwieriger. Dass der geschenkte Band nicht fehlerfrei sei, hält der Dichter für sicher; kann aber bei seinem Bruder die Lateinkenntnisse voraussetzen, die ihm für eine Verbesserung des Textes nötig sein werden. Und eine ihm bekannte Erfahrung möchte er ihm zuletzt auch noch zu bedenken geben: Gerade die hohen Geister findet man im allgemeinen nicht unter den sorgfältigsten Abschreibern (ihn selber auch nicht); sie sind eben mit Gescheiterem beschäftigt als mit Strich und Punkt und müssen ihre kostbare Zeit für Besseres nützen (4 ff.). Recht breit wird das erläutert und auf eine Art, dass offen bleibt, ob die hohen Geister in Anbetracht ihrer geringeren Aufmerksamkeit bei langweiliger, mühseliger Schreibarbeit – alles in allem verrechnet – eher zu entschuldigen oder eben doch zu tadeln sind. Sehr erfreut zeigt sich dann der Dichter in Brief 18,6 vom 15. März (1354/55). Er hat wieder einmal ein Wort von Forese Donati vernommen, und obwohl es Vorwürfe ausspricht, ist es überaus liebenswürdig. Da fällt dem Dichter auf: Mögen viele das Selbe tun, nie ist es das Selbe; das Eine und Gleiche kann einmal angenehm und einmal abstossend sein. Dafür bringt er hübsche Beispiele, ohne sich um philosophischen Scharfsinn zu bemühen, und erstaunt mit der vortrefflichen Schilderung eines sehr sonderbaren Mitbewohners, der trotz tierähnlichem Verhalten ein Mensch ist (3). Solche Wesen also duldet er in seiner näheren Umgebung. Der

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Adressat war Petrarca als Begleiter des florentinischen Bischofs Acciaiuoli ein guter Freund in Avignon gewesen, und ihm versichert er nun, er werde ihn nie vergessen, lässt aber durchblicken, dass auch in Zukunft von ihm nicht viele Briefe zu erwarten seien, indem er von Übermüdung und Überbelastung spricht: genauer von digitis fatigatis… animo occupato (7). Das vernimmt man jetzt zunehmend häufiger. Petrarca ist etwa fünfzig Jahre alt und schreibt fast Tag für Tag viele Stunden mit eigener Hand, ja wohl häufiger und länger. Und will man diese Mühe richtig einschätzen, hat man sich neben anderem auch die Art Feder und Tinte, die er benützt, die Art von Stuhl und Schreibtisch, die üblichen Mängel an Bequemlichkeit und seine Kost vorzustellen. Dabei behält er von jedem abgesandten Brief eine Abschrift zurück, wie er das auch anderen anrät (Var. 38), und dies, obwohl – wie oft geklagt – die Zahl guter Kopisten abnimmt und Petrarca so viele, als er benötigt, nur selten hat (Var. 15). Man kann erklären, Brief 18,6 gehöre im eigentlichen Sinn zu den Kleinigkeiten, nugae, um ein Wort Petrarcas zu verwenden. Doch das angedeutete Thema von der Verschiedenheit beim Einen und Gleichen wird im nächsten Brief 18,7 vom 1. April (1355) gewissermassen abgewandelt, weil Petrarca eine Entschuldigung Nellis aufgreift und den Reiz hervorhebt, den sogar das Nachlässige, Ungepflegte nicht selten ausüben kann. Besonders die Liebe kann solches schätzen, so legt er dar und spricht dieser Liebe für einmal eine gewisse Urteilsfähigkeit zu. Eine Nebenbemerkung übrigens hält fest: Manche Briefe erreichen die Adressaten spät oder gar nicht. Sie werden von irgendwelchen Leuten abgefangen, und wenn das möglich ist, haben natürlich auch die „Briefboten“ (oft Freunde oder Bekannte) versagt. Von Brief 7 nimmt Petrarca jedoch später an, er sei eingetroffen und schickt Nelli zu dessen Erläuterung einen weiteren Brief. Das ist 18,8 Darin erinnert er sich, wie er das Liebenswerte am Unvollkommenen eben gelobt hat, betont nun, dass er von Freunden niemals tadellose Briefe erwarte, da er selber auch nicht im Sinn habe, an sie in möglichst gepflegtem Stil zu schreiben. Ihn freue, das unterstreicht er, seine Freunde als ein anderes Ich zu betrachten (2), mit ihnen also zu sprechen, wie mit sich selber, eben ohne ehrgeizige Anforderungen an einen Stil. Er wünsche ja sehr, dass die Freunde Schritt für Schritt an seiner Suche nach dem Richtigen und Wahren teilnähmen (11 f.), und würde es geradezu für grotesk ansehen, wenn er ihnen bloss fertige, sichere Ergebnisse seiner Nachforschungen vorlegen wollte, sie also nicht als Mitsuchende und Ratende, sondern bloss als Empfänger von Wissen ansehen könnte. Dass Cicero es ebenso hielt, hat er wie durch Zufall entdeckt, und um so mehr freut ihn sein gleichartiges Verlangen (15). Eingefügt sind in diese Ausführungen Gedanken über echte Freundschaft (3 und 10 ff.), und gross ist Petrarcas Sicherheit, dass er von seinen Freunden stets nichts als Freundschaft erhofft hat, so wie auch diese die Freundschaft nur um ihrer selbst willen suchen. Und wer dürfte behaupten, er habe sich geirrt! Dennoch ist der über-

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legene Meister seinen Freunden kaum dieses wunderbare andere Ich gewesen, das er so gerne verherrlicht, und ihnen nie als solches zur Verfügung gestanden, dass sie bei ihren eigenen Fragestellungen dank ihm als ihrem anderen Ich eine Wahrheit um so sicherer hätten finden können. Eher war es so, dass er gern und leicht andere sich selber, seinem Ich anverwandelte, sich dieses Glückes freute und der Freunde dabei dankbar gedachte, dies mit gutem Grund, da sie ihm jedenfalls stets die sehr kostbare Hilfe der Ermunterung und begeisterten Anerkennung boten, der er zweifellos in hohem Mass bedürftig war. Anzunehmen ist, dass man im Freundeskreis sich diese Art Einseitigkeit gefallen liess, hierüber gar nicht nachdachte oder dann – vielleicht nüchterner denkend – ein weiteres Bedürfnis nicht anmeldete. Wie dem sei: Was das schrittweise Suchen nach Wahrheit in der Gemeinsamkeit mit Freunden angeht, spürt man den letzten Fassungen der Familiares, so wie sie ediert wurden, kaum an, dass und wo sich der Dichter bei seinen geistigen Anstrengungen auf irgendwelche Mitdenker gestützt hätte. Selbst dort, wo in seinen Texten Einwürfe zu lesen sind, die zum besseren Verstehen anleiten, fehlt es an der Notwendigkeit, eine echte Auseinandersetzung unter verschiedenen Personen anzunehmen (Fam. 2,1,6 ff.; 11,8,29). Es wird sich meist um rein literarische Kunstgriffe zur Belebung der Darstellung gehandelt haben. Und erst recht sind die von ihm erwähnten morgendlichen Begegnungen mit Freunden (am Frühstückstisch?) und der mündliche Gedankenaustausch zu seinen in der Nacht verfolgten Gedankengängen (13) nicht für bare Münze zu nehmen. Man ahnt ja, wie einsam Petrarca lebt, wie gut er seine Einsamkeit hütet, wie genau er seinen Tag einteilt und wie fraglos selbstverständlich er stets als der überlegene Lehrer auftritt (Fam. 11,6,1 f.; 13,8; 16,11,6; 24,2,2; 24,13,8). Was der Dichter beschreibt, ist ein Ideal, dem er wohl höchst selten und immer nur für einzelne Tage nahe kommt. Seine Ausführungen über Freundschaft und Freundschaftsdienste, an denen er sich leicht berauscht, münden im eben zu besprechenden Brief in die Bitte, Nelli möge im vorausgehenden Schreiben einen Satz so korrigieren, wie ihm auf einem Zettel angegeben wird (17). Der Dichter will nämlich ausnahmsweise, wie er hervorhebt, durch eine nachträgliche Verbesserung grösste Präzision erreichen und bietet – ohne Absicht – eines der seltenen Beispiele für die Art von Hilfeleistung, die er von Freunden (erheblichere vor allem von Boccaccio) in aller Wirklichkeit erwarten kann und auch erhält. Zudem macht er ebenda klar, dass der vorausgehende Freundschaftsbrief 7, so vertraulich er auch tönt, zur Veröffentlichung bestimmt ist wie die meisten andern. Sonst hätte er Nelli die Mühe dieses Korrekturnachtrags ersparen können. Auch Brief 18,9 gehört zur Korrespondenz mit Nelli und enthält viel Freundliches für den Adressaten und einige abwertende Bemerkungen auf Florenz, das seine bedeutendsten Bürger nicht zur Kenntnis nehme. Vor Petrarca steht denn auch ein Bote aus der Arnostadt, der von Nellis Ansehen nie etwas gehört hat und mit seiner Verblüffung den Dichter zum Lachen reizt (3). Dabei ist er nicht etwa ein „witzlo-

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ser Mann“, wie ihm zugestanden wird (ebenda). Im übrigen kennt ihn Petrarca ganz offensichtlich nicht. Man kann sich vorstellen, dass er im Dienst irgendwelcher Kaufleute von Florenz nach Mailand gekommen ist und da verschiedene Aufträge erledigt und entgegennimmt. In der Stadt spricht man von ihm; im Gerede hört man, er sei bereit, Briefe zu befördern, und schon hat er seine Brieftasche voll. So ungefähr lässt sich vermuten. Auch steht er wahrscheinlich im Ruf, zuverlässig zu sein. Ob das, was Petrarca ihm aushändigt, identisch ist mit Brief 18,10, bleibt unsicher. Immerhin kann dieser aus den selben Tagen stammen, an denen die Begegnung zwischen Petrarca mit dem „Boten“ stattfand; er führt die Korrespondenz mit Nelli fort. Bei ihm haben sich einige Freunde zu einem kleinen Festmahl vereint, und der Brief trifft eben noch rechtzeitig ein, dass der Dichter den Versammelten Glück wünschen und ihnen versichern kann, er wohne in Gedanken ihrer Zusammenkunft bei. Fortuna, so sagt er, und das Wort bedeutet hier so viel wie Zufall, hat ihm wenigstens diese Gunst geschenkt, das heisst; hat ihm erlaubt, den Freunden den Brief zuzustellen. Durch wen denn, so fragt man, ist das geschehen. Vielleicht eben durch den verblüfften Florentiner, den man aus dem vorangehenden Schreiben kennt. Auf diesen Brief 10 antwortet Nelli mit einem Schreiben, das von Cochin als Epist. 13 aufgeführt wird. Datiert wird es auf den 10. August 1355, ist gut formuliert, zeugt von Kenntnis der Antike, aber vor allem von so überschwenglicher Bewunderung für den Meister und jedes seiner Werke, dass Petrarca bei der Lektüre gut daran tut, sich an sein oft zitiertes Wort zu klammern, Amor sei ein schlechter Richter. Wie dem sei: Von der Korrespondenz, die eifrig weitergeführt wird, findet eine Bitte vom 14. November 1355 in den Familiares als 18,11 ihren Platz: Nelli soll ein Werk Ciceros an Lapo Castiglionchio (Giacopo von Florenz) weiterleiten; der hat es Petrarca vor Jahren geliehen, doch wo er sich jetzt befindet, ist unsicher. Dass die Unruhen, die Parteiungen, die Kriegsgefahr ihn aus seinem Studienort Bologna (um das die Visconti und Albornoz kämpfen) vertrieben haben, ist anzunehmen. Ein Schreiben an den Besitzer des zurückgesandten Werkes wird beigelegt, und dieses folgt in den Familiares als 18,12. Darin muss Petrarca erklären, weshalb der kleine Sammelband mit Schriften Ciceros erst nach vier Jahren den Weg zum Besitzer zurückfinde. Der Hauptgrund ist rasch genannt: Viel Zeit verging, bis sie abgeschrieben waren. Es gibt eben – die Klage ist zu wiederholen – wenige wirklich fähige Kopisten (1). Sie fehlen nicht allein Petrarca sondern ganz allgemein, und ihr Mangel hat längst einen gewaltigen Verlust an wertvollster Literatur herbeigeführt, der nun nicht zu beheben ist. Das die Überzeugung Petrarcas. Abschreiben ist nicht seine Sache und nicht anderer gelehrter Männer Aufgabe, das steht schon im Schreiben an den Bruder Gherardo (Fam. 18,5); dazu sind Geister mit geringerem Höhenflug besser geeignet. Und

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dennoch hat Petrarca nun eine Methode gefunden und selber angewandt, dank welcher man das entsetzlich mühsame Kopieren, rem suapte natura tediosissimam (8) erträglich, ja, sofern die Arbeit einem vorzüglichen Text von Cicero gilt, sogar erfreulich macht (6 f.). Enorm viel Zeit hat er dafür geopfert, und für niemanden ausser für dieses sein bestes Vorbild hätte er so grosse Mühe aufgewendet (10). Ein Hinweis auf seine müden Finger kann hier wiederum nicht fehlen: fatigatos hos digitos hat er zu solcher Arbeit angehalten, aber fast hätte er das Unternehmen als unausführbar vorzeitig aufgegeben. Mit dieser Bemerkung wird vom Hauptthema Petrarcas abgelenkt, nämlich eben von seinem ihm teuersten Vorbild. Von ihm spricht er nun auch in den Briefen 18,13 und 18,14 vom August/September 1355. Er ist zu seiner Zeit nicht der einzige Humanist, der für den antiken Redner und Philosophen eine Vorliebe hegt, da gibt es zum Beispiel in Bergamo einen Grammatiker Cro(t)to, der Werke von ihm besitzt, die Petrarca noch fehlen (18,13). Er wird um eine Ausleihe gebeten, der berühmte Dichter erhält sie unverzüglich, und schon ist eine neue Freundschaft geschlossen (18,14). Petrarca bedankt sich mit einem langen Schreiben, in dem er Herkules und die unglaublichen Taten seiner Körperkraft den grandiosen Leistungen von Ciceros geistigem Vermögen gegenüberstellt. In den „Tusculanen“, so meint er, lassen sich Buch für Buch Entsprechungen zu den ruhmvollsten Bravourstücken jenes Helden finden. Er legt das dar und zieht hierauf den erwarteten Schluss, dass Cicero einen Herkules in dem Mass überragt, als das Geistige das Körperliche übersteigt (3 ff.). Und hat er sich zu seinen Argumenten beglückwünscht, erlaubt er sich den nächsten Schritt, allerdings nicht ohne Hilfe der hervorragenden Autoritäten Seneca und Quintilian (8 ff.). Sie liefern ihm die Worte für die Behauptung, dass einem Cicero kein anderer Redner und Philosoph gleichkommt. Petrarca äussert sich zaghaft und hält für sein Bekenntnis zu Cicero eine Unterstützung durch die genannten Autoritäten für unerlässlich. Erst etwas später, im Dezember 1355, und bezeichnenderweise gegenüber Boccaccio, wird er es wagen, ohne fremde Autoritäten zu bemühen und durchaus mit eigenen Worten, ein Bekenntnis abzulegen und es dem Freund „ins linke Ohr zu flüstern“ (vgl. Fam.18,15); bekannt ist es schon aus Fam. 18,4,4. Man störe sich nicht an der Zählung der Briefe oder man verzichte darauf, von früher und später zu sprechen, da die Zeitenfolge der Briefe stellenweise kaum anzugeben ist. Wären die Briefe durch Petrarca gemäss sehr überlegter Datierung geordnet worden, hätte 18,4 in der Reihe hinter 18,14 einen Platz finden und in der Reihe unmittelbar vor den Brief 18,15 eingesetzt werden müssen (Irrtum der Gelehrten vorbehalten). Nun hat Petrarca seit einiger Zeit den Eindruck, Boccaccio sei verstimmt, behauptet aber in Brief 18,15 eben vom 20. Dezember (1355), nicht recht zu wissen, weshalb. Gar nicht verstehen kann er, dass er, der Boccaccio einen Poeten

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genannt hat (vgl. Fam. 18,4,2), nun schroff zurechtgewiesen wurde (Fam. 18,15,2). So kann er nur sprechen, weil er einiges, was er weiss, nicht verraten will. Denn Gründe für Boccaccios Verstimmung muss er gekannt haben. Man beachte die Datierung des Briefes. Im vorausgehenden Sommer 1355, so meint Boccaccio, und so erfährt man aus einem seiner Briefe (Epist. 9), sei er bei einem Besuch in Neapel von Acciaiuoli schlecht behandelt worden. Mit Zanobi da Strada, den er seinen Freund genannt hat, ist er zerfallen; und dies nicht zuletzt darum, weil Acciaiuoli ihn seit Jahren bevorzugt und eben noch für seine Dichterkrönung gesorgt hat. Das verschweigt Petrarca, und manches andere auch, das er für eine spätere Mitteilung aufspart, obwohl es schon hier in Buch 18 hätte stehen können. Wie schon angedeutet, erwähnt er hier weder Karls Italienfahrt noch dessen Kaiserkrönung, noch gibt er hier an, dass es eben der neue Kaiser war, der am 24. Mai in Pisa Zanobi da Strada den Dichterlorbeer aufs Haupt gedrückt hat. Doch ob Petrarca das mitteilt oder nicht: Der tüchtige Beamte Zanobi, dem er einst ganz privat mit dem Poetentitel geschmeichelt hat (Fam. 13,9,2 f.), ist nun dank kaiserlicher Gunst feierlich und offiziell bestätigter Poet mit allen zugehörigen Rechten, doch von den Kennern der Dichtkunst ist vor dieser Dichterkrönung keiner zu Rate gezogen worden. Nicht erstaunlich also, wenn es in Boccaccio, der als bedeutendes Talent übergangen wurde, gewaltig rumort. Was soll der Titel bedeuten, wenn er so leicht zu haben ist und irgendwo (im bestimmten Fall in Pisa) durch irgend jemand, sogar einen Ausländer verliehen werden kann! Auch Nelli in Florenz reagiert ungemein entrüstet auf die Auszeichnung Zanobis und unterstreicht vor allem das Unrecht, das damit Petrarca angetan wird (Epist. 17, 13 bei Cochin), während dieser vorerst als der überlegene Philosoph dem Geehrten gratuliert (Metr. 3,8) und erst später seine Verwunderung darüber ausdrückt, dass ein Germanicus, „sich nicht gescheut hat, die Intelligenz von uns Italienern zu beurteilen“ (so zu lesen im Vorwort zu den Invectiven gegen Mediziner). Im Brief des Dichters an Boccaccio steht also von all dem nichts. Immerhin wird der Freund darin getröstet, der wahre Dichter sei vom Lorbeer völlig unabhängig und könne unter jedem anderen Baum dichten, so viel er wolle (2). Doch es gibt noch etwas anderes, was für Aufregung gesorgt hat. Die Briefe, mit denen Petrarca für die Sendung der wertvollen Schriften dankte (vgl. Fam. 18,3 und 4), sind beim Adressaten nicht eingetroffen! Das aber hat gerade noch gefehlt, um Boccaccios Lebenslust völlig zu verbittern. Irgendwo sind sie hängen geblieben, wie Petrarca vermutet. Er wird sie Boccaccio in neuer Auflage übermitteln; ja er schickt ihm jetzt einen jungen zuverlässigen Boten zu, und von dem kann er erklären, „er liebt mich und ist auf Dich begierig“(4). Dieser wird den Freund über alles genau unterrichten, so ist er geheissen, damit der Empfänger vernehme, was Petrarca „nicht nur tut“, sondern auch – besonders wichtig – „was er denkt“. Ja das zu hören, ist Boccaccio bestimmt sehr begierig.

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Und um Buch 18 würdig abzuschliessen, greift der Dichter nach einem Brief, der an ein hochpolitisches Ereignis jener Tage erinnert und auch seine Stellungnahme dazu hervorhebt, weil er brennend wünscht, dass sein Verhalten in der bestimmten Sache niemals verkannt werde. Gelingt es, zwischen den Seemächten Genua und Venedig Frieden zu stiften und kann der Streit zwischen Venedig und Mailand (jetzt Schutzmacht Genuas; vgl. Fam. 17,4) entschärft werden, das ist die grosse Frage, die Oberitalien 1353–1355 in Spannung hält. Die antimailändische Liga hofft auf ein Eingreifen Karls IV., und Petrarca hat guten Grund, diesem König zu beteuern, jetzt sei der Weg nach Italien besonders eben und leicht und nichts fehle als der Mann, der ihn beschreite. So ist es in seinem Aufruf mit dem Datum vom 23. November 1353 zu lesen (Fam. 18,1,15). Seither ist klar geworden: Mailand selber, von der feindlichen Liga bedrängt, wünschte eine Schlichtung des Streites mit Karls Hilfe; aber noch immer lässt Karl auf sich warten. Die Verhandlungen zwischen den Mächten, die im Winter 1353 vor der Kurie in Avignon hätten stattfinden sollen (Fam. 17,6), werden nun durch andere ersetzt, und Petrarca soll, nachdem ihm die winterliche Alpenüberquerung erspart worden war (ebenda), als Sprecher einer mailändischen Gesandtschaft jetzt, im Frühjahr 1354, nach Venedig reisen. Er übernimmt die Aufgabe, weil er nicht Nein sagen kann. Aber seine persönliche Freundschaft mit dem Dogen Dandolo kann ihm den Zweifel, ob er sich für diese diplomatische Aufgabe eigne, nicht ausreden (7 f.). Ganze vier Wochen weilt er in der Hafenstadt, um immer neue Gründe für einen Frieden vorzutragen; erreichen kann er nichts. Als inefficax tractator pacis kehrte er nach Mailand zurück, erfüllt von Schmerz und Scham. Und wie die Kriegsvorbereitungen immer vorangetrieben werden (6), da will er, von Vorahnungen gequält, ein Letztes zur Vermeidung des Entsetzlichen unternehmen, um nur ja nichts unversucht zu lassen, was in seiner bescheidenen Macht liegt. Er schreibt in der verzweifelten Hoffnung auf eine bessere Einsicht des Dogen diesen Brief Fam. 18,16 vom 28. Mai 1354 voller Beschwörungen, und eine eigentliche Katastrophe für ganz Italien voraussehend, fleht er den Dogen nochmals an, „seiner eigenen Natur zu folgen“ und nicht „ein schlechter Mensch zu werden“ (26), niemals dem Wahnsinn der grossen Menge zu erliegen (28). An der riesigen Schuld, die der Doge sich aufladen würde, will Petrarca nicht den geringsten Anteil haben; und die Gegenwart wie die Nachwelt soll es wissen, dass er seinen Adressaten mit allen Kräften vom „Verderben Italiens“ hat abziehen wollen. Gott muss es bezeugen, zugleich muss dieser sein Brief ihm zum unwiderlegbaren Beweise dienen, dass er den Dogen „mit lautem Wehruf und gewaltigem Aufschrei“ zurückruft. Was er befürchtet, geschieht dann im folgenden Herbst (Fam. 19,9). Doch der Doge wird es nicht mehr erleben.

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Buch 18 wird durch die zwei Briefe an die beiden Mächte König Karl und Republik Venedig eingefasst, die zusammen mit Mailand und Avignon in den Jahren 1353–1355 das Schicksal Oberitaliens bestimmen. Diese Briefe 1 und 16 schliessen Schreiben persönlicher Art ein, die mit geringen Ausnahmen über Büchererwerbungen, Ausleihen, Abschriften, Stilrichtungen und Korrekturen berichten, auch Verluste an antiker Literatur und Schwierigkeiten bei ihrer Beschaffung oder Übersendung beklagen. Petrarca stellt dabei seine eigene Ansicht von der richtigen Schreibweise in Freundesbriefen vor: Seine Adressaten betrachtet er als sein anderes Ich; sie sollen an seiner Wahrheitsfindung teilnehmen. Auf die Dichterkrönung Zanobis und auf Boccaccios Zurückstellung wird kaum hingedeutet, und um eine gewisse Einheit zu erreichen vernachlässigt Petrarca die Zeitfolge besonders stark, indem er die Italienfahrt Karls völlig ausblendet Kein Wort verliert er über das Schicksal seines ehemaligen Idols Cola di Rienzo, von dem er die Wiederherstellung der römischen Freiheit erwartet hatte. Dieser kam in der Begleitung des Kardinals Albornoz nochmals nach Rom, erlangte nochmals die Senatorenwürde, wurde jedoch schon zwei Monate später nach fürchterlichen Unruhen und Machenschaften in der Stadt am 8. Oktober 1354 vom Volk niedergemetzelt. In Buch 19 ist der Brief 1 von Mitte Oktober 1354 dem von Petrarca lang ersehnten Ereignis gewidmet: König Karl von Böhmen kommt; er hat schon italienischen Boden betreten und befindet sich in Udine oder schon tiefer im Land, dies um die Zeit, da in Rom – wie eben erwähnt – der Senator Cola di Rienzo Opfer eines Aufruhrs wird. Gewiss übertreibt der Dichter nicht, wenn er sagt, die Ankunft des oft Gerufenen benehme ihm den Atem. Viel anderes kann er nicht hinzufügen. Selbst wenn schon seit einiger Zeit überall Vorbereitungen zum Empfang getroffen worden sind, greift doch erst im letzten Augenblick eine erregte Geschäftigkeit zur Erledigung der geplanten Massnahmen um sich. In Mailand besteht eine besondere Aufregung, weil soeben, nämlich am 5. Oktober, Erzbischof Giovanni gestorben ist und seine drei Neffen, welche sich in die Regierung teilen sollen, noch nicht fest im Sattel sitzen. Der zukünftige Kaiser jedoch, der am 10. November in Mantua angekommen ist, lädt zum Zweck von Verhandlungen Abgeordnete der antimailändischen Liga zu sich; und sobald er von ihnen die Ermächtigung zum Abschluss eines Waffenstillstands mit Mailand besitzt, ersucht er, immer noch von Mantua aus, Petrarca – als Privatperson – sich zu ihm zu verfügen. Im Brief 2 vom 27. Dezember 1354 berichtet der Dichter davon kurz seinem Freund Zanobi, weil er bei seiner Rückkehr nach Mailand ebenda mehrere Briefe

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von ihm vorfindet. Er vertraut ihm von Gesprächen mit Karl IV. allerdings sehr wenig an, verbleibt vielmehr beim Allgemeinen, auch beim Wetter, das wirklich so ausnehmend kalt ist, wie man es seit Menschengedenken nicht erlebt zu haben meint (Fam. 20,14; 21,7). Ein Thema bildet wiederum der Verlust vieler Briefe; Zanobi hat umsonst auf Petrarcas Antworten gewartet (so wie sich etwas später auch Boccaccio um Dankesbriefe betrogen sieht; vgl. Fam. 18,15). Sie wurden auf halbem Weg abgefangen. Nun hoffen die Freunde auf eine Begegnung und auf einen gemeinsamen „stillen Tag“ (ebenda), doch bleibt offen, was das besagen soll. Möglicherweise hat Petrarca vernommen, Zanobi da Strada sei vom Hof in Neapel dazu bestimmt worden, an den Feierlichkeiten zu Ehren des neuen Kaisers teilzunehmen oder ihn zu begleiten. Unvergleichlich ausführlicher schreibt Petrarca von der Begegnung mit Karl IV. seinem Lelio in Brief 19,3 ungefähr einen Monat später, also im Februar 1355. Auch dieser Freund ist dazu ausersehen, als Vertreter einer politischen Macht dem Kaiser Ehre anzutun. Er hat sich von Rom aus, wo er seit Jahren lebt (Fam. 15,1; 15,8; 16,8. 20,2) nach Avignon verfügt, er wird von dort aus nach Pisa reisen, im Gefolge des Kardinals Pierre Bertrandi, des Bischofs von Ostia, Karl IV. nach Rom begleiten und bei der Krönung, die der Kardinal in Vertretung des Papstes vornehmen wird, ein Amt bekleiden. Mit welchen Empfindungen Petrarca mit seinem Pferd an vier eisigen, finsteren Nebeltagen den hart gefrorenen Weg nach Mantua zurücklegt, um einem neuen Cäsar vor die Augen zu treten, das versuche man sich vorzustellen (8 ff.). Mag sein, dass die Kälte und Mühe seine Gemütserregungen dämpfte. Ohne Eifersucht befürchten zu müssen, kann er nachher dem Freund von den Gunsterweisen, die er vom Kaiser empfing, scherzhaft sich brüstend erzählen, vor allem von den vertraulichen Gesprächen, die er Abende lang mit ihm allein führen durfte, auch von dem ganz erstaunlichen Interesse, das seiner Person entgegengebracht wurde (12 ff.). Dass sich König Karl, der künftige Kaiser, von ihm das Werk über ruhmreiche Männer erbat (12), war das wenigste; Petrarca durfte sich erkühnen, ihm offen ins Gesicht zu sagen, dass er sich einen Platz in diesem Buch erst noch verdienen müsse. Er durfte mit ihm darüber streiten, ob das Leben in der Einsamkeit, die vita solitaria, dem Leben in der Welt vorzuziehen sei und am Schluss noch behaupten, er, Petrarca, habe über den Kaiser, obwohl dieser glänzend argumentierte, gesiegt (19 f.). Er durfte ihm alte Kaisermünzen schenken und dabei erleben, dass die Kostbarkeiten den Empfänger in helle Freude versetzten; und am Ende konnte er sich die Teilnahme an der Romfahrt ersparen und sich dabei heimlich an der Ehre erlaben, dass der Kaiser ihn geradezu umworben und bis zum letzt möglichen Augenblick mit allen Mitteln zur Mitreise gedrängt hatte (23). Weshalb er die Romfahrt nicht mitmachen will, hat manche Gründe, so darf man vermuten. Er scheut die neue Strapaze des Weges, den Zeitverlust zum Schaden seiner Studien,

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die aufwendigen Festlichkeiten, die Komplikationen durch politische Machenschaften, den Neid und hundertfältigen Klatsch. Kurz: Er will sich die vita solitaria wahren. Lelio, der von Auszeichnungen Petrarcas durch Karl gerüchteweise sogar mehr gehört hat, als der Wahrheit entsprach, hatte ihn um einen Empfehlungsbrief gebeten, und wirklich verfasst ihm Petrarca einen sehr kunstvollen und für den König wie für Lelio höchst schmeichelhaften und schickt ihn am 25. Februar 1355 ab. Als Fam. 19,4 liegt er uns vor. Er wird nach Pisa abgeschickt, wo Lelio ihn entgegennehmen und dem hohen Gast übergeben kann. Beste Aussichten auf Erfolg sind ihm zum vornherein sicher. Denn Lelio stammt von hohem römischem Adel ab; er war mit all den früheren kaisertreuen Colonna, die einst den Grossvater Karls, das war Heinrich VII., begünstigt hatten, zu ihrer Lebzeiten eng verbunden gewesen, und er ist auch jetzt mit den französischen Verwandten Karls liiert. Wirklich wird Lelio vom Kaiser begünstigt und mit ehrenvollen Ämtern betraut werden (vgl. Anm. zu Fam. 19,4). Was der Dichter in Rom nicht miterlebt, schildert er nicht. Er hat indessen Zeit, seine persönlichen Studien weiterzuführen und sich um andere politische Angelegenheiten zu kümmern. Fam. 19,5 vom 1. Mai (1355) hat zum Empfänger einen Grammatiker namens Moggio, den er als seinen Freund bezeichnet und dem er vor Jahren seinen Sohn anvertraut hatte. Man würde meinen, Giovanni müsse sich als Kanoniker von Verona in dieser Stadt befinden (Fam. 13,2 und 17,2), doch er weilt eben in Mailand, hat von da aus seinem früheren Lehrer eine Einladung ins väterliche Haus geschrieben, und Petrarca Vater beeilt sich, diese Einladung in einem besonderen Schreiben zu bestätigen. Der Grammatiker wird sehr freundschaftlich darauf hingewiesen, welche Vorteile er geniessen und welchen Nutzen er dem Hause und insbesondere Giovanni verschaffen würde. „Entweder er lernt von Dir oder von niemand“, heisst es da (5). Nur dieses eine Mal sieht man Vater und Sohn beieinander unter dem selben Dache und gar noch (wenn zwar je für sich, so doch) im selben Sinne handeln. Und veranlasst hat diese Gemeinsamkeit mehr als ein Jahr zuvor ein missglückter Umsturz in Verona. Am 17. Februar 1354 war er in Abwesenheit von Cangrande II. della Scala gewagt und am 25. Februar mit dessen Rückkunft zum Scheitern gebracht worden. Wer damals einer Mitschuld verdächtigt wurde, tat gut daran, möglichst rasch zu fliehen, und zu diesen gehörten vor allem Azzo da Correggio und mit manchen anderen der genannte Grammatiklehrer, der Kinder Azzos unterrichtete, auch Giovanni, der bei Moggio ein- und ausging. Wie erinnerlich, ist Petrarca mit Azzo seit langem befreundet. Mit ihm ist er einst von Avignon zu König Roberto nach Neapel gereist, dank seiner Gastfreundschaft hat er 1341 monatelang in Parma geweilt, sich auch zwischen 1343 und 1345 eben dort aufgehalten, nämlich bis zum Zeitpunkt, als Parma der Familia Correggio im Streit mit den Visconti verloren ging. Azzo, seit Jahren in Verona

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gleichsam exiliert, hat möglicherweise zu den Umtrieben ebenda seinen Teil beigetragen; doch von Moggio und Giovanni ist das kaum anzunehmen; ihnen aber schadete ihre Beziehung zu Azzo (vgl. Vatasso, 1,74 f.). Das Kanonikat hat der junge Besitzer verloren, doch während er beim Vater Zuflucht gefunden hat, gestalteten sich die Verhältnisse für Moggio schwierig. Aus einer Nachschrift zu Fam. 19,5 ergibt sich, dass er sich mit Azzo getroffen hat. An diesen bleibt er nun wenigstens eine Zeit lang gebunden, und aus dem schönen Plan der beiden Petrarca, ihn bei sich zu beherbergen, wird nichts. Das entscheidet sich, wie angegeben, im Frühling 1355. Bei einer Lektüre der nächsten Familiares könnte man nun meinen, Petrarca habe den Italienzug Karls IV. kaum oder mit geringem Interesse verfolgt; er schweigt von ihm, da ohnehin wenig Rühmliches zu vermelden wäre. Im Brief 19, 6 wohl vom Dezember (1355) bittet er seinen Freund Nelli in Florenz, einem Rompilger Hilfe zu leisten und in Brief 19,7 dankt er dem selben Nelli einige Monate später für Nachrichten über jenen Pilger. Beide Schreiben, besonders das sechste sind wahrhaft „vertraulicher“ Art, sehr herzlich, mitfühlend, auch fromm im schönen und nüchternen Sinn der Bibel. Klagen über ein Zuviel an Pflichten und ein Zuwenig an Ruhe fehlen nicht (2 f.). Aber vielleicht gehört schon der frühere der beiden Briefe dem Jahr 1356 an; ihre Datierungen bleiben unsicher. Nach Nelli wird Guido Sette mit einem Brief bedacht, der ebenso schlecht zu datieren ist, nämlich mit 19,8. Da antwortet Petrarca auf eine Bitte, die ihm nur allzu oft, zwar nicht immer so offenherzig, nahegelegt wird: Einen Platz möchte man in seinen Schriften erhalten, womöglich einen recht ehrenvollen. Wahrscheinlich spricht sich herum, dass der Dichter soeben eine Auswahl seiner Briefe zu einer Sammlung verbinde. Nun erwidert Petrarca dem Freund mit einer Richtigstellung, und dies weniger zurechtweisend als gewandt und überlegen, ja mit einem Anflug von Humor. Einen guten Platz möchte man haben? Was das denn heissen könne! Keinen besseren Platz gibt es als den „unter guten Menschen“. Und er, Petrarca, kann nichts anderes geben, als was er hat. „Wäre ich Cicero, würde ich Euch in Cicerobriefe setzen, nun aber setze ich Euch in meine“ (6). Dass er geliebt und verehrt wird, bedeutet ihm allerdings einen schmeichelhaften Trost. Das kann gar nicht anders sein! Und er benötigt ihn zum Leben (1 f.). Das nächste Schreiben 19,9 lässt sicht wieder einmal – was selten genug vorkommt – auf Jahr und Tag datieren. „Mailand, am 24. April“ setzt Petrarca an dessen Ende, und vom Ereignis, das er mitteilt, erklärt er mit ungewöhnlicher Feierlichkeit: „Es geschah im Jahr 1355 nach Christi Geburt, und als Tag nennt man den achtzehnten April“ (26 f.). Er meint nämlich, in Italien werde es nicht bald einen ebenso gewaltigen und weittragenden Umsturz mit so unheilvollen Folgen geben, wie er soeben in Venedig stattgefunden habe (22 ff. bis 27), wozu er noch anmerkt, dass er über die Verhältnisse sehr vieler Städte und Gebiete des Landes zu

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gut Bescheid wisse, um sich leichtfertig täuschen zu können. Überall von Sizilien über Neapel und Rom bis Bologna und zu den Orten Oberitaliens gibt es Umwälzungen, Aufruhr, Bürgerkrieg, und mitten unter gehässigen Auseinandersetzungen noch als das Schlimmste: die Söldnerheere aus dem Ausland, die eigentliche Räuberbanden sind. Da Petrarca solches am 24. April 1355 niederschreibt, kann man sich wundern, dass er kein Wort für Friedensbemühungen des neuen Kaisers und für politische Erfolge seiner Italienfahrt übrig hat. Am 5. April ist der Fürst in Rom gekrönt worden und in den seither vergangenen Wochen hätte ein Mann wie Petrarca dank besten Beziehungen rasch von irgendeiner aufsehenerregenden, aufrüttelnden Verfügung, von Kundgebungen, von einem ermutigenden politischen Plan zur Förderung des Friedens oder von etwas Ähnlichem vernehmen wollen. Doch eben: Da ist nicht viel anderes zu vernehmen, als der Kaiser habe Rom wieder verlassen und ziehe nordwärts. In seiner Umgebung befindet sich der venezianische Amtsträger Neri Morando, der seinem Freund Petrarca Nachrichten zu übermitteln sehr gerne bereit ist (Fam. 20,1; 20,2; 21,10; Sen. 3,7 und Var. 32). Doch weitgehend ungestört durch die kaiserliche Reise nehmen in manchen Städten die besonderen Entwicklungen auf ihren längst festgelegten Bahnen ihren Verlauf. So auch in Venedig (vgl. Fam. 18,16). Auf diese Stadt also hält Petrarca sein Auge gerichtet, ihr Schicksal ist es, das ihn jetzt vor allem beschäftigt, da er lange genug bemüht gewesen war, sie von ihrer verhängnisvollen Kriegslust abzuziehen (Fam. 18,16). Somit teilt er im genannten Brief Fam. 19,9 dem Genuesen Guido Sette nach Avignon mit, was er davon weiss, und schaut zuerst ins Vorjahr zurück, um der katastrophalen Niederlage zu gedenken, die den Venezianern zu ihrer grössten Überraschung im September 1354 von den Genuesen beigebracht wurde (18 ff.). Dann erwähnt er die Verhandlungen der Stadt mit dem Papst in Avignon, die Wahl des Diplomaten Marino Falier(o) für das Dogenamt und sein nach kürzester Amtsdauer grauenhaftes Ende, das eine verzweifelte Volksmenge auf Grund von Gerüchten ihm bereitet hat. Was er nun sagen solle, fragt er sich und den Freund (28) und urteilt vorsichtig, weil er manche Einzelheit nicht kennt. Fern liegt ihm, daran zu erinnern, mit wie viel Recht er Vernunft gepredigt hatte. Und eine ähnliche Zurückhaltung legt er auch dem Freund aus Genua nahe. Gewiss, auch in Venedig muss man nun einsehen, was vorher die Genuesen haben lernen müssen (Fam. 17,3), dass sie nämlich Menschen sind und nicht Götter. Doch bedenken wollen auch die beiden Freunde, was sie selber zu tun haben: „Bemühen wir uns doch, möglichst bescheiden, modestissime, unsere eigenen Sachen zu ordnen“ (30). Dieser Anstand sei hervorgehoben. Brief 19,10 unterbricht den erwarteten Ablauf der Dinge. Seine Abfassung muss in den Sommer 1358 angesetzt werden. Sich über drei Jahre hinwegzusetzen, nachher ohne weiteres in den Mai 1356 zurückzukehren, erlaubt sich Petrarca, um drei Schreiben, die an den selben Empfänger Guido Sette gerichtet sind, nebeneinander

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aufzuführen. Im genannten Brief 10 ist dieser Freund nicht allein Adressat, sondern auch einziger Gegenstand des Interesses. Sein Wunsch, in Petrarcas Werk erwähnt zu werden (Fam. 19,8), wird erfüllt, wie er hat vernehmen können, und jetzt empfängt er einen Glückwunsch, weil er zum Erzbischof erwählt worden ist, eben im Jahr 1358, und zwar für seinen Geburtsort Genua. Sehr vieles verbindet ihn mit dem Dichter und diesen mit ihm. Von frühester Jugend auf, die sie in der Provence verbrachten, haben sie gegenseitig ihren Werdegang verfolgen und einer an dem des andern Anteil nehmen können. Ihm gegenüber ist Petrarca nicht stets der Lehrer; oft gibt er bereitwillig Antwort auf die Frage, wie es ihm an Leib und Seele ergehe (Fam. 5,16–18 und 17,9; 19,16 und 19,17), wobei er offensichtlich auf gütiges Verständnis baut. Wie schon gesagt (Fam. 17,5,10 ff.), hätte er Sette gerne mit drei anderen Freunden aus der Provence zu Mitbewohnern seiner Einsiedelei gemacht. Nun wird aber der Erzbischof nicht mehr lange zögern dürfen, der von ihm geforderten Residenzpflicht nachzukommen. Er wird 1360/6l in der Nähe von Genua die Benediktiner Abtei Cervera gründen, die rasch den Ruf asketischer Strenge erlangen wird. Und eben da wird er 1367 seine Grabstätte finden. Doch es gilt mit Brief 19,11 ins Jahr 1356 (oder gar 1355) zurückzuschauen. Petrarca schickt ihn am 26. Mai an den venezianischen Kanzler Benintendi dei Ravagnani, dem er sowohl in Venedig wie später auch in Mailand mehrmals begegnet, nämlich als einer Vertrauensperson des verstorbenen Andrea Dandolo. Ihm muss er zuerst freundlich, aber ganz entschieden erklären, dass seine Lobeserhebungen übertrieben und deshalb höchst peinlich, vor allem völlig unnötig seien, wenn es darum gehe, seine Freundschaft zu gewinnen. Diese stehe ihm ohnehin längstens offen. Darauf zeigt er sich gerne für einen Austausch von Büchern bereit und dankt ihm für die Zusendung eines Schreibens aus der Feder des verstorbenen Dogen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Kopie desjenigen Briefes, den sich der Doge sterbend noch abgerungen hatte, um vor Petrarca den eigenen Standpunkt ein letztes Mal zu verteidigen (Fam. 18,16 und Wilkins, Eight years 96 und 120). Nur weinend kann dieser die Zeilen lesen, weiss er doch, unter welchen quälenden Ahnungen sein geschätzter Freund gestorben ist. Gegen das Ende des Schreibens werden zwei Musiker Vater und Sohn als Boten erwähnt, und von ihnen wird erklärt, dass sie hoffen, in Venedig „die Ruhe zu finden, die sie bisher nirgends entdeckt haben“ (10 mit Anm.). Man hört das und staunt. Doch Petrarca scheint sich selber nicht zu wundern, als stünden da naive Phantasten vor ihm, welche die letzten politischen Wendungen in Venedig gar nicht beachtet hätten. Dabei ist (wenn die Datierungen stimmen) bloss ein Jahr vergangen, seit in Venedig jene entsetzlichen Tumulte stattfanden, die er – äusserst besorgt um Venedigs Zukunft – so genau datiert hat wie nur wenige Ereignisse! Venedig erholt sich rasch und gedeiht. Petrarca selber nimmt es zur Kenntnis, und hat auch in den nächsten Jahren manche Gelegenheit, die Stadt aufzusuchen und sich da von ihrem regen kulturellen

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und angenehmen Leben zu überzeugen. Vorläufig kann er sich zwar von Mailand noch nicht trennen und wünscht es auch nur halbwegs. Aber langsam freundet er sich mit dem Gedanken an, auch selber „die noch nirgends gefundene Ruhe in Venedig zu suchen“. Dann wird er eben bei Benintendi anfragen, ob man ihm eine Wohnstätte anbieten könnte; er selber würde der Stadt seine Bibliothek überlassen. Davon wird man in den Familiares nicht viel vernehmen, sondern das meiste erst in der späteren Briefsammlung der Seniles. Denn es vergehen bis zu dieser Neuorientierung noch etwa acht Jahre. Indessen bleibt Petrarca – um ins Jahr 1355 zurückzukehren – über die Handlungen und Absichten des Kaisers wochenlang im Unklaren. Immerhin scheint er Ende Mai von seiner Rückkehr nach Deutschland sicheren Bescheid erhalten zu haben. Anfangs Juni befindet sich auch der Kardinal Pierre Bertrandi, der die Krönung in Rom vollzogen hat, auf seiner Rückreise. Er macht einen Halt in Mailand und führt dort Gespräche mit Politikern und auch mit dem Dichter. Dies vermeldet der kuriale Sekretär Giovanni Porta (Wilkins, Eight years 97), indem er anfügt, wie „der grösste aller Poeten, die je geboren wurden,“ den Prälaten gründlich über die Rechte des römischen Volkes unterrichtet habe. Zwar kann man sich denken, wie eindringlich der Dichter dem hohen Geistlichen diese Rechte zur Beachtung empfahl, und ebenso, wie wenig der Unterrichtete von einer solchen Lektion erbaut war. Doch was tat’s! Die Kurie hatte ihre Wünsche durchgesetzt. Auch Lelio trifft in Mailand ein; er bringt dem Freund einen Gruss des Kaisers und dazu als dessen Geschenk eine Schaumünze des wahren Caesars mit. Ganz lächerlich nimmt sich diese Gegengabe zu Petrarcas Geschenk aus (Fam. 19,3,14), und wie wenig sie den Dichter erheitern konnte, ist dem Brief 19,12 zu entnehmen, der im Juni 1355 an den Kaiser abgeht. „Alles ist voll Trauer,“ sagt Petrarca. Das Werk, das Heinrich, der Grossvater Karls, bis zu seinem Tod unter gewaltigen Mühen zu retten versucht hat, wird vom Enkel, obwohl es leicht zu vollenden und zu retten war, nachlässig aufgegeben. Vom „Abschiednehmen“ spricht der Dichter, als dächte er nicht daran, sich je wieder an den König zu wenden, weil durch sein Versagen ohnehin alle Aussicht auf eine Wiederherstellung der Kaisergewalt mit ihrem Sitz in Rom geschwunden sei. Trotzdem fügt er die Bitte an, Italien nicht zu vergessen. Dass er weder die politischen Verhältnisse seines Landes noch auch die Möglichkeiten des Kaisers richtig hat beurteilen können, sei hier nur angemerkt. Eine der Bedingungen, unter denen die Kurie die Krönung in Rom erlaubt hat, ist ihm lange unbekannt geblieben, wie aus späteren Briefen hervorgeht. Hingegen erfährt er schon bald vom zweiten Aufenthalt des Kaisers Karl in Pisa und von der Dichterkrönung, deren er Zanobi da Strada würdigt (vgl. Bemerkungen zu Fam. 18,15). Schliesslich hört er noch, was den Kaiser in Pisa zur fluchtartigen Abreise zwingt: Mitten in einem unerwarteten bewaffneten Aufruhr, unter anderem wegen eines Gerüchts, Karl habe Lucca an die Florentiner verkauft, ist im Palast, den der

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Kaiser bewohnte, Feuer ausgebrochen. Wie wenig die kaiserlicher Macht und Würde in Italien vermöge, meint Karl daraufhin begriffen zu haben. An manchen Orten hat er gegen Bezahlung kaiserliche Vikare bestellt, aber im Gegensatz zu Petrarca sieht er ein, dass hiermit unter gegebenen Verhältnissen seine Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Seine Entfernung über die Alpen ist den italienischen Mächten nur recht, auch wenn sie, kaum dass er fort ist, neue Anstrengungen machen, sich seine Unterstützung auch für die Zukunft zu sichern. In der Folge davon wird Petrarca schon 1356 erneut in die Politik der Visconti eingebunden. Sie haben gegen schweres Geld das Reichsvikariat erworben; doch in einem ärgerlichem Mass fühlen sie sich dadurch beengt, dass der Markgraf Giovanni von Monferrat (Paleologo), der sehr bemüht ist, sein Gebiet auszudehnen, das kaiserliche Vikariat ausgerechnet über die Stadt Pavia erlangt hat; denn Pavia beanspruchen sie ganz entschieden für sich selber. Und schon bald wird gerüchteweise bekannt, dass sie vom Dichter fordern könnten, den Kaiser im Norden aufzusuchen. Ein Kardinal namens Jean Camaran verklagt ihn denn auch in Avignon als einen Freund und Gefährten von Tyrannen, was Petrarca sogleich widerlegen muss. Ohne den Übelredner zu benennen, schreibt er noch 1355 eine wütende „Invective“ gegen eine „hochgestellte Person ohne Kenntnis und Verdienst“ (nullius scientie aut virtutis) und verteidigt darin nicht allein sich persönlich sondern auch die drei jungen Regenten (vgl. Wilkins, Eight years 101): Sie sind keine Tyrannen, haben die Herrschaft nicht usurpiert, sie gewähren Freiheit und Sicherheit, und er, Petrarca, geniesst unter ihnen alle Musse, Ruhe und Unabhängigkeit, die er sich nur wünschen kann. Auf seine Ratschläge sind die Visconti nicht angewiesen; in ihren Palast wird er nicht gerufen; vielmehr hat er am Rand ihrer Stadt seine Einsiedelei und seinen Wald, um da unbehelligt seinen Studien zu obliegen. Das also kann man in der Invective schwarz auf weiss lesen. Von der genannten Einsiedelei hat er – wie erinnerlich – schon früher an Barbato da Sulmona in einem metrischen Brief hoch Erfreuliches berichtet, er wohnt da noch immer, aber es beschleichen ihn einige Zweifel, wie lange dieser angenehme Zustand noch anhalten werde. Er schickt also schon im Oktober 1355, während er mit der Rechtfertigung gegen den besagten Kardinal beschäftigt ist, nochmals einen Boten nach Neapel; denn nun möchte er durch den selben Barbato erfahren (Wilkins, Studies 243), ob der GrossSeneschal Acciaciuoli bereit wäre, ihm einen stillen abgelegenen, für Studien geeigneten Ort zuzuweisen, wo er nach seinem stürmischen Leben in einem stillen Hafen sterben könnte (Misc. 11). Er macht sich also trotz anders lautenden Beteuerungen keine Illusionen über die politischen Spannungen, welche ihn in eine sehr peinliche Lage bringen können. Die antimailändische Liga besteht nach wie vor, und unter den drei Visconti übernimmt der kämpferische Bernabò die Führung. Genau diesem ist er besonders verpflichtet. Er wurde schon 1354 gebeten, seinem ersten Sohn Marco Pate zu sein, und hat nicht gezögert, den Wunsch des Vaters zu erfüllen.

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Im April 1356, also ein Jahr nach Karls Kaiserkrönung, ist nun dieser Bernabò zur Eroberung Pavias entschlossen, ohne sich an die Drohgebärden der oberitalienischen Liga und des Markgrafen von Monferrat zu kehren. Eher beunruhigt ihn Marquard von Randeck, den der Kaiser als Stellvertreter in Oberitalien zurückgelassen hatte. Taucht aber die Frage auf, durch wen er den Kaiser am ehesten günstig stimmen könne (und wen er an seinem Hof am wenigsten vermissen werde), ist die Antwort rasch gefunden. Wie Fam. 19,13 angibt, weiss Petrarca im Mai 1356 sehr genau, was ihm bevorsteht: Er hat die Reise zum Kaiser nach Prag anzutreten. Die Visconti wünschen es; er wird aber nicht bloss ihren Auftrag erfüllen, so plant er, vielmehr wird er auch „Legat seiner selbst sein“ (3), das heisst, er wird für Italien eintreten und Karl die kaiserlichen Pflichten mündlich ins Gesicht aufzählen. Dieses Vorhaben schafft ihm eine gewisse Genugtuung. Aber entsetzlich ist ihm diese Reise „bis fast ans Ende der Welt“ trotz allem; sie fordert von ihm einen Aufwand, wie er ihn bisher nie hat erbringen müssen (2). So schreibt er seinem Francesco Nelli am 19. Mai, während schon sein Gepäck verschnürt wird, und bittet ihn um ein Gebet für eine gute Rückkehr. Dank einem späteren Schreiben wissen wir, dass er in allen Schwierigkeiten durch unwirtliche, von Kriegsvolk und Räuberhorden bedrohte Gegenden eine grosse Hilfe an seinem Gefährten Sagremor, dem französischen Ritter und Dienstmann der Visconti, empfing. Etwa drei Monate beansprucht die Mission insgesamt; einen Monat lang hält er sich in Prag auf. Und was er dort erreicht, bleibt ein Geheimnis. Inzwischen belästigt jedoch der genannte Vertreter der kaiserlichen Rechte mit Namen Marquart von Randeck die Visconti mit Truppen der antimailändischen Liga, freilich ohne den erwünschten Erfolg. Kaum ist Petrarca im September 1356 in Mailand zurück, meldet er seine Ankunft mit bloss knappen Worten wiederum seinem Freund Nelli und versichert ihn im Brief Fam. 19,14 vom 20. des Monats, er werde über alles Erlebte berichten. Das ist ein Vorsatz, wie man ihn oft von ihm hört: Ausführen wird er ihn nie. Er findet nur just soviel Zeit, um auf Italien ein Loblied anzustimmen, denn nun gerät selbst seine Einsiedelei am Rand Mailands in den Strudel der politischen Ereignisse. Nach einem Sieg über den genannten Marquart und nach seiner Gefangennahme im November 1356 findet die Stadt noch keine Ruhe, und erst vom 30. Mai des Jahres 1357 datiert der nächste Brief in der Sammlung der Familiares. Auch dieses Schreiben lässt nichts von Erlebnissen in Deutschland verlauten, nichts von Prag mit seinen eben errichteten grossartigen Bauten und aufgehäuften Kunstschätzen. Was hat Petrarca also gesehen? „Wie schön Italien ist, das habe ich in Germanien erfahren“ betont Fam. 19,15, und nicht viel mehr hat er früher auf seinen Jugendreisen an den Rhein zur Kenntnis genommen (Fam. 1,4 und 1,5). Ein uneingeschränktes Lob auf seine Heimat kann er sich ehrlicherweise freilich nicht erlauben. Mit wahrem Schmerz bricht er (19,14,2) rasch in einen Wehruf

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über die ewigen Gährungen und Intrigen unter ihren Bewohnern aus. Er erlebt sie Tag für Tag, und seit er in Mailand zurück ist, hat er „keinen Augenblick zum freien Atmen“ gefunden (19,15,2). Nicht weniger als zu Zeiten Augustins (19,15,3), so meint er, ist Mailand fortwährend von Kriegswirren erschüttert, und erst seit wenigen Tagen vermag Petrarca zu hoffen, es werde bald ein besserer kommen, wo er nach dem noch anhaltenden Sturm „zum Hafen der ersehnten Ruhe gelangen“ könne (4). Er denkt vielleicht an eine Wendung im Streit Mailands mit der römischen Kirche, weil auf Kardinal Albornoz ein neuer päpstlicher Legat, Abt Androin von Cluny, gefolgt ist, mit dem die Visconti im Frühling 1357 um das Streitobjekt Bologna verhandeln, oder er hofft auf ein Ende des Kampfes um Pavia. Etwas heitere Ruhe verbreitet nun wirklich das spätere Schreiben 19,16 (vom Juni/August 1357). Es richtet sich an Guido Sette und besteht aus zwei Teilen. Der erste ist in Mailand geschrieben worden, der zweite an einem ländlichen Ort Garegnano. Man kann auch eine andere Zweiteilung feststellen; denn zuerst hört man von Petrarca eine jener oft variierten Selbstprüfungen, die zwar nichts Handgreifliches vorbringen, aber eine Vielzahl an Grübeleien wiederholen: ob er seinen Leib bessere zügle als früher, ob er seinen Pflichten genüge, die Zeit richtig nutze, sich auf den Tod vorbereite, um dann auf Gottes Hilfe zu hoffen und sich gleichzeitig stoische Gelassenheit zu predigen, dies vor allem bezüglich der Frage, ob ihm einst Ruhm beschieden sein werde oder nicht (1–12). Wie klug durchdacht und lesenswert das alles ist: Vergnüglicher ist der zweite Teil (13 ff.), wo Petrarca auf Äusserlichkeiten in seinem mailändischen Alltag zu sprechen kommt und damit konkreter wird. Man hört von der Gunst, die er bei Gross und Klein geniesst, und man darf vermuten, er selber lache über sich bei seiner Beschreibung, wie er vornehm grüssend an seinen ehrfürchtigen Mitbürgern vorbeizieht. Gerne hört man, wie er’s mit dem Essen und Schlafen hält, wie lebhaft er im Kreise seiner Freunde schwatzt, während er sonst in Stummheit versinkt. Schliesslich lässt man sich besonders leicht zur Mitfreude an seinem Ferienaufenthalt in Garegnano verlocken (23 ff.). Eine ländliche Idylle stellt er vor, wo sich Bächlein in spielende Nymphen verwandeln, die Bewohner miteinander wetteifern, ihm Fischlein, Entchen, Böcklein und anderes zu bringen und wo auch die Kartause ihre feierliche Strenge ablegt, da die Ordensmänner freudig die Türe öffnen (26), um den Dichter wie einen Mitbruder an Gottesdiensten, Gesprächen und Mahlzeiten teilnehmen zu lassen. Nur wenig ist es, was Petrarca hier vermisst, denn er kann hier auch in aller Stille seinen Studien nachgehen. Doch zu dem wenigen, das er entbehrt, gehören wieder sein Adressat, eben Guido Sette selber, und Sokrates, die ihm auf der Höhe von San Colombano auch schon gefehlt haben, während er andere, wie er sagt, leichter entbehren kann (27). Es sind – wie schon bemerkt – die beiden, die er zusammen mit den zwei Freunden aus Cavaillon, dem Bischof und dem Vorsteher

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dort, in der Einsiedelei von Vaucluse einst bei sich haben wollte, wenn ihm ein ruhiges Lebensende vergönnt sein sollte (Vita solitaria 2,10). Der Brief 19,17 bildet die Fortsetzung zum vorangehenden. Denn der Freund Sette verlangt von ihm weitere Mitteilungen. Noch immer geht ein Gerücht um, Petrarca sei reich geworden, er, der jedes einträgliche Amt und allen Reichtum stets von sich gewiesen hat. Petrarca gesteht, dass er über mehr Mittel verfügt als früher, beteuert jedoch, er sei trotzdem nicht reicher geworden. Denn er verfügt über seine Habe ungefähr so, wie er es bei den alten Lobrednern des goldenen Mittelmasses, zum Beispiel bei Horaz, gelernt hat. Das entspricht auch biblischen Lehren, wie er weiss, und es ist auch gewissen Grundsätzen moderner Ökonomie vergleichbar: Man lasse das Geld wandern, man häufe es nicht in der Kasse. Viele Arten gibt es, mit ihm umzugehen; Petrarca zählt sie in prägnanter Weise auf (7); aber von sich selber weiss er nur dies (scio), dass sein Geld aus seinem Beutel weitergeht. Hierauf geht er zur zweiten Frage über; er hat Auskunft über seinen Sohn Giovanni anzufügen. Seine Worte sind aufschlussreich; an jedes sollte man sich erinnern, wenn man drei Jahre später jenen ernsten Brief überliest, den er an Giovanni richtet und nochmals später in seine Familiares aufnimmt (Fam. 22,7). Wird 19,17 richtig auf 1357 datiert, was man bezweifeln darf, dann ist der junge Mann jetzt etwa 20 Jahre alt, denn mit etwa 15 Jahren soll er ja im Jahr 1352 Kanoniker in Verona geworden sein (Fam. 13,2). Er habe das Zeug, ein guter Mensch zu werden, meint Petrarca zuversichtlich; über seine Begabung könne er sich freuen. Doch leider sei er auch träge; von Studien wolle er nichts wissen. Wolle er aber ein Bauer oder Fischer oder Hirte werden, sei das auch nicht schlecht, sofern er gute Sitten pflege. Hierauf fällt wieder das Wort Rütlein (ferula); es hat bisher so wenig genützt als Bitten, liebe Worte und freundliche Mienen (nil…valuere). Das allerdings möchte man wahrhaftig nicht annehmen, dass Petrarca gegenüber seinem Sohn von zwanzig Jahren noch an leibliche Züchtigung irgendeiner Art gedacht hat. Es gibt noch verschiedene weitere Familiares, die mit guten Gründen auf 1357 datiert werden und dem Leser andeuten, womit sich Petrarca damals auch sonst noch beschäftigt. Doch er fügt sie nicht hier in Buch 19 ein (s. Fam. 20,3 und 21,1 bis 21,4). Er springt in den Frühling 1359 hinüber und hat dafür seine eigenen Gründe. Schon im Zusammenhang mit seiner Reise nach Prag sind neben anderen Projekten der Visconti jene Eroberungspläne erwähnt worden, die auf Pavia zielten; und jetzt wird Pavia ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Nach ersten Angriffen auf die Stadt schon 1356 und nach monatelangen Belagerungen waren die Mailänder zum Abzug gezwungen worden. Fam. 19,18 vom 25. März (1359) verweist auf die Endphase des Krieges, berichtet von den erbitterten Kämpfen und deutet auf den Sieg voraus, den die Visconti erringen werden. Das Schreiben spricht den Anführer der Stadtbevölkerung an, das ist ein Augustinereremit namens Bussolari, selber aus Pavia gebürtig, der sich bei seinen An-

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strengungen um eine religiöse und sittliche Reform in politische Wirren verstrickt hat. Längst muss er die Freiheit Pavias und sein Reformwerk mit eisernem Willen nicht mehr bloss gegen eine einzige Macht sondern gegen verschiedene Herrschaften, jedoch noch immer in erster Linie gegen Mailand zu retten versuchen. Dass Petrarca in seiner Handschrift notiert, er habe seinen Brief an Jacopo Bussolari im Auftrag seines Herrn Bernabò geschrieben – er, der es vorzieht, Aufträge höchstens anzudeuten –, gibt zu denken. Er möchte wohl eine Schuld von sich weisen, aber in der späteren Edition wird der Auftraggeber nicht mehr aufgeführt. Abgeschickt hat er den Brief am 25. März (1359). Er spricht Bussolari als Bruder an, erwähnt Freundesliebe und mahnt ihn, seines Standes und seiner Aufgabe zu gedenken. Dann beweist er ihm schonungslos, in wie entsetzlicher Weise er, der Augustiner, das Gegenteil vollbringe, seinen Stand verleugne, seine Aufgabe verkehre und statt Frieden einen grauenhaften Krieg, furchtbare Zerstörung und ein Verderben ohne Ende schaffe. In seine heftigen Vorwürfe mischt er reichlich Spott und Hohn (35 f. und passim); ja er wirft dem Mönch, um ihn erst recht lächerlich zu machen, offenbar allen Ernstes vor, er wolle nicht allein Feldherr und Stadttyrann sein (16 ff.), sondern vor allem auch als einer der grossen Redner in die Geschichte berühmter Männer eingehen (18 ff.). Mit seinen beissenden Worten muss er Bernabò genügen und wohl auch sein Gewissen beschwichtigen. Niemals früher, so liest man weiter, hat ein Mönchlein, so ein fraterculus (19), sich dreist unter Behelmte und Gewappnete gemischt, doch so gefalle er sich, und so wolle er gesehen werden. Grossartig seien seine Triumphe und gewaltig die Scharen seiner Gefangenen (34 ff.), so ruft er dem Gescholtenen zu, der kaum noch weiss, wie er die Stadt und sich selber vor dem Schlimmsten bewahren kann. Dieser Ton wirkt abstossend und, vergleicht man ihn mit dem in den Mahnschreiben an die Genuesen oder gar an den Dogen von Venedig, kann man einen Unterschied nicht überhören: Dort wurde das Pathos von der ernsten, ja drückenden Angst vor einem gewaltigen Verhängnis getragen, im Fall des Dogen sogar von echter Liebe zum Angesprochenen erwärmt. Hier hingegen fällt die Sachlichkeit stellenweise aus und erstickt der Hohn den Gedanken an mitfühlende Sorge. Noch ein zweites Schreiben schickt Petrarca an Bussolari im Auftrag des Visconti, nämlich im Oktober 1359; es steht jedoch nicht unter den Familiares. Pavia ist bereits weitgehend entvölkert, teils verödet, und die restliche Bevölkerung nah dem Verhungern, weshalb ihr Anführer den Befehl erteilt, die Hunde zu töten. Und eben das bricht dem Hundefreund und Jäger Bernabò nun das Herz. Was bleibt da Petrarca anderes übrig, als den Unmenschen nochmals im Auftrag seiner Herren zu warnen und anzuhalten, diese Hunde eher nach Mailand schaffen zu lassen. Hier meldet die Unterschrift: Francesco Petrarca im Namen des Herrn Bernabò (Misc. 7; Wilkins, Eight years 197 f.). Etwas später, am 13. November 1359, muss sich die Stadt ergeben, und hierauf büsst Bussolari seine Schuld mit vierzehnjähriger Haft im Augustiner Konvent von Vercelli, zwei-

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fellos auf Verlangen eines Visconti (vgl. Anm. zu Fam. 19,18), wohl Galeazzos, des neuen Stadtherrn der eroberten Stadt. Erst spät befreit ihn ein päpstlicher Befehl, der zugleich den bestimmten Visconti exkommuniziert. Friede herrscht nun freilich, doch der des unerwünschten Eroberers.

Das Buch 19 beginnt Petrarca mit einem Brief zum Empfang Karls IV. in Italien. Es folgen Berichte von Begegnungen mit dem König Ende 1354, aber keine von der Italienfahrt, der Krönung oder von Verhandlungen des neuen Kaisers. Erwähnt wird ein Aufstand in Verona. Auch meldet Petrarca dem Genuesen Sette vom Umsturz in Venedig. Er schliesst Freundschaft mit dem Kanzler dieser Stadt. Den Kaiser tadelt er nach seinem Abzug aus Italien, und kurz darauf meldet er seine Abreise an den Kaiserhof zu Prag im Auftrag der Visconti, dann seine Rückkehr 1356. Zu 1357 gibt er Auskunft über seine Lebensführung und rechtfertigt diese mit einem Lob auf das Mittelmass. Mehr und mehr verpflichtet ihn Bernabò Visconti zu politischen Aufgaben, so 1359 im Kampf um Pavia. Manche Ereignisse aus dem Zeitraum von 1354 bis 1357 berücksichtigt der Dichter weder hier noch in späteren Büchern.

Mit Buch 20 wird der Leser erneut an den Anfang der Italienfahrt Karls IV. zurückversetzt. Das Schreiben 1 hat Petrarca nicht datiert, doch setzt man seine Abfassung mit guten Gründen auf den Juni 1355 fest. Sein Adressat Neri Morando aus Forlì, schon oben (S. 67*) kurz erwähnt, gehört zu den Grossen Venedigs und ist beauftragt, mit dem Kanzler Benintendi und anderen Abgeordneten der Hafenstadt den neuen Kaiser durch Italien zu begleiten; er ist mit Petrarca befreundet und hat ihm einige Nachrichten über Begebnisse auf dieser Reise zukommen lassen. Dass er gleich zu Beginn des Buches mit einer Antwort geehrt wird, hebt die Würde seiner Person hervor, doch betont Petrarca gleichzeitig die Wichtigkeit seines eigenen für ihn verfassten Briefes. Über den Verlauf des kaiserlichen Unternehmens ist er schon recht gut unterrichtet; was ihm bekannt geworden ist, treibt ihn zum düsteren Moralisieren. Aber der neue Brief des Freundes rüttelt ihn aus dumpfem Dahinbrüten auf; er kann seinen Jammer nun aussprechen (1 ff.) und hält fest: Die Zeit ist schlecht; doch die kommenden Zeiten werden noch schlechter sein. Zu hoffen gibt es nichts auf dieser Welt. Unter allen gegenwärtigen Übeln ist aber keines so verhängnisvoll wie die sittliche Verkommenheit; sie ist die Wurzel aller übrigen. Von der lasterhaften Menge wird der anständige Mensch erdrückt (11 ff.), und jede Seele gleicht einer belagerten Stadt, ist wie ein Troia, über dessen Mauern die Feinde bereits hereinbrechen (15 und 16). So anschaulich schildert das Petrarca,

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dass er an bildliche Darstellungen einer Psychomachie erinnert. Besonders angewidert zeigt er sich durch die Macht des Goldes; dabei steht er offenbar unter dem Eindruck der Mitteilungen, die ihm Neri Morando gemacht hat. Dieser wusste, was auch zeitgenössische Chronisten festhielten, dass mit dem Kaiser überall um Rechte und Freiheiten gefeilscht worden war, dass zum Beispiel die Visconti für schweres Geld als Reichsvikare anerkannt worden waren und dass die Florentiner für ihre Unabhängigkeit 100`000 Florenen bezahlt hatten. Fast „Allmacht“ wagt Petrarca dem Geld – mit halb unterdrücktem Bedenken – zuzuerkennen: omnipotens pene est aurum (25 ff.). Könige und selbst Päpste unterwerfen sich seiner Gewalt. Eine zornige Anstrengung, das Ärgernis mit literarischen Mitteln plastisch vor sich hinzustellen, als liesse es sich dann packen, dehnt den Brief zu besonderer Länge. Dem Schreiben 20,2, das wiederum einen Brief des Neri Morando beantwortet, kann man entnehmen, dass Petrarca über die Vorgeschichte zur Italienfahrt des Kaisers besser informiert ist als früher. Von Bedingungen, an welche die Päpste ihre Erlaubnis zur Romfahrt geknüpft hatten, ist ihm Wichtiges nicht bekannt gewesen. Um so grösser sind jetzt seine Entrüstung und sein Schmerz. Dass Karl sich so entscheidende Beschränkung hat gefallen lassen, das begreift er nicht; doch er findet dafür einen Grund: Den Nordländern fehlt die feurige Begeisterung, deren ein Kaiser bedarf (3), und das kann sie gewissermassen entschuldigen; doch weit besser wäre es, die höchste Gewalt den Südländern vorzubehalten. Ganz unerträglich und unentschuldbar ist dagegen der Machtanspruch der Kurie, die darauf beharrt, einem Kaiser den ihm angestammten Sitz in Rom zu verwehren (6 f.). Zwei ebenbürtige Mächte vertragen sich nicht nebeneinander (5); das heisst, eine muss sich der andern unterordnen. Was das für Rom bedeuten würde, das führt Petrarca nicht aus. Wahrscheinlich hat er sich darüber vor dem päpstlichen Legaten Bertrandi geäussert, als er ihn bei einer Begegnung in Mailand „über die Rechte des römischen Volkes“ unterrichtete (vgl. oben Anm. zu Fam. 19,11 und 19,12). Doch seine Überzeugung ganz rückhaltlos darzulegen, hat er sich kaum erlaubt. Wäre er über die reiche einschlägige Literatur zum selben Thema nicht gründlich orientiert gewesen, hätte ihn allein schon der Gedanke an das Geschick von Dantes Buch „Über die Monarchie“ zu grosser Vorsicht anhalten können. Von seinem Abschiedsbrief an den Kaiser Fam. 19,12, der in die selbe Zeit fällt, also in den Sommer 1355, ist oben gesprochen worden. Viel heftiger hat sich Petrarca über den fluchtartigen Abzug Karls in anderen Werken, so im Buch de vita solitaria ereifert (2,4 c. 3). Er kann sich mit der Enttäuschung, die Karl IV. ihm bereitet hat, nicht abfinden, und wie ihn die Visconti 1356 an den Hof in Prag senden, damit er dort ihren politischen Standpunkt vertrete, denkt er vor allem daran, wie in Fam 19,14 und 19,15 schon berichtet, dem Kaiser nochmals tüchtig ins Gewissen zu reden, dass er sich seinen Pflichten nicht entziehe. Seit der selben Zeit

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haben sich die politischen Konstellationen Oberitaliens weiter gewandelt, und jener ehrgeizige Graf von Monferrat, den die Visconti zu ihren unangenehmsten Feinden rechnen, hat sich erfolgreich der Stadt Genua genähert, um diese eben den Visconti, ihren Schirmherren, abspenstig zu machen. Wirklich fällt die Stadt von ihnen ab. Petrarca kann das nicht erstaunen. Er hatte schon bei der Übergabe Genuas an Mailand 1354 geahnt und es auch ausgedrückt, dass eine günstige Entwicklung dieses schwer geschädigten Gemeinwesens ganz und gar davon abhange, ob „der Erzbischof am Leben bleibe“ (Fam. 17,4,9). Der Erzbischof ist bald nachher, Anfangs Oktober, gestorben, darauf hat unter der Bevölkerung der Hafenstadt der Parteienkampf wieder grösste Ausmasse angenommen; der vom Erzbischof eingesetzte Vikar hat dort weichen müssen, und mancher Parteigänger der Visconti ist in die Verbannung gezogen. An diese Ereignisse erinnert das Schreiben 20,3 mit dem Datum Mailand, 18. Dezember (1357). Petrarca richtet es an einen Genuesen mit Namen Galeotto Spinola, der in Mailand in der Verbannung lebt, und ermahnt ihn mit erstaunlicher Bestimmtheit, die Leitung seiner zerrütteten Vaterstadt zu übernehmen. Er sei der richtige Mann dafür, „Gott und die Tugend und das adelige Blut haben Dich zum Princeps gemacht“ (2). „Jung“ ist Spinola nicht mehr; doch „die Tugend kennt kein Alter“, richtiger: Sie hat ein Alter, „das Früchte trägt“ (3). Mit Namen vornehmlich aus der Antike kann Petrarca belegen, wie oft gerade betagte Männer ein Heer oder Volk aus grosser Not hinausgeführt haben. In Genua also soll der verehrte Freund „die Glieder des Gemeinwesens so ordnen, dass die Besseren die weniger guten lenken“ (4). Diese Aufforderung zu einem ungemein kühnen Unternehmen lässt sich einigermassen begreifen, wenn man annimmt, dass Spinola und Petrarca in Mailand seit längerer Zeit miteinander Gespräche über die Zustände in Genua geführt und sich dabei recht gut kennen gelernt haben, dabei das Intrigenund Interessenspiel der um Genua bemühten Parteien einigermassen überschauen. Spinola kann von sich aus zur Überzeugung gelangt sein, er sei der richtige Mann, eine Neuordnung herbeizuführen, oder jemand kann ihm das eingeredet haben, lange bevor Petrarca es zu tun unternahm: jedenfalls benötigt er Helfer, und sicher hat er einigen Grund für die Hoffnung, diese in Mailand zu finden. Denn die Visconti hegen den Wunsch, den verlorenen Einfluss auf die Hafenstadt zurückzugewinnen, und um das zu erreichen, sind sie zweifellos bereit, jedes günstige Mittel zu ergreifen. Den Edelmann Spinola bei seinen Versuchen zur Machtergreifung zu unterstützen, ist wohl nicht das schlechteste. Gemeinsam mit ihm würde man die Pläne des verhassten Grafen von Monferrat durchkreuzen können. Eben dieser hat kurz zuvor dem früheren Dogen Boccanegra (dem aus Genua verbannten) zur Rückkehr in die Stadt und zum Rückgewinn des Dogats verholfen. Dass er sich an der Macht halten könne, ist jedoch höchst unsicher. An Gegnern, die ihn stürzen wollen, fehlt es nicht. Es fragt sich nur, wer von diesen Gegnern seinen Platz ein-

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zunehmen vermöchte. Spinola, der Freund Mailands und der Visconti, hätte gewiss nicht schlechtere Aussichten als ein anderer, wenn er mit kluger Diplomatie vorzugehen verstünde. Solche Überlegungen sind Petrarca durch den Kopf gegangen; einige davon könnte ihm sein genuesischer Freund Guido Sette eingeflüstert haben. Deshalb kann er Spinola zurufen: „Handle“, und ihn als vir ingens, als „gewaltigen Helden“, preisen (5), ja er kann sich auch bereit erklären, ihm „jeden erwünschten Dienst zu leisten“. Damit beendet er seinen Brief. Von einem weiteren Kontakt mit Spinola hört man nichts mehr. Boccanegra kann dank Eroberungsversuchen auf Korsika einen Erfolg verzeichnen, der ihm aber wenig hilft. Die Parteikämpfe in der Hafenstadt halten an; sie sind mit daran schuld, dass die Stadt ihren erstaunlichen Sieg über Venedig von 1354 nicht nützen kann. Denn sie hat ihn dank der Schutzmacht Mailand errungen und darauf die ihr nützliche Schutzmacht viel zu rasch wieder abgeschüttelt. Boccanegra hält sich in seinem Amt noch einige Jahre, bis er 1363 vergiftet wird. Nochmals an einen Genuesen richtet sich das nächste Schreiben 20,4, doch ist die Herkunft des Adressaten kaum von Bedeutung. Petrarca antwortet dem selben Marco, der schon Adressat von Fam. 3,12 und 17,9 war, dabei erfährt man jetzt dank verschiedenen Handschriften seinen Familiennamen, er heisst Portunarius. Einst hatte er dem Dichter von seinen Skrupeln gesprochen, wie man mit öffentlichen Ämtern ein Leben der Frömmigkeit und Eingezogenheit vereinen könne (Fam. 3,2), und jetzt bittet er um eine Ermunterung zum Ausharren im Rechtsstudium. Ganz jung kann er nicht mehr sein; er hat den bestimmten Pfad „spät betreten“ (27); um so entschlossener soll er – wie Petrarca ihn ernstlich ermahnt – vorangehen und sich nicht immer neue Fragen über seinen Werdegang vorlegen (36; 38). So lautet das Fazit der Ermahnung. Doch der Dichter bietet weit mehr, nämlich eine höchst lesenswerte, weil geistreiche (den lateinischen Text sollte man vornehmen), ausgezeichnet formulierte Geschichte der Jurisprudenz, freilich eine aus dem subjektiven und für Petrarca bezeichnenden Gesichtswinkel skizzierte. Sie beginnt mit der Nennung berühmtester Namen bei der frühesten Antike in Griechenland und Rom (8 ff.), als die Rechtswissenschaft noch mit der edelsten Redekunst eine wunderbare Einheit bildete, führt zu einer weniger anspruchsvollen, die sich von der genannten Einheit allmählich löst und die Redekunst zurückstellt. Sie ist noch immer grossartig und vollbringt erstaunliche Leistungen, dies vor allem bei den Römern, welche über die Griechen hinaus wachsen (17 ff.). Später beginnt ein allmählicher Niedergang, der bis in die Gegenwart anhält (22 ff.). Der frühere Ernst und die hohe Auffassung von Gerechtigkeit und Recht sind geschwunden, die Lust am Forschen ist verkümmert und die gründliche Kenntnis einer schwatzhaften Ignoranz gewichen. Die moderne Handhabung von Paragraphen dient nun dem Gelderwerb, und damit hört die Rechtswissenschaft auf, eine „freie“ zu sein; sie ist nicht mehr eine der artes liberales, und nur noch als ars mechanica kann man sie gel-

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ten lassen (21 ff.). Will man Petrarca glauben, so hatte er selber nicht etwa das Rechtsstudium geflohen, sondern die Notwendigkeit, sich damit den Lebensunterhalt zu verdienen (Fam. 24,1,20). Einige Gedanken in dieser historischen Entwicklung erinnern an Petrarcas Ausführungen zur Medizin: Der Wandel und Abstieg endet für die beiden Wissenschaften gleicherweise in Unkenntnis, im Gelderwerb, im Schwatzen, im Verlust jenes freien Geistes, der eine ars liberalis beseelen muss. Man könnte erklären, ein so weites Ausgreifen sei in einer einfachen Ermahnung zum Ausharren im Studium recht überflüssig; aber Petrarca denkt hierüber anders. Die grossen Vorbilder der alten Zeit muss man kennen, an ihnen muss man sich messen und sich von ihnen begeistern lassen, damit das eigene Streben die richtige Spannkraft besitze. Marco wird angehalten, in der modernen und schlechten Zeit unter Fachgenossen einer der besten zu sein, indem er sich eben an den grossartigen Rechtsgelehrten der Vorzeit orientiere. Bezeichnend ist übrigens, dass in diesem historischen Abriss eine Bemerkung über die Dichtkunst nicht fehlt. Petrarca hat seine ganz persönlichen Gründe darauf hinzuweisen, dass nicht jeder bedeutende Rechtsgelehrte sie verächtlich behandelt habe. Gerade der weiseste von allen, Solon, hatte im hohen Alter sich von der Rechtskunde abgekehrt und der Dichtkunst zugewandt (8). Das unterstreicht der Dichter, denn in Bologna sollte man beachten, was das für alle Zeit zu bedeuten habe. Die Dichtkunst ist von höchstem Wert; ja sie ist – für Petrarca – bereits die freie Kunst par excellence Auf dieses Schreiben 20,4, für das man kein bestimmtes Jahr vorschlagen kann, folgt ein Brief an den Freund Barbato von Sulmona, doch bleibt unsicher, ob man ihn eher auf 1357 oder auf 1358 datieren soll (vgl. Wilkins, Studies, cap. 9). Hierauf gleitet Petrarca, sofern kein Irrtum vorliegt, ins Jahr 1359 weiter, nachher wieder zurück, um erneut aus dem Jahr 1358 zu berichten. Eine Korrespondenz mit dem Hof von Prag, die im Jahr 1357 stattfindet, hat er hingegen erst ins Buch 21 eingefügt, ohne dass ein triftiger Grund dafür sichtbar wäre. An diesen Briefen ist für die Leser einer späten Generation nicht allein das Datum ziemlich gleichgültig, sondern auch ihr Inhalt von bloss beschränktem Interesse. Es sieht so aus, als habe Petrarca das Briefeschreiben damals gewissermassen vernachlässigt, wie man das auch einer Klage Nellis entnehmen könnte, der bei Petrarca nachfragt, weshalb er keine Nachrichten empfange (Fam. 20,6 und 20,7). Der Dichter ist in Studien vertieft, über die er in den Familiares keine Auskunft gibt. Dieser Mangel über eine längere Zeitspanne hinweg gibt Gelegenheit für einen Einschub, nämlich über zwei Persönlichkeiten aus Petrarcas Freundeskreis ein Wort zu sagen, die ihn zwischen 1355 und 1359 in Mailand mehr als sonst beschäftigen und die er trotzdem in den Briefen dieser Zeitspanne nicht erwähnt, so dass man erst später mit einiger Überraschung erfährt, dass der eine schon lange Zeit mit dem Dichter Kontakt gepflegt und der andere seinen Kontakt mit dem Dichter nie auf längere Zeit abgebrochen hatte.

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Pandolfo Malatesta von Rimini ist die eine der beiden Persönlichkeiten (vgl. Wilkins, Eight years, 126 f.; 135 ff.; 148 f.). Er tritt 1356 als Heerführer in den Dienst der Visconti und lässt sich in Mailand nieder. Hier findet er den persönlichen Zugang zum Dichter, den er aber schon lange verehrt. Unmittelbar vorher sind seine Familie, sein Vater, seine Brüder und er selber in Kämpfen um die von ihnen beanspruchten Städte in der Romagna vom päpstlichen Feldherrn Albornoz schwer bedrängt worden, sie haben die Exkommunikation auf sich gezogen und erst am 2. Juni 1355 einen Waffenstillstand mit der römischen Kirche abgeschlossen, wonach sie von der kirchlichen Strafe befreit wurden. Von diesem Pandolfo, der an Gedichten, vor allem an volkssprachlichen, Gefallen findet, empfängt Petrarca seit Jahren manche Aufmerksamkeiten, ja auf seine Anweisung hin ist schon früher ein Maler bei ihm eingetroffen, der ihn porträtieren sollte, und später spricht ein anderer Maler auf Verlangen des selben Mannes mit dem selben Auftrag bei Petrarca vor. Da der Condottiere als tüchtig gilt, dabei Sonette zu dichten weiss, im Rufe steht, gebildet zu sein und einen soliden Charakter zu besitzen (vgl. R. Weiss), erstaunt es nicht, dass Petrarca ihn rasch zu seinen Freunden rechnet, ihn, wenn er krank wird, häufig besucht und auch sonst seine Höflichkeiten gerne erwidert. Die Beziehungen mit ihm nehmen jedoch bald ein vorläufiges Ende, weil Bernabò Visconti wegen einer Liebesaffäre 1357 gegen ihn einen wohl unberechtigten Verdacht schöpft, in Wut gerät und ihn einkerkert. Der Condottiere kann entkommen, sucht Schutz beim Kaiser in Prag, hetzt da tüchtig gegen die Visconti, setzt sich dann nach London ab, wo ihn Sagremor als Dienstmann der Visconti einholt und vergebens zum Zweikampf fordert, kehrt darauf nach Italien zurück, um sich in Venedig niederzulassen, und kann sich da unter den Feinden der Visconti geehrt und sicher fühlen. Petrarca, der das alles genau erfährt und doch nichts darüber schreibt, ist nicht der Mann, eine geschlossene Freundschaft aufzulösen (Fam. 19,11,6; 20,13,15; Sen. 3,3 und oft). Dank späteren Briefen, die Pandolfo erwähnen, weiss man denn auch, dass er den Malatesta in Venedig trifft, ja nochmals später sogar von seiner Rückkehr nach Mailand vernimmt und mit ihm überhaupt dauernd verbunden bleibt. Daher wird von diesem Condottiere noch später die Rede sein. Neben Pandolfo darf auch Azzo da Correggio nicht so lange beschwiegen werden, bis man kaum noch weiss, was Petrarca ihm verdankt. Als Herr von Parma war er einst sein Gönner gewesen, und daran ist in einer Notiz zu Fam. 19,5 an Moggio von Parma erinnert worden. Dass er sich 1354 (ein halbes Jahr bevor Karl IV. seine Italienfahrt antritt) infolge eines Aufruhrs gegen Cangrande II. aus Verona entfernen und darauf dessen feindselige Verfolgung fürchten muss, ist für ihn doppelt schlimm; denn die Visconti, die ihm Parma entrissen haben, bleiben seine machtvollen Feinde und sind mit der Familie della Scala von Verona liiert. Bedrängt von beiden Seiten, wie er ist, weckt er bei Petrarca grosses Mitgefühl. Sogleich ist dieser gewillt, ihm nach Möglichkeit zu helfen (Wilkins, ebenda

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165 f.). Immer wieder wendet er sich an Bernabò Visconti und an Cangrande della Scala mit der Bitte um Nachsicht, Versöhnung und Entgegenkommen; mehrmals drängt er auch Azzo, auf Angebote einzugehen, wenn dieser sich mit einer Entschädigung nicht abfinden will. Inzwischen hält sich der Vertriebene in Ferrara, dann in Venedig auf. Doch verhältnismässig rasch kommt der Dichter seinem Ziel näher. Im Herbst 1358 darf er vernehmen, dass Azzo gewisse Güter im Gebiet von Parma zurückerhält und sich damit zufriedengibt, und 1359 hört er, dass Azzo, auch er, sich in Mailand zeigen darf und auf ein gutes Einvernehmen mit Bernabò hoffen kann. Dort stirbt er nur wenig später im Sommer 1362 (Var. 19 und 28), vom Dichter heftig betrauert und hoch gefeiert. Ohne die Bemühungen Petrarcas wäre aber eine Versöhnung kaum zustande gekommen. Für persönliche Freunde notfalls einen bedeutenden Einsatz an Zeit, auch Mut und Unbeirrbarkeit aufzubringen, hat er nie gescheut. Denn er darf sich immer wieder davon überzeugen, dass die Herren ihm gegenüber einige Gründe haben, diesem und jenem Bittgesuch gewissermassen zu entsprechen. Dabei greifen seine persönlichen Beziehungen oft gefährlich in politische Spannungen hinein, und nur weil er sie sozusagen entladen und neutralisieren kann, gelingt es ihm, Freunden in diesem Kräftefeld einen Weg zu bahnen. Sie haben davon einen wahren Nutzen, während er selber schadlos davonkommt. Nach diesem Einschub ist nun ein Wort zum erwähnten Brief 20,5 vom 27. August (1358) an Barbato da Sulmona nachzuholen. Dankbar spricht Petrarca von der Freude, die er regelmässig beim Empfang seiner Nachrichten verspürt. Die Korrespondenz zwischen den beiden ist recht rege, doch ist davon verhältnismässig wenig in die Familiares, einiges dagegen in die Sammlung metrischer Briefe eingegangen oder sonstwie erhalten geblieben. Petrarca hat dem neapolitanischen Hofmann schon vor Jahren eben diese Briefe gewidmet; er hat ihm später den Widmungsbrief zugeschickt, ihn über seine Lebensweise in Mailand orientiert, ihm dann (vgl. oben S. 70*) die Frage vorgelegt (Misc. 11), ob in Neapel ein abgelegener, ruhiger Wohnsitz zu haben wäre. Seither hat Barbato dem Dichter vom Tod des gemeinsamen Freundes Barrili berichtet (vgl. Fam. 12,14), ihm einige Briefe geschickt, die verlorengingen, auch ein Paket mit Scheren zugestellt, das jedoch nicht ankam (Wilkins, Studies 240 f.). Nun muss, nachdem sich irgendwelche Personen bei Barbato als Freunde Petrarcas vorgestellt und als solche Geschenke in Geld empfangen haben, dieser entschieden Vorsicht predigen (2 f.). Er betont, ihre Freundschaft und ihre Korrespondenz seien im weiten Umkreis so gut bekannt, dass gegenüber solchen Geld heischenden Freunden Zurückhaltung am Platz sei. Wieder vernimmt man, wie leicht Aussenstehende nach ganz persönlichen Postsachen greifen und in eine Privatsphäre eindringen können. Allerdings hat der Hofmann selber manches zu diesem Übel beigetragen. Denn er gehört nicht nur zu den grössten Lobrednern Petrarcas, sondern versteht es auch besonders gut, sich in

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dessen Ruhm zu sonnen, indem er ziemlich sorglos seine Briefe (auch solche an irgendwelche Adressaten) zirkulieren lässt und sich damit Freunde verschafft. Auf freundliche Worte dieses sympathischen Neapolitaners fällt Petrarca stets von neuem herein. Jetzt ist in seinem Brief 20,5 noch vom Verlangen nach einem Wiedersehen die Rede. Petrarca denkt an eine Romreise – im Jubeljahr 1350 haben sich die beiden in Rom ja verpasst – (Fam. 12,7,4), fügt aber gleich darauf einen Verhinderungsgrund an, wie man das von ihm gewohnt ist. Einmal erdrücken ihn seine Pflichten, einmal herrschen ganz ungewöhnliche Kriegswirren; diesmal gilt beides. Eingefügt wird in den Brief ein Wort über den „vortrefflichen Mann“, an dem sich Petrarca „in einzigartiger Weise freut“ und den er mit Barbato vereint zu sehen glaubt, als gehörten sie zusammen (1; vgl. die Formulierung in Fam. 15,3,15 an Zanobi). Gemeint ist Niccolò Acciaiuoli. Denn auch davon hat Barbato seinen Nutzen, dass Petrarca unverdrossen an einer schwärmerischen Heldenverehrung für den Gross-Seneschall festhält, ohne sich um bissige Bemerkungen zu kümmern, die Boccaccio über diesen Mann gelegentlich fallen lässt (z. B. in Epist. 10). Mit keinem Wort wird Zanobi erwähnt. Dabei befindet er sich noch immer in Neapel. Denn erst 1359 nimmt er in Avignon das einträgliche Amt eines päpstlichen Sekretärs an, obwohl sich das für einen Lorbeergekrönten, wie Petrarca meint, sehr wenig ziemt (Sen. 6,6). Hierauf gelangt man dank dem Brief 20,6 ziemlich genau zu jenem Monat zurück, in welchem Petrarca – wie aus Fam. 19,18 bekannt – seinen scharfen Tadelbrief an Bussolari, den mönchischen Verteidiger Pavias abgesandt hat, nämlich zum März 1359. Nach einem Blick in verschiedene Schreiben, einer sorgfältigen Deutung ihrer Inhalte und einem Vergleich zwischen ihnen, erklären gründliche Forscher wie Wilkins (Eight years, 177. 184), der Dichter habe sich in den vergangenen Wintermonaten vorübergehend in Venedig und Padua aufgehalten (das machen ihm seine vielfältigen persönlichen Beziehungen ja leicht), er sei vor kurzem nach Mailand zurückgekehrt, habe da eine Reihe von Freundesbriefen, vor allem solche aus der Feder Nellis vorgefunden und sich sogleich daran gemacht, sie zu beantworten. Über Nelli ist aus anderen Schriften zu erfahren, dass er im Frühling 1357 in einer Angelegenheit der Kirche von Florenz nach Avignon habe reisen müssen. Auch ihm bleibt also eine solche Wallfahrt ad limina apostolorum nicht länger erspart, und er, der im Rufe stand, immer daheim zu sitzen, lernt jetzt wie die andern, einmal diesem, einmal jenem Ruf zu folgen. Nun hat er sich bei Petrarca beklagt, er habe schon lange nichts mehr von ihm gehört, und nimmt dann zur Kenntnis, das lange Schweigen habe seinen Grund im Studieneifer des Meisters (1). Zudem wird er daran erinnert, dass viele Briefe abgefangen würden, und wirklich kann ihm das mit einem erstaunlichen Beispiel aus jüngst vergangenen Tagen belegt werden; denn Petrarca hat etwas Abgefangenes zurückgefangen (6). Ein weiterer Grund für das Stocken des Briefverkehrs liegt aber darin, dass

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Petrarca einige Briefe an Nelli, weil sie voller allgemein verhasster Wahrheiten seien, klugerweise gar nicht abgeschickt hat (2). Heute findet man diese längst in der Sammlung Sine nomine, dort selbstverständlich ohne irgendeine Namennennung. Sich entschuldigt zu haben, genügt dem Dichter. Auf einige Mitteilungen, die Nelli aus Avignon geschrieben hat (darunter Epist. 18 und 19), geht er nicht im mindesten ein. Dabei hat er aus solchen erfahren können, dass der Freund sich in Avignon mit Giovanni Petrarca getroffen hat. Eben da befindet sich dieser, weil er nach seiner Flucht aus Verona das Verweilen zu Hause nicht lange hat aushalten können. Nelli aber hat sich oft und gern mit ihm unterhalten, ja er rühmt sein angenehmes und bescheidenes Wesen, bevor er die Bitte vorbringt, Petrarca möge von seinem Sohn doch nicht verlangen, „dass er schon von Kindheit auf ein Greis sei“ (Epist. 19,2). Noch mehrere Worte fügt Nelli zu Gunsten Giovannis an; ihm gehöre alle seine Liebe, und somit empfehle er ihn der väterlichen Milde. Das war deutlich gesprochen, und dass der unüberhörbare Vorwurf Petrarca früher oder später recht beeindruckt habe, ist höchst wahrscheinlich. Im Augenblick jedoch, da er Nellis Schreiben empfängt, ist er viel zu sehr und viel zu angenehm beschäftigt (7), um an einen Kummer zu denken. Er hat seit etwa Mitte März Boccaccio bei sich zu Besuch, bespricht mit ihm manches, arbeitet mit ihm und lobt vor Nelli begeistert das „wunderbare Beisammensein“. Nur dauert es nicht mehr lange, wie er vorausblickend abmisst. Er hat einen zuverlässigen Boten, der Nelli über alles berichten wird, und dieser Bote ist Boccaccio in Person. Denn er ist schon im Begriff, wieder nach Florenz zurückzureisen. Nach einem sorgfältigen Aufsuchen einzelner Hinweise lässt sich denken, was die beiden Freunde während ihres Zusammenseins in Mailand zur Sprache bringen. Unter anderem die Frage nach Petrarcas Wohnsitz: Soll er wirklich verbleiben, wo er ist. Jetzt lässt sich sogar Boccaccio überzeugen, dass unter den waltenden Umständen Mailand ein recht günstiger Ort ist (vgl. Var. 25). Dann unterhält man sich über einen Leonzio Pilato, den Petrarca soeben bei seinem Aufenthalt in Padua kennen gelernt und von dem er eine Prosaübersetzung vom Anfang der Ilias erhalten hat. Zu wünschen wäre, diesen Mann für eine längere Tätigkeit in Italien zu gewinnen. Weiter ist das Epos Afrika Gesprächsgegenstand. Boccaccio drängt – wie er 1362 in Epist. 12 gegenüber Barbato da Sulmona versichern wird – mit allen Kräften darauf, vires omnes exposui, dass es unverzüglich herausgegeben werde; doch ist alles umsonst. Weiter spricht man über die Hirtengedichte. Petrarca nimmt die Gelegenheit wahr, Boccaccio einige Texte vorzulegen und ihn um Rat zu bitten (vgl. Fam. 22,2). Schliesslich fällt ein Wort über Dante. Boccaccio rühmt den Dichter in so hohen Tönen, dass er hinterher fürchten wird, Petrarca zu nahe getreten zu sein, was jedoch ganz abwegig ist (vgl. Fam. 21,15). Eine völlig andere gemeinsame Beschäftigung notiert Petrarca mit besonderem Vergnügen in sein Notizbuch zu jenem Frühling 1359: Er hat mit Boccaccio im Garten gearbeitet,

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hat „am Samstag, dem 16. März, um die neunte Stunde“ und „bei abnehmendem Mond“ Lorbeerbäumchen gesetzt; hoffend, dass es ihm jetzt glücke, sie hochzuziehen. Boccaccio, eben angekommen, hat ihm beim Pflanzen geholfen, „was zum Gelingen entscheidend beitragen muss“ (vgl. Wilkins, Eight years 182). Dass ihm bei solcher Gärtnerarbeit stets die Mondphase zu beachten wichtig ist, geht schon aus früheren Anweisungen hervor (Fam. 17,5,9). Ein ganz besonders schöner Tag muss dieser 16. März für beide gewesen sein. Seit Jahren haben sie, soweit man feststellen kann, eine ähnliche gemeinsame Freude nicht erlebt. Ein neuer Brief an Nelli, Fam. 20,7, folgt am 11. April 1359. Boccaccio ist abgereist, Petrarca noch in heiterer Stimmung, obwohl sich bei ihm schon die Sorge regt, wie bei dem waltenden abscheulichem Wetter die Strecke nach Florenz zu überstehen sei. Einen Winter mit ganz ungewöhnlichen Schneemassen auf den Höhen und selbst bis in die Niederungen hat man eben hinter sich gebracht (vgl. Fam. 20,14,3), und jetzt giesst es in Strömen, während infolge der Schneeschmelze die Flüsse überborden. Hat Boccaccio diese Gefahr überstanden, muss er noch den Apennin überwinden (2 ff.), so dass Petrarca keine Ruhe finden wird, bevor er Nachricht von der Ankunft des Freundes erhalten hat. Auffällig häufig berichtet Petrarca von ähnlich schlechtem Wetter; schönes notiert er kaum; es ist offenbar das selbstverständliche. Im Augenblick hat er als Helfer übrigens „einen geistreichen Mann und Freund“ bei sich; denn jetzt, wo er (wie vermutet) keine bedeutenden Briefe schreibt, ist er damit beschäftigt, die schon geschriebenen zusammenzustellen, nämlich die Sammlung der Familiares auszuarbeiten. Sie wird ihn noch Jahre lang grosse Mühe kosten. Ganz abgesehen davon, dass ihm die Auswahl aus einem riesigen Haufen von Schreiben nicht leicht fällt und er jeden Brief zu einem Kunstwerk vollenden will, bleibt auch immer die Not bestehen, dass gute Hilfskräfte eine Rarität sind. Den „gescheiten Freund“, welcher ihm jetzt beisteht, kann er, wie das üblich ist, nicht auf lange Zeit behalten, und Kopisten muss er immer von neuem suchen. Dabei meint er natürlich, ein schöner Codex weise vom ersten bis zum letzten Blatt eine immer gleiche vortreffliche Schrift auf. Aus dem Kreis der Florentiner Humanisten, dessen geistiges Haupt Boccaccio ist, führt Brief 20,8 vom 13. April 1359 hinaus. Nach dem Tod von Petrarcas Freunden aus der Familie Colonna hört man eher selten von einem Fortbestehen einer Beziehungen zu ihren noch lebenden Gliedern. Wollte man aber annehmen, von den Abkömmlingen der Grossfamilie Colonna sei ihm keiner wirklich nahe gestanden, dann würde man durch den eben bezeichneten Brief anders belehrt. Der Adressat Agapito ist ein Enkel jenes Sciarra Colonna, der 1303 Papst Bonifatius gefangengenommen und als Vertreter des römischen Volkes König Ludwig den Bayern 1328 (ohne Rücksicht auf päpstliche Proteste) zum Kaiser gekrönt hatte. Sciarra aber war ein Bruder Stefanos des Älteren, mit dessen Söhnen Petrarca bis zu ihrem Tod eng befreundet gewesen war. Immer hegt er Bewunderung für die

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Colonna und ihren stolzen, edlen Mut; besonders an Stefano dem Alten hat er die altrömische Würde verehrt (11; vgl. Fam. 5,3,8; 8,1). Beschlossen lag in dieser Verehrung eine Kritik am Papsttum, von welcher er manches oft genug wiederholt hat, nicht zuletzt in seinen Briefen an Karl IV. Dem jungen Agapito jedoch, dem Adressaten des genannten Briefes, hat er offenbar von früh auf grosse Zuneigung geschenkt; ein Lehrer-Schüler-Verhältnis wird im Brief angedeutet, an das Petrarca mit Freuden zurückdenkt (3 f.), weil er an dem Römer hohe Intelligenz, grossen Eifer für das Studium und rasche Fortschritte zu jener Reife beobachtete, die er mit dem Wort Virtus zu verherrlichen pflegt. Bestürzt ist er nun allerdings, dass er von Agapito ein Schreiben erhält, das er nicht deuten kann. Es spricht Worte der Liebe und Dankbarkeit am Anfang aus und wechselt dann rasch zu neidvollen und bitteren Vorwürfen. Völlig unbegreiflich sind sie dem Dichter; fast könnte er sie für schlechte Scherze halten (6). Er soll reich geworden sein und prächtige Häuser besitzen – offenbar sorgen Neider für Gerüchte (vgl. Fam. 19,17 an Guido Sette) –; auch soll er Agapito angeschuldigt und zudem mit seinem Namen in einen „Baum der Eitelkeiten“ eingefügt haben. So lauten die wichtigsten Anklagen (6 ff. bis 21). Doch Petrarca hat nie einen Baum der Eitelkeiten erdichtet, und die übrigen Behauptungen entbehren der Wahrheit nicht weniger. Was aber den Reichtum betrifft, so antwortet dieses Schreiben mit Variationen früherer Ausführungen, die jeweils angeben, was man unter Reichtum zu verstehen habe (vgl. z. B. Ausführungen in Fam. 19,17); und am Geschick des jungen Klerikers hat der Lehrer keine Schuld. Verwundern wird nicht, dass beide ihren Aufenthalt in Avignon wie ein schreckliches Unwetter auf hoher See überstanden haben (7); man hat allen Grund zur Annahme, dass viele andere die Kurie nicht anders erlebten. Was Agapito dann als spätere Erfahrung andeutet, dass ihm nämlich die kirchliche Laufbahn (trotz seiner bedeutenden Fähigkeit und adligen Abkunft) nur eine bescheidene Existenz erlaube, ist auch nicht aussergewöhnlich. Er muss zwar, wie Petrarca hört, sogar mit einem schlechten Dach, das ihn kaum vor dem Regen schützt, Vorlieb nehmen (ebenda), doch auch ein Bischof von Cavaillon hat zur Zeit kein besseres Dach über sich; das hat uns der Dichter mitgeteilt, weil er eine Novembernacht bei ihm unter tropfender Decke zugebracht hatte (Fam. 15,2). Zum Gerücht, er sei reich, könnte Petrarca freilich etwas beigetragen haben, doch davon sagt Fam. 20,8 nichts. In einem früheren Brief aus Avignon hat er dagegen die Vermutung geäussert, man schliesse wohl von seiner Kleidung, die etwas besser sei als die übliche, auf geheime Schätze (Fam. 14,4,19). Und später, da er sich in Mailand aufhält, gesteht er einem Freund, dass er auf ein besseres Gewand noch immer ungern verzichte (Fam. 21,13,12). Dass er aber Häuser von besonderer Schönheit besitze und davon gar eine Mehrzahl (6), kann er rundweg bestreiten. Wer ihn kennt, weiss übrigens, dass ihm bei der Wahl einer Wohnstätte etwas anderes als Schönheit viel wichtiger ist: Sie muss gesund sein und sich an einem gesun-

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den Ort befinden. In Mailand ist sie sogar ganz ausserordentlich gesund, saluberrima (Fam. 16,11,11), auch seine früheren Häuser, wie das in Parma, waren gesund (7,1,11 und 8,5,6), und das in Venedig wird später wieder so hervorragend gesund sein wie das in Mailand (Sen. 3,1 letzter Teil). Denn seine Gönner beachten seinen diesbezüglichen Wunsch. Darauf kommt Brief 20,8 nicht zu sprechen. Insofern aber ein gutes Dach zu einem gesunden Haus gehört, muss Petrarca für das seine allerdings eben ihm Frühling 1359 speziell dankbar sein. Noch einmal sei an den vergangenen Winter mit seinen unerhörten Schneemassen und an die nachfolgende Regenzeit erinnert: Riesige Schäden haben sie überall angerichtet, nicht zuletzt auch in Bologna, wie der Chronist Matteo Villani festhält (9,4). Und genau da in Bologna hat der Archidiakon Agapito seine Behausung. Daher lässt sich denken, er habe – sonst ein recht zufriedener Mann – für einmal aufgeseufzt: Ein Petrarca müsste man sein! Die Vermutungen seines Lehrers gehen freilich in eine andere Richtung (21). Ein Kurzbrief ist 20,9 vom 1. Januar (1358) und beinah wäre er gar nicht zustande gekommen: „Lieber gar nicht schreiben, als so wenig,“ hat sich Petrarca gesagt. Doch dann besinnt er sich, drei Freunden, die ihm gemeinsam einen Brief geschickt haben, zu antworten. Er muss ihnen mitteilen, was ihn im höchsten Mass erstaunt. Er hatte immer gemeint, nichts, gar nichts könnte ihm Avignon liebenswert machen, und jetzt wollte er dort sein, weil Freunde dort leben und gesellig miteinander verkehren. Dass ihrer drei ihm geschrieben haben und von ihm eine Antwort erhalten, heisst natürlich nicht, es hätten keine weiteren sich daselbst aufgehalten. Nelli, von dem schon gesagt wurde, dass er vom Frühling 1357 bis zum Herbst 1358 dort weilte, meldete im September 1357 nach Mailand, mit welchen Freunden er zusammenkam und nannte Guido Sette, Lelio, Stefano Colonna und Sokrates (Epist. 18). Im Jahr 1359 wird dann auch Zanobi in Avignon eintreffen, um das Amt eines päpstlichen Sekretärs anzutreten, doch wird er von den eben aufgezählten Klerikern vielleicht bloss noch Sokrates vorfinden. Der Verkehr zwischen Italien und der Provence ist allerdings sehr lebhaft, seit Rom an der Rhone liegt; ein ständiges Hin und Her findet statt. Dabei wählt natürlich ein Grossteil der Reisenden den Weg über das Ligurische Meer, der für angenehm gilt (Fam. 6,3,66 f.) und der sich gerade auch für die Florentiner empfiehlt. Dagegen hätte Petrarca den Seeweg wohl nicht einmal dann gewählt, wenn er von Mailand aus rascher erreichbar gewesen wäre. Er scheut die Seekrankheit und ist zudem überzeugt, er sei oft und deutlich genug vor Meerstürmen gewarnt worden (vgl. Fam. 5,5,19); man dürfe Gott nicht versuchen! So oder so zieht es ihn eher den Po abwärts oder jedenfalls nach Osten, wo er Freunde hat und wo auch seine Pfründe liegt. Ob der Brief 20,10 am 27. Januar 1358 oder 1359 geschrieben wurde, lässt sich nicht sagen. Wilkins ist von seinen Argumenten für die Datierung auf 1358 selber

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nicht wirklich überzeugt. Wie dem sei: Petrarca gibt Giovanni Aretino, das ist Aghinolfi, der Kanzler der Gonzaga in Mantua, eine kurze und allgemeine Auskunft über sein Befinden und bedauert, dessen Einladung auf ’s Land nicht annehmen zu können. Mailand führt Kriege, einen gegen Pavia, wie man längst weiss; doch das erlaubt keine sichere Datierung. Krieg bezeichnet einen mailändischen Dauerzustand (vgl. die Anmerkungen zum Text). Wären die Aussagen Petrarcas buchstäblich zu nehmen, müsste man glauben, er verfolge den Kriegsverlauf aus nächster Nähe, ja stehe dem Kriegsherrn Bernabò zur Seite (3); jedenfalls gibt es da Vergleiche, die man so deuten könnte, denn es heisst da unter anderem: „Ich sitze zu Füssen des Steuermanns“. Hier, sagt er, beobachte er die Winde, den Kurs, den das Schiff nimmt, das Treiben anderer Schiffe, bleibe aber mitten in der Gefahr „unerschrocken“. Er würde also nicht, wie das seiner Gewohnheit entspricht, abgesondert am Stadtrand in Studien vertieft seine Zeit verbringen, wo ihn manche Nachrichten gar nicht erreichen (Fam. 20,6,1 und 20,8,23) und von wo er selten in den Palast der Visconti gerufen wird (Fam. 19,16,16); vielmehr würde er ausgehen und sich Nachrichten verschaffen und vielleicht gerufen oder ungerufen den Palast aufsuchen und da Ratschläge erteilen. Doch wie dem sei: Sein Vorbild in der schwierigen Lage ist Cato Uticensis, von dem Brutus sagte: „Voller Angst für alle, unbesorgt für sich“ (4). Ihm hätte Perarca gleich sein wollen. Doch er lebt statt in der Antike in einer bösen Zeit. Einige seiner Fähigkeiten erinnern dennoch an sein altes Vorbild: Seine Disziplin beim Arbeiten, seine Wissbegier und seine Ausdauer nehmen noch immer zu. Das wiederholt er in den Familiares mehrmals, und es ist zweifellos wahr. Unmöglich ist allerdings, anders als vermutungsweise anzugeben, welchen Werken er sich 1358/59 vorzüglich widmet. Wenn er ein wenig geheimtuerisch andeutet, ein Schreiben sei mit Vorsicht zu behandeln, da es unliebsame Wahrheiten enthalte, errät man leicht, dass er einen Brief sine nomine über Zustände an der Kurie in Avignon meint. Jenem mehrfach erwähnten Stefano Colonna, Vorsteher von StOmer, der in Avignon mit Nelli verkehrt (vgl. oben zu Fam. 20,9), beteuert er in Fam. 20,11 (vom 1. Mai 1358) sozusagen hinter vorgehaltener Hand, wie gut er gewissen Personen ins Herz sehe, ob sie wollten oder nicht, und prophezeit, dass deren Taten schon in der ganzen Welt bekannt seien und von der Welt schon bald nicht mehr hingenommen würden. Eben damit ist klar, woran er denkt. Wenn der Tag angebrochen ist, an dem man das Treiben der Kurialen nicht mehr duldet, werden seine anklagenden Briefe ans Licht kommen, so wird er im Vorwort zu den gesammelten Briefen sine nomine später drohen. Er ist aber vorerst wohl mit den Nummern 17 und 18 beschäftigt, und wenn er sie in berechtigter Vorsicht kaum einmal aus den Händen gibt, spricht er darin dennoch ein Du an, das keinen anderen meinen kann als Nelli, um den er sich wegen seines Aufenthalts in Avignon sehr besorgt zeigt. Das Schicksal hat dem Freund „die Ruhe missgönnt“,

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als es ihn an die Rhone verschlug. Wirklich entsetzt sich nun auch dieser Freund über die Zustände, die er da wahrnimmt, und ganz im Sinne Petrarcas schreibt er: „Wolfsrudel“ streifen da umher; Aufgeblasenheit und Dünkel herrschen; der Ort hat sich in eine „Kloake der Welt“ verwandelt (Epist. 19). Petrarca liest solche Reden, die sein Urteil bekräftigen, mit grosser Genugtuung, doch hat er selber ähnliche Bilder in einem weit besseren Latein und zu weit schöneren Kadenzen aneinandergereiht. Und immer wieder schickt er an Freunde Grüsse, von denen man denken könnte, sie seien nicht nötig und nur wer viel Zeit übrig habe, nehme sich dazu die Mühe. Die nächsten zwei Briefe in Buch 20 schickt er an Lelio, der seit einiger Zeit nicht in Rom, sondern – wie angedeutet – wieder in Avignon weilt. Im Schreiben 20,12 vom 1. Mai 1358 macht er sich die Aufgabe, dem Freund, an dem er eine tiefe Verstimmung zu bemerken glaubt, mit etwas Tadel auch etwas an Ermunterung zu verabreichen; und gut fügt sich, dass er ihm einige drollige Eigenheiten eines hochbetagten Freundes referieren kann, der früher mit ihnen beiden verkehrt hatte. Er beschreibt den Alten ausgezeichnet; er sieht ihn bei sich im Haus als fast ständigen Gast und hat ihn gut beobachtet. Bis zu seinem letzten Tag gilt er ihm in seiner liebenswürdigen Verschrobenheit eher als angenehme Zerstreuung denn als Last; ja er hat ihn lieb gewonnen (12,4 ff.). Man wird sich erinnern, dass Petrarca in einem anderen Brief einen offensichtlich geistig behinderten Mann als einen Mitbewohner vorstellte (Fam. 18,6,3), als wäre er an dessen sehr sonderbares Benehmen gewöhnt. Doch die beiden haben unter sich kaum irgendwelche Ähnlichkeiten; der frühere war eine schwerfällige Missgeburt, der spätere leidet, so pfiffig er noch ist, an seiner Senilität. Weshalb und während wie vieler Jahre er bei Petrarca ein- und ausging, wird nicht gesagt. Angedeutet wird nur, dass für seinen Lebensunterhalt gesorgt wurde. Denken lässt sich, dass diesem Haushalt immer wieder oder gar beständig unbemittelte oder irgendwie bedürftige Menschen in irgendeiner Funktion oder ohne solche eingegliedert wurden; die Schar der Mitbewohner war ohnehin gross, da der Dichter stets etwa 6 Diener (Hausleute Knechte) oder mehr, auch Kopisten um sich hatte und ausserdem oft zahlreiche Gäste an seinem Tische verköstigte, wie Var. 15 aus späterer Zeit berichtet. Aus diesem Umstand, den er kaum sonderlich schätzte, scheint er sich eine Tugend gemacht und sich in der Folge als grosszügigen Gastfreund bewährt zu haben. Er hatte es ja ausgesprochen: Wo grössere Habe ist, da gibt es auch mehr Esser, das lasse sich nicht vermeiden (Fam. 19,17,6). Doch sein Haushalt funktionierte nicht zum besten, weil die Diener oft wenig taugten (vgl. Fam. 4,14; 19,16,25; 22,12) und gute selten waren. Jene Perle, die ihm Nelli einmal vermitteln wollte, nämlich als eine famulam doctam (Epist. 15), wehrte sich für ihre Freiheit so feurig wie Petrarca für die seine: adiurat illa se liberam esse velle (Epist. 16,10). Somit kann man sich fragen, wie oft und wie lang er Tag für Tag in seinen vier Wänden die ihm

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nötige Ruhe fand. Zwar werden so alte Leutlein, wie der geschilderte Kleriker, die sich nicht bloss zum Essen einfanden, sondern ihn, wie es scheint, auch sonst aufsuchten, nie in grosser Zahl vorhanden gewesen sein; und dennoch muss man für wörtlich nehmen, wenn er feststellt, seine Tage seien voller Unruhe und er arbeite am liebsten nachts oder richtiger: Seine Studien liebten die Nacht (19,7,3). Eine Fortsetzung zu diesem Brief 20,12, der Lelio ermuntern sollte, stellt Brief 13 vom 30. Juli 1358 dar. Petrarcas Ahnung, Lelio sei schwer verstimmt, erweist sich als richtig. Er vernimmt durch eine Drittperson auch den Grund dafür und kann sich kaum fassen. Die beiden Freunde Lelio und Sokrates haben sich zerstritten und entzweit. „Und ich bin der Grund dafür“(3). Doch das stimmt natürlich nicht. Schuld daran trägt ein Verleumder, und Schuld trägt auch Lelio, der dem Verleumder Gehör geschenkt hat. Dieser hat Lelio einzureden vermocht, der Freund habe ihn bei Petrarca schlecht gemacht (20), und um diesen nicht zu betrüben, hat man ihm alles verschwiegen (2 f.). Dadurch aber ist die Sache grotesk geworden, weil die wenigen Worte, mit welchen der Dichter die Verleumdung hätte entlarven können (6 f.; 10.22 f.), unausgesprochen blieben. Nun zeigt sich der Dichter geradezu verzweifelt, und wiewohl er sich schon mehrmals viel Zeit genommen hatte, Gedanken über die wahre und edle Freundschaft vorzutragen, bringt er nochmals eine Schilderung zu Papier, denn Freundschaft gehört nun einmal zu seinen bevorzugten Themen, und die neue Gelegenheit, sie abzuhandeln, lässt er sich nicht entgehen. Was er jetzt niederschreibt, ist wieder nicht frei von rhetorischem Überschwang, aber die Rhetorik ist hier weniger Kunst als natürlicher Erguss starker Gemütsbewegung. Es fehlt daher unter anderem jene Überfülle antiker Beispiele, von der man in anderen Briefen oft vieles als störende Geschichtskunde streichen möchte. Freilich wird auch hier die Freundschaft bis zum Göttlichen erhoben und unter flehentlichen Beschwörungen eine Unbeirrbarkeit des Vertrauens und der Neigungen gefordert, dass man kaum weiss, wie sie mit dem lebendigen Leben zu vereinen wäre (13 ff.). Auffallend in dieser Charakterisierung der Freundschaft ist eine Einzelheit, die einen unausrottbaren Fehler in Petrarcas Patriotismus aufdeckt: Lelio, der Italiener, versagt, eben das ist klar, und sein schuldloses Opfer ist Sokrates. Dennoch lässt sich dieses Nordländers unverbrüchliche Treue und edle Gesinnung nicht anders als mit seiner ihm anerzogenen italienischen Geistesart erklären; und es sind seine italienischen Freunde, just Lelio und andere, die ihm die bessere, höhere Gesinnung beigebracht haben (7). Nicht das erste Mal ist es, dass Petrarca sich in dieser Weise gerade über Sokrates ausdrückt (vgl. Fam. 9,2,7; 17,10 Anm. 4). Doch es lohnt sich nicht, ihm das zu verübeln; die Kritik am Charakter italienischer Wesensart bleibt bei ihm nicht dauernd aus. „Wenn nicht Liebe mich täuscht“, dieses Wort, so häufig von ihm verwendet, und manche andere Einschränkung stehen nicht selten neben Lobreden auf die Vorzüglichkeit seiner Heimat, allerdings häufiger in späten als in frühen Briefen (Fam.

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17,7,4; 19,14,2; 21,9,14; 4,12,35 etc.). Daneben urteilt er über die Deutschen ab und zu auch günstiger als über seine Landsleute (Fam. 1,5,11 f.), und dies nicht zuletzt, wenn er just von der Freundschaft spricht. Die Deutschen nämlich, so meint er, indem er ein Wort des Kaisers Friedrich II. aufgreift und „die beiden wichtigsten Nationen miteinander vergleicht“ (Sen. 2,1 vom Jahr 1363), nörgeln nicht ständig an ihren Freunden herum wie die Italiener, sondern fühlen sich in ihrer Freundschaft gut aufgehoben und suchen darin nichts anderes als Liebe. Das ist wahrhaftig ein grosses Lob, und man fragt sich bloss, wo und dank welchen Bekanntschaften Petrarca die Erkenntnis jenes Kaisers an sich selber erproben konnte. Vielleicht denkt er an Studienkameraden in Bologna. Ja die Deutschen, so zitiert er Friedrich überdies, schätzen einen vertraulichen Umgang, während die Italiener mit Achtung behandelt werden wollen (ebenda), und zum Beleg für die Richtigkeit solcher Meinungen hätte er, wie angedeutet, gerade den Streit zwischen Lelio und Sokrates beiziehen können. Es vergeht offenbar eine ziemlich lange Zeit, bis Petrarca vernimmt, wie Lelio seine Vorwürfe und Ermahnungen aufnahm und ob er sich mit Sokrates versöhnte. Der nächste Brief an Lelio ist 20,14 und datiert vom 9. Februar 1359; kein früherer sagt etwas über eine Wandlung der gefährdeten Beziehung aus. Petrarca ist soeben von einem längeren Aufenthalt in Padua nach Mailand zurückgekommen, findet ein Schreiben des Freundes vor und ergreift die Feder, steif vor Kälte (2), meldet noch, wie schneereich der Winter in Italien ist, bevor er an sein eigentliches Thema herangeht, und zeigt sich dann glücklich über die herrliche Leistung, die Lelio vollbrachte, indem er das Misstrauen ablegte und den lange gehegten Zorn verscheuchte (14,8 und 14,13 ff.). Wunderbar einig sind sich die beiden, dass der Zorn durch und durch ein Übel sei (11), und bestätigen sich zu ihrer Genugtuung, dass sie damit gegen Aristoteles antreten (10 ff.). Darauf schwelgt der Dichter im Ausmalen der vorausgehenden Versöhnungsszene, erlebt tief bewegt, wie die Freunde sich weinend in die Arme stürzen, wie die Zeugen Tränen vergiessen, ja er denkt sich aus, wie er selber gleichsam als Quell all dieser Ergiessungen sich in die Umarmungen einfügt (13). Das weiss er: Nie hat er Lelio eine grössere Freude zu verdanken gehabt (ebenda). Nun hat aber der Brief einen zweiten Teil (oder ist aus zwei verschiedenen Briefen zusammengesetzt), und da geht es um eine geradezu geschäftliche, ja unangenehme Sache. Kein Zufall, dass sie gerade von Lelio vorgebracht wird, denn er ist es, der sich an der Kurie unablässig und getreu um Petrarcas Anliegen kümmert; er ist dafür berühmt (Fam. 20,13,22). Erneut gerät Petrarca nun aber in Erregung. Denn wahrhaftig haben seine Freunde in Avignon noch immer nicht begriffen, dass es sinnlos ist, ihm ein einträgliches kirchliches Amt anzupreisen. Obwohl er vor Jahren gemeint hat, er habe ein für allemal deutlich gemacht, dass er niemals Ämter und Würden annehmen werde, steigert man nun das Angebot und legt den

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Kardinalshut vor ihn hin, weil er das Amt des päpstlichen Sekretärs auch jetzt wieder abgelehnt hat (15 ff.). Nun fehlen ihm die Worte, um seine Verachtung für solche Zumutungen auszudrücken. Er weiss nichts anderes zu tun, als Gott zum Zeugen zu nehmen und zu beteuern– wahrhaftig tollkühn und unbedacht –, dass er „sich eher den Kopf abschlagen, als einen Kardinalshut darauf setzen würde“ (16). Glauben soll man endlich, dass er nicht will und ewig nicht will, und mit seinem vollen und ganzen Willen nicht will. Seinem Ärger muss er sich Luft verschaffen und sich über seine Freunde und Feinde gewaltig entrüsten, bevor er zur Ruhe zurückfinden kann. Erst nachher vermag er scherzhaft zu spotten. Und über wen zuerst, wenn nicht über Zanobi, der – wie schon oben kurz gemeldet (Überblick zu Fam. 20,5) – in Avignon jetzt eben das kirchliche Amt übernimmt, das Calvo von Neapel innegehabt hat und das er, Petrarca, vor Jahren, weil für den Kurialstil unbegabt, nicht übernehmen musste und noch immer ablehnt (Fam. 13,5 und 13,6). Zanobi hat Neapel schon verlassen, was völlig seiner früheren Neigung widerspricht. Er wird es noch bereuen (25 ff.), sagt Petrarca halb drohend, halb lachend, und geniesst es, wie sonst selten, seiner Vorteile in Mailand zu gedenken (26 f.). Gut lebt er da, wahrhaftig. Gleichzeitig kann er einen Dankesbrief von Sokrates entgegennehmen und beantwortet ihn am folgenden Tag mit Fam. 20,15. Sie haben sich lange Zeit nicht mehr geschrieben; sie haben einander schon alles gesagt und nichts mehr anzufügen, so stellt er fest. Das deutet jedoch nicht auf eine Verminderung der Liebe. So etwas würde Petrarca niemals zugestehen. Dann weist er allen Dank für seine Bemühung um die Versöhnung zurück und verlangt statt dessen Dank gegenüber Gott; fügt noch ein Lebewohl an, als sollte es für lange Zeit gelten, und irrt sich dabei. Schon über kurzem werden Sokrates und er sich erneut einiges mitzuteilen haben (Fam. 21,9).

Buch 20 beginnt mit einem Rückblick auf die Flucht des Kaisers 1355 und mit einer finsteren Zukunftsvision. Der Herkunftsort des Adressaten, das ist Forlì, weist auf ein politisches Umfeld, dem Petrarca bisher nur wenig Interesse geschenkt hat. Er kümmert sich 1357 noch um die Politik der Genuesen, wendet sich jedoch sogleich den Jahren 1358/59 zu und beschäftigt sich in zehn Briefen mit persönlichen Angelegenheiten bestimmter Freunde. Einen Studenten belehrt er über die Rechtswissenschaft; auch führt er die Korrespondenz mit dem Hofmann Barbato in Neapel und mit Francesco Nelli in Florenz weiter. Anregend und genussreich ist für ihn vor allem ein Besuch Boccaccios in Mailand. Einige Bemerkungen lassen erkennen, dass er an Briefen zu den Übelstände an der Kurie arbeitet und die Sammlung der

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Familiares für einen Abschluss vorbereitet. Erneut muss er sich gegen ein Gerücht, dass er reich geworden sei, verteidigen. Angelegentlich müht er sich um eine Versöhnung zwischen den Freunden Lelio und Sokrates in Avignon. Neuen Bemühungen, ihn an die Kurie zurückzuholen, begegnet er schroff abweisend. Alle Briefe datieren aus Mailand.

Die Ehrenstelle im Buch 21 hat Petrarca dem Erzbischof von Prag Ernst von Pardubitz zugedacht. Der Hof in Prag dominiert die erste Hälfte dieses Buches, und da ist es nur richtig, dass die Spitze seiner kirchlichen Hierarchie zuerst genannt wird. Brief 1 wird von Mailand aus durch den immer selben zuverlässigen französichen Ritter Sagremor de Pommiers, für den Petrarca grosse Achtung hegt, zum Adressaten gebracht. Dem Erzbischof, doch auch dem Boten kann er wegen ihrer redlichen Gesinnung sogar ganz geheime Wahrheiten, die in anderen Händen gefährlich sein könnten, bedenkenlos ausliefern (1), und das erlaubt er sich eben jetzt, indem er dem Schreiben wohl Briefe mit der Bezeichnung Sine nomine beifügt. Näheren Umgang mit Pardubitz hat er, wenn nicht anlässlich von Karls Romfahrt, so doch während seines etwa vier Wochen dauernden Aufenthalts am Kaiserhof im Jahr 1356 gepflegt, und somit hat er von diesem entschlossenen Ratgeber und Mitstreiter Karls eine recht klare Vorstellung, auch wenn ihm nicht alle seine Charakterzüge und Wirkungsfelder bekannt geworden sind. Gestreng ist dieser geistliche Herr, und ausgezeichnet hat er sich als Förderer der Bildung und vor allem als Reformator in dem Sinn, dass er überall für gute Ordnung gesorgt, Grenzen sichtbar gemacht und Gesetze erläutert hat. Neue Beachtung verschaffte er ihnen auch dadurch, dass er sie sichtete und sammelte, Synoden abhielt und das Amt der Correctores cleri einrichtete. Berühmt wurde er für seine Ketzerverfolgung, für die er dank der Unterstützung durch Karl IV. eine gut organisierte Inquisition ausbauen und bezahlen konnte. Dem hochgebildeten Italiener Petrarca bestätigte er damals in Prag so oft und so mitleidsvoll, er sei „in die Barbarei“ verschlagen worden, dass sich dieser jetzt recht gerührt daran erinnert und ihm so höflich und entschieden widerspricht, wie man das von ihm hatte wünschen mögen: Prag liegt nicht in der Barbarei, sagt der Dichter; hervorragende Männer hat er da getroffen; wie im antiken hochgebildeten Athen ist er sich vorgekommen (4). Es folgt das Schreiben 21,2 an den Kanzler Karls IV., an Johann von Neumarkt (Jan ze Streda). Es ist so zu datieren, wie das an den Erzbischof verfasste, und natürlich durch den selben schon genannten Ritter Sagremor überbracht worden. Der Ton ist hier in doppelter Hinsicht von dem des vorausgehenden verschieden, weil Petrarca im Umgang mit hohen Persönlichkeiten nicht allein deren je besondere und distanzierende Stellung beachtet, sondern noch rascher und spontan die Per-

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son, welche den bestimmten Rang einnimmt, mit ihren individuellen Eigenarten ins Auge fasst, deshalb in natürlicher Art auf den besonderen Menschen eingeht, völlig losgelöst vom geringsten Gedanken an Formelbücher. Diese Bemerkung drängt sich auf, weil von dieser Natürlichkeit der Sprache in der böhmischen Kanzlei nichts zu entdecken ist. In einem früheren Schreiben an Johann von Neumarkt, in Fam. 10,6, spielte Petrarca vor Jahren den hoch Geschmeichelten; er sagte, dass er aus dem fernen Norden ausnehmend kunstvolles Lob vernehme, und versicherte dann schlau, er halte es für ratsam, „auf eine Bezahlung in gleicher Münze“ zu verzichten. Nachher erhielt er vom Böhmen weitere Briefe (einige findet man bei Piur); dann unterhielten sich die beiden Männer 1354 in Mantua miteinander und später, 1356, fanden sie Gelegenheit dazu auch in Prag. Sehr rasch scheint Petrarca bei seiner enormen sprachlichen Sensibilität in Johanns Redeweise etwas persönlich Ansprechendes entdeckt zu haben, war sein Stil auch sonderbar gekünstelt, schwülstig und aus mythologischem Zierat gedrechselt, und dann scheint er dank wenigen Begegnungen das Gemüt dieses Mannes, man könnte vermuten: eine kindliche Seele, erspürt zu haben. Er spricht ihn heiter vertraulich an, fragt etwa in leichtem Ton: „Was lachst Du?“ quid rides? (21,2,5), und fügt an: „Ich scherze mit Dir.“ Auf fast spielerische Art und mit natürlichem Taktgefühl, so lässt sich vermuten, habe er Johann, der vor dem grossen Dichter vor Bewunderung verging, dazu helfen wollen, den eigenen Wert zu bejahen und die Geduld zur Entdeckung der eigenen Sprache aufzubringen. Schon bald liest er Johanns Geständnis: „Der Stil eines Kanzlers hat mit der Äusserung einer menschlichen Sprache nichts zu tun“ (Piur, Nr. 15), worin sich mit der Einsicht in eigenes Unvermögen der Wunsch nach einer besseren, einer menschlichen Sprache ankündigt. Mit unverhohlener Freude hört Petrarca in einem anderen Brief wohl des selben Jahres 1357 (Piur, Nr. 12) zwar nochmals vom Bedauern über eigenes Versagen, aber dann sogleich den schlichten Satz: „Dieses eine verspreche ich Dir als etwas ganz Sicheres: Die liebe Erinnerung an Francesco wird sich nie von Johann lösen.“ Mit grosser Herzlichkeit hat Petrarca dieses Liebesgeständnis angenommen. Er beteuert ermunternd, dass er wahrhaftig klar erkenne, wie gut ihm der Freund gesinnt sei; und dass es Johann nicht möglich gewesen wäre, „so zu sprechen, wenn er es nicht zuvor in seinem Herzen empfunden hätte“ (3). Das also gilt ihm als echte Sprache, was Ausdruck des Herzens ist, und nichts deutet darauf hin, dass er sich eine wesentlich bessere Sprache hätte vorstellen können. Unangenehm ist ihm die verschrobene, unmässige Bewunderung für seine Sprachbeherrschung. Er stellt sie nicht als vorbildlich hin, vielmehr lobt er Johann geradezu für seine ihm eigene Redeweise. Dabei schätzte er an ihr unter anderem wohl das, was er als echt deutsch hätte bezeichnen können. Zu wiederholen ist jedenfalls das schon oben zitierte Wort (Fam. 20,13), „Italiener wollen ehrfürchtig behandelt sein, Deutsche vertraulich-freundschaftlich“ (Sen. 2,1). Ob die Aussage zutrifft oder nicht: Das Gemüt-

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hafte hört er aus der Kanzleisprache und erst recht aus dem Briefstil des Böhmen heraus. Nicht aus Höflichkeit sondern in wahrer Anerkennung versichert er dem Kanzler, nichts sei reizvoller als sein Brief, und höre man recht hin, sei auch die Rede des Ritters Sagremor iocundissimus, so recht herzerquickend (1 und 9). Doch im nächsten Schreiben 21,3 beschäftigen ihn wieder Unruhen in Italien. Zwei Briefe hat Petrarca früher an Neri Morando aus Forlì gerichtet, jetzt wendet er sich an den Kanzler des Stadtherrn Ordelaffi von Forlì, einen gebildeten Mann namens C(h)ecco. Forlì ist für einen Humanisten wie Boccaccio ein angenehmer Aufenthaltsort, und dieser erduldet soeben ein ähnliches Schicksal wie Rimini unter den Malatesta; denn beide liegen im nordöstlichen Zipfel des alten Kirchenstaates, haben sich von ihm gelöst und werden von Kardinal Albornoz unerbittlich bedrängt, sich zu ergeben. Nun hat Checcho an Petrarca ein Gedicht gesandt und eine Bitte angefügt, er möge militärische Hilfe erwirken, gemeint ist: bei den Visconti, obwohl der Name ausgespart wird. Die Antwort trägt das Datum 16. Oktober (1357) und deutet auf eine äusserst schwierige Lage der genannten Stadt hin. Die Malatesta von Rimini sind schon bezwungen worden und haben die von ihnen eroberten Städte in den Marken herausgegeben; andere Stadtherren haben den Mut ebenso verloren, doch die Ordelaffi, die Herren von Cesena und Forlì leisten noch erbitterten Widerstand. Sie sind im Frühling 1357 erneut von päpstlichen Truppen angegriffen worden. Cesena hat sich am 21. Juni für besiegt erklärt, nur Forlì wehrt sich noch immer. Zwar wird es heimlich von den Visconti tatsächlich unterstützt, dies freilich nicht in zuverlässiger Weise, denn diese Herren verhandeln gleichzeitig mit Avignon wegen eines Rückkaufs von Bologna, dann auch mit dem Nachfolger des Kardinals Albornoz, mit einem Abt Androin von Cluny, und wollen sich mit der römischen Kirche daher nicht erneut zerstreiten. Nichts anderes kann man unter solchen Umständen von Petrarca erwarten als Zurückhaltung, da jede Einmischung völlig sinnlos wäre! Wer von den Streitenden ein grösseres Recht verfechte, scheint er nicht entscheiden zu wollen, doch seine Liebe gehört den Ordelaffi (2), wie er ja auch den Malatesta von Rimini gegenüber wohlgesinnt ist, ungeachtet dass der Papst sie wegen ihres Widerstandes gegen kirchliche Ansprüche exkommuniziert hat. Er ist vom Geist der Colonna geprägt, wie schon mehrfach gesagt. Aller weltliche Besitz des Papstes ist ihm verdächtig, und dass dem Kirchenstaat vieles entrissen wird, kann ihm nur recht sein, solange solche Verluste nicht auch dem Volk von Rom und seiner Republik zum Schaden gereichen. Eineinhalb Jahre nach seinem Brief an Checco wird er vernehmen, dass endlich auch Ordelaffi kapituliert, nämlich am 4. Juli 1359, Forlì der Kirche Roms zurückerstattet und sich mit einer Entschädigung wohl oder übel zufrieden gibt. Vom Adressaten des Schreibens 21,4 kann man nichts weiter erfahren, als was Petrarca darin ausspricht. Es zeugt wie manches andere für das Ansehen des Dichters bei jung und alt, ja für die verbreitete, gut begründete Zuversicht, man dürfe

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sich ohne Umstände an ihn wenden und hoffen, seinen Freunden zugezählt zu werden. Völlig unbekannt ist Petrarca der junge Mann, der ihm offenbar mehrmals geschrieben hat und nicht begreift, dass er keine Antwort erhält, sich dann das Schweigen des Angesprochenen zu seinen Gunsten erklärt und gleich einen weiteren Brief abschickt. Dem jungen Verehrer wird für seine Liebenswürdigkeit gedankt, doch auch klar gemacht, dass der Altersunterschied einer engeren Beziehung im Wege steht. Immerhin darf er, wenn er Hilfe benötige, sich vertrauensvoll an Petrarca wenden. Ein schönes Zugeständnis ist das! Und viel wird dem jungen Mann ohnehin schon gelten, im Besitz eines Petrarcabriefes zu sein. Doch mit Brief 21,5 vom Anfang 1358 wendet sich der Dichter wiederum an Johann von Neumarkt. Hauptperson ist darin jener französische Ritter Sagremor de Pommiers, der im Dienst der Visconti sowie des Kaisers steht und auf deren Befehl die lange Strecke zwischen Mailand und Prag hin- und zurücklegt, so oft sie es befehlen, und der auch jetzt wieder der Überbringer von Petrarcas Schreiben ist. Je nach Umständen beansprucht nur schon die eine Strecke zu Pferd damals im Mittel etwa drei Wochen (Wilkins, Eight years 122), und doch kommt es vor, dass der Ritter die Reise hin und her, wie Petrarca sich in höherem Alter erinnert, bis zu sieben Mal im Jahr bewältigt, „was man kaum zu glauben vermag“ (Sen. 10,1). Neben den ritterlich-sportlichen Leistungen Sagremors kann er auch seine menschlichen Vorzüge ermessen; er hat ihn zu gemeinsamen Unternehmungen oft genug getroffen. Mit ihm zusammen ist er in bitterster Winterkälte auf eisigem Boden von Mailand nach Mantua zu Karl gereist, und ihn hat er 1356 auch auf der eben genannten gefahrvollen Strecke zwischen Mailand und Prag zum Reisegefährten gehabt. Eine solche „Höllenfahrt“, iter illud tartareum (ebenda), ein zweites Mal durchzustehen, hätte er sich um alles in der Welt ersparen wollen. Unmöglich, dass er unter so schwierigen Bedingungen den wahren Wert dieses Mannes nicht erkannt hätte (3). Nun empfiehlt er ihn dem böhmischen Kanzler eindringlich, und nicht von Ungefähr wird dabei das Wort Liebe vielfach wiederholt. „Heilige Liebe“, das bedeutet der Name des Ritters; solche Liebe sollte der Kanzler erwidern, auf welche Weise, das wird nur angedeutet, lässt sich jedoch leicht erraten. Darauf tadelt Petrarca seinen böhmischen Freund wie schon früher für seine übertriebene Bewunderung und erlaubt sich wieder ein Scherzwort, wie man es sonst in seinen Briefen kaum liest: „Suche Dir einen andern, ihm solches aufzubinden“, quere alium cui hoc imprimas (5). Darauf hat er ihm einen Dank auszusprechen. Ein Pfalzgrafendiplom in einer goldenen Bulle hatte er vom Kaiser erhalten, das Gold hatte er höflich aber rasch zurückgesandt, nun aber, da es ihm erneut überbracht worden war, nimmt er es an. Schliesslich erinnert er Johann an jenes ihm versprochene dauernde Gedenken (Fam. 21,2,2) und zeigt damit, dass es ihm kostbar ist. Der Kanzler soll das wissen. Doch schreibt er am selben Tag, nämlich am 25. März 1358, Brief 21,6, um dem Erzbischof Ernst Pardubitz mit anderen Worten eine gleiche Empfehlung Sagremors

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vorzulegen. Der Ritter, der bisher sowohl den Visconti wie dem Kaiser gedient hat, möchte von jetzt an einzig dem Kaiser angehören. Zu dieser Absicht will und kann sich Petrarca nicht äussern (1), erinnert hingegen an einen Dank, welcher der treuen Dienstleistung des Ritters geschuldet wird. Das führt er nicht aus, weil der hohe geistliche Herr ohnehin weiss, was die Menschlichkeit, die humanitas, ihm gebietet. Gleich wendet er sich mit der selben Sorge in Brief 21,7 auch noch direkt an den Kaiser und versucht nun, die höchste Hürde zu nehmen. „Kühn“ muss er sein, wenn er das wagt (1), und noch kühner als Jahre zuvor, als er beim Kaiser für seinen Freund Lelio eingetreten ist (Fam. 19,4), denn er kann jetzt nicht wie damals eine Schar hochadliger, kaisertreuer Personen als bestbewährte Bürgen aufzählen. Er muss dem Fürsten einprägen, dass Sagremor sich selbst empfiehlt, und ihn deshalb ganz entschieden an einzelne besondere Verdienste und an seine besondere Ergebenheit erinnern. Deshalb schildert er eindrücklich jenen eisigen Wintermorgen, an dem der Bote ihn, Petrarca, an der Adda abgeholt hatte, um ihn nach Mantua zu begleiten. Voller Begeisterung für den Kaiser und das hohe Ideal einer Kaiserherrschaft war er gewesen und hatte deshalb die grosse Anstrengung für nichts erachtet (5 ff.). Ist Karl „wahrhafter und heiliger Gesalbter des Herrn“, ein neuer „Christus“ (4), so ist Sagremor, dies Petrarcas Folgerung, gewissermassen dessen Vorläufer Johann Baptist, der ihm „den Weg ebnet“ (7). Er müsste also unter die Schar jener hervorragenden Männer eingereiht werden, an denen ein edler Fürst reich sein sollte (9). Nachdem das vorgebracht wurde, bleibt nichts anderes übrig als zu warten, inwiefern der Hof diese inständigen und kühnen Vorstösse beherzigen werde. Dass die Visconti ihren Diener freilassen, wenn der Kaiser es fordert, scheint Petrarca vorausgesetzt zu haben. Von sich aus hätten sie es kaum getan. Ein Ritter, der bis London reiste, um dort von einem ihrer Widersacher einen Zweikampf zu fordern (vgl. im Überblick die Angaben zu Pandolfo Malatesta), war auch für sie nicht leicht zu ersetzen. Durch den immer selben Boten empfängt Petrarca damals aus Prag auch ein kleines Schreiben der siebzehnjährigen Kaiserin Anna von Schweidnitz. Persönlich meldet sie ihm die Geburt ihres ersten Kindes, und persönlich erhält sie von ihm eine Antwort in Fam. 21,8 vom 23. Mai 1358. Es ist nicht das erste Mal, dass Petrarca aus einem vornehmen Haus eine Geburtsanzeige erhält. Wie schon angedeutet, hatten Bernabò Visconti und seine Gattin Beatrice della Scala (Tochter des mit Petrarca bekannten Mastino della Scala von Verona), ihn zum Paten ihres ersten, am 26. November 1353 geborenen Sohnes erwählt, und er hatte sich sogleich auf einen passenden Namen für das Kind und auf seine Kunst besonnen, um zu Ehren des Täuflings eine Epistel in Versform vorzulegen: „Edler Knabe, von Gott geliebt“. Marcus sollte er heissen, wie Cicero und wie viele hochberühmte Männer, die der Dichter ihm vorstellt. Für die Kaiserin Anna und ihre Tochter denkt sich Petrarca eine Ehrung ähnlicher Art aus. Da kein Thronerbe zur Welt gekommen ist, tröstet der Dichter lie-

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benswürdig, auf den bescheidenen Anfang werde bald etwas Besseres folgen (3 ff.). Dann macht er sich ein Vergnügen daraus, eine Reihe hervorragender Frauen der Vorzeit seiner Adressatin bekannt zu machen. Mit einigem Stolz gebärdet er sich als Anwalt des weiblichen Geschlechts, um es gegen seine Verächter zu verteidigen. Frauen, die sich durch Weisheit oder Kunstfertigkeit auszeichneten, wie etwa Carmentis (8,5), oder heldenhafte Königinnen, wie Tomyris, die sich in grosser Gefahr bewährten, Gattinnen berühmter Feldherren und Könige, Semiramis, Hypsikrateia u. a. 8 ff., die grosse Treue bewiesen, stellt er mit wenigen Worten unter Angabe ihrer rühmlichsten Taten dar, findet sogar aus dem Mittelalter eine Italienerin, die er einer Ehrung für würdig hält (15). Auch rühmt er Beispiele grösster Opferbereitschaft (16 ff.) und entdeckt seiner Briefempfängerin am Ende, dass nicht von ungefähr sämtliche Weltteile und viele Städte nach Frauen benannt sind; es unterstreicht die hohe Bedeutung ihres Geschlechts (22 f.). Allerdings findet man die verehrungswürdigsten aller Frauen – wie könnte es anders sein – unter den Römerinnen, und die Beste der Besten ist Livia; treue Gattin und kluge Mitberaterin war sie dem grossen Kaiser Augustus (29). Christliche Märtyrerinnen und andere Heilige setzt Petrarca als bekannt voraus; bei ihnen hält er sich absichtlich nicht auf, und dass er keine deutsche Kaiserin hinzufügt, hat wohl verschiedene Gründe; die richtige unter ihnen zu treffen, die am Böhmenhof geschätzt wäre, schon das hätte eine Vorkenntnis erfordert, die er kaum besass. Überdies sollte keine Frau einer Livia den Vorrang streitig machen, und keine andere sollte der neuen Kaiserin zum Vorbild dienen als die beste. Eine letzte Auszeichnung aber, die Petrarca für die junge Mutter bereithält, ist wahrhaftig nicht die schlechteste, obwohl ihr das niemals bekannt wird: Kaiserin Anna, von Petrarca mit einem Gratulationsbrief geehrt, darf in seiner lateinischen Briefsammlung als einzige Frau neben den männlichen Adressaten einen würdigen Platz einnehmen; und in der Adresse steht sogar ihr persönlicher Name. Keine andere Zeitgenossin hat der Dichter bei ihrem Namen genannt (seiner hohen Liebe gedenkt er Fam. 2,9,18 allerdings mit dem Hinweis auf den Lorbeer), ja auch von den Männern, die ihm begegnen, bezeichnet er (wenn nicht alles täuscht) nur jene mit ihrem Namen, die er zu seinen geschätzten Freunden rechnet; sein Sohn zum Beispiel gehört nicht in ihren Kreis. Mit der eben besprochenen Gratulation geht die kurze Abfolge der ins Jahr 1358 datierten und an den Kaiserhof gerichteten Briefe zu Ende. Und wenn die eruierten Daten stimmen, wird der Leser erneut ins Jahr 1359 versetzt. Im Januar hat Petrarca gemeint, seinem Sokrates gegenüber feststellen zu müssen, dass sie einander schon alles mitgeteilt und nun nichts mehr zu sagen hätten (Fam. 20,15), doch es war ein unbedachtes Wort gewesen. Schon am 23. Juni sieht sich der Dichter gedrängt, in Fam. 21,9 den Freund, der sich von einem unerwarteten Schicksalsschlag bedroht fühlt, tüchtig zuzureden. Dem alternden Mann scheint der Verlust seines Amtes und gar eine Ausweisung „aus seinem Vaterland“ bevorzustehen.

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„Meinetwegen“, sagt Petrarca „wirst Du verfolgt,“ so jedenfalls sei ihm gemeldet worden (17). Neider seien am Werk. Jetzt gelte es, standhaft zu bleiben, wie das mit Gottes Hilfe möglich sei (5 ff.). Schon habe er „jenem hochstehenden Freund“ geschrieben, auf dessen Hilfe man bauen dürfe (21), und gerne lade er ihn nach Mailand ein, wo er hochwillkommen sei (23 f.). Diese und andere Freundlichkeiten sind da zu lesen und zeugen von Petrarcas echter Hilfsbereitschaft, mit welcher er nie hätte geizen wollen. Und dennoch befriedigt das Schreiben nicht, sondern scheint an einem beträchtlichen Fehler zu kranken. Möglich, dass eine Überarbeitung es ganz aus dem Lot gebracht hat. Höchst unpassend nämlich wirkt darin eine monströse Wucherung von Kernsprüchen (6–16). Petrarca wird ja nicht im Ernst geglaubt haben, ein gebildeter Mann, der im Freundeskreis seiner Reife und Besonnenheit wegen als Sokrates galt, habe einer wahren Salve trivialer Sentenzen bedurft, mit der man einen ganzen Kalender ausstaffieren konnte. Beleidigend hätte eine solche Vermutung sein müssen, eher kaltherzig als tröstlich. Doch wie verfehlt dieses Kunstprodukt in seiner letzten Fassung erscheinen mag, so steht es nun als Brief in den Familiares und erinnert daran, dass Sokrates noch lebt und in seiner Not von Petrarca nicht im Stich gelassen wird. Die Einladung nach Mailand nimmt er nicht an, es gehört ja zu seinem Unglück, dass er recht sehr unter seinem Alter leidet (23 f.). Rasch geht er jedoch auf die Ermahnung ein, sich an die Sorgue zu begeben. Dass er sich dort aufhält, vernimmt man später in Fam. 22,5,19. Und in diesem Tal verweilt er vielleicht eine längere Zeit, möglicherweise bis nah an den baldigen Tod im Jahr 1361. Ist der eben besprochene Brieftraktat nicht nach jedermanns Geschmack, empfiehlt sich um so besser das Schreiben 21,10 vom 15. Oktober 1359. Sein Adressat Neri Morando von Forlì, schon aus Fam. 20,1 und 2 bekannt, hat Petrarca seine Genesung gemeldet, und Petrarca wünscht ihm nicht allein Glück zu dieser guten Wendung, sondern fügt noch den Ratschlag hinzu (10,5 ff.), sich vom Waffenhandwerk abzukehren und sich seiner eigentlichen Bestimmung, nämlich den literarischen Studien zu widmen. Für seine Ermahnung hat er gute Gründe, ist doch der Freund schon infolge seiner Bindung an die genannte Gegend und an Ordelaffi sehr geneigt, sich an Kämpfen für ihn oder gegen seine Feinde zu beteiligen. Doch eine wichtige Kriegsentscheidung ist, wie oben gesagt, schon gefallen, da der genannte Stadttyrann sich im Juli den Truppen des Kardinals Albornoz ergeben hat. Sich vom Kriegswesen abzuwenden, wäre der Augenblick günstig. Bei seinen Ratschlägen vermeidet Petrarca diesmal übermässige Längen, und dann berichtet er über sich selber, über seine Liebe zu Cicero, die er wieder einmal verteidigt (8 ff.), berührt dabei das Problem der Vorsehung, die es Cicero versagt hat, Christus zu kennen, und erzählt schliesslich in einer dem Leser angenehmen Breite, welches Schicksal ihm ein Riesenkodex mit Cicero-Werken beschieden hat (16). Dabei deckt er kleine Besonderheiten der Einrichtung seiner Wohnung, seiner alltägli-

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chen Gewohnheiten, seines vertraulichen Umgangs mit seinem liebsten Freund aus der Antike auf, verrät etwas von seiner Art, mit Dienern zu verkehren und muss auch gestehen, dass er entgegen seiner entschiedenen Neigung die Hilfe von Ärzten hat beanspruchen müssen. Cicero, der vor langer Zeit sein Herz verwundet habe, trage nun auch die Schuld an der Verwundung des linken Beines. Die Vernachlässigung der kranken Stelle zwingt Petrarca schliesslich dazu, nicht bloss einem Arzt, sondern mehreren Ärzten zu gehorchen, also genau das zu tun, wovor er einst Papst Clemens VI. sehr ernsthaft gewarnt hatte (Fam. 5,19). Auch auf das Fatum kommt er zu sprechen, von dessen Eigenheiten er jetzt manches besser zu verstehen meint (22) als früher, und weiter auf den Aberglauben bei der Deutung von Links und Rechts (25). Damit ist dieser Brief abwechslungsreich und bietet eine vorzügliche Mischung von Abstraktem wie Konkretem, von Allgemeinem und Anschaulichem. Dass er ohne die kundige Pflege von Medizinern dem Tod kaum entronnen wäre, ist anzunehmen. Allzu lange hat er gezögert, die Verletzung ernst zu nehmen. Eine gewisse Kenntnis der Medizingeschichte lehrt aber, dass im 14. Jahrhundert die Kunst der Ärzte auf gewissen Gebieten gute Resultate erzielte, vornehmlich bei der Heilung von Wunden und bei chirurgischen Eingriffen, also genau bei jenen Übeln, die Petrarca verhältnismässig häufig an sich erlebte. Doch macht nicht die Wunde mit ihrer Heilung das Hauptthema des Briefes aus, sondern der Mann, der die Wunde herbeiführte, eben Cicero. Und sogleich im folgenden Brief 21,11 vom 15. Oktober (1359), der wiederum an Neri Morando gerichtet ist, wird Cicero nochmals geehrt, wenn auch mittelbar, nämlich in der Schilderung eines ihm gewidmeten begeisterten Kultes. Petrarca, der grosse Dichter, der die Verehrung antiker Helden und Gelehrter verbreitet und unter ihnen Cicero als den unvergleichlichen Meister der Sprachkunst bis zum Himmel erhebt, pflegt Beziehungen zu dem in Bergamo lebenden Grammatiker Crot(t)o, den man als Adressaten der Briefe Fam. 18,13 und 18,14 kennt (vgl. 20,11,1). Auch dieser ist ein Lobredner Ciceros; ja er hegt, wie schon angegeben, in seiner Bibliothek einige seiner Werke, so die Gespräche von Tusculum und lässt sich nicht lange bitten, wenn Petrarca ihm einen Bücherwunsch vorträgt. Von diesem Grammatiker ist in Brief 21,11 nicht die Rede, jedoch von einem anderen in Bergamo lebenden Mann, der Croto kennt, von einem einfachen, literarisch kaum gebildeten Goldschmied, den aber die Begeisterung für die Antike bis zum Verzicht auf alles, was er ist und erreicht hat, hinreisst. Kaum hat er von Petrarca, seinen Kenntnissen und seinem Ruhm gehört, hegt er keinen grösseren Wunsch, als den Dichter kennen zu lernen, seiner Gunst und seiner Freundschaft gewürdigt zu werden (3) und als sein gelehriger Jünger sich dem Studium der antiken Literatur hinzugeben. Ihm attestiert Petrarca hervorragende Kunstfertigkeit und einen ausgeprägten Sinn für das wahrhaft Schöne (2). Seinem Werben vermag er auf die Dauer nicht zu widerstehen (3), und seinen geradezu unbegreiflichen Lerneifer

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kann er nicht bändigen. Somit gibt Enrico Capra von Bergamo sein Kunsthandwerk auf, geht trotz seinem beträchtlichen Alter zur Schule (6) und hofft dabei, den Tag zu erleben, der seine ganze Erdenzeit verherrlichen würde, das heisst den Tag, an dem Petrarca, gleichsam als Verkörperung des Geistes der Antike, sein Haus in Bergamo mit seiner Gegenwart beehren werde. Wie nun der Wunsch des Anbeters zu dessen überschwenglicher Beglückung erfüllt wird, das erzählt der genannte Brief wunderbar lebendig. Petrarca, der vorerst unsicher war, ob sein wenig gebildeter Freund aus dem Handwerkerstand in seiner lateinischen Briefsammlung einen Platz zu finden würdig sei (7), hat ihm schliesslich mit gutem Grund einen recht breiten eingeräumt. Besser hätte nicht veranschaulicht werden können, wie gewaltig der Ruhm des Dichters sogar auf die breite Bevölkerung wirkte und wie mächtig sein Beispiel zur Beschäftigung mit der Antike über Jahre hinweg aufmunterte. Man erinnere sich an Fam. 13,7, wo zu lesen war, wie die moderne „Schreibwut“ den Mann, der sie verursacht hatte, zu ihrem Opfer machte. Den selben Einfluss übt die Autorität Petrarcas noch immer aus. Und mit einer gesunden Mischung von würdevoller Zurückhaltung und liebenswürdigem Entgegenkommen erfüllte er jetzt selbst den naivsten Wunsch gemäss seiner Möglichkeit. Ob es viel oder wenig Zeit war, die er sich das kosten liess: Jedenfalls trug sie ganz allmählich schöne Früchte, und ganz übersehen konnte er das nicht. Einen besonderen Reiz besitzt Fam. 21,12 vom 13. November (1359) an Francesco Nelli. Man entdeckt ihn nicht gleich am Anfang, sondern, wie so oft in den Schreiben Petrarcas, erst im zweiten Teil; jedenfalls wird es dem modernen Leser so vorkommen, weil er auf moralischen Unterricht weniger begierig ist als der Meister, ihn zu erteilen. An einer Fülle sich folgender Sentenzen fehlt es in Fam. 21,12 wiederum nicht, doch sind diese nun weniger knapp gefasst als in Fam. 21,9 und weniger dicht aneinandergefügt. Das Thema von der Kürze der Zeit behandelt Petrarca hier wahrhaftig nicht zum ersten Mal, doch nun legt er das Hauptgewicht auf das Sparen der Zeit und verbreitet sich über seine persönliche Methode des Sparens. „Alles hängt von einer genauen Zeiteinteilung ab“, so betont er (12,10), hierbei sei es nötig, die Augen für alle Möglichkeiten offen zu halten und alle Kräfte aufzubieten (14 ff.). Die Gefahr grossen Zeitverlusts rüttelt Petrarca vom Schlaf auf; und mit welchem Schrecken er oft mitten in der Nacht auffährt, schildert er nicht ohne ein kleines Lachen über die sonderbare Lage, die sich daraus ergibt. Bei der Dreiteilung eines Tages, die er vornimmt, gehört ein Drittel seinen „Kompetitoren“, das heisst: den Ansprüchen des Leibes auf erstens das Ausruhen und zweitens das Essen, und zwei Drittel des Tages rettet er für sich selber, das heisst für seine Studien. Dass er das aushalten werde, lässt er sich nicht ausreden. Er wird bei dieser Dreiteilung bleiben, so gibt er zu verstehen, und recht besehen, hat er sich schon seit längerer Zeit darin geübt. Denn er schildert (25 ff.) seinen Esstisch, auf dem unter verschiedenen Gegenständen seine Schreibfeder aufragt, dann die Ausstattung seines Bet-

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tes, welche Aufzeichnungen in nächtlicher Dunkelheit ermöglicht, und teilt voll Genugtuung mit, wie er sogar hoch zu Ross seinen Studien nachgeht. Erstaunen kann nach all dem nicht, dass er diesen Brief 21,12 um die Mitte einer langen Winternacht, nocte media, beendet, man kann sich denken: in einem kühlen Zimmer bei spärlichem Lampenlicht, doch vielleicht im gut ausgerüsteten Studienbett. Nicht von sich aus, sondern auf eine Frage seines Freundes Nelli gibt Petrarca im Brief 21,13 vom 7. Dezember zusätzliche Auskunft über seine Nahrung und Kleidung. Offen will er ihm gegenüber sein wie immer, doch ganz leicht fällt ihm das nicht. Etwas ist zwar allezeit gleich geblieben: Seine Abneigung gegen Prunk und Festgelage (4) ist ihm sozusagen angeboren, wie er unterstreicht, und kaum ein Werk der Tugend. Doch er ist älter geworden, er betrachtet im Spiegel seine müden Augen mit Verwunderung und mit einem Anflug von Rebellion (7). Nicht ganz klar ist, was er damit sagen will. Klar ist hingegen die Aussage, dass er in Mailand nicht mehr wie auf seinem Landgütchen, nämlich nicht wie ein Landbewohner lebt. „Dort habe ich,“ sagt er, „nach meiner Natur gelebt,“ „hier lebe ich nach dem Beispiel“ (11). Und um den Einfluss einer Ortsveränderung auf die Gesittung eines Menschen zu illustrieren, zieht er nicht irgendwelche Beispiele, sondern ehrenwerte Exempel aus der Antike bei (8 ff.); denn immer noch „sündigt“ er „lieber in Gesellschaft bedeutender Gestalten“ als in der Menge geringer Menschen (vgl. Fam. 17,10,5 und 10). Schliesslich gelangt er zum Eingeständnis, dass er nach Überwindung grosser Mängel sich nun schwer tut mit geringen. Wer kennt das nicht, wird man ihm erwidern. Am schwersten tut er sich mit der Eitelkeit, die es ihm verwehrt, einfache Kleider zu tragen. Auf dem Land war ihm die bescheidene Gewandung völlig vertraut und angenehm gewesen, jetzt würde er sich einer solchen schämen, und schon gar nicht wollte er in einem Philosophengewand auftreten (12 f.). Von Kampf ist die Rede und dass noch vieles zu tun bleibe, bis er die erstrebte Gelassenheit in allen Dingen erreicht habe (11). Doch nur ungern hört man sich immer wieder eine solche Gewissenserforschung der stoischen Art an und fragt sich dabei, ob unter seinen Freunden denn keiner war, der ihm diese selbstquälerische Prüfung und Konfession verwies. Gerade von Nelli zum Beispiel hätte man es doch wohl erwarten dürfen. Über eine Ortsbezeichnung jedenfalls wird sich dieser im Brief 21,13 gewundert haben. Jetzt erfährt er von einem Umzug Petrarcas und hört von einem Grund dafür. Der neue Ort hat gegenüber dem alten den Vorteil einer kleinen Hintertüre, durch die man, wenn unerwünschter Besuch kommt, aufs freie Feld entwischen kann (3). Dass es für den Wohnungswechsel noch andere Gründe gibt, ist selbstverständlich, aber Petrarca nennt sie hier nicht (vgl. Fam. 22,12), und Vorteile der genannten Art rühmt er nicht lange, weil ihn auffälligerweise mehr sein Verhalten gegenüber den „Eigentümern“ der Häuser, die er wechselt, beschäftigt. Er kommt zum Schluss, dass er weder den einen noch den andern beleidigt habe. Mit dem

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früheren, mit Ambrosius, wird er im Geiste verbunden bleiben (5), und der neue, das ist Simplicianus, hat mit dem anderen stets in grosser Freundschaft gelebt, beide also billigen den Wechsel. Das tönt wie spielerische Unterhaltung, hat aber im Munde Petrarcas den Beigeschmack echter Heiligenverehrung. Öfters hat er angedeutet, dass sein Haus bei der Kirche Sant’Ambrogio ihm etwas Tröstliches biete. Er fühlte dort die Nähe des Kirchenvaters, und zu seinem Bildnis in der Kirche pflegte er „voll Verehrung aufzublicken“, dies um so lieber, als er, ohne viel zu fragen, einer Beteuerung Glauben schenkte, es sei ein getreues Abbild des Heiligen (Fam. 16,11,11). Natürlich rechnete er damit, dass Nelli seine Gefühle verstehe. Das selbe setzte er auch beim Grammatiker Moggio voraus, denn als er ihn in sein Haus einlud, meinte er, sein Angebot werde ihm auch darum angenehm sein, weil ihm „Ambrosius benachbart sein werde“ (Fam. 19,5,9). Gelangt er nun zu seiner neuen Wohnung beim Kloster San Simpliciano, will er sogleich über dessen Leben unterrichtet werden; und dass man ihm nur das billige Machwerk eines Stümpers in die Hand drückt, ärgert ihn gewaltig. Christen können sich an diesem Vorbild nicht erbauen, wenn sie es nur in bedeutender Entstellung zu sehen bekommen (6 ff.), so lautet seine Kritik. Er ist jedoch auch enttäuscht, dass er persönlich über den alten Bischof nichts erfährt, ausser was er dank den Confessionen Augustins schon weiss, und eben das hält er in seinem Brief jetzt fest. Er sucht nicht nach irgendwelchen Heiligen, aber er schätzt die der Bibel und hat für die Kirchenlehrer und Mönche des frühen Christentums eine Vorliebe, ja fügt seinen Werken über das einsame Leben und über klösterliche Beschaulichkeit auch Gestalten des Mittelalters ein. Es sind immer sehr ernste würdige und reife Männer, die vor Gott und den Mitmenschen ihre Pflicht erfüllen. Und mit dem volkstümlichen Heiligenkult des Spätmittelalters hat er nichts gemein. Da er beim Aneinanderreihen seiner Briefe verschiedene Rücksichten wahrnimmt, ohne sie anzugeben, und von vielen seiner Regeln keine strikt befolgt, gestattet er nicht, dass man für eine Zuordnung und Angliederung regelmässig gute Gründe wenigstens erahnen könne. Immerhin leuchtet manche seiner Platzanweisungen ganz unmittebar ein. Der Brief 15, der Buch 21 beschliesst, ist dessen Krönung. Dante, Petrarca und Boccaccio sind da zu einem Dreigestirn so sichtbar vereint, wie in keinem anderen Text der Sammlung. Boccaccio, der dem Freund Petrarca gegenüber seine grosse Verehrung für Dante bekann hat (Notiz zu Fam. 20,6), befürchtet im nachhinein, eine Unhöflichkeit begangen zu haben und entschuldigt sich, hört dann aber von Petrarca selber auch Worte der Hochschätzung für den selben überragenden Dichter und zugleich eine Rechtfertigung der eigenen Person. Es ist eine unverständige Menge, die ihn des Neides verdächtigt. Petrarca verteidigt sich nüchtern und überzeugt um so leichter, als er dabei Charakterschwächen seiner Jugendzeit nicht verschweigt (11–13) und schliesslich auch bekennt, dass er ganz allgemein von Neid vielleicht nicht immer so völlig frei war, wie er das

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einst von sich geglaubt hat (5 und 20). Dante gegenüber, das allerdings weiss er gewiss, hat er nie Neid verspürt, es fehlten dafür, so legt er dar, die Voraussetzungen, ja es gab eigentliche Hinderungsgründe (21 ff.). Die Palme für volkssprachliche Dichtung reicht er ihm freudig ohne irgendwelche Einschränkung. Aufschlussreich und einleuchtend sind seine Angaben zu seiner frühzeitigen Abkehr von der Lektüre Dantes. Es entspricht seiner Wesensart, dass ihn die Angst vor Imitation und vor Unfreiheit davon abhielt und ihn schliesslich zum Entschluss bewog, auf volkssprachliche Dichtung möglichst zu verzichten. Was Dante erleben musste, dass nämlich sein Werk in allen Kneipen und auf Marktplätzen zitiert und besprochen wurden: inter ydiotas in tabernis et in foro (15), das will Petrarca sich und seinen Werken ersparen. Immer hat er es ausgesprochen, dass er die grosse Menge und ihr Urteil verachtet. Einzelne aus der Menge, wie Enrico Capra (Fam. 21,11) hat er allerdings freudig zur Kenntnis genommen und gerne gefördert. Hart abweisend sind seine Äusserungen über die stets anmassenden literarischen Urteile der unkundigen Schreier (14 ff.); vor ihnen graut ihm sogar, wenn sie ihn loben, wie vor gezielten schweren Beleidigungen. Und grosses Bedauern empfindet er für jeden Dichter, dessen Kunst in die Hand von Dilettanten gerät und da notwendigerweise zerrissen und zerstört wird (17). Er, Petrarca, hätte einen Dante gerne verteidigt, und zwar eben gegen seine lächerlichen Lobhudler, diese perfekten Ignoranten, wie er meint, „die weder verstehen, was sie preisen, noch verstehen, was sie tadeln“ (16 ff.); er erlebt ja zu seiner Qual an seinem eigenen Leib und Werk ein ähnliches grobes Unrecht wie jener. Was er jetzt nur andeutet, wird er breit in Altersbriefen darlegen (vgl. z. B. Sen. 2,1). Hier aber, in Fam. 21,15,26, fordert er kurz die Übelredner und Intriganten auf, endlich von Verdächtigungen zu lassen und seiner Verteidigung zu glauben. Dann wendete er sich rasch einem erfreulichen Thema zu, nämlich um Boccaccio für seine Freundschaft zu danken. Vor kurzem hat er ihn – wie man weiss – bei sich beherbergt (Fam. 20,6 und 7) und geniesst eben noch den Gedanken daran. Doch erinnert er sich jetzt besonders gern an ihre erste wunderbare Begegnung, als er endlich zum ersten Mal seine Vaterstadt Florenz betreten durfte. In seinen Worten bebt noch die Erregung, die ihn bei dieser Heimkehr gepackt, und etwas vom Jubel nach, den Boccaccios stürmischer Empfang ihm damals geschenkt hat. Niemals möchte er ihm an Wohlwollen und Liebe weniger zurückgeben, als die berühmtesten und besten Freunde der Antike sich gegenseitig einst zu schenken vermocht haben.

Im Buch 21 datieren 4 Briefe vom Jahr 1357, 4 folgende von 1358 und die übrigen von 1359. Von den insgesamt 15 Schreiben richten sich ihrer 6 an die höchsten Persönlichkeiten am Kaiserhof in Prag, nämlich 2 an den Erz-

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bischof Ernst, 2 an den Kanzler Johann, 1 direkt an den Kaiser und 1 an die Kaiserin. Beharrlich empfiehlt Petrarca den Ritter Sagremor der Gunst des Hofes. In Freundesbriefen findet man Mitteilungen über Petrarcas häusliches Leben, über Tageseinteilung, veränderte Gewohnheiten, über den neuen Wohnort bei San Simpliciano. Für das Ansehen des Dichters beim Volk spricht die Begeisterung eines Goldschmieds, ihm gewährt Petrarca einen Ehrenplatz in seinen Briefen. Boccaccio veranlasst ihn zu Äusserungen über Dante. In einer Verteidigung der Dichtkunst geisselt Petrarca die anmassenden Urteile der ignoranten Menge.

Im Buch 22 trägt die Überschrift des Briefes 1 den Namen „Pandolfo Malatesta der Jüngere“. Am 11. September, wohl im Jahr 1362 wurde er verfasst und dennoch unter die Familiares eingereiht, nicht unter die Seniles. Denn das Todesjahr 1361 von Sokrates, dem die erste Sammlung gewidmet ist, bedeutet für Petrarca keine klare Trennungslinie zwischen den beiden. Er wünscht, Pandolfo möge in der früheren geehrt werden, weil er kurz vor ihrer Veröffentlichung gar nicht weiss, ob die soeben neu begonnene während seines Lebensrestes etwas Ansehnliches werden könne (vgl. Fam. 23,20 und 24,13). Ihm sogar den Platz am Buchanfang einzuräumen, das verlangt sein hoher Rang. Pandolfo wurde in dieser Übersicht schon genannt, jedoch noch in keinem Brief des Dichters. Kurz sei daran erinnert, dass er 1356 als Condottiere im Dienst der Visconti stand und in Mailand mit Petrarca verkehrte, dann von dort floh und sich bald darauf in Venedig niederliess, um da wie überall gegen die Visconti zu agitieren. Diese wollten eine solche Feindseligkeit nicht einfach hinnehmen, begnügten sich aber vorerst damit, Aldobrandino d’ Este, den Herrn von Modena und Ferrara, gegen ihn aufzuwiegeln. Das besorgte in ihrem Auftrag wenigstens teilweise der Dichter, der die Aufforderung nicht abzulehnen wagte, dabei aber wohl zum vornherein annahm, der Freund werde ihn nicht missverstehen (R. Weiss 83 f.). Dieser nahm die Tat nicht übel auf. Er trat bald in den Dienst von Florenz und war siegreich in einem Gefecht gegen die Scharen des berüchtigten Söldnerführers Landau, kämpfte dann auch im Sold des Kardinals Albornoz bis 1363 und beteiligte sich am Streit um Bologna, das schliesslich im März 1364 den Visconti weniger abgekämpft als vielmehr abgekauft wurde. Wann Petrarca mit ihm neuen Kontakt aufnahm, wissen wir nicht. Er wandte sich noch vor dem Friedensabkommen zwischen der römischen Kirche und Bernabò Visconti an den Kanzler Benintendi in Venedig mit der Bitte um einen Wohnsitz in jener Stadt (vgl. oben), und genau von dort datiert das Schreiben an den Condottiere, das den Familiaren eingereiht wurde: Venedig, am 11. September

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(1362). Petrarca schreibt nicht von sich aus sondern in Beantwortung einer Frage. Einen Rat erbittet sich Pandolfo, er möchte von ihm hören, ob er – kinderlos, wie er ist – noch einmal heiraten solle. Nun legt ihm Petrarca nahe, eine Ehe einzugehen, dies jedoch einzig mit Rücksicht auf seine Verpflichtungen gegenüber seiner Verwandtschaft und seinem Vaterland (8), wobei er ihn warnend an eine Weisheit des Sokrates erinnert und annimmt, dass sie ihm bekannt sei; er darf bei ihm ja eine ziemliche Bildung voraussetzen (1). Pandolfo beherzigt alle seine Ratschläge, was man dank anderen Quellen weiss. Er heiratet tatsächlich, und er sucht sich, gemäss einer anderen Empfehlung Petrarcas, eine Gattin nicht in der Nachbarschaft, sondern eine in der Ferne. Seine Erwählte ist eine Römerin, eine Tochter des Bertoldo Orsini (schon oben zum Jahr 1353 erwähnt), und wir dürfen hoffen, dass sie „in seiner ehelichen Liebe so zufrieden ruhte,“ wie es der Dichter (weniger zu ihrem als zum Glück ihres Gemahls) von ihr erwartete. Sie schenkte ihm jedenfalls die erwünschten Kinder, und wie gut er für deren Bildung und Erziehung sorgte, wussten verschiedene Zeitgenossen sehr zu loben (vgl. R. Weiss). Mit Petrarca blieb er verbunden (vgl. Fam. 23,20) bis zu seinem Tod 1373. Dass er sich trotz allen früheren Hetzreden gegen die Visconti später an ihrem Hof in Mailand wieder zeigen durfte, ist gewiss wenigstens zum Teil als ein Verdienst des Dichters anzusehen, der sich als Friedensstifter wahrlich einen Namen gemacht hat. Doch jetzt sei einzig noch an jene Versöhnung erinnert, die er zwischen Azzo da Correggio und den Visconti zustande gebracht hat (vgl. oben). Das Schreiben an Pandolfo wirkt in der Reihe der Familiares als ein Einschub. Es sprengt nicht allein den zeitlichen Rahmen, den Petrarca seiner Sammlung gegeben hat, es trennt auch zwei wichtige Briefe an Boccaccio, die unter sich durch ihre ähnlichen literarische Gedanken verbunden sind und beide im Jahr 1359 geschrieben wurden. Von diesen könnte man meinen, sie sollten in Buch 20 stehen, wo unter den Nummern 6 und 7 vom Besuch Boccaccios in Mailand berichtet wurde. Selbstverständlich aber hat Petrarca die etwas sonderbare Trennung des Zusammengehörigen gewollt und wird seine Gründe gehabt haben. In Brief 22,2 vom 8. Oktober wiederholt er also, wie sehr ihn die Abreise des Freundes beunruhigt habe (vgl. Fam. 20,7,4), und dann berichtet er über die Arbeiten, die ihn seither beschäftigen. Indem er seine Eklogen verbessert, fallen ihm sowohl Mängel wie auch Vorzüge seiner verschiedenen Lektoren auf, und will er das Facit seiner Vergleiche knapp zusammenfassen, kann er es zu einem Widerspruch zuspitzen: Die besten sind nicht die besten. Er meint aber, dass schwerfällige, gar stumpfe Lektoren oft kleine Unstimmigkeiten aufdecken, welche geistig regsame Leser, wie Boccaccio, leicht übersehen (4 ff.), und bringt zu dieser seiner Entdeckung gute Vergleiche aus dem Alltag. Manches, was er hier überlegt, ähnelt überdies den Ausführungen in Fam. 18,5,4. Er notiert verschiedene Fehler in den Texten auf einem besonderen Blatt und bittet Boccaccio, die nötigen Verbesserun-

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gen vorzunehmen (7). Hierauf verrät er, wie und weshalb er sich manches Gelesene tief einprägt oder was er bloss im Vorbeigehen zur Kenntnis nimmt, worauf er ihm eine weitere Sonderbarkeit anvertraut: Was das Gedächtnis besonders gut festhält, das kann am leichtesten täuschen. Eben erst ist ihm das bewusst geworden (2,8 ff.). Und diese Täuschung besteht darin, so führt er aus, dass man etwas dem Kopf so fest einprägt und so gut festhält, bis man es als ein eigenes Erzeugnis oder eine eigene Formulierung ansieht, obwohl man es von einem anderen bezogen hat. Sehr bezeichnend ist, dass Petrarca diese Entdeckung sehr wichtig nimmt. Denn zu jeder Zeit plagt ihn die Furcht, er könnte, ohne es zu beachten, für etwas Eigenes ausgeben, was nicht von ihm stammt, oder es könnte jemand vermuten, er habe etwas mit Absicht übernommen, und er sei unfähig, sich unabhängig von andern in einer eigenen Sprache auszudrücken. Sein peinliches Vermeiden aller Anleihe und Nachahmung muss er daher immer neu unterstreichen (13 ff. und 20 f.); die Skrupelhaftigkeit gehört zu seinem Wesen, aber sie wächst in der Angst vor den Neidern, die ihn streng beobachten. Ehrlichkeit, aber nicht sie allein, sondern auch Stolz fordern von ihm noch immer gegen jede Art von Imitationen den Gebrauch jener Schutzmassnahmen, die er in früher Jugend gegen Dantes Einfluss angewandt hat (21,11 ff.), und eben so ängstlich wie selbstbewusst meidet er auch später jede Gefahr des Nachahmens, solange er lebt. Daraus ergibt sich auch immer wieder ein Grund, sich über Originalität zu äussern, nämlich vor allem anzugeben, wie man sie erwirbt. Wie kann man etwas übernehmen und sich so aneignen, dass es nicht gestohlen ist und dass es etwas Neues unverfälscht Eigenes wird. Jetzt fasst er kurz und mit neuen Worten das zusammen, was er in Fam. 1,8 in früheren Jahren breit und mit Hilfe sehr schöner Bilder ausgeführt hat. Besser kann er den Weg zur Originalität aber nicht bezeichnen als mit dem Bienengleichnis, das schon Seneca gekannt hat (ebenda). Hierauf versucht er seine eigene dichterische Besonderheit zu bestimmen (18 ff.). Und erst nach dieser Abschweifung gibt er endlich den eigentlichen Zweck seines Briefes an: Tatsächlich hat er mit Hilfe des etwas schwerfälligen Lektors in einem Hirtengedicht, das Boccaccio mit sich nahm, zwei Formulierungen entdeckt, von denen er plötzlich erkennt: Die sind nicht sein Eigentum; die muss er irgendwo aufgegriffen haben. Und sein glänzendes Gedächtnis, mag es ihn zuerst gefoppt haben, muss ihm am Schluss dennoch dienen. Es gibt ihm an, woher er die Wendungen bezogen hat, worauf er diese ausstreicht und durch eigene ersetzt. Boccaccio aber wird gebeten, die alten im angegebenen Sinn zu ändern. Glücklich wird er immer sein, so betont er, wenn ihn andere auf solche Fehler aufmerksam machen, und das um so mehr, als die Neider jedes Versehen falsch und zu seinem Nachteil zu deuten bereit sind. Doch selbst die Vorwürfe solcher Feinde wollte er annehmen, erklärt er noch, sofern sie nur einen kleinen Kern von Wahrheit enthielten (29). Dass Boccaccio alles Anbefohlene zuverlässig ausführt, darauf kann er bauen.

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Wiederum von Korrekturen handelt 22,3. Im März (1363 oder gar 1364?) meldet Petrarca einem anderen Freund, nämlich Barbato, nach Neapel von seiner Beunruhigung, die ihn bei einer Überprüfung von Texten befallen hat. Ihm hat er einst die Sammlung der „Briefe in Versen“ zugesprochen (Fam. 1,1,11), dann hat er ihm einige frühe Gedichte auf häufiges Betteln hin unter der Bedingung ausgeliefert, dass er sie niemandem zeige, meinend, er könne Zuverlässigkeit erwarten. Mit gutem Grund deutet Petrarca jetzt auf Barbatos Mangel an nüchterner Kritik hin (vgl. Var. 22 an Barbato), macht dann klar, jene dichterischen Werke könnten einer strengen Beurteilung kaum genügen, und unterdrückt auch seinen Ärger nicht, dass Barbato einige der schon empfangenen metrischen Briefe herumgeboten habe. Ändern lässt sich das nicht mehr, aber dass es bedauerlich ist, muss Petrarca vor dem Freund betonen. Er wird eine verbesserte Fassung vorlegen und darauf bestehen, dass alle früheren, verstreuten, auch kopierten und verfälschten metrischen Briefe nach der neuen Fassung verbessert (oder vernichtet) werden. „Ich schenke Dir, was ich Dir lieber verweigern wollte“, sagt er abschliessend, und ist klug genug, dafür zu sorgen, dass samt seinen Gedichten auch diese seine Worte mit der in ihnen liegenden Selbstkritik an die Öffentlichkeit gelangen. Was er immer wieder erlebt, nämlich einen Übereifer unzuverlässiger Freunde, das erduldet er, wie angedeutet, besonders häufig von diesem Barbato. Schlechte Erfahrungen hatte er mit ihm schon 1341 in Neapel gemacht, denn kaum war dort von der Africa gesprochen worden, hatte sich der Hofmann unter vielem Drängen die Kopie eines schon vorhandenen Stückes von 34 Versen verschafft und schon damals sein Versprechen, niemandem etwas davon zu zeigen, gebrochen. Ähnlich hatte er später gehandelt, und einzig sein oft geäussertes Verlangen nach der Herausgabe der ganzen Africa ist immer eisern zurückgewiesen worden (Fam. 12,7,5; vgl. Boccaccios Epist. 12). Seine Bewunderung für alles, was von Petrarca stammte und seine wiederholten Bitten um Zusendung von Werken, sind aber ein geeignetes Thema gewesen, die Korrespondenz der Freunde immer neu zu beleben. Im Gegensatz zu Brief 22,3 enthält Fam. 22,4 vom April (1363 oder eher 1364, falls Barbato erst im späteren Jahr verstarb; vgl. Doti, Vita 374) im Datum die Ortsangabe Venedig. Der Empfänger, wiederum Barbato, schliesst daraus voreilig (sofern die Jahreszahl stimmt), Petrarca habe sich endgültig von Mailand gelöst und jubelt über diese Wendung der Verhältnisse (Wilkins, Studies 247 f.). Nun empfängt er eine neue Freude, weil ihm der Dichter eine ungemein grosse Anhänglichkeit ausdrückt und gar von einer grossen Sehnsucht berichtet. Möglich, dass sie sich einmal entgegen aller Erwartung wiedersehen (9), so lautet da Petrarcas Hoffnung. Jedenfalls gibt es ein Trostmittel in der Trennung, sagt er, und nennt das selbe, das er auch anderen Freunden empfohlen hat (so vor allem dem alten Dominikaner Giovanni Colonna Fam. 2,6,3 und besonders 6,3,64): Wahre Freunde müssen wissen, dass sie zu jeder Zeit geistigerweise beisammen sind. Was

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man von Petrarca schon früher gehört hat, das wird nun ganz phantastisch bis in Einzelheiten ausgemalt: „Das Buch, das der eine zur Hand nimmt, wird der andere öffnen; was der eine ins Auge fasst, wird der andere lesen;“ usf. (4); damit vermögen dann die beiden Freunde die Grausamkeit des Schicksals, fortune violentiam, zu mildern (9). Nach so viel Liebesbezeugung ist der Neapolitaner nicht weniger als je bemüht, sein altes Ziel zu erreichen, und hat er einst (Wilkins, Studies 250) in seinem Garten grosse Verehrer des Dichters (wie Zanobi und Boccaccio), auch mehrere Hofleute wie Acciaiuoli, Orsini versammelt, weil er meinte, ihren vereinten Kräften und mit einem allgemeinen Aufruf an die Adresse des Dichters werde es endlich gelingen, ihn zur Herausgabe seiner Werke zu zwingen, ja ihm endlich das wichtigste unter allen, die ungeduldig erwartete und den Zeitgenossen längst geschuldete Africa zu entreissen, hofft er nun Jahre später, in einem neuen Anlauf werde es gelingen. Aber Boccaccio hält die ganze Unternehmung für aussichtslos, wie er Barbato mitteilt (Epist. 12), und im Herbst 1363 (oder 1364) stirbt die treibende Kraft Barbato selber. Wenn er mit seinem Drängen und seinen Grossaufgeboten zur Überwindung von Petrarcas Widerstand etwas erreichte, so war es am Ende dessen gewaltige Entrüstung über den Streich, den er ihm gespielt hatte. In Sen. 2,1 an Freund Boccaccio (wohl von 1364) schilderte der Dichter endlich in nicht geringem Zorn, wie dem jungen Barbato damals im Jahr 1341 geglückt war, vierunddreissig Verse der Africa an sich zu bringen, und wie er in der Folge es verschuldete, dass diese Verse durch Kopisten jämmerlich verpfuscht und zerrupft wurden. Das also musste ihm, dem skrupelhaft besorgten Dichter, der grosse Verehrer antun! Dessen ungeachtet wahrte er jenem seine Liebe auch über den Tod hinaus. Nur einen Nekrolog wollte er für ihn nicht verfassen und konnte es auch gar nicht. Er sagte, ihm fehle die hierzu nötige Kenntnis; er wisse nichts von seiner Lebensweise, nichts von seinen häuslichen Einrichtungen, auch nichts von seiner „Familie“, oder von seinen Ämtern, rein nichts von den Werken, die der bedeutende Literat doch wohl verfasst haben müsse (Sen. 3,4)! In den zweiundzwanzig Jahren des schriftlichen Kontakts – und einen anderen erlangten sie in dieser Zeit ja nicht – war von all diesen Dingen niemals die Rede gewesen. Im Ruhm Petrarcas war Barbato aufgegangen, und Petrarca hatte es ihm gegönnt, ohne sich rechtzeitig zu fragen, wie sehr ihm das schaden könne. Ein Tadelbrief ist auch das folgende Schreiben, zeugt von echter Freundschaft, hat aber im Gegensatz zu den eben erwähnten Schreiben an Barbato trotz seiner sehr überlegten Sprache nichts Gemachtes und Geschraubtes an sich. In Fam. 22,5 vom August 1360 freut sich Petrarca, weil er vernommen hat, dass Bischof Philippe von Cavaillon, dem Vaucluse und sein eigenes kleines Gut untersteht, von einer Reise im Auftrag des Papstes in seine Diözese zurückgekehrt ist. Er hat schon früher, als er noch in der Provence weilte, die Abwesenheit des Bischofs mehrmals bedauert, so nach 1343, als dieser eine päpstliche Mission in Neapel auszuführen

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hatte (Fam. 5,3,12,ff.), dann wieder 1351, als er einen anderen, unbekannten Auftrag der Kurie erledigte (Fam. 11,15), und schon damals hatte er es für richtig angesehen, den Bischof zu ermahnen, sich von seiner Diözese nun nicht mehr zu entfernen. Doch erneut ist der Bischof von der Kurie ausgesandt worden, und jetzt setzt Petrarca ihm härter zu. Kein anderer Bischof hat seine Herde so häufig betrübt hinterlassen (8). Die Aufgabe, die der Papst ihm gestellt hat, sind viele andere ebensogut zu erfüllen befähigt (5). Als Geldeintreiber war er eben jetzt in Deutschland tätig gewesen; und gerade das steht einem Bischof besonders schlecht an; und zudem – das zu betonen, gibt es ebenso gute Gründe – ist dieser Auftrag gefährlich (13); jedermann weiss, dass wütende Angriffe auf die Geld fordernden Beamten nicht selten sind, schon gar nicht, wenn sie von der Kurie kommen. Wofür überhaupt Geld benötigt werde, das möchte er denn doch wissen, denkt Petrarca, aber er hätte einiges wenigstens vermuten können; denn ausser für die allzeit üblichen Ausgaben der Kirche benötigte man jetzt besondere Summen zum Beispiel für einen geplanten Kreuzzug und dann auch für die Wiederherstellung des Kirchenstaates. An Geldmangel an der Kurie zu glauben, fällt dem Dichter allerdings nicht leicht, weil er sich zu gut daran erinnert, für welch grossartigen Lebensstil dort Geld verschwendet wird. Mit vollem Recht unterstreicht er dagegen die Pflicht der Bischöfe, in ihren Diözesen anwesend zu sein und da als Seelsorger zu amten. Um dieser Aufgabe nachzukommen, so gestattet er sich zu behaupten, dürfe man sich Befehlen des Papstes entziehen, und wäre es mit Hilfe von Listen und Verstellungen (9 f.). Dass der sittenstrenge Priester ihn missverstehen könnte, braucht er in der Tat nicht zu befürchten. Doch am Schluss zeigt er ein herzliches Bedürfnis, noch einen Wunsch für seine eigene Person anzubringen. Die Art, wie er ihn ausdrückt, erinnert an Formulierungen im vorangehenden Schreiben an Barbato (22,4,9), und doch ist der Ton ein völlig anderer. Vielleicht könnte er doch noch irgendeinmal, ja „wenn es am wenigsten zu erwarten ist“, beim Vater Philippe auftauchen, gleichsam mitten unter seinen Büchern – wunderbar wäre das –, und dann am grünen Ufer der Sorgue entlang gehen, bis dorthin, wo sie rauschend vom Felsen herabstürzt. Diese Sehnsucht ist echt und lebendig, eine nach wahrer Heimat und wäre niemals durch eine erkünstelte Vergegenwärtigung zu besänftigen. Dass sich eben zur selben Zeit sein Sokrates in der Vaucluse aufhält, weil Petrarca ihm diesen stillen Ort vor kurzem zur Erholung, ja als Zufluchtstätte empfohlen hat (21,9,22), verstärkt wohl sein Verlangen, auch dort zu sein. Doch obwohl er noch vierzehn Jahre weiter leben und sogar nochmals nach Frankreich reisen wird, gelingt ihm nicht, sein Tal und sein Haus wieder zu besuchen. Der Bischof, so bittet er, möge dem alten Freund alles Liebe tun, was immer er ihm, Petrarca, zu tun gewohnt gewesen. Und dann erlebt er – wie Brief 22,6 vom 17. August (1360) verrät – dass ihm ein anderer sehnlicher Wunsch in Erfüllung geht. Davon berichtet er an Zanobi,

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der jetzt in Avignon ist. Niccolò Acciaiuoli, der Regent Neapels, von ihm seit Jahren aus der Ferne sozusagen angebetet, kommt nach Mailand und verachtet es nicht, den Weg zu seinem Haus unter seine Füsse zu nehmen. Der hohe Gast, Maecenas tuus, wie Petrarca zu Zanobi sagt, hat sich eben nicht allein für einen Visconti, also für Augustum meum, sondern sogar für Petrarca und für eine Besichtigung seiner Bibliothek einige Zeit genommen. In allem, was er sagte und tat, war er so vornehm, so würdig und zugleich so bescheiden gewesen, dass nicht allein Petrarca, so jedenfalls meint er, sondern auch den anderen Anwesenden beinah die Tränen aufstiegen. Da er sich als Feldherr bewährt hat und zugleich edle Studien fördert, kann er mit dem grossen Pompeius verglichen werden (2), und da er nun den Philosophendichter Petrarca besucht, ergibt sich folgerichtig, wer als ein zweiter Poseidonios zu betrachten ist. Nie wird bei solchen und ähnlichen Gegenüberstellungen klar, ob damit das 14. Jahrhundert erhöht oder die Antike erniedrigt wird; klar ist nur, welches Ziel Petrarca in seiner Phantasie aufstellt. Zur Verherrlichung seines Idols spricht er eine Zukunftsvision aus: Von nun an wird das bestimmte Haus am Stadtrand Mailands von allen Liebhabern wahrer Mannhaftigkeit, Tüchtigkeit und hoher Gesinnung aufgesucht werden. Und wenn er nun in seiner Bibliothek steht und solchen Gedanken nachhängt, ist er kaum weniger berauscht von dankbaren Gefühlen als sein eigener liebenswürdiger Verehrer Enrico Capra es war, als er einmal ihn, Petrarca, bei sich aufnehmen durfte (Fam. 21,11). An der gewaltigen Ehre übrigens, die Acciaiuoli dem Dichter erweist, bekommt der einst in Neapel geschätzte Zanobi da Strada reichlichen Anteil, denn Petrarca, der vom grossen Ereignis Kunde gibt, betont dabei, von ihm vor allem sei beim besagten Besuch gesprochen worden: precipuus de te sermo (3). Sollte dieser Satz auch Boccaccio bekannt geworden sein, dem die Vorliebe des Regenten in Neapel für Zanobi einst lästig gewesen war (Epist. 9 vom Jahr 1353), wird er alles auf seine Weise gedeutet und sich kaum noch aufgeregt haben. Mag der modernen Nüchternheit die phantasievolle Verklärung eines zwar tüchtigen, aber durch Reichtum verwöhnten und selbstbewussten Gross-Seneschalls reichlich fremd vorkommen, so wird sie doch das nächste Schreiben 22,7 ganz unmittelbar berühren. Der hier ausgedrückte Schmerz eines Vaters über das feindselige Verhalten des eigenen Sohnes erfordert Mitgefühl. In manchen anderen Schreiben gesteht Petrarca zu irgend einem traurigen Ereignis, dass ihm Tränen in die Augen steigen; hier hingegen fehlt ein solcher Hinweis, weil die Gemütsregungen des Schreibenden zu stark sind, um gleichzeitig eine Selbstbeobachtung zuzulassen. Der Anfang nimmt sich wie eine Fortsetzung von Streitreden zwischen Vater und Sohn aus. Aber Giovanni ist nicht da; er ist vom Vater weggegangen (oder geschickt worden), und ob ihm jetzt die erbetene Erlaubnis zur Rückkehr gegeben werden soll, ist eine Frage, die Petrarcas alten Zorn hoch aufwallen lässt und wahre Verzweiflung auslöst. Wie kann man einen Sohn aushalten, wenn er all dem, was

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der Vater ist und tut und hochhält, schamlos seine Andersartigkeit entgegensetzt und ihm mit Hohn begegnet (5)! Seine Geduld ist aufgebraucht (7 ff.), die lange Marter hat den alten Mann gebrochen. Ganz genau erinnert er sich vor allem auch an alle Äusserlichkeiten, die er an seinem Sohn nicht ausstehen kann, etwa die Art zu gehen, den Körper zu bewegen, mit dem Kopf zu nicken und anderes mehr (8 ff.)! Alles das ist Ausdruck der Überheblichkeit, und der junge Mann muss es ablegen, bevor er dem Vater wieder unter die Augen kommt. Ein Meisterstück ist diese Darstellung, und es dürfte schwierig sein, in der Literatur zum Vater-SohnKonflikt auf ebenso wenigen Zeilen etwas ebenso Eindrückliches zu finden. Petrarca wäre übrigens sich selber untreu, wenn er das ihn aufwühlende Problem, das sein Sohn ihm stellt, in der zweiten Hälfte des Briefes nicht von einer ganz anderen Seite angehen würde. Er wirft nun einen Blick auf sich und findet für seine harte Beurteilung unter anderen Ursachen eine grosse Liebe. Eben sie ist vielleicht allzu fordernd und zu streng; denn das Geliebte soll vollkommen sein. Zugleich sucht er nach jener Macht, die Sünden vergeben kann, und verweist den Sohn an diese (11 ff.), zeichnet ihm aber den langen Pfad einer Bekehrung vor, weil es nicht sein darf, dass sich Giovanni den Bussgang als etwas Einfaches vorstelle. Und schliesslich kann er nicht anders, als sich auf seine eigenen Mängel zu besinnen, da er solches ja gewohnt ist, und so gesteht er denn, dass er einem Knecht „als ein Mitknecht“ vergeben muss, um vom gemeinsamen Herrn die Verzeihung, deren er selber auch bedarf, erlangen zu können. Seine Vertrautheit mit dem Neuen Testament erfordert das (Mt. 18,27 ff. und das Gebet des Herrn). Der ganze Gedankengang ist mit sicheren Strichen scharf und überzeugend gezeichnet, ohne dass ein falscher Ton sich einmischen könnte. Entschlossene Strenge wahrt sich Petrarca bis ans Ende. Er wiederholt: Seinem Sohn gegenüber ist er zu gutmütig und zu weich gewesen (5 und 23), und diesen Fehler wird er nicht noch einmal begehen. Deshalb bleibt dem Leser ein Zweifel, ob er Giovanni wieder bei sich aufnehmen werde oder nicht, und auf eine Antwort muss er warten (vgl. Fam. 22,9). Das eben angeführte Schreiben ist in Mailand, am 30. August (1359) verfasst worden. Das folgende, nämlich 22,8, ist auf Januar/März 1360 anzusetzen. Petrarca, so scheint es, will etwas völlig anderes rein zur Unterhaltung einschieben. Er beschreibt seinem Sokrates in Avignon einen Gast, den er lieber gehen als kommen sieht, und spottet über sich selber, weil er ihn wegen eines heftigen Regens zum Bleiben aufmuntert, wo er ihn doch lieber gleich fortschicken wollte. Dass der Kerl, um den es sich handelt, recht unangenehm ist, weiss Sokrates dank eigener Erfahrung, denn sein Übername wird ihm nicht verschwiegen; es handelt sich um einen „Bolanus“, wie er im Buche steht. Und nun gleich darauf die unerwartete Ankunft seines Freundes Lelio! „Welch ein Unterschied zwischen Gast und Gast“, ruft er aus. Mit dem neuen verändert sich die Einsiedelei aufs schönste, und der Regen bedeutet nun einen Segen, weil er den Freund zum Verweilen anhält. Freilich dau-

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ert die Freude nicht länger als wenige Tage, und kaum ist Lelio gegangen, macht sie Platz einem grossen Schmerz und „ist nicht mehr da.“ Wie eine eingeschobene Anekdote liest sich das zur reinen Unterhaltung. Doch weshalb Petrarca den Brief der Sammlung einfügt und gerade hier, erfährt man nur dank einigen Nachforschungen von Arnaldo Foresti. Der genannte Bolano bringt Petrarca nämlich einen Brief mit; der stammt von Sokrates, an den Petrarca in Fam. 22,8 sich wendet, und enthält eine wichtige Meldung. Lelio, der kurz nach Bolano eintrifft, bringt hierauf, was der Brief aus Bolanos Hand angekündigt hat, nämlich Giovanni Petrarca in Person. Wochen und wohl Monate sind vergangen, seit der Sohn den Tadel des Vaters gelesen hat, und nun sind die besten Freunde des Dichters, wie man sieht, bereit, den beiden ihr erstes Zusammentreffen zu erleichtern. Die Geschichte des ernsten Zwistes wird durch die Abfolge der Briefe weder abgebrochen, noch unterbrochen. Das nächste Schreiben berichtet davon noch einiges mehr. Denn Fam. 22,9, wiederum an Sokrates geschickt, berichtet vom Ergebnis der gewiss äusserst schwierigen Unterredung, die Petrarca mit Giovanni geführt hat. Und der Briefanfang tönt nicht gut; denn schmeichlerisch und verlogen, aufrührerisch und drohend sei der junge Mann, ist da zu lesen. Strenge, dann Mitleid und wieder Rückbesinnung auf alle begangenen Sünden des Sohnes und etwas wie Rachsucht wechseln in Petrarcas Kopf und Herz, bevor die nüchterne Vernunft überhand nimmt und zur Begnadigung führt. Dass die Nachsicht schliesslich siegt, gesteht Petrarca wie eine Schwäche mit der Bitte, Sokrates möge sie ihm vergeben. Damit ist auch der Leser, den Petrarca nicht zu vergessen pflegt, aufgefordert, Verständnis aufzubringen. Doch allzu gross ist das Entgegenkommen des Vaters nicht. Seine Gnade gilt nur auf Bewährung, und wie Giovanni sich an die ihm gestellten Bedingungen halten könnte, ist fast unvorstellbar. Die Wesensverschiedenheit bleibt ja bestehen und manche Gewohnheit dazu. Der Hass auf Bücher, den Giovanni als Kind empfunden hat (Fam. 13,2,2), hat sich vielleicht gemässigt, doch das Missverständnis zwischen den Hadernden ist noch da (vgl. Fam. 23,12,15). Aus dem Anklagebrief des Vaters spürt man die Ablehnung des Jungen gegen des Vaters Gehaben, gegen dessen dichterische Allüren, Eitelkeiten, Verstiegenheiten. Sein Lachen über des Vaters Freundschaftskult (5) ist nicht ganz verfehlt, so könnte man meinen, wenn man z. B. jenen eben besprochenen Brief an Barbato (Fam. 22,4) oder das jeweilige Lamento nach dem Tod eines Freundes bedenkt. Vieles wird vom Sohn gefordert, doch seine Bewährungszeit dauert nicht lange, und man weiss nicht, soll man von einer Erlösung sprechen. Er lebt nur noch ein Jahr und einige Monate und stirbt am 9. oder 10. Juli 1361 in Mailand an der Pest, während der Dichter in Padua weilt. Vom Tod wird später in Sen. 1,2 Francesco Nelli unterrichtet und dieser wird die Nachricht unter vielen Tränen lesen und zu Petrarca sagen: „Ihr habt Euch nie

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gekannt“ (Epist. 29). Darauf wird Petrarca sagen: „Recht hast Du zu weinen, „denn hätte er Dich verloren, er hätte Dich betrauert als seinen liebevollen Vater.“ (Sen. 1,2). An einen Jüngling wird er sich erinnern, der gesittet und mit gesenkten Augen neben Erwachsenen am Tische sass und zu sprechen sich scheute, doch wenn der Name Francesco Nelli fiel, vor sich hin lächelte und plötzlich doch das Wort hervorstiess, das er nicht länger zurückhalten konnte, eines der liebevollen Verehrung (Sen. 1,3). Eine liebevolle Schilderung ist das, aber Petrarcas Gefühle für Giovanni bleiben schwankend auf lange Zeit oder auf immer. Wenn er gar daran denkt, wie sehr er gehofft hatte, an Giovanni einst eine Stütze im Alter und einen tüchtigen Kopisten zu haben (Fam. 13,12,15), überfällt ihn Bitterkeit und grosses Mitleid mit sich selber. Sein Schreiben 22,10 zeigt ihn bei seiner üblichen Beschäftigung, unter der er manchen Kummer vergessen kann. Mit Genugtuung zeichnet er den Wandel seiner literarischen Ausrichtung und den Trost, den er jederzeit aus seinen Studien gewonnen hat. Dabei unterstreicht er den Gegensatz zwischen Einst und Jetzt, und spricht von einer neuen Neigung, deque affectu novo (1), was jedoch verwundern kann. Wer seine früheren Äusserungen im Gedächtnis hat, wird einwenden, so neu sei die von ihm geschilderte Sache wohl nicht, und hierauf kann er feststellen, dass auch Petrarca so denkt. Nelli hat ihm als besonders schöne stilistische Eigenheit seine Mischung von Säkularem und Sakralem gerühmt; das freut Petrarca, aber die neue Neigung ist denn doch, wie er anfügt, „schon kräftig verwurzelt, das heisst also, sie hat sich allmählich ausgebildet und ist von früher Zartheit zur vollen Kraft der Reife gelangt. Nicht rasche und schroffe Wendungen sind in Petrarcas Werdegang charakteristisch, ob man ihn nach der religiösen, moralischen oder literarischen Eigenheit untersuche. Nie hat sich der Dichter von einer bestimmten Zielsetzung radikal und brüsk abgekehrt, aber er hat mit der Zeit immer besser verstanden, sein Leben zu ordnen und gleichzeitig verschiedene Literaturgattungen, eben auch die säkulare und die sakrale, gut zusammenzufügen, sie zu schönem Einklang zu bringen und dabei seiner christlichen Überzeugung einen deutlichen Vorrang zu sichern. Schon als er 1349 seinem Bruder, dem Kartäuser, einen Sinn für die Poesie einpflanzen wollte und sein erstes Hirtengedicht zuschickte (Fam. 10,4), war ihm klar, dass christliche Theologie und weltliche antike Weisheit sich nicht ausschliessen; ja schon in einem Brief vom Jahr 1336 an seinen besten Jugendfreund Bischof Giacomo Colonna hatte er seine feste Überzeugung ausgedrückt, dass seine Freude an der antiken Literatur seinem christlichen Glauben keinen Abbruch tue und er trotz seiner Hinwendung zu Augustinus sich noch immer in die Schriften Ciceros vertiefen dürfe (Fam. 2,9,14). Dennoch gehörte damals zur Voraussetzung seiner grosse Begeisterung für Vergil und für die anderen alten Klassiker eine spontane Glücksempfindung, die er bei der Lektüre biblischer Texte nicht erlebte; er sagte es in dem genannten Hirtengedicht klar durch den

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Hirten Silvius (daran erinnert er jetzt unter Abschnitt 7), dass er seinen brennenden Wunsch nicht aufgebe, dem Sänger Vergil zu folgen und den grossen Helden Scipio zu besingen. Die Gesänge Davids überliess er damals dem frommen Bruder. Manches hatte sich seither gewandelt. „Damals“, so sagt er, „habe ich gelesen, was freut, jetzt lese ich, was nützt“, und das Nützliche ist ihm auch Freude geworden. Und dann korrigiert er sich sogleich: Recht besehen sei das schon früher nicht anders gewesen (6). Übrigens hat seine allgemeine Vorliebe für das Einfache, Urwüchsige, die bei ihm – wie er sagt – nicht Tugend sondern Natur war (Fam. 21,13,5 f.), sich immer deutlicher auf seinen literarischen Geschmack ausgewirkt, nicht zuletzt dank der Einsicht, dass man von sich nicht mehr fordern dürfe, als was einem gegeben sei (Fam. 1,8,12). Das hilft ihm unter anderem dazu, die Sprache der Bibel gelten zu lassen, so wie sie ist. Hat er unter dem Einfluss seines Bruders sich einmal vorgenommen, jeden Tag Psalmen zu beten, sich also den Gesängen Davids zu widmen (Fam. 10,5,28), werden sie ihm im höchsten Masse vertraut und lieb. Und nimmt dann auch seine Vorbereitung auf den Tod einen immer grösseren Ernst an, ist auch damit eine immer intensivere Beschäftigung mit dem sakralen Schrifttum gegeben. Mit wachsender Sicherheit, so meint er, verstehe er, Profanes und Sakrales so zu verwenden, wie man in einem Haushalt die verschiedenen Gefässe je nach ihrem bestimmten Zweck zu gebrauchen pflegt (8 f.). David, Paulus und die Kirchenväter hebt Petrarca über die antiken Dichter hinaus, aber diese bleiben das wunderbare Fundament, auf das man Gutes aufbauen kann und soll (5 ff.). Um die „eingebildeten Leute“, welche die Bibel verachten, kümmert er sich nicht (2). Das heisst, dass er auch immer ausschliesslicher Gott preisen wird, statt dass er für eine Huldigung der Grossen der Welt kostbare Zeit aufbringen wollte (3). Und die Psalmen zieht er schliesslich allen anderen biblischen Schriften vor und sagt zu seinem Freund Nelli, der die genannte Mischung von Sakralem und Profanem eben gelobt hat, er möchte, dass sie bei seinem Tode „unter meinem Kopfkissen ruhen“(11). Denn das ganze Psalterium hält er, wie damals üblich, für ein Werk Davids, und der Gedanke an die Lebensgeschichte des Königs, dieses Sünders und Heiligen, trägt, so darf man annehmen, viel zur Stärkung dieser Vorliebe bei. Dass er unter all seinen Sorgen auch die Bedürfnisse seines lerneifrigen Goldschmieds nicht vergisst (vgl. Fam. 21,11), beweist Brief 22,11. Er empfiehlt Enrico Capra am 17. April 1360 von Padua aus seinem alten Freund Guglielmo da Pastrengo, der als tüchtiger Jurist in Verona im Dienst der Scaliger steht und über solide Kenntnisse der lateinischen Literatur verfügt. Genannt wurde er schon oben als „Gärtnergehilfe“ in Vaucluse (vgl. zu Fam. 13,3 und Dotti, Vita 65). Er ist wohl der richtige Mann, auch einem Sonderling wie Capra Verständnis zu zeigen und ihm für eine Bücherbeschaffung Rat zu erteilen (2). Denn die richtige Wahl zu treffen, dazu ist der Anempfohlene, ohne Richtlinien zu empfangen, gewiss nicht

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imstande. Doch eben dazu hat er sich auf den Weg gemacht, um sich, wie Wilkins meint (Eight years 205), in Verona nach solchen umzusehen. Das war am 17. April 1360 gewesen. Das nächste Schreiben 22,12 trägt das Datum: Mailand, 26. Oktober (1360). Zu diesem Zeitpunkt kann man sich nicht mehr darüber täuschen, dass eine neue Pestwelle Europa überflutet. Es ist wie früher: Längst nicht jeder Ort wird von ihr schwer heimgesucht. Aber erstaunlicherweise gehört diesmal Mailand zu den stark betroffenen Städten, und eben da wird etwas später – wie angedeutet – an der Pest auch der Sohn des Dichters sterben. Petrarca wird frühzeitig von einem ihm befreundeten Arzt Albertino ermuntert, zu ihm an den Langensee zu kommen, wo er ärztlich gut betreut werden solle, und wie erwartet, antwortet Petrarca darauf mit einer freundlichen Absage, ja zeigt sich dabei so durchaus fatalistisch, wie er im Gedanken an die räumliche Ausdehnung und den zeitlichen Verlauf der früheren Pest fast notgedrungen sein muss. Fliehen wollen, ist sinnlos. Wo es vom Fatum bestimmt ist, da wird man vom Tod eingeholt. So steht es im zweiten Teil des Schreibens. Der erste Teil handelt jedoch von etwas völlig anderem. Hier schildert Petrarca dem Arzt, weshalb er seinen Wohnort gewechselt und von Sant’Ambrogio nach dem Kloster San Simpliciano umgezogen ist. Von diesem Umzug war schon in Brief Fam. 21,14 die Rede, aber von dem Skandal, den jetzt der Arzt vernimmt, stand dort kein Wort. Gleich nach einer kurzen Einleitung (4) spricht der Dichter eine Einsicht aus, die man von ihm nicht oder kaum erwartet hätte: Er sei zum Ökonomen nicht besser geeignet als zum Politiker. Dabei hätte man denken können, seine Unfähigkeit, einen Haushalt zu leiten, habe er viel früher entdeckt als seine Mängel am politischen Verständnis. Launig berichtet er, wie tüchtig seine Diener (man sollte wohl eher von Knechten sprechen) ihn ausgeraubt haben, nämlich erstens völlig ungestört und zweitens unerhört gründlich. Nur eben die Bücher sind dem Dichter erhalten geblieben (6), wenn man seinen Worten glauben will. Dass diese Frechheit möglich war, verschuldete Petrarca, wie er weiss, mit seiner Unachtsamkeit teilweise selber, doch trug dazu auch die einsame Lage seines Hauses und dessen enorme Weitläufigkeit bei. Liebe zur Einsamkeit und zur Freiheit seien ihm zum Verhängnis geworden, den Schurken jedoch zum Vorteil, fährt er fort, nun aber wohne er in einem kleineren Haus (7) und sei da vor Räuberei sicherer. Selbstverständlich war der Arzt nicht die einzige Person, die von der Geschichte erfuhr; ihm wird gedankt, dass er sie gutgläubig für wahr hält (2 f.), während die grosse Menge nicht alles für bare Münze genommen hatte. Zuviel habe er darüber geschrieben, tadelt sich Petrarca darauf, da seine Feder „für Besseres bestimmt ist“ (9), und wendet sich diesem Besseren zu, schreibt nämlich – wie angedeutet – eine Abhandlung über die Sinnlosigkeit, dem Tod und überhaupt allem, was das Fatum bestimmt hat, entgehen zu wollen. Die Jahrhunderte liefern dafür unzählige Beispiele; er aber hält sich, wie immer, an die besten und weiss, wie immer, wo man sie findet.

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Doch für seinen Verzicht auf eine Reise nach Cannobio hätte er dem Arzt auch einen anderen Grund angeben können als die Vergeblichkeit einer Flucht vor der Pest. Er weiss, dass die Visconti ihm eine neue Mission zugedacht haben; und wie bald er sie wird ausführen müssen, das deutet ihm eine Hochzeit zwischen einer elfjährigen französischen Prinzessin und dem achtjährigen Sohn Galeazzos an; sie wird im Oktober in Mailand gefeiert. Gleich hernach werden die Vorbereitungen für eine Gesandtschaft nach Paris vorangetrieben, und Petrarca soll ihr Sprecher sein. In der französischen Hauptstadt wird er König Jean le Bon vorfinden, denn zwischen diesem und Eduard III. von England ist ein Friede geschlossen worden, und zu den dringendsten Aufgaben des aus der Gefangenschaft Entlassenen gehört nun, gewaltige Summen zu beschaffen, damit unabsehbar grosse Schulden, nicht zuletzt das Lösegeld für seine eigene Person und das für viele vornehme Geiseln, die in England zurückgehalten werden, bezahlt werden können. Die Visconti sind bereit, eine Summe vorzustrecken, um zur Verminderung solcher Lasten einiges beizutragen. Im Dezember reist Petrarca auf ihren Wunsch mit fünf Begleitern von Mailand ab, und am 13. Januar 1362 hält er im Königspalast in Paris seine Rede, und zwar auf Lateinisch, nachdem er sich dafür mit einer ungenügenden Kenntnis des Französischen entschuldigt hat. Von all dem und von den Gegenständen der Verhandlungen steht in seinem Brief 22,13 so gut wie nichts, obwohl sein Inhalt seine Gesandtschaftsreise zum Thema hat. Zu politischen, zu finanziellen Problemen sich zu äussern, war gewiss nicht seine Aufgabe. Dagegen unterstreicht er den grossen Eindruck, den seine Rede auf den König und dessen Sohn, den Herzog Charles ausübte, und spricht vom Interesse, das die Frage nach dem Wesen und der Macht Fortunas auslöste. Denn obwohl Petrarca betonte, dass eine himmlische Kraft alle menschlichen Dinge und vor allem auch das Königreich der Franzosen zu ihrem Nutzen lenke, war es doch eben das Wort „Fortuna“, das eine ausnehmend grosse Faszination auf den schwer gedemütigten Adel ausübte; es versetzte vor allem den König und seinen Sohn Charles in eine solche Spannung, dass der Sprechende sie an ihrer Körperhaltung und ihrem Blick unmittelbar ablesen konnte (2 ff.). Bis zum Abend des nächsten Tages fühlte Petrarca hierauf ein beträchtliches Unbehagen, so berichtet er selber, weil er befürchten musste, er werde auf Wunsch des Herzogs Charles das Thema Fortuna, das ihm jetzt besonders heikel vorkam, gründlich mit französischen Gelehrten diskutieren müssen. Doch wie man sich denken kann, erforderten dringende Geschäfte des König weit mehr Zeit, als man vorausgesehen hatte, weshalb sich die Furcht vor einem gefährlichen Disput als überflüssig erwies. Der Brief, in dem er das festhält, also Fam. 22,13 vom September 1361, hat zum Adressaten einen Humanisten, der am französischen Hof ein- und ausgeht, einen ausgezeichneten Kenner und Übersetzer des Livius, wohl vermerkt, nämlich Pierre Bersuire (Berchorius), den Prior von St-Eloi in Paris. Ihn kannte Petrarca seit vielen

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Jahren, und mit ihm führte er während der genannten Ereignisse mehrmals Gespräche, wie das unter alten Freunden natürlich ist. Deshalb wagte er ihm gegenüber ganz privat, seine Meinung über das Wesen Fortunas knapp zu erläutern. (6 f. und 11). Aber er machte sich nach dem Abschied von Paris noch über ein ganz anderes Thema Gedanken, das zwischen ihm und besagtem Prior erörtert worden war. Sie hatten Gedanken über die gegenwärtige historische Lage ausgetauscht; und als ausnehmend gute Kenner der alten Geschichte hatten sie neue und alte Zeiten miteinander verglichen. Und vielleicht wusste Petrarca noch einiges mehr über die römische Vergangenheit als der andere, dann nämlich, wenn er sich in der Historia Augusta besser auskannte, was jedoch nicht erwiesen ist. Er legte darauf seinem Schreiben vom September 1361 an den Prior ein zweites bei, das er schon viel früher, nämlich auf der Rückreise über verschneite Berge verfasst haben will. Datiert ist es auf den 27. Februar 1361 und handelt nochmals von Fortuna, nämlich insofern als sie die Ursache oder die Beherrscherin einer neuen Kriegsart zu sein schien. Und wirklich gibt Brief 22,14, das ist der in 22,13 eingeschlossene Brief, Auskunft über alte und moderne Kriegführung, ein hochaktuelles Thema. Petrarca hat sich daran gewöhnt, in Oberitalien grossen Verwüstungen zu begegnen und ist bei ihrem Anblick entsetzt. Trifft er Verwüstungen jedoch auf französischem Boden, erschrickt er wie über eine unerwartete böse Überraschung, teils weil sie da gebietsweise noch schlimmer sind, teils weil sein Gedächtnis das Bild eines blühenden Frankreich festgehalten hat. Schrecklich ist der Anblick des flachen Landes und beängstigend auch der von Paris (2–4). Ihn bedrückt aber vor allem der Gedanke an die Zukunft und die Frage, wie die Kriege beendigt werden könnten, wobei er kaum zu hoffen vermag, dass sie je aufhören werden. Nationen, die bisher zu schwach waren, sich mit starken Nationen zu messen, bezeigen nun eine überlegene Tüchtigkeit, wenn sie sich in Kriege einmischen (1 ff.). Zu alten Kampfarten gesellt sich eine neue; denn obwohl seit Jahrhunderten in der Schlacht neben dem Schwert auch das Geschoss eingesetzt wird, hat die Schusswaffe jetzt eine viel höhere Bedeutung gewonnen (5). In Italien übt man sich zwar noch nicht so tüchtig wie in England im Umgang mit leichten Bogen, aber in seinen Städten bildet man Scharen von Armbrustschützen aus, um sie in Gefechte einzusetzen. Das weiss Petrarca, auch wenn er nur mit wenigen Worten daran erinnert (5). Länger hält er sich bei der alten Doktrin auf, dass die Geschicke der Staaten an den Wandel ihrer sittlichen Kraft gebunden sind und die Vormacht stets vom weniger tüchtigen zum tüchtigeren wechselt (6); darüber hat er sich oft geäussert, eindrücklich in Schreiben an Genua (Fam. 14,5,19 und 17,3,26 ff.). So ist es und so wird es bleiben. Fragt Petrarca darauf nach der Tüchtigkeit Italiens und Frankreichs oder auch anderer Reiche, beschränkt er seinen Blick auf ihre militärische Fähigkeit und liest an dieser ab, was sie vermögen und was sie wert sind. Wie ein Land sich aufrecht hält, sich sichert und gegen Fremde schützt, das verfolgt er an ihrer bewaffneten Verteidi-

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gung. Geschichte zeigt er im genannten Brief einzig als eine der Kriege. Die modernen Mächte entbehren der Kraft; sie wehren sich nicht mit ihren eigenen Bürgern sondern nehmen Fremde in Dienst, einige aus dem eigenen Land, aber immer häufiger Ausländer, Barbaren in grossen Scharen. Man findet sie leicht; sie sind die Überlebenden jüngst vergangener Kriege, aber sie sind nicht etwa Feinde des Krieges und Freunde des Friedens, denn sie leben vom Krieg (18 ff.). Das gehört zum Entsetzlichsten der Neuzeit, dass man nicht mehr kämpft, um Frieden zu erlangen, sondern um vom Krieg angenehm zu leben und von ihm vieles zu gewinnen. So sind denn ganze Heere zu schrecklichen Horden von Raufbolden und Saufbrüdern entartet. Eine Kriegszucht trifft man bei den Anführern nicht, und erst recht nicht bei ihren Truppen (14 ff.). Hat sich Petrarca schon früher gegen das Söldnerwesen ereifert (so in Fam. 11,8,28 ff.), so geisselt er es jetzt grimmiger, weil es sich gewaltig ausgedehnt hat, eine alles beherrschende Macht geniesst und mit seinen widerlichsten Eigenheiten die verheerendsten Folgen zeitigt. Sogar reiche und angesehenste Herren vermögen sich nicht zu schützen, wenn sie nicht mit riesigen Summen solche Kriegsknechte in Scharen kaufen. Es ist auch kaum anders möglich, als dass gerade sie mit ihrer Allgegenwart die neue Pest besonders weit verbreiten und ihr Absterben verhindern. Wie anders war das Kriegswesen in der Antike! Welch grossartige Disziplin in den Heeren geherrscht habe, das zu schildern schafft Petrarca grosse Genugtuung. Eine Reihe hervorragender Kriegsführer, die sich durch eiserne Selbstdisziplin auszeichneten und ihre Heere mit unerbittlicher Strenge zur Befolgung militärischer Vorschriften anhielten, führt er vor. Dabei zeigt er, wie sie Heldentaten belohnten und Feigheit bestraften, auf diese Weise Glanzleistungen förderten und Roms Imperium stärkten. Er kennt erstaunlichste Beispiele der Tüchtigkeit nicht nur dank seinem hochverehrten und viel studierten Livius, er weiss von anderen aus der Zeit Hadrians und seiner Nachfolger (bis 285), weil er 1356 in Verona eine Handschrift eben der genannten Historia Augusta hat erwerben können. Darin greift er eine gute Zahl der gestrengsten und erfolgreichsten Heerführer heraus und schildert an ihnen ein grossartiges Römertum. Zudem hat er Valerius Maximus gewiss hundertmal konsultiert, auch bei ihm von Treue, Tapferkeit und Selbstzucht höchst Eindrückliches gelesen, aber auch viel Unmenschliches vernommen, das man ohne Zögern als Grausamkeit bezeichnen müsste, wenn es nur gestattet würde. Petrarca warnt aber davor. An seinen Helden, an Scipio und anderen, einen grossen Makel zu tadeln, vermag er selber um so weniger, als eben auch Valerius es verbietet. Im Krieg, so betonte dieser Römer, beruhen alle Kräfte auf den Waffen, und sie würden alles niederdrücken, sofern man nicht selber sie erdrückte (50). Dass nun Petrarcas eigene Zeit so harte und entschlossene Männer hervorbringen könnte, die sich selber bezwingen und deshalb auch andere bezwingen können (66 ff.), also Männer voll Heldenmut, eiserner Entschlossenheit und asketischer Lebensart, die

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als Vorbilder die Heere in Zucht halten, das vermag er nicht zu hoffen. Und was könnte man daraus schliessen, wenn nicht einzig dies, dass der Krieg ewig dauern wird. „Und wundern darf man sich nicht, dass das eine Volk sich erhebt und das andere gestürzt wird, jenes darauf erliegt und dieses sich erneut erhebt“, so in unaufhörlichem Wechsel (73). Damit ist Fortuna, das Schicksal für alle Zukunft, beschrieben. Es hat auf den Untergang des weltumfassenden römischen Imperiums folgen müssen. So schliesst Petrarca seine Ausführungen. Er sagt nichts von der Abfolge der Weltreiche, deren letztes eben das römische sei. Doch der gewisse Traum Daniels (2,31–45; vgl. Fam. 17,3,47) und seine spätere Ausdeutung kann er unmöglich vergessen haben. Das letzte aller Reiche geht an sich selber zugrunde, ist eine mächtige Ruine, die auseinanderbröckelt und über kurzem in sich zusammenfällt (74).

Im Buch 22 ist der 1. Brief an Pandolfo Malatesta gerichtet. Im Datum weist die Jahreszahl 1362 über den zeitlichen Rahmen der Briefsammlung hinaus, und die Ortsangabe Venedig ebenda sowie der Name des Adressaten deuten auf eine gelockerte Bindung an Mailand. Die folgenden Briefe haben zum Inhalt literarische Fragen und solche zu Korrekturarbeiten; sie wenden sich an Freunde in Italien und verraten, dass Petrarca den Kontakt mit Neapel weiter pflegt. Über seinen Wandel in der schriftstellerischen Orientierung äussert sich Petrarca in Brief 10. Die Briefe 5 bis 9 gehen in die Provence ab; unter ihnen sind die zum Konflikt zwischen Vater Petrarca und Sohn hervorzuheben. Brief 12 beschäftigt sich mit Gedanken zur Ausbreitung der Pest und zur Unentrinnbarkeit des Schicksals. Fortuna, das Schicksal, ist hierauf Hauptthema im Brief über die Gesandtschaft nach Paris und tritt im Schreiben 14 über das moderne Kriegswesen als die unausweichliche Macht hervor, welche das Imperium endgültig zerstören wird.

Im Buch 23 und da im 1. Brief ruft Petrarca die besten Feldherren der alten Römer einen um den andern wie in einer Heiligenlitanei um Hilfe an, richtiger: er möchte sie in die Gegenwart hereinziehen und weiss: Es ist unmöglich. Damit knüpft er an den letzten Brief des vorangehenden Buches an, wo er das entsetzlich verkommene Kriegswesen schilderte, das statt Frieden letztes Verderben bringt. Der Brief wird für Karl IV. bestimmt gewesen sein, doch wurde er ihm kaum zugeschickt. Dass der Kaiser Italien im Stich lässt, das ist es, was den Dichter zwingt, sich nach anderen Helfern umzusehen. „Wenn Du noch lebtest,“ sagt er beschwörend zu jedem, bevor er mit einem Rest an Hoffnung einen Unbekannten anfleht. In welches Jahr das Schreiben anzusetzen ist, lässt sich nicht genau sagen. Der Dichter sagt hier

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nichts vom masslosen Überhandnehmen der Söldner- oder Räuberheere, er kennt aber einige der berüchtigten Bandenführer, und in einer früheren Fassung von Brief 1 nennt er wenigstens einen Namen: Annichino (Hans Bongard). Er muss 1364 auch von einem Aufruf des neuen Papstes Urban V. gehört haben, der die Herren und Kommunen beschwor, auf solche Banden zu verzichten, ja später auch von Bannbullen und Infamerklärungen, die der selbe Papst 1366 gegen alle aussprach, die solche Banden anheuerten. Wie wenig das fruchtete, erlebten die folgenden Jahrhunderte. Da der Brief 23,2 mit dem Datum Mailand, 21. Mai (1361) nun wirklich an den Kaiser adressiert ist, könnte man denken, hierin werde Petrarca mit dem Hinweis auf die grosse Plage der Söldnerheere die selbe Bitte um Hilfe vorbringen wie im ersten Brief an den „Ungenannten“, der nur Karl IV. meinen konnte (Fam. 23,1,14). Von den Söldnern ist hier aber nicht die Rede, allerdings erneut vom Prinzipat, das dem Kaiser übertragen worden ist und dem gerecht zu werden, er unbedingt verpflichtet ist. Petrarca schreibt übrigens nicht von sich aus, sondern in Beantwortung von Briefen aus Prag. Sie teilen ihm unter anderem mit, dass ein Thronfolger geboren worden sei, wiederholen die Einladung in die Königsstadt und tragen die Bitte vor, er möge zu einem Dokument ein Gutachten schreiben. Von diesem Dokument sei hier zuerst gesprochen, vielmehr von dem Gutachten, das Petrarca sogleich vorlegt, jedoch in einem gesonderten Schreiben, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sein sollte (43). Wer es lesen will, muss zu Sen. 16 (15) greifen (vgl. auch Aufrufe und Piur), dann wird er sehen, dass es das berühmt-berüchtigte Privilegium maius betrifft, die Fälschung, die sich Karls Schwiegersohn, der Herzog Rudolf von Habsburg, erlaubt hat, um für Österreich bedeutende Freiheiten zu erschleichen. Die Lügen, die er da aufgetischt hat, sind von so primitiver Art, dass der Königshof sie sogleich erkennt und den Humanisten eigentlich nicht hätte bemühen müssen. Das vermutet Petrarca unverzüglich und macht sich dennoch daran, einen wissenschaftlichen Beweis zu erbringen. Mit welchem Geschick er seine Aufgabe erfüllt, welch exaktes historisches (und juristisches) Wissen er mit leichter Hand aus seinem Schatz hervorholt, um das Dokument als lächerliches Flickwerk zu brandmarken, das zu lesen lohnt sich. Denn man wird aus dem 14. Jahrhundert kaum etwas anderes dieser Art von ebenso hoher Qualität finden können. Doch im genannten Brief 23,2 gestattet sich Petrarca zuerst, seine persönlichen Bedürfnisse zu nennen, bevor er auf die Wünsche des Kaisers eingeht. Er dankt in herzlichem Ton für seine menschenfreundlich Herablassung (1 ff.), mit welcher er ihn zu sich einlädt, darf nebenbei aber darauf hinweisen, dass auch König Jean le Bon ihn bei sich zu empfangen wünsche (7), spricht von seiner Heimatliebe, die ihn an Italien bindet, und betont dann ohne Scheu, dass Karl ihn niemals in gleicher Weise zu einer Reise nach Prag zu verpflichten vermöge, wie umgekehrt das Prinzipat ihn, den König, zu einer Unternehmung in Italien fordere (9). Ange-

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widert, die alte Mahnung zu wiederholen, weiss er sich nur noch mit einer langen Reihe dichterischer Zitate zu behelfen. Nicht vergessen soll der Kaiser, dass Italien seine eigentliche Heimat sei, ja dass Italien – was man nicht überhören darf – jedem Menschen als wahre Heimat zu gelten habe (34). Ansprüche werden damit angedeutet, die klar zu umreissen Petrarca allerdings nicht wagt, weil er leicht viele Gegner, nicht zuletzt die französischen Legisten zum lauten Widerspruch gereizt hätte, solche nämlich, die längst leugnen, dass Rom das Haupt der Welt und dass der Sitz des Papstes in Rom sein müsse (39; Fam. 15,6,7; 15,9,4; Sine nom. 3 etc.). Soviel aber sagt er klar heraus: Karls Herrschaftssitz sei in Rom. Dass ihm ein Papst den ihm angestammten Sitz verwehre, dürfe nicht geduldet werden (35 ff.). Und dann erwähnte er zum wiederholten Mal eine besondere kaiserliche Aufgabe: Einen Kreuzzug zur Errettung Jerusalems (40). In Avignon plant man einen solchen längst; König Jean le Bon schwärmt geradezu davon, einen anzuführen; die Kirche erhebt den Kreuzzugszehnten; die Kardinäle Talleyrand und Guy de Boulogne haben schon 1336 das Kreuz genommen (Guillemain 247 ff.), und aus Byzanz verstärken sich die Hilferufe, weil die Türken vorrücken. Auch reist König Peter von Zypern seit 1359 in Europa von Hof zu Hof und zu den Regierungen wichtigster Städte, um überall von der Notwendigkeit eines Kreuzzuges zu sprechen. Petrarca ist also ein Mahner unter vielen anderen und seine Hoffnung, der Kaiser werde sich zur Rettung des heiligen Landes seiner Würde entsprechend an die Spitze eines riesigen Heeres stellen, drückt die Erwartung vieler Mächte und vieler einfacher Menschen aus. Alle die Soldaten, die im christlichen Europa entsetzlichen Schaden anrichteten, könne man zur Verteidigung des Christentums versammeln, so lautete eine verbreitete Meinung, und wenn 1364 der genannte König von Zypern in Prag erscheinen wird, bekundet ihm Karl IV. in der Tat grosse Begeisterung für ein solches Unternehmen. Nach seiner Abreise allerdings überzeugte er sich erneut, dass er dringendere Sorgen habe, und ist damit so klug wie jeder andere Fürst. Vorher, im Jahr 1361 oder 1363, legt Petrarca in Brief 23,3 dem Kaiser noch eine andere alte Bitte vor, und zwar wieder zu Gunsten jenes treuen Ritters Sagremor, der noch immer unablässig zwischen Mailand und Prag hin und her geht „Ich sage es und wiederhole es Dir, Cäsar, Du schuldest ihm viel“, beteuert der Schreibende. Und dann fügt er noch eigentliche Beschwörungen an. Von irgend etwas sollte der alternde Mann leben können; er hat es wahrhaftig verdient. Und obwohl der Brief von nichts anderem handelt (oder gerade deswegen) soll er, kurz wie er ist, vor der Nachwelt ein Zeugnis ablegen. Aber ob und wie der Kaiser diese Bitte berücksichtigt, steht nirgends. Ein Alter in Ehren: Vielleicht bahnte der Gedanke den Weg zu den nächsten Schreiben. 23,4 und 23,5 vom Januar und Februar (1362), die beide den selben Adressaten Bonincontro ansprechen, gehören auch inhaltlich zusammen. An Weltpolitik wird kaum erinnert. In den Hafen ist dieser Freund Petrarcas – bildlich

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gesprochen – eingelaufen, die Stürme seines tätigen Lebens, das heisst wohl: seiner Laufbahn in Avinon, hat er hinter sich. Gelandet ist er „in seinem Vaterland“, also in Italien (4,1 und 2), und da wandert er nun unangefochten – wohin, wenn nicht zum „eigentlichen Vaterland,“ zu dem man im Tod gelangt. Soviel sagt Brief 4. Vom Alter und von der Beschäftigung mit dem Tod handelt hierauf der 5. Brief. Petrarca wandelt ab, was er schon oft, einmal länger, meist kürzer ausgesprochen hat: Er liebt es, die Vorzüge der letzten Lebenszeit zu betonen, da sie zu Unrecht geschmäht werde (vgl. z. B. Fam. 8,4,12 ff.; 21,4,2; 21,12,30 f.; 22,5,6), es ist ihm auch ein grosses Anliegen, dass sich jeder der Kürze der Lebensfrist bewusst sei (Fam. 6,3,12; 9,14,5 f.; 17,3,7 f.; 24,1), denn die Vorbereitung auf den Tod verhilft zu einem guten Lebensende (14,1,39 ff.). Besonders das frühere Schreiben 21,12 an Nelli hat schon manchen Gedanken, den er jetzt vorträgt, vorausgenommen und abgehandelt. Aber Petrarca darf sich wiederholen. Wenn er an die Weisheit der ars moriendi auch nur streift, muss er einhalten und sie loben, bevor er seinen Weg weiterverfolgt. Und nichts beglückt ihn an seinem Freund Bonincontro so sehr wie seine Fähigkeit, „gut entgegen“, wie sein Name sagt, und furchtlos auf den Tod zuzugehen (4). Dazu erzieht er sich auch selber, wie er eben Nelli schon früher mit Genugtuung mitgeteilt hat (Fam. 21,12,5). Obwohl jünger als Bonincontro ist er bereit, ihn nachzuahmen und ihm statt nur zu folgen, gar voranzugehen, eben in den Tod (16). Und wenn er von Plotin wenig gelesen hat, so doch den Satz, den er seinem Text einverleibt: Sterben ist für den Menschen ein Glück; danken muss er „dass Gott ihm Fesseln gegeben hat, die sterblich sind“; denn nur dank ihrer Sterblichkeit kann er sich für das ewige Leben befreien. Ob zu Petrarcas Zeit schon viele Schriften über „die Kunst zu sterben“ herauskamen, wäre zu untersuchen. Grosse Beliebtheit wird das Thema wohl erst im 15. Jahrhundert erlangen, wenn auch die Darstellungen des Totentanzes sich vermehren. Jetzt wechselt Petrarca seinen Blickwinkel und kehrt zu seinem früheren Thema zurück. Er verfasst im März 1361 Brief 23,6, den er an den Kaiserhof schickt. Der Ritter und Bote Sagremor ist zwischen Mailand und Prag erneut hin- und hergereist und hat nicht allein den Herren Visconti sondern auch Petrarca Verschiedenes ausgehändigt. Ein Schreiben des Kanzlers, des Bischofs von Olmütz (vgl. Piur, Brief 21), strotzt wie frühere Briefe von Formulierungen der Selbstkritik und der Zerknirschung wegen des eigenen stilistischen Unvermögens. Ängstliches Zaudern gestattet dem Verfasser kaum, die Feder zu ergreifen. „In den Fluten seiner Zweifel sucht er nach einem Anker; und siehe, da findet er die „liebe Freundschaft seines Francesco.“ Diesen bittet er um die Zusendung seines Werkes „Von berühmten Männern“. Auf diesen Brief antwortet der Dichter mit ernster Zurückweisung aller Lobeserhebungen, tadelt die Gewohnheit, andere über sich hinaus zu erheben und erlaubt dem Kanzler dennoch: „Mach aus mir, was Dir beliebt“. Doch fügt er bei, was man ihm gerne glaubt: „An mir ist es, mich richtig einzuschätzen, und nie-

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mand wird mich leicht von meinem Urteil über meine Person abbringen.“ Von dem erbetenen Werk über berühmte Männer ist nicht die Rede. Es könnte sein, dass Petrarca die Neugier des Kaisers fürchtet. Denn er hatte einst versprochen, ihn in dieser Sammlung nicht zu vergessen, sofern – und diese Bedingung hat sich nicht erfüllt – sofern er sich der darin geschilderten Gestalten würdig erweise (Fam. 19,3,13). Dagegen schickt er dem Kanzler die Hirtengedichte, das Bucolicum carmen, und beteuert, noch niemand sonst habe es als ganzes zu sehen bekommen. Teile davon hat allerdings – wie wir wissen – Boccaccio 1359 aus Mailand mitgenommen und dann auf Weisung des Verfassers korrigiert (Fam. 22,2,22 ff.). Und sogleich wird in Brief 23,7, wann immer er geschrieben sein mag, wiederum der Kanzler angesprochen. Er möge, so wird er gebeten, für jemanden beim Kaiser einstehen, nämlich für einen jungen Italiener. Der wird im Auftrag seines Onkels an den Hof von Prag reisen, und dort möchte er mit Genehmigung des Kaisers gerne „einer der Deinen“ werden. Sonst vernimmt man nichts über ihn. Es sei denn, im letzten Brief an den Kanzler (Fam. 23,16,4) betreffe die Andeutung eines abgewiesenen Wunsches die genannte Angelegenheit. Auffällig ist jedenfalls – wie Petrarca sagt – der Bekanntheitsgrad, den sein gutes Einvernehmen mit dem Kanzler schon in weiten Kreisen erlangt hat. Das schürt den Eifer, mit dem eine grössere Zahl strebsamer junger Leute sich dem Norden zuwendet, und Petrarca wird dabei nicht schont. Dann folgt ein Schreiben an Kaiser Karl, das ist Fam. 23,8, welches das Datum Padua, 18. Juli (1361) trägt. Petrarca hat seinem hohen Gönner zuerst für einen goldenen Becher zu danken und dann gleich anschliessend eine erneute Einladung nach Prag zu würdigen. Er tut es, um diese dennoch abzulehnen. Wie früher kann er sein grösseres Recht geltend machen, den ihn Einladenden umgekehrt nach Italien einzuladen, und ihn erneut zur Wahrnehmung seiner Pflicht aufzurufen. Er nimmt sich auch wieder die Freiheit, seine persönlichen Hinderungsgründe für die Absage aufzuzählen, nämlich sein zunehmendes Alter, die Beschwerden der Reise und anderes mehr. Dabei wendet er gewisse Listen an, die er schon anderen empfohlen hat: Man darf übertreiben, so weit als etwas glaubwürdig bleibt und nicht direkt der Wahrheit entgegensteht; so hatte er dem Bischof von Cavaillon zugeredet (Fam. 22,5,7 ff.), und so handelt er jetzt selber, wie er später einem besorgten Boccaccio gegenüber bekennt, um ihn zu überzeugen, dass es ihm nicht so schlecht gehe, wie er dem Kaiser dargetan hatte (Piur, Anhang 10,3,239). Die kaiserliche Aufmunterung ist nicht erhalten geblieben; doch wie verbindlich ihre Worte auch getönt haben mögen, sie setzen den Dichter einem starken Druck aus, dem er sich nur halbwegs mit dem Hinweis auf einen nötigen Aufschub entzieht. Später werde es möglich sein, sagt Petrarca, später, und hofft, dass die Zeit zu seinen Gunsten arbeiten werde (2). Es vergeht kein Jahr, bis Petrarca in Brief 23,9 am 21. März (1362) gesteht: „Gesiegt hast Du, Cäsar!“ und mit dem entscheidenden Wort schliesst: Ich komme,

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venio. Eben das Schreiben mit dem neuen Begehren Karls, dem sich Petrarca endlich beugt, hat sich nun aber erhalten; es äussert nicht nur grosse Zuneigung, sondern auch „mächtige Sehnsucht“ nach dem Dichter. Denn von seinen Sittenlehren möchte der Kaiser hören, mit ihm Gespräche führen und an seiner schönen Sprache sich erbauen (Piur, Nr 28; vgl. Aufrufe 532 f.). Da bleibt es dem Leser überlassen, ob er hinter den von Karl geäusserten Motiven nach tieferen Gründen graben wolle. Gebeten wird der Dichter, doch ja zu bedenken, dass der Kaiser niemals mit solcher Dringlichkeit (sub tanti fervoris instancia) schreiben würde, wenn ihn nicht ein so besonderes und persönliches Bedürfnis dazu vermöchte, um diesen Trost zu bitten. Und bedenken möge er auch, was er dem Imperium an Liebe schulde. Das wird einfach und klar vorgetragen, weshalb man sich beinah fragen muss, ob der Kanzler Johann so habe schreiben können; denn auf verschrobene Wendungen wird hier verzichtet. Der Hauptunterschied erklärt sich jedoch wohl damit, dass Neumarkt, wenn er einen Brief im Namen des Kaisers verfasst, sich einer gequälten Selbsterniedrigung und einer krampfhaften Verklärung des Meisters enthalten muss. Er spricht jetzt die Sprache des Kaisers, und die verbietet ihm manches, wie man schon aus einem früheren Kaiserbrief an Petrarca erkennen kann. Denn dass Cola di Rienzo jenen geschrieben habe, ist bloss eine Vermutung. Am selben Tag wendet sich Petrarca wie an den Kaiser wieder an eben den Kanzler, und zwar in 23,10. Auch hierin steht: Ich komme. Er braucht hier nicht zu wiederholen, was er dem Kaiser mitteilt, weil Johann als Vorleser amtet und das Gelesene mit hört. Von einem Reisetermin ist nicht die Rede. Und dass er sich beeilen werde, verspricht Petrarca nicht, im Gegenteil. Er pflege nicht zu fliegen, sondern wie eine Schildkröte voranzugehen (10,6), betont er. Einiges hat er vorher zu erledigen. Von den Visconti hat er sich noch nicht verabschiedet. Und dass in Avignon Veränderungen bevorstehen und Innozenz VI. an eine Rückkehr nach Rom denkt (der Kirchenstaat ist einigermassen befriedet), kann ebenfalls dazu mahnen, die Pragerreise nicht zu überstürzen. Einen neuen Besuch in Paris, dort sehr gewünscht, will Petrarca sich jetzt nicht einfach aus dem Kopf schlagen. Alles will überlegt sein. Ohnehin muss man überall mit Söldnerscharen rechnen, welche die Wege versperren. Als ein undatierbares Schreiben folgt Fam. 23,11. Möglich ist, dass sein Adressat, ein Rechtsanwalt aus Bergamo, eine Fahrt nach Jerusalem zu jener Zeit plante, als der oben genannte König Peter von Zypern einen neuen Ritterorden gründete und durch Europa reiste, um zu einem Kreuzzug aufzurufen. Annehmen kann man auch, die Fahrt sei nicht nach 1363 geplant worden, denn eine Reise nach Jerusalem wurde nach dem angegebenen Jahr ein gewagtes Unternehmen und für einen Wallfahrer eine Enttäuschung, weil nach der fürchterlichen Plünderung Alexandriens durch Kreuzfahrer die erbitterten Mohammedaner das Heilige Grab auf mehrere Jahre geschlossen hielten. Dass aber ein Bürger von Bergamo an den heiligen Stätten den Ritterschlag zu empfangen hoffte, entsprach damals einer schon

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alten Gewohnheit, wie Petrarca selber feststellt (4). Billigen will er das nicht und begründet seine Ablehnung mit frommen Überlegungen, die ihn ehren. Wie kann ein Christ, so argumentiert er, an der Stelle, wo sein Herr unter grösster Schmach für ihn und die ganze sündige Menschheit sich geopfert hat, mit grossem Stolz und Pomp auftreten wollen (3 ff.)! Als andächtiger und bescheidener Pilger soll man hingehen oder dann als demütiger Kreuzfahrer in der Nachahmung eines Gottfried von Bouillon. Denn eben dieser sei, so erklärt der Dichter, das grosse Vorbild für alle, die das Kreuz nehmen wollten. Petrarca selber war 1358 zu einer Reise ins Heilige Land aufgemuntert worden, hatte jedoch abgelehnt, wohl aus manchen Gründen und nicht zuletzt mit Rücksicht auf die lange Zeit, die das Unternehmen ihn gekostet hätte. Abgeraten aber hatte er eine solche Reise damals nicht, sondern ein Itinerarium syriacum zuhanden von Freunden verfasst, für das er seine Kenntnisse aus der Bibel und aus weltlichen Büchern zusammensuchte. Solche Itinerarien waren nicht leicht zu haben, doch gerühmt und verbreitet wurde vor allem das eines Wilhelm von Boldensele vom Jahr 1336, das der von Petrarca geschätzte Kardinal von Talleyrand in Auftrag gegeben hatte. Dieser hoffte ja eben zu jener Zeit, mit den Königen von Frankreich und Aragon den geplanten Kreuzzug auch wirklich auszuführen. Welch grosse Scharen von Händlern, Touristen, Wallfahrern Jahr um Jahr mit dem selben Reiseziel Jerusalem aufbrachen, lässt sich kaum ausdenken. Aber Petrarca hatte völlig recht: Der Kult an der Gedenkstätte wurde schon damals durch den Reiseverkehr und die modische Ritterromantik mit ihren teils lächerlichen Auswüchsen seinem wahren und frommen Sinn eher entfremdet als näher gebracht. Brief 23,12, der das Datum 1. Dezember (1360) trägt, ist in jener Zeit geschrieben worden, in der sich Petrarca in Mailand für die von ihm verlangte politische Mission nach Paris vorbereitete. Davon ist am Ende des Buches 22 berichtet worden, und in diese Zeit wird der Leser zurückversetzt. Mitten unter den Vorbereitungen zur Alpenüberquerung hat sich also – wenn die Datierung stimmt – der Dichter noch die Zeit genommen, an Guido Sette einen Trostbrief zu schicken, und zwar einen überaus langen, wie er ihn nicht jedermann hätte zumuten dürfen. Von dem bestimmten Freund hingegen glaubte er zu wissen, dass er einen von grossem Umfang besonders schätze (27). Guido Sette, der einstige Schulfreund Petrarcas in Carpentras, seit 1358 Erzbischof von Genua, klagt über seine Gicht und verleitet damit den Dichter zu philosophischen Überlegungen über das Gute und Nicht-Gute, das Üble und Böse. Strenge Definitionen des Stoikers Poseidonios legt er vor (5), die verbieten, einen blossen leiblichen Schmerz als ein Übel zu bezeichnen. Welcher Kranke dürfte sich also beklagen! Aber rasch wird klar, dass Petrarca seine Belehrung für diesmal nicht so ernst meint, als es scheint, und dass er in der Praxis jetzt lieber nicht Stoiker ist und auch nicht als Anhänger des Poseidonios gelten will; er leidet selber an Gicht.

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Ganz nach gängiger Manier will er jetzt reden, das heisst, als ein Übel das bezeichnen, was die Menge dafür hält (7 und 11). Weil selber krank, könne er dem Kranken richtigeren Bescheid geben als einer, der bei bester Gesundheit an einem Krankenbett disputiere. Eine sehr schöne Einleitung ist das, und führt zu einem Lieblingsthema Petrarcas, zur Geduld (8.12.14.19). Sie ist das beste Heilmittel in jeder Not. Soeben hat er eine Schrift darüber verfasst, die trägt den berühmt gewordenen Titel De remediis utriusque fortunae (Heilmittel in Glück und Unglück), und der Erzbischof könnte sie in Empfang nehmen, wenn dem Dichter nur nicht Kopisten und jede Hilfe zur Fertigstellung der Arbeit fehlten (13 f.). Bis zu dieser Bemerkung ist der Dichter mit gutem Humor gelangt; aber kaum fällt ihm seine Arbeitslast ein, bricht sein Jammer aus ihm heraus, der weit schlimmer ist als die Gicht: Er ist allein, niemand steht ihm bei, auch die Freunde nicht, ja auch nicht sein Sohn (15). Was Petrarca in einem früheren Brief an den selben Erzbischof (Fam. 19,17,9) über den jungen Mann ganz zuversichtlich geschrieben hat, muss gestrichen werden; denn das Gegenteil ist wahr geworden; Giovanni hat in jeder Hinsicht versagt. Wenn die Datierung dieses Briefes auf Ende 1360 stimmt und auch die vorausgehenden Briefe über die Rückkehr des Sohnes zum Vater richtig datiert sind (Fam. 22,7 und 22,9), ist der früher geschilderte Versöhnungsversuch nicht im mindesten geglückt und treibt der junge Mann beim Vater das selbe Unwesen wie eh und je. Mit erschreckender Bitterkeit spricht Petrarca seine Vorwürfe aus. Doch wäre es nur richtig, die altera pars anzuhören, am besten Francesco Nelli, den entschlossenen Verteidiger des Abgeurteilten (vgl. oben zu Fam. 22,7 und 9). Petrarca denkt nicht daran. Nur mit Anstrengung richtet er sich nach seinen Anklagen wieder auf, und zwar um sich zu ermannen und die gepredigte Geduld in eigener Person sogar jetzt, mitten unter diesem grössten Leiden zu üben (16 ff.). Er hofft auf die Hilfe des Himmels, denn das sieht er ein, ohne dieses Himmelsgeschenk kann nicht einmal die gepriesene Geduld gefunden werden und tröstlich sein. Und dann kehrt er zu seinem eigentlichen Thema, zur Gicht und zu den anderen Altersbeschwerden, zurück. „Es will Abend werden“, sagt er (23 ff. nach Lc 24,29), und frohlockt nun wieder, wenn er bedenkt, mit welcher Tapferkeit der Freund Guido seine Übel erträgt (25). Ob seine grosse Freude ganz echt oder vor allem Rhetorik sei: Jedenfalls wird er bald einem anderen alternden Freund im Hinblick auf eine eben solche Gelassenheit eine eben so grosse Freude bezeugen (Fam. 23,5,5). Der Greis, der in Geduld seine Leiden aushält, ist ihm ein hohes Ideal und ein echter Trost. Doch auch diese frohe Anwandlung verfliegt rasch, weil seine Überlegungen ihn zu jenen Vätern hinüber locken, die in ihrem Alter unter ihren Söhnen leiden. Sie hätten ihr ganzes geistige Erbe ihnen vermachen wollen und erleben, dass jene unfähig sind, ein solches Erbe zu ergreifen. Wie manche grausame Enttäuschung durchgestanden werden muss, wie viele kostbarste Mühe verhöhnt wird, erläutert Petrarca mit dem Schicksal einer Reihe antiker Gelehrter und am Ende mit einem Hinweis auf Cice-

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ro. Dieser hervorragende Mann hatte einen Sohn, der nichts Besseres wurde als ein Bibulus, ein Trinker. Das ist unfassbar und dennoch wahr. Am Unglück dieses seines grossen Freundes ermisst Petrarca sein eigenes, und wie er im Schreiben innehält, merkt er auf und hält es fest: „Geweint habe ich mit Cicero, als wäre er gegenwärtig.“ Gut, so wird man sagen, dass er sogleich mit dem schon genannten Auftrag der Visconti nach Paris verreisen muss; das wird ihn zwingen, sich anderen Gedanken zuzukehren. Doch der Dichter versteht ohnehin auch jetzt, neuen Mut zu fassen. Er hat Freunden in verschiedener Weise helfen dürfen; mit seinen Schriften anderen wahren Trost geschenkt (26). Selbst was scheinbar nutzlos vertan war, hat später Früchte gezeitigt, wie er eben vernehmen durfte und wie er das öfters erfahren hat. Das ist eine Freude, die er nicht geringschätzen will. Diese letzten Gedanken von Fam. 23,12 findet man variiert in Brief 23,13, der wie ein Anhang wirkt. Sokrates, der Musiker auch er ein alter Mann, schaut auf sein Lebenswerk zurück und konstatiert, dass ein anderer erntet, was er gesät hat; davon war schon in früheren Briefen einiges gesagt worden (vgl. Fam. 21,9). Ähnlich wie Petrarca hat er irgendeinen Erben, doch es ist nicht der gewünschte, nicht einer, der ihm nahe steht, nicht einer, der einen Dank ausspricht. Dass man leer ausgeht, so sagt nun Petrarca, das ist zwar ein grosses Übel, aber ein ganz alltägliches; es ist sogar meistens etwas Unvermeidliches. Fast jeder stellt etwas her, was er weitergibt, etwa so, wie der Mann, der ein Tuch webt, womit sich ein anderer kleidet, oder wie eine Frau, die einen Sohn gebiert, den sie einer anderen Frau als Gatten überlassen muss. Wer, so fragt Petrarca, dürfte sich da aufregen (4 f.)! Es wäre ein Vergehen gegen die Vorsehung, nichts weniger als das. Annehmen darf man, dass er mit dieser Belehrung sich auch selber gut zuredet und nicht bloss seinem Freund. Nicht zuletzt erinnert er auch daran, wie zufrieden man sein muss, wenn man zu essen und sich zu kleiden hat, wie das schon Salomon betonte. Und schliesslich ist ihm gewiss auch recht, wenn ein späterer Leser vernimmt, dass er seinen Sokrates wirklich nicht im Stich gelassen hat. Dieser hat ihm einen Dankesbrief geschickt; jetzt ist er in Vaucluse, wie ihm der Freund geraten hat (Fam. 21,9,22), erhält dort alles, was er benötigt, und hat keine andere Leistung zu vollbringen, als mit seinen alten Tagen zufrieden zu sein. Petrarca aber lehnt jeden Dank ab, weiss er doch, dass Helfen-Dürfen auch ein Geschenk ist (Ende). Mit Brief 23,14 wendet sich Petraca erneut dem Kaiserhof zu. Nun befindet er sich seit dem Herbst 1362 in Venedig, wo ihm der Kanzler Benintendi auf seinen Wunsch hin ein Haus zur Verfügung gestellt hat. Es ist der Palazzo Molin an der Piazza degli Schiavoni. Hier also nimmt er am 11. März 1363 die Korrespondenz mit dem Kanzler Johann von Neumarkt wieder auf und stellt ihm eine Frage zur Veränderung einer stilistischen Gewohnheit; er begreift nämlich nicht, weshalb sie sich gegenseitig nicht mehr mit Du ansprechen sollen, wie sie das unter sich gewohnt waren. Gern hatte er sich ja gerühmt, das in der Antike Übliche für jeder-

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mann wieder eingeführt zu haben. Mehr noch scheint er sich zu wundern, dass seine Briefe, die er nach Prag geschickt hat, dort nicht angekommen sind. Bei den fortwährenden Kriegswirren hätte es ihn jedoch kaum erstaunen müssen. Eben diese grossen Unruhen haben ja auch ihn selber gehindert, längere Distanzen zurückzulegen; und schliesslich war ihm deswegen nichts anderes übrig geblieben, als sich in der Hafenstadt festzusetzen. Von seinen Versuchen, dem Wunsch Karls IV. nachzukommen, hat er 1362 mehrmals verschiedenen Personen Auskunft gegeben, so Boccaccio (Sen. 1,4 nach anderer Zählung 5) und Nelli (Sen. 1,2 oder 3). Aus einem Vergleich der Briefe geht hervor, dass er am 10. Januar 1362 von Padua aus nach Mailand aufgebrochen ist und dort auf Briefe des Papstes Innozenz VI. gewartet hat, und zwar in der Meinung, er werde zuerst nach Avignon reisen, um dort gewisse Pflichten gegenüber der Kurie zu erfüllen, dass er hierauf, weil er alle Wege gegen Westen hin versperrt gefunden hat, wieder gegen Osten umgekehrt ist, um einen offenen Weg zu den Alpen in dieser Richtung zu suchen, dies freilich im Wunsche, es möge ihm nicht gelingen. Er ist eben sehr darauf bedacht gewesen, sich jetzt von Mailand ganz zu befreien, sich dadurch aber keinesfalls dem Zugriff des Kaisers auszuliefern. Und für einmal ist ihm das Geschick günstig gewesen. Dem Kanzler Johann versichert er wahrheitsgemäss, dass er sich nicht etwa mit dem Reiseziel Venedig von Mailand verabschiedet habe, obwohl er sich jetzt eben da befinde; vielmehr sei Prag sein Ziel gewesen. Den zuverlässigen Boten, den er gefunden hat, bezeichnet er am Ende, als „den Deinen, der auch der meine geworden ist“, was man vielleicht auf den Ritter Sagremor beziehen kann, da dieser noch immer in Italien festgehalten wird und erst 1366 nach Frankreich zurückkehren kann, um da bei den Zisterziensern seine letzte Lebenszeit zu verbringen. Wie man geradezu erwarten muss, folgt auf den Brief an den Kanzler mit 23,15 einer an den Kaiser selber. Von einer Reise an den Kaiserhof oder von einer Entschuldigung, dass sie noch nicht erfolge, hört man darin nichts. Möglicherweise wird der Bote beauftragt, in Prag über die damit verbundenen Schwierigkeiten zu berichten. Ein Geleit hat Petrarca nicht erhalten können, und das Unwesen der Söldnerbanden hat sich nicht verringert. Es ist also richtig, dass der Kaiser endlich nach Italien kommt. Er kann keine Gründe für ein Fernbleiben vorbringen, weil es keine gibt, und Petrarca hat sich nach ihm ganz heiser geschrien und vermag sein immer gleiches „Komm!“ deshalb kaum noch „auszuhauchen“. Sehr eindrücklich ist nun seine Rhetorik, und völlig echt tönt auch sein „nacktes Wort“ und in diesem beschlossen sein „nacktes Gefühl.“ In Venedig hat er übrigens im Herbst 1362 vom Tod des Papstes Innozenz VI. gehört; hier hat er von der Wahl des neuen Papstes Urban V. vom 28. Oktober vernommen, und nicht lange danach muss zwischen ihm und dem neuen kirchlichen Oberhaupt, einem französischen Benediktiner und Rechtsgelehrten, ein Briefwech-

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sel eingesetzt haben. Der Dichter schöpft selbstverständlich sogleich Hoffnung auf die Rückkehr des Neugewählten nach Rom, und der Kaiser kann nicht umhin, es als seine Pflicht anzusehen, mit dem Papst in Verbindung zu treten. Wie bei jeder Neubesetzung eines hohen Amtes gerät manches in Bewegung. Einen besonderen Anlass hat der Kaiserhof zwar vorerst nicht, sich an Petrarca zu wenden, immerhin soll der Kontakt mit ihm erhalten bleiben. Somit trifft im August (1363) nochmals ein Schreiben des Kanzlers in Venedig ein, und der Dichter beantwortet es am 27. des Monats mit Fam. 23,16. Kein politisches Problem wird angesprochen, sondern nur vage an persönliche Wünsche erinnert, von denen Johann mitteilen muss, der Kaiser habe sie zu erfüllen abgelehnt (vgl. Fam. 23,7). Die Angelegenheit hatte den Bittsteller nicht persönlich berührt, weshalb es ihm leicht fällt, von einer immer gleichen Dankesschuld zu sprechen und dann einen eigenen neuen Wunsch anzubringen, den aber der Kanzler selber erfüllen kann. Petrarca legt ein gutes Wort für einen Studenten ein. Dieser kehrt sich eben von Padua ab, um an der neuen Universität Prag zu studieren. Für eine kleine Handreichung des Kanzlers wird er dankbar sein. Denn dort wird er nicht manchen Landsmann antreffen und erst recht wenige andere italienische Studenten. Doch immerhin: Eine Umorientierung beginnt; und sie gelingt am Anfang am besten jenen Südländern, die im Norden nahe Verwandte haben. Wirklich ist der dem Kanzler Empfohlene halb Deutscher, halb Italiener. Übrigens wünscht er, dort nicht allein zu lernen, sondern auch zu lehren, dicendi avidus, docendique (6), und das wird ihm wohl nicht verwehrt werden. Unter der Abfassung dieses Schreibens wirkt der Dichter nicht heiter; er fühlt sich in Venedig von der Welt zu sehr abgetrennt (3 f.), wie er sagt, und bittet den Kanzler geradezu um Briefe, weil solche ihm notwendig seien (1). Doch er erlebt an seinem neuen Wohnort, wie man einigen Seniles entnehmen kann, recht viel Angenehmes. Das geschäftige Treiben am Hafen und die auslaufenden Schiffe betrachtet er mit staunendem Gefallen. Vom April bis zum Ende Juni 1363 lebt übrigens Boccaccio bei ihm, und während dieser Zeit (Sen. 3,1) fehlt es ihm weder an anregenden Gesprächen, noch an willkommenen Begegnungen, auch nicht an Gondelfahrten mit dem Kanzler Ravagnani Benintendi. Auch Leonzio Pilato, der Homerübersetzer aus Kalabrien, gesellt sich zu ihnen, man spricht von dessen Homer-Übersetzungen und Lehrtätigkeit und hat davon seinen Nutzen, auch wenn er ein finsterer Mensch ist. Dann freilich reist Boccaccio ab, und gleich danach treffen Trauernachrichten ein, so die Meldung vom Tod des geliebten Freundes Lelio, zu dessen Vorzügen es gehört hatte, schöne Erinnerungen an die Familie Colonna und an Rom lebendig zu erhalten, kurz darauf die vom Tod des ihm besonders vertrauten Francesco Nelli, der ihm ein Simonides war und dem er die Sammlung seiner Altersbriefe gewidmet hat. Diese Todesfälle mögen Petrarca um so stärker berührt haben, als er jetzt öfters leidend ist und eben hat erfahren

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müssen, dass ein Gerücht ihn entschieden für tot erklärte, weshalb Papst Urban seine Pfründen sogleich weiter verlieh. Sie wurden ihm freilich zurückgegeben, und gleichzeitig verbesserte sich auch wieder sein Gesundheitszustand. Dass aber sein Urteil über sein neues Zuhause in Venedig sehr bald schwankt, kann niemanden erstaunen, da er sich ja nirgends auf längere Dauer behaglich fühlt. Später, 1365, trägt der Tod des Kanzlers Benintendi einiges dazu bei, dass er gerne auswärtige Freunde aufsucht. Häufige Ortswechsel, die er einst als Hilfsmittel gegen „seine schwere geistige Krankheit“ bezeichnet hat (Fam. 15,4), werden ihm von Gönnern und Freunden immer leicht gemacht. Eingeladen wird er von Galeazzo Visconti, der seit der Einnahme von Pavia 1359 diese Stadt beherrschte. Auch unterhält er nach wie vor Beziehungen zu Francesco da Carrara von Padua, der eifersüchtig darüber wacht, nicht vergessen zu werden. Den Freunden in Florenz, die ihn zu sich einladen, winkte er ab und zieht es trotz allem vor, in Venedig zu bleiben, und erst 1368 entscheidet er sich, festen Wohnsitz im Gebiet von Padua zu nehmen. Doch mit solchen Angaben greift man voraus. Wenigstens einige Jahre muss man wie so oft zurückgehen. Nicht sicher datierbar ist zwar Brief 23,17 an einen Hofmann Ugo von San Severino in Neapel, aber manches spricht dafür, dass er 1362 geschrieben wurde, nämlich nicht lange nach dem Tod des Königs Lodovico, des Gatten der Königin Giovanna. Wirklich scheint Petrarca von grossen Intrigen im Königreich gehört zu haben, die ihn aufs lebhafteste an die entsetzlichen Übelstände nach dem Tod des Königs Roberto erinnern. Er hat sie damals klar vor seinen eigenen Augen gehabt und meint jetzt, Monstren, wie man sie aus der Geschichte Ägyptens kenne (2) und wie sie 1343 in Neapel wüteten, könnten ebenda auch jetzt wieder mörderische Werke verrichten (Fam. 5,1 mit Anm. 22; vgl. Fam. 5,3,8 und 15 ff.; 6,5,3–9). Der Anlass zu diesem Schreiben bleibt unklar, doch kennt Petrarca den Empfänger seit früheren Zeiten, und von ihm hat er lang erwartete Auskünfte endlich erhalten. Diese betreffen offensichtlich Petrarca persönlich. Von früheren Gunsterweisen des Hofes ist die Rede (1 und 3) und von einem grossherzigen Verhalten der Königin. Petrarca hat keine Wünsche an sie; er fühlt sich als ihr Schuldner (1). Dem Grafen dankt er, selbst wenn er einen Vorwurf an ihn nicht unterdrückt (4). Ihm gegenüber betont er, in seiner Armut sei er reich (5), worauf er ihn vor den „Hofhunden“ warnt; er solle sich ja vor ihren Bissen hüten und sich ihnen nicht zugesellen. Was immer ihn bewog, das Schreiben in die Familiares aufzunehmen: Sicher ist, dass er die Entwicklung im südlichen Königreich stets angelegentlich verfolgt hat. Über missliche Zustände am Hof ist er zur angegebenen Zeit gewiss dank Barbato, Boccacccio, ja auch dank Nelli informiert. Und dass sich diese drei eben da in Neapel aufhalten und mit Acciaiuoli zusammentreffen, ist für ihn Grund genug, sich dieser Stadt zuzukehren. Der Brief Fam. 23,18 aus Padua und vom 8. Juni (1362) wirkt deshalb wie eine Fortsetzung von 23,17, wenn auch in beschränktem Sinn. Er spricht den Gross-

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Seneschall an und erwähnt den vor kurzem erfolgten Tod des Königs Lodovico, den jedoch nur nebenbei am Ende des Schreibens (7). Ein masslos hochgeschraubtes Lob auf den Adressaten, wie man es ungern von einem Moralisten wie Petrarca vernimmt, macht die erste Hälfte des Schreibens aus; die Sprachkunst eines Homer wünscht sich der Briefschreiber, um den Taten des Gefeierten gerecht zu werden. Doch bald darf man mit einiger Erleichterung vermuten, dass man eine scherzhafte, übertreibende Antwort auf eine ebenso scherzhaft gemeinte Bitte des hohen Herrn vor sich habe. Acciaiuoli hatte an der oben erwähnten Zusammenkunft im Garten Barbatos teilgenommen, bei welcher die Förderung der Herausgabe von Petrarcas Werken beschlossen worden war (Wilkins, Studies 248 f.), und seither zeigt er sich bereit, im genannten Sinn mit den Freunden zusammenzuwirken. Nun hat er den Dichter soeben um lang ersehnte Briefe gebeten (hoffend, wie er verrät, es tauche da und dort sein eigener Name auf ), und sein Schreiben (Cochin, Epist. Anhang I), das heisst: sein Briefchen, hat er für einmal lateinisch abgefasst, deshalb aber guten Grund, sich darüber lustig zu machen, weiss er doch, dass es kein Meisterwerk ist. „Möchte es doch gefallen, o utinam placeret, so liest man darin, und fast scheint es, jemand sei ihm bei der Abfassung beigestanden. Doch geschrieben hat er es manu propria, wie er betont, und das ist die Hauptsache. Und wirklich, es gefällt! Petrarca lobt seine Redegewandtheit, die sich darin offenbart, wie er auch alle anderen Fähigkeiten des Regenten zu würdigen weiss, und wären seine Wendungen nicht sehr nahe dem, was er sonst in allem Ernst an Ruhmredigkeit vorbringt, so wäre sein Schreiben ein wahrer Spass (vgl. Fam. 11,13 und 12,15). Er spricht dann auch von Nelli (5), und eben dieser könnte dem Gross-Seneschall bei der Verfertigung seines lateinischen Elaborats geholfen haben. Denn was man nicht erwartet hätte, trifft zu: Er befindet sich seit einiger Zeit in Neapel, weil er ebenda die Stelle übernommen hat, die Zanobi, als er päpstlicher Sekretär wurde, vakant zurückgelassen hatte. Selten genug hat man dank der Lektüre der Familiares das Vergnügen, ein paar Freunde mit oder ohne Petrarca bei einer angenehmen, heiteren Beschäftigung beisammen zu sehen (so in Fam. 18,10 und 20,9), und so freut man sich denn um so mehr, dass unerwartet ein Theatervorhang aufgeht und den Ausblick auf einen Platz in Neapel freigibt, auf dem sich das erwünschte Gruppenbild zeigt. Doch eben: Am erstaunlichsten ist, dass sich auch Nelli da befindet, von dem man eher gedacht hätte, nach seinen Geschäften in Avignon werde er sich erst recht in sein Haus in Florenz vergraben. Er hatte sich aber von Acciaiuoli in den Süden entführen lassen, was ihm selber sehr sonderbar vorkam und was überhaupt jedermann überraschte: „Du wirst Dich wundern“, hatte er Petrarca gemeldet (Cochin. Epist. 27), nachdem er sich in Neapel eingelebt hatte. Nun wird er dem Gross-Seneschall durch den Dichter wärmstens empfohlen. Was dieser für ihn tun soll, kann man sich dennoch nicht denken. Es wird alles viel zu geheimnisvoll behandelt. Hauptsache aber: Nelli bleibt in Neapel. Ja, er bleibt da

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bis zu seinem Tod, der allerdings nicht lange auf sich warten lässt. Er kommt im Spätsommer 1363. An Boccaccio richtet Petrarca darauf Fam. 23,19 mit dem Datum 28. Oktober (1366). Von ihm hätte man schon zu den vorangehenden Schreiben manches melden können, da er ja auch wieder in Neapel gewesen ist, dort mit Barbato der Africa wegen korrespondiert und an dessen Bemühungen um die Herausgabe von Petrarcas Werken teilgenommen hat. Später – das ist schon oben angemerkt worden – hat er sich monatelang in Venedig aufgehalten. Was Brief 23,19 ihm nun darstellt, ist nicht ein bloss jüngstes Ereignis vielmehr ein mehrjähriges häusliches Glück. Petrarca hat vor einiger Zeit einen Kopisten gefunden, wie er ihn nicht besser hätte wünschen können; er ist nur etwa 19 Jahre alt; sein Name, von Petrarca nicht verraten, lautet Giovanni Malpaghini. Überaus begabt ist der junge Mann und im höchsten Mass bereit, zu arbeiten und zu lernen. Nun hat er in kurzer Zeit seine Talente sehr schön entwickelt. Vor allem seine dichterische Fähigkeit veranlasst Petrarca, ihm eine grosse Zukunft zu prophezeien (3 f. und 9 ff.), doch rühmt er auch das alltägliche Leben, das er mit ihm führt. Er hält ihn wie seinen eigenen Sohn (6), arbeitet mit ihm um die Wette und wacht und fastet mit ihm um die Wette (5). Kostbar ist Petrarca nicht zuletzt das exakte Gedächtnis des Kopisten. Vor seinen wissbegierigen Ohren erläutert er unter anderm die Frage der Imitation und Originalität und kommt dabei auf Anleihen und Diebstahl zu sprechen (9 ff.). Nun aber wirkt es wie eine Ironie des Schicksals, wenn ihm, der aufs ängstlichste jede Anleihe meidet und seinen Schüler vor solchen warnt, ganz sachlich erklärt wird, nämlich von eben dem Schüler, wie man Anleihen mache, das habe er vor allem ihm abgeschaut (14 ff.). Petrarca hört das fassungslos, erkennt aber, dass sein Kopist tatsächlich eine versehentliche Anleihe bemerkt hat, die auch Boccaccio entgangen war. Diesem wird das nun mehr spottend als tadelnd vorgehalten. Korrigieren kann man nichts mehr, nur feststellen kann man, es sei den früheren Mängeln einer der ähnlichen Art zuzufügen (Fam. 22,2), der beweise, wie leicht ein Literat gerade durch eine genaue Kenntnis der grossen Autoren irregeleitet werden könne, weil er nicht mehr unterscheidet, was dem eigenen Schatz angehört und was einem fremden entstammt. Aber Malpaghinis Hauptleistung liegt nicht in solchen Nachweisen, sondern in seiner Fähigkeit, nach der Anleitung seines Lehrers eine wahrhaft elegante, gut lesbare Schrift aufs Papier zu setzen (19,7 ff.) und Texte fehlerlos zu transkribieren. Die Sammlung der Prosabriefe, von so vielen Kopisten stückweise abgeschrieben und wieder liegen gelassen, hat er allein nun fertiggestellt (7), und schon freut sich Petrarca darauf, den Band in seiner tadellosen Ausführung Boccaccio vorzulegen. Soviel zu diesem Brief 23,19. Aus späteren Briefen hört man von weiteren Leistungen Malpaghinis. Er schreibt die von Leonzio Pilato verfertigte Übersetzung der Ilias und der Odyssee ab, weiter den etwa fünfzigseitigen Brief an Papst Urban V.

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und danach aus dem Canzoniere ein Gedicht ums andere ohne Unterbrechung. Dann tritt er, wie Petrarca berichtet, vor seinen Lehrer hin und sagt: Ich schreibe nicht mehr, ich gehe. Und was der bestürzte Dichter auch raten mag: Der junge Mann ist von diesem Entschluss nicht abzubringen (Sen. 5,5 an den früheren Lehrer des Kopisten, Donato Albanzani; vgl. auch Sen. 5,6). Seine wunderbare Willfährigkeit hat sich in Nichts aufgelöst, und unter heissen Tränen beteuert er nur immer aufs neue, es sei nun genug, er könne nicht mehr, er wolle keine Betreuung, keine Wohltaten; er sei nichts und wolle etwas werden. Das ereignet sich im Frühling 1367. Petrarca, der ihn zurückzuhalten versucht, treibt ihn damit in eine abenteuerliche Flucht, die ihn fast das Leben kostet und deshalb zur Umkehr zwingt. Darauf verhilft ihm Petrarca mit Empfehlungen zu einer neuen Anstellung, und so gelangt sein Schützling nach Rom. Denn eben jetzt, 1367, hat Papst Urban V. trotz allen Protesten der Kurialen und des französischen Königs sich dorthin verfügt, genau wie viele Christen es gefordert und auch Petrarca es in jenem von Malpaghini kopierten Brief verlangt hat. Bei Francesco Bruni, dem neuen päpstlichen Sekretär, findet er tatsächlich einen Weg, etwas zu werden. Einige Jahre später besteigt er ein Katheder an der Universität von Florenz und wird dort als ein neuer Cicero gefeiert. Doch publiziert er nie eine Schrift von grösserer Bedeutung. Etwa vier Jahre also hat Malpaghini bei Petrarca ausgeharrt, und dann ist es zum Bruch gekommen, obwohl er alle die Talente besass, die Petrarcas Sohn hatte vermissen lassen. Die beiden jungen Leute, ein Giovanni wie der andere, versuchen sich mit etwa 23 bis 25 Jahren unter grossem Aufwand zu befreien, denn sie halten die von ihnen geforderte Last nicht mehr aus. Vielleicht lässt sich daraus etwas zu Gunsten des Sohnes ableiten. Doch der Sache länger nachzugehen, fehlt hier der Raum. Dagegen ist etwas von Malpaghinis neuem Arbeitgeber anzufügen, denn er ist, obwohl unter Petrarcas Freunden bisher unbekannt, der Adressat des nächsten Briefes. Und nicht allein Adressat ist er, vielmehr auch die Hauptperson von Fam. 23,20. Denn Petrarca schildert ihm einen soeben erlebten Gaunerstreich, den die Herren Pandolfo Malatesta und Francesco Carrara ihm gespielt haben, und zwar zu keinem anderen Zweck, als um ihn zur Kenntnisnahme des ihm völlig unbekannten Francesco Bruni zu zwingen, ja ihm sogar anzuempfehlen, diesen Mann in seine Freundesschar aufzunehmen. Die sehr lebendige Schilderung muss man im Brief nachlesen. Kurz gesagt, teilt Petrarca ihm mit: So und so hat sich die Geschichte zugetragen, und nun nehme ich Dich eben mit offenen Armen in meine Freundschaft auf, wie es dem Befehl jener Herren und Deinem eigenen Wunsch offenbar entspricht. Da aber der Band meiner Freundesbriefe soeben abgeschlossen wird, kommst Du gerade noch recht, den letzten Platz ganz zuhinterst einzunehmen. Es bestehen gute Aussichten, dass Du noch weitere Briefe von mir erhalten wirst, solche nämlich der Sammlung Seniles, heisst es doch, dass das hohe Alter besonders geschwätzig ist (8). Darauf entlässt Petrarca den neuen Freund mit einem Glück-

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wunsch, hält aber später sein Versprechen, ihm weitere Briefe zu senden, und tut dies um so lieber, als Bruni, dieser Rhetor aus Florenz, ein sehr fähiger Gelehrter und zuverlässiger Helfer ist, dabei an der Kurie als Vertrauensperson gilt, die über vieles Bescheid weiss. Über seine Dienste wird Petrarca oftmals froh sein, und wenn sich Gelegenheit bietet, werden ihm die Mittel nicht fehlen, sich erkenntlich zu zeigen, zum Beispiel so, dass er ihm, Bruni, während seiner Aufenthalte in der Provence sein ganzes Haus an der Quelle der Sorgue mitsamt der Olivenernte überlässt, nicht ohne anzumerken, er habe die meisten Bäume einst mit eigener Hand gepflanzt (Sen. 6,3). Und oft wird er Pandolfo Malatesta und Francesco Carrara dafür danken, dass sie ihm diesen kostbaren Mann geradezu aufgedrängt haben. Aber das Buch 23 muss mit einem Schreiben an einen wahrhaft erhabenen Adressaten und mit einer teuren Erinnerung an die immer selbe politische Hoffnung auf eine glückliche Wendung schliessen. Zwei Jahre lang, so scheint es, hat Petrarca nicht mehr an den Hof von Prag geschrieben, doch hört er indessen von den wichtigsten geschichtlichen Ereignissen, so auch von den Verhandlungen, die Karl IV. 1365 bei einem Besuch in Avignon persönlich mit Papst Urban V. führt. Und wohl im selben Jahres rafft er sich auf, den ewigen Zauderer in Prag mit Fam. 23,21 noch einmal daran zu mahnen, endlich für den Frieden Italiens besorgt zu sein. Gleichzeitig verfasst er jenen schon genannten Aufruf an den Papst, in dem er ihn zu kommen heisst und die vielfältigen Bedenken der Kardinäle als das brandmarkt, was sie sind: als lächerliche Ausflüchte einer pflichtvergessenen, völlig verweltlichten Gesellschaft (Sen. 7; Auszüge lat und dt. in Aufrufe). Davon ist in den Familiares nicht mehr die Rede Man muss also in den Seniles nachschauen, um zu erfahren, was Petrarca und Seinesgleichen als Ankündigung einer besseren Zeit hätten ansehen wollen. Einige Genugtuung darüber, dass er den Widerstreit unter den Mächten nicht bloss schweigend verfolgt habe, empfindet er 1367 aufs neue, indem er – zwar aus der Ferne – das erstaunliche Ereignis der Umsiedlung der Kurie verfolgt. Im April des folgenden Jahres 1368 erlebt er wahrhaftig die Ankunft des Kaisers in Italien und kann ihn im Gefolge des Herrn Francesco Carrara in Udine begrüssen. Ja er kann während mehrerer Tage mit Karl IV. und mit dem Kanzler Johann verkehren, bevor sie in Richtung Rom weiterreisen (Sen. 11,2). Um die selbe Zeit verabschiedet er sich von Venedig und bezieht seinen Alterssitz im Schutz des Herrn von Padua. Und von der Rückkehr des Papstes nach Avignon wird er ebenda vernehmen.

Buch 23 beginnt mit einem Hilferuf an Ungenannt, Italien von Söldnerbanden zu befreien, und es endet mit einem ebensolchen Ruf an den Kaiser. Ausser diesen beiden Briefen richten sich zehn weitere an den Kaiserhof; alle dre-

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hen sich um Pflichten des Herrschers, nebenbei um dessen Begehren, Petrarca nach Prag zu ziehen. Der thematische Schwerpunkt des Buches ist damit angegeben. In zweiter Linie tritt in mehreren Briefen das Thema des hohen Alters auf. Petrarca erkennt dessen Vorzüge und Beschwerden und predigt Geduld. Seine Freunde vermehren umsonst ihre Anstrengungen, die Herausgabe der Africa zu erwirken. Fertiggestellt wird die Sammlung der Familiares. Nacheinander treten zwei neue Helfer auf: der Kopist Malpaghini und der florentinische Rhetor Francesco Bruni. In einem Brief wird das Problem der Jerusalemfahrt und der Kreuzzüge angedeutet. Den Kontakt mit dem GrossSeneschall in Neapel wahrt Petrarca bis zu dessen Tod. Die Bindung an Mailand lockert sich. Ab 1362 ist Petrarca zuerst die meiste Zeit in Venedig, dann vermehrt in Padua, wo er noch immer ein Kanonikat innehat und mit seinem Gönner Francesco Carrara verkehrt.

Das Buch 24, das letzte der Familiares, wollte Petrarca, weil es für Briefe an berühmteste Schriftsteller der lateinischen Antike vorgesehen war, von den vorausgehenden absondern, aber er suchte offensichtlich nach einer Möglichkeit, zwischen ihm und den voraussgehenden eine Brücke zu schlagen. Der 1. Brief des Buches 24 scheint die gewünschte Funktion zu übernehmen. Petrarca richtet ihn nicht an einen Vertreter der Antike, sondern an einen Zeitgenossen, mit dem er besonders vertrauten Umgang pflegt und der ihn „von Anfang an gekannt“ hat (1,22); das ist sein kirchlicher Oberherr von Vaucluse, Bischof Philippe von Cavaillon. Er wird ein guter Zuhörer sein; und vor ihm, der ihm väterlich zugetan ist, darf sich der Dichter selber vorstellen. Denn darauf kommt es ihm jetzt an. Nicht der Adressat des Briefes ist das Bindeglied zwischen zeitgenössischen und antiken Freunden, sondern die im Brief dargestellte Person, die sowohl die einen wie die andern angesprochen hat, er, der Verfasser aller Briefe insgesamt. Petrarca will sich vorstellen, jedoch nicht durch Hinweise auf Äusserlichkeiten; er versucht vielmehr sein Wesen zu zeigen, nämlich mit den Besonderheiten (17), die sein einmaliges geistiges Profil ausmachen, und mit Kernsätzen seiner Lehre, mit denen er den Freunden in den Ohren gelegen ist. Zu seinen Merkmalen zählt Petrarca eine frühe philosophische Reife, die ihn sogleich zwingt, das Menschenleben ernsthaft zu betrachten und darauf zu merken, was Dichter und Denker darüber sagten. Schon immer, so kommt ihm vor, hat er das Wesentliche erfasst; denn schon immer ist er sich der Kürze des Lebens bewusst gewesen, schon immer hat er den Gehalt von Gedichten und Prosaschriften antiker Gelehrter ernst genommen, sich nicht bloss an ihrer Sprache ergötzt (10), vielmehr gerade in ihnen die selbe Lehre von der Kürze des Lebens vernommen und von

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ihnen gelernt, an den Tod zu denken, sich mit ihm zu befreunden und zu begreifen, dass das Leben ein fortwährendes Sterben ist. Deshalb hat er auch früh aufgehört, etwas vom Leben zu erhoffen. Manches hat er erlangt, ohne es zu erhoffen; zu Wohlstand ist er gekommen, ohne ihn zu wünschen (19). Gleichzeitig sind ihm viele Mühen erspart geblieben, so die Beschwerden des Ehelebens (20). Jurist zu werden, hat er abgelehnt, weil ihn anwiderte, mit seinem Beruf einen Gewinn zu erzielen. Die Gefährten, denen er die Kürze des Lebens umsonst einzuschärfen versuchte, hat er sterben sehen und hat einsam weitergelebt (17 f.). Gestehen muss er freilich, dass sein zuerst klarer Blick sich einmal getrübt hat (12 f.); leichtsinnig ist er geworden, und danken muss er dem Licht, das in seine Dunkelheit geleuchtet hat. Recht besehen hat sich jedoch seine Einsicht nie geändert. Was Petrarca in früher Jugend vorausahnte, ist später Gegenwart geworden (13 und 23), und was er einst dank Dichtern und Gelehrten verstand, das weiss er später dank eigener Erfahrung. Belehrung durch andere hat er längst nicht mehr nötig (24). Darin besteht der ganze Unterschied zwischen früher und später Erkenntnis: „Was ich gelesen habe, sehe ich“; quod legebam video“. Mit dem immer Gleichen verbindet sich der ewige Wandel, wie die Einsicht ihn jederzeit gelehrt hat. Alles wandelt sich weiter ohne Unterlass, und alles läuft und rennt einem Ende zu. Ein Anhalten gibt es nicht; auch ein Verlangsamen nicht, kein Umkehren und kein Neubeginnen. Indem Petrarca das wiederholt und ausführt, ist ihm bewusst, dass er nichts Neues vorbringt, nur Altes leicht variiert, indem er noch besser zu sagen versucht, was er oft versucht hat. Vor allem soll sich der Leser von der steten Gleichförmigkeit der Bewegung, von dem unablässigen Weitergehen überzeugen. Die Zeitgenossen haben das nicht begriffen; es muss ihnen eingebleut werden, damit sie sich keinen Illusionen hingeben, nicht vom Tod überrascht werden und bei seiner Ankunft nicht fassungslos erschrecken. Also beharrt Petrarca darauf, von diesem ewig gleichen Vorwärts zu sprechen; und indem er nachdenkt, wie er es noch besser veranschaulichen könnte, fällt ihm auf, dass er an seinem Schreibtisch sitzt und tut, „wie man so tut“, nämlich wenn man im Schreiben innehält und nachdenkt. Wirklich, das Schreibrohr hat er umgekehrt, und er klopft damit regelmässig auf das leere Papier: papirum vacuum inverso calamo feriebam (26). Und plötzlich weiss er: Genau so ist es; so läuft die Zeit. Er meint fast, sie zu hören; und was er misst, ist das dauernde Sterben. Und was er dann niederschreibt, tönt wie ein Begleitvers zu seinem Klopfen: Ambo morimur, omnes morimur, nunquam vivimus… In den Stuben jener Zeit tickt noch keine Uhr. Doch am Ende ist die Lehre vom eiligen immer gleichen Lauf in den Tod mindestens missverständlich. Sie ist ergänzungsbedürftig. Und die Ergänzung muss Petrarca schliesslich nachliefern. Das Klopfen hat etwas Beruhigendes, weil das Laufen zum Tod zur Befreiung führt. Knapp genug wird das ausgedrückt, doch immerhin fehlt es nicht: Das dauernde Sterben führt zum ewigen Leben (26 f.).

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Indem er das sagt, bringt er den Schlussakkord zum Trauermarsch. Darum endet der Brief mit der Ermunterung, mit Gottes Hilfe den kurzen Lebensrest mutig zu ertragen. Ein Nichts ist die kleine Strecke, und die Kürze ist wirklich eine Verheissung; ja sie ist selber ein Glück. Sie ist ein Nichts im Vergleich zum ewigen Leben; sie ist das kurze Sterben, das man leicht überwindet. So schreibt er wohl ums Jahr 1360, das heisst: bei einem neuen Ausbruch der Pest. Der 2. Brief von Buch 24 hat zum Adressaten einen Notar namens Pulice aus Vicenza und berichtet von einem Streitgespräch unter Freunden, das sich um Cicero dreht. Er führt also noch immer nicht zur erwarteten Begegnung mit den Gestalten der Antike, rückt aber immerhin den Leser näher an die erste unter allen heran. Eben in Vicenza, wo Petrarca auf einer Durchreise kurz anhält (1), wird er von Freunden erkannt und sogleich in ein Gespräch verwickelt. Eine ganze Gruppe gelehrter Männer ist mit Cicero so vertraut, dass sie mit seinem besten Kenner über ihn disputieren darf; ja ein Herr von hohem Alter hegt eine so überschwengliche Liebe für den grossen Redner, dass sich auch Petrarca (5 ff.) sehr wundert. Die entscheidende Frage unter den Freunden lautet: Ist Cicero so vollkommen, dass jede Kritik vor ihm verstummt, oder hat sogar er einige Mängel, die man tadeln darf, ja sogar soll? Petrarca schildert den Verlauf des Gesprächs mit einer Frische und Anschaulichkeit, dass niemand es besser gemacht hätte. Mit einem kritischen Wort hat er selber eine grosse Erregung hervorgerufen, und mit dem Vorzeigen seiner zwei Briefe an den antiken Gelehrten – er holt sie aus seinem Köfferchen hervor (6) – steigert er die Heftigkeit der Reden. Die Nacht bricht herein, noch bevor man sich beruhigt oder gar geeinigt hat. Man muss sich trennen, aber vom Dichter wird verlangt, dass er Kopien der Briefe sende, damit man in Vicenza über der bestimmten Frage noch länger brüten könne. Der Adressat von 24,2, also Pulice, hat am Gespräch teilgenommen, und eben an ihn schickt Petrarca die von ihm verlangten umstrittenen zwei Schreiben, ja er fügt noch eines an Seneca dazu und deutet damit auf weitere Probleme. Was also Pulice vom Boten empfängt, sind vier Briefe: ausser dem eben zu besprechenden auch Fam. 24,3 bis 5. Und faltet er unseren Brief auseinander (Fam. 24,2), fallen ihm und uns die nächsten Schreiben an Cicero und Seneca entgegen. Eleganter hätte Petrarca den Übergang von dem Gespräch in Vicenza zu seinen Grüssen ins Jenseits nicht gestalten können. Übrigens nennt er dem Notar gleich noch die beanstandeten Mängel seines hochgeschätzten Meisters Cicero und liefert damit eine Inhaltsangabe zum Schreiben, das in Buch 24 als das dritte folgt. Dann schliesst er mit einer Warnung an die Gelehrten in Vicenza, die sich wie ein grossartiger Triumph anhört: Niemand kann Richter über Cicero sein, der nicht sämtliche seiner Briefe gründlich gelesen hat. Ja, wer hatte das getan ausser ihm! Darauf folgt nun tatsächlich die erste Epistel an Petrarcas „liebsten Freund unter allen Menschen“ (Fam. 24,2,4). „Francesco grüsst seinen Cicero“, so beginnt Brief

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24,3 und rechnet damit, dass Cicero beim Empfang sofort begreife, wer dieser Francesco sei, der sich an ihn wendet. Schon im ersten Satz teilt Petrarca ihm mit, er habe lang gesuchte Briefe aus seiner Feder ganz unerwartet entdeckt, und wir wissen, dass ihm eben dies 1345 auf seiner Flucht aus Parma in Verona geglückt ist. Das Datum lautet auf den 16. Juni, was mit der genannten Jahreszahl zu ergänzen ist, sofern Petrarca gleich nach der Lektüre des gefundenen Schatzes in die Unterwelt davon melden wollte. Er schreibt jedenfalls noch in Verona alles mit eigener Hand ab, hat also rasch mehr als eine bloss vage Ahnung vom Inhalt. Innerlich ist er aufgewühlt, weil er an dem Hochverehrten peinliche Schwächen entdeckt, an die er nie gedacht hat, und reagiert vielleicht im ersten Augenblick kaum vernünftiger als jener Alte in Vicenza, der die Wahrheit anzunehmen sich aus allen Kräften sträubte. Doch dann nimmt er das Unleugbare an. „Mit unglaublicher Unverfrorenheit,“ so bekennt er später (Fam. 1,1,42 f.), habe er dem berühmten Redner einen Tadelbrief ins Jenseits geschickt. Ob aber das Schreiben, das er etwa fünf Jahre später etlichen Freunden in Vicenza vorlegt und das er seiner Briefsammlung einfügt, mit dem Entwurf seiner ersten Entrüstung identisch ist, wissen wir nicht. Nachprüfen kann man nichts, einiges spricht dagegen, vor allem muss man mit seiner Gewohnheit rechnen, an seinen Schriften immer neue Änderungen vorzunehmen. Im Verlauf der Jahre war ihm möglich, die historischen Vorfälle der Zeit Ciceros genauer zu studieren und ruhiger zu beurteilen, während er sich auch immer gründlicher in die wichtigsten ethischen Schriften Ciceros, so weit er sie erlangte, vertiefen konnte (6). Geschah dies, so vermochte er mit den Maximen des Redners auch besser seine sittlichen Handlungen zu vergleichen. Jedenfalls war ein Urteil über Ciceros Verhalten im 14. Jahrhundert weit gewagter als heute und als Petrarca sich vorstellte. Denn dank grösserer historischer Kenntnis und dank kritischerem Denken wird man heute wenn nicht richtiger so doch hoffentlich vorsichtiger urteilen. Aufrichtig ist aber Petrarcas Erklärung, es sei wahre Liebe und Trauer gewesen, die ihn zum Tadeln gedrängt habe (6). Dabei hätte er allerdings die Zerrissenheit im römischen Volk, den entsetzlichen Machtkampf der militärischen Führer, den persönlichen Hass eines Catilina und die gehässigen Verdächtigungen des Volkstribunen Clodus schärfer ins Auge fassen und zur Entlastung Ciceros stärker gewichten müssen; er hätte dagegen dessen Aufopferung für das Vaterland und seine Bemühungen um Versöhnung der Gegner wohl etwas höher veranschlagen dürfen. Doch wie dem sei: Wenn Petrarca datiert: „am 16. Juni des Jahres 1345 nach der Erscheinung jenes Gottes, den Du nicht kanntest,“ versteckt sich hinter diesen Worten ein grösserer Schmerz als der über Ciceros Schwächen, einer, der durch göttliche Freiheit bewirkt wurde. Die letzte Wahrheit ist Cicero unzugänglich geblieben, er ist vor Christi Geburt gestorben; und „dass er Heide war, ist so sicher wie schmerzhaft“. So äussert sich Petrarca anderswo (Fam. 2,1,21; vgl. z. B. Fam. 6,2,2) und wagt nicht, die Folgerungen, welche die Theologen seiner Zeit

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daraus zogen, laut zu bezweifeln. Auch am Ende von Fam. 24,4 hat er den selben Schmerz wenigstens angedeutet. Der nächste Brief, 24,4, der sich ebenso an Cicero richtet, trägt das Datum: Avignon, 19. Dezember im selben Jahr 1345. Wirklich hat Petrarca damals seine Flucht aus Parma fortgesetzt und ist von Verona aus über den Reschenpass nach Deutschland, von da weiter nach der Provence zurückgereist und scheint, eben dort angekommen, beschlossen zu haben, Cicero nochmals zu schreiben, ihn aber nicht erneut zu kränken, sondern ihm die zugefügten Wunden zu salben (1). Doch beginnt er damit nicht eben geschickt, wenn er dem Adressaten erklärt: „Du hast als Mensch gelebt, als Redner gesprochen, als Philosoph geschrieben.“ Denn damit leugnet er im Grunde, dass Cicero ein wahrer Philosoph ist. Anderswo unterstreicht er nämlich mit aller Deutlichkeit, dass Philosophie nicht eine Wissenschaft ist, die man in Büchern festhält, um sich weiter nicht um sie zu kümmern, sondern just Lebenskunst meint, nämlich die richtige Art, so zu leben, dass man das letzte Gut und die vollendete Seligkeit erreicht. Und wie klar Cicero selber diese Meinung vertritt, dass man nämlich den Philosophen an seinem Leben erkennt, weiss Petrarca – wenn nicht schon immer, so doch eines Tages. Er reiht ihn ja als Kronzeugen unter die Autoritäten ein, die seine persönliche Auffassung von Philosophie bekräftigen. Ein schönes Zitat just aus den Tusculanae disputationes bietet Petrarca die beste Stütze für diese Lehre, denn da liest man, dass es nur wenige echte Philosophen gibt. Sagt doch Cicero: „Wie manchen kann man unter den Philosophen denn finden, der sich so verhielte, dass sich sein Leben und seine Sitten nach dem richten würden, was die Vernunft erfordert? Oder wo ist einer, der sein Lehrfach statt als ein Prunken mit Wissen als eine Richtlinie für sein Leben verstünde, sich selber im Zaume hielte und seine eigenen Vorschriften befolgte…“? (Tusc. 2,4,11–12 in Fam. 17,1,9). Man ist also ein Philosoph im Leben oder man ist keiner. Möglich, dass Petrarca 1345 die Tusculanen noch wenig kannte, obwohl er im Jahr 1355 dem Grammatiker Crot(t)o in Bergamo, der ihm ein Exemplar des Werkes übersandte, versicherte, er habe dieses Buch „schon immer“ hochgeschätzt (Fam. 18,14,11). Wie dem sei: Vorsichtiger hätte Petrarca formulieren können und dann das Richtige getroffen. Denn wirklich war es Cicero nicht in jedem Augenblick gegeben, seinem hohen Ideal des Philosophen im erwünschten Mass zu genügen. Aber rasch rettet sich Petrarca auf einen festen Boden, indem er dazu übergeht, den „wahren Vater der römischen Redekunst“ zu feiern und ihm als sein Schüler grössten Dank auszusprechen, wie er das seiner Lebtag halten wird. Als Redner ist er auch Philosoph. Das geht eben aus dem erwähnten Brief an Crotto hervor (Fam. 18,14), da Petrarca hier die Tusculanen sogar mit den Heldentaten, ja Wohltaten des Herkules vergleicht und beweist, dass Cicero dank grossartigen geistigen Erzeugnissen jenen Kraftmenschen weit überragt. Da wie dort zitiert er überdies aus Seneca Vaters Schrift Controversiae, um seinem Lob Nachdruck zu verleihen,

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eine Stelle, die er auch sonst anführt, um Cicero über alle anderen lateinischen Prosaschriftsteller herauszuheben (Contr. 1, praef. 6–7 in Fam. 3,18,6; 13,5,18; 18,14,8 f.; 24,4,4 und 6). An dieser Wahrheit darf nicht gerüttelt werden. Allerdings muss dann Cicero, und das darf nicht fehlen, auch über seine Grenzen belehrt werden: Auch er vermag nicht alles im höchsten Mass; neben ihm steht als der beste lateinische Dichter Vergil, und dieser hat höchste Schaffenskraft in der gebundenen Sprache bewiesen wie Cicero in der ungebundenen (7 ff.). Gleich drängt sich bei dieser Feststellung (und zwar im Land Italien der Antike wie in dem des Mittelalters) unumgänglich noch ein Vergleich mit Vergils Vorbild, mit Homer, auf, und eine neue Frage schliesst sich an, die man in eifersüchtigem Patriotismus zu seinem eigenen Vorteil zu beantworten geneigt ist. Es kann ja wohl nicht anders sein, als dass der Lateiner dem Griechen überlegen war, die Ilias von der Aeneis übertroffen wurde und nicht umgekehrt (9 f.). Doch eine gewisse Scheu verhindert eine abschliessende Antwort. Es folgt im letzten Teil des Schreibens noch kurz, was man erwartet hat: Eine Reihe lauter Klagen über den Verlust der wertvollsten Schriften und über den entsetzlichen Niedergang der Kultur. Und an Rom will Petrarca nicht einmal erinnern. Selbst wenn sich Cicero im Himmel befände, aber er ist wohl in der Unterwelt (16), müsste er Tränen vergiessen, würde er vom wahren Zustand der alten Königsstadt Kunde erhalten. Seneca ist von Petrarca unter den Verehrern Ciceros als wichtigster erwähnt worden. Und nun schreibt er auch diesem einen Brief ins Schattenreich, nämlich Brief 24,5. Unter den Gelehrten der nicht-christlichen Antike ist er ihm zeit seines Lebens der best vertraute Ratgeber in moralischen Fragen, der verehrte Stoiker, dem er vieles verdankt. Er findet bei ihm ein Gedankengut, das mit seinem eigenen, dem ihm sozusagen „angeborenen“, erstaunlich gut harmoniert. Ähnlich ist bei beiden (und Petrarca ist nicht einfach sein gelehriger Schüler) die fundamentale Lehre von der Notwendigkeit einer steten Betrachtung über die Kürze der Lebensfrist, wie man sie eindrücklich eben in Fam. 24,1 (mit Zitaten aus Werken Senecas) hat lesen können, ebenso ist der Rat, sich einer unablässigen Beschäftigung mit dem Sterben zu befleissigen, beiden eminent wichtig wie überhaupt das Streben nach Gelassenheit und nach Ablehnung all der weltlichen, von Fortuna verwalteten Dinge. In seinem Senecabrief geht der Dichter denn auch recht vorsichtig dem Wendepunkt entgegen, an dem das Lob dem Tadel weicht, und auch da noch holt er sein Bündel der beanstandeten Mängel nur in der Hülle bewundernder Verehrung hervor (4 ff.), die wegzuheben er sich nicht beeilt. Endlich tut er es in der Sicherheit, sich auf zuverlässige Berichterstatter zu stützen, und das ist nun allerdings ein Irrtum, dem er allzu rasch erliegt. Er überschätzt den zitierten Sueton bei weitem, da dieser Historiker eine Vorliebe für Klatsch und Skandalgeschichten hegt, um mit solchen ein grösseres Publikum anzusprechen. Bedauern muss man folglich, dass dem Dichter die Annalen des Tacitus unbekannt waren und dass er

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auch nichts von dessen Hauptquellen für die Zeit Neros wusste. Tacitus benützt nämlich neben Senatsakten vor allem den Historiker Cluvius Rufus, dann Cn.Domitius, aber auch Fabius Rusticus, diesen jedoch mit einiger Zurückhaltung, in der Meinung, er „neige dazu, Seneca zu loben“ (Ann. 13,20,2). Sueton kennt jenen Cluvius, nennt ihn aber nur nebenbei im Kapitel 21, und bloss weil er als Konsular im Jahr 65 seinem Kaiser Nero während öffentlicher Auftritte in Rom zu Diensten stehen und ihn im Jahr 67 zu seiner Schaustellung nach Achaia begleiten musste. Überhaupt ist, was er über den Philosophen aussagt, sehr dürftig. Er kennt einige Einzelheiten, so den Traum, der ihn erschreckte (7,3; vgl. 10), das Begehren, sich des Kaiserdienstes zu entledigen (35,11), überdies den Tod auf Befehl des Kaisers (35,11). Dazu fügt er Senecas Absicht, dem Schüler die Kenntnis alter Redner vorzuenthalten (52,1; vgl.13). Wichtig ist diesem Biographen nur Nero, den er in keiner Weise schonen will, wogegen ihn Seneca kaum interessiert. Dennoch meint nun Petrarca im Glauben an Suetons Autorität, sogar die hier zuletzt genannte Aussage als Wahrheit übernehmen zu sollen, die er ebenso gut als eine Unterstellung hätte tadeln können. Denn wer hätte zu beweisen vermocht, Seneca habe seinen Schüler vom Studium der alten Redner zum Zweck abgehalten, ihn desto länger an sich zu binden (52,1)? Als hätte der Lehrer nicht einen bestimmten Erziehungsund Studienplan befolgen können, der ihn anhielt, auf die Reife des Schülers Rücksicht zu nehmen. Darauf fügt Petrarca sogleich noch an – offenbar als freie eigene Behauptung –, Seneca habe die Lehrerstelle am Kaiserhof von sich aus recht eigentlich erstrebt (aus Ehrgeiz?) und könne keinen Menschen und kein Geschick für die fatalen Folgen verantwortlich machen (14). Auch dies hätte er zu sagen kaum gewagt, hätte er die Darstellung des Tacitus vor sich gehabt. Dieser kann zwar reine Sachlichkeit so wenig erbringen als irgendeiner, bemüht sich aber in hohem Mass darum. Er berichtet, die Mutter Neros, das ist Agrippina, habe im Einverständnis mit ihrem Gatten Claudius den allseits geschätzten Philosophen zum Lehrer ihres Sohnes, des Thronfolgers, bestellt und damit Verschiedenes zu erreichen gehofft, nicht zuletzt eine Beschwichtigung des Volkes, das sich über die fürchterlichen Übelstände am Hof empörte (Ann. 12,8). Diese Aussage hätte ohne weitere Deutung übernommen werden können; ja glaublich wäre die Ansicht gewesen, dem Philosophen sei gar keine andere Wahl geblieben, als das Amt eines Prinzenerziehers anzunehmen, ob es ihm beliebte oder nicht. Höchst lesenswert sind zudem des Tacitus Schilderungen vom Rücktrittsgesuch Senecas und von seinem höchst würdigen Verhalten bei dem ihm auferzwungenen Sterben (Ann. 14,53 und 15,60–64). Petrarca hätte bei der Lektüre dieser Stelle in der Trauer um den Freund seinen Tränen freien Lauf gelassen. Auch wäre er von sich aus, ohne von Sueton beeinflusst zu sein, kaum auf die Idee gekommen, Seneca eine Mitschuld an den Schandtaten seines Schülers aufzuladen, da er doch selber froh war, nicht vor ein Sittengericht gezogen zu werden, nämlich wegen all des Fehlverhaltens in

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seiner Umgebung, sowohl in Avignon wie auch in Mailand und an anderen Orten, wo er wie ein zweiter Seneca mit Lehren und Ratschlägen ganz vergeblich für das Richtige eintrat. Allerdings ist wahr, dass nicht einzig Suetons Bericht über Kaiser Nero Petrarca dazu hinriss, sich in einen Zorn über Seneca hineinzureden. Das bewirkten ebenso sehr die von ihm angeführten Werke des Philosophen selber, die Tragödie „Octavia“ und die Schriften „Von der Güte“ und „Vom Trost“. Wie diese zu beurteilen wären, kann hier nicht einmal angedeutet werden; viel zu schwierig ist ihre Bewertung. Doch eben deshalb kann man sagen, Petrarca habe sich die Sache zu leicht gemacht. Dies zum Teil aus jugendlicher Streitlust. Vor die angesehensten Schriftsteller hinzutreten, um sie für einmal nicht bewundernd anzuhören, sondern um von ihnen ausnahmsweise Gehör zu verlangen, ja um sie mit Vorwürfen herauszufordern und sich mit ihnen zu messen, das hatte für ihn einen unwiderstehlichen Reiz. „Es wird nicht unverschämt sein,“ so schrieb er (und das allein tönt schon fast unverschämt), „wenn ich wenigstens einmal (semel) von Euch gehört werden möchte“ (2). Der Dichter, der schon um 1350 mit der Briefsammlung beginnt und im Widmungsbrief seine Epistel an Seneca erwähnt, ist natürlich stolz und nicht beschämt, wenn er sich zu seiner Kritik bekennt. Jugendlich war sie und „zänkerisch, beleidigend und leichtfertig verwegen“ heisst es da; „doch zurückhalten konnte ich sie nicht“ (Fam. 1,1,42), und sie hat ihm in der innersten Seele wohlgetan. Das weiss er noch im hohen Alter. Als dritte Gestalt aus der Antike wird nun Terentius Varro mit dem Brief 24,6 beehrt, und das entspricht Petrarcas Lob in seinem (vulgärsprachlichen) Triumphus Famae (3,37 f.), wo es heisst, als ein drittes Leitgestirn besitze das lateinische Volk den „duce Varrone“; er sei „il terzo gran lume romano.“ An seinem Leben hat er nichts auszusetzen, denn mit grossem Geschick hat dieser Mann nach dem Tod seines besonderen Gönners Pompeius sich aus der Politik weitgehend herausgehalten. Eine Güterkonfiskation wurde ihm zwar trotzdem nicht erspart, aber sein Leben wurde gerettet, weshalb er auf einem Landgut noch bis ins Jahr 27 weiterleben und weiterarbeiten konnte, also genau das zu tun vermochte, was Petrarca dem Zeitgenossen und „Mitschüler“ Cicero von Herzen gewünscht hätte. Die hohe Achtung, die er dem Gelehrten schenkt, gründet auf dem Urteil seiner Autoritäten aus der Antike. Wenn Cicero jenen mit Superlativen pries, weiss Petrarca, was er zu denken hat, und dann findet er seine Meinung auch durch Seneca (Helv. 8,1) wie durch Quintilian (Inst. 10,1,95) bestätigt. Sicher besitzt er Varros Schrift De lingua latina, soweit erhalten, denn Boccaccio hat sie in Montecassino gefunden, für Petrarca abgeschrieben und ihm 1355 zugeschickt (vgl. Fam. 18,15). Aber das ist im Vergleich zur Gesamtsumme aller Schriften des Gelehrten, wie er richtig vermutet, ungemein wenig. Mit Leichtigkeit kann ein modernes Lexikon 52 Werktitel Varros aufzählen und zu jedem notieren, wie viele Bücher er umfasst. Ein Titel zählt 41 Bücher, ein anderer 76 Bücher (vgl. Antiquitates und Logistorici); doch gibt es auch

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einen, der es bloss auf 29 und einen anderen, der es auf weit weniger bringt, so eben Lingua latina. Von besonderer Bedeutung ist seine Schrift Disciplinae (mit allerdings bloss 9 Büchern), denn darin leistet Varro eine Vorarbeit für ein Erziehungs- und Schulsystem; er legt ein Lehrbuch vor, das die verschiedenen Disziplinen in die 7 Artes liberales einteilt, wie das ganze Mittelalter sie weitergibt. Petrarca vermisst, wie er angibt, vor allem die Antiquitates. In seinen Familiares zitiert er ausser de lingua latina mehrmals de re rustica, einmal de poetis und einmal die Saturae Menippeae (vgl. Personenreg.). Das sind genau die Werke, die noch Kindlers Literaturlexikon von 1986 den Gebildeten zur Lektüre empfiehlt. Rerum rusticarum libri tres ist aber die einzige vollständig erhaltene Schrift. Ein guter Kenner Varros, ein befugter Kritiker seiner Schriften, für den man Egidius Schmalzriedt ausgeben darf, weist in der Besprechung des zuletzt genannten Werkes auf manche Absonderlichkeiten des „versponnenen“ Autors hin und weiss, dass dieser in mancher Hinsicht pedantisch ist und einiges „an Tiefe“ vermissen lässt. Doch er schätzt die Lebendigkeit des Dialogs, die grosse Zahl vieler amüsanter Eigenheiten, mancherlei Witze und dramatische Effekte, würdigt den Alltagston der Umgangssprache und eine „uritalische Frische“. Das ist wahrhaftig eine Empfehlung. Als vigilantissimus wird Varro von Petrarca gelobt, und zweifellos hat er Tag und Nacht mit wachem Geist nach Wissenswertem aussgeschaut und in unendlich vielen Nachtwachen sich bemüht, seine grossen Kenntnisse zu notieren und weiterzugeben. An Quintilian richtet sich Brief 24,7. Petrarca datiert ihn auf den 7. Dezember 1350 und verrät ausserdem, dass er sich innerhalb der Mauern von Florenz befinde. Nie vorher war er dort gewesen, im Jubeljahr kam er zum ersten Mal dahin, eingeladen von Boccaccio, mit dem er bis dahin nur wenige Briefe getauscht hatte. Dass er in seiner Vaterstadt den von ihm lang schon gesuchten Quintilian zu Gesicht bekam, verdankte er einem anderen Freund, dem schon mehrfach genannten Lapo da Castiglionchio (vgl. Personenreg.), und in welchem Zustand sich das erwünschte Werk befand, deutet sein Schreiben schon gleich zu Anfang an; zerrissen und zerfetzt war es. Doch immerhin auf weite Strecken lesbar, sonst hätte Petrarca das Buch nicht so schön und zutreffend charakterisieren können. Ein ausgezeichneter Lehrer ist Quintilian gewesen, der sich trotz Rechtsstudium, hohem Kunstverstand, überragender Allgemeinbildung und sicherem Geschmack nicht zu gut war, neben angehenden Rednern auch Kinder zu unterweisen. Und natürlich traf es sich gut, dass es in Rom für diese Lehrbegabung aus Spanien eine erste besoldete Lehrstelle gab. Man spürt es den Worten Petrarcas an, mit welchen freudigen und wohl auch etwas wehmütigen Gefühlen er daran dachte, bei wem er gerne in jungen Jahren zur Schule gegangen wäre, um rascher und sicherer den Weg zur schönsten Sprachkunst zu finden. Doch, wie angedeutet, las er nur Teile des ganzen Werkes; der Wunsch, das ganze zu erlangen, konnte zu seiner Zeit nicht in Erfüllung gehen. Erst der draufgängerische Humanist Poggio Bracciolini, auch er ein päpstlicher

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Sekretär, brachte dank seinem unbändigen Entdeckerdrang nach manchen anderen vermissten Schriften erst im Jahr 1416 einen vollständigen Quintilian ans Tageslicht, als er während des Konzils von Konstanz einen Ausflug zum Kloster St. Gallen unternahm und dort ein Kellerloch durchwühlte. Heute verstaubt Quintilians Hauptwerk auf den Regalen der Universitätsbibliotheken; man braucht es nicht mehr, so scheint es. Denn ganz abgesehen davon, dass man sich daran gewöhnt hat, an einem Redner ziemlich alle Unarten zu dulden, hat man auch keinen Sinn mehr für die jenem Sprachlehrer höchst wichtige Überzeugung, dass Herzensbildung eine ihr würdige Äusserung in einer edlen Sprache benötige und suche, wie umgekehrt auch die gute sprachliche Äusserung kräftigend und ordnend auf die Herzensbildung zurück wirke, dass also richtige Sprachschulung zugleich Schulung des Geistes sei. Quintilian verfolgte ein kulturelles und damit auch ethisches Ziel: den sprachkundigen, sittlich guten Menschen; und unterschrieben hätte er die Meinung, dass man an einer guten Redeweise die Kultur eines Volkes ablesen könne. Ähnliche Gedanken äusserte Petrarca schon in den Briefen Fam. 1,7 und 8, die auf 1338 zu datieren sind, aber deutlich von Quintilian abhängen. Vermuten lässt sich, dass sie uns nicht in der ersten Fassung vorliegen, sondern von Petrarca, nachdem er Quintilian tüchtig studiert hatte, überarbeitet wurden; es haben ja auch fast alle anderen Briefe aus diesem oder jenem Grund mehrfache Änderungen erlebt. Titus Livius kann unter den Adressaten Petrarcas nicht fehlen. An ihn ist Brief 24,8 gerichtet, und zu den Freundlichkeiten, mit denen er darin geehrt werden soll, gehört das umständliche Datum. Am Geburtsort und Sterbeort des Adressaten, also in Padua, ist der Brief verfasst worden, ja vor dessen Grab (heute sagt man „dem vermeintlichen“) in der Vorhalle der Kirche von Santa Giustina. Auch die Jahreszahl anzugeben, ist Petrarca diesmal wie nur selten wichtig. Er schreibt zuerst: 22. Februar 1350, korrigiert aber später und schreibt 1351, ohne zu fürchten, dass der tote Historiker ihm sein Belieben verübelt. Er hat in diesem späteren Jahr – das die Ursache der Änderung – in Padua (wo er Kanoniker ist), einen hochgeschätzten Freund zu Besuch gehabt, nämlich Boccaccio, und ihn hat er zum Grab des Livius geführt und es ihm gezeigt. Durch den Besuch eines solchen Freundespaares kann Livius in der Unterwelt sich besondere rasch überzeugen lassen, wie hoch er noch immer bei verständigsten Leuten geschätzt wird. Mit ihm hat sich der Dichter selbstverständlich von Jugend auf beschäftigt, schon in Avignon zusammen mit anderen jungen Leuten, und hat keine Mühe gescheut und viel Scharfsinn darauf verlegt, mit dem Kopieren und Vergleichen verschiedener Manuskripte ein besseres und weniger lückenhaftes vorzulegen. Daraus ist dann Harleiano 2493 (im Britischen Museum) geworden. Nirgends nämlich waren die Italiener fester entschlossen, die Geschichte ihrer alten Heldenzeit zu erforschen als in ihrem Exil, im französischen Königreich, und das hatte seinen guten Grund. Denn die Franzosen waren geneigt, auf sie herabzuschauen, weil sie das Papsttum ihnen geraubt und

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das Kaisertum entwertet hatten. Ihre Legisten legten neue Lehren vor und liessen solche von französischen Päpsten bestätigen, und so wusste man denn, dass der französische König in seinem Reich Princeps sei und über sich keine weltliche Macht zu dulden habe (Decretale per venerabilem 10,4,17,13). Die Reaktion darauf war ganz spontan. Mit Hilfe der Lektüre des Livius konnten die Italiener ihren alten Glauben am Leben erhalten, dass die römische Macht auf einem wahren göttlichen Auftrag beruhe, die Welt zu erobern und zu einem Friedensreich zu gestalten; und wie sehr dieser Glaube Petrarcas eigenen Wünschen und Überzeugungen entgegenkam, braucht nicht mehr dargelegt zu werden. Sein geplantes Hauptwerk Africa, mit der Verherrlichung des grössten Helden Scipio verbunden, sollte solche Gedanken vertiefen und verklären, und um es auszuführen, bedurfte er umfassender historischer Kenntnisse, die er bei Livius in einer Fülle fand, wie bei niemand sonst. Dass Petrara am Wert der Forschungen jenes Historikers je ernsthaft gezweifelt hätte, ist nicht anzunehmen. Er dankt Livius in seinem Brief 24,8 nicht für besonders zuverlässige Nachrichten aus der Antike, jedoch für die unschätzbare Leistung, einen Weg durch viele Jahrhunderte angebahnt und den „Erdkreis“ bekannt gemacht zu haben (1). Hierdurch ist dem Dichter möglich geworden, alle die Idealgestalten, die Helden, die Staatenlenker und die grossen Philosophen der hehren Vergangenheit als Gesellschaft um sich zu sammeln und darüber die Zeitgenossen, die unerträglichen, zu vergessen. „Du des historischen Gedächtnisses bester Verwalter“ heisst es zum Schluss. Und natürlich reiht Petrarca den Historiker unter „die ruhmvollen Männer“ ein, deren glanzvolle Namen und Taten zu kennen er zum guten Teil eben ihm verdankt. Von Asinius Pollio, der 1353 aus Mailand den Brief 24,9 empfängt, hat Petrarca kaum eine grössere Kenntnis, doch ihm imponiert, dass dieser bedeutende Redner eine schöne Sammlung griechischer und lateinischer Werke zusammenbrachte und solche als erster in Rom in einer Bibliothek allgemein zugänglich machte. Vielleicht schon früh denkt er selber daran, seinen Bücherschatz zu gegebener Zeit einem grossen Publikum zur Verfügung zu stellen, wie er das bei seiner Übersiedlung nach Venedig dem Kanzler Benintendi dei Ravagnani dann wirklich anbietet. Auch gefallen ihm geistreiche und schlagfertige Reden, die von Pollio überliefert wurden, und geradezu herausgefordert fühlt er sich durch den einflussreichen Mann deshalb, weil er sich laut in die Diskussion über guten und schlechten Stil einmischte und sich dabei immer wieder erlaubte, sich abfällig über Cicero zu äussern. Er gehörte zu den extremsten Vertretern des alten, des „attizistischen“ Stils, die meinten, wie die alten Römer, wie Cato und Seinesgleichen sprechen zu sollen, und die das echt Catonische dadurch leicht verfehlten. Alles Griechische lehnten sie ab. Sie verlangten eine kurze, nüchterne Redeweise ohne Perioden, schlossen alles Überflüssige aus, um jede Wendung mit viel Sinngehalt zu befrachten. Hohe Töne waren ihnen so lästig wie ein Rhythmus, und die von ihnen geforderte Kargheit

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nannten sie „gesund“, während ihnen das Andersgeartete dekadent vorkam. Auf solche Grundsätze konnte sich Cicero niemals verpflichten; er liebte nicht das Extreme, das heisst, er war nicht abgeneigt, gewisse Eigenheiten des Asianismus zu übernehmen, war nicht ein entschiedener Gegner alles Griechischen, Asiatischen, verwarf nicht jedes Pathos, nicht allen Schmuck, nicht jedes ungewöhnliche Wort. Er liebte das Natürliche, Gefällige, den Wohlklang, die fliessende Rede, die gut geformte Periode und einen gewissen Rhythmus, bemühte sich dabei um Klarheit, Ordnung, Sachlichkeit und um ein gutes Mass in allem, ja er nahm auch Rücksicht auf rednerische Ansprüche des Volkes. „Jener grosse Nörgler“, so ist Pollio von Eduard Norden charakterisiert worden (Antike Kunstprosa), „dem es keiner recht machte, der es aber selbst auch keinem recht machte“, er wurde zu seiner Zeit eher gefürchtet als geschätzt, und sehr verärgert hat ihn später Seneca Vater abgelehnt, just wegen seiner Attacken gegen Cicero (Suas. 6,25), während Tacitus, obwohl ein strenger Stilist, ihn „hart und trocken“ nannte (Dial. 21; vgl. Norden). Petrarca urteilt in seinem Brief zurückhaltend. Er denkt eben von seiner eigenen Kunst nicht sehr hoch, wie er im Brief an Quintilian zu erkennen gibt. Über Stilverschiedenheiten ein sicheres Urteil abzugeben, scheut er sich und fürchtet, von sogar unbedeutenden Richtern beurteilt zu werden (Fam. 24,7,8 f.). Aber einer Sache ist er völlig sicher: Einen Cicero hätten Pollio und sein Sohn gegen Anwürfe verteidigen müssen; und ein unbestreitbar grosses Vergehen war es, jenem den höchsten Rang der Redekunst absprechen zu wollen. Das war aperta nimis iniuria (8). Und es war auch ein völlig sinnloses Bemühen. Denn das unanfechtbare Urteil war längst gefallen. Es anzuzweifeln war einzig der schwärzesten Missgunst möglich (9), und in Petrarca sträubt sich alles gegen die Annahme, ein erhabener Geist wie der des Asinio könnte so niedrigen Lastern einen Zugang gestattet haben. In Brief 24,10 und 24,11 kehrt er sich von der Prosa ab und bietet seinem Leser die in der Sammlung Familiares einzigen beiden Proben metrischer Briefe, womit er übrigens anzeigt, mit wessen Hilfe und nach wessen Vorbild er sich geschult hat. Denn der eine metrische Brief richtet sich an Horaz, der andere an Vergil. Zweifellos hat sich Petrarca alle Mühe gegeben, seinen verehrten Dichtern im Jenseits zu zeigen, dass er von ihnen etwas gelernt hat, dass er also nicht ein Stümper ist, der sie mit einem gutgemeinten Geschenk bloss beleidigen könnte. Er will jedoch auch vermeiden, ein knechtischer Imitator zu sein, vielmehr will er sich auf seine eigene Art darstellen. Die gute Form ist ihm jetzt wichtig, aber wie immer bleibt ihm noch wichtiger der Inhalt. Dass er sich darauf versteht, gute lateinische Hexameter zu verfassen, das hat er zur Zeit, da er solche direkt an Vergil abschickt – man meint um 1349/50 – schon bewiesen, nämlich in anderen metrischen Briefen, in Eklogen und vor allem auch in seinem epischen Hauptwerk. Asklepiadeische Verse, für die er sich möglicherweise schon 1337 entschied, um Horaz würdig anzusprechen, hat er damals längst im Ohr, und die Silben richtig nach Längen und Kürzen zu schei-

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den, ist er gewohnt; es fehlt ihm nichts an der Technik. Dagegen mangelt ihm vielleicht die Zeit, die man benötigt, um einen reichlich grossen Stoff in ein festes Gerüst metrischer Vorschriften zu verstauen. Ihm geht es darum, die angesprochenen Meister der Poesie durch Wiedergabe vielsagender oder besonders schöner Stellen und mit Hinweisen auf ihre Leitgedanken zu charakterisieren, ihnen mit seiner grossen Kenntnis zu huldigen und natürlich auch zu imponieren. Auch vergisst er dabei keinen Augenblick ein Leserpublikum, das er zu den alten Meistern hinführen möchte, weshalb er sie in der verehrungswürdigsten, liebenswertesten Gestalt vorzeigt. Aus dem leicht überschaubaren Werk des Horaz knüpft er farbenfrohe Miniaturen zusammen und versucht, etwas von des Dichters „süss-bitterem Ton“ einzufangen (vgl. Gedichtende). Er mahnt an seinen Götter- und Heldenkult, zeigt einige Ausschnitte aus bukolischen Bildern und entnimmt seinem Schatz an sittlichen Vorstellungen, Mahnungen und Warnungen, was er zu einem bunten Strauss zusammenbinden kann. Dagegen ist das Werk Vergils viel zu umfangreich, um es in der selben Weise einzuschnüren. Petrarca heftet seinen Blick vor allem auf die Aeneis und hier auf die Schilderung der Unterwelt, während er an sein „Hirtengedicht“ und seinen „Landbau“ nur scherzend und kurz erinnert, um dem längst Verschiedenen zu beteuern, dass beim Vieh und auf dem Acker noch immer alles zum besten bestellt sei. Eine besondere Freude hat er, seinem liebsten Dichter mitzuteilen, dass er, Petrarca, soeben in der Umgebung von Mantua auf seinen Spuren wandere, um sich überall, wo er gehe, von allen Winkeln und Bächlein sich etwas über ihn berichten zu lassen. Beide metrischen Familiares zeugen von der heiteren Stimmung, die ein gebildeter Mensch in der vertrautesten Gesellschaft bester Freunde von ähnlicher Bildung und Gesinnung geniessen kann. Ein prächtiger Einfall verlockt Petrarca darauf zur Abfassung von Brief 24,12. Wer ihn gehabt und wer ihn ausgeführt hat, ist nicht sicher, doch empfängt Petrarca (oder tut, als empfange er) wahrhaftig von Homer einen Brief, unterschrieben von ihm persönlich. Der alte Fürst der Dichter hat sich aus dem Elysium entfernt, um der Nachwelt durch Petrarca seine ihn quälenden Beschwerden vorzutragen und um durch ihn eine Rechtfertigung und einigen Trost zu erlangen. Und nun antwortet Petrarca gewissenhaft auf seine Vorwürfe oder auch Mitteilungen. Ein gewisser Scherz seines Briefes liegt offenbar darin, dass dieser Homer, den er anspricht, in Wirklichkeit entweder wie Boccaccio oder Pietro da Muglio oder wie ein anderer Humanist heisst, der sich daran ergötzen kann, wie der Dichter auf seine Phantasien eingehe. Wenn nun Homer damit gerechnet hatte, dass ihm in Versform gehuldigt werde, so kann ihm Petrarca zu seinem Erstaunen dartun, dass hierzu kein Grund bestehe (5), wenn er aber seine Klagen vorbringt, so zeigt sich Petrarca nicht überrascht, denn sie stimmen ja ziemlich genau mit seinen eigenen überein (10 f.). Dummheit und Trägheit moderner Generationen haben die grossartigsten Werke verderben lassen, so gerade auch die Homers. Petrarca hat eben

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deshalb trotz eifrigster Anstrengung, mit ihm ins Gespräch zu kommen, dieses Glück bisher nicht gehabt und von seinen Werken so wenig gefunden, dass er die wahre Gestalt Homers noch immer nicht zu erkennen vermag (2). Wenig hält Petrarca von lateinischen Übersetzungen, das heisst: „In einem lateinischen Gefäss hat man ihm kürzlich kredenzt, was etwas wie griechischen Wohlgeschmack verriet,“ doch das hat bloss seinen Durst nach dem echten Getränk vermehrt (3). Aufrichtig dankt Petrarca dem Dichterfürsten (heisst er Boccaccio?) aus der Unterwelt für interessante Mitteilungen, z. B. über seine Lehrer oder über sein Lebensende, denn davon ist zu seiner Zeit viel zu wenig bekannt (7 ff. und 13); hingegen ist man allgemein über Imitatoren Homers informiert und weiss auch, dass der alte Grieche deren Undankbarkeit schwer beklagt, aber am meisten die Vergils, der ihn sogar ausgeraubt und in der Aeneis nirgends erwähnt hat (15 ff.). Ein oft besprochener Vorwurf ist das. Nun muss der Lateiner verteidigt werden (19). Sorgfältig beweist Petrarca (22 ff.), dass Vergil von Homer nichts gestohlen und dass er an ihm auch nicht undankbar gehandelt hat; freilich ist sein früher Tod seinem letzten Dankeswort zuvorgekommen. Übrigens hat Homer guten Grund, neuen Mut zu fassen. Niemand macht ihm seinen Ehrenplatz streitig, so behauptet Petrarca (doch vielleicht nicht mit dem besten Gewissen); von allen Verständigen wird er als der Fürst der Dichter anerkannt (26 ff.). In Italien wird er überdies in verschiedenen Städten hochgeschätzt; Petrarca zählt alle Wohnorte auf, in denen Humanistenfreunde leben, und rühmt insbesondere Florenz, wo soeben Leonzio Pilato Vorlesungen über den Dichterfürsten hält (30 ff.). Für die Zukunft darf ihm Petrarca eine weite Verbreitung seiner Werke und neue hohe Anerkennung versprechen, und persönlich schenkt er dem Griechen eine Hochschätzung sondergleichen, indem er ihn als philosophischen Poeten weit über die blossen Philosophen hinaus hebt (28). Gleichsam geblendet von seiner Strahlkraft entreisst er sich der erhabenen Gestalt, die wie ein Traumbild vor ihm steht (42), äussert dann noch einige Bedenken wegen der im finsteren Orkus bestehenden Schwierigkeit, Briefe zu schreiben und zu lesen, verabschiedet sich und beschliesst den Brief mit einem Gruss an die schriftstellernden Gefährten eben dort. Zu datieren ist das Schreiben auf 1360. Zwei Jahre vorher hatte Petrarca in Padua ein griechisches Manuskript Homers angeboten erhalten, es aber zu kaufen gezögert (Var. 25), da er früher von Sygeros ein besseres erhalten hatte (vgl. Fam. 18,2). Eben auch in Padua hatte er jenen, eben genannten Kenner der griechischen Sprache, Leonzio Pilato getroffen, den er für einen Byzantiner hielt, der aber aus Kalabrien stammte. Und auf diesen Leonzio setzten er und Boccaccio grosse Hoffnungen (Fam. 20,6). Sie brachten ihn an die Universität von Florenz, ermunterten ihn zu Homer-Übersetzungen, empfingen ihn in Venedig und entliessen ihn nach Konstantinopel, sobald er meinte, dort seinen Vorteil zu finden. Dann vernahmen sie von seinem tödlichen Unglück auf der Reise nach Venedig

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zurück (Sen. 6,1) und waren hierauf infolge mancher Hindernisse jahrelang in der Unsicherheit, ob ihnen einmal die ganze Ilias und Odyssee in lateinischer Sprache vorliegen würden oder nicht. Petrarca übernahm für manche Kopistenarbeiten die Bezahlung (Sen. 3,6), hatte 1366 einen Teil des Gewünschten in der Hand und erst 1367 die ganze Ilias und die ganze Odyssee, die hierauf sein oben genannter Kopist Malpaghini abschrieb und damit vorlegte, was heute in Paris als Par. lat. 7880 1–2 aufbewahrt wird. Dass Petrarca dank einer gründlichen Lektüre seine Kenntnisse Homers bedeutend vermehrt hätte, ist nicht anzunehmen; doch bemühte er sich zweifellos so sehr darum, als seine Arbeit es zuliess. Hochgeschätzt hatte er ihn schon von Jugend auf, selbst ohne Kenntnis seiner Werke. Im Fam. 6,3 aus der Zeit vor 1343 kann man lesen, wie er in der Erinnerung an den blinden Dichtergreis alle sein eigenen Sorgen vergessend selige Ruhe finden konnte: in illius ceci senis memoria conquiescam (6,3,16). Der Ruhm des Dichters für sich allein genügte zur Überzeugung, dass er als die eine strahlende Sonne Griechenlands neben der anderen Sonne Platon gleichsam anbetend zu verehren sei (vgl. Fam. 13,6,4; 18,11,1; 19,18,12; 20,4,6; 21,15,15.22 ff.; 22,10,5 ff.). Die beiden Leuchten in der Welt der Lateiner, nämlich Vergil und Cicero (vgl. die selben Stellen), schätzte Petrarca freilich um nichts weniger, wenn er nicht gar versucht war, sie ganz im Geheimen vorzuziehen (Fam. 24,4,10 und 20,10,5 ff.). Doch verzichtete er immerhin darauf, für seine Privatmeinung in aller Öffentlichkeit eine Stütze zu suchen. Daher lässt sich denn auch nicht denken, dass Petrarca die Reihe der alten Dichter und Denker im Buch 24 mit dem Lateiner Vergil hätte abschliessen wollen. Für die höhere Ehrwürdigkeit Homers sprachen nicht zuletzt sein Greisenalter und der nach innen gewandte Seherblick seiner Blindheit. Was im Brief 24,13 noch folgt, ist bloss das zweite Teilstück der Klammer, welche die Sammlung Familiares zusammenhält. Es stellt eine Bestätigung des ersten Briefes Fam. 1,1, dar, der so viel wie eine Widmung an Sokrates bedeutete. Im ersten wie im letzten Schreiben sucht Petrarca nach einer Rechtfertigung seines Werkes, das zwar eine gewisse chronologische Ordnung erstrebte, jedoch mit seiner starken Mischung verschiedener Themen auf einen festen inneren Zusammenhalt verzichtete. Vom literarischen Wert der Sammlung ist er nicht durchaus überzeugt und erlaubt sich daher, einen guten Teil der Verantwortung auf seine Freunde abzuladen, die stets gierig darauf achteten, dass keines der Schreiben verlorenging. Ihnen hatte er versprochen, Briefe bis zu seinem Tode zu schreiben, und weil der Freund Sokrates, dem er die Sammlung gewidmet hat, gestorben ist (im Spätsommer 1361), wird er eine neue Sammlung beginnen, deren Briefe den Namen seines höheren Alters tragen, also Seniles heissen sollen. Er widmet sie dem Freund Francesco Nelli, der ihm längst besonders wert und ein Simonides geworden ist (Sen. 1.1). Petrarca spricht zuerst seinen Adressaten Sokrates an, als lebte er noch (1); doch sobald er seine zweite Sammlung erwähnt (6 f.), wendet er sich an seine sodales, um

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sich zu versichern, dass da immer noch Freunde sind, die von ihm Briefe begehren, so wie er bereit ist, sie ihnen zu schenken (7). Immer war es ja die Liebe, die den Dichter bewog, Briefe zu schreiben; das soll man bedenken; und er hat es getan, ohne auf seinen guten Ruf zu achten, womit er bewiesen hat, dass er die Freunde nicht in noch höherem Masse hätte lieben können (2). So soll es auch weiterhin bleiben. Denn nichts ist Petrarca wertvoller als die Freundesliebe. Und dennoch muss er die Freunde dazu ermahnen, in der Liebe zu ihm das richtige Mass einzuhalten, damit sie ihm nicht schade und ihn nicht seinen Neidern und strengen Richtern ausliefere (8). Was Petrarca hier darlegt, das hat nicht zuletzt der Leser zu beachten, der völlig unvoreingenommene oder ahnungslose (candidissimus), der am Ende aufgerufen wird (9). An ihn richten sich Bitten und Beschwörungen, nun seinerseits die Liebe walten zu lassen, die zu den humanistische Studien, und er soll daher die besonderen Umstände, unter denen die Briefe geschrieben wurden, wohlwollend erwägen. Diesen seinen Wunsch möchte er nicht vergeblich geäussert haben. Seine Unsicherheit und Selbstkritik, verbunden mit einer Schuldzuweisung an andere, zeugen von seinen grossen Zweifeln, die seinem Selbstbewusstsein stets als lästige Begleiter gefolgt sind.

In Buch 24 stellt Petrarca im 1. Schreiben sich selber vor und schafft damit eine Brücke zwischen den früheren Büchern und dem letzten. Dann lenkt er im 2. Brief mit der Erzählung eines Gesprächs unter Freunden zum Thema Cicero über. Es folgen die zwei Briefe an Cicero selber, dann der Reihe nach acht Briefe an andere Gelehrte der Antike, mit denen sich Petrarca beschäftigt. Horaz und Vergil werden mit je einem metrischen Brief geehrt, Homer in Prosa als Fürst der Dichter anerkannt. Der 13. Brief erläutert und entschuldigt die Sammlung der Familiares und weist dabei auf ihren Widmungsbrief in Buch 1 zurück.

Der Abschluss der Sammlung Familiares und der Beginn der Sammlung Seniles markieren den Übergang vom einen Lebensabschnitt zum andern, jedoch nicht wie eine Linie, sondern wie einen breiten Grenzbereich, in dem sich von rechts und links her Gestalten begegnen. Hier erheben sich auffällig viele Kreuze über Freundesgräber, denn es herrscht wiederum eine Pest, ja eine besonders lang andauernde. Daran erinnerte in Petrarcas Brief an den Bischof von Cavaillon der Satz: „Und auf der letzten Strecke unter unzähligem Missgeschick, wenn meine Gefährten von ihrer Reise ermattet und mitten auf ihrer Strasse hinsanken, blickte ich in die Runde und fand mich allein“ (Fam. 24,1,16). Es starben also im Mai 1361 Sokrates, im Juni 1361 Philippe de Vitry, dann der Sohn Giovanni im Juli 1361, im

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Hochsommer 1361 Zanobi da Strada. Im Jahr 1362 folgte Azzo da Corregio, neben ihm wohl auch Guglielmo da Pastrengo. Eine weitere Reihe verschied (noch immer an der Pest) im Jahr 1363, nämlich: Lelio dei Tosetti, Bartolomeo Papazzurri, und eben auch Francesco Nelli, dem – wie gesagt – die Seniles gewidmet waren, wogegen Barbato da Sulmona wahrscheinlich im folgenden Jahr verschied. Viel zu alt fühlte sich Petrarca, indem er erlebte, wie sich der Freundeskreis noch immerfort lichtete. Es verschieden Kardinal Talleyrand 1364 und der Kanzler Benintendi dei Ravagnani von Venedig 1365. Ebenfalls 1365 starb Acciaiuoli. Bis 1367 lebte sein einstiger Jugendfreund, der Erzbischof Guido Sette von Genua, 1371 verlor er Philippe von Cavaillon (als Kardinal und Patriarch von Jerusalem), und ein Jahr vor Petrarca starben Pandolfo Malatesta und der Kardinal Guy de Boulogne, während sein Bruder, der Kartäuser Gherardo, ihn wohl kurz überlebte. Für einen guten Kontakt mit der römischen Kurie (ob in Avignon oder Rom) bewährte sich dauernd Francesco Bruni, und immer kostbarer wurde dank Anregungen und Hilfe bei Nachforschungen Freund Boccaccio, der Petrarca um ein Jahr überlebte. Auch Johann von Neumarkt überlebte ihn; er starb 1380. Petrarca arbeitete trotz häufigen Krankheiten bis zum letzen Tag wie die grossen Vorbilder Karneades und Solon getan (Fam. 17,8); darauf beharrte er eigensinnig; und bis zum letzten schrieb er Briefe. (Sen. 17,2). Er wurde nicht der Sonderling, der sich die Menschen vom Leibe hält. Da er immer ein guter Gastgeber gewesen war, blieb er das bis in seine letzten Tage (Fam. 19,17,6 8 und 8), was vor allem ein Schreiben von 1371 an Francesco Bruni belegt (Var. 15, Fracassetti 3,332 f.).

Übersetzung der Briefe Buch 13 bis Buch 24

Fam. 13,1, an Guy de Boulogne, Kardinal-Bischof von Porto1 Trostbrief zum Tode seiner Mutter. 1. Petrarca vertraut auf Nachsicht des Adressaten. 2. Einen Trostbrief für einen Sohn zum Tod seiner Mutter hat Petrarca noch nie geschrieben, doch hat er selber seine Mutter früh verloren. 4. Die Mutter des Angesprochenen hat grösstes Glück erlangt. 10. Sie ist zur besten Zeit gestorben. 11. Die natürliche Ordnung ist gewahrt worden. 12. Beispiele trauernder Eltern beim Tod ihrer Kinder. 13. Kinder weinen beim Tod ihrer Eltern wenig; so will es die Ordnung der Natur. Avignon, am 14. Mai (1352).

1. Ich weiss, wem ich schreibe. Ihm, der mir immer ein wohlwollender Gutachter und gütiger Deuter meines Schaffens war und dem überdies meine Treue – das weiss ich – bestens bekannt ist, werde ich meine Feder angelegentlich zu empfehlen nicht sonderlich bemüht sein, da ohnehin meine zeitliche Beschränkung es verwehrt. Dies mein Herz ist gewohnt, mit Dir sogar im Schweigen zu sprechen, und so hoffe ich denn, Du werdest wissen und überzeugt sein, dass es niemals froh ist, wenn Du trauerst. Kommt dazu, dass ich, weil in fast jeder Art Jammer erfahren, nur um so beherzter und rascher zur Feder greife. 2. Wie immer die Beschwerden und wie immer die Schmerzen aussehen mögen, keine gibt’s, die ich nicht kenne. Und bin ich meinem Wesen nach zu solcher Kenntnis ungeschickt, hat doch Fortuna mich geschickt gemacht. Nur Eines hat, wenn nicht meinem Schmerz, so doch meiner Feder bis heute gefehlt. Nie bin ich einem Sohn beim Tod seiner Mutter ein Tröster gewesen; dieses Stück bedrückender Aufgabe ist mir bis heute erspart geblieben. Denn noch war keiner der mir lieben und werten Menschen dieser Art Gefälligkeit bedürftig. Und dabei habe ich selber in frühester Jugend einen eben solchen Verlust erlitten. 3. Doch um zur Sache zu kommen: Ich hörte gestern, Vater, als es schon gegen Abend ging, ein betrübliches und klagendes Gerücht; ich hörte von Deiner Trauer und von den Zeugen aussergewöhnlicher Sohnesliebe, will sagen von Deinen Tränen, die mir nicht etwa missfallen, nein sogar in hohem Masse gefallen. Nur sollten sie bald versiegen und nüchtern und mässig sein. Und so wenig denke ich, sie zu tadeln, dass mich weniger die schon hereinbrechende Dunkelheit zurückhielt, gleich nach Empfang der Nachricht zu Dir zu eilen, als vielmehr diese meine Überlegung: Geben wir dem so berechtigten Schmerz diese Nacht, geben wir der Sohnesliebe Raum. Strömen sollen die Tränen wie nächtlicher Regen, damit der morgige Tag um so heller erscheine. 4. Was aber soll ich nun sagen? Wie kann ich am besten an diese so frische Wunde Deines Herzens herangehen? Gewiss, Deine liebenswerteste Mutter ist Dir gestorben.2 Doch wirklich, hätte sie in ihrem Leben nichts Frohes und Seliges erlebt ausser dies: einen solchen Sohn

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Fam. 13,1

wie Dich geboren zu haben, könnte mir niemand bestreiten, dass sie im höchsten Mass glücklich gewesen sei. Als Cornelia, diese glänzende Gestalt, die Tochter des Africanus, die Mutter der Gracchen,3 ihre grausam hingeschlachteten Söhne vor sich sah und dabei die ringsum stehenden Frauen wehklagen und mit weibischem Geheul ihr Unglück immer aufs neue verkünden hörte, sagte sie: „Ich aber werde mich niemals unglücklich heissen, da ich solche Söhne geboren habe.“ 5. Wenn jene nach der Ermordung ihrer Söhne so sprach, wie hätte Deine Mutter da klagen dürfen, solange Du lebtest und gesund warst? Sie ist es, die Dich im schwangeren Mutterleib unter Beschwerde und Mühe bis zum zehnten Monat getragen hat; sie ist es, die Dich unter Freude und Schmerz geboren, später in die Wiege gebettet und mit schmeichelndem Summen zum Schlafen bewogen, in weiche Windeln gehüllt und, wenn Du weintest, als liebe Last an sich gedrückt hat. Das kriechende Kind hat sie eilfertig, das noch unsicher schreitende ängstlich, das mit Gleichaltrigen spielende unruhig, den Knaben, der zur Schule ging, besorgt, und den Halbwüchsigen, der zurückkam, heiter betrachtet. 6. Ihr war der bald zum Jüngling, bald zum Mann, bald zum Weisen und bald zum Gelehrten Herangereifte, der bei Gott und den Menschen Gefallen weckte, eine unermessliche Freude. Für sie bedeutete der schon bald rechtmässig, dank seinen Verdiensten aber vorzeitig gewählte Vorsteher der Kirche von Lyon ein aussergewöhnlicher Ruhm,4 und schliesslich warst Du ihr als Kardinalpriester der römischen Kirche ein höchstes Glück und zuletzt als Bischof von Porto5 fast all ihrer Wünsche Endziel und Erfüllung. Wie also soll ich über diesen Tod einer Mutter, die überdies ein hohes Alter erreichte, denn denken? 7. Wirklich, bei ihren Anlagen, bei ihrem hochangesehenen Gatten, bei der Zahl und Begabung ihrer Kinder, vor allem bei Deinen Titeln und Deiner Anhänglichkeit war sie eine glückliche Mutter; ja glücklich in einem Mass, dass sie auf Erden kaum hätte glücklicher werden können. Sie wurde also im günstigsten Augenblick aus diesem gebrechlichen und kurzen Leben6 in die ewige Freude versetzt, wo sie nun nach dem Sieg über die Zufälligkeiten des sterblichen Lebens im Himmel triumphiert. Sie ist ihrem Gatten7 gefolgt und ihren Kindern dorthin vorangegangen, wo diese nach dem glücklichem Ablauf ihrer Lebenszeiten auch anlangen werden. 8. Und sollte sie vielleicht, gefesselt von einer leiblichen Bindung, den Himmel noch nicht erreicht haben, kann man ihr besser mit gläubigen Gebeten als mit Tränen behilflich sein. Jene erwartet sie von Dir; Du wirst sie ihr als eine besonders liebe Gabe gewähren. Bete, bitte, aber trauere nicht! Und hast Du sie zu ihrer Lebenszeit geliebt, ruhmreichster Vater, wirst Du jetzt gelassen ertragen, dass sie von einer zwar hohen Stufe irdischen Wohlbefindens zum höchsten Gipfel himmlischen Glückes hinaufsteige.8 9. Was hätte sie hier noch tun sollen? Welche Erhöhung hätte sie an Dir noch erleben und welche für Dich noch erwarten können, ausser vielleicht, Dich als

Fam. 13,1

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römischen Bischof9 zu sehen? Wirklich, ich meine, es sei besser, man sterbe, wenn man Freude in der Gegenwart geniesst und für die Zukunft noch Hoffnung hegt, als wenn man nach aufgezehrter Hoffnung und nach Erreichung all des auf Erden Begehrenswerten und Wünschbaren schon merken muss, wie der Hoffnung die Furcht entgegen kriecht. Dank der lehrreichen Natur ist ja leicht ersichtlich, dass den Wünschenden die Hoffnung auf Besitz, wie auch den Besitzenden die Furcht vor Verlust nicht fehlen kann. 10. Deshalb also meine ich, zu keiner Zeit sei es für Deine Mutter günstiger gewesen, zu den Himmlischen hinüber zu gehen als jetzt, wo sie Dich lebend, ja glücklich lebend zurückliess, wie es denn dem doppelten Anliegen der Eltern entspricht zu wissen, dass ihr teuerster Sohn an Leib und Seele kräftig und gesund, im besten Alter, in gehobener Stellung und in glücklichem Fortschreiten begriffen sei. Beweine sie also nicht untröstlich, sonst scheinst Du die Ordnung der Natur anzuklagen. Denn notwendigerweise musste entweder die Mutter Dich überleben oder Du sie. Und eben das letztere hat sie sich gewünscht; es gebührte dem Gesetz der Natur, und es traf ein. 11. Tröste Dich also, Du Hochgesinnter, und klage nicht über ein Ereignis, dessen Gegenteil Deine Mutter in unaussprechliche Traurigkeit gestürzt hätte. Möchte die Natur doch andern gegenüber die rechte Ordnung eben so gut beachten, wie sie bei Euch getan hat! Oft nämlich lesen und hören wir von Müttern, die beim Begräbnis ihrer Kinder einer erdrückenden Trauer verfallen, und seltener findet man eine übermässige Trauer beim umgekehrten Verhältnis. 12. Da hört man von einer Mutter, die ob ihrem Jammer über ihr totes Kind in mütterlich leidenschaftlicher Aufwallung dem eigenen Schmerz ein Ende setzte. Dann wieder hört man von einer andern, die den Tod ihres Kindes bis zum letzten Tag ihres Lebens unablässig beweinte, ihre Ohren verstopfte und für die Worte der Tröstenden nicht zugänglich war. Zwei Beispiele unter hochberühmten Frauen führe ich an: Livia, die Gattin des Augustus, und dessen Schwester Octavia. An beide hat Seneca10 in seinem Schreiben an seine Martia erinnert. 13. Cicero aber hat masslos seine Tullia betrauert und beim Tod der so geliebten Tochter in der Niederschrift eines ganzen Buches Trost gesucht.11 Ihn nachahmend hat später Ambrosius12 nach dem Tode seines Bruders einen Band der Tröstungen veröffentlicht. Daran ist nichts neu noch ungewöhnlich, dass man beim Tod von Kindern oder Brüdern aufstöhnt und dass Gebildete in ihrer Trauer sich zu trösten versuchen. Dass hingegen Kinder das Ende ihrer Mutter sehr schwer beklagten, lässt sich, sofern mein Gedächtnis nicht trügt, mit kaum mehr als einem einzigen berühmten Beispiel belegen. Dabei hat es an Anhänglichkeit nicht gefehlt, vielmehr hat die Ordnung der Natur dem Weinen Einhalt geboten. 14. Beweint hat unser Augustinus seine liebenswerteste Gebärerin, die ihm über Länder und Meer gefolgt war, alle seine Wege mit treuen und sorgenvollen Tränen besprengt und ihn dem Leibe nach zwar ein einziges Mal, dann

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aber tausend Mal im Geiste geboren hatte.13 Er beklagte sie so herzlich, dass er noch heute nach so vielen Jahrhunderten jenen, die davon lesen, Tränen entlockt, und doch weinte er über diese ihn lebenslang beweinende Mutter nur einen einzigen Tag. Und seine Trauer, die er mit Ermunterung seiner selbst und mit Tadel auf die eigene Weichheit vergebens zu unterdrücken versuchte und die er weder mit seiner Vernunft – wie er sich erinnerte14 – noch mit einem Bad zu lindern vermochte, sie erstickte schliesslich der Schlummer. 15. Eben daran habe ich mich erinnert, als ich Dich nicht sogleich aufsuchte und Dir auch nicht unverzüglich schrieb; ich wollte Dir nicht gleichsam die Lust am Trauern – denn wirklich hat ja das Klagen seine zwar schmerzliche Lust – vorzeitig entreissen. Eine einzige Nacht habe ich Dir absichtlich zugestanden, damit sie mit des Erhabenen hilfreicher Rechten Deine Tränen abwische. Und diese Tropfen – wie ich sagte – tadle ich nicht, vielmehr lobe ich sie entschieden, freilich nur dann, wenn Du, wie ich wünsche, Mass übst und ein Ende findest. 16. Doch weil die Zeit mir fehlt, so viel zu schreiben, als die Sache an sich fordert, will ich in der Furcht, es könnte eine zweite Nacht Dir unter Tränen dahingehen, eilig das Schreiben beenden. Ich bitte Dich also, in Deiner unüberwindbaren Herzensstärke Dir selber zu helfen und das Verlangen zu weinen – wie heftig es sein muss, weiss ich aus Erfahrung – mit männlichen Gedanken zu bezähmen. Zugleich bitte ich Jenen, der für unsere Sünden sterbend vom Kreuz herab seine Mutter zu trösten bemüht war, er möge aus dem unerschöpflichen Quell seines Mitleids und Trostes Dir beim Begräbnis Deiner Mutter Erleichterung schenken. Avignon, am 14. Mai (1352).15

Anmerkungen 1 Von diesem Kardinal hat Petrarca schon früher mit grosser Achtung gesprochen; vgl. Fam. 9,13, 6 ff. und passim. Übrigens hat er ihm auch später verschiedene Briefe im Ton der Verehrung geschrieben. Das widerspricht seinem Hass auf die Kurialen, die er ohne Ausnahme der Sintflut übergeben wollte; vgl. z. B. Sine nom. 11, lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 262, und 16 ebenda 310. Zur Datierung der Sine nom. vgl. Wilkins, Studies 179 f.; zur Person vgl. Fam. 9,13, das Personenreg. und Übersicht. 2 Die Mutter des Adressaten war Marie von Flandern, verheiratet mit Robert VII. von BoulogneMontfort und Auvergne. 3 Vgl. Personenreg. unter Cornelia. 4 Die Würde eines Erzbischofs von Lyon erhielt Guy de Boulogne schon 1340 mit 27 Jahren, wenn sein Geburtsdatum richtig angegeben wurde. 5 Kardinalpriester wurde er 1342 und Kardinalbischof von Porto 1350. Als solcher hatte er unter allen suburbikarischen Bischöfen den höchsten Rang nach Ostia. 6 Der Hinweis auf ein kurzes Leben ist nur scheinbar ein Widerspruch zum vorher Gesagten. Petrarca betonte immer, dass selbst das längste Leben auf dieser Welt nur kurz sei; vgl. z. B. Fam. 23,5,13.

Fam. 13,1

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7 Vgl. Anm. 2. 8 Petrarca rechnet stets mit der Notwendigkeit einer Läuterung der Seelen nach dem Tod. Er empfiehlt daher auch regelmässig, für Verstorbene zu beten. Vgl. z. B. Fam. 2,1,26. 9 Das Wort Papst gebraucht Petrarca nicht; es gehört nicht ins altrömische Vokabular. 10 Sen. Dial. 6,2,3–5. 11 Von seinem Schmerz sprechen vor allem sein Werk Consolatio, dann Ad Att. 12,12,1; 12,23,1; Fam. 4,6. 12 Ambr. De obit. Sat. fr. 13 Dies ein Hinweis auf ihre jahrelang täglichen Gebete für eine Bekehrung ihres Sohnes zum Christentum; vgl. Conf. 5,9,16. 14 Conf. 9,12,29 ff. 15 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Petr. corresp. 70 und Studies 91.123. 172. 177. Angaben zu den Briefen Petrarcas findet man immer auch bei Dotti, Vita leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 13,2, an den Dichter Rinaldo von Verona1 Empfehlung eines jungen Mannes, den Petrarca dem Adressaten zur Unterweisung schickt. 1. Jener hat eine Zeit lang in Parma den Unterricht Gibertos genossen. 2. Petrarca kann seine Begabung nicht beurteilen. 4. Er hat ihn aber mit sich nach Avignon genommen. 6. Auch hat er vom Papst ein Kanonikat in Verona für ihn erlangt. 7. Ebenda möchte er ihm beim Adressaten eine Unterkunft sichern. An der Quelle der Sorgue, am 9. Juni (1352).

1. Wie eng der Jüngling, den ich zu Dir sende, mir durch sein Blut verwandt ist,2 brauche ich Dir nicht zu sagen; es sei denn, das unerwartet rasche Wachstum, wie es in seinem Alter oft eintritt, hindere Dich, Deinen Schüler wiederzuerkennen. Hast Du ihn erkannt, dann weisst Du auch, wie sehr er mir teuer ist oder wie sehr ich wünsche, dass er gut werde. Er hat, nachdem sein Schicksal ihn noch recht jung Deiner Schule entrissen hatte,3 einige Zeit bei Giberto von Parma, einem recht angesehenen Grammatiker,4 zugebracht. 2. Seine Veranlagung ist, wie ich vermute, nicht übel; doch beurteilen kann ich sie nicht; so sehr wird er durch meine Gegenwart oder durch das Bewusstsein seiner Unkenntnis verwirrt, dass er unter meinen Augen hartnäckiges Schweigen wahrt. Nur das Eine lässt er mich nicht bezweifeln: Niemand ist mir je begegnet, der vor Geschriebenem heftiger zurückschreckt; nichts hasst und fürchtet er ausser das Buch; es ist sein einziger Feind. 3. „Schlecht“, wirst Du sagen, „tönt Dein Anfang“. Schlecht, sage ich, aber richtig. Nicht ein Heldengedicht habe ich in Händen, und nicht einen hervorragenden Jüngling denke ich Dir zu schildern, sondern den unsern. In Parma und in Verona wurde er unterrichtet und dazwischen auch in Padua. Oft pflege ich ihn mit beissendem Scherz zu necken: „Schau zu, dass Du nicht etwa Deinen Nachbarn Vergil5 um seinen Ruhm bringst“. 4. Dann senkt er den Blick zu Boden und ist plötzlich von Röte übergossen. Wenigstens soviel kann er nicht verbergen. Die eine Hoffnung bleibt: Er wirkt überaus schüchtern und ist noch weich wie Wachs,6 geeignet, nach dem Gutdünken eines Lehrers in jede Form gegossen zu werden. Aber nebst allem anderen gereicht ihm zum Nachteil, dass er, kaum bis zur Pubertät gelangt, auf meine Veranlassung hin – was Dich wundern wird – aus dem Gymnasium7 von Parma entfernt wurde; er sollte mit mir an die Kurie reisen,8 die man die römische nennt. Dort hat er nun schon beinahe ein Jahr verloren. 5. Ein unersetzlicher Verlust, wie ich gestehe; und wenn da eine Schuld besteht, bin eben ich der Schuldige. Ich habe das gewollt; allerdings nicht, weil ich das von Horaz9 genannte Ziel verfolgt hätte: „…zuerst hat man Geld zu erwerben, Fähigkeit erst danach“…,

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sondern weil ich fürchtete, wenn mir irgend etwas Menschliches zustiesse, würde er, meines Schutzes beraubt, grausamer Armut verfallen. Diese ist eine Feindin der Studien und ein Hindernis für alle, die sich aufrichten wollen, und zwar nicht weniger als der übermässige Reichtum, sondern eher noch mehr. Denn die Bürde des Reichtums kann man abwerfen, sofern man will (wie viele hochberühmte Männer getan haben), während nicht in unserer Macht steht, die Last der Dürftigkeit abzuschütteln. 6. Und eben deshalb habe ich angeordnet, dass er mich begleite; er sollte zu jeder Stunde mir gegenwärtig sein, um mich an seinen Zustand zu erinnern und mich, selbst wenn er schweigt, durch seine blosse Nähe aus meiner Trägheit10 aufzurütteln. Unterstützt hat den menschlichen Plan die göttliche Güte, weshalb er als Kanoniker von Verona wohlhabend genug zu Dir zurückkehrt,11 dem er schon die Unterweisung seiner Kinderjahre verdankt. Nimm ihn auf, ich bitte Dich, in Deiner allbekannten Menschlichkeit; und wenn sich ein Weg zeigt, dann dringe darauf, dass er, wie spät aufbrechende Wanderer tun, den Verlust der Morgenfrühe mit der Eile des Nachmittags wettmache. 7. Was soll ich sonst noch sagen? Ich überlasse diesen Menschen Dir, damit Du ihn, wie ich hoffe, „als einen besseren mir wiedergebest,“ wie das Sokrates einst einem Aischines versprochen hatte.12 Und damit Du solches noch lieber gewährst, sage ich zu Dir, was einst Philippos13 zu Aristoteles sagte, nämlich wie sehr es mich freut, dass der junge Mann „zu Deiner Zeit geboren wurde“ und durch Dich etwas werden kann, sofern es dank menschlicher Hilfe überhaupt möglich ist. Und ich verhehle Dir nicht, dass ich – ängstlich mich um ihn sorgend und alles ringsum überprüfend – nichts höher veranschlage als Dich und Deine Fähigkeiten, und eben deswegen ihm eine Wohnstatt in Verona bestimmt habe, obwohl ich anders hätte tun können.14 Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue am 9. Juni (1352); in welcher Eile, verrät das Aussehen des Briefes.15

Anmerkungen 1 Der Adressat – Rinaldo Cavalchini da Villafranca – war Grammatiklehrer und Dichter in Verona und stand seit längerer Zeit in Kontakt mit Petrarca; vgl. M. Feo, La prima corrispondenza poetica fra Rinaldo da Villafranca e Francesco Petrarca, in: Quaderni petrarcheschi 1985. Weitere Literatur zu Rinaldo in DBI 22,644 ff. Metrische Briefe Petrarcas an diesen Freund findet man als Metr. 2,15 und 3,2 bei Schönberger lat. und dt. 203 ff. und 229 ff. Auch Sine nom. 11 richtet sich wohl an den selben Freund und steht lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 260 ff. 2 Giovanni war Petrarcas unehelicher Sohn. Zu seiner Person vgl. Arnaldo Foresti, Il figlio di Francesco Petrarca, in: Archivio storico per le province parmensi, N. S. 24, 1934, 363–390. – Luigi Muttoni, Giovanni di Francesco Petrarca, canonico a Verona, in: Italia medioevale e umanistica 1982, 381–388. Vgl. auch das Personenreg. mit dem Hinweis auf andere Stellen.

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Fam. 13,2

3 Petrarca hatte den Sohn 1348 wohl nicht zuletzt wegen der Pestgefahr von Verona mit sich nach Parma genommen. 4 An diesen Grammatiker hat Petrarca seines Sohnes wegen Fam. 7,17 geschrieben. 5 Als Nachbarn bezeichnete Petrarca den Vergil, wenn er und sein Sohn in der Nähe von Mantua weilten, denn bei Mantua war der römische Dichter geboren worden. 6 Vgl. Hor. Ars 163. 7 Parmensi etiam gimnasio ereptus steht im Lateinischen für Gibertos Lateinschule, wo Giovanni wohl auch wohnte. 8 Auf Verlangen des Papstes reiste Petrarca im Sommer 1351 nach Avignon zurück. 9 Epist. 1,1,53–54. 10 Tarditas gehört zu den Untugenden, deren sich Petrarca mehrfach bezichtigt; vgl. Fam. 9,15,2; 11,13,1 und 12,7,4. 11 Clemens VI. verlieh dem Jüngling ein Kanonikat in Verona am 20. März 1352. Vgl. oben Anm. 1 und Wilkins, Studies 103 und 127. 12 Vgl. Sen. De ben. 1,8,2. 13 Der König von Makedonien, der Aristoteles zum Lehrer seines Sohnes Alexander bestellte. 14 Ähnliche Empfehlungen an andere Lehrer finden sich in Fam. 7,17 und 13,3. 15 Vgl. den folgenden Brief. Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 91 und 127–128. 172. 177 und Petr. corresp. 70; zu allen Familiaren jeweils übrigens Dotti, Vita die Stellen gemäss seinem Indice dei luoghi.

Fam. 13,3, an Guglielmo da Pastrengo von Verona1 Zum selben Thema. Petrarca empfiehlt dem Adressaten einen Jüngling zur Erziehung. Am 9. Juni (1352).

Den vor Dir erscheinenden Jüngling übergebe ich zur Ausbildung seines Verstandes unserem Rinaldo,2 zur Formung seiner Sitten aber Dir, und ich handle so, obwohl jeder von Euch mit gutem Recht beide Fähigkeiten für sich beanspruchen kann. Ich hielt aber für gut, ihn solcherart unter zwei Freunde zu teilen. Bemühe Dich um ihn, ich bitte Dich. Findest Du eine gute Anlage vor, kräftige diese; wenn anders, pflanze ihm eine solche ein, um sie dann zu kräftigen, damit sie Dir zur Genugtuung sei, wenn Du sie als Deiner Hände Werk bezeichnest. Der weichen Brust wirst Du leicht, was immer Dir beliebt, einprägen. Sie lerne, Dich lieben, Dich verehren und schliesslich nach einem Ratschlag Vergils3: „…Dich von Kindheit auf recht bewundern“. Was weiter? Hast Du mich immer wie einen Bruder geschätzt, so halte diesen nun wie einen Sohn! Und lebe wohl! Am 9. Juni (1352).4

Anmerkungen 1 Genaue Angaben über Guglielmo unter diesem Namen in DBI 61, 18–21. Vgl. auch Fam. 9,15–16 und 22,11, dazu Metr. 3,3; 3,11; 3,12; 3,20 und 32,34 bei Schönberger, sowie die an ihn gerichteten Variae 13.30 und 35. 2 Vgl. den vorangehenden Brief. Petrarcas Freund Nelli äusserte mehrfach ein freundliches Wort über Giovanni Petrarca, den er in Avignon traf, so z. B. in Epist. 18 und 19 bei Cochin 244 und 250. 3 Aen. 8,517. 4 Jahreszahl wie beim vorangehenden Brief. Vgl. Wilkins, Studies 127–128. 172. 177 f.

Fam. 13,4, an den päpstlichen Protonotar Francesco il Calvo von Neapel1 Über das Leben der Vielbeschäftigten. 1. Petrarca bemitleidet den Adressaten. 2. Das Leben der Hochgestellten ist ehrenvoll, aber ruhelos. 9. Für ihre Mühen dankt man ihnen mit noch grösseren Mühen. 10. Dass Tüchtigkeit und Ruhm nur gegen grossen Einsatz zu haben sind, lässt sich mit Beispielen belegen. 19. Petrarca wünscht jedoch nicht den Verzicht auf das Streben nach Ruhm. 20. Er ermuntert bloss zum Masshalten und schildert das ideale, vernünftige Leben eines Bildungsbeflissenen. 27. Dass er hierüber schreiben könnte, ist ihm aus guten Gründen gerade an der Quelle der Sorgue eingefallen. An der Quelle der Sorgue, am 10. Juni (1352).

1. Die grössere Kühnheit überdecke die geringere, ja entschuldige sie. Du wirst es mit Gleichmut ertragen, hochansehnlicher Herr, wenn ich Dir nun ausspreche, was ich früher dem weit grössten der Menschen2 gegenüber nicht ohne dessen Zustimmung gesagt zu haben mich erinnere. Während Dich nämlich beinahe alle beneiden, empfinde ich Mitleid mit Dir, und wenn mir bisher öfters einfiel, ich sollte es Dir sagen, so eben heute besonders. Denn indem ich – wie gewohnt – selbst als Abwesender bei Dir war, schwoll beim Gedanken an Deine Beschäftigungen das Wohlbehagen meines Einsiedlerlebens so mächtig an, dass meine Hand – mir fast unbewusst – von sich aus zur Feder griff. 2. Ich bin nicht so ganz ungebildet und bäurisch, dass ich unfähig wäre, zwischen einem Angesehenen und einem Unbedeutenden oder zwischen einem Grossen und einem Geringen zu unterscheiden, und trotzdem halte ich Deine Stellung nicht allein für ehrenvoll und glänzend, sondern auch für ruhelos und aufreibend. Fast nichts von allem, was Dein Eigen zu sein scheint, ist Dein. Und was unersetzlicher Verlust ist: Nicht einmal die Zeit gehört Dir, weil sie, freilich nicht aus Sorglosigkeit vertan, aber – um mit Seneca3 zu sprechen – Dir entwendet oder gar entrissen und fremden Vorteilen geopfert wird. 3. Kein Tag wird Dir, keine Nacht Dir überlassen, nie wirst Du einen stillen Winkel aufspüren können. Deine Gärten, Dir zur Zuflucht und zur Erquickung nach der Arbeit erworben, überschütten Dich bereits mit viel mehr Arbeit als mit Kräutern und Blumen, mit viel mehr Mühen als mit Blättern. Schlafgemach und Bett, zur Erholung nach menschlicher Erschöpfung erfunden,4 widerhallen immerfort vom Stimmengewirr der lästigsten Individuen, und aufgestört wirst Du tausendmal. Doch schlimmer als alles ist dies: Du magst noch so lange und tüchtig geschwitzt haben: Es bleibt, was Du begonnen, unfertig liegen oder es tauchen gleich andere Aufgaben auf, so dass Du unter den Mühen kein Ende und unter den Stürmen keinen Hafen in Sicht hast. 4. Schwing Dich auf den Rücken eines trabenden Pferdes: Die nacheilende Sorge hat mit ihren Krallen sich eingehakt.5 Flieh auf ein Schiff: Auf dem selben Steg klettert

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die Unruhe mit Dir hinauf. Hast Du schliesslich ein Meer überquert, findest Du jenseits wieder Dich selber und merkst, wie Flaccus6 richtig gesagt hat: Den Ort hast Du geändert, nicht aber Deine Person. Daher also stammt mein ungewöhnliches Mitleid mit Deinem Glück. Denn wer wollte dieses Leben ein wahrhaft glückliches heissen? Wer wird es nicht eher als ein trauriges Schicksal bezeichnen, weil es, wiewohl mit Annehmlichkeiten angehäuft, doch voll ist von Anstrengung, leer an Ruhe, auf andere gerichtet und seiner selbst vergessend? 5. Für Geschäftige ist das ganze Leben ein Krieg ohne Waffenstillstand. Den Seelenfrieden entbehren sie, und scheinen sie ruhig zu sein, brodelt es in ihrem Innern. Schleicht sich der Schlummer heran, bleibt dennoch hellwach der Verstand. Auf die geschlossenen Augen stürmen Bilder Deiner Pflichten ein, und Deine Ruhe zerflattert in Träumen. Ein unentwirrbares Geflecht fangen sie im Wachen an und weben sie im Schlafen weiter. Wie oft sie aber vielerlei beginnen und immerfort mit sich schleppen: Sie beenden es im Wachen nie und niemals im Schlafen. Des Sisyphos7 Stein, der stets zurückfallen will, rollen sie vor sich her, auf dem Radwerk des Ixion8 werden sie umgewälzt, gegen die Hydra9 teilen sie Streiche aus, und meint man, sie verende, ersteht sie, Köpfe erzeugend, von neuem. 6. Inzwischen verfliegen die Jahre, entgleitet die liebliche Jugend, beschleunigt das Alter seine Schritte; dieses verkürzt der Tod oder folgt ihm nach. Was tun sie nun in ihrer Angst? Wohin sollen sie sich wenden? Mit welchen Künsten sich behelfen? Sie spüren, dass alles von Tag zu Tag schwindet und dass sie mit aller Welt auch selber vergehen. Einzig ihre drückende Last ist ewig und vergrössert sich unter ihren Händen gar täglich, und nutzlos suchen sie nach Feile und Messer; denn hart ist sie wie Stahl. 7. Vieles zusammenhäufend vergeuden die Beschäftigten ihre Zeit, und während man meint, sie erledigten alles, unterlassen sie immerfort das Eine und Beste, nämlich zu leben. Überall sind sie, nur nicht bei sich. Sie sprechen oft mit andern, und niemals zu sich. Dem Glück widersetzt sich, was die Menge ein Glück nennt, und dies um so stärker, je schwächer die Hoffnung auf eine Beendigung der Mühen ist. Wie nämlich die Kürze einer Notlage ihre Widrigkeit erleichtert, so entmutigt und bezwingt die Endlosigkeit eines Übels selbst Tapfere. 8. Es bemüht sich der Heerführer, es bemüht sich der Soldat; doch der eine zielt auf Sieg und Triumph, der andere hofft auf verdienten Sold, auf die Heimkehr zu den Penaten10 und auf Ruhe. Es bemüht sich der Landmann, denkt jedoch an den Winter, an die Festtage und seine Freude über volle Scheunen. Hart müht sich der Schiffer, hart der rastlose Reisende; doch das lockende Ende des Weges hindert beide, die Last des Augenblicks zu spüren. Hart arbeitet auch der Goldgräber; doch in den schwarzen und schrecklichen Höhlen vermag er seine kurze Beschwerde in der Hoffnung auf grossen Gewinn zu dämpfen, und das verhasste Dunkel mit der Vorfreude auf das liebe Licht zu erhellen.

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9. Du aber, ich bitte, hoffst worauf? Je mehr Du geleistet hast, mit um so mehr wirst Du belastet, und gleich unterwirfst Du Dich einem um so härteren Joch. Wahrhaftig eine schwere Lage ist das, wenn der Nachlässigkeit Unehre und der Emsigkeit Lohn in der Knechtschaft bestehen! Ungerecht ist das und keineswegs neu, am wenigsten für jene, deren Leben nicht vom eigenen Willen, sondern vom Befehl ihrer Fürsten oder ihres Gemeinwesens abhängt. Vielen aber schadet ihr eigener Eifer. Er schadet, sage ich, freilich nicht ihrem Ruhm, aber der Musse und Ruhe, das heisst, er schadet einem höchsten und für alle Gebildeten unschätzbaren Wohlbehagen. 10. Zur Ruhe gelangt wäre der Alkide,11 hätte er bei seinem unbändigen Mannesmut12 sich mit seinen zwölf Aufgaben begnügt und sich nicht, wie man berichtet, bei noch tausend anderen ertüchtigt. Zur Ruhe wäre Odysseus gelangt, hätte ihn seine unerfüllbare Sehnsucht nach allumfassender Kenntnis nicht zu allen Küsten und Ländern fortgerissen. Ein unermüdlicher Mannesmut ist das, was ihre Eigentümer nicht ruhen lässt, ein ermüdender, sage ich, doch auch ein ruhmreicher, herrlicher, welcher wie Mühe so Liebe und Bewunderung erzeugen kann. 11. Dieser hat Odysseus, wenn das Gerede nicht lügt, aus dem Versteck seiner vorgetäuschten Raserei, und hat Achilles aus dem seiner heimlichen Liebe hinaus gezerrt und bis nach Troia geführt.13 Nichts nützte dem einen die eigene Schlauheit, nichts dem andern die List seiner Mutter. Mannesmut, den langen Überlegungen feind, durchbricht alle Verstellung. Es können hervorragende Männer sich nicht leichter verstecken als hochragende Berge. Wer ein einzigartiges Naturgeschenk zu eigen hat, führt ein Leben ständiger Anstrengungen, und ist er geräuschvollen Geschäften entronnen, verfolgen sie ihn selbst bis mitten in seine Abgeschiedenheit. 12. Nicht aus Kleinem ergibt sich Grosses. Wer immer durch die Schönheit des Mannesmuts verlockt wird und eine Hausgemeinschaft mit ihm begehrt, muss wissen, dass er das Grösste verlangt, das nicht billig zu haben ist, sondern als Preis den ganzen Menschen erfordert. Damit Du aus Vorbildern recht grosse Freude gewinnen könnest, lege ich Dir besonders gesicherte und solche aus unserer eigenen Reihe vor:14 Fabricius15 hätte in seinem Hause, wie eng es auch war, Curius in seinem, mit eigener Hand gepflegten Gärtlein, Serranus Quinctius Atilius16 auf seinem ihm gehörenden Äckerlein altern können, und es hätte auch Camillus im Frieden dahinzuleben vermocht, ohne sich mit herrlichem Ruhm den Neid der Bürger und die Verbannung zuzuziehen, wäre da nicht der hoch angesehene Mannesmut gewesen, welcher die genannten für den Streit gegen Pyrrhos, Samniter, Karthager, Gallier und gegen die von überall hereinstürzende Masse von Kriegen als Heerführer aufstellte, damit sie – weil der Republik verpflichtet und notwendig – ihre ganze Lebenszeit in Waffen zu verbringen gezwungen seien. 13. Auch die Scipionen hätten in Rom sehr angenehm und brüderlich verweilen und dann in ihren Grabmä-

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lern ihre Ruhe finden können;17 doch all ihr Eifern für Mannesmut hat ihnen acht glorreiche Jahre glanzvoller Taten in Spanien beschieden und sie nachher als Kriegsgefallene mit fremder Erde überschüttet. Was soll ich insbesondere von den beiden „Afrikanern“18 sagen? Der erste von ihnen hat, als in Italien kaum einer seines Lebens sicher war, nach Afrika überzusetzen sich nicht gescheut und ist nach der Niederlage der im Vaterland Verbliebenen als glorreicher Sieger aus dem feindlichen Lande heimgekehrt. Der spätere der beiden hat in Afrika und in Spanien zwei, dem römischen Reich ungemein feindliche Städte, wie Cicero19 sagt, nämlich Karthago und Numantia, dem Erdboden gleich gemacht, nachdem er weit und breit herum geschweift und mit grossem Ruhm viele Provinzen bereist hatte. 14. Wer verbot einem Marius in Ruhe zu leben, wenn nicht der Mannesmut und Ruhm? Eben sie verhinderten das, weil nach dem Wort eines angesehenen Historikers20 die Hoffnung und Rettung der Stadt Rom einzig in diesem Mann begründet lag. Sein glanzvoller Ruf stellte ihn den Afrikanern, Teutonen und Kimbern entgegen, und deshalb siehst Du ihn einmal gefangene Könige aus dem Süden wegführen, einmal einen unglaublichen Haufen Gefangener aus dem Norden vor seinem Triumphwagen her treiben, dann, obwohl siegreich, im Kerker liegen und in Sümpfen sich verstecken. Kaum wirst Du, ohne zu ermatten, auch nur anhören, was er an Mühen mit unermüdlicher Tapferkeit ausgehalten hat. 15. Wie aber steht es um Cato? War ihm nicht möglich, sein eigenes Haus zu pflegen? Er zog es vor, in dürren Wüsten umherzuwandern und sein Leben den Schlangen Libyens auszusetzen, so sehr war er von Mannesmut und Liebe zur Freiheit begeistert; viel zu eng war ihm sein Haus. Und wie steht es um Pompeius, gross nach Tat und Namen? Hat er nicht seine ausgedehnten und reich ausgestatteten Wohnsitze und dazu seine Heimat, in welcher er Princeps war, verlassen, ist auf dem ganzen Erdenrund siegreich umhergezogen und hat auf Ruhe verzichtet, um Ruhm zu erwerben? Was ist mit Iulius Caesar und Augustus? Was mit Vespasian und Titus? Was mit Traian und unzähligen andern, von denen ich schweige, um dem unendlichen Stoff nicht zu erliegen? Eher nähme der Tag ein Ende als die Reihe unserer Exempel. 16. Doch wiederum wollen wir den fremdländischen Beispielen Platz einräumen. Berühmt war bei den Karthagern der Bürger Hannibal, und um noch berühmter zu werden, zog er über das Meer, durchquerte Spanien, Gallien, Italien, und als er die Höhen der Pyrenäen im Rücken hatte, durchbrach er mit Feuer, Essig und Eisen die Alpen,21 überstieg nach Überwindung der Ströme Ebro, Rhone und Po auch das Joch des Apennin, worauf er sogar vor den Stadtmauern Roms als grauenerregender Sieger erschien. 17. Was verharre ich bei Einzelheiten? Oftmals Sieger und endlich besiegt, gab er dennoch die Hoffnung nicht auf, erneuerte den Krieg mit fremden Streitkräften und durchquerte nach eigenem Plan Syrien und Bithynien. Sein Ende gehörte dem Schicksal, doch der feurige Geist blieb zweifellos sein Eigentum. Und gefragt wird hier nicht nach dem Mass seines Rechtsinns, son-

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dern bewiesen wird, wie ich meine, das von mir Behauptete: dass nämlich seine bestimmte, die Mitbürger überragende Stellung ihm eine Ursache für viele Grosstaten und Gefährnisse war. 18. Wie aber steht es um den tüchtigsten Helden der Spartaner Leonidas?22 Wie um den Thebaner Epameinondas,23 diesen Ruhm seines Vaterlandes? Wie um den Achaier Philopoimen,24 einen der besten Heerführer? Wie um den kekropischen Themistokles,25 der als der berühmteste Mann in Griechenland gilt?26 Was hat diesen allen ein beschwerliches und sorgenvolles Leben beschieden, wenn nicht der Mannesmut? Dasselbe gilt von Pyrrhos, dem König der Epiroten, von Alexandros, dem König der Makedonier, von Masinissa, dem König der Numidier, von Kyros, dem König der Perser und auch von vielen andern. Doch genug von dieser Art Exempel!27 19. Es hätte ein Pythagoras in Samos, ein Demokrit in Abdera, in Athen ein Platon und in Rom ein Varro verbleiben können, wäre nicht eine unstillbare Lernbegier mächtig genug gewesen, sie über alle Weltgegenden zu treiben. Es hätte Plinius in Verona28 und Vergil in Mantua sterben können; doch den einen hat die Lust am Forschen in der Asche Deines Vesuvs begraben; den andern, von den Stacheln des Ruhmes gereizten,29 hat der Tod, wie alle edlen Menschen beklagen, vorzeitig weggerafft, und seine Asche, von Tarent oder Brindisi geraubt, besitzt jetzt Dein wie sein Parthenope.30 Erwartest Du zu hören, was diese Fülle von Beispielen bezwecke? Werde ich etwa verlangen, Du möchtest träge werden, um bequem zu leben? Gewiss nicht! Begehrenswerter ist eine Mühe mit Ruhm, und auch der Tod mit Ruhm ist begehrenswerter als ein ruhmloses Leben. Ich habe nur die Absicht zu zeigen, dass die Ehre niemals kostenlos zu haben sei, vielmehr müsse man sie mit vielen Anstrengungen sowohl suchen wie bewahren. 20. Jene scheinen mir immerhin ein beinah glücklicheres Leben zu führen, die bei irgendeinem edlen Studium eine nur massvolle Arbeit mit einem nüchternen Lebensgenuss verbinden, dabei den Tag so verbringen, dass sie aus ihrem Verhalten einen rechtzeitigen und angenehmen, wenn auch kurz bemessenen Schlaf gewinnen, sich so beschäftigen, dass sie eine notwendige Erholung nicht ausschliessen, zwar einsam leben, es jedoch verstehen, wenn die Sache es verlangt, unter Menschen zu verweilen, wobei sie immerhin, wenn sie wählen können, die Einsamkeit der Gesellschaft und das Land den Städten vorziehen und sich am Laub des Waldes und an grünenden Wiesen nicht weniger freuen als an goldverzierten und marmorgeschmückten Palästen. 21. Sie zielen nach Hohem und streben nach Ruhm, ohne jemandem lästig zu fallen; sie freuen sich dabei weniger, ihn zu erlangen, als ihn zu verdienen, sind auch stets bereit, ihn ganz gleichmütig zu entbehren, solange sie nicht annehmen müssen, dass sich daraus eine nachteilige Entwicklung ergebe. Mögen sie zuweilen vom Wunsch nach Ansehen und nach einer Bestätigung durch Nachkommen berührt werden, sehen sie doch ein, dass es ihnen nichts anhaben

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kann, wenn die Späteren ihre Leistungen verschweigen, wie sie die früheren verschwiegen haben, obwohl diese, wie Cicero31 meint, nicht weniger zahlreich, dabei fraglos tüchtiger waren. 22. Sie überlassen unnötigen Putz den Frauen, ergötzen sich an Ehrenvollem und Männlichem; auch gilt ihnen nicht für schimpflich, im Schatten eines Baumes oder am Ufer eines Flusses zu schlafen. Heiter vermögen sie einen guten Teil des Tages auf grasreichen Hügeln zu verbringen, das Mittagessen auf den Abend zu verschieben und das Abendessen zu vergessen, die Nacht, wenn es sich gibt, schlaflos und mit Vergnügen unter Büchern zu durchwachen; tropfende Höhlen nicht weniger als Schlafgemächer von Ebenholz und Elfenbein, ein Blumenbeet nicht weniger als eine Lagerstatt aus Purpur zu lieben.32 23. Sie schätzen eine natürliche Armut; und Reichtum ist ihnen weniger verhasst als verächtlich, während Gold sie nicht abschreckt und nicht beeindruckt. Tafelbilder, Statuen, korinthische Gefässe, Gewänder aus Kos, Edelsteine, sidonische Stoffe betrachten sie nicht als einen Schmuck ihrer Besitzer, sondern als Naturwunder oder Kunstwerk, und gebrauchen oder entbehren sie mit Gleichmut. 24. Wie einst bei unseren Vorfahren, bei diesen besten und wahren Männern Brauch war, bezeichnen sie als den unnützesten unter den Dienern den Koch;33 und den Gaumen und den Bauch wagen sie mit langem Fasten wie halsstarrige und faule Knechte zu bändigen. Hartes und grobes Brot aus aller Art Getreide haben sie zum täglichen gemacht; ein Schluck aus reiner Quelle ist ihnen nicht schrecklich, und Feldfrüchte, Gaben der Mutter Erde, ohne Zutun gewachsen, Kräuter, Beeren an Sträuchern und Obst von Bäumen erzeugen ihnen nicht Unlust. Sie können zeitweise leben, ohne Tieren ans Leben zu gehen, und zur Heilung eines trägen und krankenden Bauches bedürfen sie nicht einer Menge ausgesuchter Leckereien, sondern der Enthaltsamkeit, des Hungers und der körperlichen Betätigung. Schliesslich haben sie gelernt, dem Leib nicht zu dienen, sondern Gesetze zu geben und zu befehlen. 25. Dieser Schar mich zuzuzählen, wage ich nicht. Doch bemühe ich mich darum, und um ein weniges bin ich wohl vorwärtsgekommen. Um anderes zu übergehen, leugne ich nicht, dass ich von Natur aus im höchsten Masse ruhmsüchtig bin,34 doch habe ich mich mit Fleiss so weit erzogen, dass ich nach Ruhm zwar ausgreife, wenn er da ist, aber wenn er mangelt, ohne Trauer auf ihn verzichte, zwar bereit, meinen Namen mit der Gunst des Schicksals weit herum bekannt zu machen, aber auch bereit, ganz unbekannt in der Enge eines kleinen Landgutes zu weilen. Bin ich von Natur ein Demosthenes, will ich mit Hilfe der Nachahmung ein Demokritos werden. Der eine verzehrte sich, so lesen wir, im Verlangen nach Berühmtheit, und der andere war ihr Verächter. 26. Damit jedoch die Schaffenskraft nicht gar im Stillstand erlahme, übe ich inzwischen die Augen im Lesen, die Finger im Schreiben und fessle den Geist ans Denken. Am Ende versuche ich nach Kräften mein Ziel zu erreichen, doch so, dass ich bei einem anderen Ausgang für besser halte, dass es misslungen ist.

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So also ist mein Leben, und dieses glaubte ich Dir zur Beurteilung schildern zu dürfen, weil im Augenblick nichts anderes vorliegt, was ich schriftlich festhalten könnte. 27. Der Zufall wollte es, dass ich spät abends allein bei den Quellen in mancherlei Überlegungen stehen blieb und mit meinem Ohr jenes unendliche Schallen in mich einsog, unter welchem die Sorgue, aus ihren Kerkern befreit, gegen die ringsum ragenden Felsklüfte aufspringt. Da geschah es, dass mir plötzlich jenes andere Lärmen in den Sinn kam, das ohne Unterlass von überall her in Deine Ohren gellt. Da habe ich denn zu mir gesagt: Sieh, damit hast Du, wovon Du jenem vortrefflichen Menschen schreiben kannst. Hat er es gelesen, kann er so, wie Du seine prunkende Knechtschaft bedauerst, an der Freiheit Deines Einsiedlertums sich erfreuen. 28. Und zum Schluss noch dies: Wenn Deine Augen, gewöhnt an kunstvolle Schriftzüge, durch eine ungepflegte Schreibweise gekränkt werden, so hast Du meinem wackeligen Felsensitz, meiner eingetrockneten Tinte, dem Papier aus Sumpfpflanzen und dem Hirtenrohr die Schuld zuzuweisen. Lass hingegen mich entschuldigt sein und meinen Finger Gnade finden bei Deiner städtischen Vornehmheit! Lebe wohl und bleibe gesund! An der Quelle der Sorgue, am 10. Juni (1352).35

Anmerkungen 1 Francesco il Calvo („der Kahlköpfige“) von Neapel war päpstlicher Sekretär seit einer Zeit, da Petrarca sie ein erstes Mal ausschlug. Er gehörte zum engeren Bekanntenkreis Petrarcas in Avignon. Einen anderen Brief an ihn hat Petrarca nicht aufbewahrt, doch in Fam. 20,14,15 wird Calvo nochmals genannt und knapp charakterisiert, und zwar als Inhaber der dem Dichter einst zugedachten Stelle. Vgl. Fam. 13,5 und Wilkins, Studies 66 f. 128.172.177 f., auch Überblick. 2 Lateinisch: longe hominum maximo; es kann hier nur der Papst gemeint sein. 3 Sen. Ad Lucil. 1,1. 4 Vgl. Fam. 8,9,13. 5 Hor. Carm. 3,1,40; Sat. 2,7,115. 6 Hor. Epist. 1,11,27. 7 Sisyphos, König von Ephyra, die berühmte Sagengestalt, die zur Strafe im Jenseits ewig einen Felsblock einen Abhang hinauf wälzt und ewig wieder hinunterkollern sieht. 8 Ixion, König der Lapithen, ewig unersättlich in seinen Begehren; der seinen Frevel gegenüber Zeus auf einem feurigen Rad büsst, das ihn ewig durch die Lüfte dreht. 9 Wasserschlange mit 7 (oder mehr) Köpfen, lässt einen neuen nachwachsen, wenn einer abgeschlagen wird. Herkules überwältigte sie. 10 Das heisst: zu seinen Hausgöttern, oder einfach: nach Hause. 11 Alkeides ist eine Bezeichnung für Herkules, da man ihn für einen Enkel des Alkaios hielt. 12 Im Lateinischen wird nun mehrmals das Wort virtus wiederholt; man könnte oder sollte es vielleicht verschieden übersetzen, so mit Tatkraft, Mannesmut, hoher Gesinnung etc. Aber das immer selbe Wort hält den Gedankengang besser zusammen.

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13 Odysseus soll sich gegenüber Menelaos und Agamemnon wahnsinnig gestellt haben, als sie ihn für den Krieg gegen Troia zu gewinnen suchten. Achilles wurde von seiner Mutter als Mädchen verkleidet und bei Lykomedes versteckt, damit er der Teilnahme am Krieg entgehe. 14 Auf griechische Vorbilder sollen römische folgen. Weiter unten kehrt Petrarca zu griechischen zurück. 15 Vgl. zu den folgenden, schon oft genannten Namen das Personenreg. in Bd. 1. 16 Gemeint ist At(t)ilius Regulus Serranus, Gaius. 17 Diese Brüder, Gnaeus Cornelius und Publius Cornelius, sind nicht zu verwechseln mit den „Afrikanern“. Die beiden besiegen 215 Hasdrubal, Sohn Hamilkars, am Ebro; 212 nehmen sie Sagunt ein. Berühmt war das Familiengrab der Scipionen an der Via Appia. 18 Gemeint sind Scipio Africanus Maior und Scipio Africanus Minor. 19 Manil. 20,60. 20 Sall. Iug. 114,4; vgl. Personenreg. in Bd. 1. 21 Zu Hannibals Alpenüberquerung vgl. Liv. 21,32 ff.; zur Zersetzung des Gesteins mit Feuer und Essig; vgl. auch Liv. 21,37. 22 Der berühmte spartanische König, 488–480, todesmutiger Anführer im Kampf gegen die Perser bei den Thermopylen 480. 23 Thebanischer Feldherr, berühmt für seine Schlachtordnung; führte die Thebaner im Kampf gegen die Spartaner, vertrieb diese in der Schlacht von Leukra 371 aus Böotien und fiel 362 in der siegreichen Schlacht von Manteneia. 24 Philopoimen war Feldherr und Staatsmann (* 253); er setzte sich für die Einigung der Peloponnes im achäischen Bund ein, wehrte sich gegen eine Abhängigkeit von Rom durch Neutralität im 2. Makedonischen Krieg 200–197, dann durch Anlehnung an Ägypten, wurde 183 auf einem Heereszug gefangen und vergiftet. Vgl. Liv. 39,50,10–11. 25 Kekrops: Schutzgeist der Königsburg auf der Akropolis Athens. 26 Cic. Lael. 12,42; vgl. Fam. 4,2,7. 27 Unter den Beispielen folgen nach den Feldherren die Philosophen. 28 Petrarca meinte offenbar, dass Plinius aus Verona stammte; vgl. Fam. 12,5,7. 29 Vergil war 19 v. Chr. im Begriff, nach Griechenland zu reisen, als ihn in Brindisi der Tod ereilte. 30 Das sind die Orte mit den Grabstätten von Plinius bez. Vergil. Parthenope steht für Neapel. Vergil selber erhielt den Namen Parthenias, dies jedoch im Hinblick auf seine Schamhaftigkeit. 31 Cic. Rep. 6,21,23; Somn. Scip. 7,17. 32 Mit dieser Schilderung schwärmt Petrarca für seine eigene Lebensführung. 33 Vgl. Fam. 8,4,1. 34 Ruhmsucht ist ein Hauptthema im Secretum Buch 3. 35 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 91 und 172. 177 und Petr. corresp. 70.

Fam. 13,5, an Francesco Nelli, Vorsteher der Kirche der Heiligen Apostel1 Von den Erfolgen an der römischen Kurie und von den drei Stilen. 1. Petrarca ist einem Ruf nach Avignon gefolgt. 3. Besser war es, zu gehen, als sich schleppen zu lassen. 5. Er fasst die Rede seiner Selbstverteidigung zusammen. 6. In der Jugend war er wegen seiner und mancher Freunde Armut auf kirchliche Ämter angewiesen, jetzt ist er es nicht mehr. 9. Noch im Alter nach Reichtum verlangen, ist lächerlich. 11. Seiner Verschwiegenheit wegen will man ihn zum päpstlichen Sekretär machen. 12. Seinen Schreibstil soll er jedoch ändern. 16. Es gibt drei Stilarten. 19. Petrarca stellt Anforderungen an den eigenen Stil und an die Aufmerksamkeit der Leser. Am 9. August (1352).

1. Zum Weinen und zum Lachen ist, was Du hören sollst. Man rief mich an die Kurie, und ich kam an diese Kurie, die von Rom nichts als den Namen behält, und ich kam in völliger Unkenntnis dessen, was man ebenda mit mir vorhabe, und wäre, will man mir glauben, in Kenntnis der Sache nie gegangen. „Was denn,“ so wirst Du fragen, „hat Dich dazu bewogen?“ Wahrhaftig nichts anderes als die Freundesliebe,2 denn, was mich betrifft, habe ich vor langem einem Grossteil der Begehrlichkeiten ein Ende gesetzt. 2. Daher bin ich schon eher damit beschäftigt, das Raubgut Fortunas abzuwerfen und auszuteilen als aufzuhäufen,3 und so habe ich denn mit der Kurie schon rein nichts mehr gemein. Niemals stimmten unsere Sitten überein, und war mir etwas an Begehrlichkeit eigen, ist es verflogen. Sie freilich hält uns, wofern unsre Hoffnung ihr beisteht, oft selbst an verhassten Orten zurück. Hoffnung und Begehrlichkeit stellen zusammen die Kette her, mit der die menschliche Seele gefesselt und dem Machtbereich der Vernunft entrissen wird, worauf sie dann viel Hartes und Unwürdiges leiden muss. 3. Ich kam also sonder Begierde und ohne irgendwelche Hoffnung, aber gezogen von der Caritas, wie ich sagte. Ich kam in Kenntnis des Ortes, in Unkenntnis der Sache, jedoch nicht ohne Gedanken an das Wort des Annaeus:4 „Schimpflich ist, statt zu gehen, sich schleppen zu lassen und mitten unter verworrenen Umständen sich zu verwundern: Wie bin ich denn hierher gekommen?“ Daran also erinnerte ich mich genau, und unter der Zurüstung zur Reise fiel mir nichts anderes häufiger ein. 4. Doch was konnte ich tun? Jene beiden Kirchenfürsten, welche die Herde des Herrn wie zwei ringsum herrschende „kraftstrotzende Stiere“5 auf den Weiden Christi nun hat, sie riefen mich um die Wette, und dabei hatte mich der eine vor langer Zeit mit Benefizien, der andere mich als einen ihm Unbekannten – und einzig auf das Zeugnis meines Rufes vertrauend – mit unerwarteter, neuer Wohltat verpflichtet.6 Als Hochmut hätte gegolten, die Rufe solcher Männer zu überhören, vor denen Könige und Fürsten sich neigen, und dies erst recht, da es hiess, in ihnen ertöne die Autorität des höchsten Hirten.7 Und dennoch: Wäre ich

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bereits, was ich werden möchte und erstrebe und – um die Wahrheit zu sagen – noch immer erhoffe, hätte ich all das verachten müssen, um mir wenigstens die Seelenruhe zu erhalten. 5. Du wirst dennoch nicht hören, was hätte geschehen sollen, sondern was geschah. Und das war? Die ganze Szenerie der Machenschaften zeigte sich mir gleich bei der Ankunft unverhüllt. Wollte ich alle Arten von Umwegen aufzählen, derentwegen – zu meiner Entrüstung und unter dem Seufzen meiner Freunde – mir eben da, wo ich durchaus nicht wollte, ein ganzes Jahr verstrich, so würde die Geschichte lang. Denn alle mühten sich mit grösstem Aufwand, mich zwar reich, aber geschäftig und betriebsam, nein vielmehr arm, elend und unglücklich zu machen, während ich, ganz auf mich allein gestellt, heftig widersprach und ausschlug gegen das goldene Joch wie gegen eines aus Holz oder Blei. 6. Bei Gott und den Menschen beteuerte ich, dass man mir meine Freiheit und Musse raube, obwohl das Verlangen nach diesen beiden mir unter allem, was die Natur mir schenkte, das Beste sei, und obwohl nach deren Gewinn auch das Los mir nichts Erfreulicheres zugeteilt habe. Ich sagte weiter, dass man mir gewaltsam mein Glück und alle Annehmlichkeit des Lebens und das Bisschen Schriftstellerei entwinde, wo ich doch ohne solche, wie immer sie sei, kaum leben zu können fürchtete; dass ich übrigens schon in der Jugend ein Verächter des Goldes gewesen, obwohl ich damals wenig besessen und auf vieles für lange Zeit hätte verzichten können, sofern in der Enge des sterblichen Lebens etwas für lang gelten dürfe; 7. dass mir ein Hunger nach Gold für die Zukunft durchaus grässlich erscheine, weil ich jetzt vieles besässe und ein Alter erreicht hätte, das die Leidenschaften zu beschwichtigen und zu milderen pflege, während die Begehrlichkeit eben dann um so schmählicher werde, wenn die Dürftigkeit schon geringer und kürzer sein könne; man müsse sich die Wegzehrung wünschen, die der Länge der Reise entspreche;8 ich aber hätte schon die Mittagszeit und die rauheren Wegstrecken im Rücken und darum nicht weniger die Unterkunft als die Weiterreise zu bedenken. 8. Überdies sei zu beachten, dass ich einst mehrere und recht bedürftige Freunde gehabt, denn die Liebe zu ihnen habe ein Verlangen nach Besitz und Erwerb wohl zu entschuldigen vermocht;9 vor allem habe ein Bruder damals vieles benötigt, der jetzt aber durchaus nichts mehr vermisse, weil er um Christi willen längst alles geringschätze.10 Den Bedürfnissen der Meinen habe also teils der Tod, teils ein recht gütiges Geschick und teils ein genügsames Ordensleben abgeholfen. Wenn ich – nun beinah vereinsamt, in den Tagen weit fortgeschritten und reichlich begütert – anfangen wollte zu verlangen, was ich als geselliger junger und ärmlicher Mann nicht verlangt hätte, so müsste ich das für schlecht und für meiner unwürdig ansehen; ich besässe nun an Habe genug; doch sie werde mir mangeln, sobald ich der Begehrlichkeit Zutritt gewährte. 9. Entbehrungen und schwer drückende Sorgen pflegten ja samt dem Reichtum heranzuschleichen. Schliesslich verlegte ich

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mich aufs Bitten und Beschwören, man möge doch dulden, dass ich meinen Lebensweg, so wie ich ihn begonnen, nach meiner Weise zu Ende ginge; man möge meinen schon ermüdeten, nach dem Ziel ausschreitenden Füssen keine Hindernisse bereiten, mir vielmehr Kummer ersparen, ja Schande ersparen, damit ich nicht gezwungen sei, wegen einer unguten Wandlung meines Bemühens ein Schauspiel seniler Habgier zu werden; es dürften eben jene, in deren Begleitung ich eine heitere und freie Jugend verlebte,11 nicht als Autoritäten mich zwingen, in ein trauriges, dienstpflichtiges Alter zu treten. 10. Sinnlos sei es, unnötige Mühen samt den Ursachen der Mühen mit so viel Aufwand zu fordern; schon stehe vor ihrer und meiner Türe die Ruhe. Und eben der Tag, für den sie so gewaltig sich abmühten, sei vielleicht der letzte, sicher dem letzten nicht fern. Jene Stunde eile herbei, die den Sorgen und eitlen Wünschen der Menschen das Ende aufdränge. 11. Solcherart habe ich mich verteidigt, oft entrüstet, oft aber flehentlich und beinah unter Tränen. Entgegen standen mir die Scharen hartnäckiger Freunde, aber auch Ratschläge und Bitten vieler anderer und die – stets an der Oberfläche haftende – Auffassung der grossen Menge. Indessen gelangte ich bis zu den Füssen dessen, der mit seinem Finger den Himmel auftut und mit seiner Kopfzier den Sternen gebietet.12 Er zeigte sich über meine Ankunft erfreut, sagte aber manches, was mir deutlich machte, dass er nicht meine Unabhängigkeit, sondern die Meinung aller begünstige. Was halte ich Dich hin? Auf mich allein gestellt, vermochte ich gegen die vielen, die Hartnäckigen und Beredten, nur wenig, und schon brachte ich mich fast dazu, besiegt und mutlos das Joch auf mich zu nehmen, als mir ein besseres Los ein Hilfsmittel reichte. 12. Die Einschätzung meiner Redeweise, die besser sei als die gewöhnliche, aber in weit höherem Mass der Ruf meiner Verschwiegenheit und Verlässlichkeit hatte die Gemüter beeindruckt, und ob zu Recht, das mögen jene überdenken, die solche Auffassung ausstreuten. Jedenfalls war es das Amt eines päpstlichen Geheimschreibers, für das ich geeignet zu sein schien, und dazu hatte man mich gerufen.13 Nur das Eine sei zu beanstanden, hiess es, dass mein Stil erhabener sei, als die Einfachheit14 der römischen Kurie es erfordere. Als ich solches aus dem Munde jener vernahm, die mehr als andere um mein Wohlergehen besorgt waren, packte mich zuerst ein Schrecken, und ich fürchtete, man wolle mit ironischen Reden auf mein bescheidenes Können anspielen, denn ich bin mir vieler Mängel bewusst, besonders auch hinsichtlich der Redekunst. 13. Doch als sie mir hierauf sogar unter Eidesleistung beteuerten, so laute die wahre Ansicht des Papstes und die des Kardinalskollegiums und man verlange von mir nichts weiter, als dass ich mir angewöhnte – ich verwende ihre Worte –, eine „einfachere Denkart zu pflegen und meine Ausdrucksweise zu mässigen,“ und als ich ausserdem das, was ich zuerst von nur zwei Personen gehört hatte, auch von vielen aus dem Stand der erwählten Väter vernahm, erfüllte mich eine so gewaltige Freude, wie sie kaum ein Gefangener erlebt, der an der

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Schwelle seines verhassten Kerkers unerwartet seinen Befreier erblickt. Ich meinte, hier öffne sich der Weg zum Entkommen, und ich täuschte mich nicht. 14. Ich wurde also gebeten, etwas zu schreiben, was beweisen würde, dass ich mich möglichst nah dem Boden zu halten und mich einfachen Redeweisen anzugleichen verstünde,15 denn – so versicherten mir jene beharrlich, die mich in den zwar erhabenen, aber engen Kerker zu zwingen versuchten – das werde mir überaus leicht fallen. Doch kaum lag mir das zu behandelnde Thema vor, da entfaltete ich mit all meiner Macht die Flügel meines Bisschen Geist, um mich vom Boden zu erheben, wie Ennius und nach ihm auch Maro gesagt hat,16 und so hoch zu fliegen, dass meine Häscher mich womöglich nicht mehr zu sehen vermöchten. 15. Die Musen schienen mir beizustehen, obwohl es ihrer am wenigsten bedurfte. Man hätte meinen können, unser Apollon17 schenke mir seine Gunst. Mein Erzeugnis war dann einem guten Teil zu wenig verständlich, obwohl es von letzter Klarheit war; einigen kam es griechisch oder eher barbarisch vor, woraus Du ersehen kannst, was für Geistesgrössen man sogar Wichtigstes anvertraut! 16. Drei Stilrichtungen kennen wir dank Tullius,18 die er selber als Figuren bezeichnet: Die feierliche, die er gewichtig nennt, die mässige, die er die mittlere, und die bescheidene, die er gering heisst.19 Die erste unter ihnen ist zu unserer Zeit fast niemandem eigen, die zweite nur wenigen, die letzte aber vielen. Was darunter ist, steht nicht auf der Stufe einer gepflegten Sprache, sondern ist eher plebejischer, bäurischer und knechtischer Worterguss. Und obwohl dieser in tausendjähriger, unablässiger Anwendung gebräuchlich wurde, kann er doch niemals die Würde, die ihm von Natur aus fehlt, bloss dank zeitlicher Dauer erwerben. 17. Wenn jedenfalls ich nach meinem Urteil beim Briefe-Schreiben mich passenderweise der bescheidenen Rede bediene, ist das in Ordnung; und wenn ich höher zu steigen ermahnt werde, beachte ich die Stufen, die ich besteigen soll, und bemühe mich darum, so weit es die Schwerfälligkeit meines Geistes erlaubt. Werde ich aber hinunter zu steigen geheissen, obwohl ich zuunterst stehe, nimmt man mir die Fähigkeit zu gehorchen. Was also ist’s, was sie mich heissen? Kein Zweifel: Das mir zur Anwendung Empfohlene und von ihnen als Stil bezeichnete, ist kein Stil. 18. Was denn, ich bitte, würde Iuvenal20 heute sagen, er, der klagte, dass zu seiner Zeit die Hoffnung auf tüchtige Schulung erstorben sei, und was würde der gewaltige Redner Seneca sagen,21 der jammerte, nach Cicero habe die Beredsamkeit Schaden erlitten, oder was Cicero selber,22 diese schönste Blüte der Redekunst, der immerhin an einer Stelle wegen des Niedergangs dieser Fähigkeit aufseufzt? Zum Glück hören die genannten, denen ein winziger Schritt aus höchster Höhe wie ein gewaltiger Absturz vorkam, nichts von den Albernheiten der Jetztzeit! 19. So also ist, um zu mir zurückzukehren, die Sache verlaufen. Man hat mir eine Frist gegeben, etwas zu lernen, nämlich dies (und würde ich dazu doch unfähig

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bleiben!), leichtfertig, gehaltlos und verächtlich zu reden. Man heisst mich in meinem höheren Alter genau in jene Schulen zu gehen, die ich als Jüngling schon immer geflohen habe. Doch lassen wir’s gut sein! Denn inzwischen bin ich frei dank der widerwilligen Erlaubnis jener, die mir eine Dienststelle anboten. Und hält man die Bedingung aufrecht, die der Erfüllung harrt, bleibe ich in Ewigkeit frei, und kann der Freiheit um so froher sein, je näher ich der Knechtschaft gewesen bin. 20. Übrigens ist die Freiheit um so süsser, je ehrenhafter ihre Ursache. Eines nur fürchte ich: Diese könnte falsch sein. Doch angenommen, sie sei wahr: Was könnte ich Herrlicheres wünschen, als ich sei just darum entkommen, weil ich zu hoch zu fliegen schien, um von jenen gesehen zu werden, die sich selber als die Erhabensten betrachten? Ich freue mich, ein solcher Kerl zu sein, falls ich ein solcher bin. Und andernfalls? Wie dürfte ich nicht wünschen, ein solcher zu werden, da ja der Grund dazu im erhabenen Stil, und nicht etwa im unverständlichen liegt? Mich freut, von wenigen entdeckt zu werden; und je weniger es sind, desto teurer bin ich mir selber. Ich wollte nicht, dass Rang und Reichtum einem Lesenden hilfreich wären; dagegen möchte ich, dass ein Pontifex oder König ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, wie übrigens auch jeder andre, und sogar um so eifriger, je geringer vielleicht sein Verständnis wäre. 21. Ein einziges Beispiel, das die Sache erläutern kann und das ich dem allzu heftig drängenden Papst entgegenhielt, will ich hier wiederholen. Du erinnerst Dich, dass Alexander von Makedonien23 seinen Geometrielehrer anhielt, ihm gewisse geheimere Dinge seiner Kunst besonders gründlich darzulegen, und was ihm der Gefragte antwortete: „Diese Dinge“, so sprach er, „sind für alle Leute gleich dunkel.“ – 22. Ganz vorzüglich! Nicht das Diadem, sondern die Begabung, unterstützt durch Bemühung, fördert das Erfassen des Geschriebenen, sonst wäre eine Königsherrschaft recht wünschenswert. Dagegen gibt es manches, wofür die Königswürde und Kaisergewalt nicht allein unnütz, sondern gar schädlich sind. Eines mächtigen und hochmütigen Lesers bin ich nicht wert, so meine ich, und jedenfalls laufe ich einem nörgelnden Verstand und leicht verletzlichen Ohr nicht nach. Werde ich von Bescheidenen gelesen und nicht getadelt, habe ich damit eine köstliche Frucht meiner Bemühung erlangt. Ich strenge mich nicht an, dunkel zu reden,24 sondern klar, und ich möchte verstanden werden, jedoch von Menschen mit Verstand, und nicht ohne deren Eifer, nicht ohne geistige Anstrengung (nicht ängstliche, sondern vergnügliche). Einen Reichen, der am Lesen ganz unbefangen Freude empfindet, weise ich nicht ab, sofern er immerhin bedenkt, dass der Reichtum nichts dazu beiträgt. 23. Wozu viele Worte? Schriebe ich einem andern, würde ich mich weniger ereifern. Nun aber schreibe ich meinem Francesco, das heisst, mir selber. Ich nämlich will, ja ich will, dass wer immer mich liest, ganz mich allein, und nicht auch die Hochzeit seiner Tochter, nicht auch die Nacht mit seiner Freundin, nicht auch die

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Ränke seines Gegners, nicht seinen Gerichtstag, nicht sein Haus, nicht seinen Acker oder seinen Geldschatz im Kopf habe, sondern dass er, wenigstens so lang er liest, einzig bei mir sei. Hat er dringende Geschäfte, so schiebe er die Lektüre auf später auf; macht er sich an die Lektüre, werfe er die Last der Geschäfte und die Sorge um häusliche Dinge von sich und richte seine Gedanken auf das, was er vor sich hat. Missfällt ihm diese Bedingung, so verzichte er auf die ihm nutzlosen Schriften. Ich will nicht, dass er gleichzeitig geschäftig sei und studiere; ich will nicht, dass er ganz ohne Anstrengung aufnehme, was ich nicht ohne Anstrengung hinschrieb! 24. Aber Du erwartest das Ende? Schliesslich habe ich knapp die Erlaubnis erhalten, was mein ist, zu verteidigen, und ich werde sie so gebrauchen, dass ich von jetzt an in den wichtigsten Dingen mir niemanden vorziehe, mich durch keine Bitten der Freunde umstimmen lasse, keinem Versprechen und keiner Bitte nachgebe, die meine Freiheit aufs neue gefährden. Das, lieber Freund, wollte ich Dich wissen lassen, damit Du die gegenwärtige Lage beklagen und belächeln kannst, doch auch Jenem mit mir dankst, der mich vor einer einträglichen und zwar glänzenden, aber drückenden Amtsstelle – immerhin manchem wünschenswert! – bewahrt hat. Lebe wohl! Am 9. August (1352).25

Anmerkungen 1 Vgl. die Briefe an Nelli Fam. 12,4–5 und 12,9–13; dazu auch Cochin, Henry, Un ami de Pétrarque: lettres de Francesco Nelli à Pétrarque, Paris 1892; weiter Metr. 3,22 und 3,33, Schönberger lat. und dt. 279 ff. und 323 ff. Vgl. Dotti, Vita, hier: Indice dei luoghi, überdies Wilkins, Studies Kapitel 8 und Eight Years passim und ebenda vor allem Appendix 254 ff. zur Korrespondenz zwischen Petrarca und Nelli. 2 Hier verwendet Petrarca wie auch sonst für Freundesliebe das Wort caritas und meint nicht zuletzt ein hilfsbereites Wohlwollen. 3 Vgl. Fam. 14,4,24 über Petrarcas Verteilung von Benefizien. 4 Ad Lucil. 37,5. 5 Das Wort erinnert an Ps. 21,13. 6 Es handelt sich um die Kardinäle Guy de Boulogne und Elie de Talleyrand; vgl. die beiden Briefe Fam. 13,1 und Fam. 14,1, auch Wilkins, Studies Kapitel 1: Petrarch’s Ecclesiastical Career, mit der Aufzählung der dem Dichter angebotenen Pfründen; vgl. unten Anm. 15. 7 Gemeint ist der Papst Clemens VI. 8 Cic. De sen. 18,66. Vgl. 14,4,17; 14,7,8; 17,8,8; 20,8,18. 9 Vgl. Wilkins, Studies Kapitel 1 über Pfründen Petrarcas, zum Brief auch Übersicht. 10 Der Bruder Gherardo war Kartäuser geworden. 11 Hier eine Andeutung, dass verschiedene Freunde Petrarcas die Bemühungen der Kurie unterstützten, den Dichter für ein Amt zu gewinnen; vgl. unten Abschnitt 11 und Fam. 20,14,15 ff.

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12 Vgl. Stat. Theb. 1,305. Gemeint ist der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus und damit als Besitzer der kirchlichen Schlüsselgewalt. 13 Vgl. Fam. 13,4, Anm. 1. 14 Das Wort Einfachheit steht hier für humilitas; entsprechend steht im folgenden Text: einfach sein und einfach reden. 15 Vgl. Fam. 14,1,1 und 14,2,4 ff., wo ähnliche Forderungen des Kardinals Talleyrand angeführt werden. 16 Nach dem Epitaph des Ennius bei Verg. Georg. 3,9; Cic. Tusc. 1,15,34; 1,49,117. 17 Unser Apollon sagt Petrarca, wenn er Christus meint. 18 Ad Her. 4,8,11. 19 Lateinisch: grandiloquum, quem gravem appellat; moderatum, quem mediocrem vocat; atque humilem, quem extenuatum dicit. 20 Sat. 7,1. 21 Seneca Maior, Controv. 1, praef. 7. 22 Vielleicht ein Hinweis auf die Schrift Brutus? 23 Die Quelle kann nicht angegeben werden. 24 Hor. Ars 25–26. 25 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 172 und 177, sowie ebenda 212, auch Petr. corresp. 71.

Fam. 13,6, an Francesco Nelli1 Über das Wort Poesie und seine Profanation durch Ungebildete. 1. Petrarca führt die Darstellung des vorangehenden Schreibens fort. 3. Die Poesie ist göttlichen Ursprungs. 4. Man spricht über sie trotz grosser Unkenntnis sehr viel. 5. Cola di Rienzo ist als Gefangener in Avignon. 12. Er hat sich von löblichen Plänen abgewendet und hat die gute Sache verraten. 22. Das Volk aber hält ihn für einen Dichter und verlangt daher für ihn Schonung. 26. Ein Dichter ist Cola nicht. 30. Selbst einer der würdigsten Kardinäle kennt die einfachsten Begriffe der Poesie nicht. 35. Petrarca belehrt ihn über Grundsätzliches. An der Quelle der Sorgue, am 10. August (1352).

1. Was erwartest Du zu hören, wenn nicht die Fortsetzung des kürzlich Dir zugesandten Briefes, damit Du weinen und lachen kannst?2 Nichts Wichtigeres, wahrhaftig, hätte ich zu tun? Im Gegenteil, sogar vieles! Doch sich Wichtigerem zu widmen, verbietet die Zeit, die in ihrer Kürze nicht einmal gehörig frei, sondern von erstaunlichen Hindernissen durchsetzt ist. Ja auch ich selber bin ganz und gar in Bewegung, und vieles stürmt von aussen auf mich ein; ich bin gleichzeitig hier und dort und folglich nirgends: ein vertrautes Übel all derer, die von einem Ort zum anderen ziehen. 2. Unser jüngstes Babylon3 habe ich verlassen und an der Sorgue Halt gemacht, im allbekannten Hafen meiner Stürme. Hier warte ich auf Weggefährten4 und auf das Ende des Herbstes oder wenigstens auf die von Maro5 beschriebene Jahreszeit, wenn „…schon kürzer der Tag und milder der Sommer“. Doch damit inzwischen mein Landaufenthalt nicht nutzlos verstreiche, sammle ich Bruchstücke verschwendeter Gedanken, denn jeder Tag soll, so weit als möglich, entweder einem grösseren Beginnen etwas beifügen oder etwas Kleines erledigen. 3. Den heutigen Ertrag wirst Du in diesem Schreiben als Mitteilung an Dich empfangen. Die Poesie also, dieser göttliche Auftrag an nur wenige Menschen, hat sich bereits der Menge auszuliefern, ja fast würde ich sagen: sich zu entweihen und zu entehren begonnen. Nichts gibt es, was ich so verärgert ertrüge, und Du, Freund, könntest, wenn ich Deine Reizbarkeit kenne, dieses Ärgernis wohl in keiner Weise ertragen. 4. Niemals ist in Athen oder Rom, niemals zu Zeiten Homers und Vergils so viel von Sehern die Rede gewesen wie am Ufer der Rhone in dieser Epoche, während ich doch meine, nie habe es an irgendeinem Ort und zu irgendeiner Zeit so gar nichts an Kenntnis der Sache gegeben. Nun möchte ich, Du würdest den Verdruss mit Gelächter lindern und lernen, bei Betrüblichem zu scherzen. 5. Da kam zur Kurie neulich, doch nein, kam nicht, wurde vielmehr gefangen herbeigeführt, jener Cola di Rienzo,6 einst weit herum gefürchteter Tribun von Rom, jetzt unter allen Menschen der erbärmlichste und – was den höchsten Grad

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des Übels ausmacht – vielleicht im Mass, als er erbärmlich ist, des Erbarmens unwürdig, weil er, der auf dem Kapitol in so grosser Ehre hätte sterben können, den Kerker in Böhmen und darauf den von Limoges7 zu ertragen auf sich nahm, dies gar zu seiner eigenen wie auch zu des römischen Namens und Gemeinwesens Verhöhnung. 6. Wie sehr diese Feder ihn zu loben und zu ermahnen sich hervortat, ist vielleicht bekannter, als ich wollte. Ich liebte die Mannhaftigkeit, ich lobte das Vorhaben, und ich bewunderte den Mut dieses Mannes. Ich beglückwünschte Italien; ich sah schon die Weltherrschaft der segensreichen Stadt und die Ruhe aller Länder bevorstehen. Eine so vielen Wurzeln entspriessende Freude zu verhehlen, war mir unmöglich. Ich glaubte, grosser Glorie teilhaftig zu sein, wenn ich dem Laufenden die Sporen gäbe, und diese hat er, wie seine Boten und seine Briefe mir bezeugen,8 aus meinen Worten in ihrer grössten Heftigkeit herausgespürt. 7. Um so stärker brannte ich und schärfte ich meinen Verstand, ob ich wohl etwas auszudenken vermöchte, geeignet, das Feuer seines Mutes zu schüren. Und da ich wohl wusste, dass sich ein hochgesinntes Herz vor allem an Ruhm und Ehren entzünde, sparte ich nicht mit mächtigem Lobpreis, und dieser war vielleicht nach dem Urteil mancher übertrieben, doch nach meiner eigenen Ansicht durchaus berechtigt. Und indem ich das Getane guthiess, mahnte ich, es zu vollenden. 8. Es existieren einige Briefe aus meiner Feder an ihn, deren ich mich heute nicht gänzlich schäme. Zu weissagen pflege ich nicht, und hätte nur er selber nicht geweissagt. In der Tat aber, was er, während ich schrieb, ausführte und weiterzuführen vorgab, war nicht bloss meiner eigenen Billigung und Bewunderung, sondern auch der des ganzen Menschengeschlechts durchaus würdig. Ob aber meine Briefe einzig darum zu vernichten seien, weil er lieber schimpflich leben als ehrenvoll sterben wollte, weiss ich nicht. Jedenfalls gibt es bei Unmöglichem kein Erwägen. Selbst wenn ich jene auszutilgen sehr wünschte, vermöchte ich es nicht. Was in die Öffentlichkeit gedrungen ist, hat aufgehört, mein Eigen zu sein. Ich nehme also den Faden wieder auf. 9. Er betrat die Kurie erniedrigt und verachtet, er, der einst die Schlechten in der ganzen Welt ängstigte und schreckte, die Guten dagegen mit frohester Hoffnung und Erwartung erfüllte. Und er, einst vom gesamten römischen Volk und von den Grossen der italischen Städte begleitet, kam jetzt – zur Linken und Rechten von zwei Schergen bedrängt – unselig daher, während das Volk ihm entgegen lief, begierig das Angesicht dessen zu sehen, den man ihm eben noch rühmend erwähnt hatte. 10. Er aber war vom römischen König zum römischen Bischof gesandt worden. „Oh wunderbarer Handel!“9 Ich scheue mich, was folgt, auszusprechen, und selbst dieses hätte ich nicht sagen wollen, sondern das, was ich begonnen habe. Kaum also war er angekommen, als der Papst dreien aus der Zahl der Kirchenfürsten die Rechtssache zur Entscheidung übergab. Ihnen wurde auferlegt zu überdenken, welcher Art von Strafe jener würdig sei, der für die Republik volle Freiheit

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begehrte! „Oh Zeiten, oh Sitten“,10 oh Ausruf mir ständig abgenötigt! 11. Ist doch jener, so erkläre ich, gerade deswegen jeder Strafe würdig, weil er das ursprünglich Gewollte nicht so ausdauernd wollte, als er sollte und die Lage und die Bedrängnis es erheischten. Er hat ja, wiewohl er die Verteidigung der Freiheit verkündet hatte, die Feinde der Freiheit in eben jenem Augenblick, als er sie insgesamt zu unterdrücken in der Lage gewesen wäre (eine Gelegenheit, die kein Herrscher je zuvor von Fortuna erlangt hat), bewaffnet entkommen lassen!11 12. Oh dieser entsetzliche finstere Nebel, der oft mitten in den Anstrengungen um grösste Erfolge sich den Sterblichen auf die Augen legt! Und wäre es wirklich seine Absicht gewesen, bloss dem zweiten seiner beiden Zunamen Geltung zu verschaffen und nicht auch dem für die Krankheit der Republik notwendigen ersten (er wollte ja „Severus“ und „Clemens“ heissen), und hätte er folglich gegen öffentliche Hochverräter Nachsicht üben wollen, so wäre ihm immerhin möglich gewesen, sie aller unheilbringender Mittel zu berauben und ihnen vor allem ihre stolzen Burgen zu entreissen. Damit hätte er, indem er sie am Leben liess, aus Feinden der Stadt Rom römische Bürger oder aus fürchterlichen Feinden rein verächtliche zu machen vermocht. 13. Darüber habe ich ihm, ich erinnere mich, einen sehr kämpferischen Brief geschrieben,12 und hätte er ihn beherzigt, so stünde es um die Republik jetzt anders und wäre Rom heute nicht Sklavin und er selber nicht Gefangener. 14. Gewiss, weder für diese Sache noch für die folgende weiss ich eine Entschuldigung vorzubringen, denn er hat zwar den Schutz der Guten und die Vernichtung der Schlechten sich zur Pflicht gemacht, aber nicht lange darnach plötzlich seinen Sinn und seine Sitten gewandelt. Er mag den Grund kennen, ich habe ihn später nicht mehr gesehen; aber eine Rechtfertigung des Unrechts kann es, selbst wenn ein grosser Redner irgendeine erfände, in Wahrheit nicht geben. Gleich hat er – zur grossen Gefährdung und Befürchtung der Guten – begonnen, die Schlechten zu begünstigen und sich ihnen gänzlich anzuvertrauen. Und hätte er doch unter den Schlechten nicht gar die Schurken bevorzugt! Davon handelt ein anderer meiner an ihn gerichteten Briefe aus der Zeit, als die Republik noch nicht eingestürzt, aber schon schwankend war.13 Doch genug davon. 15. Ich spreche ja allzu erregt, und bei jedem Abschnitt meiner Schilderung halte ich ein, niedergeschlagen, wie Du siehst. Denn ich hatte in jenen Mann meine letzte Hoffnung auf die Freiheit Italiens gesetzt und ihn, der mir schon lange vorher bekannt und teuer war,14 nach der Vollendung des herrlichsten Werkes mehr als andere zu ehren und zu bewundern versprochen. Je mehr ich also erhoffte, desto mehr betrübe ich mich jetzt nach dem Verlust der Hoffnung, und ich bekenne: Wie immer das Ende aussehen mag, ist mir doch heute noch unmöglich, den Anfang nicht zu bewundern. 16. Er kam jedoch nicht in Fesseln (dies eine fehlte zur öffentlichen Schande), übrigens in einer Kleidung, die keinen Gedanken an Flucht gestattete. Schon bei

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diesem Einzug in die Stadt hat er nach mir gefragt, der Unglückliche, ob ich an der Kurie sei; dies entweder weil er irgendeine Hilfe von mir erwartete (doch habe ich, soviel ich jedenfalls wüsste, keine zu bieten) oder weil er der alten, an eben diesen Orten einst geschlossenen Freundschaft gedachte. 17. Nun also ist die Rettung dieses Mannes, von dessen Hand die Rettung und Unversehrtheit so mancher Völker abhingen, hinwiederum von fremden Händen abhängig. Sein Leben und sein Ruf sind gefährdet. Man wird aber kaum aufhorchen, wenn man vernehmen muss, er sei unter dem Strahl des Urteilsspruchs ehrlos geworden oder gar dem Tod verfallen. Töten kann man jeden sterblichen Leib, und wäre der noch so geheiligt; aber weder den Tod noch den Rufmord fürchtet die Tugend, denn sie ist unverletzlich, durchaus keinem Unrecht und keinen Pfeilen erreichbar. 18. Hätte nur nicht er selber seine Ruhmestat durch Vernachlässigung oder Wandlung seines Planes entstellt! Denn dann hätte er von solchem Richterspruch – ausser leiblichen Schaden – für sich nichts zu befürchten gehabt, zumal ihm nicht einmal jetzt irgendeine Trübung des Rufes von seiten jener droht, die wahren Ruhm und falsche Schande nicht nach gewöhnlicher Auffassung, sondern nach besser gesicherten Kennzeichen untersuchen und die Leistungen hervorragender Männer unter Beachtung der Tüchtigkeit, aber nicht des Zufalls bewerten. 19. Dass es sich so verhält, ist an der Beschaffenheit der Anklage abzulesen. Nichts nämlich von dem, was allen Rechtschaffenen an diesem Mann missfällt, wird behandelt, und vor allem ist er nicht seiner letzten Taten, nein der ersten wegen angeklagt. Nicht das wird ihm vorgeworfen, dass er sich schliesslich den Schlechten zugesellt, die Freiheit verraten und das Kapitol im Stich gelassen hat, da er doch nirgends ehrenvoller leben, nirgends glorreicher hätte sterben können. 20. Was denn? Einzig das wird ihm zur Last gelegt, wodurch er mir sogar nach einer Verurteilung, nicht etwa unehrenhaft, vielmehr als ein mit ewigem Ruhm Gekrönter erscheinen wird. Er wagte ja zu denken, er wolle dafür sorgen, dass die Republik heil und frei werde und dass über die römische Herrschaft und die römischen Gewalten nirgends als in der Stadt Rom entschieden werde. 21. Oh welch grosses, mit Kreuzestod und Geierfrass zu sühnendes Verbrechen, wenn da ein römischer Bürger trauerte, weil er seine Vaterstadt, die rechtmässige Herrin der Welt, gemeinsten Menschen Sklavendienste tun sah! Das freilich ist des Frevels Inbegriff, deshalb verlangt man die schwerste Strafe. 22. In diesem Zustand – auf dass Du endlich hörest, weshalb ich schreiben wollte, und dann nach dem Verdruss auch lachen könnest – bleibt ihm als einzige Hoffnung auf Rettung, wie ich aus Freundesbriefen ersehe, der Umstand, dass im Volk das Gerücht überhandnimmt, er sei ein hochberühmter Dichter,15 und deshalb scheine es ein Unrecht zu sein, diesen Menschen von so grossem und so heiligem Bemühen zu entehren. Ja ins Volk sei schon die höchst beachtenswerte Auffassung gedrungen, auf die sich Cicero zu Gunsten seines Lehrers Aulus Licinius Archias vor den Richtern gestützt hat.16 23. Diese Rede führe ich hier nicht an, ist sie doch

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in Eurem Besitz und lest Ihr sie doch begierig, wie ich Briefen entnehme; denn ich habe sich ja einst aus den fernsten Grenzen Germaniens geholt, als ich in jenen Gegenden im jugendlichen Drang, sie zu besichtigen, herumreiste, und habe sie im folgenden Jahr auf Euren Wunsch in die Heimat gesandt.17 24. Was aber soll ich nun sagen? Ich freue mich gewiss, und mehr, als ich sagen kann, bin ich beglückt, weil den Musen selbst heute noch und erstaunlicherweise sogar von ganz unmusischen Leuten, so grosse Ehre zuteil wird, einen Mann, der im übrigen just bei den Richtern verhasst ist, durch blosse Titelverleihung zu retten. Besseres hätten sie nicht einmal unter Kaiser Augustus verdienen können, als sie höchsten Ruhm erlangten, nämlich anlässlich jener Zusammenkunft der Sänger aller Landschaften in Rom, denn bei diesem Anlass war ihnen allen vergönnt, das strahlende Antlitz des einzigartigen Fürsten und Dichterfreundes und Herrn der Könige zu schauen. 25. Was aber, bitte, hätte man den Musen in jener früheren Zeit darüber hinaus noch gewähren können, als dies: Einen Menschen (gleichgültig, wie sehr verhasst, da jedenfalls verhasst, gleichgültig, welchen Vergehens beschuldigt, da jedenfalls beschuldigt und überführt und geständig, um nach einhelligem Spruch der Richter zum Tod verurteilt zu werden), eben ihn der Todesgefahr zu entreissen! Nochmals will ich sagen: Ich freue mich und beglückwünsche ihn und die Musen, ihn nämlich zu solchem Schutz und die Musen zu solcher Ehre. Und dem Angeklagten von zweifelhafter Hoffnung missgönne ich in seiner schlimmsten Lage den Dichtertitel nicht. 26. Dennoch, wenn Du mich fragst: Cola di Rienzo ist ein höchst sprachgewandter Mann, zu überzeugen fähig und für die Redekunst begabt, als Schriftsteller liebenswürdig und gefällig, zwar von nur einfachem, aber wohllautendem, farbigem Ausdruck. Die Dichter, meine ich, die man gemeinhin kennt, hat er alle gelesen. Dennoch ist er ebensowenig ein Dichter, als jener ein Weber ist, der einen von anderer Hand gewobenen Mantel trägt. 27. Und wenn, den Dichtertitel zu verdienen, ein einziges Gedicht nicht ausreicht und wenn durchaus wahr ist, was Horaz gesagt hat:18 „…es sei nämlich Verse zu schmieden Nimmer genug, wie Du sagst, und schriebe auch einer, wie wir tun, Flüssig wie Tagesgespräch, so gälte er doch nicht als Dichter“, so hat jener eben nicht einmal ein einziges Gedicht, das mir zu Ohren gekommen wäre, geschmiedet; und er hat darauf auch keine Neigung verwandt, ohne die nicht das Geringste ohne weiteres glücken kann. 28. Dies wollte ich Dir gerne mitteilen, damit Du das Verhängnis dieses einstigen Anwalts eines allgemeinen Nutzens beklagen, seiner unverhofften Rettung Dich erfreuen, doch über den Grund der Rettung mit mir sowohl höhnen wie lachen und nachdenken möchtest. Wenn nun aber – und dass es doch geschehe! –

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unter dem Schild der Dichtkunst Cola so grossen Gefahren entrinnen sollte, weshalb sollte da nicht auch Maro entrinnen? Doch dieser würde unter den selben Richtern aus einem anderen Grund sein Leben verlieren, nämlich deshalb, weil er eben nicht als Dichter, sondern als Geisterbeschwörer betrachtet wird.19 29. Ich will anfügen, worüber Du noch tüchtiger lachen magst. Gerade auch ich, der aller Wahrsagerei und Magie so feind ist als irgendeiner, werde nicht selten bei diesen tüchtigen Weltenrichtern ob meiner Freundschaft mit Maro als ein Geisterbeschwörer bezeichnet. Darum sieh nur, in welche Tiefe unsere Bildung gestürzt ist! Oh dieses hassenswerte und läppische Geschwätz! Und damit Du an mehrfachen Proben die gesamte Lage erkennen und was von Geringeren zu halten ist, am Beispiel von Grösseren ablesen könnest, will ich eine Lächerlichkeit von vornehmerer Art anfügen. 30. Einen angesehenen Freund habe ich hier in Babylon,20 wert, mit besonderer Hingabe gehegt zu werden. Ich bediene mich ja einer alten, freimütigen Sprache, gemäss welcher Cicero den Pompeius Magnus „seinen Vertrauten“ nennt und Plinius Secundus „seinem Vespasian“ einen Gruss entbietet;21 denn müsste ich die moderne, also unterwürfige und schmeichlerische Sprache verwenden, hätte ich einen „einzigartigen, ehrfurchtgebietenden Herrn“. 31. Doch wie immer ich mich ausgedrückt habe: Soviel kann ich in Wahrheit behaupten, dass er einer wie wenige ist, ein Fürst unter Fürsten, ein Hervorragender unter Höchsten, dem römischen22 Kardinalat eine leuchtende Zier, ein Mann seltener Klugheit, nach dessen Ratschlag sich wahrscheinlich sehr leicht das ganze Erdenrund leiten liesse, überdies ein Büchergelehrter mit ausserordentlichem Verstand. Doch wahr ist, was Sallust gesagt hat: „Der Verstand ist tüchtig, wo man ihn hinlenkt“.23 32. Jener hochbedeutende Mann also pflegte in vertraulichen Gesprächen (deren er mich oft würdigt), sobald der Name irgendeiner Person fiel, von der er gehört haben mochte, sie habe zum Volk drei Wort gesprochen oder einen Brief für ein sicheres Geleit ausgestellt, mich gespannt, um nicht zu sagen „gebannt“, in ungefähr dieser Art auszuforschen: „Ist jener, von dem wir sprechen, nicht ein Dichter?“ Ich jedoch pflegte zu schweigen, denn was anderes konnte ich tun? 33. Doch als er mich dasselbe immer wieder wegen gewisser Scholastiker gefragt hatte, die Schwülstiges und Abgestandenes eher formelhaft als vernünftig ausdrückten, und als ich eines Tages mein Lachen nur mit Mühe verbarg, bemerkte er das Zucken meines Mundes als ein Mann scharfer Beobachtung und begann daher mehr und mehr darauf zu bestehen, ich solle ihm sagen, was das bedeute. 34. Da habe ich denn in der Vertrautheit, in der ich mit ihm getrost alles zu besprechen gewohnt bin, weil er es so will, die Unkenntnis einer so herrlichen Sache bei einem so grossen Verstand ehrerbietig getadelt, da er eine Ahnung nicht einmal von den grundlegenden und allgemeinsten Begriffen jener Kunst besitze, in welcher doch, wie feststehe, einst gerade die mit öffentlichen Aufgaben betrauten Herren der Welt ihre höchste Begabung

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begierig und sorgfältig geübt hätten. 35. Ich legte ihm einige Beispiele vor, derer Du nicht bedarfst, und habe in dem Sinn geschlossen, dass ich ihm zeigen wolle, es gebe weniger Dichter als er glaube. Und so weit es die Zeit erlaubte, habe ich einiges in knappen Worten über den Ursprung der Dichtkunst,24 über die Arten, den Begriff und in erster Linie über die unglaubliche Seltenheit der Dichter erörtert, welch letzten Punkt Tullius25 in seinem Werk „Vom Redner“ berührt hat. Nachdem der bedeutende, in anderen Dingen gelehrte und in eben diesen nicht ungelehrige Mann das alles mit aufmerksamem Ohr angehört und, wie es scheint, durstig eingesogen hatte, kam er später häufig auf Einzelnes zurück, hat aber nach diesem Tag sich ähnlicher Fragen enthalten. 36. Du lebe glücklich und bleibe gesund! Und wenn es Dir richtig erscheint, so schicke diesen Brief von heute und denjenigen von gestern, nachdem Du sie gelesen, nach Neapel zu unserem Zanobi, damit er und auch Barbato,26 sofern dieser vom Hafen Sulmonas zu den Stürmen Parthenopes zurückgekehrt ist, an unserem Spass und unserem Ärger teilnehmen können. An der Quelle der Sorgue, am 10. August (1352).27

Anmerkungen 1 Fam. 13,6 findet sich lat. und dt. auch in Petrarca, Aufrufe 164—178. Zu Nelli vgl. Fam. 12,4, Anm.1 und das Personenreg. 2 Vgl. den vorangehenden Brief Fam. 13,5. 3 Das ist Avignon. 4 Gefährten für die Reise nach Italien. 5 Verg. Georg. 1,312. 6 Cola traf Anfangs August 1352 in Avignon ein; vgl. Paul Piur, Briefwechsel des Cola di Rienzo, Vom Mittelalter zur Reformation, Bd. 2, Teil 5,435 f. 7 Das war der Kerker des Papstes Clemens VI. 8 Vgl. ausgewählte Briefe, lat. und dt., Petrarca, Aufrufe 76–221. 9 Wort aus der katholischen Liturgie vom Fest der Beschneidung des Herrn (1. Jan.), in 1Vesperis Antiphon 1. 10 Cic. Verr. 1,2; De dom. 137; Deiot. 11,31. 11 Hinweis auf die Freilassung der gefangenen Barone durch Cola Mitte September 1347. 12 Dieser Brief hat sich nicht erhalten. 13 Das ist Fam. 7,7. 14 Hinweis auf eine Begegnung Petrarcas mit Cola in Avignon wohl im ersten Halbjahr 1343; Cola trat damals an der Kurie als Vertreter des vom Adel bedrückten römischen Volkes auf. 15 Zur angeblich dichterischen Tätigkeit Colas vgl. Piur, Briefwechsel des Cola di Rienzo 2. Teil 5, 439–443. 16 Archias aus Antiochia gehörte zum Freundeskreis Ciceros und wurde von diesem 62 gegen die Anklage verteidigt, er habe das römische Bürgerrecht erschlichen. Dabei wurde kräftig seine dichterische Begabung unterstrichen und die göttliche Inspiration der Dichter ganz allgemein betont; vgl. insbesondere Cic. Arch. 8,18 f.

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17 Von dieser Reise sprechen Fam. 1,4 und 1,5. 18 Hor. Sat. 1,4,40–42. 19 Vergil galt im Mittelalter vielen als Zauberer; vgl. G. Comparetti, Vergilio nel medio evo, Florenz 1943. 20 Mit dem hier charakterisierten Bekannten könnte vielleicht Kardinal Bernard von Albi gemeint sein (vgl. die an ihn gerichteten Metr. 2,2–2,4 wohl aus dem Jahr 1345, bei Schönberger lat.und dt. 119 ff.). Dagegen spricht aber wohl, dass Petrarca nicht erwähnt, der Gemeinte habe sich (später) selber im Dichten geübt, wie Kardinal Bernard tat. Denken kann man auch an Guy de Boulogne oder eher noch an Elie de Talleyrand. Das grosse Lob in Fam. 13,6,31 auf eine ungemeine allgemeine Begabung bei völliger Unkenntnis der Dichtkunst deutet am ehesten auf diesen, und übrigens ist auch das Datum des Briefes am ehesten mit Talleyrand zu verbinden. Dass Petrarca für ihn keine Briefe in Gedichtform schrieb, ist einleuchtend; denn eben für Gedichte hatte jener keinen Sinn. Vgl. Fam. 14,1 und Fam. 14,2,4 ff. 21 So Plinius in der Widmung seiner Naturgeschichte. Der Angesprochene ist aber der Sohn Vespasians, nämlich Titus. 22 Lateinisch: romuleique clarum decus cardinis. 23 Sall. Cat. 51,3. 24 Vgl. Fam. 10,4,1 ff. 25 Cic. De or. 1,3,11. 26 Zu Zanobi und Barbato vgl. die an sie gerichteten Briefe und das Personenreg. Zanobi war durch Petrarca aufgemuntert worden, einem Ruf aus Neapel zu folgen; vgl. Fam. 12,3. 27 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 128–130. 138–139. 172 und 177–178. 212; auch Petr. corresp. 71.

Fam. 13,7, an Pierre aus der Auvergne, Abt des Klosters Saint-Bénigne1 Über die Lust am Schreiben und die ansteckende Schreibkrankheit. 1. Petrarcas Schreibwut. 4. Ein Geschichtlein belegt sie. 7. Petrarca trägt eine grosse Verantwortung für die Verbreitung dieser Seuche. 11. Er wird von Dichtern scharenweise überfallen und mit Gedichten eingedeckt. 13. Über falsche Dichtkunst. 16. Petrarca hat ein schlechtes Gewissen. 16. Spasshaft übertreibende Schilderung seiner Lage. 18. Der Adressat soll zur Nachsicht bewogen werden, weil Petrarca auf Briefe nicht schriftlich geantwortet hat. Er gehorcht aber dem Befehl, die Abreise zu verschieben. 21. Nun harrt er in Vaucluse aus. Die genannte Schreibwut droht auch hier einzudringen. (Vaucluse 8.–11. November 1352)

1. Sonderbar zu sagen! Ich möchte schreiben und weiss nicht was und wem. Und – oh eisernes Verlangen! – Papier, Feder, Tinte und Nachtwachen sind mir lieber als Schlaf und Ruhe. Was soll’s? Ich quäle mich immer und langweile mich, ausser während ich schreibe, und – eine neue Verkehrtheit! – mühe mich in der Ruhe und ruhe in der Mühe. Hart wie Fels ist dieses Herzensbedürfnis; man meint, es stamme aus den Steinen Deukalions.2 Wenn man rückhaltlos über Pergamenten brütet und Finger und Augen anstrengt, spürt man weder Kälte noch Hitze, fühlt sich wohlig in weichsten Daunen, fürchtet Ablenkung und klammert sich an widerspenstige Glieder. 2. Wird man durch eine Notwendigkeit gezwungen, das Schreiben zu lassen, dann erst beginnt man sogleich zu ermatten und bequemt sich zu einer Pause, jedoch nicht anders als ein müdes Eselchen unter allzu schwerer Bürde, wenn es geheissen wird, einen holperigen Bergpfad hinaufzusteigen. Sogleich kehrt man darauf zum Begonnenen nicht weniger begierig zurück als das ermattete Tier zu seiner vollen Krippe, und kräftigt sich dann bei langen Nachtwachen nicht weniger als das Tier bei seinem Ruheplatz und Futter. Was also, wenn ich weder vom Schreiben lassen, noch Ruhe ertragen kann? 3. Ich schreibe Dir nicht, weil das alles sonderlich Dich anginge, vielmehr weil jetzt kein anderer in meiner Nähe ist, der nach Neuigkeiten (besonders solchen von mir) kräftiger begehrte, Geheimnisse tüchtiger erforschte, Schwierigkeiten sicherer begriffe, Unglaubwürdiges gründlicher prüfte. Einen Teil meines Zustandes und meiner Herzensplagen hast Du vernommen. Und nun füge ich ein Geschichtlein an, das Dich erst recht verblüffen und Dir gleichzeitig beweisen wird, dass ich die Wahrheit gesagt habe. 4. Ich hatte einen Freund auf der höchsten Stufe edelster Freundschaft. Dieser wohnte bei mir zu jener Zeit, als ich die Africa eben in Angriff genommen hatte,3 und zwar mit einem so brennenden Eifer, dass Afrika niemals so feurig brannte, auch nicht, wenn die Sonne im Löwen stand. Es war das Werk, das schon allzu lange unter meinen Händen ist und einmal, so meine ich, wenn es irgend eine

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Hoffnung auf Gedeihen gibt, einzig und allein den Durst meiner lechzenden Brust sei’s lindern, sei’s löschen wird. Als jener mich von übermässiger Arbeit erschöpft sah, unterbrach er mich unerwartet, erbat von mir einen Dienst, einen ihm angenehmen und mir gewiss sehr leichten. 5. Und als ich ohne zu fragen zustimmte, um dem nichts zu verweigern, der mich zweifellos in freundlichster Gesinnung anging, fuhr er fort: „Gib mir die Schlüssel zu Deinem Kasten.“ Verwundert händigte ich sie aus, worauf er sogleich alle meine Bücher und mein ganzes Schreibzeug darein versorgte, unter Riegel verschloss und sich mit den Worten zum Gehen wandte: „Ich auferlege Dir zehn Tage Ferien und verbiete Dir, während dieser Zeit etwas zu lesen oder zu schreiben.“ 6. Ich liess mir den Scherz gefallen. Für unbeschäftigt hielt er mich, für gelähmt ich mich selber, als ich zurückblieb. Was erwartest Du ? Vorüber ging jener Tag, als dauerte er ein Jahr und war nicht ohne Langeweile. Am nächsten Tag schmerzte mir vom Morgen bis zum Abend der Kopf, und als der dritte Tag anbrach, begann ich einige Fieberschübe zu verspüren. Der Freund kehrte zurück, und da er meinen Zustand erkannte, gab er mir die Schlüssel zurück. Sogleich genas ich, und weil jener einsah, dass ich – wie er sagte – mich an der Arbeit ernähre, unterliess er fortan ähnliche Bitten.4 7. Was also soll ich sagen? Stimmt etwa nicht, dass gleich jeder bösartigen Seuche auch die Schreibwut unheilbar ist, wie der Satiriker5 meint, und dass sie ansteckend wirkt, wie ich hinzufüge? Wie vielen, was meinst Du, habe gerade ich, der ich zu Dir spreche, meine Krankheit durch Berührung übertragen? So weit ich mich besinne, waren es früher nur wenige, die Gleichartiges schrieben; heute schreibt jeder, und selten schreibt einer über anderes.6 Was die Zeitgenossen betrifft, so liegt, wie manche glauben, ein recht grosser Teil der Schuld eben bei mir. 8. Das habe ich von vielen gehört. Und möchte ich doch einmal für andere seelische Krankheiten7 – für diese da fehlt jede Hoffnung – die ersehnte Genesung erlangen, da ich, durch tausend Anzeichen gewarnt und aufgeschreckt, endlich mühsam einsehen lerne, es sei wohl wahr, dass ich trotz meinem Verlangen, mir und andern zu nützen, absichtslos mir und vielen anderen schade! Ja dass vielleicht die Klage eines alten Familienvaters nicht ungerecht gewesen sei, der einst betrübt und fast weinend mich unverhofft aufgesucht und gesagt hatte: „Ich für meine Person habe Dich immer geschätzt; doch schau nur her, welchen Dank Du mir erstattest! Dass sich mein einziger Sohn ins Unglück stürzt, ist Deine Schuld.“ 9. Ich erschrak damals sogleich voller Scham; mich rührten das hohe Alter des Mannes und seine von grossem Schmerz geprägten Züge. Doch ich überlegte hierauf, was an der Sache sei, und antwortete, weder er noch sein Sohn seien mir bekannt, worauf der Alte sagte: „Was liegt daran, ob Du ihn kennst; jedenfalls kennt er Dich; und als ich ihn unter hohen Kosten für das Studium des Zivilrechts bestimmt hatte, erklärte er, lieber auf Deinen Spuren gehen zu wollen; und nun sehe ich mich um eine grosse Hoffnung betrogen. Er wird, wie ich annehmen muss, weder als Rechts-

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berater noch als Poet je etwas taugen.“ Mit diesen Worten brachte er mich und die Anwesenden zum Lachen; er aber ging nicht im geringsten erheitert davon. 10. Und nun begreife ich, dass er nicht Lachen sondern Mitleid und Ratschlag verdiente und dass seine und ähnlicher Leute Klagen nicht unbegründet sind. Die Söhne besserer Familien waren einst mit Rücksicht auf ihre Angehörigen und Freunde gewohnt, das ganze Geschrei um eigene Geschäfte, Handelswaren, Juristengeschwätz und Akten aufzuzeichnen. Jetzt hingegen tun wir alle das Eine und Gleiche; jetzt ist vollkommen wahr, was Flaccus gesagt hat:8 „Ob wir gelehrt oder nicht, wir schreiben gleich tüchtig Gedichte.“ Eine bittere Art Trost ist die Erkenntnis, dass man seine Plagen mit vielen teile! Doch allein zu leiden, wäre mir lieber. Mich plagen nun sowohl die eigenen Übel wie auch die von andern, und möchte ich aufatmen, werde ich daran gehindert. 11. Denn täglich regnet es Briefe, täglich Gedichte aus jedem Winkel dieser Erdengegend auf mein Haupt; und – damit nicht genug – überschütten mich auch von auswärts, nicht bloss aus Gallien, nein auch aus Griechenland, Deutschland und Britannien, wahre Gewitterstürme von Schriftstücken, soll ich doch aller Talente Begutacher sein, meines eigenen nicht kundig. Antworte ich auf alles einzelne, bin ich unter sämtlichen Sterblichen der meist beschäftigte, verurteile ich, bin ich ein verhasster Kritiker, lobe ich, ein schmeichlerischer, lügenhafter, schweige ich aber, gar ein anmassender, überheblicher. 12. Man fürchtet wahrscheinlich, ich könnte mich allzu langsam verzehren, doch entspreche ich ihrem Wunsch, teils wegen ihres Drängens und teils wegen meines eigenen Feuers. Und all das hätte nicht genügt, wäre die Krankheit nicht endlich auch – wer hätte solches erwartet! – heimlich über die römische Kurie hereingeschlichen. Was, meinst Du, treiben da jetzt die Juristen, was die Mediziner?9 Justinian und Äskulap10 haben sie vergessen, und ihre heulenden Klienten und Kranken hören sie nicht mehr an; aufgeschreckt durch die Namen Homer und Vergil sind sie taub geworden und schweifen beim Brausen der Quelle des Aon11 durch die waldigen Täler von Kirrha.12 13. Was verweile ich bei geringeren Wunderdingen? Auch Wagner, Walker und Bauern13 haben ihren Pflug und die Geräte des Handwerks weggelegt und schwatzen nun über die Musen und Apollon. Nicht zu beschreiben, wie weit diese Seuche schon um sich greift, der vor kurzem nur wenige Menschen verfallen waren! Willst Du wissen, weshalb? Das Ding hat einen ungemein süssen Geschmack. Aber nur von recht seltenen Geistern wird es wirklich gekostet. Es verlangt Gleichgültigkeit, ja ausnehmende Verachtung gegenüber allen anderen Dingen, einen erhabenen und losgelösten Geist, ja auch eine durchaus geeignete Naturanlage. Die Erfahrung und die Autorität bester Kenner hat nämlich bewiesen, dass in keiner anderen Kunst so wenig durch Studien erreicht wird wie in dieser.14 14. Darum findet man – was Dir

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vielleicht erfreulich erscheint, mir dagegen Ekel erregt – alle Poeten auf den grossen Plätzen, dagegen auf dem Helikon15 fast keine. Sie alle kosten den Honig des Musenberges nur mit der Zungenspitze, und keiner verdaut ihn.16 Und doch! Wie wunderbar – ich bitte Dich –, wie beglückend muss die Kunst für ihre wahren Inhaber sein! Vermag sie doch wie im Traum selbst betriebsame, ja geizige Leute so zu entzücken, dass sie gezwungen sind, Geschäfte und Gelderwerb zu vergessen!17 15. Mitten in all den vielen Eitelkeiten unserer Epoche und all der verlorenen Zeit gibt es etwas, wozu ich meiner Vaterstadt18 Glück wünsche: Unter ihrer Jugend nämlich wachsen, wenn meine Liebe nicht täuscht, mitten im unseligen über die Erde verbreiteten Lolch und sterilen Hafer einige glücklichere Talente auf, und diese werden nicht ohne Gewinn aus der Quelle der Kastalia trinken.19 Auch Dir, Du Musensitz Mantua,20 Dir, Padua, Dir, Verona, Dir, Vicenza, Dir, mein Sulmona,21 wünsche ich Glück, und auch Dir, Neapel, Stätte Vergils, während ich anderwärts neue Herden von Dichterlingen auf unsicheren Pfaden, immer dürr und immer durstig, umherirren sehe. 16. Dieser Umstand quält, wie ich sagte, mein Gewissen, als würde ich zu einem guten Teil ganz allein diesen Absonderlichkeiten Nahrung verschaffen und vielen mit meinem Beispiel schaden, was unter allen Arten der Schädigung nicht die letzte ist. Und ich fürchte, die Blätter meines Lorbeers, die ich allzu begierig von allzu jungen Ästen gepflückt habe,22 verschaffen mir und vielen andern – entgegen der Behauptung, dass sie prophetische Träume erzeugen,23 – eine lügnerische Traumlosigkeit und zur Herbstzeit jenen Frühschlaf, den das elfenbeinerne Tor entsendet.24 17. Doch recht so! Ich schlage mich mit meinen eigenen Sünden! Denn zu Hause lebe ich voller Aufregung und vor der Öffentlichkeit wage ich kaum zu erscheinen. Von allen Seiten laufen mir ja die Verrückten entgegen, forschen mich aus, packen mich, belehren mich, disputieren, streiten und reden von Dingen, welche sogar der Hirte von Mantua25 und der mäonische Alte26 nicht wussten. Ich staune, lache, erbarme mich, gerate in Zorn, und schliesslich packt mich die Angst, die Behörde schleppe mich vor Gericht, als hätte ich die Zerrüttung des Gemeinwesens verschuldet. 18. Wohin lasse ich mich treiben? Ich sagte oben, ich hätte nichts zu schreiben, und sieh da: Einen Text aus lauter Lappalien hast Du vor Dir. Ich sagte, ich wüsste nicht, an wen ich schreiben könnte; und dann bestimmte ich Dich als den für diese Lektüre bestens geeigneten. Und fragst Du weshalb, so habe ich einen Grund schon genannt und füge nun einen zweiten hinzu. Du wirst – um von Scherzreden zu Ernsthaftem zu wechseln – desto rascher bereit sein, mir zu verzeihen, wenn ich vor Dir als der erscheine, der allen Gedichten und Poeten der Welt verpflichtet und ausgeliefert ist. Denn unser gemeinsamer Herr27 und Du habt auf der Reise an mich geschrieben, aber auf Eure Zeilen habe ich nicht geantwortet, es sei denn durch Beachtung des Inhalts. Entdeckt habe ich in Eurer Epistel sicherste Anzeichen seiner Anhänglichkeit und Deiner Liebe. 19. Und seinen Befehl und Rat-

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schlag habe ich befolgt; obwohl ich schon zum Aufbruch bereit war. Als Euer Machtwort mir entgegentrat, hielt ich inne und wartete danach unruhig, so lange ich konnte.28 Aber, Gott ist mein Zeuge, nicht so, als hätte ich aus eben den Briefen irgendwelche Hoffnung gewonnen. Ich schäme mich nicht, vor Dir zu prahlen, mir sei kein Mensch bekannt, der einem erwartungsvollen Begehren weniger zugänglich wäre als ich. Denn ich erhoffe fast nichts, und Du kennst den Grund: Ich wünsche auch fast nichts. Immerhin wartete ich darauf, das mir verehrungswürdige Haupt jenes hochangesehenen und besten Mannes – um vor Dir nicht auch über Dich zu sprechen! – wenigstens noch einmal zu sehen, bevor ich verreise. Denn bin ich einmal verreist, werde ich vermutlich auf lange Zeit das unangenehme Gefühl der Entbehrung zu erleiden haben. 20. Indem ich da, wo mich die Briefe fanden, zuwartete, gingen mir zwei Monate verloren. Doch als der Ekel vor der Kurie schliesslich überhand nahm, gab ich, wie ich gestehe, auf und entfernte mich, jedoch nicht weiter als bis zur Einsiedelei, die ich an der Quelle der Sorgue besitze und wo ich mich, erschöpft von kurialen Sorgen, mit erfreulichster Abwechslung zu erquicken pflege. 21. Hier also bin ich noch; hier werde ich, soweit äusserste Dringlichkeit es gestattet, auf Euch warten. Und obwohl ich da seit frühester Jugend viele Jahre verbracht habe, ist bisher – weshalb weiss ich nicht, aber vielleicht weil die Luft da ausschliesslich solche Lebewesen ernährt, die sich fremden Eindrücken fast völlig entziehen, oder vielleicht weil das völlig abgeschlossene Tal, das ja mit vollem Recht Vaucluse genannt wird, keinen auswärtigen Lüften Zutritt gewährt – ist also bisher noch keiner, angesteckt durch uns, zum Dichter geworden. Doch nein, eine Ausnahme macht einer meiner Diener,29 der als alter Mann eben anfängt, „… sich am doppelten Joch des Parnass zu üben,“ wie Persius30 sagt. Sollte sich das nun auch hier ausbreiten, ist alles aus. Dann werden Hirten, Fischer, Jäger, Bauern und schliesslich auch die Ochsen lauter Gedichte muhen und lauter Gedichte wiederkäuen. Du aber lebe wohl, denke an uns und bleibe gesund! (Vaucluse, 8.-11. November 1352)31

Anmerkungen 1 In Fam. 9,9,6, geschrieben in Mantua, charakterisiert Petrarca diesen Petrus Alvernus (Pierre aus der Auvergne) als seinen neuen Freund und empfiehlt ihn seinem Sokrates in Avignon. Sicher ist von ihm auch in Fam. 9,10,4 die Rede, und übrigens richtet Petrarca Fam. 15,5 und 15,6 an ihn. Zu den im Text erwähnten Namen vgl. das Personenreg.

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2 Deukalion und seine Gattin Pyrrha, die allein aus der Sintflut gerettet wurden, warfen Steine hinter sich, die zu Menschen wurden. 3 Das war ungefähr 1338. 4 Dass Anstrengung ernähren, kräftigen (alere) kann, sagt Petrarca auch Fam. 13,11,6. 5 Iuv. Sat. 7,51–52. Die moderne Schreibseuche nennt Petrarca schon in Fam. 1,2,3. 6 Zu hoc scribere und aliud scribere fehlen klare Bezüge. Gemeint ist wohl das Schreiben eines Literaten und Dichters über Literarisches und Poetisches im Gegensatz zu Abhandlungen wissenschaftlicher Art und zu Aktenmässigem; vgl. unten Abschnitt 9. 7 Petrarca denkt an sittliche Mängel, wohl insbesondere an Acedia (Trübsinn, Melancholie), deren er sich im Secretum 2,13,1 und an anderen Stellen besonders eindrücklich anklagt. 8 Epist. 2,1,117. 9 Dass es an der Kurie neben Juristen auch besonders viele Mediziner gab, lernt man z. B. aus Fam. 5,19. 10 Das sind Autoritäten der Jurisprudenz und Medizin; vgl. Personenreg. 11 Aon: Sohn des Poseidon; nach ihm benannte man eine Landschaft nahe dem Helikon; die dort siedelnden Nymphen waren die Aonides. Vgl. z. B. Verg. Ecl. 10,12 und Georg. 3,11. 12 Das ist Krisa, die Ebene von Itea. 13 Vgl. Fam. 21,15,16 ff. zum Einfluss von Dantes Dichtung. 14 Vgl. Cic. Pro Arch. 8,18. Von der auf natürlicher Veranlagung beruhenden Redegabe spricht Petrarca mehrmals, so auch Fam. 13,9,3. 15 Der Musenberg in Böotien. 16 Man vgl. Fam. 1,8,17 über das Gleichnis vom Honigsammeln der Bienen. 17 Vgl. Fam. 21,11,6 zu Enrico Capra. 18 Petrarca denkt an den Dichterkreis um Boccaccio in Florenz. Vgl. den Brief an Homer, Fam. 24,12, 31 vom Jahr 1360. 19 Das ist eine Quelle am Parnass, geweiht dem Apoll und den Musen. 20 Petrarca denkt bei Mantua an Vergil, bei Padua an Livius, bei Verona (wegen eines Irrtums) an Plinius, bei Vicenza wohl an Remmius und bei Sulmo(na) an Ovid. 21 „Mein“ setzt Petrarca zu Sulmona, weil einer seiner besten Freunde, Barbato, von daher stammte. 22 Ähnliches Bedauern über allzu grosse (allzu frühe) Ehrung auch anderswo, z. B. Fam. 17,10,24 ff.; 19,16,12. 23 Das Kauen von Lorbeer gab der Pythia in Delphi die Kraft der Weissagung; und gemäss einem verbreiteten Aberglauben vermittelten die Blätter des Lorbeers weissagende Träume, wenn man sie unter das Kopfkissen legte. 24 Vergil spricht bei der Schilderung der Unterwelt von einer Türe aus Horn, die wahre Schatten aussendet, und von einer zweiten aus Elfenbein, die falsche Träume entlässt; so in Aen. 6,893–897; vgl. Fam. 24, 11 Verszeile 20. 25 Das ist Vergil, der Hirtengedichte und eine Dichtung über Landbau verfasste. 26 Das ist Homer; vgl. Fam. 24,11 letzte Verszeile und Anm. 27 Gemeint ist der Kardinal Guy de Boulogne. Dieser hatte Petrarca zuerst erlaubt abzureisen, darauf aber befohlen, seine Rückkehr abzuwarten; dabei hatte er Gunsterweise angedeutet; vgl. Fam. 14,7,1. 28 Das sagt Petrarca alles in der Vergangenheit, obwohl er noch immer wartet. Allerdings wartet er – wie aus der folgenden Bemerkung hervorgeht – nicht mehr in Avignon sondern in Vaucluse. Seine Beteuerungen wiederholt er fast wörtlich in einem Brief an den Kardinal Guy de Boulogne selber in Fam. 14,7,4; dieser wird auf den 8. November 1352 datiert. 29 Das ist Raymond Monet; vgl. Fam. 16,1,5. Viel Lobendes sagt von ihm und seiner Frau Fam. 13,8,8 und 12. 30 Pers. Sat. prol. 2. 31 Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 133–138; 142 und den Index der Briefe ebenda; auch Petr. corresp. 71.

Fam. 13,8, an Francesco Nelli1 Über das ländliche Leben in der Einsiedelei von Vaucluse. 1. Petrarca übt sich im Kampf gegen Anfechtungen seines Leibes. 4. Lobrede auf seine Wirtschafterin. 8. Vorzüge seines Wirtschafters. 9. Der Dichter greift gern zur Angel. 10. Die Kleidung hat er geändert. 12. Ein Wort über seine Gärtlein und sein Haus. 15. Schilderung des für Studien bestens geeigneten Ortes. (An der Quelle der Sorgue, Juni/August 1352)

1. An der Quelle der Sorgue verbringe ich den Sommer. Schon weisst Du, selbst wenn ich schweige, was daraus folgt; und verlangst Du, dass ich’s sage, erledige ich’s in Kürze. Meinem Leib habe ich Kampf angesagt.2 Nun helfe mir Jener, ohne dessen Beistand ich erliegen müsste. Denn Gaumen, Bauch und Zunge, auch Ohren und Augen gebärden sich oft nicht als meine Glieder, sondern als grausame Feinde. 2. Wie mancher Schaden von ihnen ausging, ist mir gegenwärtig; besonders von den Augen, die auf jedem Weg zum Absturz die Führung übernahmen. Ihnen untersage ich so strikte alles Ausschweifen, dass sie ausser Himmel, Berge und Quellen fast nichts erblicken, nicht Gold, nicht Edelstein, weder Elfenbein noch Purpur, nicht Pferde, ausser zwei ganz unansehnliche, die mich mit einem einzigen Knecht in den umliegenden Tälern umherführen. 3. Schliesslich sehen sie auch niemals ein Frauengesicht ausser das meiner Wirtschafterin, das Dir, könntest Du es sehen, wie die libysche oder äthiopische Wüste erschiene; so völlig ist es vertrocknet und so ganz von der Glut der Sonne verbrannt. Nichts ist ihm geblieben an Kraft und nichts an Saft; und hätte die Tyndaride Helena3 ein ähnliches besessen, würde Troia noch stehen; und hätte das von Lucretia und Virginia ihm geglichen, wäre weder Tarquinius aus dem Reich verjagt worden, noch Appius in einem Kerker verschieden.4 4. Doch nach der Beschreibung ihres Äussern darf das verdiente Lob auf ihre Sitten nicht fehlen! Denn so düster ihr Gesicht, so hell ist ihre Seele! Ein prächtiges Beispiel bietet sie dafür, dass die Unschönheit einer Frau ihrer Seele nicht schadet. Und darüber wollte ich wohl einiges sagen, hätte Seneca im Hinblick auf seinen Claranus dieses Thema nicht ausgiebig in Briefen erörtert.5 Doch zum Besonderen meiner Wirtschafterin gehört, dass sie den Mangel an körperlicher Wohlgestalt, die doch vor allem ein Vorzug der Frauen und nicht ebenso der Männer ist, kaum vermissen lässt; ja man könnte versucht sein zu denken, Unschönheit stehe ihr gut an. Nichts ist getreuer, nichts bescheidener, nichts arbeitsamer. 5. Unter der glühendsten Sonne, wenn kaum die Zikaden die Hitze ertragen, arbeitet sie ganze Tage auf den Feldern und kümmert sich bei ihrer schon ledernen Haut weder um den Krebs noch den Löwen.6 Kehrt aber das Mütterchen spät nach Hause zurück, wendet es sein unermüdliches und ausdauerndes Körperlein so munter den häuslichen Geschäften zu, dass man sagen könnte, da komme ein junges Ding eben aus dem Bette. Bei all

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dem nichts von Murren, nichts von Klagen, kein Anzeichen geringster Verstimmung, vielmehr unglaubliche Sorge um den Mann und die Kinder, um meine Hausbewohner und meine mich besuchenden Gäste bei unglaublicher Selbstvergessenheit. 6. Dem steinharten Weiblein dienen als Lager auf dem Boden ausgebreitete Reiser, als Nahrung ein fast erdiges Brot, als Getränk ein essigartiger Wein, den sie mit Wasser übergiesst. Legt man ihr etwas Bekömmlicheres vor, nennt sie infolge langer Entwöhnung alles Wohltuende hart. Doch genug von meiner Wirtschafterin. Ausser in diesem ländlichen Schreiben war für sie kein Platz zu entdecken.7 7. In angedeuteter Weise also zügle ich meine Augen. Und was sage ich von meinen Ohren? Gesang, Flöte und Geige, die mich früher mit ihren schmeichelnden Tönen hinzureissen pflegten, fehlen mir. Diese ganze Seligkeit ist im Lufthauch zerstoben. Nichts höre ich ausser ein seltenes Muhen der Rinder oder Blöken der Schafe, das Singen der Vögel und das unablässige Rauschen des Wassers. Und wie steht es um die Zunge, mit der ich oftmals mich selber und bisweilen wohl auch andre ermunterte? Jetzt regt sie sich nicht; und oft ist sie vom Morgen bis zum Abend still. Ansprechen kann sie niemanden ausser mich. 8. Schon habe ich übrigens den Gaumen und den Bauch so weit erzogen, dass oft das Brot meines Rinderhirten auch mir genügt, ja oft gar behagt, und dass das weisse, das mir von anderswo geliefert wird, die Überbringer selber verspeisen. Schon ist mir die Gewohnheit eine Lust. Zudem habe ich auch am Wirtschafter8 einen äusserst ergebenen Diener, der – obwohl auch seinerseits wie aus Stein – mir niemals in irgend einer Sache widerspricht, ausser es betreffe meine Lebensart, von welcher er meint, sie sei allzu hart, als dass man sie lange ertragen könne. 9. Ich dagegen spüre, dass man eine solche Lebensart länger erträgt als eine weichliche, welche Überdruss bereitet und keine fünf Tage dauern kann, wie der Satiriker sagt.9 Trauben, Feigen, Nüsse und Mandeln sind mir eine Köstlichkeit, und die Fischlein, an denen der Fluss überreich ist, geniesse ich sehr, und zwar am meisten, während man sie fängt. Ich beobachte das aufmerksam, und schon vergnügt es mich, selber mit Angel und Netz umzugehen.10 10. Und die Kleider und Schuhe? Alles hat sich verändert!11 Nichts bleibt von meiner früheren Tracht. Ich sage „meiner“ wegen ihrer grossen Besonderheit, mit der – freilich unter Beachtung des Schicklichen und Geschmackvollen, wie ich glaube, – unter Meinesgleichen aufzufallen mir einst geschmeichelt hat. Einen Bauern oder Hirten würdest Du mich heissen, obwohl auch heute noch das Ausgesuchte am Gewand nicht fehlt. Für die Veränderung der Kleider gibt es aber nur den einen Grund: Was am ehesten gefällt, missfällt auch am ehesten. 11. Gelöst sind die Bande, die mich fesselten, geschlossen sind die Augen, denen ich zu gefallen begehrte; und wären sie noch offen, so hätten sie ihre alte Herrschaft über mich wohl verloren. Den eigenen Augen gefalle ich am besten, wenn ich unabhängig und frei bin.

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12. Und was sage ich von der Wohnstätte? Du würdest sie als Haus eines Cato oder Fabricius12 ansehen. Darin wohne ich mit einem einzigen Hund13 und mit nur zwei Dienern. Die übrigen habe ich nach Italien entlassen.14 Und hätte ich sie doch nach Indien geschickt, auf dass sie niemals wiederkehrten! Sind sie doch für meine Ruhe ein einziger Sturmwind.15 Mein Wirtschafter hingegen wohnt in einem angrenzenden Haus, immer zu kommen bereit, wenn man ihn braucht. Und droht seine Dienstbereitschaft lästig zu werden, ist es eine Kleinigkeit, ihn mit einem Türlein auszuschliessen. 13. Zwei kleine Gärtlein habe ich hier erworben, und sie entsprechen meinem Können und Wollen aufs denkbar beste. Wollte ich sie schildern, so fände ich kein Ende. Kurz gesagt, gibt es auf der ganzen Erde kaum etwas ähnlich schön Gelegenes; und soll ich einen weibischen Leichtsinn gestehen, so ärgert mich bloss, dass etwas dieser Art sich ausserhalb der Grenzen Italiens befindet.16 14. Diesen Ort pflege ich unseren transalpinen Helikon17 zu nennen. Das eine der Gärtchen ist schattig, ganz zu Studien geeignet und unserem Apoll geweiht.18 Es neigt sich über die Quelle der Sorgue und hat über sich nichts anderes als Felsen und das Weglose, das einzig wilden Tieren und Vögeln offensteht. Das andere Gärtchen ist nahe am Haus, von besser gepflegtem Aussehen und dem Bacchus teuer. Es liegt – kaum zu glauben! – mitten im reissenden, herrlichen Fluss.19 Und daneben, bloss auf einer kurzen Brücke erreichbar, hängt am hintersten Teil des Anwesens ein Gewölbe aus rohen Steinen, das eben jetzt die sommerliche Hitze zu spüren verhindert. 15. Es ist ein Ort, der zum Studieren befeuern kann, und ich vermute, er sei nicht ungleich jenem kleinen Atrium,20 in dem Cicero zu deklamieren pflegte; nur dass eine vorübergleitende Sorgue dort gefehlt hat. Unter diesem Gewölbe verbringt man den Mittag, den Morgen auf den Hügeln und den Abend auf den Matten oder im rauheren Gärtlein an der Quelle, wo mir ein Kunststück durch Überwindung der Natur einen Sitzplatz unter hohem Felsen und mitten in den Wellen verschafft hat, zwar einen engen, aber voll von bezaubernden Reizen, die selbst einen trägen Geist zu höchster Anstrengung hinzureissen vermöchten. 16. Was willst Du? Ich könnte hier wohl mein Leben verbringen, wenn Italien nicht so fern und Avignon nicht so nah wären. Wozu soll ich diese doppelte Schwäche meiner Seele verbergen? Die Liebe zum einen umschmeichelt und lockt mich, der Hass auf das andere kränkt und erbittert mich. Ach dieser schreckliche, die ganze Welt verpestende Gestank! Wen wundert’s, dass er bei der allzu engen Nachbarschaft auch die reine Unschuld dieses Gütleins beschmutzt? Er wird mich von hier verdrängen; das spüre ich! Indessen siehst Du, wie ich hier lebe.21 Nichts wünsche ich herbei ausser Dich zusammen mit den rar gewordenen Freunden.22 Nichts fürchte ich ausser die Rückkehr in die Städte. Lebe wohl! (An der Quelle der Sorgue, Juni-August 1352)23

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Fam. 13,8

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 12,4 Anm. 1 und Personenreg., auch Überblick. 2 Davon sprechen ausgiebig auch frühere Briefe; so z. B. Fam. 2,9,17 an Giacomo Colonna; Fam. 5,18,1 ff. an Guido Sette; Fam.10,3,26 f. und 10,5,18 ff. an den Bruder Gherardo; vgl. unten Anm. 21. 3 Tochter des mythischen Königs von Sparta Tyndareos, Gattin des Königs Menelaos, die der Troer Paris entführte und damit den Troerkrieg heraufbeschwor. 4 Vgl. das Personenreg. 5 Ad Lucil. 66,1–4. 6 Gemeint sind die beiden sommerlichen Zeichen des Tierkreises. 7 Petrarca beachtet seinen Vorsatz, in seinen lateinischen Briefen nur kulturell und politisch Wichtiges und Männliches zu berichten. 8 Der Wirtschafter hiess Raymond Monet; er stammte aus Clermont. Seine Nachkommen führte Petrarca in seinem Testament auf. Vgl. Fam. 16,1, aber auch Dotti, Vita 50. 9 Iuv. Sat. 11,206–208. 10 Petrarca hatte schon früher in Vaucluse eher Fischer als Jäger werden wollen; vgl. Fam. 5,14,7. 11 Vgl. Fam. 9,3. 12 Vgl. Personenreg. im 1. Bd. 13 Einen Hund hatte Petrarca vom Kardinal Colonna geschenkt erhalten; vgl. Metr. 3,5; später hinterliess ihm ein Freund einen Hund; vgl. Fam. 13,11. 14 Das Datum des Briefes ist zu beachten. Dieses verrät, dass er zwischen Fam. 15,1 und 15,2 einzusetzen wäre. 15 Über die Schwierigkeit, zuverlässige Diener zu finden, sprechen z. B. Fam. 4,14; 5,14; 10,3,30 und 22,12,4 ff. Die Absendung von Dienern nach Italien erwähnt Petrarca auch Fam. 15,3,5. 16 Petrarca hatte schon früher auch in Parma seine Gärten gepflegt, wie aus Notizen in seinem Exemplar Palladius, De agricultura hervorgeht; vgl. Dotti, Vita 216. Auf seinen Garten eben dort verweist übrigens Fam. 5,7,12. 17 Einen italienischen Helikon hatte Petrarca in der Nähe von Parma; vgl. die vorangehende Anm. 18 Unser Apoll: so bezeichnet Petrarca oft Christus. 19 Vgl. hierzu Fam. 16,6,23 und 16,7,3. 20 Seneca Maior, Controv. 1, praef. 11. 21 Beschreibungen seines früheren und späteren Einsiedlerlebens findet man vor allem Fam. 15,3,10; 16,11,11; 17,5,5 ff.; 19,16,23; 21,12,10 ff.; 22,21,4 ff. 22 Eine beträchtliche Zahl war an der Pest gestorben. 23 Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 93 f. 128. 177. 206. 212 und Petr. corresp. 71; auch bei Dotti, Vita 264 Anm. mit dem Hirnweis auf Metr. 3,33.

Fam. 13,9, an den florentinischen Grammatiker Zanobi1 Petrarcas Ratschlag fand in Neapel Beachtung. 1. Zanobi habe sehr rasch gehorcht. 3. Seinen Brief und den von Acciaiuoli habe Petrarca erhalten. Der des Gross-Seneschalls scheine zu beweisen, dass Redekunst eine Naturbegabung sei. 4. Die Kritik an einem Vers habe Zanobi gut aufgenommen. 5. Er wird gebeten, seinerseits den Werken des Dichters gute Dienste zu leisten. 7. Petrarca wird von Neidern verfolgt. 9. Er freut sich, mit seiner Feder die Versöhnung von Hofleuten gefördert zu haben. An der Quelle der Sorgue, am 10. August (1352).

1. Wie hoch ich es werte, Dir so wert zu sein, fiele mir schwer zu sagen. Veranlasst habe ich Dich, Deine Vaterstadt auf Zeit und die Grammatikschulen auf immer zu verlassen, und gehorcht hast Du meinem Wort fast zu eilig und hast sehr kräftige Knoten, die Liebe zum Heimatboden und die Macht der Gewohnheit, grossmütig zerrissen.2 2. Die Dir geschuldete Freiheit hältst Du jetzt, weil recht spät, desto lieber umfangen,3 denn wie niemandem der Herrendienst so bitter ist wie einem, der die Freiheit gekostet hat, so ist auch keinem die Freiheit so köstlich wie jenem, der sich des vergangenen Herrendienstes erinnert. Der allmächtige Gott segne sowohl meine Beratung wie Deine Beherzigung; er wird es tun, so hoffe ich. In einem erquickenden Schatten hast Du Dich niedergelassen; Du wirst Dich kräftiger und munterer wieder erheben. Für mich bist Du nun schon grösserer Ehre würdig und schönerer Titel wert; und schon bist Du mir nicht mehr bloss Grammatiker sondern Dichter. 3. Den Brief jenes besten und würdigsten Mannes4 habe ich mit dem Deinen empfangen. Wie ich mit jenem umgehen soll, ist mir unklar. Antworte ich, was ich denke, fürchte ich, was ich am wenigsten wollte, nämlich als Schmeichler dazustehen; sage ich weniger, gelte ich als Undankbarer; sage ich anderes, als Dummkopf, und sage ich gar nichts, als Hochmütiger. Ich werde jedenfalls gemäss der Redeweise antworten, in der die Briefe geschrieben sind,5 jenem, was mir einfällt, und Dir – über seinen Brief – dies eine: Es gibt meines Erachtens nichts Angenehmeres, nichts Knapperes, nichts Eindrücklicheres, nichts Urbaneres! Weshalb der Zweifel, sofern ich ihn jemals hegte, heute überwunden ist, nämlich dass die Beredsamkeit zu einem guten Teil eine natürliche Begabung ist und weit weniger als andere Künste durch Studium erlangt wird.6 Das ist keine unbedeutende Frage, keine für unsere Zeitknappheit und diese Stelle. Ich wende mich Deinem Schreiben zu. 4. Meinen Hinweis auf einen geringen Fehler, der Dir in einem Gedicht zweifellos nur aus Unachtsamkeit unterlaufen ist,7 hast Du nicht bloss geduldig, sondern auch dankbar und heiter angenommen, nämlich wie gewohnt und wie es Deiner Begabung geziemt. Damit legst Du den deutlichsten Beweis für einen gelehrten und bescheidenen Menschen vor. Wirklich, nie hättest Du so gesprochen, wärst Du nicht so geartet, und nie hätte ich Dich ermahnt, wüsste ich nicht, dass Du so geartet bist.

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Fam. 13,9

5. Doch wenn Du nun als Verteidiger meiner Werke und als ihr Herold auftrittst, tust Du, was mir nützt und was Dich ehrt. Doch glaube mir, es ist nichts Leichtes. Grosse Mühe bürdest Du Dir auf; aber bitte fahre fort und handle so! Denn obwohl Du das Gegenteil sagen wirst und wohl auch fühlen magst – weil die Liebe glänzend zu überreden versteht –, spüre ich selber, dass alles, was ich tue, die Unterstützung meiner Freunde und die Geduld meiner Zuhörer benötigt.8 Denn zerbrechlich und roh ist alles, und häufig geschah, dass ein mit anderen Dingen stark belasteter Kopf etwas hinwarf. 6. Was Du also freiwillig tust, das tu gebeten: Das Zerbrechliche stütze, so gut als Du kannst, das Rohe veredle; das Zerfallene kitte zusammen. Tu das erste mit den Kräften des Geistes, das zweite tu mit der Rede, ob in mildem oder scharfem Ton, und das dritte mit der Kunst des Gestaltens. Deine Waffen, mit denen Du mir helfen kannst, zeige ich Dir an; und weder Dir noch mir wirst Du einreden, Hilfe sei nicht nötig. Nie wird es – so meine ich – an Leuten fehlen, die einzig dazu scharfsinnig sind, dem Scharfsinn anderer nachzustellen. 7. Ich selber habe weder mit Schlupfwinkeln noch mit Einsiedlerleben und Musse oder mit betonter Bescheidenheit gegen andere soviel zu verdienen vermocht, dass die Missgunst ihre scheelen Augen von meinen Wegen abgewandt hätte. Gar alles habe ich getan, was man gegen diese Seuche vorkehren kann, ausser das eine, das ich weder getan habe, noch je zu tun gedenke: Weder dem Schlaf noch der Mutlosigkeit habe ich mich ergeben. Übrigens weiss ich nicht, was sie sonst noch herbeiwünscht, wenn nicht vielleicht meinen letzten Lebenstag. Doch wenigstens dann, so möchte ich hoffen, werde die Scham die unerbittlich nachdrängende Missgunst von meiner Grabstätte fernhalten. 8. Bis dahin, Freund, wirst Du meinen Ruf – nicht ohne eigenen Ruhm – beschützen! Deinen brennenden Eifer würde ich, selbst wenn ich seiner nicht bedürfte, hoch loben; doch, wie ich sagte, bin ich seiner bedürftig. Den Mächtigen zu dienen, ist eine alltägliche Gunst, doch wahre Grösse des Geistes ist es, den Schwachen beizustehen. Einen hilflosen Angeklagten zu schützen, verdient besonderes Lob, und die wahre Eloquenz eines Advokaten erkennt man in der Verteidigung einer schwierigen Sache. Darum ertönt in den Hallen der Grammatiker nicht ohne Beifall der Zuhörer das Sprüchlein:9 „Kraft verlieh dem schwachen Beweis die Redegewandtheit“. Und obwohl die dazugehörige Geschichte von Lucan erfunden wurde und Tullius nie auf thessalischen Schlachtfeldern gewesen ist,10 meinte der Dichter nicht zu Unrecht, einzig jener wäre geeignet gewesen, die Stimmungen und Wünsche aller Beteiligten dem Ohr jenes Feldherrn vorzutragen. 9. Bleibt noch mir und dieser Feder hier, die Genugtuung auszusprechen, dass wir miteinander, wie Du meldest, zur Wiederherstellung der Freundschaft unter den grossherzigen Männern mehr vermochten, als wir – sieht man von unserer

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nackten Ergebenheit ab – jemals verdient hätten.11 Und wie ich gestehe, bin ich den beiden weit über die Fülle ihrer früheren Verdienste hinaus gerade dafür verpflichtet, dass sie so leicht sich gewinnen liessen. Wenn Du zuletzt noch bittest, ich möchte dem hochansehnlichen und freigebigen Herrn an Deiner Stelle danken, so wird es geschehen, da ich erkenne, dass es wirklich Dein Wille ist. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 10. August (1352).12

Anmerkungen 1 Zu Zanobi vgl. das Personenreg. in Bd. 1 und die früheren Briefe Petrarcas an ihn; dazu Metr. 3,8 und 3,9 bei Schönberger lat.und dt. 249 ff. Am Hof von Neapel befand sich Zanobi erst seit kurzer Zeit. 2 Vgl. Fam. 12,3, wo Petrarca den Adressaten auffordert, seine Tätigkeit in Florenz aufzugeben und einem Ruf des Gross-Seneschalls Acciaiuoli in Neapel zu folgen. 3 Gemeint ist Befreiung vom Schuldienst. 4 Gemeint ist Acciaiuoli. 5 Acciaiuoli drückte sich lieber in der Vulgärsprache als lateinisch aus. In Fam. 12,15,1 dankte ihm Petrarca für ein Schreiben, das den Stil des Sekretärs Barbato verriet; jetzt scheint der Gross-Seneschall auf fremde Hilfe verzichtet zu haben. Vgl. Metr. 3,14 bei Schönberger lat. und dt. 261 ff. 6 Eine ähnliche Ansicht äussert Petrarca z. B. Fam. 13,7,14. 7 Vgl. Fam. 12,17,1. 8 Ähnliche Bitten um Korrekturvorschläge äussert Petrarca auch sonst, so z. B. in Fam. 7,16 gegenüber Lapo da Castiglionchio. 9 Luc. Phars. 7,67. 10 Cicero war 48 nicht im Lager bei Pharsalos, sondern blieb in Dyrrhachium zurück, hat also entgegen der Darstellung Lucans am Schlachtort keine Rede gehalten. 11 Zum Versuch, Acciaiuoli und Barrili miteinander zu versöhnen, vgl. Fam. 12,14–12,17 und Metr. 3,13 und 3,21 bei Schönberger lat.und dt. 259 ff. und 277 ff. sowie 3,14, ebenda 262 ff. 12 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 130 und Petr. corresp. 71.

Fam. 13,10, an denselben Zanobi Erklärung zu einem vorangehenden Schreiben. 1. Menschliche Werke sind nie vollkommen. 2. Petrarca hat bei der Aufzählung von Freundespaaren gewisse mit Absicht weggelassen. 4. Für diese Weglassung gibt er Gründe an. An der Quelle der Sorgue, am 25. August (1352).

1. Nichts Unvollkommenes, Freund, soll Dir an mir missfallen. Ich spreche aber nur von auffälliger Unvollkommenheit, denn im übrigen ist nicht bloss bei mir, sondern auch bei jenen, die gemeinhin für durchaus vollkommen gelten, alles unvollkommen. Und für sehr richtig halte ich eines Grammatikers Ausspruch, der mehr ist als grammatikalisch:1 „An den Erzeugnissen der Menschen ist nichts in jeder Hinsicht vollkommen.“ Und richtig ist auch das andere aus der Lyrik:2 „…nichts ist auf jeder Seite vortrefflich“. 2. Wie ich zugebe, habe ich in meinem Schreiben an jene illustren Männer,3 denen ich wünsche, ihr Ruhm und ihre Freundschaft möchten ewig dauern, bei der Aufzählung berühmter Freundespaare von einem vielgenannten geschwiegen, von Nisos nämlich und Euryalos, geadelt durch die Dichtung Vergils.4 Das habe ich nicht aus Versehen getan, sondern wohlüberlegt. 3. Und die Gründe sollst Du erfahren. Erstens war es nicht meine Absicht, alle aufzuspüren und aneinander zu reihen; und übrigens tat ich es nicht, weil ich die edlen Herzen just mit der ausnehmenden Seltenheit der Sache zur Nachahmung anfeuern wollte. Nur wenige miteinander zu verbinden, genügte mir; vor allem waren es ihrer immer noch mehr als bei Cicero, der ja in seinem Buch mit dem Titel „Laelius“5 von der wahren Freundschaft handelt und ohne Namen anzugeben erklärt, in allen Jahrhunderten liessen sich kaum drei oder vier Freundespaare nachzählen. 4. Als weiterer Grund kam dazu, dass ich wünschte, zwischen unsern Bekannten werde die Freundschaft – nach ihrer Erneuerung unter glücklichen Auspizien – ewig dauern, und dass ich dabei zwei tüchtige Männer ansprach, die mit ihren leuchtenden Vorzügen bedeutende Übereinstimmung aufweisen. Da die Freundschaft von Nisos und Euryalos jedoch bloss eine kurze Weile dauerte und etwas Unstimmiges und Absonderliches an sich hatte (Euryalos war ja noch ein Kind gewesen), zudem einen ganz unglücklichen Ausgang fand, musste ich vor ihrer Erwähnung wie vor einem traurigen Omen zurückschrecken und es vermeiden, sie auch bloss namentlich zu erwähnen. An ihnen war eben nichts für glücklich und gedeihlich zu schätzen ausser ihr Herold Vergil. 5. Die sehr unbesonnenen Freundschaften der Gracchen6 kenne ich ebenfalls sehr wohl und übrigens auch das, was Lucius Reginus dem Gefangenen Caepio

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und was nach dem Tod des Lucullus ein Volumnius7 als treue Freunde leisteten. Es hat ja der eine, um den Freund zu befreien, weder den eigenen Verlust an Ehren noch die Vertreibung gefürchtet, und es hat der andere in glühender Anhänglichkeit den Tod auf sich genommen, nur um dem Geliebten in die Unterwelt zu folgen, obwohl das dem armen Freund nichts nützte. 6. Ich weiss auch, was Petronius einem Publius Caelius, und was Servius Terentius einem Decimus Brutus8 bedeutete. Doch in diesen Freundschaften wurde entweder die persönliche Liebe der allgemeinen vorgezogen oder fand die ungewöhnliche Treue ein trauriges, ja tödliches Ende. Auch Hephaistion ist,9 ganz abgesehen davon, dass er mit der Freundschaft Alexanders sich etwas völlig Unangemessenes zuzog, an einen Menschen geraten, mit dessen Sitten das Fundament einer Freundschaft nicht leicht zu festigen war. Und was Achilles angeht,10 so weiss ich nicht, wie ich die Trübung deuten soll, die seiner Freundschaft anhaftete. 7. Und nun ist für den Fall, dass Dich etwas befremdet hat, darüber genug gesagt. Denn jenes Paar aus Makedonien, verherrlicht durch einen plebejischen Dichter,11 halte ich neben so vielen lichtvollen Gestalten der Antike nicht einmal der Erwähnung wert. Wir alle, die wir mit einer kunstlosen Feder über trüben Membranen sitzen, sind ja schon nicht mehr bloss Nachahmer, sondern Affen der Alten geworden. Du aber lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 25. August (1352).12

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

Woher das Zitat stammt, kann ich nicht sagen. Hor. Carm. 2,16,28. Gemeint sind Acciaiuoli und Barrili; vgl. Fam. 12,14–17 und Fam. 13,9,9. Vgl. Aen. 5,294 ff. und 9,177–445. Lael. 4,15. Die folgenden Freundespaare findet man bei Val. Max. im Abschnitt 4 über Freundschaft. Euryalos: Sagengestalt. Junger Troer, berühmt für seine Schönheit und für seine Freundschaft mit Nisos. Mit dessen Hilfe siegt er in einem Wettlauf; gemeinsam finden sie den Tod bei einem Zusammenstoss mit Rutulern, einem Volk in Latium. Das erfindet Vergil in der Aeneis. Lucius Reginus verhilft als Volkstribun dem Freund Caepio, der mit Kerkerhaft bestraft wurde, zur Flucht und begleitet ihn. Vgl. Val. Max. wie oben Anm. 6. 7 Lucullus, Sohn eines Lucius, wurde als Parteigänger des Brutus von M. Antonius umgebracht; sein Freund Volumnius stellt sich Antonius; er will neben dem toten Lucullus erschlagen werden. Vgl. Val. Max. a. a. O. 8 Publius Caelius Caldus ist 87 Kommandant vor Piacenza; er läuft Gefahr, in die Hand der Marianer zu fallen, daher verlangt er Tötung durch den Freund Petronius, dem er einst zum Ritterstand verholfen hat. Dieser tötet ihn und sich. Servius Terentius gibt sich für den geflohenen Freund D. Brutus Albinus aus, wird aber erkannt. Vgl. Val. Max.

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9 Hephaistion unterstützt entschieden die Perserpolitik Alexanders des Grossen, rückt 327 mit seiner Heerestruppe in Indien ein, gründet viele Städte, wird Schwager Alexanders; † 324; seine Freundschaft mit dem Fürsten wird Gegenstand vieler Gerüchte. Vgl. Val. Max. 10 Bester Freund des Achilles war Antilochos, Sohn Nestors. Memnon brachte ihn um, und Achilles rächte ihn an eben diesem. Vgl. Val. Max. 11 Dieser Dichter ist offenbar nicht allein minderwertig, sondern auch ein Epigone der Spätzeit. Sonst wäre die Beziehung zum nächsten Satz unverständlich. 12 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 130 und Petr. corresp. 71.

Fam. 13,11, an den Archidiakon Matteo Longhi von Bergamo an der Kirche von Lüttich1 Über die Natur und Treue der Hunde. 1. Der Hund des Adressaten stutzt, weil er seinen Herrn nicht vorfindet. 3. Beispiele für die besondere Abhängigkeit der Hunde vom Menschen und für ihre Anhänglichkeit. 8. Über das Verhalten des vom Adressaten zurückgelassenen Hundes. An der Quelle der Sorgue, am 25. August (1351/1352).

1. Dein Hund, schwärzer als das Pech, behender als der Wind, ja treuer sogar als der Hund,2 stand nach Deinem Weggang „Stutzig und zweifelnd, wohin er sich wende…“ wie Vergil von Creusa sagt.3 Doch dass er sich, wie es weiter heisst „vor Ermattung gesetzt hätte“, vermute ich nicht. Kein Lauf, kein schwieriges Gelände, keine Wildnis würden ihn, der den Vogel und den fliehenden, in der Luft sich überschlagenden Hasen mit unglaublicher Schnelligkeit einzuholen versteht, je erschöpfen. Edle Lebewesen macht Anstrengung kräftig, zu viele Ruhe tötet sie.4 2. Es war also zweifellos zur Vermeidung eines Irrgangs und nicht einer Anstrengung, dass er vom Weiterlaufen absah. Als er die Spuren, auf denen er Dir folgen wollte, verloren hatte und nicht wusste, was tun in seiner grossen Betrübnis, hätte er sich in die Wälder begeben und sich da nach eigenem Begehren Nahrung suchen können; und das wäre ihm leicht und mühelos gelungen, hätte sich nicht die angeborene Natur widersetzt. Sie lässt es ja nicht zu, dass dieses Lebewesen abgeschieden vom Menschen überlebe. Von allen Tieren, die dem Menschen gehorchen, ist keines anhänglicher als der Hund, wie man sagt, und zögert keines länger, sich vom Menschen zu trennen. 3. Bekannt ist, dass gewisse Völker in ihren Gefechten ganze Rudel von Hunden an Stelle von Söldnern bei sich hatten, und dass diese im Notfall höchst zuverlässig und tapfer kämpften, ohne ein Gefecht jemals zu behindern. Wir lesen von gewissen Hunden, sie hätten sich zum Schutz ihres Herrn in den Tod gestürzt, und von andern, sie hätten ihren Herrn hartnäckig und erfolgreich vor Gewalttaten gerettet, 4. wieder von andern, sie hätten nicht minder getreu, aber weniger glücklich die Ihren vor Unrecht beschützt, bis sie selber durchbohrt waren und einzig ihr Tod die Ausführung der Untat erlaubte. Wir hören von solchen, die ihren getöteten Herrn zwar überlebten, aber trotz eigener Verwundung bei ihm ausharrten und den geliebten Leib, den vor Menschen zu retten missglückt war, wenigstens gegen Angriffe von Bestien und Vögeln verteidigten. 5. Andere sollen Getötete gerächt, und wieder andere sollen vergrabene Leichen mit ihren Krallen pflichtbewusst ausgescharrt und die unter Zuschauern versteckten Mörder mit wiederholtem Zubeissen, Winseln und Heulen verraten und zum Geständnis gezwungen haben. Über-

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dies vernehmen wir von einigen, sie hätten sich nach dem Verscheiden ihres Herrn zu Tode gehungert. 6. Eben diese Treue hat kürzlich in Padua ein mir bestens bekannter Hund jenem vorzüglichsten Menschen geleistet, an dessen Leben und Asche und Gedächtnis mich grosse Verpflichtung bindet. Es war nach dessen grausamem Tod, der mich noch immer zu Tränen rührt.5 Auch hören wir von Hunden, die starrsinnig bei einem Grabstein verharrten und da verhungerten, bevor man sie wegreissen konnte; von andern, welche auf die Scheiterhaufen ihrer brennenden Herren sprangen und mit diesen verbrannten. 7. Sonderbares wird uns durch Plinius und Solinus6 berichtet: Ein König der Garamanten7 habe aus seinem Exil ganze zweihundert abgerichtete Hunde zurückgebracht, damit sie ihn gegen seine Widersacher verteidigten. Noch Sonderbareres wird aus Rom gemeldet: Ein Hund sei seinem verurteilten Herrn bis ins Gefängnis gefolgt, was man ihm schwerlich habe verwehren können; und nach der Hinrichtung seines Herrn habe er seinen Schmerz durch unendliches Heulen bekundet; ja als darauf eine mitleidige Menge ihn habe zum Essen bewegen wollen, habe er die dargereichte Speise zum Munde seines Herrn gebracht, und als die Leiche in den Tiber geworfen wurde, habe er nachschwimmend versucht, die geliebte Last auf sich zu nehmen und zu tragen. Und nicht ohne guten Grund sei, um ein Wort des Plinius8 anzuführen, „eine grosse Menge zusammengelaufen, um die Treue des Tieres mit eigenen Augen zu sehen.“ 8. Zahllos sind die Zeugnisse für eine, wenn ich so sagen darf, hundeartige Treue. Doch wo sollte nun Dein Hund sich hinbegeben, da er Dich verloren hatte? Wo er doch aufgrund seiner Natur und im Gedanken an seinen Herrn vor dieser Einsamkeit zurückschreckte, gleichzeitig aber gegen die Herrschaft irgend eines Fremden sich sträubte? Der Arme hat das Einzige getan, was ihm übrig blieb. Er ging zu dem ihm vertrauten Haus zurück, wo er unter Deiner Leitung fröhlich gelebt und wohin er oft von einem rühmlichen Lauf eine Siegespalme zurückgebracht, oft blutige Böcklein oder Hasen gelegt hatte. Da er aber von Deinen Leuten dort keinen mehr vorfand, sprang er winselnd an der verschlossenen Türe hoch und weckte bei allen Umstehenden Mitleid für sich und bei allen auch Verlangen nach Dir. 9. Denn erst jetzt begannen wir unseren Verlust zu spüren und zu begreifen, dass Du, während wir Dich für anwesend hielten, nicht mehr da seist. Als er jedoch mich erblickte, begann er zu schnauben; und als ich ihm schmeichelnd zusprach, wedelte er mit dem Schwanz und kam willig zu mir. Jetzt begleitet er mich in die Wälder, tut Dienst nach meinem Befehl, macht sich unter meiner Aufsicht über grosses Getier her und bringt mir oft sehr willkommene Beute. Er ist bereit, wenn Du es verlangst, zu Dir zurückzukehren, doch auch zufrieden mit dem Geschick, das ihn zur Schwelle eines Freundes getrieben hat.9 Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 25. August (1351 oder 1352).10

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Anmerkungen 1 Matteo Longhi (Longo) war ein Neffe des Kardinals Guglielmo Longhi (Longo). Petrarca hatte ihn während seiner Studien in Bologna kennen gelernt und blieb mit ihm befreundet. An den gleichen Adressaten ist Sen. 13,8 gerichtet; vgl. Dotti, Vita, das Register. 2 Lateinisch: vento lenior cane fidelior. 3 Aen. 2,739. Creusa, Kreusa, bei Vergil Gattin des Aeneas in Troia. 4 Das selbe deutet Petrarca Fam. 13,7,6 an und denkt dort an sich. 5 Gemeint ist die Ermordung des Giacomo von Carrara; vgl. Fam. 11,2. 6 Vgl. Plin. Nat. 8,40,143 und 8,40,145, wo auch die andern angeführten Beispiele stehen, und Solin. Coll. 15,9. 7 Das ist ein berberischer Volksstamm. 8 Nat. 8,40,145. 9 Den Hund im eigenen Haushalt erwähnt Petrarca auch Fam. 13,8,12. Einen Hund hatte ihm früher Kardinal Colonna geschenkt; vgl. Metr. 3,5, lat. und dt. bei Schönberger 238 ff. 10 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 93.95.176–177 und Petr. corresp. 71.

Fam. 13,12, an den Abt von Corvaria1 Das Begehren nach neuen Werken ist mit Geduld und Mässigung zu zügeln. 1. Der Dichter freut sich, dass der Adressat aus den Stürmen des Lebens gerne zu ihm flüchten wollte. 2. Er spricht von dessen Durst nach Bildung und weiss, dass dem Durstigen jede Quelle recht ist. 5. Das vom Abt begehrte Werk Afrika kann ihm noch nicht vorgelegt werden. Er hat sich zu gedulden. 7. Das weite Land muss weiterhin bearbeitet werden und bedarf der Obhut eines Pflegers. An der Quelle der Sorgue, am 1. September (1352).

1. Nicht leicht fällt mir zu sagen, wie freudig ich höre, Du, ein sehr bedeutender Mann, könnest die Annehmlichkeit meiner kleinen Welt2 so stark empfinden, dass Du nach einer sehr genauen Überprüfung Deines eigenen Zustandes (vorgenommen mit Dir selbst oder eher mit mir, nein mit uns beiden) den Kahn Deines wogenden Herzens hierher wenden wolltest, weil Du meintest, aus den vielen Stürmen des Lebens könntest Du zu dieser einsamen und bäuerlichen Behausung und zu mir wie zu einem sicheren Hafen fliehen.3 2. Wäre es doch eine gute Wahl! Aber dem starken und brennenden Durst ist es eigen, einen Trunk aus keinerlei Quelle zu verschmähen. Du weisst, dass Pythagoras und Platon ihre Lehre, die sie über die ganze Erde ausgossen, zuerst an den Ufern Ägyptens und darauf an denen Italiens schluckweise erbettelten. 3. Wie gross muss also Dein Durst nach Kenntnis sein, wenn er Dich zwingt, das dünne und trübe Bächlein meiner Verstandeskraft aufzusuchen! Belehrt zu werden, das forderst Du von mir, wo ich doch begieriger bin, zu lernen als zu lehren! Daran aber denkst Du nicht, sondern brennend in ehrenvoller Begierde, pochst Du immer wieder mit Zunge und Griffel an meine ausgetrocknete Wohnstatt. 4. Und schau, ich öffne Dir die Türe! Findet sich irgend etwas bei mir, was diesen Durst lindern kann, so nimm es nach Deinem Belieben; wenn nicht, so handle wie unbefangene Gäste: Bewerte die Gesinnung des heiteren Gastgebers und nicht die Speisen. Ich möchte, wie Anneus sagt,4 „alles in Dich verströmen.“ 5. Du aber, so scheint mir, bist so erfüllt von einem bestimmten Begehren, dass Du einzig mit „Scipio“ und „Afrika“ Dich beruhigen wirst, nämlich als ein Freund der Mannhaftigkeit mit grösstem Verlangen nach Bildung. Aber noch ist mein Scipio in meinem Epos nicht zur Vollendung gelangt, und die Africa – zwar schon lange mein fester Besitz und mit grösserer Mühe beackert, als ich vorsah – ist noch immer nicht mit der feinsten Hacke bearbeitet. Noch habe ich lästige Schollen nicht mit den Karsten zerrieben, noch habe ich die Egge nicht über die Haufen des höckerigen Äckerleins geführt, noch habe ich als ein Laubscherer die wuchernden Ranken und struppigen Hecken nicht mit der Hippe zurückgestutzt. 6. In allem anderen steht’s, wie’s beliebt; und nur in dem einen Punkt musst Du Dich gedulden, denn bevor ich Dich auf den Besitz meines afrikanischen Feldes führe, will

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ich, so lang als ich kann, darin noch umhergehen und (so viel als diesem müden und schwächlichen Verstand gegeben ist) nachschauen, ob da noch etwas sei, was (ich sage nicht „Deinen Augen“, die ja alles das Unsrige gutheissen, sondern) gestrengeren Lesern unangenehm auffallen müsste, und ob darin (das zu entscheiden halte ich für das Schwierigste) mehr an Gefälligem sei als an Stossendem. 7. Ein höchst fruchtbarer Erdteil, so sage ich, ist Afrika; und der Männer Bester ist Scipio. Doch kein Mann besitzt so grosse Tugend und kein Land so grosse Fruchtbarkeit, dass kein Bedürfnis nach einem sorgfältigen Pfleger bestünde. Und einmal zu pflegen, reicht nicht; vielmehr muss man immer dabei verharren, wenn man eine ausgezeichnete Frucht sei’s des Ackers, sei’s des Geistes begehrt. 8. Schliesslich bleibt noch zu bitten: Wäge eilig Geschriebenes nicht allzu peinlich, sondern lege, was immer Du liest, zum Guten aus und bedenke meinen Mangel an Zeit.5 Dass ich nicht auf alles Einzelne geantwortet habe, verzeih bitte im Hinblick auf meine Pflichten.6 Wären diese allen bekannt, gäbe es niemanden, der mich nicht schonte. Viele würden mich bemitleiden, etliche aber vielleicht beneiden. Lebewohl! An der Quelle der Sorgue, am 1. September (1352).7

Anmerkungen 1 Zum Abt von Corvar(i)a vgl. Dotti, Vita 263 die Anm. mit dem Hinweis auf C. Piana, Identificato un anonimo corrispondente del Petrarca: „l‘abbas Corvarie Bononiensis“ in: IMU 1977,351–365. 2 Lateinisch: eam rerum mearum sentire dulcedinem. 3 Lateinisch: ad hoc solitarium atque agreste domicilium…confugere. Die Rede ist zweideutig. Aus dem folgenden Text ergibt sich, dass die Wendung bildlich gemeint ist. Zum Dichter und Denker und zu seiner Gedankenwelt wünscht der Abt zu fliehen. 4 Sen. Ad Lucil. 6,4. 5 Da Petrarca seine Afrika dem Freund noch vorenthält und da er von rascher Niederschrift und Zeitmangel spricht, bezieht sich seine Mahnung nicht auf das genannte Hauptwerk. Wie man ganz allgemein seine Schriften lesen solle, steht vor allem in Fam. 13,5,22 f. 6 Lateinisch: occupationibus meis. Das Wort occupationes wird Beschäftigungen meinen, die Petrarca sich selber auferlegt, auch wenn er sich hier wie sonst oft so äusserte, als stünde er unter einem Druck, der ihm von andern auferlegt wäre. 7 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 132 und Petr. corresp. 71.

Fam. 14,1, an den Kardinal Talleyrand, den Bischof von Albano1 Von den Schwierigkeiten und Gefahren im Leben der Höhergestellten. 1. Petrarca ist bereit, auf Wunsch des Kardinals etwas Einfaches klar zu behandeln. 3. Gegenstand der Ausführung sollen die Sorgen der Menschen auf ihrem Weg zum Ziel sein. 5. Sie gehen auf verschiedenen Ebenen, und die auf der höchsten sind am meisten gefährdet. 13. Die Gefahren, denen niemand entgehen kann, sind bei Vergil im Vorhof zur Hölle angesiedelt. 22. Doch jede Ebene hat ihre besonderen Gefahren, und wer immer nur auf der einen und gleichen wandelt, kann die der anderen nicht beurteilen. 23. Dennoch will Petrarca dem Kardinal den höchsten Stand charakterisieren. 25. Hier haben bedeutendste Menschen schwerstes Ungemach erlitten, wie Beispiele beweisen. 30. Gefahren der Mächtigen werden aufgezählt. 37. Petrarca nennt Vorzüge und Vorrechte des Kardinals und gibt ihm Ratschläge für seinen Alltag. 40. Er nennt die drei wichtigsten Tugendwerke. 44. Ob Petrarcas Stil einfach genug war, möge der Kardinal entscheiden. An der Quelle der Sorgue, am 22. September (1352).

1. Mich um einen klaren Text zu bemühen,2 befiehlst Du; und in allem zu gehorchen, bin ich bereit. Doch wenigstens in einem Punkt stimmen wir nicht völlig überein: Du nennst klar, was möglichst nahe dem Boden ist; ich aber halte etwas für um so klarer, je höher es steht, sofern es sich nicht in seine Wolken hüllt.3 Nun aber bist Du der Vater, Du der Herr und Du der Lehrende; dass ich Dir entgegenkomme und nicht Du mir, ist somit richtig. Das freilich erreiche ich kaum auf eine andere Art besser, als indem ich von der allgemeinen Lebensweise der Menschen spreche. 2. Denn so oft die Feder die gewundene Strasse der Geisteswissenschaft oder den geheimen Weg der Naturwissenschaft einschlägt, wundert es nicht, dass vielbeschäftigte Köpfe sogleich bedächtiger folgen. Hat man aber diese Engpässe wieder verlassen und das Feld moralisierender Rede erreicht, wer wäre da so begriffsstutzig, dass er nicht leicht verstünde, was er von andern hört und was ihm ja bekannt ist, ohne dass jemand davon spricht, und was er, so wie es an andern zu sehen ist, auch an sich selber erfährt, ja wofür er vor Augen und in Gedanken Beispiele hat. 3. Von dieser Sache also will ich sprechen, über die noch keiner ausreichend zu sprechen vermocht hat und keiner es jemals vermag, oder richtiger: über die keiner nicht genügend spricht, aber keiner nicht zu wenig nachdenkt.4 Von daher kommt es, dass schön gefügten Worten völlig andersartige Handlungen folgen und dass – wie Cicero5 sagte – „die Rede dem Leben ganz sonderbar widerstreitet.“ Wo aber soll ich beginnen, wenn nicht bei dem, was, glorreicher Vater, Dein Leben und auch das meine am heftigsten umbraust, damit Du einsehen möchtest, wie ich, obwohl von vielen Sorgen umgarnt und erdrückt, oft mein Auge zu Dir hin wende und bisweilen – selbst wenn die Menge mich vielleicht gefühllos nennt – die Anstrengung des Weges verspüre und sein Ende bedenke. 4. Wir alle, die da leben, sind ja – was niemand deutlicher sieht als Du – Wanderer, der Rauheit unseres Weges völlig gewiss, unserer Unterkunft aber ungewiss.

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Und diesem Umstand entgeht wahrlich niemand, sei er ein ungeschlachter Bauer, ein verwahrloster Hirte, ein umherziehender Kaufmann oder ein fest verwurzelter Einsiedler, ein niedergebeugter Bettler oder ein hochtrabender Reicher; ja auch nicht der König der Gallier und nicht der römische Kaiser, nicht ein bescheidener Priester, nicht ein aufgeblasener Archidiakon, nicht ein hoher Prälat oder einer, der wie Du den Rang des Kardinalats erreicht hat, ja schliesslich auch nicht der oberste Bischof, dem das Volk voll Bewunderung den Titel Papst verliehen hat. 5. Alle, so sage ich, sind wir in gleicher Weise Wanderer, dies mit dem einzigen Unterschied, dass Ihr auf einer bedeutenden, weit herum sichtbaren Höhe, wir dagegen auf einem niedrigeren Pfad auf das Ziel hingehen, während es aber auch noch tiefer und unter unseren Füssen eine ungeheure, unbeschreibliche Menge von Wanderern gibt, so dass diese zutiefst in dunkeln Tälern, Ihr hingegen über hochragende und beschwerliche Gipfel, wir in der Mitte und gleichsam entlang den Berghängen, alle auf verschiedenen Bahnen, jedoch mit der selben Gefahr unserem einen und gleichen Ende entgegen keuchen. 6. Denke scharf und angestrengt darüber nach, und gestatte nicht, dass Dein glanzvoller Vorrang sich einem richtigen Urteil widersetze! Dann wirst Du erkennen – und was ich vom einen sage, gilt von allen desselben Standes und Ranges –, Du wirst also erkennen, sage ich, wie wenig Du, obwohl ausgezeichnet mit grossen Ehren und mit dem Glück, das auf Erden zu haben ist, dennoch den allgemeinen Zufällen und Gefahren unterworfen bist, ja vielleicht um so grösseren, als der Sturz aus der Höhe besonders verhängnisvoll ist und die Absturzgefahr die über Abgründen Wandernden besonders jäh überrascht. 7. Dazu kommt als nicht geringstes Übel, dass alles, was Dein ist, nach keiner Seite hin versteckt bleibt, weil aller Augen auf Dich gerichtet sind. Während also jedermann mit grosser Mühe zu kämpfen hat, musst Du die grösste aufbringen, um auf Deiner Strasse vor Gott und den Menschen Deine Schritte richtig und untadelig zu setzen, nirgends auszugleiten und nirgends abzuweichen, nirgends zu schwanken, nirgends anzuhalten, nirgends zu ermüden, ja zum voraus nichts an Dich heranzulassen, was Du verbergen möchtest. 8. Was immer Du ganz allein getan haben magst, gleich werden alle es wissen. Darin besteht eine Busse für illustre Herren: Nichts bleibt bei ihnen verborgen, durchaus alles sickert nach aussen. Voller Ritzen ist das Haus der Mächtigen und hält nichts bei sich zurück; alles ergiesst sich in die Menge. Man weiss, was sie am Mittag speisen und was am Abend, was sie bei Tisch und was im Schlafzimmer sprechen. Und was ihrem Mund entfällt, wird eifrig aufgehoben, jedes Wort als Grundsatz verbucht, jedem Versehen eine Absicht unterschoben und jedes leichte Spiel ins Ernstgemeinte verdreht. Schliesslich bleibt dieser Menge, die Dich ringsum ausspäht und Deine Gesinnung Dir von der Stirne abliest, nicht einmal das, was Du denken magst, verborgen.

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9. Fragst Du, was ich also rate? Was anderes als dies: Fortwährend so zu leben, als wär’s in der Öffentlichkeit, so zu handeln, als sähen Dich alle, so zu denken, als wären die Gedanken sichtbare Strahlen, dabei Dein Haus als Volksbühne und Deine Brust als Tempel Gottes zu betrachten. Das empfehle ich nicht allein Dir, sondern überhaupt allen, doch in erster Linie den hochgestellten Herren! Denn andernfalls werden sie weder der Gewissensqual, noch dem Urteil der Menge oder dem lauten Geschrei des Gerüchts entgehen. 10. Wenn sie nicht bei jedem einzelnen Schritt fortwährend zum voraus überlegen, was sie tun und sagen wollten, aber auch das, was andere Leuten über sie denken könnten, werden sie notwendigerweise eines Tages sogar bei schmutzigsten Leuten von Mund zu Mund herumgereicht werden. Davor hat nämlich niemals irgend ein Glückszustand zu bewahren vermocht. Nein, nur die Mittellosen und unbeachteten Leute verrichten fast alles, was sie wollen, verschwiegen und im Dunkeln, wogegen es für Bessergestellte keine Verstecke und keine Verschwiegenheit gibt.6 11. „…Geheimnisse hätten die Reichen? Könnte das sein? Wenn die Dienerschaft schweigt, dann reden die Ochsen, Hunde und Pfosten…“ „…Verschliesse das Tor, und stelle die Lampe Weg! Dann fort mit allen hinaus! Hier nächtige niemand! – Dennoch, was immer Du tust: Beim zweiten Schrei eines Hahnes Wird es schon lang vor dem Tag der Krämer vernehmen…“. Was diese Worte des Satirikers ausdrücken, trifft, wenn auf irgendeine Zeit, dann auf unsere am genausten zu. 12. Die römischen Ratsversammlungen pflegten wichtige Beschlüsse in tiefes Schweigen zu hüllen und nicht früher hervorzuholen, als bis das im geheimen Gemach Verhandelte in herrlichen Taten vollbracht wurde. Daher vernahmen die Völker häufig, es werde ein gewaltiger Krieg geführt, noch bevor sie hörten, nötig sei, einen zu führen, und ebenso ging oft die Rüstung zum Krieg dem Gerücht eines Krieges voraus. Unsere Senatsgremien dagegen kennen heute diese Verschwiegenheit nicht mehr; alles wird einem auf den Plätzen durch das Geschwätz der Weiber als vollendetes Ereignis gefeiert, selbst wenn es noch aussteht, und was noch lächerlicher ist, selbst vieles wird genannt, was nie zur Ausführung gelangt. Doch besser ist, ich kehre zum Thema zurück, statt mit einer Abschweifung niemanden zu bekehren, aber viele zu beleidigen. 13. Von mancherlei, bester der Männer, was das sterbliche Leben mit sich führt, befreit weder der mittlere Stand, noch der niedrige und auch nicht der hohe. Und dabei gibt es an Bitterem sehr viel mehr als an Süssem, so dass man glauben könnte, nicht zu Unrecht sage man, im Vorhof des Lebens stünden zwei Fässer, ein sehr kleines mit Süssem und ein gewaltiges mit Bitterem. Und mit Rücksicht auf verschiedene Geistesrichtungen wäre es vielleicht nicht ungereimt, jenes Wort Davids bei-

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zuziehen: „Ein Becher puren Weines in der Hand des Herrn, voll von gemischtem,“7 so als enthielte der göttliche Kelch, aus dem wir Arme in dieser Verbannung zu trinken bekommen, etwas wie reinen und süssen Wein, und als wäre dennoch das Gesamte mit bitteren Gewürzen gemischt. 14. An Süssem ist da, wie gesagt, nur wenig und rasch getrunken: kurz die Freude, kurz das Vergnügen, kurz das Lachen, kurz schliesslich alles, was behagt. Das wird jeder bestätigen, der auch nur eine kleine Strecke auf diesem steilen Pfad der Pilgerschaft voranging. Hingegen wird niemand ohne weiteres angeben, wie lang und schwer die Schlachten Fortunas sind, wie vielfältig die Plagen, wie zahlreich und mannigfach die Formen des Kummers, und niemand wird die unendliche Reihe in eine knappe Abhandlung einsammeln. 15. Doch bekannt ist die Sache, und Zeugen muss man nicht aus der Ferne herbeiholen. Jeder hat das Bewusstsein seiner Schmerzen und Mühen zum persönlichen Beweis, und um nachzuspüren, was ausser den bekannten offenkundigen Beschwerden noch an heimlichen Qualen, an Wunden und Geschwüren vorkommt, kann keine Mühe genügen. Über den Zustand der Hölle hat der Mund Vergils in einem hochtönenden Gesang8 vieles verkündet, und das übertragen dann gewisse Gelehrte auf das Leben hier auf Erden; denn – wie sie sagen – ist dieses Leben hier im Vergleich zum himmlischen Leben eine Hölle. Und weil es da für das ganze Gebäude einen einzigen gemeinsamen Vorhof gibt, werden an eben diesen Ort in einem nicht unpassenden Bild – sofern richtig gedeutet wird – die Dinge niedergelegt, welche, weil allgemeiner Art, sich fast allen beim Eintritt ins Leben entgegenstellen. In den inneren Kreisen des Gebäudes finden sich dann die andern, nicht allen gemeinsamen Beschwerden und die nicht allen gemeinsamen Straftaten. 16. Denn, um Beispiele anzuführen, begegnet es nicht jedem, „wegen Ehebruchs ermordet zu werden“ oder „ins Schlafgemach seiner Tochter einzudringen,“ „sich an einem ungerechten Kampf zu beteiligen,“ „Gesetze für Geld zu erlassen und für Geld aufzuheben,“„für Gold das Vaterland zu verkaufen“ oder „den eigenen Herren den Treuschwur zu brechen.“9 Gott bewahre uns vor diesen Seuchen. Verzweifelt stünde es um die Lage der Menschen, würde das jedermann zustossen. Die Schicksale jedoch, die genau am Tor des Lebens stehen, werfen sich – obwohl sie bisweilen zu irgendeinem Teil dank Gottes alleiniger Gnade umgangen werden – unterschiedslos allen Geborenen entgegen. 17. Welche das sind, möchtest Du wissen. Gestatte gnädig, dass Vergil vor Dir erscheine, hast Du es doch soeben Iuvenal gestattet. Auch wenn der genannte Dichter bisher ob Deiner unzähligen und würdevollen Beschäftigungen Dir nicht vertraut werden konnte, ist er an Verstand dennoch hoch bedeutend, ja einer der ersten, und steht in der Sprachkunst keinem nach. Und hast Du einmal begonnen, ihn zu kosten, wirst Du durch seinen Wohllaut vielleicht bezaubert werden und dann bedauern, ihm nicht früher begegnet zu sein. Wer aber hätte die Lehre von

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den Übeln mit anderen Worten je verständlicher ausgedrückt? Eben er soll Deine Frage mit folgenden Versen beantworten:10 18. „Hier ist der Vorhof, sieh! In den ersten Grüften der Hölle Finden das Trauergeheul und das Rachebegehren ein Lager; Krankheiten bleichen Gesichts sind da und das traurige Alter, Furcht und schimpfliche Not und zu Bösem verleitender Hunger; Scheusslich zu sehen hierauf die Gestalten von Tod und Bedrängnis, Dann von des Todes Geblüt der Sinne Verlust, ja des Irrsinns Lachen und drüben beim Tor das Wüten des mordenden Krieges.“ 19. Du hörst, verehrter Vater, wie hart und mit welch grossen Nöten der Weg bestückt ist, den wir eingeschlagen, und welch unausweichlichem Haufen gewaltiger Bedrängnisse wir gleich auf der Schwelle begegnen. Nichts nützt es, ein reicher Mann, nichts nützt es, als König geboren zu sein; selbst den gewaltigsten Reichtümern folgt äusserste Dürftigkeit, und oft geschah, dass gemäss den Worten des Psalmisten:11 „die Reichen Mangel litten und hungerten.“ 20. Auch in Purpurgemächer zieht Trauer ein; auch zu den stark befestigten Burgen steigen Sorgen, Angst, Krankheit und Mühsal hinauf; auch schwerreiche Könige werden durch Kriege gestürzt, auch wachsamste Geister werden bei feurigsten Taten von Betäubung, ähnlich dem Tod, übermannt, und die Gleichmütigsten werden, ob sie wollen oder nicht, durch ungestümen Jubel genarrt. Am Ende folgt nach den lustvoll verbrachten Tagen unversehens das Alter, und der mit Gemmen gezierte Scheitel wird vom Tode verhöhnt. Niemand wird verschont; von Missgeschicken Urlaub zu nehmen, wird keinem vergönnt. Jeder hat zu Hause, was ihn betrübt, was er hasst, was er betrauert, was er beklagt. 21. Selten also hat eine gehobene Stellung vor solchem geschützt, und häufig hat diese geschadet. Denn sie ist offener und den Stürmen daher um so gänzlicher ausgesetzt. Es hat seine Belästigung auch der mittlere Stand, und mit beissendem Juckreiz quält die Armut. Dabei strotzt der Reichtum von besonders giftigen Stacheln, und das widerwärtigste Dorngestrüpp hat die weltliche Gewalt. Dass es so ist, weiss jeder, der sowohl Glück als auch Unglück erfahren hat. 22. Wolltest Du, Vater, nicht bemüht sein, Deinen Mangel an Erfahrung mit Deinem Verstand zu ergänzen, könntest Du über die geringeren Stände nicht urteilen. Du bist in einem sehr wohlhabenden und hochangesehenen Haus geboren, unter Reichtümern und Genüssen erzogen worden und gewohnt, stets der Erste zu sein und niemals der Zweite. Über fast alle Stufen der Würden hast Du in glücklichster Weise, indem einmal Deine Tüchtigkeit, einmal die himmlische Güte Dich emporhob, die letzte Nähe zur höchsten erreicht. Du bist daher kein geeigneter Richter über ein recht bescheidenes Los. Doch zur Beurteilung des höheren gibt es keinen besseren, ob man dafür die hervorragende Lehrmeisterin Erfahrung

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oder die Gabe sorgfältiger Beobachtung und Nachforschung oder auch die Kraft des Verstandes und die Raschheit des Begreifens erfordere. 23. Nun aber möchte ich, wie viel ich darüber auch gesagt habe, noch etwas Beträchtliches hinzufügen und einen Gegenstand, obwohl Du ihn weit besser kennst als ich, mit Dir weiter erörtern, wenn Du es nicht ablehnst. Ich möchte aussprechen, was Du, so meine ich, als richtig anerkennen musst, und ich möchte so ganz vom Kern der Sache ausgehen, dass Du, hättest Du von meiner Person keine Kenntnis, mich für einen der Mächtigen halten müsstest. Zuerst also bedenke, wie viel Ärger und Verdruss der gehobene Stand mit sich führt! Da bejammern die Mächtigen ihre Ohnmacht und oft bei einfachsten Geschäften den mühsamen Anfang, die schwierige Fortführung, das unerwartete Ergebnis und die geschwundene Hoffnung. Wenn sie weniger vermögen, als man glaubt, und weniger gefürchtet werden, als sie wünschen, oder wenn einfache Leute sich etwas gegen sie herausnehmen, sind sie zutiefst entrüstet, und diese Entrüstung gehört zu ihrem Alltag! 24. Wer wäre denn überhaupt so mächtig (oder es je gewesen), dass er nicht häufig schweres Unrecht erlitte, nämlich von untersten Schichten, von Dienern, Angestellten oder auch Freunden? (Von jenen Freunden sage ich das, welche das Wort Freundschaft missbrauchen; denn wahre Freunde sind selten, und Unrecht begehen sie keines; doch für Nebensächliches haben wir keine Zeit; ich will Wichtigeres behandeln). 25. Wie riesig ist doch die Zahl der Aufrührer, an denen dieser höchste Stand übervoll ist! Iulius Caesar, der grösste unter allen, die sich je in Kriegen hervortaten – so steht von ihm geschrieben12 und Tatsachen bezeugen es –, er hat in seiner letzten Zeit beschlossen, die Perser mit Krieg zu überziehen und die Rebellen wie auch die nach Thrakien ausschwärmenden Daker mit Waffen zu bezähmen, und wäre nicht der Tod dazwischengetreten, der ihn zwang, diese und noch andere grossartige Pläne fallen zu lassen, so hätte er es getan. Denn der für alle Welt furchterregende Mann, der Germanien bezähmt, ganz Gallien und Britannien unterworfen, die beiden Spanien und auch Afrika, Ägypten, Ponto, Syrien und Armenien und überhaupt fast den ganzen Erdkreis bezwungen und zuletzt – den höchsten aller Siege erringend – die römische Republik erobert und besetzt, ja die Stadt Rom, die Herrin der Welt, sich, als ihrem Bürger, und seinem Befehl unterworfen hatte, er musste endlich in Parthien und Dakien etwas finden, was er zu fürchten oder (es heisst ja, er habe nichts gefürchtet) zu überdenken genötigt war. 27. Und Kaiser Augustus, der erhabenste unter allen Sterblichen, vernahm eben auf dem Gipfel seines Glücks von den in Germanien vernichteten Legionen des Feldherrn Quinctilius Varus,13 und wie schwer und erschüttert er unter dieser öffentlichen Katastrophe gelitten hat, ist bekannt.14 Ein grosser Haufe neuer und alter Exempel fällt mir jetzt ein. Denn wo fände sich ein Volk oder ein Fürst mit so andauernd schönen Erfolgen, dass ihm nicht stracks von überall unerwartete Kriege angedroht

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werden könnten? Wo wäre ein Fürst, den nicht die Furcht vor plötzlicher Zerstörung plagte oder der, wenn die Furcht ihm fehlte, nicht desto grösseren Gefahren ausgesetzt wäre, je geringere Vorsicht er walten liesse? 28. Wenn Du an der Hinfälligkeit eines glücklichen Geschicks etwa zweifeln solltest, dann betrachte vor allem das römische Imperium. Wann hätte einer gedacht, es könnte von so hohem Gipfel in so tiefen Abgrund hinabsteigen? Doch hinabgestiegen ist es. War das Imperium auch unermesslich, war es immerhin Menschenwerk; ewig also konnte es nicht sein. Und kein anderes Volk erlebte im Innern wie von Aussen ebenso gewaltige Auflehnung. 29. Daher hat es zu Hause wie im Krieg mit dem schönen Erfolg immer auch Schwierigkeiten, immer auch Gefahren wachsen sehen, bis es nun dahin gelangt ist, wo fast keine Gefahr mehr besteht, es könnte in noch grössere Tiefe fallen. Und eben dieses Imperium, von allen Völkern unbesiegt, konnte durch sich selber besiegt und aufgezehrt werden! Alle übrigen wurden besiegt durch andere.15 Doch um Dich nicht in lange und alte Geschichten zu verstricken, wollen wir uns dem, was wir selber erlebt haben, zuwenden 30. Unser Zeitalter hat hervorragende Könige gehabt. Ihnen und auch anderen schien, dass sie mit dem Scheitel den Himmel berührten. Plötzlich wurden sie in Kriegen, von denen sie nichts Dergleichen befürchteten, von ganz niedrigen Leuten nicht bloss angegriffen, sondern – was früher niemand zu ahnen vermocht hätte –, einmal und immer wieder verjagt, und obwohl sie ihre Gebiete hartnäckig verteidigten, schliesslich im Krieg überwunden und bei den Feinden ins Gefängnis geworfen. Ja, das alles haben wir gehört und gesehen.16 Und was wäre so entmutigend wie dieser Wechsel des Schicksals, der zwar in jedem Rang vorkommt, aber beim höheren besonders jäh und gewaltsam abläuft, weil, wie Sachverständige sagen,17 das Herabsteigen aus eben der höchsten Höhe allemal ein Stürzen ist. 31. Was soll ich in diesem Zusammenhang vom Unglück in unserer eigenen Geschichte berichten? Die beiden schon genannten strahlenden Namen sind zu wiederholen. Denn eben Iulius Caesar hat, um ein Wort Senecas18 zu verwenden, „den Sieg grosszügiger als jeder andere genutzt,“ musste aber rings um seinen Sitz die gezückten Schwerter eigener Leute aufblitzen sehen und wurde von den Truppen, die er mit Sieg und Gold beschenkt und übrigens aus angeborener Nachsicht geschont hatte, umzingelt und hingestreckt. Augustus, der mildeste aller Fürsten und der Liebe des ganzen Menschengeschlechts im höchsten Masse würdig, hat infolge der Verschwörungen unter den Seinen in beständiger Unruhe gelebt. Bekanntes, unter Historikern längst Abgedroschenes bringe ich vor. 32. Doch beachte weiter, wie schwer die Zerwürfnisse, Spannungen und Wortgefechte wiegen, wenn nur schon jede unbefangene Äusserung empfindliche Ohren beleidigt! Man schämt sich, nachzugeben, man schämt sich, besiegt zu werden! Mag das in allen Rängen vorkommen, so ist doch wahr, was Sallust gesagt hat,19

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dass nämlich der Hochmut „das allgemeine Übel des Adels“ ist. Und gerade da ist grössere Reizbarkeit, wo auch grössere Vornehmheit. Eingepflanzt sei den Herzen ein Wort Caesars,20 man müsse den Anfängen wehren, es sei eben „schwieriger, Fürsten vom ersten Rang in den zweiten als vom zweiten in den untersten zu verstossen.“ 33. Und beachte ausserdem, welch ein Wettstreit ebenda um Prunkentfaltung besteht, welch ein Aufwand an Kleidern, welch eine Verschwendung bei Gastmählern, welche Künstlichkeit im Benehmen, welche Unfreiheit im Reden und welche anhaltende Unterdrückung der Gefühle! Ein mühsames Geschäft ist das Grosstun eines Menschen, wenn er entweder scheinen will, was er nicht ist, oder verdecken will, was er ist! Eine doppelte Anstrengung ist das, zwei Mal gegen die Natur zu siegen, da ein einziges Mal zu siegen, schon überaus schwierig ist. Und was soll das Verlangen nach der Erhöhung seines Ansehens und nach der Gunst der Nachwelt, die man in unablässiger Anstrengung sucht? Was soll die Fürsorge für Kinder und Enkel und was soll die Unsicherheit über den Weiterbestand eines alten Geschlechts, diese ungeheure Sorge adliger Herzen? Was soll die Lenkung einer zügellosen Hausgemeinschaft und der Hass niedrigster Sklavenseelen, der sich oft versteckt, doch sich nicht selten auf das Haupt des Herrn entlädt? 34. Hartes Geschick, wenn man gezwungen ist, jene zu ernähren, denen man verhasst ist und die einem vielleicht zum Verderb, jedenfalls zum sicheren Verdruss gereichen!21 Ja hart, wenn man nicht so oft für sich allein ist, als man möchte, sondern stets von häuslichen Feinden belagert wird, während man doch weiss, dass man die Beute vielfältiger Begehrlichkeit ist und weit häufiger aus Berechnung denn aus Hingabe umsorgt und häufiger auf seinen Wert geprüft, als geliebt wird, weil andere den Reichtum, nicht aber die Person veranschlagen! Ja hart, wenn man für viele furchterregend und nur wenigen genehm ist und dabei auch nicht sicher weiss, wessen Liebe unwandelbar ist, weil ja das Wort jenes spanischen Sängers sich bewahrheitet:22 „Glück hat, wer nichts weiss von Liebe…,“ während man weiss, dass sein Tod mit Gebeten erfleht, seine Erbschaft begehrt, seine Tage gezählt und der Ablauf der Zeit als träge getadelt wird. 35. Meinst Du frei von Gefahr zu sein? Drei Dinge vor allem, wenn wir ohne Belästigung leben wollen, hat uns der philosophische Unterricht, erinnere ich mich recht, zu meiden gelehrt: Hass, Neid und Verachtung.23 Vom letzten der drei bist, Vater, Du frei, weil Reichtum, Macht, Würde, Wissen, Adel und Tüchtigkeit Dich gegen solche beschirmen. Doch mit welchen Künsten willst Du Dich der beiden anderen erwehren? Ohne oftmals viele zu verletzen, kann das nicht geschehen, da Du immer den Vorsatz gehegt hast, Dich als Beschützer der verlassenen Gerechtigkeit zu bewähren. Notwendigerweise muss ja der Freund der Gerechtigkeit allen Feinden der Gerechtigkeit verhasst sein. 36. Und wie könnte es übrigens sein, dass

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Dich bei so grosser Gunst Fortunas, bei so grossem Ruhm und so glanzvollen Ehren die Missgunst nicht mit scheelen Blicken verfolgte? Alles ist eher möglich, als dass ein glückliches Gelingen dem Neid entginge. Füge dem Aufgezählten noch Gewissensbisse an, auch aller Art geistige Unruhe wie Scham, Reuegefühl, Hoffnung, Schmerz und versteckte Ängste! Das sind Qualen, die zwar uns allen, aber besonders den Fürsten vertraut sind. 37. Unter solchen Unannehmlichkeiten also haben wir alle zu leben, doch in erster Linie müssen es jene Hochgestellten ertragen, die entweder das Schicksal oder die Tüchtigkeit verherrlicht. Und fallen sie uns allen lästig, widerstreben sie doch in besonderem Masse eben Deinem Vorsatz. Denn sie lenken Deinen auf höhere Ziele gerichteten Sinn zurück. Ich kenne ja, weil es Dir gefällt, die feurigen Regungen Deiner Seele und Deine herrlichsten Bestrebungen, das Bücherstudium, die Schulung des Geistes, die Liebe zum Mittelmass, die Neigung zur Religion, den Wunsch nach Einsamkeit. Doch Dein Geschick und Dein Vorsatz, sie befeinden sich gegenseitig. Was Dich zum Handeln verpflichtet, ist etwas völlig anderes, als was Dir bekömmlich ist und Dich erfreut. 38. In solcher Lage überdenke ich Deine geistige Anstrengung; und den Sturm in Deiner Brust ermesse ich dank einem Vergleich mit dem Fluten meiner eigenen Wogen. Suchst Du nach einem Hilfsmittel, so habe ich eines: Ist Dir nicht vergönnt, dem äusseren Anschein nach das zu sein, was Du möchtest, so sei eben im Innern, was Du sollst. Dein Wohlstand möge vor der Aussenwelt seinen Pomp entfalten; Du aber birg in Deiner Brust die Bescheidenheit. Wohnst Du in Deinem Palast, so wandere Dein Geist in der Einöde. Unter Reichtümern liebe die Armut, unter Gastmählern das Fasten. Es glänze das Gold auf Deiner Tafel, an den Fingern der Ring; doch heller in Deinem Innern die Verachtung für das alles. 39. Der Leib trage Purpur, doch Dein Herz ein Bussgewand. Reitend auf einem reich gezierten Rassenpferd, denke an Christi Esel und die wunden Füsse der Apostel. Bedeckst Du den Kopf mit dem roten Kardinalshut, dann betrachte die Dornenkrone des Herrn, und auf goldverziertem Lager ruhend, erinnere Dich des Grabes Christi und des Deinen. Was immer Du tust, halte Dir den letzten Tag Deines Lebens vor Augen; ob er der heutige oder morgige ist, bleibt unsicher, doch fern ist er sicher nicht. So gross die Vielfalt der Zufälle, so gross auch die Kürze des Lebens! Damit des Todes unerwartete Ankunft nicht erschrecke, muss man sich dauernd mit ihm beschäftigen, um schon jetzt eine gewisse Vertrautheit mit ihm zu erlangen. 40. Grossartig sind wahrhaftig diese drei Werke der Tugend: Das Vergnügen meiden, die Armut lieben, den Tod nicht fürchten. Sei gewiss: Nichts macht glücklicher als das letzte. Über die beiden andern habe ich folgende Meinung: Nicht weniger verdienstvoll ist es, ein Vergnügen in seiner Gegenwart geringzuschätzen, als es der Sicherheit wegen von sich fernzuhalten. Oder die Armut unter Reichtümern zu pflegen, als in Wirklichkeit ein Armer zu werden. Unzählige Arme gibt es,

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für welche eben die Armut eine Marter ist; doch nicht wenige sind im Blick auf Christus freiwillig aus Reichen zu Armen geworden; und für diese ist die Armut ruhmvoll und anziehend. 41. Freilich, wo findest Du mir einen, der mitten unter seinem Reichtum „arm ist im Geiste“ ?24 Etwas Grosses ist es, durch Überwindung von Hindernissen auszubrechen. Doch ruhmvoller ist es, einen gegenwärtigen Feind zu erschlagen, als einen heranrückenden zu meiden. Von schönerer Gesinnung zeugt, eine Lustbarkeit zu verachten, als eine zu umgehen, Prunk im Beschauen zu verhöhnen, als sich seinem Anblick zu entziehen. In jeder Lage kann man die Tugend lieben, und je mehr da an Mühe ist, um so mehr auch an Lob und Verdienst. Menschen wirst Du begegnen, die Dich mit Schmeicheleien ehren und Deinen Stand bis zum Himmel erheben. Das sind die Verkünder der allgemein gültigen Grundsätze, und sie werden Dir raten, Dich selber und das Deine zu bewundern, Deine Würde künstlich zu schützen, Deines edlen Blutes zu gedenken, Deinen Reichtum zu zählen und Deine Macht zu beachten. Schliesslich werden sie Dich mit ihren Reden fast zum Unsterblichen machen. 42. Ich aber rate Dir, von den genannten Vorteilen zwar keinen zu vergessen, aber für sie und für das viele andere, womit Gott Dich als einen unter wenigen heraushob, eben ihm zu danken, mit all diesen Dinge Dich nicht zu brüsten, sondern nur im Herrn Dich zu rühmen,25 auf Ihn zu vertrauen, Ihm alle Deine Hoffnungen und Deine Sorgen zu übergeben, gleichzeitig Dich selbst und das Vergängliche zu vergessen und, was das Heilsamste wäre, stets an Dein Ende zu denken. Nichts anderes kann die Missachtung von Leben und Tod so wirkungsvoll fördern. 43. Ob Du also dieses Lebens Jammer aufmerksam beobachtest und, wie ich meine, weder ein langes Leben begehrst, noch vor dem Tod erschreckst, oder ob Du des Lebens Kürze bedenkst und weder um das Bittere noch um das Süsse dieser kurzen Frist Dich sehr kümmerst, dagegen mit grossem Mut das Bittere ebenso wie das Süsse gleichmütig hinnimmst: Du wirst erkennen, dass die Verbannung kurz aber schwierig ist, weil das Gedeihliche täuscht und das Widrige lügt. Doch Du wirst die Schwierigkeiten alle leicht überwinden, wenn Du die Beschwerden des Exils mit dem Gedanken an seine Kürze erleichterst und stets nach der Heimat Dich sehnst,26 der Du, sofern Du es willst, als Bürger eingeschrieben bist und wo alles so vollkommen wie ewig ist. 44. Damit hast Du, mein Herr, was ich zu schreiben für richtig hielt. Fällt mir etwas anderes ein – es pflegt mir täglich vieles einzufallen –, so benötige ich einen zweiten Tag. Was den Stil angeht, so schau Du zu. Die Sache jedenfalls ist zweifellos klar. Und sollte der Stil Dir nicht zusagen, wirst Du den Inhalt nicht ablehnen. Lebe glücklich, Du unsere Zier! An der Quelle der Sorgue, am 22. September (1352).27

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Anmerkungen 1 Zu diesem Brief vgl. N. P. Zacour, Petrarch and Talleyrand, in: Speculum 31,1956, 683–703. Vgl. auch Fam. 11,16 und den andern an Talleyrand gerichteten Brief Fam. 16,1, überdies den folgenden Brief Fam. 14,2. Allgemeines zur Person nennt das Personenreg. in Bd. 1; ebenso Guillemain, La cour pontificale (s. dort das Register). Über seine Beziehung zu Petrarca findet man Verschiedenes auch bei Dotti, Vita und bei Wilkins, Studies mit Hilfe der Register. 2 Im Lateinischen: Clarum fieri stilo. Das ist vieldeutig. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass Petrarca in einem einfachen Stil über ein allgemein verständliches Thema schreiben soll. Aber Petrarca würde das Wort clarum gern als schön und erhaben deuten, wie aus dem folgenden Satz hervorgeht. Vgl. die Anm.3. 3 Fam. 13,5,12 ff. berichtet, wie die Kurie den Dichter zu einem einfachen Stil anhalten wollte. 4 Das heisst, dass jeder zwar genug davon spricht, aber jeder zu wenig darüber nachdenkt. 5 Tusc. 2,4,12. 6 Das folgende Zitat ist ungenau und der Text ist verderbt; die Übersetzung folgt deshalb dem ursprünglichen Wortlaut bei Iuv. Sat. 9, 102–8. 7 Ps. 74, 9. In der Vulgata: Calix in manu domini vini meri plenus mixto. In der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift von 1982 steht: „Ja, in der Hand des Herrn ist ein Becher/herben, gärenden Wein reicht er dar.“ Es folgt: „Ihn müssen alle Frevler der Erde trinken,/müssen ihn samt der Hefe schlürfen.“ 8 Iuv. Sat. 11,180 f. 9 Verg. Aen. 6,612–613; 621–623. 10 Verg. Aen. 6,273–279. 11 Ps. 33,11 (Zählung wie immer nach der Vulgata). 12 Solin. Collect. 1,106. 13 Hinweis auf die Schlacht im Teutoburgerwald 9 n. Chr. 14 Suet. Aug. 23,4. 15 Diesen Gedanken hat Petrarca mehrfach geäussert; vgl. z. B. Fam. 14,5,21 und 17,3,47. 16 Zu denken ist an Friedrich den Schönen, besiegt bei Mühlberg und gefangengenommen 1322; an Eduard II. von England, der 1327 abdankte und im Gefängnis ermordet wurde; an Andrea, den ungekrönten Gemahl der Königin Giovanna von Neapel, ermordet 1345; an den Schottenkönig David Bruce, besiegt im Kampf gegen England 1346 und in den Tower geworfen; an Jaime II. von Mallorca, 1343 verbannt, 1349 im Kampf umgebracht. Das berühmteste Beispiel stand noch aus, denn der Franzosenkönig Jean le Bon ist 1356 in englische Gefangenschaft gebracht worden, also erst nachdem Petrarca Fam. 14,1 geschrieben hatte. Offensichtlich hat der Dichter den Brief überarbeitet. 17 Z. B. Sen. Nat. quaest. 4, praef. 22. 18 Sen. De ira, dial. 5,30,4. 19 Iug. 64,1. 20 Suet. Caes. 29. 21 Zu den häufigen Klagen über die eigenen Diener und Knechte vgl. die Angaben in Fam. 13,8, Anm.14. 22 Luc. Phars. 7,727. 23 Vgl. Sen. Ad Lucil. 14,10. 24 Vgl. Mt. 5,3. 25 Vgl. Rom. 5,11; 1Cor. 1, 31 und 2Cor. 10,17. 26 Gemeint ist der Himmel. 27 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 135.137.158; Petr. corresp. 72. Angaben über Briefe Petrarcas findet man bei Dotti, Vita leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 14,2, an seinen Sokrates1 Der Adressat möge den vorangehenden Brief seinem Adressaten übergeben. 1. Nur der Papst steht über dem Kardinal. 3. Dieser hat Petrarca gebeten, einfach und klar zu schreiben. 4. Seine Begabung ist erstaunlich, doch versteht er einzig die Sprache der Legisten. 4. Er bittet, Petrarca möge verständlich schreiben. 8. In der Diskussion unterwirft sich der Dichter oft seinen Wünschen. An der Quelle der Sorgue, am 22. September (1352).

1. Den hochgesinnten und überragenden Mann, über dem in der Rangordnung der streitenden Kirche2 niemand steht ausser einzig der römische Pontifex, kennst Du natürlich; und müsste ich nicht fürchten, dem Erwähnten Neid und mir selber den üblen Ruf eines Schmeichlers zu verschaffen, würde ich nicht einmal ihn ausnehmen, denn es ist doch gewissermassen etwas Grösseres, Päpste aufzustellen als einer zu sein.3 Schweigt der Genannte davon, so redet die Fama, und leugnet er’s, so bestätigen es doch alle, dass er zwei mal einen Pontifex geschaffen hat.4 Und wollte einer kühn behaupten, die Gewählten seien solcher Gunst eingedenk und erzeigten sich dankbar, würde die ganze Kirche solches bestreiten. Er aber – wie seine Zunge verrät und an seiner Stirne zu lesen ist – verachtet die Undankbarkeit bei andern grossherzig und versucht nur dafür zu sorgen, dass nicht ein fremder Fehler seinen Tugenden etwas anhaben könne.5 2. Soviel wollte ich über die Grösse dieses Mannes festhalten, jedoch möglichst knapp, weil die Sache ohnehin allgemein bekannt ist und weil an sie erinnert zu werden, ihm, wie ich merkte, nicht angenehm ist. Seine Zuneigung zu mir brauche ich vor Dir gewiss nicht zu erwähnen; er schenkt sie ja nicht allein mir, sondern auch Dir und übrigens allen den Meinen. 3. Dieser Prälat, so mächtig und uns so zugetan, bittet nun, obwohl er uns nach seinem Recht befehlen könnte, tagtäglich, für ihn etwas zu schreiben, wobei er stets hinzu setzt, klar solle ich schreiben.6 Und übrigens meint er, ich solle –, was aber mit der von ihm verlangten Klarheit7 kaum zusammengeht – etwas von Dichtern einfügen. An ihnen sich zu freuen, lernt er eben unter meiner Anweisung,8 jedoch nicht, um sich bei ihnen aufzuhalten, sondern um mit ihrer Hilfe eigenen Zwecken zu dienen und mit den Farben der Pieriden seine zivilrechtliche Beredsamkeit, in der er sich ungemein hervortut, zu würzen und zu schmücken. Diese Sache hat nun allerdings ihre nicht geringe Schwierigkeit, denn ich merke: Die Plattheit der Legisten9 hat von ihm so völlig Besitz ergriffen, dass er alles, was anders gesagt wird, für unverständlich hält. Und dennoch muss es nun einmal anders gesagt werden, weil es auf gleiche Weise zu sagen, schlichtweg unmöglich ist. 4. Wahrhaft wunderbar! Dank seiner Fassungskraft für „alles, was der Himmel zusammenhält“, wie Plinius10 von Caesar gerühmt hat, und dank seinem ganz überragenden und durchdringenden Verstand erlangte er nicht allein eine unge-

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Fam. 14,2

meine Geschicklichkeit in Geschäften und ein einzigartiges höchstes Ansehen in der Beratung, vielmehr hat er eben auch das Zivilrecht, das zu bewältigen ein langes Leben der beständigen Forschung kaum ausreicht, in kurzer Frist sich so gänzlich zu eigen gemacht, dass er jedem beliebigen Rechtsberater unserer Zeit an Ruhm entweder ebenbürtig oder überlegen ist. Und vor allem ist bewunderungswürdig, dass er solches unter den vielfältigen Beschäftigungen mit ganz entscheidenden Fragen und sogar in eben der Stellung erlangt hat, in welcher die Menschen nicht zu lernen, vielmehr zu verlernen pflegen. Er kam zum Kardinalat ja einigermassen unwissend.11 5. Ausgestattet also mit natürlicher Begabung, so sage ich, auch äusserst gebildet in seinem eigenen Fach, für Verstandesfragen im weitesten Sinn geeignet und rasch im Begreifen, zeigt er sich einzig im Umgang mit Worten allzu nachlässig und schaudert gar vor jedem Stil, der nicht der seine, nämlich nicht der des Zivilrechts ist, wie vor einem barbarischen zurück.12 Darum also seufzt er häufig: „Mach, dass ich Dich so gut verstehe wie einen Gesetzestext!“ Hierauf antworte ich ihm, ein Gesetzestext von der Art, wie ich sie als Kind studiert habe, sei nicht für jeden so verständlich wie für ihn, vielmehr sei er für viele zweifellos schwieriger, als für ihn der allerschwierigste sei, und alles sei leicht für Fachleute und alles schwierig für Laien. 6. Dann sagt er: „Mach, dass jedermann Dich mühelos verstehe.“ Und ich erwidere, das sei ganz billig und schäbig, was man ohne jede geistige Anstrengung verstehe.13 Dann füge ich hinzu, was ich einst Clemens VI. auf eine ähnliche und oft wiederholte Forderung sagte,14 übrigens nicht ohne all das andere, was zur Klärung der Sache etwa beitragen kann, nämlich unter anderem auch dies: Lieber sei mir, bei nur wenigen Verständnis und Schätzung zu finden, als von allen verstanden und von niemand geschätzt zu werden. An Gelehrten habe es immer nur wenige gegeben und zu unserer Zeit gebe es fast keine, und wenn die göttliche Vorsehung nicht vorbeuge, werde es bald überhaupt keine mehr geben. 7. Solange jedoch wenigstens einige vorhanden seien – ich rechnete ja für die Zukunft nicht mit vielen, weil es eine Menge niemals gegeben habe –, wollte ich’s dulden, von ihnen beurteilt zu werden; dagegen habe das Urteil der vielen, das heisst der Menge, für mich früher wie später so gar kein Gewicht, dass mir lieber sei, sie verstehe mich nicht, als sie lobe mich. Das Lob der Menge bedeute für Gelehrte ohnehin einen Schimpf. Oft zitiere ich darüber hinaus eine Meinung Ciceros, die in seinen Tusculanen steht:15 „Ein ausgezeichneter Grundsatz ist es, all das nicht umständlich gelehrt zu sagen, was selbst von Ungelehrten leicht verstanden und gebilligt wird.“ 8. Am Ende jedoch erdrückt mich die Autorität des Erwähnten, und nach langem Kampf erliege ich, und oft unterwerfe ich meine Auffassung seinem Willen, weswegen ich ihm gefalle und mir missfalle. Doch um nicht sogar eine Menge zu beleidigen, greife ich zu einem neuen Brauch: Ich schreibe ihm, ohne davon Kopien aufzubewahren. Jetzt allerdings habe ich für einmal seiner anhaltenden und

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drängenden Bitte entsprochen, indem ich seinen Wunsch, ich solle klar reden, erfüllte, und zwar in einem Mass, dass ich fürchte, er werde nun sagen, allzu gut sei ihm gehorcht worden. Doch wie immer er urteilen mag: Du wirst ihm diese ungeheuer lange Epistel überreichen. Ich meinte ja, sie Dir deshalb senden zu sollen, dass Du Gelegenheit fändest, jenen aufzusuchen, von dem keiner je anders als besser oder fröhlicher wegging. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 22. September (1352).16

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an Sokrates und Informationen über seine Person im Personenreg. Vgl. auch zu Talleyrand die Bemerkungen über einen Kirchenfürsten in Fam. 13,6,30 ff. 2 Allgemein verwendeter Ausdruck für die Kirche auf Erden im Gegensatz zur triumphierenden Kirche im Himmel. 3 Hier das Wort Papst, das Petrarca in der Regel bewusst vermeidet; vgl. Fam. 14,1,4. 4 Da Fam. 14,2 mit gutem Grund in den September 1352 datiert wird, kann Talleyrand vorher nur an zwei Papstwahlen, der Benedikts XII. 1334 und der Clemens’ VI. 1342 beteiligt gewesen sein. 5 Wenn nicht Kardinal Guy de Boulogne jener einzige Kirchenfürst in Avignon war, den Petrarca vor der Sintflut beinahe gerettet hätte, könnte man an seine Stelle wohl am ehesten Talleyrand setzen. Vgl. Sine nom. 11, lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 262. 6 Vgl. Fam. 14,1 Anfang und Ende. 7 Klar reden, das heisst für Talleyrand, wie schon Fam. 14,1 verdeutlicht, allgemeinverständlich. Ihm gilt jedoch offenbar einzig das als allgemeinverständlich, was sein Gesetzbuch trocken, verkürzt und im Juristenjargon ausdrückt. Dass übrigens die Dichter die Klarheit bewusst vermeiden, sagt Petrarca mehrmals, z. B. Fam. 10,5,12. 8 Vielleicht tut er es so, wie Fam. 13,6,31 ff. darstellt. Dort wird der Belehrte nicht genannt, jedoch mit ähnlichen Worten gepriesen, wie Talleyrand im vorliegenden Brief 9 Lateinisch: planities legistarum. Hiermit deutet Petrarca an, dass sich der Kardinal nicht einmal um die unterste Stufe einer kultivierten Sprache bemüht; vgl. Fam. 13,5,16. 10 Plin. Nat. 7,25,91. 11 Kardinal wurde Talleyrand mit dreissig Jahren. 12 Zum folgenden Text vgl. Fam. 13,5,12 ff. 13 Vgl. Fam. 13,5,23 f. 14 Vgl. Fam. 13,5,12 f. 15 Tusc. 4,3,7. 16 Jahreszahl wie im vorangehenden Schreiben an Talleyrand, was sich aus dem Inhalt ergibt.

Fam. 14,3, an den Priester Luca von Piacenza1 Trostbrief zum vorzeitigen Tod eines jungen Mannes. 1. Petrarca erlaubt sich keine Tränen. 2. Der Tod erinnert erneut an die Ungewissheit menschlichen Schicksals. 3. Aufzählung leiblicher und geistiger Vorzüge; dem Freund hat keiner gefehlt. 6. Er ist nicht gestorben, sondern täglichem Sterben entronnen; er wird auferstehen. 8. Seine Tugend lebt weiter, Petrarca hat eben diese geliebt. An der Quelle der Sorgue, am 25. September (1352).

1. Hätte ich nicht schon früher meine Augen getrocknet, meinen Seufzern den Weg verschlossen und meiner Seele eingeprägt, über das Sterben der Sterblichen solle man nicht trauern, dann wäre mir der Inhalt Deiner Epistel zum Anlass vieler Tränen geworden. Nur mühsam habe ich sie zurückgehalten, dass sie nicht – in ihrer so tröstlichen Weise eindringend – die ihnen gewohnte Grenze in aller Stille erreichten. So sonderbar und unglaublich (wäre überhaupt etwas unglaublich, was sich nach der Anordnung der Allmutter Natur ereignet), auch so ganz unzeitig und hart (wäre für die Zahlung des Tributs an den Tod ein bestimmter Tag festgesetzt),2 und schliesslich so ganz plötzlich und überstürzt ist mir der Ruin unseres Freundes vorgekommen! 2. Diese in ihrer Jugend so herrliche Blüte, diese lichtklare Gestalt ist auf der höchsten Höhe, wie es scheint, auf der kräftigsten Stufe fruchtbarer Jahre und bei bester Gesundheit in weniger als drei Stunden – so sagst Du – zerstört worden, um mich mit einem neuen, sichersten und eindrücklichsten Beispiel daran zu erinnern, es sei wahr, was wir täglich mit Worten wiederholen (allerdings nicht auch mit unserer Lebensweise oder Anstrengung verkünden), dass man auf Vergängliches keine Hoffnung setzen dürfe und dass gegen den Tod nicht das geringste Heilmittel, es wären denn Verdienste des Lebens und Reinheit des Gewissens, zu finden sei. 3. Was wollen mir die Ärzte versprechen? Wir sehen sie ja ringsum auch selber sterben und immer wieder – was schon sprichwörtlich wird – erblassen und nicht seltener erkranken als andere Leute? Einzig die Tugend weiss nichts von Untergang. Was also hat unser Freund, so frage ich, nicht besessen, und was hat ihm seine Jugend genützt, was seine schöne Gestalt, die feine Lebensart, die Körperpflege, der Purpurglanz, die ausgesuchte Vielfalt der Kleidung, die elegante Haltung, die so beglückende Stimme und der schmelzende Gesang? Was die Anmut seiner Rede, die engelgleiche Grazie beim Gehen, Speisen, Schlafen und bei Spiel und Ernst? Konnte er mit all den Vorzügen seine Todesstunde um einen Augenblick verzögern? 4. Oh zweifelhaftes Menschengeschick, oh überraschender Lebensschluss, oh trügerische Hoffnung und flüchtiges Glück, oh Freude, hangend am dünnsten Faden! Oh stets unberechenbarer, den Sterblichen stets unheimlicher und furchtbarer Schicksalstag! Doch was tue ich? Sieh, schon begebe ich mich Schritt für Schritt ins Meer hinein, obwohl kaum sicher am Ufer! Also muss ich umkehren.

Fam. 14,3

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5. Unser Freund ist gestorben. Nichts Wohlgefälligeres hatte unsere Stadt hervorgebracht. Er galt so viel, wie in Rom Scipio, in Sparta Leonidas, in Athen Alkibiades.3 Keine Begabung pflegte ich stärker zu bewundern als die seine; und wie ich ihn schätzte, wie ich ihn liebte und wie teuer er mir war, erkannte ich nie klarer als jetzt im Verlust. Ein solches Geschick konnte ich nicht schweigend ertragen; doch ist das eben kein Grund, sich langes Jammern zu gestatten. 6. Unser Freund ist gestorben. Nein, er hat für sein Sterben ein Ende gefunden. Er ist vergangen, nein, er ist dahin gegangen, wo er weiterbesteht, ohne noch ein neues Verscheiden erahnen und befürchten zu müssen. Er ist dahin gegangen, nein zurückgegangen, woher er ausgegangen und von wo er zur Pilgerschaft und Verbannung aufgebrochen war. Er ging zu Jenem zurück, welcher ihn in die Hut eines hinfälligen, wenn auch herrlichen Leibes entlassen hatte. Er ist gestorben; nein, er hat sich von uns unablässig Sterbenden getrennt, um endlich zu leben. Er wurde beerdigt; nein, er wurde schweren Ketten entwunden und gab der Erde das Ihre und dem Himmel das Seine zurück. 7. Sein Leib ruht freilich entseelt, und den Augen all jener, die er zu entzücken pflegte, bereitet er nun Schrecken. Doch seine Seele, von ihrem leiblichen Kerker befreit, ist schon heiterer, an Schönheit sich überbietend und erst recht lebendig – begleitet von ihren Tugenden – zu den Sternen aufgestiegen. Dort wohnt sie schon, wie ich hoffe, um zur rechten Zeit den der Erde anvertrauten Leib um vieles herrlicher zurück zu empfangen. 8. An ihm wurde so glücklich gehandelt, dass sein Los zu beweinen vielleicht weniger ein Akt des Mitleids als der Missgunst ist,4 an mir hingegen sehr ungemäss, wie Laelius beim Tod seines Africanus klagte.5 Denn richtig wäre gewesen, dass ich, weil früher ins Leben getreten, auch früher daraus verschieden wäre.6 Doch ich tröste mich mit einem Wort des selben Laelius. „Die Tugend dieses Mannes, die nicht gestorben ist, habe ich geliebt; wäre es anders, müsste ich in untröstlichen Klagen vergehen.“7 9. Obwohl ich, wie gesagt, nach der Lektüre Deines Schreibens eine unendliche Trauer mit aller mir verfügbaren Vernunft bezwang, konnte ich doch den Schmerz nicht bezwingen. Denn Schmerz empfand ich, das gestehe ich und verstecke vor Dir meine Schwäche nicht. Schmerz, sage ich, und davon sogar mehr, als ich zu verspüren mir noch zutraute. Doch ich beklage nicht die Wandlung seines Geschicks, sondern den Verlust einer seltenen Zierde unserer Vaterstadt, das Erlöschen eines gleichsam glänzenden Gestirns in unserer Nachbarschaft und den Wegfall eines sehr wohltätigen Trostes für unsere Sorgen. 10. Doch weil ein wahrer Schmerz nur unter Gewaltanwendung aufhört und das Aufbegehren wegen nie gutzumachender Schäden nichts anderes ist als ein Zuwachs an Schaden und Schmerz, lasse ich davon ab und wende mich jenem Teil Deines Briefes zu, wo Du mich anhältst, für ihn zu beten. Deine Ermahnung lobe ich, doch Du selber bist Priester, und somit liegt es an Dir zu beten.8 Ich für meine

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Fam. 14,3

Person bin des Verstorbenen wie des Überlebenden Freund, flehe also Dich an für ihn, weil ihm zur Seligkeit etwas mangeln kann! Und eben Du selber wirst für ihn zum gemeinsamen Herrn Christus flehen! Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 25. September (1352).9

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Adressaten und zu seiner Person das Personenreg. Um wen hier getrauert wird, bleibt unbekannt. 2 Hier Aufzählung von Gedanken, die Petrarca bei Todesfällen und auch sonst oft wiederholt. Vgl. z. B. Fam. 2,1,7; 4,12,39 ff. 3 Vgl. das Personenreg. 4 Vgl. andere Trostbriefe an Hinterbliebene, so wiederum Fam. 2,1, Abschnitt 28 oder Fam. 4,12,25. 5 Vgl. Cic. De am. (Laelius) 4,14,15 und 3,10. 6 Auch dies ein mehrfach wiederholter Gedanke, dass der Tod oft die natürliche zeitliche Ordnung der Kreaturen störe. Vgl. z. B. Fam. 7,12,12 und 13,1,11. 7 Vgl. Anm. 5. 8 Petrarca war Kleriker mit nur niederen Weihen. 9 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 91.135 ff. und Petr. corresp. 72.

Fam. 14,4, an den Priester Luca von Piacenza1 Antwort auf verschiedene Verleumdungen durch Neider. 1. Der vorgebrachte Tadel ist ungerecht. 4. Das Kläffen der Menge macht Petrarca keinen Eindruck. 7. Seine Gegner suchen nach Gründen für seinen Aufenthalt in Avignon und für sein Weggehen von dort und ertragen beides nicht. 13. Einige werfen ihm Unbeständigkeit vor. 14. Andere beschuldigen ihn des Geizes und der Habgier. 17. Petrarca will die Vorwürfe widerlegen. 18. Er macht eine Verfügung nach Art eines Testaments. 21. Einige sprechen von Argwohn; der Vorwurf ist unhaltbar. 24. Petrarca gibt Rechenschaft über ein Kirchengut und wie er es verschenkt hat. 30. Richtig ist der Vorwurf der Entrüstung. Petrarca definiert sie. An den Flüssen Babylons, am 19. Oktober (1352).

1. Zwei Briefe habe ich von Dir gleichzeitig empfangen; einen aufmunternden, der mir höchst willkommen und in den Ängsten und Ärgernissen dieser Zeit nicht nur erfreulich, sondern beinahe notwendig ist, und einen vorwurfsvollen, der mir gewiss nicht weniger gefiele, wenn der Vorwurf gerecht wäre. 2. Dieser aber stammt, wie Du sagst, nicht von Dir, vielmehr von der grossen Menge, und er rührt, obwohl er die Ohren verletzt, nicht ans Herz. Denn so wenig diese Art Verleumdung mir neu ist – Du weisst ja, dass ich solche oft erdulde –, so wenig ist mir verwunderlich, dass ich dem Volk missfalle, und eher wundert mich, wenn ich bisweilen höre, es feiere mich mit ganz unverhofften Lobhudeleien. Da der erste Beweggrund zur Liebe in der Ähnlichkeit besteht, war ich immer so viel als möglich dafür besorgt, mich von der grossen Menge durchaus zu unterscheiden, und sollte mir das je vollkommen gelingen, wollte ich mich endlich überaus glücklich schätzen. 3. Wie könnte ich also jenen gefallen, denen zu missfallen ich stets unter grösster Anstrengung bemüht bin? Wo doch sogar Volksverführer, die mit umgekehrter Anstrengung und mit entgegengesetztem Zweck das einfache Volk umschmeicheln, mit all ihren Listen kaum einmal das von ihnen Erstrebte zu erreichen vermögen! Schon ihrer viele haben, nachdem sie mit beschämenden Kniffen nach Ansehen gejagt sind, bei plötzlich verlorener Volksgunst nicht allein Schande, sondern ähnlich wie Tierbändiger, welche Panther, Tiger und Löwen mit Lockmitteln abrichten, einen Aufruhr im geköderten Volk und dessen Hinterhältigkeit erfahren. Doch kehren wir zur eigenen Angelegenheit zurück. 4. Wundere Dich nicht, wenn die grosse Menge wie gegen ihre Freunde auch gegen mich, ihren notorischen Feind, von ihrem Recht Gebrauch macht. Ein tüchtiger und gut ausgerüsteter Wanderer wird aber durch Hundegebell nicht beunruhigt. Wirklich, ich bleibe ruhig, und oft fällt mir jenes Wort Ciceros2 ein: „Was die Menschen über Dich sagen, müssen sie selber verantworten“, und etwas später: „Willst Du Dich in die Höhe recken, so achte nicht auf die Reden der Menge, und setze die Hoffnung für Dein Fortkommen nicht auf eine Belohnung durch Menschen.“ Und Seneca3 sagt: „Schlecht reden die Menschen über mich; sie tun nicht, was ich

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verdiene, doch was bei ihnen Brauch ist.“ Was bellen sie wie faule und unnütze, ausgehungerte, räudige Hunde den Mond an? 5. Was quälen sie sich um die Angelegenheiten und Absichten eines Menschen, der ja kein einziges Mal über ihr Leben und Sterben oder auch nur über irgend etwas sie Betreffendes nachgedacht hat, ausser höchstens wie über – ich will nicht sagen ‚Tiere‘, sondern – über eine gleiche Anzahl Leichen? 6. Aber vielen tut es wohl, gegen andere zu wüten, unter Vernachlässigung der eigenen Angelegenheiten die Geheimnisse einer fremden Brust auszuspionieren und in der Tiefe anderer Gemüter heimliche Winkel aufzustöbern, was doch die schwierigste aller Nachforschungen ist. Erahnen sie wenigstens, was menschlichem Bemühen zu wissen versagt ist? Was für ein Apoll,4 ich bitte, hätte sich auf der Flucht aus Delphi in die Brust von Toren verströmt? Wirklich wunderbar! Das Eigene verkennend, kennen sie das Meine, obwohl ich’s vor ihren Augen denkbar fern – wie Aeneas seine Hausgötter – „im abseitigen Talgrund versteckt halte.“5 7. Doch was sie sagen, lohnt sich zu überprüfen.6 Schon sind wir nämlich Schritt für Schritt bei der Ursache ihres Geredes angelangt. Vor allem verargen sie dem Mann, dessen Abreise aus Italien sie fürchteten, als könnte sie ihnen verhängnisvoll und verderblich sein,7 nun auch seine, wie Du sagst, ihnen vorzeitig bekannt geworden Rückkehr dorthin. Anmassend verlangen sie jetzt, jener solle nirgendwo sein (obwohl er selber sie nicht hindert, überall zu sein); oder aber sie bedauern wie Wahnsinnige gleichzeitig beides, nämlich sein Fortgehen wie sein Herkommen. 8. Was aber soll ich dazu sagen? Wenn ich noch heute über meine Handlungen Rechenschaft abzulegen habe – die Pflicht verlangt ja, nichts zu tun, wofür man sich nicht rechtfertigen könne –, so will ich zwar nicht der Menge, aber gewiss Dir sowohl über meine Abreise wie über meinen Aufenthalt, ja auch über meine Rückreise und über die Hauptsache meines Vorhabens kurzen Bescheid geben. Ich kam, wie Du weisst, kürzlich an die Kurie; nein, nach Babylon kam ich. Dass ich aber daran denke, wieder fortzugehen, darüber wundern sie sich8 und staunen, obwohl ich doch, was Gott und mein Gewissen bezeugen und was Du oft von mir gehört hast, hier nie anders als unglücklich und widerwillig gewesen bin, ja schon zur Zeit, als mich kräftigere Bande da festhielten!9 Wie dem sei: ich kam! 9. Und wären sie nicht wahre Narren, hätten sie überlegen können, dass ich nicht anders als aus einem wichtigen Grund (der ihnen allerdings verborgen ist und bleibt) und nicht bloss infolge eines Versehens an einen Ort übersiedelte, der mir von Jugend auf sowohl bekannt als auch verhasst ist. Die mir angenehmste Stätte hätte ich also auf unbekannte Zeit verlassen und das Einsiedlerleben aufgegeben, obwohl sich nach einem solchen kein anderer je heftiger sehnte als ich, sofern ich mich gründlich kenne? Auch hätte ich mich von unserem italischen Helikon10 getrennt und auf das ungestörte Studium der Literatur verzichtet, das niemandem schädlich, manchem allerdings verdächtig und – wie ich allmählich erkenne – vielen sogar verhasst ist?11 Alles das, um einem grossen und guten Seelenfrieden die

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lästige Geschäftigkeit und das unentwirrbare Labyrinth der Kurie vorzuziehen? 10. Möglich wäre das nur gewesen, wenn mich Armut oder Reichtum, diese beiden Beschwerden der Sterblichen, oder Feindschaft, Misshelligkeit oder (was für hoch gesinnte Seelen vor allem belastend ist) Verachtung von dort vertrieben hätten! Wirklich, meine Gegner hätten nach Belieben etwas Derartiges argwöhnen können, wäre ich nicht immer bemüht gewesen, von grossem Reichtum wie von kümmerlicher Dürftigkeit gleichermassen fernzubleiben! Ja wäre ich nicht überdies von all den guten Menschen, mit denen zu leben mir vergönnt ist, wie auch von solchen, die in weiter Ferne leben, immer geschätzt und mit ausnehmendem Wohlwollen gefördert worden! Ja hätten nicht auch in Italien bedeutendste Herren mich mit Bitten zurückzuhalten versucht und meinen Weggang bedauert, weswegen sie nun mit grösster Begierde auf meine Rückkunft warten!12 Ja da gab es eben, so meine ich, einen ganz anderen und geheimeren Grund! Der aber hat mich angespornt, ohne Rücksicht auf die mir Widerstehenden zu gehen und von den mich Festhaltenden mich loszureissen! 11. Und was wissen denn jene Leute, ob das Geschäft, dessentwegen ich kam, schon abgeschlossen ist oder ob es sich gar nie abschliessen lässt? Beides wäre ein genügender Grund, endlich zurückzugehen. Und wiederum: Wie wissen sie denn, ob ich hier länger zu bleiben und sie derweil zu verlachen gedenke? Schon habe ich den Grund für ihren Schmerz und damit den Ort des Schlüssels gefunden! Das ist es, was sie bedrückt: Nicht dass sie meine Abwesenheit von dort bedauern, nein, dass sie meine Anwesenheit hier fürchten! Bin ich dort, verletze ich lediglich ihre Ohren und Augen,13 bin ich hier, erfahren sie von mir weit Schlimmeres. So bin ich denn nicht allein den Guten liebenswert, wie ich immer gewünscht hatte, sondern auch, was ich nie im mindesten gewollt hätte, den Albernen zum Schrecken geworden. 12. Eine neue Art von Bosheit sollst Du hören – es hat ja auch der Unverstand seine Spitze und seine Stacheln. Sie fürchten und verwünschen eine allzu lange Dauer meines Aufenthaltes eben hier, und just deswegen geben sie heuchlerisch vor, sie fürchteten, mein Aufenthalt werde zu kurz sein, und wollen damit erreichen, was sie bezwecken. Sie wissen ja, dass ich ihrer Meinung immer aus ganzem Herzen widerspreche und mich regelmässig auf die Meinung versteife, die ihnen und ihrer Verrücktheit entgegensteht, bin ich doch überzeugt, dass man auf keinem Pfad leichter zur Wahrheit gelangt, als indem man die krummen und abschüssigen Wege der blinden und torkelnden Menge vermeidet. 13. Sehen wir uns doch an, was für einen Anstrich sie uns mit ihrer Phantasterei zu verleihen gedenken. Allerdings sind sie unter sich nicht einmal in diesem Punkt einig, weil es eben zum recht gebräuchlichen Übel eines solchen Gesindels gehört, dass ihr Wahnsinn mit sich selber entzweit ist. Einige also laden die Schuld an meiner verschobenen Rückreise (und wenn sie doch sogleich stattfände, zwar nicht zur Verminderung ihrer Furcht, aber zur Besänftigung meines Verlangens!), sie laden also

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die Schuld meinem Wankelmut auf, als wüssten nicht alle, die mich kennen, dass kein anderer Makel so schlecht zu meinem Charakter passt wie dieser und dass ich von unfreundlichen Kritikern eher den Vorwurf der Hartnäckigkeit als den der Wandelbarkeit zu befürchten habe. Andere schreiben, wie Du selber angibst, die „Ungeheuerlichkeit einer übereilten Abreise“ meinem Geiz zu, und diesen Leuten wird, wenn ich schweige, mein Leben antworten. Wer nämlich hätte je einen Habsüchtigen gesehen, der reich hätte sein können, aber arm zu sein vorzog? Begehren und Abwehren schliessen sich aus. Diese in Missgunst Erblindeten beachten aber nicht, dass sie Widersprüchliches behaupten, und obwohl sie selbstzufrieden mich als Allesverächter zu bezeichnen gewohnt sind, nennen sie mich doch auch einen Geizhals, sooft es ihre Lippen danach gelüstet. 15. Was geht es mich an? Mögen sie mich doch Dieb, Räuber, Testamentsfälscher heissen! Ich werde all das so wenig werden, als jene gerecht, grossherzig, nüchtern und klug wären, wenn mir einfiele, von ihnen das zu behaupten, nämlich mit nicht geringerer, doch mit höflicherer Lüge. Alt ist diese Dreistigkeit, Personen zu verlästern, die man eben noch gelobt hat; alt ist diese Schamlosigkeit, alt diese Unbekümmertheit im Lügen, jedoch vielleicht beinah entschuldbar, weil sie den Hunden eigen ist, denen diese Leute gleich zu werden versuchen, und also kläffen, ohne zu fragen, in welcher Art und ob im Verein oder nicht. 16. Es sei denn, man könne die letzte Anschuldigung eher gerecht nennen, weil der Geiz immerhin zwei Gesichter hat, von denen das eine als ein massloses Verlangen und das andere als ein massloses Abwehren zu verurteilen wäre. Ich würde dann nicht etwa der ersten Art, sondern der zweiten beschuldigt, und zwar so, als wagte ich oder vermöchte ich die bodenlose Unersättlichkeit der Kurie nicht auszuhalten. Würde das zuletzt Genannte zutreffen, läge die Schuld nicht bei mir sondern bei Fortuna, und von der ersten Verdächtigung würde mein väterliches Erbe mich freisprechen, das sich mit den Jahren nicht vergrössert, sondern eher verringert hat. Ich vertraute nämlich darauf, dass man immer nur wenig benötige und beim nahenden Ende fast nichts mehr. 17. In Fleisch und Blut ist mir ein Wort Ciceros14 übergegangen; er sagte: „Geiz bei einem Greis, ich weiss nicht, was der soll. Kann etwas verschrobener sein, als dies, für eine immer kürzere Strecke immer mehr Reisegeld zu beschaffen?“ Zuversichtlich will ich sagen, es liege da eine Dichtung der feindseligen und ausgeklügelten Verleumdung vor. Der letzte Tag wird die Rechtfertigung bringen, wenn mir, dem Hinscheidenden, versagt ist, etwas wegzutragen oder zu verstecken. Doch es sei, dass ich – unangefochten von meinem Gewissen und meinem Angeber – mit meinen ungetreuen Anklägern getreulich ein bestimmtes Abkommen treffe und diese meine Epistel zur Verteidigungsschrift, Dich aber und alle, denen sie in die Hand gerät, zu Zeugen erkläre! 18. Wenn heute oder am Tag meines Verscheidens ausser Büchern, die für mich fast alle Erholung nach der Arbeit und fast allen Trost im Leben bedeuten, und aus-

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ser einem bescheidenen Hausrat samt dem für den täglichen Gebrauch Notwendigen (an dem es mir bisher nie oder nur selten gefehlt hat), wenn also ausser den genannten Dingen bei mir an ausgegrabenem Gold und zusammengerafftem Geld die Berge gefunden werden, die ihre Missgunst erdichtet, so sollen sie ungehindert alles Vorhandene auseinanderreissen und unter sich aufteilen, obwohl mir für mein Erbgut kein anderes Ende verhasster sein könnte. 19. Das setze ich mit dieser vorliegenden Schrift testamentarisch für meinen Erben fest, damit er nur ja nichts Gegenteiliges zu mucksen wage. Und wie dann im begehrten Schatz die Schande jener Leute bestehen soll, so im Ruf der Raffgier meine eigene, während der Erbe nichts haben soll als eine blosse Erwähnung und eine leere Erwartung. Wirklich, da jene Ankläger mich vielleicht weniger dürftig gekleidet sehen als sich selber und gleichzeitig wissen, dass sie ihrerseits etwas an verborgenem Geld besitzen, vermuten sie, ich müsse im Boden vergleichsweise ungeheure Schätze versteckt halten, denn sie sind unfähig zu denken, dass ich nicht von irgendwoher mir Reichtum beschaffe, während sie doch ihre eigenen Schätze fast aus dem Nichts vermehren. Dummdreiste und ungerechteste Richter sind sie, da sie das Mass ihrer eigenen Bedürfnisse der Gesinnung eines anderen andichten, mag diese in jeder Hinsicht noch so verschieden sein. 20. Sie hoffen nämlich, ewig zu leben, wo sie doch nicht allein sterblich, sondern beständig am Sterben sind, während ich bedenke, dass ich wohlbehalten, doch sterblich bin und eine nur kurze Lebensfrist, ja, wie Dein Seneca15 sagt, eine ungewisse habe. Jene fürchten gewaltig, es werde ihnen einst alles fehlen, während ich alles zur Genüge zu erhalten vertraue. Ihr Irrtum16 kann mir freilich unter der Bedingung willkommen sein, dass er sie wirklich zu täuschen vermag und sie foltert. Ist er aber bloss geheuchelt, zersetzt sich mein Vergnügen zum grössten Teil, da es nur darin besteht, ihre Seelen feierlich den giftigen Bissen des Neides und den versteckten Stacheln des Kummers als eben so vielen Folterknechten und Schindern zu weihen! 21. Doch nun wollen wir noch hören, was andere dichten und denken. Es geschehe aus Argwohn, sagen sie, wenn ich zurückkehre.17 Doch um wessen Argwohn geht es, ich bitte? Wem wäre denn unbekannt, dass zu dieser Zeit kein anderer Mensch mit so geringen Glücksgütern hierher kam und dennoch – um ganz oben zu beginnen – sowohl vom römischen Bischof wie von den höchsten und bedeutendsten Würdenträgern mit wahrhaft grosser Lebhaftigkeit und herzlicher Freude empfangen zu werden schien. Rühmen muss man sich, jedoch im Herrn,18 der mir gewährte, grosse und seltene Gunst sei’s verdienen zu können, sei’s ohne Verdienst zu erlangen. Zur grossen Verwunderung vieler und vor allem auch meiner eigenen habe ich bemerkt, wie sehr sogar jenen meine Ankunft angenehm ist, die ich nie gesehen, und solchen, sage ich, die als Leuchten im römischen Kardinalat aus ihrer Höhe auf alle andern ohne Unterschied herab schauen und weltliche Fürsten und Herren zu verärgern pflegen.19 Und mit so heiterer Stirn und so gewinnenden Wor-

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ten, mit so viel wohlwollendem Benehmen bezeugen sie mir ihre Gunst, dass ich kaum glauben kann, es habe mein Ruf so vieles vermocht. Da gibt es also keinen Argwohn und keinen Grund zum Argwohn. 23. Glaube mir, Grosses dürfte ich erhoffen, so es mir beliebte. Doch ich wünsche mir nichts ausser Seelenfrieden, und weil ich nichts wünsche, erhoffe ich nichts. Und wenn das alles Glaubwürdige zu übersteigen scheint, ist es doch wenigstens Dir, so ich mich nicht täusche, oft und unter verschiedenen Hinweisen bezeugt worden und kann nun mit einem einzigen und neuen, Dir noch nicht bekannten Sachverhalt dargetan werden. 24. Wie Du weisst, ist mir einst ein ererbtes Gut der Kirche20 von vier ungefähr gleichen Teilen verliehen worden.21 Vom kirchlichen Stand22 zu leben, ist ja unser Los, ob wir ihn gemäss der Vorsorge unserer Eltern oder nach unserer eigenen in frühester Jugend gewählt haben. Da ich annahm, es könnten vom genannten Kirchengut zwei Teile mir ausreichen, habe ich die anderen beiden zwischen zwei alte und verdienstvolle Freunde so aufgeteilt, dass bis zu jenem Zeitpunkt ich reicher war als sie und jetzt jeder der beiden reicher ist als ich. Und ein so freudiges Gefühl verschafft mir der Gedanke an diese Tat, dass meine Verleumder kaum ein vergleichbares Missbehagen zu verspüren bekämen, wenn sie etwas Derartiges – ich sage nicht ‚tun wollten‘, denn es soll nicht aussehen, als setzte ich Unmögliches voraus, sondern ich sage – zu tun gezwungen würden. 25. Zu diesem Erbgut der Kirche, von dem ich spreche, kam ein fünfter kleiner Teil hinzu, und obwohl geringer als die andern, schien dieser doch besonders gut für Dich geeignet zu sein, weil er in Deiner Nähe liegt. Diesen mir kürzlich angebotenen habe ich vom meinigen getrennt, um ihn Dir zu geben, und deshalb erhältst Du durch eben diesen Boten ein apostolisches Schreiben, in dem Du lesen kannst, Du seist Kanoniker von Modena geworden, dazu ein Schreiben von mir, weil ich für gut hielt, Dich dem Herrn der Stadt23 zu empfehlen. Wie sehr er mich schätzt, das weisst Du sehr gut. 26. Schau nun, und urteile in aller Stille, wie grossen Glauben man jenen Übelrednern und wie grossen meiner Verteidigung schenken kann. Bekannt sind Dir die Parteien, das rechtmässige Gerichtsverfahren und die geeichte Waage.24 Fragst Du aber nach meinem Urteil, so höre Seneca.25 Nichts weiter bedeuten mir ihre Worte als „Blähungen ihres Bauches.“ Was denn tut es zur Sache, aus welchem Körperteil es hässlich töne? Denn wirklich, es gibt bei den Toren nichts Schmutzigeres als ihren Mund. 27. Wozu aber jagen diese wütenden und hungrigen Hunde mit lästigem Gebell einen Mann von völlig anderer Geistesrichtung? Hassen sie ihn vielleicht und bringen ihren Hass im Reden zur Vollendung? Feige und faul ist diese Menge, wenn ihre Waffe aus nichts anderem als aus ihrer schmutzigen Zunge besteht. Doch weshalb hassen sie überhaupt, wenn sie durch kein Unrecht gereizt wurden? Es wäre denn, dass sie meine andere Sitte und Lebensweise ins Unrecht ziehen! Oder sind sie neidisch? Doch es heisst, der Neid pflege just unter Gleichartigen zu herrschen. Oder duseln sie als Betrunkene und schwatzen im Rausch?

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Das möchte ich am ehesten vermuten und am liebsten glauben, denn der Rausch erklärt den Wahnsinn. Vieles sagen und tun die Betrunkenen, woran sie sich nicht erinnern, wenn sie wieder nüchtern sind; und freilich gibt es viele, deren Leben bis ans Ende ein Rausch bleibt. 28. Das, mein Freund, schreibe ich Dir so peinlich genau unter dem Diktat meines Zornes. Denn Du sollst, nachdem Du meinen Ruf zu verteidigen übernommen hast, diese – wenn das Wort ‚Hund‘ vielleicht beleidigt – diese entsetzlich geschwätzigen Elstern schärfer anpacken und das immer Gleiche verlangen: Sie sollen die Augen auf sich selber richten und nicht wie schwarze Raben über die Mängel der Schwäne herfallen. Dann wird ihnen verleiden, die Sitten selbst jener durchzuhecheln, die ihnen kaum dem Aussehen nach bekannt sind. Aufhören werden sie, über fremde Angelegenheiten zu plappern, wenn sie im eigenen Haus ein Übermass an Gesprächsstoff finden, und wenn sie eine reichliche Zahl an eigenen Mängeln und Wunden entdecken. 29. Und um heute ja nichts von meinen Vermutungen zu übergehen, so scheinen mir jene der Wahrheit näher zu kommen, die als Grund für meine Rückkehr meine ‚Entrüstung‘ erwähnen. Auch diesen Ausdruck fand ich ja in Deinem Schreiben. Die ihn vorbringen, sind nicht gar so verrückt und haben wohl tiefer in meine Seele hinab geschaut, sofern sie überhaupt wissen, was ‚Entrüstung‘ bedeutet. Diese darf man definieren, und wie richtig ich das tue, magst eben Du beurteilen. 30. Die Entrüstung ist doch wohl nichts anderes als die aussergewöhnliche Erregung einer edlen Gesinnung über unwürdige menschliche Verhältnisse. Diese Erregung ist, das gebe ich zu, mir selten oder sogar niemals fern und wird heftiger, wo sich der Stoff dazu vermehrt. Doch genug der Rede über eine geringe Sache, ja über eine geringste, ja gar keine. 31. Sollen sie doch bellen, soviel sie wollen, und sich den aufgewirbelten Staub in die eigenen Augen treiben! Wir wollen sie verlachen, wie sie es verdienen, und ihnen Mitleid schenken, wie sie es nicht verdienen, dabei unser Unternehmen weiterführen, wie wir begonnen haben, um uns die Vernunft nach unserem Vermögen als Lenkerin unseres Lebens zu bewahren. Was mich persönlich betrifft, gehe ich immer vorwärts und lasse mich durch einen summenden Mückenschwarm von meinem Vorsatz nicht abschrecken. Habe ich einmal mit taubem Ohr dieses sinnlose Treiben überstanden, wird es mir entweder gelingen, dahin zu kommen, wohin ich ziele, oder mindestens zu verhüten, dass mein Versagen zum Triumph der grossen Menge werde. 32. Das also hoffe ich, mir zu verschaffen, und meine Pläne, die ich vor den vielen verborgen zu halten trachte, werden, so meine ich, inzwischen von Dir und den anderen Freunden gebilligt werden, obwohl mir in allen Dingen das Zeugnis meines Gewissens genügen kann. Lebe wohl! An den Flüssen Babylons, am 19. Oktober (1352).26

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Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten, auch die Briefe Fam. 9,6–7 und 14. Somn. Scip. 7,18 in De rep. 6,23,25. Ps.-Sen., De rem. fortuit. 7,2. Apoll steht hier für Spürsinn, Ahnungsvermögen, Wahrsagung. Verg. Aen. 2,748. Zu den folgenden Anklagen vgl. Fam. 9,5, hier besonders 39 ff., dann auch Fam. 9,6 und 9,7, später 19,17,1 ff. und 20,8,5 ff. Luca hat Petrarca gemeldet, wie seine Feinde in Parma über ihn klagen. Die Rede ist von Petrarcas schon erfolgter Rückkehr aus Italien nach Avignon und von seinem bevorstehenden Wegzug von Avignon. Petrarca spricht hier in erster Linie von seinen Feinden in Avignon, doch nicht allein von diesen, sondern auch von andern, die er überall, nicht zuletzt in Italien, gar in Parma hat; vgl. Anm. 6 und 13. Das war vor der Pest; einige Freunde Petrarcas und auch Laura gehörten zu ihren Opfern. Das ist die Einsiedelei bei Parma. Man vgl. zum ganzen Brief die Rechtfertigung Petrarcas gegenüber Bischof Rossi von Parma in Fam. 9,5. Dass Vergil bei manchen als Magier gelte, sagt Petrarca Fam. 11,5,15 und 13,6,28 f. Zu denken ist vor allem an die Herren von Verona, Padua, Mantua, Mailand und auch an den Gross-Seneschall von Neapel. Petrarca unterscheidet zwischen istinc und hinc, wie zwischen istic und hic; wobei istic, istinc auf den Ort verweisen, wo sich der Adressat Luca aufhält, dagegen hic und hinc auf Avignon. Ein Satz lautet: istic enim aures eorum atque oculos duntaxat offendo, hinc ex me graviora concipiunt. Das heisst: „Dort beleidige ich bloss ihre Ohren und Augen, aber hier …“. Das gibt nur einen Sinn, wenn Petrarca sowohl von Feinden in Parma wie solchen in Avignon spricht oder von solchen, die ihren Aufenthaltsort von da nach dort gewechselt haben. Der Adressat Luca, der ihre Anklagen dem Dichter nach Avignon mitteilt, verkehrt mit dem Bischof Rossi von Parma und kennt die Feinde des Dichters ebenda. De sen. 18,66. Vgl. Fam. 13,5,7. Ad Lucil. 114,27. Nämlich der Irrtum über Petrarcas Vermögen. Lateinisch: redeo. Das Wort redire kommt mehrmals vor, und nur der jeweilige Kontext zeigt an, ob damit Zurückkommen oder Zurückgehen gemeint sei. Vgl. 1Cor. 1,31 und 2Cor.12,1. Vgl. Fam. 13,1 und 14,1. Im Lateinischen: hereditatem ecclesiasticam. Petrarca meint die vier Kanonikate in Lombez, Pisa, Parma und Padua. Die zwei erstgenannten gab er weiter. Er erwarb dann, wie er gleich angibt, noch eines in Modena; vgl. Wilkins, Studies in Kapitel 1, Seite 6 ff. Im Stand der Kleriker. Wilkins, Studies 25. Vgl. Fam. 9,1 vom Jahr 1347 an den Stadtherrn Manfredo Carpi. Jetzt, 1352, war Herr von Modena Aldobrandino d’Este von Ferrara. Hier ein Hinweis auf die Waage der Gerechtigkeit. Sen. Ad Lucil. 91,19. Ps. 136,1. Vgl. zur Jahreszahl Wilkins, Studies 91.138. 172 und Petr. corresp. 72.

Fam. 14,5, an den Dogen von Genua1 Ermahnung zum Frieden mit Venedig und zu bürgerlicher Eintracht. 1. Petrarca hat den richtigen Augenblick zum Schreiben abgewartet. 4. Die Genuesen sollen sich mit dem errungenen Sieg begnügen. 7. Ihre Tapferkeit in der Schlacht auf dem Bosporus war eine unerhörte Leistung. 11. Mit dem auswärtigen Feind hat Petrarca kein Mitleid, denn er hat Unrecht begangen; zu bedauern ist allerdings das arme Volk. 12. Hoffnung auf Sieg über die häretischen Griechen. 14. Der Kampf der Italiener solle sich gegen die Ungläubigen richten. 15. Den echten Sieg gewinne man durch gute Gesinnung. 17. Äussere Feinde zu haben, sei nützlich. Zu vermeiden seien innere Spannungen. 19. Beispiele für den Niedergang von Städten infolge moralischer Schwächen und Parteiungen in den eigenen Mauern. 22. Schilderung Genuas in seiner Glanzzeit. 27. Erinnerung an seinen Niedergang. 29. Rettung der Stadt durch die Wahl eines Dogen. Avignon, am 1. November (1352).

1. Gestatte mir, bitte, hochansehnlichster Doge, und Ihr, strahlende Leuchten des Rates, erlaubt, zu Euch vertraulich zu sprechen. Dabei fürchte ich ja nicht, es könnte so aussehen, als schickte ich dieses Schriftstück zu früh ab, wurde es doch in reiflicher Überlegung eine Zeitlang zurückgehalten. Bisher nämlich, so sage ich, wartete ich angstvoll den Ausgang ab, den das Schicksal so aufwendigen Kriegsrüstungen verleihen werde; denn während es unmenschlich gewesen wäre, die von Zorn und Hass entbrannten Herzen mit Worten anzufeuern, hielt ich auch für verfehlt, zum Zeitpunkt, wo die Krieger schon bewaffnet und in Schlachtordnung standen, sie zu warnen und von den Waffen wegziehen zu wollen. 2. Wusste ich doch, dass ein Behelmter den Kampf zu spät bedauert. Zudem glaubte ich, meiner Pflicht schon genügt zu haben. Denn noch vor Beginn dieses Krieges, durch welchen der Osten und der Westen gleichzeitig erschüttert wurden, und noch vor der Ausfahrt der beiden Flotten aus ihren Häfen, wandte ich mich an den ruhmreichen Dogen der Veneter, der mir besonders gut bekannt ist und damals benachbart war,2 um mit inständigen Bitten und beinah unter Tränen dafür einzutreten, dass er die auflodernden Flammen des Hasses ersticke. Den Vorwurf aber der Einmischung in fremde Angelegenheiten fürchtete ich dabei nicht, da keinem Menschen schlecht ansteht, wenn ihn menschliches Leid, und auch keinem Italer, wenn ihn italisches so betroffen macht, dass er nach seinen Kräften dagegen ankämpfen möchte. Und in dieser Hinsicht stehe ich, ausser ich täusche mich, an Eifer niemandem nach. 3. Nun endlich, da die Streitsache sich schon dem Ende zuneigt und mit beträchtlich viel Blut – wie ich meine – die Aufwallungen des Hasses gedämpft sind, denke ich, nicht zur Unzeit zu handeln, wenn ich gleichsam zum Rückzug blase.3 Das könnte ich allerdings nicht so vertrauensvoll tun, wäre mir der Charakter meiner Briefempfänger nicht bekannt. Kein anderes Volk ist im Kampf ungestümer und keines im Sieg menschenfreundlicher und milder. Gesiegt habt Ihr,

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kommt nun zur Ruhe! Niemand soll denken, Ihr hättet Eure gute Gesittung vergessen. 4. Nicht allein erlauchte Männer und Völker, sondern auch das edle Wild hat Genügen am Sieg; nur den Unedlen schafft es Lust, noch länger zu wüten; nur bei ihnen wird der Blutdurst nicht durch den Sieg gelöscht. Möchtet jedoch Ihr, da Eure Herzen im höchsten Masse menschlich sind, Eure siegreichen Hände vom Blut nun zurückziehen! Mag ein Kriegsunternehmen jene als Opfer gefordert haben, die im Gemetzel fielen, und mag das von kriegerischer Tüchtigkeit zeugen: Dennoch verträgt sich mit Eurer Milde nicht, Überlebende mit Waffen zu verfolgen. 5. Dabei fällt es ja keineswegs leicht, unter dem Haufen schwirrender Geschosse in reiflicher Prüfung Einzelnes abzuwägen, wen man etwa mit tropfendem Schwert verwunde oder wovon man die Hände zurückhalte;4 denn alles vermengt die hitzige Raserei der Kämpfenden. Hat sich diese jedoch gelegt und ist die Seelenruhe zurückgekehrt, stellt sich auch die verbannte Unbefangenheit des Urteils wieder ein, worauf man gleich die Streitlust zügeln und in einer offen bezeigten Menschlichkeit sich des Sieges würdig erweisen muss. Nicht leicht wird das einer leisten, dem der Siegesrausch etwas Neues und Ungewohntes ist, denn von einem übermässigen Freudentaumel lassen sich unbesonnene Wesen rasch hinreissen, und den Zügel der Vernunft schüttelt eine überraschende Freude ab. Euch jedoch ist das Siegen schon zur Gewohnheit geworden. So gross die Zahl genuesischer Kriege rings auf Erden, so gross auch die Zahl genuesischer Siege! Die Meere fast aller Völker habt Ihr mit Euren Triumphen und Siegen verherrlicht,5 so das Tyrrhenische, Adriatische, Euxenische,6 Ionische, Afrikanische und Ägäische. Eure Flaggen fürchtet auch der Ozean, und glücklich schätzt sich der Indus,7 da ja unmöglich sei, ihn mit Schiffen zu erreichen. Nur dies Eine fehlte bisher: Noch hatten wir den Bosporus nicht vom Blut Eurer Feinde schäumen sehen. Doch jetzt haben wir ihn so gesehen!8 7. Welcher Unterschied bestand nun zwischen uns, die wir davon lesen und eben den Kriegern? Nur dieser, dass sie in ihrem grossen Mut unter dem Kämpfen die Gefahr ohne Schrecken ertrugen und uns andere unter dem Lesen der Schrecken umfing selbst ohne Gefahr. 8. Wessen Herz hätte nicht ein Entsetzen befallen, ob er nun las oder hörte, was in jener grauenhaften Nacht geschah, als gegen Abend bei heftig brausendem Südwind zwischen Konstantinopel und Chalkedon drei der tüchtigsten Völker einen Angriff gegen Euch wagten? Vom Süden her – denn bei Gallipoli9 hatten sie die Anker gelichtet – kamen sie, beschleunigt vom Wind, mit geblähten Segeln geflogen, während Ihr Euch der Feinde, des Windes und des Meeres erwehrtet! Ein so verbissener Kampf entstand, dass weder das gewaltige Unwetter, noch die folgende Finsternis ihm Einhalt geboten. 9. Was war das für ein Sturmwind, was für ein Knarren der Taue, Schallen der Trompeten, Schreien und Stöhnen der Kämpfenden, was für ein Aufprall der Schiffe und Klang der Schwerter und Pfeifen der im Finstern sausenden Geschosse? Die ganze Nacht hindurch

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währte die Schlacht, weshalb das folgenden Verspaar in allen Stücken auf sie zutrifft:10 „Wer aber schildert die Nacht, das Gemetzel, den Tod und die Leichen; Wer ihre Not und zollt dem Verlust die gebührenden Tränen?“ 10. Schliesslich hielt man den Kampf bis zur nächsten Taghelle ununterbrochen aufrecht, und zwar – was die Nachwelt erst völlig erstaunen wird – durch die Länge gar einer Winternacht, wonach der folgende Tag der Fortsetzung des Streites diente. Wer hätte je Ähnliches vernommen, wer je Ähnliches gesehen oder gelesen? Einen grossen Teil des einen und einen grossen Teil des nächsten Tages und die Nacht dazwischen dauerte das Ringen mit den Wogen, dem Wind und den Feinden! Da widerstanden Euch drei Heere aus verschiedenen Weltteilen, da waren drei Nationen aus weit von einander entfernten Ländern in ein einziges verschlungen, und da war mitten unter ihnen allein auf sich gestellt die Tapferkeit der Genuesen! Der Genuesen alleiniges Schicksal! 11. Und über die ausländischen Feinde trauere ich nicht. Was mischen sie ihre Geschosse in Gefechte der Italer? Ein käufliches Geschlecht, vertragsbrüchig und anmassend ist das! In einen langen und unseligen Krieg hat sie der Mammon verlockt, so dass sie den mit Euch feierlich geschlossenen Frieden vergassen.11 Freilich, das räume ich ein, gebührt dem schwer betroffenen und armen Völklein12 Mitleid, wenn auch Zorn seinen Führern,13 die mit schändlichem, menschenunwürdigem Handel das Blut ihrer Nation gegen kleine Summen verkauften. 12. Und über die betrügerischen und feigen Griechlein, die nicht bereit sind, etwas Tüchtiges selber zu wagen, trauere ich schon gar nicht. Nein, ich freue mich ihretwegen sehr; und dass ihr unrühmliches Imperium und der Sitz ihrer Häresien14 durch Eure Hände zerstört werde, das wünsche ich, sofern Euch Christus etwa zu Rächern ihrer Frevel erwählt und Euch eben die Vergeltung auferlegt hat, die vom ganzen rechtgläubigen Volk übel verzögert wird. 13. Am Leid unserer Italer hingegen nehme ich von Herzen Anteil. Hätten jene nur meinen treuen Ermahnungen rechtzeitig geglaubt!15 Oh wolltet Ihr beide – was ich offen kaum auszudrücken wage – dank einer Eingebung des Himmels endlich überdenken, dass Ihr gleicherweise Italer seid, Freunde wart und sein könnt! Oh wolltet Ihr doch nicht wegen schwerer Beleidigungen, vielmehr – wie ja seit je den nach höchstem Rang ausgreifenden Mächtigen eigen war und ist – um Ruhm und besondere Tüchtigkeit16 einen Wettstreit unternehmen! 14. Und wolltet Ihr Euch doch rasch ermannen, um von diesem italischen und inneren Krieg zu einem äusseren überzugehen und um gemeinsam die rächenden Waffen gegen treulose Aufrührer zu richten! Und hättet Ihr sie mit Schwert und Schlinge und Ertränken umgebracht – was in einem einzigen Augenblick geschehen könnte –, oh wolltet Ihr dann auch unverzüglich ein frommes Unternehmen zur Befreiung des Heiligen

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Landes wagen, um in der segensreichen Nachfolge Jesu Christi ein Schauspiel zu bieten, das in der ganzen Welt und bei den späteren Geschlechtern unendliches Wohlgefallen fände! Doch ich nehme den Faden wieder auf. 15. Ihr habt gesiegt, tapfere Helden! Beweist nun allen Sterblichen, dass Ihr mit Italern nicht aus Hass und Begehrlichkeit, sondern für den Frieden gekämpft habt. Zwingt Eure Feinde, wenigstens schweigend zu bekennen, sie seien von Euch weniger durch Eure Waffen als durch Eure Sitten besiegt worden. Wer sich fürchtet vor Eurer Gewalt, möge Eure Tugend verehren und lieben. Richtigerweise wird als Überlegener bezeichnet, wer seinen Gegner dank höherer Gesinnung, nicht dank dem Schwert übertrifft. Ein wahrer Sieger ist, wer sein Verlangen besiegt und sich durch Vernunft besiegen lässt, Erregung meistert, Siegergebaren mildert und seinen Zorn bezwingt. Eines häufigen Sieges ist würdig, wer im Siegen sich adelt. Den höchsten Kriegsruhm besitzt, wer im Unglück nicht ermattet, im Glück sich nicht aufbläht. 16. Im einen Geschick habt Ihr Euch unter den Beschwerden des Krieges soeben bewährt; im andern sollt Ihr Euch jetzt nach errungenem Sieg erst noch auszeichnen, damit die Welt erkenne, wie Ihr in jeder Lage der selben Gesinnung seid und damit die Zierde der Unerschütterlichkeit und Ausdauer sich Euren Vorzügen zugeselle. Nichts von dem, was zur Vollendung der Glorie erwünscht ist, sollt Ihr im Frieden und Krieg entbehren. 17. Nun komme ich zu jener Sorge, die mich am meisten bedrückt und beunruhigt. Und würde Eure Bescheidenheit mich davon befreien, könnte in Eurem Staatswesen nichts mehr sein, was mich ängstigt. Es pflegt gleich wie die äussere Gesundheit eines mächtigen Körpers auch die Ruhezeit grosser Städte verborgene Schwächen im Überfluss zu haben und nach der Unterdrückung der augenscheinlichen Übel noch an den Eingeweiden im Innern zu leiden. Sobald eine Krankheit auftritt, lässt sich unverzüglich erkennen, dass es besser ist, sie bleibe aussen auf der Haut, als sie wandere in die Gegend des Herzens. 18. Wie für schwere Leiber anhaltende Übungen, so sind auch für mächtige Völker Kriege oftmals ein Heilmittel. Und wie übermässige Ruhe einen Leib belastet und krank macht, so schwächt eine allzu lange Ruhezeit ein Gemeinwesen. Im Leib erzeugt sie verschiedene Säfte und im Volk vielfache Spannungen, ungeordnete Regungen und Streitsucht. Eine massvolle Bewegung ist der guten Gesundheit förderlich, doch die sorglose Ruhe macht eine geschwächte Gesundheit für Krankheiten empfänglich. 19. Nie wäre die römische Tüchtigkeit erlahmt, hätte Karthago unbeschadet weiterbestanden. Dass jener Schrecken vom römischen Nacken wegfiel, ebnete fremden Lastern wie Bürgerkriegen den Weg; und damit wurde das Ende einer grossen Beschwerde zum Anfang einer grösseren. Und was soll den Athenern geschadet haben? Zweifellos ging die herrliche Stadt nicht vor allem infolge ihres andauernden Kampfes mit äusseren Feinden oder ihrer bei Syrakus zerstörten Flot-

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te,17 sondern wegen ihres unseligen Bürgers Alkibiades und wegen der ungestümen Raserei ihrer eigenen dreissig Tyrannen18 zugrunde. 20. Leichter schützt man sich vor äusseren Gefahren als vor den im Innern verborgenen, wie denn überhaupt bei jeder Krankheit das versteckte Übel am gefährlichsten ist. Deshalb, so bitte ich, richtet darauf die Schärfe Eures Weitblicks, durch den Ihr Euch glänzend hervortut. Das tut ohne Unterlass! Und dass wegen Eures Sieges die Kühnheit nicht leichtsinnig überborde, das verhütet mit grösster Umsicht! Das Beste ist, in Frieden zu leben, und wird das nicht geschenkt, ist weit eher der Streit mit einem äusseren Feind als der mit einem Mitbürger zu wünschen. 21. Ich habe keinen prophetischen Geist, und aus dem Lauf der Gestirne verspreche ich Euch keine Kenntnis der Zukunft; doch so weit sich mit Hilfe der voraussehenden Vernunft aus der Vergangenheit auf die Zukunft schliessen lässt, werden Euch Tüchtigkeit und Schicksal soviel zugestehen, dass Ihr in auswärtigen Kriegen unbesiegt bleibt. Keinen Feind ausser den inneren und kein Schwert ausser das Eures Bürgers habt Ihr zu fürchten. Rom war durch nichts zu besiegen ausser durch sich selbst,19 und eben das werdet auch Ihr erleben, wenn Ihr unterlasst, Euch rechte Bürgertugend und bescheidene Wesensart anzueignen. Doch wenn Ihr das tut, werdet Ihr immer erfolgreich und stets unbesiegbar bleiben. Eure Flotte wird, darf sie sich selbst vertrauen, furchterregend vor allen Küsten erscheinen. 22. Mit vielen Worten könnte ich zeigen, welche Städte, von Feinden unbesiegt, sich durch lauernde Zwietracht im Innern zerstörten. Doch bei so allbekannter Sache meine ich, wenige Beispiele, und von allen die berühmtesten, nämlich solche aus der Antike, können genügen. Aus unserer eigenen Zeit finde ich nirgends ein besseres Exempel als das Eure. Ruft Euch jene Zeit in Erinnerung, in der Ihr unter den Völkern Italiens das glücklichste gewesen seid! 23. Ein Kind war ich damals,20 und ich erinnere mich daran kaum anders als wie an ein Traumgesicht. Jene Bucht Eurer Küste, nach Sonnenaufgang und -untergang offen, schien nicht eine irdische, sondern eine himmlische Stätte zu sein, gleich jener, welche die Dichter mit den elysischen Feldern zusammen erwähnen:21 Hügelige Joche mit anmutigen Pfaden, darunter grünende Täler und in den Tälern selige Geister! 24. Wer hätte nicht von der Höhe herab die Türme und Paläste bewundert und die mit Kunst gebändigte Natur und die steilen Anhöhen, bekleidet mit Zeder, Rebe und Ölbaum? Und unter hohen Felsen Gebäude aus Marmor, schön wie die der Könige und für keine Stadt nicht begehrenswert? Wer hätte nicht überrascht jene heitersten Winkel betrachtet, wo zwischen den Klippen auf goldverzierten Balken Gewölbe standen, dröhnend im Wogen des Meeres und tropfend im Sturm. Mit ihrer Schönheit zogen sie das Auge der Seefahrer auf sich, und gebannt von ihrem unerhörten Anblick hielten die Schiffer ihre Ruder in der Schwebe. 25. Und wenn einer den Landweg nahm, packte ihn da nicht mächtige Verwunderung, wenn er an Männern und Frauen ein ehrfurchtgebietendes und

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mehr als menschliches Gehaben erkannte? Welcher Wanderer hätte nicht mitten auf seinen Wegen gestutzt, wenn er auf Waldplätzen und abgelegenen Landstücken Herrlichkeiten entdeckte, die er nicht einmal in Städten hatte vorfinden können? Und wenn er endlich die Stadt selber erreichte, die wahrhaft königliche, wie auch von Rom gesagt wird, da musste er glauben, den Tempel des Glücks und die Pforte der Freude überschritten zu haben. 26. Nicht viel früher, nach Eurem ersten in gewaltiger Schlacht errungenen Sieg über die Pisaner,22 habt Ihr sogleich ein Seegefecht mit den Venetern ausgestanden.23 Fragt Eure Alten – es sind da noch einige, die beide Schlachten erlebt haben –, welch eine Erregung in den Häfen, welch eine Ehrfurcht in der Menge, welch ein Getöse an den Küsten bei der Ankunft der siegreichen Flotte entstanden, dies zu einer Zeit, da ohne Eure Erlaubnis auf dem ganzen Meer kaum einer sich regte! 27. Wendet allmählich Gedanken und Erinnern jener anderen Epoche zu, in der die Gefährten des Erfolges, nämlich Luxus, Neid und Stolz, in die glückliche Stadt und die siegreiche Bevölkerung eindrangen und diese, was fremde Hände nie vermocht hätten, in so grosses Elend stiessen, dass die Stadt vernachlässigt und verwahrlost und schmutzig dastand und jene Zierde an den Ufern, weil von den prachtvollen Hallen jede in eine Spelunke von Räubern verwandelt war, den Vorüberziehenden Furcht und Schrecken einjagte. 28. Schliesslich wurde die Stadt von ihren Verbannten umstellt,24 welche mit Hilfe der Mailänder sie in einem lang andauernden verheerenden Krieg zermürbten. Damals war es, dass König Roberto von Sizilien seligen Angedenkens, das strahlendste Gestirn seiner Zeit, zu Hilfe herbeieilte25 und darauf fast ein volles Jahr eingeschlossen in ihren Mauern verbrachte, während täglich – was als Ungeheuerlichkeit zu berichten ist und niemals sonst vernommen wurde – gleichzeitig sowohl zu Wasser wie zu Land, ja auch in der Luft und unter der Erde gekämpft wurde. 29. Nachher gab es bei Euch während vieler Jahre nichts an Frieden und nichts an Sicherheit, obwohl Ihr doch nichts anderes als die siegreiche Macht Eurer eigenen Bürger und deren wohlbekannte Waffen zu fürchten hattet. Das dauerte solange, bis Ihr durch Schaden belehrt, in der Wahl eines einzigen gerechten Dogen Hilfe suchtet.26 Und diese Regierungsform ist gewiss für eine Republik die beste. Wirklich erschlafften damals zum ersten Mal die Spannungen; es erneuerte sich Euer Erfolg; und als die Nebel des Grams verscheucht waren, lebte auch die ersehnte Heiterkeit wieder auf. Es erstand mit dem Frieden zu Hause die ihm stets freundlich verbundene Gerechtigkeit, hierauf eine wohltuende Eintracht der Bürger, ein durchaus sicherer Aufschwung der Bürgergemeinden. Und keine anderen Siege gab es als einzig solche über äussere Feinde. 30. Angesichts dieser Umstände wird die kluge Vorsorge für die Zukunft wohl leicht ergriffen. Alt ist das Wort, vieles gerate eben darum schlecht, weil es bloss einmal geschehe und den einmal Irrenden kein Neubeginn zustehe. Ihr aber seid zur einen und gleichen Zeit zweimal glücklich. Was Euch kopfüber stürzte und was

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Euch einst des ersten Glückes beraubte, daran erinnert Ihr Euch; es ist ja nicht lange her, und durch die eigene Vergangenheit wie durch ein frisches Beispiel seid Ihr belehrt worden. Wo besonders viel Glück herrscht, ist um so mehr Wachsamkeit nötig. Sehr anfällig ist die menschliche Wohlfahrt; gefährdet ist sie und schlüpfrig. 31. Ihr habt erfahren, dass nichts als Eure eigenen Waffen und Eure innere Zwietracht Euch Schaden zufügten. Doch seht, von neuem beginnt Ihr zu leben! Beachtet Eure Schritte und hütet Euch, auf den alten Spuren ins frühere Unglück zu gleiten. Wenn Ihr Euch davor hütet, ist alles Übrige sicher. Siegreich werdet ihr aus allen Schlachten zurückkehren. Liebt Euch gegenseitig! Liebt die Gerechtigkeit, liebt den Frieden! Und wenn das Verlangen nach Kriegszügen anhält, geht in den Krieg mit Glück, – denn an Feinden wird es nie fehlen! Auf Bürgerkriege aber verzichtet! Avignon, am 1. November (1352).27

Anmerkungen 1 Da das Schreiben wohl aus dem Jahr 1352 stammt, ist anzunehmen, dass der Befehlshaber von Genua, an den Petrarca sich wendet, Giovanni Valente heisst. Dieser war 1350 auf Giovanni di Murta gefolgt. Doch da Petrarca den „Dux“ ohne Namen anspricht, mag das darauf hindeuten, dass er über die momentane Lage in den Bürgerkämpfen Genuas ungenügend orientiert war. Vgl. unten Anm. 24. Vom Jahr 1351 datiert ein Schreiben Petrarcas an den Dogen Andrea Dandolo von Venedig, das vom Krieg mit Genua abmahnt; vgl. Fam. 11,8, auch vorn die Notiz im Überblick. 2 Fam. 11,8,16. 3 Petrarca schreibt seinen Brief an Genua offenbar einige Monate nach der Schlacht auf dem Bosporus vom 13./14. Februar 1352; vgl. unten Anm. 8. 4 Damit erinnert Petrarca vielleicht an die unentschiedene Frage, welche Partei gesiegt habe. 5 Die folgenden Ausführungen sind nicht frei von Übertreibungen. Doch Genuas Grösse wurde 1261 begründet, als der byzantinische Kaiser Michael VIII. mit ihm einen Vertrag abschloss, um sich leichter der Venezianer zu erwehren. 1266 drang Genua ins Schwarze Meer ein. Es erhielt 1267 Quartier in Galata, einem Vorort Konstantinopels. 1284 gelang ihm der entscheidende Sieg über die Seemacht Pisa bei Meloria. 1294 ff. führte es mit wechselndem Glück Krieg gegen Venedig um die Meerengen. Es befestigte Galata. 1304 bemächtigte es sich der Insel Chios, verlor sie wieder und eroberte sie 1346 erneut. 1349 geriet es mit Byzanz in Streit wegen Zolleinnahmen in Galata, versuchte, die Kontrolle über den Handel im Schwarzen Meer zu erlangen und stellte nun für Byzanz eine grössere Bedrohung als Venedig dar. Weil Kaiser Kantakuzenos sich deshalb entschieden Venedig zuwandte und dessen militärische Hilfe suchte, machte sich Genua ab 1350 auf einen neuen Kampf auch gegen diese Macht bereit. 6 Gemeint ist das Schwarze Meer. 7 „… timet Oceanus, gaudetque Indus…“ Vielleicht hat Petrarca, da er vorangehend nur Meere aufzählte, auch unter Indus eher ein Meer als einen Fluss verstanden. Der Indus war schon in der Antike schiffbar; aber zu Petrarcas Zeit war das Indische Meer von Europa aus nicht mit Schiffen erreichbar. 8 Am 13. Februar 1352 fand die Schlacht auf dem Bosporus zwischen Genua einerseits und Venedig, Byzanz, Morea und Aragon anderseits statt. Die genuesische Flotte stand unter dem Kommando eines Paganino Doria; beide Parteien sprachen sich den Sieg zu; in den Heeren kämpfte viel ange-

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Fam. 14,5 heuertes Volk; vgl. oben Anm. 4. Angaben zu Paganino Doria findet man im Dizionario biografico degli Italiani (DBI) Bd. 43. Die Stadt liegt am Übergang vom Marmara-Meer zu den Dardanellen. Verg. Aen. 2,361–362. Zur Gefahr Genuas für Byzanz vgl. oben Anm. 5. Im Lateinischen: misero popello. Gemeint sind Anführer von Söldnerheeren. Der Westkirche galt die Ostkirche für häretisch seit dem 1054 besiegelten Schisma. Gemeint sind die Venezianer; vgl. Fam. 11,8. Im Lateinischen: de gloria et superioritate certamen. Petrarca denkt an eine geistige, sittliche Überlegenheit. Das führt er im Abschnitt 15 aus. Das war 413 v. Chr. unter Alkibiades. 405 anerkannte Athen die Vorherrschaft Spartas und führte eine Oligarchie von 30 Vornehmen ein. Eine oft geäusserte Überzeugung Petrarcas; vgl. z. B. Fam. 14,1,29. Wahrscheinlich befand sich Petrarca mit seinen Eltern nach der Vertreibung aus Florenz und einem Aufenthalt in Arezzo 1311 in Genua, als Heinrich VII. die Stadt besuchte. Viele Verbannte suchten damals den König auf, weil sie von ihm eine Befriedung erhofften. Wirklich konnten damals wenigstens die Ghibellinen Genuas in ihre Stadt zurückkehren. Vgl. Verg. Aen. 6,676–680 und Eutropius, Breviarium 2,13,3. So 1284; vgl. oben Anm. 5. 1298 siegte Genua über Venedig bei Curzola (Korkyra im Archipel). Einen „ewigen“ Frieden schlossen Genua und Venedig 1299. Mit 1299 ging Genuas Glanzzeit zu Ende. Genua zersetzte sich infolge von Familienfehden, besonders infolge des Streites zwischen der guelfischen und der ghibellinischen Partei. Marco Visconti unterstützte die vertriebenen Ghibellinen monatelang durch Belagerung der Stadt. Roberto von Neapel verteidigte die vorwiegend guelfisch gewordene Stadt 1318 als Inhaber der Signorie. Simone Boccanegra, ein Popolane und Ghibelline, war am 23. September 1339 als „erster Doge“ auf Lebenszeit gewählt worden. Er dankte infolge starker Befehdung durch Adelskreise 1344 ab, wurde jedoch nach seiner Rückkehr aus seinem Exil 1356 erneut als Doge akklamiert, starb 1363 wohl durch Vergiftung. Zu seiner Person vgl. DBI Bd. 11,37 ff. Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 141. 177.

Fam. 14,6, an die Genuesen1 Aufmunterung zum Krieg gegen auswärtige Feinde. 1. Die Genuesen verlegen ihren Kriegsschauplatz von Osten nach Westen. 2. Ihr Gegner ist meineidig. 4. Entgegen seiner Gewohnheit ermuntert Petrarca zum Kampf. 7. Aus Goldgier hat sich der Gegner mit den Venezianern verbunden. 8. Kriege mit äusseren Feinden helfen den Genuesen, inneren Streit zu überwinden. (Februar oder kurz nachher 1353)

1. Was ich wünschte, habe ich vor Augen: Vom Osten wendet Ihr Eure Siegeszeichen zum Westen zurück.2 Hier legt Euch ins Zeug! Dies, tapfere Männer, erbitte ich von Euch! Das tut! Das ist frommer, das gerechter, das heiliger, das ist nicht im mindesten italischer Krieg. Hier Kriegskunst und Tapferkeit zu üben, hier Eurem Ungestüm zu gehorchen, das rate ich! Hier habt Ihr die uranfängliche Wurzel aller Übel mit Euren Äxten auszurotten! 2. Eben hier steht der meineidige König!3 Ihm, der einst nach gerechten Kriegsgründen jagte, als er Euch den Krieg ansagte, habt Ihr geantwortet (ich weiss nicht, ob mehr zornig oder mehr wahr), dass seine Gründe hohle Worte seien und dass der wahre Grund für seine Wut in seiner Habgier liege; er verkaufe zu geringem Preis seine Ehre und das Blut der Seinen, und was er jetzt beginne, werde er über kurzem in einer allzu späten Reue verdammen. 3. Seht da, die angedrohte Zeit ist gekommen. Auf dem Tyrrhenischen und Afrikanischen Meer wird eingebracht, was auf dem Hellespont nicht zu haben war. Das westliche Meer raucht vom Gemetzel und gleisst in seinen Feuerbränden. Und seid Ihr einmal an Land gegangen, dann verwüstet mit Flammen und Schwert die Hütten der bedürftigen Räuber! Fahrt fort, ich bitte Euch und lasst nicht davon! „Verfolgt Eure Feinde und fangt sie ein und wendet Euch nicht ab, bevor sie erlahmen,“ wie der Psalmist4 sagt, „zerbrecht sie; stehen können sie nicht; zu Euren Füssen werden sie hinfallen.“ Die vor kurzem in einem fernen Kampf hingestreckt wurden, überwältige man jetzt auf ihrem eigenen Boden. Erkennt die Macht des Euch günstigen Schicksals! 4. Ich pflegte zu mahnen: „Zügelt die Kühnheit, bändigt den Zorn, mildert die Siegeslust!“ Die Lage hat sich geändert; ich ändere meine Rede und rufe: „Hetzt die Erschreckten, holt die Flüchtenden ein, versagt den Erschöpften ein Atemholen, bringt diesen Kampf zur letzten Vollendung! Weicht nicht zurück vor dem Königstitel!5 Was nach aussen glänzt, ist im Inneren oft lichtlos. Besser als ein Königreich ist die Züchtigung königlichen Hochmuts. Keinen König habt Ihr, doch königlichen Mut. Klein war Rom zur Zeit der Könige; kaum der Könige ledig, war es gewaltig. Und die Stadt, die ein einziger König geknechtet hatte, begann ohne Könige zu herrschen. 5. Fallt auch Ihr über diesen König her! Weder geben noch nehmen die Zepter die Tüchtigkeit. König ist er, doch Mensch, doch sterblich und

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Fam. 14,6

Euch ein vielfacher Schuldner; dem gerechten Richter wird er die gehörige Busse entrichten. Schliesslich bleibt er – was wir immer von ihm denken – bloss Einer! Und wie viele gibt es in Eurem Volk, die weit tüchtiger sind? Und wie viele sind es, die von Heldentaten herrlicher strahlen und auf ihrem Scheitel ein Diadem von schönerem Lichtglanz tragen? 6. Geht also furchtlos voran! Mit einem blossen Titel führt Ihr Krieg. Ihr habt lebendige Leiber überwunden,6 wie solltet Ihr vor Schatten erschrecken? Geht mit Glück! Ihr zieht nicht in den Krieg, Ihr zieht zur Beute des Krieges! Geht in Eile, so lang die Gelegenheit währt. Weiss man gegen Bürger einen Sieg zu nutzen, ist es Grausamkeit; weiss man ihn gegen Feinde nicht zu nutzen, ist es Unverstand. 7. Da ist also der anmassende König, der Verächter der Verträge und Versprechen! Da ist auch das Volk, das den Frieden nicht erträgt; da auch die verruchte und grausame Flotte! Sie sind Euch und allen Menschen feind. Rächt Euch und rächt die Republik, und zwingt diese Barbaren zur Einsicht, dass es Wahnsinn war, gegen Gerechtigkeit und bewaffnete Männer einen ehrlosen, rechtlosen Krieg anzufangen, bestrickt vom Gold der Veneter, blind gierend nach fremden Schätzen und der eigenen Lage vergessend.7 In aller Öffentlichkeit mögen sie den tollen, überstürzten Beschluss einer Minderheit bereuen und ihre unseligen Geschosse, die sie gegen Euch erprobten, auf ihre Verräter wenden. Ewig sollen sie sich fürchten, und nicht bloss vor Euren Waffen, nein auch vor Eurem Namen. 8. Ich spreche ganz gegen meine Gewohnheit. Auf Entflammte schütte ich Feuer, und Laufenden gebe ich die Sporen. Was ich rate, habt Ihr längst begonnen; und schon winkt dem schönen Beginnen Fortuna. Folgt ihrem Rufen mit unerschöpflicher Manneskraft. Obwohl sonst ein Lobredner des Friedens, erkläre ich jetzt voll Zuversicht: Förderlich ist Euch, dass solche und ähnliche Kriege nicht sterben. Der Rost des bürgerlichen Lebens wird im Ringen mit fremden Feinden abgewetzt. Eure Absichten kenne ich nicht; doch mich entrüstet das Euch angetane Unrecht. Daher wollte ich verderben, könntet Ihr in diesem Schreiben den leisesten Gedanken an Frieden entdecken. Einen unblutigen Sieg wünsche ich Euch über den meineidigen Gegner! (Februar oder kurz nachher, 1353)8

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 14,5 an den Dogen und den Rat von Genua, aber auch Fam. 17,3–5 zu den Niederlagen der Genuesen im Jahr 1353. 2 Im vorangehenden Brief war von Kämpfen im östlichen Mittelmeer, vorwiegend in byzantinischen Gewässern die Rede; jetzt gedenkt Petrarca eines Krieges der Genuesen gegen Pedro IV. von Aragon um Sardinien. Die Genuesen, die Sardinien in langen Jahren bis 1336 erobert und nachher an Ara-

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gon verloren hatten, verbanden sich im Februar/März 1353 mit Aufständischen auf der Insel, um sich dort alte Recht zurückzuerobern. Vgl. die vorangehende Anm. 2. Ps. 17, 38–39. Pedro IV. hiess der „Feierliche“; er galt als skrupellos und verschlagen, war dabei erfolgreich in seinen Unternehmungen zur Expansion, während welcher er unter anderem Sardinien an sich brachte. Dies ein Hinweis auf frühere sehr blutige Kämpfe mit tüchtigen Gegnern wie den Venezianern. Aragon hatte sich mit Venedig 1351 verbunden, nicht zuletzt wegen seiner Kämpfe mit Genua um Sardinien. Das Datum berücksichtigt das Bündnis Genuas mit sardinischen Aufständischen; vgl. Anm 2. Von der Seeschlacht bei Alghero sprechen Fam. 17,3–5.

Fam. 14,7, an Guy de Boulogne, Kardinal-Bischof von Porto1 Vergebliches Warten auf die Rückkehr des Kardinals. 1. Eine erteilte Erlaubnis zur Abreise hat der Kardinal zurückgenommen; er will für den Dichter etwas Bedeutendes erwirken. 4. Petrarca wartet vergeblich auf den Kardinal. 7. Dann macht er sich in Vaucluse zur Italienreise bereit. Er bittet den Kardinal, das für ihn Bestimmte seinen Freunden zukommen zu lassen. An der Quelle der Sorgue, am 8. November (1352).

1. Die Erlaubnis zur Abreise, mir bei Deinem Abschied mündlich zugesagt, hast Du auf Deiner Reise in einem mir zugesandten Schreiben zurückgenommen.2 Wie es Deiner wunderbaren Güte entspricht, „bittest“ Du darin und „rätst“; ich jedoch nehme, wie es meiner dienstbereiten Niedrigkeit ziemt, Deine Bitten und Deinen Rat als Befehle an. Du also bittest, so sage ich, und rätst, mich nicht vom Ort zu entfernen, bis Du entweder zurückkämest oder mir von einer bedeutenden Sache geschrieben hättest, die, wie Du sagst, meine Lage betreffe. Diese nach allen Kräften zu fördern, bietest Du Dich in Deiner bewundernswerten Menschlichkeit und Grosszügigkeit an. 2. Wer würde da meine Freude fassen und meine Verehrung ermessen? So Gutes von so Grossem für den so Geringen! Und was das Löbliche verdoppelt: Ich habe durchaus nichts veranlasst oder auch bloss geahnt, wobei ich allerdings von Dir niemals anderes als Gütiges und Herrliches erwartete. Ohne unser Zeitalter beleidigen zu wollen, möchte ich sagen, das entspreche nicht moderner Gewohnheit! 3. Und eben deswegen sehe ich mich erst recht gezwungen, Deinen Charakter zu bewundern und mein Geschick zu preisen. Ob anwesend oder abwesend, vergisst Du die Deinen niemals und hörst nie auf, ihnen Erleichterungen und Ehrungen zu verschaffen. Habe ich einer der Deinen zu sein verdient, bin ich glücklich; denn niemand kann das ohne Hilfe der Tüchtigkeit verdienen. Ist es mir aber ganz ohne Verdienst zugefallen, sehe ich mich, wie man sagt, durch ein mir günstiges und freundliches Gestirn bevorzugt. 4. In meinem Verlangen, Dir zu gehorchen, habe ich indessen nicht bloss einen Monat, wie Du ihn für Deine Abwesenheit bestimmt hast, nein ganze zwei vergeblich gewartet und meine Abreise in der Schwebe gehalten, nichts anderes mehr erhoffend und begehrend, als Dich noch einmal zu sehen, den ich immerfort sehe.3 Doch indem ich meine verlangenden Augen und Dein gestirntes Angesicht bedenke, muss ich wohl vermuten, dass ich nach meiner Abreise Dir nicht bald wieder begegne. Gerne habe ich deshalb versucht, einem aufsteigenden Verlangen vorzubeugen. 5. Was aber nun? Jener grösste der Könige,4 Dir in Liebe und auch durch Blut verbunden, sowie Dein Paris und die sanft strömende Seine halten Dich, der sein Versprechen vergass, längere Zeit zurück, als Du zum voraus geplant hast. Mich

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dagegen vermochten das schreckliche Avignon und die aufbrausende Rhone nur mit Mühe bis jetzt zu halten. Endlich erschöpft und der kurialen Geschäfte überdrüssig und länger zu warten unfähig, habe ich eben heute Reissaus genommen, doch nicht um weit weg zu gehen. Denn ich werde, so lang als möglich, hier an der Quelle der Sorgue noch warten, ob vielleicht ein angenehmes Gerücht von Deiner Rückkehr hierher dringe. 6. Doch wenn Du weiterhin wegbleibst, werde ich von hier heimlich und wortlos verreisen, meine Freunde hintergehend. Sie wollten ja, wenn sie nur könnten, trotz meinem Widerstreben und trotz ungünstiger Lage, mich auf ewige Zeiten zum Bleiben zwingen, wobei sie ohne Rücksicht auf mich einzig ihre eigenen Wünsche verfolgen. Dabei hat doch eben meine Freundesliebe5 zu ihnen mich dazu angespornt, vieles zu ertragen, wozu mein Ehrgeiz mich niemals gedrängt hätte; ja sie hat Hand an mich gelegt und meinen erschöpften Leib lange an diesen Ort gebunden, wo meine Seele nicht war. 7. Schliesslich kam noch, wie gesagt, Dein gewichtiger Befehl hinzu und legte meinem schon ausgestrecken Fuss seine Fesseln an. Und wenn jede Mühe und jede Schwierigkeit im Mass, als sie dem Ende näher rückt, desto schwerer fällt, so wirst Du begreifen, dass diese Verzögerung von zwei Monaten in eben dieser Gegend mir länger als ein ganzjähriger Aufenthalt vorkam. Im Hinblick auf dieses mein Verdienst bitte ich, weil andere fehlen, um eine letzte Gunst, nämlich meine künftige Abwesenheit so zu beurteilen, dass es meinen Freunden nicht schade. Wenn Du für mich etwas Bedeutendes unternommen hast – und etwas Geringes entspricht nicht Deiner Gewohnheit –, würdest Du mir die grösste Freude bereiten, wenn das für mich Bestimmte an jene gelangte. Sie könnten dann, solange Du hier bist, mein Wegsein verschmerzen. 8. Mir als einem Einzelnen kann für den sehr kurzen Weg meines restlichen Lebens eine Wegzehrung genügen,6 ja mehr als genügen, ja übergenug sein. Nichts weiter begehre ich. Du aber, mildester Vater, ich beschwöre Dich, verzeih, dass ich, so gerne und freudig ich Dir gehorchte, wann immer es möglich war, jetzt endlich traurig und ungern der Notwendigkeit willfahre. Ihr beugen sich ja auch Fürsten und Könige! Lebe wohl, Du Ruhm der Kirche. An der Quelle der Sorgue, am 8. November (1352).7

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Vgl. Fam. 13,1 und das Personenreg. Vgl. Fam. 13,7,18 ff. Ein von Petrarca häufig geäusserter Hinweis auf das Sehen mit einem geistigen Auge. König Jean le Bon, 1350–1364. Hier wie häufig das lateinisch Wort caritas für Freundesliebe. Zur Wegzehrung für das Lebensende vgl. z. B. Fam. 13,5,7; 14,4,17.

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7 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 133–137.175 und Petr. corresp. 72. Der Gelehrte rechnet mit einer einmaligen Rückkehr nach Vaucluse; doch ist Petrarca offenbar später, nachdem er einen ersten vergeblichen Versuch zur Abreise gemacht hatte, ein zweites Mal nach Vaucluse zurückgegangen (vgl. Fam. 15,2. 15,3 und 15,11 mit Anmerkungen).

Fam. 14,8, an Ponzio Sansone, Vorsteher von Cavaillon1 Bitte um Entschuldigung wegen einer grusslosen Abreise. 1. Petrarca hat zum voraus mit der Nachsicht des Vorstehers gerechnet; er ist stark beschäftigt. 3. Er stellt aber den Wert seiner eigenen Studien in Frage. 5. Jetzt teilt er seine bevorstehende Italienreise mit. An der Quelle der Sorgue, am 18. November (1352).

1. Es verzeihe mir, bitte, Deine gütige Menschlichkeit, Du Bester, dass ich grusslos davonging; das hätten mir die Schuld einer alten Zuneigung und die eines neuen Versprechens eigentlich verboten.2 Nichts aber gibt es, was sich ein Herz, das sich sehr geliebt weiss, nicht herausnähme, und deshalb habe ich auf Dein Verständnis gehofft, so gebe ich zu, und mir gesagt: „Er kennt meine Gewohnheiten, meine Geschäfte und mein Herz; Verzeihung wird er mir in Anbetracht meiner Arbeitslast nicht versagen.“ 2. Da Du mich in letzter Zeit wegen einer neuen und ungewohnten Art von Beschäftigungen3 als den stets meist beschäftigten Mann kennst, bin ich in diesen Tagen, wenn über dem Superlativ noch ein höherer Grad besteht, sogar noch geschäftiger als ich selber. Deshalb wundere ich mich, ärgere ich mich und frage bei mir selber: „Wozu sollen die Sterblichen in einem so kurzen Lebenslauf sich um so vieles bekümmern? Was will ihre so ängstliche Betriebsamkeit?“ Dennoch schmeichle ich mir nicht selten, indem ich mir einrede, meine Beschäftigungen stammten nicht vom Haufen der alltäglichen und vulgären Art, sondern aus einer recht edlen Quelle. Und ich würde meine Arbeit mit diesem Trost auch beschönigen, wenn ich nicht genau wüsste, dass wir, solange wir leben, uns gern im Urteil über eigene Leistungen täuschen. 3. Höchst wahrscheinlich ist also, dass während ich über viele Leute und ihre Anstrengungen lache, auch selber von vielen verlacht werde. Die Meinung der Menge habe ich freilich stets verhöhnt und von ihr verhöhnt zu werden, nicht bloss für nichts erachtet, sondern auch als beträchtlichen Teil meiner Glorie angesehen. Stärker beeindruckt mich etwas anderes, dass nämlich ich meine Studien und Nachtwachen öfters kaum selber billigen kann, und mir dann vorkommt, es wäre klüger, nur jenes Eine zu tun, was ich schon lange im Sinn habe, da ich seinetwegen in dieses kurze und elende Leben gekommen bin, somit alles das fahren zu lassen, wofür ich Mühe verschwende, ja auch Zeit, obwohl ich doch an beträchtlichem Zeitmangel leide. 4. Doch nach dieser Überlegung tritt oft eine gegenteilige auf: Es seien meine Studien jenem genannten Vorsatz gar nicht abträglich, sondern womöglich gar förderlich. Verhält es sich so, ist es einzig der Mangel an Zeit, der den Zweifel und Zögernden aufwühlt, woraus sich ergibt, dass ich unter der Anstrengung, mich frei zu machen, um so angespannter und beschäftigter werde.4 Indessen wird unter solchem Hin- und Herraten der schwankenden Einsicht die Wahrheit ihre Rolle wohl aufrechterhalten! Ich kehre zu meiner begonnenen Entschuldigung zurück.

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5. Es haben mich also gewisse nicht geringe Geschäfte, wie ich meine, nach Hause gerufen. Klar war mir soviel, dass ich, einmal bei Dir angekommen, mich nur langsam von Dir losreissen würde, während doch die Pflichten Eile verlangten. Es floh der rasche und kurze Tag, es drängte die bevorstehende Nacht und erreichte mich noch auf dem Weg, obwohl ich auf einem keuchenden Pferde ritt. Darum verzeih mir, bitte! Du sollst nicht neuen Stoff zum Klagen erhalten. Nimm zur Kenntnis, dass ich beabsichtige, in diesen nächsten Tagen nach Italien zu reisen, um im Winter auszuführen – Vorhaben trügen ja oft –, was ich schon im Herbst zu tun beschlossen hatte. Selbst wenn ich nach Indien ginge, würde ich doch immer und überall bei Dir sein. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 18. November (1352).5

Anmerkungen 1 Ein zweiter Brief Petrarcas an diesen Adressaten ist Fam. 15,10. Der Geistliche wird auch in der Vita solitaria 2,10,1 erwähnt. Vgl. Wikins, Studies 93 f. 2 Anzunehmen ist, dass Petrarca in Cavaillon seinen Bischof Philippe besucht hatte und es dann entgegen seinem Brauch unterliess, auch noch Sansone, den Vorsteher in der gleichen Stadt, aufzusuchen. 3 Lateinisch: insueto nunc occupationum genere; Petrarca spricht immer wieder von der drückenden Last seiner Beschäftigungen; und doch erkennt man keinen klaren Grund, um von eigentlichen „Verpflichtungen“ zu sprechen. 4 Lateinisch: Inter hec dubium atque hesitantem sola temporis turbat inopia; ita ego unde me expedire molior, interdum intentior et occupatior fio. 5 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 123. 143 f. und Petr. corresp. 72.

Fam. 15,1, an seinen Lelio1 Aufmunterung, die Regierung der römischen Republik kraftvoll zu leiten. 1. Petrarca entschuldigt sein langes Schweigen. 3. Er arbeitet bei zunehmendem Alter mit vermehrtem Eifer. 6. Von der Tätigkeit des Freundes in Rom hat er vernommen. Er ist im Gegensatz zu vielen überzeugt, dass dem Freund daraus grosse Verdienste erwachsen. 9. Dieser darf jedoch nicht vergessen, was ein erfahrener Greis über die Kirche geäussert hat. (Vor dem 8. November 1352)

1. Wohl hat die alte, vielmehr die stets neue Liebe, unfähig, unter uns je zu vergreisen – da sie uns von früher Jugend auf mit unlösbaren Knoten verknüpft hält –, mich in diesen Zeiten oftmals ermahnt, Dir zu schreiben und damit zur unterbrochenen Gewohnheit zurückzukehren. Doch ich habe darauf verzichtet, weil mir entweder das Geflecht meiner Plagen oder Dein Schweigen hinderlich war. Denn wer ausser höchstens ein Dummkopf unterhält sich gern mit einem Tauben? 2. Leute gibt’s, die es nicht verdriesst, Worte zu vergeuden, und diese mögen jenen Ausspruch Ovids2 heranziehen: „Worte verlieren ist leicht“, doch wer immer die Zeit in ihrer Kürze und Eile betrachtet, erkennt, wie sparsam, wie nüchtern sie verteilt werden muss und wie man sie nicht bloss vor überflüssigen Taten, sondern auch vor eben solchen Reden zu bewahren hat. 3. Ein Familienvater scheut angesichts der sich nähernden Armut vor unnötigen Ausgaben zurück. Und merkt ein Wanderer, dass der Tag sich neigt, verdoppelt er seine Schritte. Ein Landmann treibt sogar erschöpfte Ochsen voran, wenn eine schwere Wolke über ihm Regen ankündigt, und pflügt dann die Erde entschlossener als sonst. Legt sich der Wind, so sammelt der Schiffer die erschlaffenden Lüfte eifrig in den verengten Bausch seines Segels ein; und gehen Freunde auseinander, beeilen sie sich bis zum letzten Augenblick, um in unablässiger Rede sich noch vieles zu erzählen, und dulden dabei nicht den mindesten Zeitverlust. Fast in jeder Lage erkennst Du Ähnliches. 4. Wir lieben unser Hab und Gut eben dann, wenn es beschleunigt zu Ende geht, und dass alle Alternden das selbe erfahren, sofern sie nicht vor Schwäche schon dement sind, das weisst Du. Sie lieben ihre Zeit, und haben sie deren Erstlingsblüten achtlos ausgestreut, suchen sie doch die restlichen sorgfältig zusammen. Auch mir ist die Zeit jetzt teurer als früher, und sie scheint mir je schneller desto unersetzlicher zu sein. Ich sehe ihre Flucht ohne Rückkehr; ich erkenne ihre Betrügereien, und ihren Schmeicheleien misstraue ich sehr. Ich spüre, wie ich von Stunde zu Stunde näher an ihr Ende gelange, und raffe mich auf, um ihren Rest zu einem besseren Nutzen zu verwenden. Und dass es einmal gelinge, sei’s auch unter grosser Bemühung, daran verzweifle ich nicht. Nur wollte ich, es wäre mir schon in der

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Jugend eingefallen! Dann könnte ich wohl nach erfüllten Pflichten des Lebens jetzt die sichere Ruhe geniessen, was unter allem das Schönste ist.3 5. Doch um zur Sache zu kommen: Geschrieben habe ich Dir sehr oft, und immer – es mag das Deine Beschäftigung oder Deine Trägheit verschulden, denn in einer Freundesbrust wie der Deinen kann ich keinen Hochmut befürchten4 –, immer, sage ich, erfuhr ich, dass Du im Antworten schwerfällig und schwierig bist. Derweil verdiente ich oft – um nach meinem guten Recht vor Dir, als wär’s vor mir selber, zu prahlen –, Briefe und andere Schreiben gar von Königen und Herzogen zu empfangen!5 6. Als ich mir das überlegte, gönnte ich der nutzlos ermüdeten Feder in Deiner Hinsicht Ferien, und dass sie nun die Arbeit wieder aufnehme, dazu zwingt sie das herrliche Gerücht Deiner Grosstaten! Gemäss meinem eigenen Gutdünken spreche ich. Denn bei den Mächtigen dieser Welt gilt dieses Gerücht für eine schwere Schande und ein untilgbares Verbrechen!6 Wisse, dass sie überzeugt sind, es geschehe alles, was immer im neuen Senat oder von irgendwelcher Person unternommen wird, auf Deinen Ratschlag hin. 7. Das entspricht der grossen Meinung, die sich alle von Deiner geistigen Überlegenheit gebildet haben, ich aber erst recht, weil sie mir besonders vertraut und bekannt ist. Wirklich, ich erhoffe von Deinen Schultern eine kräftige Unterstützung für das wenige, was jene anmassenden Köpfe zurechtrückt (sie halten eben einzig das für Unrecht, was ihren Begehren widerspricht, und einzig das für Recht, was ihren Gelüsten entgegenkommt); ich erhoffe solche aber erst recht für die Wiederherstellung der eingestürzten und darniederliegenden Republik! Diese muss sich freilich Deinen Ratschlägen vertrauensvoll öffnen, während Du für Deine Person – nach einem Verzicht auf alle Deine Neigungen – Dich ganz auf den öffentlichen Vorteil auszurichten hast. 8. Ich aber unterscheide mich von der Meinung vieler und hochgestellter Personen dadurch, dass sie Schimpf und Schande für Dich genau aus dem Grund vorausahnen, von dem ich für Dich höchste Ehre ableite, und dass jene genau das zum Anlass nehmen, unter zweideutigem Tuscheln mit einem weltlichen Gerichtsurteil zu drohen, was mich ermutigt, Dir unvergängliches Ansehen zu versprechen. Und vermöchte nur diese meine müde und vielbeschäftigte Feder hierzu einiges beizusteuern! Doch Du wirst das Ansehen, wenn Du fortfährst, wie begonnen, mit eigener Tüchtigkeit verdienen. Zwar verlangt die Tüchtigkeit zur Belohnung keines, doch sogar wenn sie darauf zu verzichten geneigt wäre, könnte sie es nicht ganz vermeiden. Denn7 „wie dem Körper der Schatten, so folgt der Tugend der Ruhm.“ 9. Was jene Personen betrifft, so habe ich Dir nichts Wichtiges zu raten. Du weisst alles. Nur das eine Wort solltest Du nie vergessen, das Du oft aus dem Munde jenes hochgesinnten und ungemein klugen Greises (welcher unseren Vorhaben freilich entgegenstand) vernommen hast.8 Nicht weil es gewandt formuliert wäre, aber wegen der Wahrheit seines Inhalts wird es der Erinnerung wert sein. So

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nämlich sagte der Erwähnte als einer, der es gründlich erfahren hatte: „Die römische Kirche ist gewohnt, die Gewalthaber9 zu schätzen.“ Nichts kann man kürzer, nichts richtiger sagen. 10. Wenn Ihr demnach unter den Völkern berühmt und wenn Ihr – was wünschenswerter ist – von Gott geliebt zu sein verlangt, dann, Ihr Römer, pflegt die Tüchtigkeit, liebt die Religion, wahrt die Gerechtigkeit und nützt Eure altbewährte Kunst,10 indem Ihr „Unterworfene schont und Stolzen mit Waffen begegnet.“ Und wollt Ihr dieser Kirche teuer sein, dann habt Ihr nichts anderes nötig als Gewalt, ohne welche Ihr allerdings, das glaubt mir, bei aller Tüchtigkeit nichts ausrichtet. 11. Zu all dem, was Euch betrifft, sage ich nur soviel: Ich habe dem einen der beiden, die zu unserer Zeit nach der Leitung des Gemeinwesen haschten, vieles geschrieben, dem anderen aber nichts. Denn der eine hat in mir eine grosse, wenn auch verfrühte Hoffnung geweckt und der andere wahrhaftig keine.11 Wenn aber Du ausharrst, das Zischeln der Schlangen und ihre Drohgebärde nicht fürchtest, brüte ich vieles und Verschiedenes aus, was ich zu seiner Zeit gebären werde. Jetzt genügt eine blosse Ermahnung: Wer diesen Weg beschritt, durfte weder lau noch hitzig sein, sonst nahm er gleichermassen Schaden. Du hast für beides sowohl häusliche wie frische Exempel vor Augen.12 So hat ja Naso13 gesagt: „In der Mitte gehst Du am besten.“ Lebe wohl! Du bist ein Mann; darum zeige Dich als Mann.14 (Vor dem 8. November 1352).15

Anmerkungen 1 Zu Lelio di Pietro Stefano dei Tosetti vgl. Fam. 3,19 und die andern an den selben Adressaten gerichteten Briefe, dazu auch das Personenreg. und die Register bei Wilkins, Studies und Dotti, Vita. Vgl. auch Überblick. 2 Heroid. 7,6. 3 Dieses Thema hat Petrarca oft variiert, so in Fam. 16,11,6 ff.; 21,12. 4 Lelio stammte aus vornehmen römischen Adelskreisen, und dass Stolz ein Hauptmerkmal des Adels, zumal des römischen sei, meinte Petrarca erfahren zu haben; vgl. Fam. 11,16,17 ff. 5 Petrarca hatte bei seiner Dichterkrönung einen Brief von König Roberto von Neapel erhalten; Antworten auf dieses Schreiben und auf Briefe der Dogen von Venedig und Genua stehen in der Sammlung der Familiaren. Ein Brief Karls IV. von Böhmen, des späteren Kaisers, abgesandt im Jahr 1351, gelangte erst im November 1353 an Petrarca, doch bei einer Überarbeitung des Briefes 15,1 kann der Dichter ihn berücksichtigt haben. Über Beziehungen zu Königen spricht gegenüber Lelio auch Fam. 15,8,11 ff. 6 Rom war nach der Flucht von Cola di Rienzo 1347 nicht zur Ruhe gekommen. Im Dezember 1351 hatte Papst Clemens VI. auf Wunsch der Römer einen Bürger Roms mit dem Namen Cerroni als Rector der Stadt bestätigt. Dieser liess sich jedoch durch Schwierigkeiten, die ihm vor allem Luca Savelli bereitete, rasch entmutigen und entfernte sich von Rom. Die folgenden Senatoren Bertoldo Orsini und Stefanello Colonna, am 10. Oktober 1352 durch das Volk zu Senatoren gewählt, wurden vom Papst nicht bestätigt, vielmehr mit der Exkommunikation bedroht. Um diese Zeit hatte

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Fam. 15,1

sich Petrarcas Freund Lelio, dessen Familie den Colonna nahestand, in Rom Einfluss verschafft, was ihm in Avignon schwere Anschuldigungen eintrug; vgl. Fam. 16,8,3 ff. Da die Zustände sich auch in der folgenden Zeit nicht verbesserten, sandte Papst Innozenz VI. mit Kardinal Albornoz, der den Kirchenstaat neu ordnen sollte, im Sommer 1354 auch Cola di Rienzo, der vor dem Papst Reue gezeigt hatte, nach Rom. Dieser konnte sich aber nur ungefähr zwei Monate halten und wurde am 8. Oktober 1354 ermordet. Vgl. Gregorovius, Gesch. der Stadt Rom und oben Notiz im Überblick. Cic. Tusc. 1,45,109; vgl. auch Sen. Ad Lucil. 79,13. Gemeint ist der Vater von Petrarcas früherem Herrn Kardinal Colonna, also Stefano Colonna, der einstige Gegner des Papstes Bonifaz VIII.; er, ein Gegner der Umwälzungen in Rom, war 1348 ungefähr neunzigjährig gestorben; vgl. den Brief an ihn, Fam. 8,1. Genaue Auskünfte über die einzelnen Glieder der Familie Colonna gibt der Dizionario biografico degli Italiani (DBI) Bd. 27 unter Colonna. Lateinisch: potentes. Gleich wird Petrarca auch potentia anempfehlen. Verg. Aen. 6,852–853. Vgl. Anm. 6. Bei lauem Handeln denkt Petrarca wohl an Giovanni Cerroni, (später an Karl IV.), bei hitzigem gewiss an Cola di Rienzo. Ov. Metam. 2,168. Zu Lelios späterem Lebenslauf vgl. Fam. 15,8; 15,9; 16,8 etc. Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 140.172 und 177 f. und Petr. corresp. 72–73. Gemäss der Auffassung von Wilkins ging Fam. 15,8 diesem Schreiben voran. Angaben zu den Briefen Petrarcas findet man auch bei Dotti, Vita leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 15,2, an Francesco Nelli1 Über Hindernisse zu Beginn einer Reise. 1. Petrarca hat selten das Glück, bei gutem Wetter zu reisen. 3. Er übernachtet während sintflutartigem Regen beim Bischof von Cavaillon. 6. Ein Weg wird durch Kriegsleute versperrt, alle Wege sind überschwemmt. 10. Notgedrungen kehrt er an die Sorgue zurück. An der Quelle der Sorgue, am 18. November (1352).

1. „Die Nacht bringt Rat.“ Alt ist dieses Sprichwort und, wie ich erfahre, auch richtig. An der Quelle der Sorgue hatte ich meine Bündel zusammengestellt, die ich zu dieser Zeit nur zu häufig herumtrage, und brach dann am 16. November auf, nämlich im Vertrauen auf ein winterlich klares Wetter, obwohl es ja unbeständiger und ungewisser als alles ist. Hoffnung schaffte mir der Umstand, dass man während der ganzen Herbstzeit und nachher bis zum genannten Tag keine Wolke und erst recht keinen Regen gesehen hatte. Schrecken jagte mir dagegen mein allgemein bekanntes Los ein, das mir bestimmt, ohne Hitze oder Regen nicht zu reisen. Denn es war ja im höchsten Masse wahrscheinlich, dass der Himmel, was er lange zurückgehalten, endlich auszugiessen gedenke. 2. Was erwartest Du? Kaum hatte ich den Fuss vors Haus gesetzt,2 sieh da ein vorerst bedächtiges dünnes Sprühen, fast nur ein Nebelnetzen, darauf gleich ein rechtschaffener Regen! Ich, mein Schicksal erkennend, bin gleich verärgert, schaue bisweilen zurück, fasse den Entschluss umzukehren, doch wie üblich ist, wendet der Geist sich um, geht aber der Leib immer vorwärts. In diesem Zwiespalt verblieb ich nicht lange. Der Tag ging zur Neige, und ein erster Hafen war ganz nahe.3 3. Ich gelangte nach Cavaillon, einer benachbarten Stadt, klein aber sehr alt. Dort wurde ich von Philippe, dem Bischof des Ortes,4 dem besten aller Männer (und treuer um mein Wohlergehen und meine Ehre besorgt, als sonst jemand, selbst ich nicht), wie jedesmal nicht als Mensch, sondern als Engel Gottes5 begrüsst und aufgenommen. Vor Freude liefen ihm beinah die Tränen herunter. Er war aber krank, was ich nicht gewusst hatte, 4. und nun glaubte er und drückte es aus, mit mir sei über die Schwelle seines Hauses das Heil in Person und das Heilmittel für jede Krankheit getreten. Doch wie er hörte, ich sei zu ihm nicht zum Bleiben, sondern zu einem letzten Abschied gekommen, wurde er unglücklich, und alle seine Freude verwandelte sich in Klagen. Nach seinem Recht6 drängte er mich, bei seinen Laren,7 nein, wie er immer erklärt und mit Taten beweist, bei den „meinen“ zu verweilen und ihm die kommende Nacht zu schenken, auf dass er „etwas an Scherereien“ (wie ich sagte),“ ein Restlein ersehnten Trostes“ (wie er meinte) empfange. 5. Ich gehorchte nicht widerwillig, da bereits die Stunde der ersten Fackel bevorstand8 und nicht mehr ein Regen, sondern eine ungeheure Flut herunterplatschte.

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Fast gar nichts wurde in dieser Nacht geschlafen. Zudem vernahm man ein Gerücht, zuerst leise, dann im Verlauf der Stunden immer deutlicher, bis es schliesslich hartnäckig und laut im Getuschel der Diener, die den kranken Bischof umsorgten, das ganze Haus erfüllte: Ein Kampf zwischen irgendwelchen Älplersippen9 habe sich bis hinunter nach Nizza10 am Varo ausgebreitet und schon sei wegen der umher schweifende Spione der Weg unterbrochen. 6. Das hielt ich zuerst für ein Märchen des ungemein besorgten Vaters, erdichtet zum Zweck, mich zurückzuhalten; denn dass grosse Liebe höchst erfinderisch ist, weiss man aus Erfahrung. Doch dann vernahm ich von meinen Leuten, die ich auf Erkundigung ausgeschickt hatte, die Sache sei keineswegs erfunden, sondern schon allgemein und ringsum bekannt. 7. Schon schwankte ich in meinem Innern, überlegte mancherlei hin und her und besprach mich mit dem Bischof, der mehr und mehr darauf beharrte, ich möchte doch, um mich und ihn vor Unheil zu bewahren, auf mein Unternehmen verzichten, während ich auf dem Vorhaben abzureisen bestand. Immerhin liess ich mich leicht zu einer Änderung meines Weges ermuntern, denn auf einem besonders beschwerlichen und ganz beträchtlichen Umweg zu reisen, hatte mich einzig der Wunsch verlockt, meinen Bruder zu besuchen, den ich schon fünf Jahre nicht mehr gesehen hatte und der nicht fern eben dieser Strasse Christus dient.11 8. Während ich das mit mir und mit dem besten Vater besprach, wuchs aber die Sintflut fortwährend an. Mit müdem Kopf begab ich mich ins Schlafzimmer und nachdem ich, wie ich meine, kaum eine volle Stunde geschlafen hatte, riss ich mich gleich aus dem Bett, um nach meinem Brauch die Matutin12 zu Gottes Lob zu verrichten; tat es aber früher als sonst, da wegen gelockerter Ziegel schon alles überschwemmt war. Dann wandte ich mich an den schlaflosen Bischof und darauf wieder und wieder an mich selber mit der Frage, was ich tun und welchen Rat ich im äussersten Fall ergreifen sollte! Der eine Weg war durch die Fehde verschlossen und jeder durch die Sintflut. 9. Was weiter? Das Ganze führte allmählich, um mit Historikern13 zu sprechen, religiöse Skrupel herauf. Mir schien, Gott habe an meiner Reise kein Gefallen. Dazu gesellte sich die Angst, meine Bücher, also ein guter Teil meiner Fahrhabe, könnten verderben. Ich erfuhr, wie ein Besitztum die Freiheit beschränkt, denn „fürchtend für mein Gepäck“, wie Maro14 sagt, war ich furchtlos für meine Person. Weitergereist wäre ich in der Tat, wäre da nicht meine Habe gewesen; nun aber blieb ich. 10. Auf die Beschwörungen des Bischofs hin änderte ich meine Pläne, schickte einen Teil meiner Leute nach Italien und kehrte an die Quelle der Sorgue zurück. Hier bin ich nun beinah allein und zweifle nicht, dass der Aufschub irgendeinen unerwarteten Vorteil bringe oder irgendein unvorhergesehenes Übel verhindere. Auf menschlichen Rat nur wenig vertrauend, habe ich wie ein von der Flut besieg-

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ter Schiffer das Gefährt meines Lebens nicht den Winden und Wellen, sondern Gott überlassen, da unter seiner Lenkung sich kein Schiffbruch ereignen kann. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 18. November (1352).15

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Vgl. die früheren Schreiben an diesen Freund Petrarcas, vor allem den ersten Fam. 12,4. Petrarca gab selten an, dass er zu Pferde reiste. Es war der Erwähnung offenbar nicht wert. Portus: Hafen im Sinn von Zufluchtsort. Vgl. die verschiedenen Briefe an diesen Freund Petrarcas und das Personenreg. im 1. Bd. Vgl. das Wort über Gastfreundschaft bei Hebr. 13,2. Petrarca meint weniger das Recht des für die Diözese zuständigen Oberhirten und eher das Recht der Freundschaft, das er häufig anführt. Laren sind Schutzgötter, jedes Haus hatte seine eigenen; das Wort steht für Haus, Wohnung, Herd. Die Zeit, da man das Licht anzündete; sie wechselte natürlich nach der Jahreszeit. Lateinisch: bellum quarundam alpinarum gentium: hier das Beispiel einer Sippenfehde, wie sie im Mittelalter und bis in die jüngste Zeit häufig waren. Nizza ist seit Napoleon III. französich: Nice. Der Bruder Gherardo lebte in der Kartause von Montrieux in der Nähe von Saintes-Baumes östlich von Marseilles; vgl. Fam. 15,3,2; 16,9. Das ist das Morgengebet der Mönche und Geistlichen. Res ad religionem …vertere ceperat; Liv. 26,11,4. Verg. Aen. 2,729 und 11,550. Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 172. 178. 212. Vgl. auch die letzte Anm. zu Fam. 15,11 und Notiz im Überblick.

Fam. 15,3, an den Grammatiker Zanobi aus Florenz1 Über eine verhinderte Reise. 1. Petrarca will berichten, wo er sich entgegen seinen Plänen aufhält. 5. Die Verhinderung der Reise nach Italien versteht er als Hinweis auf Gottes Willen. 8. Er wird durch einen Diener vor den Umtrieben gewarnt, die in Italien auf ihn warten. 10. Er beschreibt seine Lebensweise in Vaucluse; das Tal ist ihm Rom und Athen. 14. In Gedanken verkehrt er mit allen Freunden, auch mit den Toten aus allen Zeiten. An der Quelle der Sorgue, am 22. Februar (1353).

1. Ich weiss, Du wunderst Dich und sagst bei Dir:2 „An welchen Ufern der Welt rauft sich wohl unser Soldat?“ Ausser es habe unser beider „Ander-Ich“ – nämlich das mir durch Sache und Namen verbundene3 –, das uns während unserer Wanderschaften das Nest im Vaterland warm hält, meinen ihm zugesandten Brief von Florenz zu Dir nach Neapel weiter geschickt, denn so lautete mein Wunsch. Sofern das geschehen ist, bringt Dir dieser hier keinen Nutzen. Doch weil ich des Freundes Arbeitslast fürchte und Deine Begierde mir bekannt ist, habe ich bei aufsteigendem Zweifel für besser erachtet, eine Stunde zu verlieren, indem ich Überflüssiges schreibe, als geizend mit der Zeit dem Freund eine notwendige Schilderung meiner Lage vorzuenthalten. 2. Wo ich bin, was ich denke, was ich tue, wirst Du vernommen haben; es ging das Gerücht um, ich reiste auf der Flucht vor den Stürmen der Kurie nach Italien zurück, wo „die Geschicke ruhige Wohnsitze anzukündigen schienen.“4 Wirklich hatte ich schon die Richtung nach Genua eingeschlagen, und zwar aus keinem anderen Grund, als um meinen einzigen Bruder (dessen Vorzüge mir wichtiger sind als sein Blut) wenigstens im Vorbeigehen zu besuchen. Denn er hat nahe der genannten Strasse den einsamen und waldigen Ort namens Montrieux gewählt, um da Christus zu dienen und seinen Leib zu kasteien,5 und ich habe ihn ein ganzes Lustrum6 nicht mehr gesehen. Doch ich erfuhr, dass ungefähr an der Westgrenze Italiens am Varo7 die Strasse wegen Kriegswirren unzugänglich sei, denn gewisse Bewohner der Alpen hätten sich bewaffnet bis zur Küste hinunter zerstreut. 3. Durch solche Gerüchte und durch Bitten von Freunden bewogen, änderte ich meine Pläne und beschloss, einen anderen Weg zu wählen; und obwohl bereits unterwegs zu den Cevennen,8 wandte ich mich nach links, als sieh da, ein plötzlicher Platzregen alles überflutete. Dabei hat doch vorher wie nachher am Himmel und auf Erden eine solche Trockenheit geherrscht, wie wir sie nie zuvor erlebt hatten und auch kaum aus Büchern kennen. Ängstlich habe ich angehalten, und selten habe ich deutlicher begriffen, was Vergil9 meinte, wenn er sagte: „Da fürchtet der Leib für seine Bürde.“4. Überaus kostbar war mir ja das Büchergepäck mit den Werken der Alten, vermischt mit dem bisschen Zugabe an eigenen Spielereien. Mit solchen schreibe ich „ägyptische Papiere“10 nicht etwa darum voll, weil das zu tun

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das Beste wäre, sondern weil anderes schwieriger ist, während gar nichts zu tun das Übelste, mir übrigens unmöglich und ungewohnt bleibt. In dieser Lage fürchtete ich nicht für meinen Buckel, den abgehärteten, der seit langem alles, nicht bloss Regen, sondern auch Eis, Hitze und Hagel zu ertragen versteht und keiner Mühen und Gefahren unkundig ist. Ja, ich fürchtete, anders als Aeneas,11 nicht sowohl für meine Haut als für meine Last, sondern wie ein Metabus12 einzig und allein für meine Last, und ich gestehe: Mir war Angst um mein liebes Gepäck. 5. Was sollte ich tun? Da ich „alle meine Habe“, wie einer sagte,13 „bei mir trug“, kam mir vor, in gewisser Weise offenbare sich hier Gottes Wille mit einem Verbot, jetzt zu reisen. Und beinah als eine sündige Vermessenheit kam mir vor, gegen ein solches Verbot, als wäre ich mein eigener Herr, zu verstossen. Da mir das Wort des Kleanthes einfiel:14 „Den Willigen leiten die Geschicke, den Widerwilligen zerren sie“, gab ich willig nach, um nicht widerwillig nachgeben zu müssen, schickte einige Diener nach Italien voraus,15 weniger zum Zweck, dass sie dort persönlich für das häuslich Nötige sorgten, als dass mir hier dank ihrem Weggang die Einsamkeit behaglicher und die Musse friedlicher werde. 6. Kaum waren sie also glücklich weggegangen und so weit entfernt, dass ein Zurückrufen oder Einholen nicht mehr möglich war, schau, da fand sich auch das schöne Wetter wieder ein, und dieses dauert nun schon viele Monate an, wie es auch vorher viele Monate gedauert hatte und wahrscheinlich weiterhin dauern wird, falls nicht der Lenker der Gestirne seinen Ratschluss ändert oder (da Gottes Ratschluss ja ewig gilt) mit neuen Auswirkungen etwas anderes anzeigt.16 Je länger ich also nachdenke, um so besser leuchtet mir ein, dass Gott, menschlichen Gefahren vorbeugend, durch Hindernisse am Himmel und am Boden mein Verlangen, das mich nach Italien hinzog, gezügelt habe. Uns ist ja der Gegenstand unserer Begehren bloss angenehm; Gott aber ist er bekannt. 7. Wie sollte ich nicht so denken? Ein Krieg ebenda, wo es seit Menschengedenken keinen gab, und ein Platzregen, einmalig in diesem Jahr, haben am bestimmten Tag und genau zur Stunde meines Aufbruchs stattgehabt! Durch sie gehindert, bin ich zur Quelle der Sorgue wenige Tage nach meinem Weggang zurückgekehrt. Und bevor der eilige Mond seine unermessliche Strasse zwei Mal durchlaufen hatte, traf einer jener Diener, die ich, wie gesagt, vorausgeschickt hatte, wieder bei mir ein. 8. Und „ach,“ sagte er, „was hast Du nur vor? Du meidest die Charybdis und steuerst den Kahn zur Skylla.17 Dich entsetzen die Geschäfte der Kurie, und nicht ohne Grund; weisst Du aber nichts von der Masse der Geschäfte, die Dir zufallen werden, sobald Dein Fuss den italienischen Boden betreten hat? Weisst Du nicht, welche Schlachtreihen Deine Freunde schon jetzt auf das blosse Gerücht Deiner Rückkunft hin gebildet haben? Kennst Du nicht die Vielzahl der Parteien, für welche Du Deine Schaffenskraft – statt sie nach Deinem Willen zu einen – wirst verzetteln müssen? Auch nicht, wie sehr Du statt für eigene Geschäfte für jene Deiner

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Freunde wirst schwitzen und wieviel Zeit, obwohl Du daran arm bist und viel benötigst, für sie wirst vergeuden müssen? Weisst Du nicht, wie viele Belästigungen Du erdulden wirst, um den Begehren der vielen zu genügen?“ 9. Nachdem er solches kurz und knapp gesagt hatte, erklärte er sorgfältig alles im Einzelnen, brachte sonnenklare Beweise vor und fügte manches hinzu, was besser zu verschweigen ist. Wozu halte ich Dich auf? Nicht wie ein Diener, nein wie ein Philosoph, ja wie eine Gottheit schien er zu sprechen. Daher überlegte ich bei mir vieles hin und her, und wo ich einen Hafen zu sehen geglaubt, sah ich ein aufgewühltes Meer, zog ernüchtert das Schiff meines Herzens aus eben diesem Unwetter heraus, wickelte die Schiffsseile auf, warf Anker, drückte das Steuer zurecht und band das in Stürmen ermattete Gefährte zwischen den Felsen fest, um zu warten, bis ein Hafen sich zeige, weder gewillt, an die Kurie zurückzukehren noch nach Ausonien18 zu reisen, bevor etwas Besseres zu vernehmen wäre. 10. Fragst Du, was ich hier tue? „Lebe ja noch.“ Und vielleicht erwartest Du das Ende des Verses: „und in äusserster Not verbring’ ich dies Leben.“19 Nein keineswegs! Vielmehr lebe ich, bin gesund und vergnügt, und was viele unglücklich macht, übersehe ich. So gestaltet sich mein Leben: Um Mitternacht stehe ich auf; zur ersten Morgenstunde verlasse ich das Haus, doch bin ich auf den Feldern nicht weniger fleissig mit Studieren, Lesen, Denken und Schreiben beschäftigt und halte, so weit als möglich, den Schlaf meinen Augen, die Schlaffheit meinem Leib, die Sinnlichkeit meinem Geist und die Schläfrigkeit meiner Arbeit fern. 11. Jeden Tag gehe ich rings an trockenen Berghalden, taufrischen Tälern und Höhlen hin und her, wandere immer erneut den beiden Ufern der Sorgue entlang, ohne dass mir einer begegnet, habe niemanden zum Begleiter oder Führer ausser meine Sorgen, die aber von Tag zu Tag weniger stechen und weniger quälen. Ich schicke sie voraus und zurück, und im Gedanken an Vergangenes überlege ich Kommendes; mit welchem Gewinn, das bestimmt Jener, von dem gesagt wurde:20 „In Deinem Licht erkennen wir das Licht.“ Ohne Ihn schaut die triefäugige Menschheit sich umsonst in der Finsternis um. 12. Auf seine Führung baut alle meine Hoffnung. Freilich, so viel ich vermag, stütze auch ich mich auf und biete eine willige Seele an, um nach meinem Vermögen mit dem Apostel21 „das Vergangene vergessend mich auszustrecken nach dem, was vor mir liegt.“ Ein bestimmter und mächtiger Trost ist mir in jedem Exil gegeben: Ich habe mir diesen Ort vertraut gemacht und werde, wenn nötig, jeden andern mir vertraut zu machen imstande sein, wenn er nur nicht Avignon heisst und nicht über die hoch brausenden und tobenden Wassermassen der Rhone hinaufragt.

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13. Dass Dir all das länger unbekannt bleibe, Freund, wollte ich nicht leiden (falls es Dir bis heute überhaupt unbekannt war). Es sollen nicht etwa Deine Briefe auf der Suche nach mir auf unsicheren Bahnen dahin und dorthin schweifen. An der Quelle der Sorgue bin ich, wie ich sagte, und weil Fortuna22 das beschlossen hat, begebe ich mich nun an keinen anderen Ort und werde es auch nicht tun, bis jene, wie sie gerne tut, ein anderes Gebot erlässt. 14. Inzwischen aber setze ich im Geiste hier Rom, hier Athen, hier auch mein Vaterland fest, hier überdies alle meine Freunde, die ich besitze oder besass, nicht allein die in vertrautem Zusammenleben erprobten oder gleichzeitig mit mir lebenden, sondern auch die vor vielen Jahrhunderten verstorbenen, die mir einzig dank einer Wohltat der Literatur bekannt sind. An ihnen bewundere ich die Taten und den Geist oder die Sitten und das Leben oder die Sprache und Erfindungsgabe, und aus allen Gegenden und aus jedem Jahrhundert ziehe ich diese Verstorbenen alle immer wieder in dieses enge Tal herein und verkehre mit ihnen dann begieriger als mit den andern, die immer dann zu leben vermeinen, wenn sie auch nur irgend etwas Stinkendes aushauchen und in der kalten Luft eine Spur ihres Atems zu erkennen glauben. 15. So gehe ich denn frei und sicher herum, ganz allein mit solchen Gefährten, und bin, wo ich will, ja möglichst oft bei mir allein, oft aber auch zusammen mit Dir und mit jenem besten und bedeutendsten Mann,23 dem ich, ohne ihm je begegnet zu sein – das ist wunderbar – zu jeder Stunde begegne und bei dem mein Name, so lange Du mit ihm sprechen kannst, niemals vergreisen soll! Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 22. Februar (1353).24

Anmerkungen 1 Zanobi (oder selten Zenobi); vgl. Fam. 12,3 und die andern an ihn gerichteten Schreiben, dann auch das Personenreg. im 1. Bd. 2 Hor. Epist. 1,3,1. 3 Lateinisch: noster alter ego re et nomine. Gemeint ist Francesco Nelli, mit dem sich Petrarca dank dem Namen und nicht allein dank ähnlicher Geisteshaltung verwandt fühlte; vgl. Fam. 15,2. Den Plural des Fürworts gebraucht Petrarca oft für sich allein. 4 Verg. Aen. 1,205–206. 5 Vgl. Fam. 15,2,7. 6 Das ist ein Zeitabschnitt von fünf Jahren. 7 Grenzfluss auf italienischem Boden; vgl. Fam. 15,2,5. 8 Gegen den Montgenèvre zu. 9 Aen. 1,205–206. 10 Vgl. Luc. Phars. 10,4–5, wo eindeutig ägyptisches Papier gemeint ist. 11 Aen. 2,729 und 11,550; vgl. Fam. 15,2,9. 12 Der Volskerkönig war einzig besorgt um seine Tochter Camilla; vgl. Aen. 11,550–551. 13 Vgl. Aen. 11, 550 f. Der gewisse Mann ist der griechische Philosoph Bias.

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Sen. Ad Lucil. 107,11; vgl. das selbe Zitat Fam. 2,4,32; 6,3,17; 24,5,11. Wohl in sein Haus in Parma. Lateinisch: novis aliud ostendat effectibus. Besser wäre vielleicht zu übersetzen: „Du kommst vom Regen in die Traufe.“ Die folgende Rede des Dieners tönt aber so gewählt humanistisch (nämlich nach der Sprache Petrarcas), dass man im Zweifel bleibt. Das Wort, das zuerst nur Süditalien meint, wird hier wie oft für ganz Italien verwendet. Verg. Aen. 3,315. Ps. 35,10. Paulus, Phil. 3,13. Fortuna ist hier nicht die Feindin, nämlich Spenderin trügerischer Gaben, deren man sich strikte erwehren muss (vgl. Fam. 5,18,3 f.), sondern eine Dienerin Gottes, die seinen Willen vollstreckt (vgl. Fam. 8,1,15). Gemeint ist der Gross-Seneschall am Hof Neapels, Niccolò Acciaiuoli; vgl. das Personenreg. und Überblick. Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 149, 155–157; Petr. corresp. 73.

Fam. 15,4, an Andrea Dandolo, den Dogen von Venedig1 Rechtfertigung der häufigen Ortswechsel. 1. Der Doge wundert sich über Petrarcas häufige Ortswechsel. 2. Dieser verweist auf die Vorteile des Reisens. 7. In der Jugend war der Dichter darauf begierig, jetzt sucht er bloss einen ruhigen Ort zum Verweilen. 10. Doch er kann ihn nicht finden. 11. Sein Leben ist ihm ein hartes Bett, das er nur dank Veränderungen seiner Lage aushält. 14. Leichte Beweglichkeit deutet auf himmlische Abkunft des Menschen. 15. Aber Petrarcas Reisen zeugen von einer Krankheit. An der Quelle der Sorgue, am 26. Februar (1352).

1. Was ich in aller Stille vermutete, jetzt hör’ ich’s. Du wunderst Dich, dass ich so unstet einmal da und einmal dort bin, mich nirgends zuversichtlich niederlasse und noch keinen festen Sitz fürs Leben gewählt zu haben scheine, da ich kaum je ein volles Jahr in Italien verbracht habe, aber alle zwei Jahre aus Italien nach Gallien und wieder aus Gallien nach Italien zu reisen pflege. Weil ich das nicht abstreiten kann, muss ich es Dir, damit Du mich bedauerst, anderen Gutgesinnten, damit sie mir verzeihen, und der Menge, damit sie nicht lästert, begründen.2 2. Ich weiss, jenes Wort Senecas ist wahr, gemäss welchem „das erste Anzeichen einer wohl geordneten Vernunft darin besteht, stillsitzen und bei sich selber verweilen“ zu können.3 Doch auch jene Aussage kenne ich, dass manche die Grenze ihres kleinen Landgutes nie überschritten, jedoch im Geist und in Gedanken ohne Unterlass ruhelos umherschweiften, während wieder andere sich auf ewiger Wanderschaft befanden, dabei aber tiefernste Männer von grösster Beständigkeit waren. Herumgereist sind hochbedeutende Kriegsführer und grosse Philosophen,4 an welche Du Dich bestens erinnerst, wogegen ein Vatia5 schon bei Lebzeiten auf dem eigenen Landgut versteckt und begraben lag, ein Buta Tag für Tag schnarchte, ganze Nächte durchwachte und nie das Schlafzimmer verliess. Noch mehrere kennst Du, denen Seneca6 mit seinen Briefen grosse Bekanntheit und spottend einen ewigen Namen verschaffte. 4. Herumgezogen sind die Apostel und durch weit auseinander getrennte Gegenden barfuss gewandert; denn der eine ist nach Ephesus, ein anderer nach Syrien, wieder einer nach Achaia gesandt worden; einige übrigens nach Rom, wieder einer nach Indien und einer nach Ägypten. Sie wanderten dem Leibe nach durch rauheste Gegenden und wurden zu Wasser und zu Land herumgetrieben, derweil ihre Herzen am Himmel hafteten. Umgekehrt ruhen jetzt die Leiber unserer Apostel in goldverzierten Gemächern, während ihre Herzen weit über Länder und Meere schweifen. 5. Da frage ich nun: Welchen von diesen allen wollen wir das genannte „Anzeichen einer wohl geordneten Vernunft“7 denn zusprechen? Jenen, die am Wohnsitz oder vielmehr jenen, die am Vorsatz festhalten? Auch das ist mir nicht entfallen,

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was ich oft erwähnt habe und nun freudig wiederhole. Es hat ein griechischer Dichter und es hat – seinen Spuren folgend – auch der unsere8 die Geisteshaltung und Gesittung eines vollendeten Menschen geschildert; und kein Philosoph hat die menschlichen Verhältnisse aus höherer Warte betrachtet als diese beiden. Sie haben diesen Menschen über die Erde reisen und überall etwas Neues hinzulernen lassen, weil sie glaubten, dass er im ständigen Verweilen an einem einzigen Ort niemals so geworden wäre, wie sie ihn mit der Feder zu verherrlichen bemüht waren.9 6. Weil aber solche Argumente mich vielleicht nichts angehen, halt’ ich mich bei der Rechtfertigung von Ruhmvollen und Beneideten nicht auf, sondern führe etwas anderes an, das Dich zum Mitleid ermahnen soll. Dir, Du aller guten Männer liebenswertester, der Du einst auf Deinen Reisen Kenntnisse vieler Gegenden und Ereignisse gesammelt, nun aber endlich dank Deiner Tüchtigkeit vorzeitig und zu Deinem grossen Ruhm in der edelsten Republik den höchsten Rang gewonnen hast, doch mit Rücksicht auf die Unabhängigkeit aller Bürger freiwillig in einem prächtigen, doch unentrinnbaren Kerker ausharrst, Dir also, höre wohl, werde ich grossen Dank zu erstatten wissen, wenn ich nach einem unsteten Kriegsdienst dieses Lebens mich einst daran mache, in Deiner Nähe ein Lager aufzuschlagen, um da in Ruhe den Rest meiner Tage zu verbringen. 7. Ja höre, dass mir nichts lieber, nichts wünschenswerter, übrigens auch nichts schwieriger zu sein scheint. Ich habe mein Steuer bereits dorthin gerichtet, doch reisst mich, wie sehr ich mich wehre und widersetze, der stürmische Wellengang in andere Richtung. Und weil ich Deine freundliche Gesinnung und Milde kenne, in welcher Du Dein stark beschäftigtes Ohr den Reden sogar bescheidener Freunde nicht unwillig leihst, füge ich an: In meiner Jugend war es mein Verlangen, nach der Meinung der Dichtung Homers die „Sitten vieler Menschen und Städte“10 zu beschauen und voller Neugier unbekannte Gegenden, höchste Gebirge, vielgepriesene Meere, hochgelobte Seen, verborgene Quellen, berühmte Flüsse und die vielfältigen Lageverhältnisse verschiedener Orte zu erkunden. 8. Ich meinte, so könnte ich mühelos, rasch und ohne Langeweile, ja mit Vergnügen allseitige Bildung erwerben, was mir immer unter allen Wünschen der erste war. Gewissermassen in der Bewegung von Geist und Leib glaubte ich meine Unwissenheit verscheuchen zu können. Doch nun bin ich lange genug herumgeirrt, lange genug auf der Suche gewesen, auch lange genug meiner Sehnsucht gefolgt; und endlich ist die Zeit gekommen, zum Fahnenträger meiner Seele so zu sprechen, wie einst ein römischer Befehlshaber zu dem seinen:11 „Fähnrich, richte Dein Feldzeichen auf; hier ist gut sein.“ 9. Und wirklich hat das Wandern und Umherziehen in vielen Gegenden endlich ein Genügen bewirkt, hat auch die jugendliche Begeisterung sich gemildert und allmählich in Lauheit und Bequemlichkeit umgeschlagen. Daraus entstand hierauf ein Verlangen nach Sesshaftigkeit, die ich übrigens der Natur und meiner Aufgabe schulde, und all das bringt das Begehren nach Umherziehen und Schweifen an ein Ende.

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10. Doch was soll ich tun? Es glaube mir, wer mir immer etwas glauben will: Könnte ich irgendwo unter dem Himmel einen guten Ort entdecken oder dann einen nicht üblen – um vom schlechtesten zu schweigen –, ich wollte begierig und ausdauernd daselbst verbleiben. Jetzt liege ich gleichsam auf härtestem Schragen, wende mich einmal so und einmal anders, kann aber mit allen meinen Versuchen die gewünschte Ruhe nicht finden. Ich komme daher meiner Mattigkeit, weil es mit einem angenehmen Bett nicht geschehen kann, wenigstens mit einem ständigen Wechsel zu Hilfe. Ich kehre mich hierhin und dorthin, vergleichbar einem immerfort Reisenden. 11. Bin ich der Härte der einen Stelle müde, begebe ich mich zu einer andern, denn selbst wenn die neue nicht angenehmer als die frühere ist, wird doch die Widerwärtigkeit dank der veränderten Lage zeitweilig gelindert. So jage ich herum, wohl wissend, dass es hier keine ruhige Stätte gibt, sondern nur Seufzen und Stöhnen nach Ruhe. Also nur ewiges Klagen! Und als das Schlimmste von allem erkläre ich mit gutem Grund, dass man mitten unter so vielen Qualen und so mannigfachen Ängsten des Lebens noch ewige Bedrückung und endlose Ängste und immerwährende Qualen befürchten muss.12 12. „Was soll das“, wird einer fragen. „Es sind doch ihrer viele, die an den selben Stellen, wo Du Dich herumwirfst, Ruhe finden und unbeweglich verweilen?“ Diesem antworte ich mit der Frage: „Und wie viele sind es, die an den selben Stellen noch unruhiger leben und sich noch häufiger wenden?“ 13. Ich spreche nicht von einem „himmlischen Ursprung der Seelen“, wie Vergil,13 und sage auch nicht wie Cicero,14 wir hätten „die Seele aus jenen unsterblichen Feuern“ empfangen, die wir „Himmelskörper und Sterne“ heissen; ich versuche auch nicht im Hinblick auf eine gewisse Ähnlichkeit der Bewegungen, von der Seneca spricht,15 mit der grossen Beweglichkeit der himmlischen Feuer die Beweglichkeit unserer Seelen zu rechtfertigen, als stammten diese aus jenen. Doch ich sage folgendes: Die geschaffenen und gleichzeitig den Körpern eingehauchten Seelen stammen von Gott, und „Gottes Thron“ ist „im Himmel“, wie der Psalmist16 sagt. Der Himmel aber ist in steter Bewegung, wie wir mit unseren Augen feststellen, und somit ist es nicht zum Verwundern, wenn wir eine gewisse Ähnlichkeit von dorther bezogen haben, wo unser Schöpfer wohnt. 14. Ich weiss nicht, woher sie kommt, doch weiss ich, welcher Art die den Seelen angeborene Neugier, insbesondere die der edleren Geister ist, unbekannte Orte aufzusuchen und von Gegend zu Gegend zu wandern. Dass man sie mit Vernunft zu beschränken und zu zügeln hat, leugne ich nicht; aber glaube mir – und als ein Mann mit Erfahrung wirst Du mir besonders leicht glauben –: Etwas Lustvolles und zugleich Lästiges hat diese Neugier, ganze Provinzen zu durchstreifen. Dagegen hat der auf dem einen, immer gleichen Sitz Verweilende bei aller Ruhe einen eigentümlichen Überdruss. Was schliesslich in diesen und anderen Sorgen der Menschen das Beste ist, kennt wohl niemand als Gott. Und freilich, wollte einer die menschliche Tugend

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nicht in die Seele, sondern in die Örtlichkeiten setzen und folglich die Unbeweglichkeit als Beständigkeit bezeichnen, dann müssten ihm die Gichtkranken für sehr beständig gelten, doch als noch beständiger die Toten und als am beständigsten die Gebirge. 15. Darüber nur soviel. Man wirft mir vielleicht vor, dass ich Gründe zur Entschuldigung meiner Krankheit zusammensuche. Ich bestreite also immerhin nicht, dass ich krank bin, und zwar an einer nicht geringen Geisteskrankheit. Und möge sie nur nicht tödlich sein! Und ich lade den ganzen Schimpf meiner Krankheit auch nicht so ganz meinem Lager auf, dass ich mich selber freisprechen wollte. Ich wiederhole, was sich, selbst wenn ich schweige, verrät: Ich bin krank. Mach mich also gesund; ich ertrage es dann tapferer! Aber selbst dann wird mein Bett weder weich oder passend sein. Nein, das Bett des Lebens, auf dem ich ermattet liege, ist vielmehr rauh, unerquicklich, unsauber, unbequem, kratzend und überhaupt von der Art, dass es sogar ausnehmend Gesunden aufs ärgste zusetzt. 16. Weshalb auf ihm dennoch einige Leute ausruhen können, weiss ich nicht. Es könnte sein, dass sie tiefer schlafen und deshalb das nicht verspüren, was mich drückt, oder dass sie an dem mir Widerwärtigen eine mir unbekannte Lust entdecken. Aber was hindert mich, frei zu vermuten, dass mich an der Seele ein Fieber packte, jene dagegen gesund sind? Von Gebildeten könnte ich das leichthin vermuten, dass aber das Volk geistig gesund sei, das werde ich weder mir noch einem anderen je glauben. Nein es ist unempfindlich und stumpf. Übrigens mögen andere die Gründe ihrer Ruhe kennen, mir genügt, Gründe für meine Unrast aufgeführt zu haben. 17. Entweder täusche ich mich oder ich bin immerhin nicht dermassen krank (obwohl ich es sehr bin), dass ich keine Ruhe fände, sobald ich frei wäre von all den Beschwerden, die mir von der Rauheit meiner Umstände und Lage beschert werden.17 Ein Heilmittel besonderer Art, das ich anderen empfohlen habe, würde mir gut tun, wenn ich es zu meinem eigenen Nutzen zu verwenden verstünde. Den Frieden, den ich äusserlich nicht gefunden habe, kann ich im Innern suchen, und die Ruhe, die ich an meinen Aufenthaltsorten nicht finde, kann ich in der Seele, vielmehr in meinem Spender des Lichts und Herrn der Seele erlangen. Darüber an anderer Stelle mehr! Dir aber, Du klügster aller Dogen, den einzig die Freundesliebe18 gedrängt hat, über meine Lebensweise nachzudenken und Dich zu wundern, sei hiermit eine Antwort gegeben. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 26. Februar (1352).19

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Anmerkungen 1 Vgl. Petrarcas Schreiben an den Dogen Fam. 11,8 und 18,16, dazu auch die bei Dotti und Wilkins erwähnte Literatur zu den von Dandolo handelnden Stellen, vor allem Lino Lazzarini, Francesco Petrarca e il primo umanesimo a Venezia, in: Umanesimo europeo e veneziano, a cura di V. Branca, Florenz 1963. Ders. Dux ille Danduleus, in: Petrarca, Venezia e il Veneto, a cura di G. Padoan, Florenz 1976. Viele Einzelheiten berichtet der Dizionario biografico degli Italiani (DBI) Bd. 32 unter Dandolo, Andrea. 2 Zur locorum mutatio äussert sich Petrarca auch im Secretum 3,8,7 und passim. 3 Ad. Lucil. 2,1. 4 Zur Wichtigkeit des Reisens vgl. vor allem Fam. 9,13. 5 Vatia identisch mit Vatius; erwähnt bei Sen. Ad Lucil. 5,5. 6 Ad Lucil. 55; 122,10–13 über Schlemmer, die ihr ganzes Vermögen mit Wohlleben und Faulenzen vertrieben. 7 Vgl. oben Abschnitt 2 das Seneca-Zitat. 8 Eine Meinung Homers, dargelegt in seiner Odyssee, wird von Vergil übernommen und in der Aeneis ausgeführt. Vergil ist der lateinische Dichter schlechthin. 9 Vgl. Fam. 9,13,27. 10 Hor. Ars 142. 11 Liv. 5,55,1. 12 Furcht vor ewigen Strafen hat Petrarca immer wieder geäussert; vgl. z. B. Fam. 8,7,26; 10,3,42; 14,1,13 f. 13 Aen. 6,730. 14 Somn. Scip. 3,6, bei Cic. De rep. 6,15,15. 15 Ad Helviam 6,7–8. 16 Ps. 10 (11),4; 102 (103),19. 17 Zu diesen Aussagen vgl. Secretum 3,8,7 über Ortsveränderung, aber auch 2,13,1 über Trübsinn. 18 Im Lateinischen wie oft für Freundesliebe: caritas. 19 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 171 und 176; auch Petr. corresp. 73.

Fam. 15,5, an Pierre d’Auvergne, Abt von Saint-Bénigne1 Über Persönliches und über den Aufschub der Italienfahrt des Cäsars.2 1. Der Angesprochene kann sein langes Schweigen nicht mit seinem Schreibstil entschuldigen. 3. Petrarca dankt für eine Ermahnung. 4. Er bedauert eine verspätete Herausgabe seiner Invektive gegen die Mediziner. 6. Auch ist er enttäuscht, weil Karl IV. seine Italienfahrt aufschiebt. 9. Für die Erhaltung Italiens wird Gott selber besorgt sein. An der Quelle der Sorgue am 3. April (1352).

1. Ein prächtiges und wahrhaft neuartiges Kunststück hast Du angewendet, als Du, geschätzter Vater, statt Deine Briefschulden mit Schreibfaulheit oder vielen Beschäftigungen zu erklären, mit einem Hinweis auf Deine „gewisse Ehrfurcht vor meinem Stil“ Dich ganz bestaunenswert entschuldigt hast. Indem Du mit sorgfältigster Wortwahl und ausgesuchter Höflichkeit mir etwas von Deiner „Bewunderung für meine Feder“ erdichtetest, wurde ich gezwungen, über die Deine mich nicht wenig zu wundern. 2. Entweder merkst Du nicht oder hoffst, dass ich nicht merke, wie Du – was vielen oftmals unterläuft – vom eigenen Scharfsinn hintergangen wirst und Dich durch Deine Entschuldigung mehr als durch etwas anderes zum Schuldigen erklärst. Dein Schreiben bezeugt mir nämlich für die Zukunft, dass Du nicht bloss mir, sondern auch Cicero gegenüber grossartig auf alles antworten kannst, und es bezeugt mir für die Vergangenheit, dass Dir nichts anderes als Zeit oder Lust gefehlt hat, mir zu antworten. Ich wusste, dass es so sei, doch Dein Schreiben hat erreicht, dass Du es niemals wirst leugnen können! 3. Lassen wir das für den Augenblick! Dir (jetzt Vater,3 vorher Bruder) sage ich für die mir übersandten Bücher überströmenden Dank. Aber weitaus am meisten danke ich Dir für die äusserst knapp gefasste Ermahnung, mit welcher Du mich gegen das, was mir bevorsteht, zu einem guten Teil wappnest und stärkst, und Deinen Hinweis nehme ich mir zu Herzen. Ich hatte das selbe früher auch verspürt und mir schweigend gemerkt, aber vieles vermag bei einer schwankenden Einsicht die Autorität eines Belehrenden. 4. Was ich vermutete, weiss ich. Meine Abhandlung an die Adresse jener modernen Anhänger des Galenos,4 welche meinen, Gesundheit, Krankheit, Tod und Leben der Menschen müssten ihrem Scharfsinn unterstehen,5 wird also den Bestimmungsort erst später, als vorgesehen, erreichen. Das vernehme ich ungern. Ich kenne ihre Verrücktheit. Sie sind überzeugt, etwas Grossartiges ausgesprochen zu haben, und reden sich leichtfertig ein, ich hätte, um sie zu widerlegen, lange und reichlich geschwitzt. Aufgeblasene, hohle Kreaturen sind das, sehr geneigt, sich ein Urteil über sich zuzutrauen und vor sich eine sonderbare Hochachtung zu haben und zu nähren. Was sie aber in Wirklichkeit sind, das erfahren die Menschen dank ihrer Leichtgläubigkeit tagtäglich in der Gefährdung ihres Lebens. 5. Mögen sie

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doch vermuten, was sie wollen! Gering wird dieser Irrtum im Vergleich zu grösseren sein. Du jedenfalls weisst von einem Teil der Schrift so gut wie ich, und die Wahrheit weiss es von der ganzen,6 dass ich nicht mehr als einen Tag, ja nicht einmal einen ganzen, und von einer einzigen Nacht nur die letzten Stunden aufgewendet habe, wonach die Arbeit allerdings mehrere Tage in den Händen des Kopisten hängen blieb. 6. Was nun die Italienfahrt unseres Herrn,7 auch die Deine und die von uns allen betrifft und die ich nahe wähnte, werde ich durch Deine Nachricht eines andern belehrt. Dass mir meine falsche Hoffnung genommen wird, bin ich froh, doch dass sie falsch war, bekümmert mich. Glorreich schien dieser Italienzug ja zu werden und nützlich für die Welt, aber „das Schicksal verwehrt es“, um das Wort eines Dichters zu verwenden.8 Auch fürchte ich, unserem Cäsar genüge es zu leben, indem er das dem heiligen Scheitel geschuldete Diadem verachte, auch keine Neigung verspüre, für das Imperium zu sorgen und einen besonders strahlenden Ruhm zu erwerben. 7. Was tut er denn und was denkt er? Wirklich, wenn er – zufrieden mit seinem Germanien und mit den Gliedern des Imperiums – das Haupt der Welt, Italien, im Stich lässt, kann er ein deutscher König sein, ein römischer Kaiser aber nicht. Ich hoffte wie ein Dummkopf, mit meiner doppelten Aufmunterung,9 die ich für ihn, freilich ohne viel Kunst, aber vertrauensvoll und mit grossem Feuer verfasst hatte, ihn aufgerüttelt, um nicht zu sagen ‚entflammt‘ zu haben. Doch wenn ihn weder überragende Ehre noch unermesslicher Nutzen und auch nicht der günstige Zeitpunkt zur Übernahme der höchsten Herrschaft bewegen, wie wäre da verwunderlich, wenn blosse Worte ihn kalt lassen? 8. Ich wäre völlig niedergeschlagen, hätte ich nicht durch viele Erfahrung gelernt, um Vergängliches solle man sich nicht bekümmern. Beinahe alle Hoffnungen und Befürchtungen, nicht allein die meinen, sondern auch die der Sterblichen insgesamt, erwartet das selbe Schicksal: Sie enden im Nichts. Fast wie Spinnengewebe ist alles, was unter der Sonne gewebt wird. Was soll ich sagen? „Nicht alles können wir alle,“ wie Maro meint.10 „Wer es fassen kann, der fasse es!“11 Wahrhaftig wäre nämlich den Regenten eine heroische Tugend nötig, welche Vergil12 eine „brennende“ und Lucan13 eine „feurige“ nennt. Wird diese aber nicht bei der Geburt vom Himmel her geschenkt, ist sie schwerlich zu erlangen. 9. Was also entrüste ich mich? Ich ein bloss kleinstes Teilchen der Republik! Was quäle ich mich? Was betrübe ich mich? „Ein Fremdling bin ich und ein Pilger auf Erden wie alle meine Väter.“14 Ein Ausgestossener und ein ängstlicher Wanderer auf kurzer Strasse. Ich lebe und weiss nicht, wie lange, und sterbe und gehe zu meinem wahren Vaterland. Italien wird am Fuss der Alpen und zwischen zwei Meeren weiterbestehen, wie es seit Anfang der Welt bestanden hat. Und wenn ihm die Hilfe eines weltlichen Königs fehlen

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sollte, wird es das Erbarmen des ewigen Kaisers erflehen. Glaube mir aber, Vater: Etwas Grosses ist es, auf dem Stuhl Petri zu sitzen, und etwas Grosses auf dem Stuhl Caesars!15 Lebe und lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 3. April mit dem Hirtenrohr (1352).16

Anmerkungen 1 Der Adressat gehörte zum Gefolge des Kardinals Guy de Boulogne. Zur Person vgl. Fam. 9,9; 9,13 und 15,6, sowie das Personenreg. 2 Als Cäsar bezeichnet Petrarca den deutschen König Karl IV. regelmässig schon vor Empfang der Kaiserkrönung; zum Kaisertum ist dieser als König der Römer bereits bestimmt. Wo die Bezeichnung Caesar nicht Eigenname, sondern Titel ist, wird sie in diesen Texten deutsch (mit ä) geschrieben. 3 Schon in Fam. 9,9,6 wird Pierre als Abt bezeichnet; er war es damals noch nicht; Petrarca setzt aber in die Überschriften seiner Briefe oft die erst später erworbenen Titel. 4 Petrarca schreibt Galienos; er meint die Mediziner ganz allgemein als Schüler des bedeutenden Mediziners Galenos aus Pergamon, 129–199 n. Chr. Vgl. Fam. 15,6,1–6. 5 Vgl. Fam. 5,19 passim und speziell 6 ff. 6 Die ganze Wahrheit ist Gott. 7 Petrarca schreibt nostri ducis. Damit ist der Kardinal Guy de Boulogne gemeint, der zusammen mit Abt Pierre, Petrarca und andern Personen den Böhmenkönig Karl abholen sollte; vgl. Wilkins, Studies 107–111; zum Kardinal vgl. Fam. 13,1 und 14,7. 8 Verg. Aen. 4,440. 9 Vgl. Fam. 10,1 und 12,1 an Karl IV. 10 Verg. Ecl. 8,63. 11 Mt. 19,12. 12 Aen. 6,130. 13 Phars. 9,7. Vgl Fam. 20,2, wo den Nordländern dieses Feuer, die Begeisterung für die Herrschaft, abgesprochen wird. 14 Ps. 38,13; dazu vgl. 2 Cor. 5,6 f. 15 Der Franzose Pierre wird über die beiden Stühle anders gedacht haben als der Italiener; vgl. Fam. 15,6,7 ff. 16 Zu diesem Brief 15,5 vgl. Wilkins, Studies 107–111 und 119–123; und Petr. corresp. 73.

Fam. 15,6, an den vorgenannten Abt Pierre1 Gegen feindselige Interpreten. 1. Petrarca streitet nicht mit allen Ärzten, aber mit den schlechtesten. 3. Er nimmt sich einen bestimmten vor. 5. Dieser hat gegen Petrarca eine Schrift verfasst, die von Unkenntnis zeugt. 6. Ihn ausfindig zu machen, war schwierig. 7. Aus den Kreisen der selben Gegner kommt Kritik zu Worten Petrarcas über den Stuhl Petri. Doch sie sollen den Worten nichts unterschieben. 9. Petrarca zitiert den Kirchenlehrer Hieronymus. An der Quelle der Sorgue, am 17. April (1352).

1. Einen mächtigen Streit führe ich mit den Ärzten. „Wie kann man?“ wirst Du fragen, „hast Du keine Angst vor dem Fieber?“ Ich fühle mich nicht durchaus sicher, doch von diesen Ärzten da erhoffe ich nichts. „Und was denn,“ fragt wohl einer, „hast Du mit ihnen zu schaffen?“ Überhaupt nichts, ausser dass ich ihre Gefühle mit der Wahrheit verletzt habe und diese Verletzung nicht bereue. In der Tat, wenn die Wahrheit Feinde erzeugt, werde ich entweder immerzu schweigen oder niemals von Feinden frei sein. 2. Doch dass ich nicht mit allen, sondern nur mit den schlechtesten Krieg führe, zeigt schon die Überschrift meiner Abhandlung; es ist der unverschämte und verrückte Arzt, an den sie sich wendet.2 Und wer sich betroffen fühlt, ja der ist nun allerdings dieser unverschämte und verrückte Arzt, den ich anspreche. Nicht dass es bloss einen einzigen dieser Art gäbe; aber oft wirkt die Einzahl eindrücklicher, und oft hat aus einer Herde ein einzelner sich zum Anführer des Wahnsinns aller gemacht. 3. Diesem also musste ich mich in einem Einzelkampf stellen und an diesem einen die Unverschämtheit der vielen zurückweisen. Es sind da nämlich mehrere, die ob der massvollen Zurückhaltung ihres Gegners triumphieren und aus dessen Schweigen die Keckheit zum Reden schöpfen. Ein unerträgliches Geschlecht ist das und ein Gesindel von Zänkern, das man eben mit Zänkereien entkräften muss. Wie es im Augenblick um den literarischen Streit bestellt ist? Willst Du es wissen, kann ich Dir aufs genaueste zeigen, was in meinem Lager geleistet wird. 4. Die Streitsache wird jetzt mit Spott behandelt und der geschwätzige, hilflose Gegner dem Gelächter preisgegeben, ganz so, wie ich im längeren Brief am Ende gesagt habe: Meine Stacheln habe ich nicht abgeworfen; spüren wird das jeder, der sich etwa regen sollte. Will sich einer rächen, wird er begreifen, man behellige meine Feder nicht ungestraft. Jener Gewisse wird, so meine ich, wünschen, er hätte nicht begonnen. Doch was geschehen ist, wird durch Reue nicht behoben; aufzugeben ist für ihn beschämend, und weiter zu streiten ist für ihn peinlich. Daher kann man sehen, wie der Kerl nun zittert und bebt. 5. Weil er sich aufs Reden nicht versteht, geht er im Stadtgebiet herum und sucht sich zur Hilfe das Almosen eines diktierenden Plebejers; denn, wie ich kürzlich vernommen habe, ist jene Schrift, die

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Du gesehen hast und in der er mich erstmals mit schamlosesten Worten angriff, das Fabrikat eines mir unbekannten Stümpers aus den Bergen. Mir tut dieser Wahnsinn ja leid, und oft, so gestehe ich, fällt mir ein, ich sollte freundlicher handeln und jenem ohne Beschimpfungen zeigen, wer er ist. Wäre das möglich, würde damit auch sein aufgeblasener Hochmut herabgedrückt; doch ist es sehr schwierig, einer verhärteten Brust eine neue Lehre einzuflössen. Zuerst müsste er den Irrtum ablegen, damit im vollbesetzten Kopf endlich Raum für die Wahrheit entstünde. Daher habe ich verzweifelt aufgegeben. 6. Anfänglich wusste ich übrigens nicht, wo der Kampf mit dem Feind statthaben sollte. Ich konnte in der Finsternis sozusagen von Nisos durchbohrt werden und, ohne es zu wissen, mit gezückter Feder „gegen Euryalos vorgehen“.3 Ich hatte allerdings meine Vermutungen und täuschte mich nicht in der Voraussage, woher die Pfeile des Wortgefechts auf mich ausgeschickt würden. Kaum waren die Hinterhalte aufgedeckt, hatte ich gleich die Gestalt des schlecht getarnten Gegners vor mir; und genau hinschauend, las ich im Gesicht dieses Mannes gewisse Zeichen einer sturen und anmassenden Ignoranz. Schon meine ich, das eherne Haupt zu kennen, und ich weiss, dass man manche eher zerbrechen als beugen kann. Somit überlasse ich ihn sich selber und wahre mir meine alte Gewohnheit, um nichts verwegen zu behaupten. Jener aber wahre die seine, nämlich begierig zu streiten und vertrauensvoll über Unbekanntes zu richten. 7. Was also willst Du? Verlangst Du etwa noch einen anderen Nachweis für Frechheit? Ich habe Dir kürzlich einen Brief geschrieben und mit Rücksicht auf ein brennendes Thema am Ende hinzugefügt:4 „Etwas Grosses ist es, auf dem Stuhl Petri, etwas Grosses, auf dem Stuhl Caesars zu sitzen.“ Hier hat Dein Bekannter, welchem Du den Brief gezeigt hast, aufbegehrt. Was soll’s? Habe ich etwas Falsches gesagt? Man frage jene, welche die Sitze besetzen! Sie werden, wie ich vermute, behaupten, man könne nichts Richtigeres sagen. Doch wie legt der boshafte Deuter die Rede aus? Er sagt, ich wollte behaupten, dass der Stuhl Petri in Rom sei und nicht anderswo. 8. Doch wirklich, es geht gar nicht um die Frage, was ich sagen wollte, sondern was ich sagte.5 Denn was ich hätte sagen wollen, das könnte man, so glaube ich, selbst mit den Prognostika des Hippokrates6 nicht herausfinden. Ich weiss, dass der Stuhl Petri dort war, wo immer Petrus seinen Sitz hatte, und dass er jetzt da ist, wo sein Nachfolger sitzt. Auch ist mir nicht unbekannt, dass Petrus in Antiochien seinen Sitz hatte, bevor er nach Rom kam. Und obwohl kein Zweifel besteht, dass der eine Ort unvergleichlich heiliger und gesünder ist als der andere, ist es doch Sache des Herrn zu wählen, in welcher Gegend sein Haus zu stehen hat. Und könnte es anderswo vielleicht ehrenvoller sein, wird dennoch jeder Ort, den er zu seinem Sitz gewählt hat, eben dadurch geehrt sein. 9. So meine ich, und von all dem, was der missgünstige Kritiker mir vorwirft, habe ich unter dem Schreiben

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überhaupt nichts gedacht. Auch habe ich keinen Ort vorgeschrieben, wo der notwendigerweise zu sitzen habe, welcher ja der Herr über alle Orte ist. Und obwohl ich mich nicht den Bächlein der Dekrete nähern möchte, habe ich immerhin aus der Quelle des Hieronymus7 folgendes Wort geschlürft: „Wenn man nach Autorität fragt, so ist der Erdkreis grösser als Rom; und wo immer der Bischof ist, sei’s in Rom oder in Gubbio, in Konstantinopel oder in Reggio, in Alexandrien, in Theben oder in Worms, besitzt er die selbe Bedeutung und das selbe Priesteramt.“8 10. Und eben weil ich all das sehr wohl weiss, halte ich mir jene Art von Albernheit vom Leibe. Nur das eine wollte ich sagen und habe ich gesagt: Etwas Grosses sei es, auf dem Stuhl Petri zu sitzen, wo immer er stehe.“ Und ich tat es nicht vorbedacht, sondern zufällig. Denn um Caesars Sitz war’s mir zu tun und nicht um den des Petrus, wie Du weisst. Beachte also, dass die Auslegung eher von einem böswilligen als scharfsinnigen Denker stammt. Jener kläfft und würde viel lieber beissen, wenn ihm die Zähne nicht fehlten. Du aber lebe glücklich und lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 17. April (1352).9

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 15,5,4 und Überblick. 2 Das Schreiben spricht zum procaci et insano medico und machte wohl einen Teil des ersten Buches Invectarum in medicum aus. 3 Zum Gemetzel der beiden Freunde in der Finsternis eines Waldes, das zu irrtümlicher Tötung führte, vgl. Verg. Aen. 9,424; auch Fam. 13,10, Anm. 4. 4 Vgl. Fam. 15,5 Ende. Das Thema betraf die Kaiserkrönung Karls IV. 5 Die Deutung des Kritikers war naheliegend; vgl. Sine nom. 17; lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 196–212. 6 Genannt wird der berühmteste Arzt der Antike, ca. 460–370, und hingewiesen auf seine Schriftgruppe Prognostikon. Der Kritiker, dem Petrarcas Brief gezeigt wurde, stand vielleicht auf der Seite der Ärzte. 7 Epist. 146,1,7. 8 Lateinisch: …ubicunque fuerit epyscopus, sive Rome, sive …, eiusdem meriti est et eiusdem sacerdotii. Decr. Gratian. pars 1, dist. 93,24. 9 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 109 f. und Petr. corresp. 73.

Fam. 15,7, an Stefano Colonna, Prior von St-Omer1 Von den Wirren fast in der ganzen Welt. 1. Lage in Rom. 3. Lage im cisalpinen Gallien bis zum Rubicon. 4. Lage in Venezien. 5. Lage in Tuszien. 6. Kämpfe zwischen Venedig und Genua. 8. Unruhen in der Gegend von Piceno, Ascoli und Ancona. 9. Lage in der Campagna von Latien bis Terra di Lavoro, Capua und Neapel. 10. Der Niedergang des Reiches Neapel. 11. Zustände in Gallien, Germanien, Britannien und Spanien. 13. Über Sardinien und die andern Inseln im Mittelmeer. 14. Über das häretische Griechenland. 14. Verlust der Heiligen Stätten in Jerusalem und Verluste des Christentums in Asien und Afrika. 16. Unerwartete Entwicklungen bei den Mächten Europas. 19. Ratschlag, den Wohnort nicht zu wechseln. 21. Von der Kunst, im Versteck zu leben. (1352)

1. Entweder ich täusche mich oder es steht fast alles, was sich irgendwo in der Welt entdecken lässt, Deinem Planen und Erwägen, Du Hochgesinnter, entgegen. Schau Dir die Roma an, die gemeinsame Heimat,2 unsere Mutter; sie liegt darnieder und wird (welch unwürdiger Anblick!) von all den Mächten zu Land und Meer getreten, die sie einst selber mit siegreichem Fuss getreten hat. Und wenn sie sich auf dem Lager ab und zu vielleicht aufstützt, als wollte sie sich erheben, sinkt sie gleich wieder zurück, gestossen nicht von fremden, sondern von den Händen der Ihren. 2. Ob nun gar keine oder immerhin eine geringe Hoffnung bestehe: Jedenfalls fürchte ich sehr, deren ganze Erfüllung liege jenseits unseres Zeitalters. Erbarmen wird sich vielleicht, ja erbarmen über die heilige Stadt Jener, der sie zum Sitz seiner Nachfolger erwählte und der, nachdem Er sie zum weltlichen Haupt des Erdkreises erkoren hatte, auch zum Fundament des religiösen Lebens bestimmte. Erbarmen wird er sich dereinst, jedoch in so später Zeit, dass sich unser kurzes Leben nicht bis dahin erstrecken kann. Und so gibt es eben da für Deine Augen und für Deine Seele nichts Erfreuliches. 3. Was sage ich vom übrigen Italien? Seine Städte und seine anderen Orte aufzuzählen, wäre zu zeitraubend, weshalb wir ganze Provinzen zusammenfassen. Das cisalpine Gallien, wo sich das Gebiet befindet, das beim Volk Lombardei heisst und von den Gelehrten Ligurien, Aemilien und Venezien genannt wird, fast alles, was zwischen Alpen, Apennin und der alten Grenze Italiens am Rubicon liegt, wird, wie gross seine Ausdehnung sei, von niemals endender Tyrannei beherrscht. Und dessen nach Westen gewendeter Teil am Fuss der Berge (ach entsetzliche Fortuna!) wurde zum Tor für Tyrannen aus dem jenseitigen Gallien.3 4. Daher wirst Du nicht einmal in dieser Gegend einen Platz finden, wo ein Liebhaber hoher Gesittung und Beschaulichkeit zu ruhen vermöchte;4 mit Ausnahme der edelsten Stadt der Veneter, die allerdings, obwohl bis heute ein einzigartiger Tempel der Freiheit und Gerechtigkeit, jetzt von schrecklichen Kriegswirren erschüttert wird5 und überdies in der Hoffnung, ihren alten Frieden zurückzugewinnen, sich zuneh-

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mend stärker dem Handelswesen statt den Musen anbequemt,6 so dass ich zweifle, ob Dir gefallen könnte, da Deinen Wohnsitz zu nehmen. 5. Von Tuszien, dem einst blühendsten aller Gebiete, berichtet Livius,7 der Ruhm seines Namens und seiner Schätze habe einst die ganze Welt erfüllt. Dass es schon lange vor dem römischen Imperium sich grosser Erfolge freute, dafür gibt es viele Zeugnisse, vor allem auch dieses, dass ihm als einziger Macht, ja mit Duldung aller andern, vergönnt wurde, beiden Meeren, die Italien umgürten und deren Ufer zahlreiche Volksgruppen bewohnen, auf unbegrenzte Dauer seinen Namen zu geben.8 Heute indessen geht Tuszien mit schwankenden Schritten zwischen einer gefährdeten Freiheit und einer gefürchteten Knechtschaft nur stolpernd voran,9 und auf welche Seite es fallen werde, ist ihm ungewiss. 6. Die maritimen Ligurer, die nach einem Wort des Florus10 zwischen Varo und Magra wohnen und deren Hauptstadt einmal Albenga war, heute aber Genua ist, treiben ihre Geschäfte und teilen ihre Zeiten gemäss ihrer schon alten Unsitte auf eine Art, dass das Ende eines auswärtigen Krieges den Anfang eines inneren anzeigt. Damit sich das nicht eben jetzt wiederhole, habe ich sie kürzlich in einem Schreiben ermahnt! Und wäre dieses nur so wirksam wie gutgemeint!11 7. Bis heute wüten dieser Landstrich und jener, der auf der anderen Seite Italiens gegenüber Illyrien liegt, in einem gewaltigen Donnerwetter an Kriegen und einem wahren Platzregen an Verheerungen gegeneinander. Denn noch immer, wie Du siehst, stehen Genuesen und Veneter12 unter Waffen. Damit nämlich von unserem Brauchtum nur ja nichts verloren gehe, zerfetzen wir einander und zerfleischen uns gegenseitig.13 8. In der ganzen Gegend von Piceno, wo heute Ancona Hauptstadt ist, und wo einst, gemäss dem selben Florus,14 Ascoli diesen Rang innehatte, tobt unter hochgehenden Wogen unablässiger Parteihader und führt zum heftigsten Zusammenprall; und die natürliche Fruchtbarkeit des hervorragenden Bodens wird durch die schlechte Gesinnung der Landbewohner vernichtet. 9. Jene herrliche Campagna, wo einst Plotin,15 dieser grossartige Mann, sich einen Sitz zur edlen Musse gewählt hat (nämlich dort, wo man sowohl gegen die Herniker wie gegen den Algidus16 blickt), ist als Philosophenwinkel nicht mehr geeignet, ja nicht einmal für Reisende sicher, weil besetzt von stets herumstreifenden Strassenräubern. Und im Grenzgebiet von Capua und Neapel, wo das Land als wahrhaft zutreffendes Omen den Namen „Terra di lavoro“17 annimmt, haben die Einwohner dasselbe Los wie die von Apulien, Brutien, Kalabrien und das ganze Königreich Sizilien:18 Innerhalb und ausserhalb zersetzt es sich und reibt sich auf.19 10. Dabei hatte jene Region als eine eigene Sonne ihren Roberto besessen, jenen hervorragendsten Menschen und König, der – wie einst von Platon20 gesagt wurde – am Tag, da er das Zeitliche überwand, „gleich der Sonne vom Himmel zu scheiden schien.“ Willst Du mir nicht glauben, so frage die Bewohner seines Reiches, wie lange die Sonne schon ausbleibt und wie da weit und breit alles in der Finsternis abscheulich und trostlos ist.21 11. Und über den Ort, an welchem Du

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selber wohnst, über das „Kleine Rom“, wie man sagt, das letzte Babylon, wie ich auszuschreien pflege,22 braucht man kein Wort zu verlieren, so ganz und gar ist nicht allein bei den nächsten Nachbarn, sondern auch bei den Arabern und Indern die Sache bekannt. 12. Schweife im Geist aber weiter! Ganz Gallien und jener äusserste Rand unserer Zone und das darüber hinaus geworfene Britannien schwächen sich mit gewaltigen Kriegen.23 Germanien krankt nicht minder als Italien an innerem Aufruhr und verzehrt sich in seinen eigenen Bränden.24 Spaniens Könige kehren ihre Waffen gegeneinander.25 Mallorca hat kürzlich mitangesehen, wie sein König verbannt, darauf niedergemetzelt wurde und schliesslich nichts war als ein verstümmelter Kadaver.26 13. Sardinien leidet unter unwirtlichem Klima und schändlicher Knechtschaft. Korsika, fürchterlich und schmutzig, ist wie andere kleinere Inseln unseres Meeres wegen der Piratenüberfälle berüchtigt und verachtet. Ganz Trinakrien27 gleicht dem brodelnden Aetna, lodert in den heftigen Flammen des Hasses, weiss nicht, ob es eher italienisch oder spanisch28 sein will, ist daher keines von beidem, von unbeständiger Gesinnung, in unbestreitbarer Knechtschaft, die es nicht verdient, ausser es verdiene sie, weil es nicht nach Freiheit verlangt. 14. Rhodos, des Glaubens Schild,29 liegt am Boden, unverwundet und ruhmlos. Kreta, die alte Heimstatt des Irrglaubens,30 lebt für Fremde; dagegen irrt Griechenland für sich, wandelt für sich, drescht für sich,31 weidet nur sich und hat – die Speise des Heils nur schlecht wiederkäuend – unsere Futterkrippe verlassen.32 In den übrigen Teilen Europas ist Christus teils unbekannt, teils ungeliebt. Zypern, dem ein bewaffneter Gegner fehlt,33 erliegt der waffenlosen und weichlichen Musse, der Wollust, der Ausschweifung, diesen übelsten Feinden, und ist für den mutigen Mann kein Wohnsitz. Klein-Armenien, ringsum von Feinden des Kreuzes umzingelt, schwankt zwischen zeitlichem und ewigem Tod.34 15. Der Garten und das Grab des Herrn, zweifacher Hafen und Ruhestätte der Christen, wird von Hunden35 zertreten, und ein sicherer und freier Zugang zu ihnen ist für Pilger nicht offen. Das ist ein gewaltiger Frevel unseres Jahrhunderts und eine ewige Schmach. Sind wir etwa schon tot, dass wir nicht lieber zu sterben, als diese Schande zu ertragen bereit sind? Ich übergehe ganz Asien und Afrika. Obwohl zuverlässige Geschichtswerke und das Zeugnis der Heiligen dafür bürgen, dass jene sich Christi Joch einstmals beugten, ist ihr Verlust im Verlauf der Zeit uns wertlos, ja verächtlich geworden, und statt sie mit Waffen zurückzuerobern, geben wir sie dem Vergessen anheim und suchen Trost im Verschweigen. 16. Näher liegendes Unglück bedrückt uns schwerer. Wer hätte denn geglaubt, dass eine unbedeutende Flotte feindlicher Genuesen mit ihren Schiffen einst bis zum Lido der Veneter gelangen36 und dass die Briten mit bloss einer kleinen Schar in Gallien einbrechen würden?37 Doch von beidem haben wir innerhalb kurzer Zeit vernommen. Wo gäbe es, ich bitte, ein sicheres Verweilen? Venedig und Paris

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schienen von allen Städten unserer Erdkreise die sichersten zu sein; die eine war für die italischen Gebiete, die andere für die im Norden der Alpen eine Feste. Da wie dort ist vor kurzem nach einem ungehinderten Überfall der Feinde ein ungeheurer Aufruhr entstanden.38 17. Und wer hätte je vorausgeahnt, dass der König der beiden Gallien39sein Leben in englischer Haft verbringen und da vielleicht gar sterben werde?40 Sieh, schon wissen wir über den Kerker Bescheid und warten in Furcht auf ein Ende. Und wer hätte geweissagt, ein Heer der Engländer werde vor den Toren von Paris erscheinen? Sieh, schon hat es sich ereignet.41 Und doch, wie sollte einer (ausser er wisse nichts von Geschichte) über die Haft eines Königs und die Belagerung einer Hauptstadt erstaunt sein? 18. Ein römischer Kaiser hat in persischer Haft und elender Knechtschaft sein Lebensende zugebracht.42 Selbst Rom hat vor sein Tor beim Quirinal den kampfbereiten Hannibal mit seiner Heerschar heranrücken sehen,43 und hätte die Stadt diesen Schrecken mit grösseren verglichen, wäre er erträglicher erschienen, denn wirklich wurde sie ja nach vielen Jahrhunderten von den Goten eingenommen und war schon früher von den Senonen besetzt worden.44 Doch mit diesen Beispielen will ich nur eines sagen: In der Geschichte der Sterblichen ist nichts dermassen jammervoll, dass es nicht auch den angeblich sehr Glücklichen zustossen könnte. 19. Da es sich so verhält, bester der Männer, verstehst Du, wie Du zu handeln hast. Ich komme daher vielleicht als überflüssiger Ratgeber, doch auch als getreuer, und lege Dir nahe, was ich mir selber eingeschärft haben möchte. Tu, was gewisse reinliche Menschen zu tun pflegen, ja nicht nur Menschen, sondern auch säuberliche Tiere, die sich vor Schmutzigem fürchten und nach dem Verlassen ihrer Höhlen, sobald sie ihren Umkreis von Kot bedeckt sehen, ihren Fuss zurückziehen und sich erneut in ihrem Schlupfwinkel verstecken. 20. Da Du auf dem ganzen Erdenrund nirgends einen Ort der Ruhe und Erholung finden kannst, kehre zu Deinem Lager und zu Dir selber zurück! Wache mit Dir, rede mit Dir, schweige mit Dir, wandere mit Dir und verweile mit Dir! Und fürchte nicht, allein zu sein, wenn Du bei Dir selber bist. Wenn Du nämlich nicht bei Dir wärst, müsstest Du sogar inmitten der Menschen allein sein. Bereite Dir mitten in Deinem Innern einen Ort, wo Du geborgen bist, wo Du Dich freust und, ohne gestört zu werden, ruhst, wo aber Christus bei Dir wohnt, der Dich in Deiner Jugend dank dem heiligen Priesteramt zu seinem Vertrauten und Gefährten gemacht hat. 21. „Und mit welcher Kunst“, so fragst Du, „kann ich das erreichen?“ – Die Tugend allein ist mächtig, das alles zu gewähren. Durch sie erreichst Du, überall heiter und glücklich zu leben und inmitten von Übeln keinem Übel Zutritt zu gewähren. Nichts sollst Du begehren, als was glücklich, nichts sollst Du abwehren, als was elend macht. Sei gewiss: Durch nichts als durch Deine Gesinnung wirst Du glücklich oder elend, denn alles Äussere ist nicht Dein Eigenes, und alles Deine ist bei Dir. Dabei kann Dir nichts Fremdes gegeben, Dir nichts Eigenes genommen

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werden, und welchen Lebensweg Du Dir wählst, liegt bei Dir. Achte darauf, die Meinungen der Menge zu meiden und Grundsätze der Wenigen zu befolgen, mit hohem Sinn Fortuna zu verachten, da sie ohnehin mehr Heftigkeit als Wirkung zeige und häufiger drohe als zuschlage, seltener den Weg verbaue als aufbegehre, gegen Deine Güter45 nichts, mit ihren eigenen nichts nicht vermöge. Befleissige Dich, ihre Schmeicheleien zu überhören und ihre Geschenke nur als Leihgabe zu behandeln. 23. Würdest Du aber irgendeinmal zu einem höheren Rang aufsteigen, wäre das der göttlichen Milde zuzuschreiben, und geschähe das nicht, wäre gleichmütig zu bedenken, dass im Reich Fortunas die Guten unterdrückt und die Schlimmsten gefördert werden. Dann würdest Du erkennen gemäss dem Psalmisten,46 „welches Ende sie nehmen“, und Dich erinnern, dass wir hier einen Weg der Entbehrungen haben, nicht aber das Vaterland der Belohnungen. Lebe wohl! (1352)47

Anmerkungen 1 Zum Adressaten des Briefes – dem Römergeschlecht der Colonna angehörig –, vgl. Claude Cochin, Recherches sur Stefano Colonna, in: Revue d’histoire et de littérature religieuses 10, 1905,352–383.Dotti, Vita, Index und DBI Bd. 27, auch die andern an Stefano gerichteten Briefe Fam. 20,11; Sen 15,1–2 und Var. 52. Saint-Omer liegt im Dép. Pas-de-Calais; der Adressat hielt sich aber zumeist in Avignon auf. 2 Petrarca war Römer dank einem ihm bei der Dichterkrönung verliehenen Privileg. Übrigens war gemäss seiner Überzeugung Rom die Heimat aller Menschen. 3 Im Piemont waren die Anjou mächtig geworden, Mailand drängte gegen das Gebiet vor; Ansprüche erhoben da auch die französischen Könige aus dem Haus der Valois, schliesslich auch die Markgrafen von Monferrat. 4 Es scheint, dass Petrarca die verschiedenen Höfe (von Verona, Padua, Mantua, Modena etc.) in den genannten Gebieten, wo die herrschenden Familien mit ihm befreundet waren, nicht ausnimmt. 5 Vgl. den Brief Petrarcas an die Gegnerin Venedigs, an Genua Fam. 14,5. 6 Vgl. den Brief an Andrea Dandolo Fam. 11,8,31 und 15,4. 7 Liv. 5,33,7. 8 Das eine Meer ist das tuskische mit dem Namen Tuscum, das andere das adriatische, entstanden aus Atria Tuscorum. 9 Florenz (um von andern Orten des Gebiets zu schweigen), war durch innere Parteiungen zerstritten. Um sich gegen Mailand und andere ghibellinische Mächte zu wehren, suchte es immer wieder Hilfe bei anderen guelfischen Mächten; bekanntestes Beispiel: Gautier de Brienne, Stadtherr 1343–1345. Vorher war zeitweilig König Roberto von Neapel Signore der Stadt gewesen. Vorübergehend war sie 1354 auch bereit, Hilfe von Karl IV. anzunehmen, um sich vor Mailand zu schützen. 10 Flor. 1,19,4. 11 Fam. 14,5,17. 12 Vgl. Fam. 14,5 und 6. 13 Über die feritas der Italiener klagt Petrarca mehrfach; vgl. etwa Fam. 15,8,4. 14 Flor. 1,14,19. 15 Neuplatoniker, * 204, † 270; lebte zeitweilig in der Campagna.

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16 Der Algidus gehört zum südöstlicher Teil der Albanergebirge in Latien. Die Hernikerberge liegen im Nordosten von Latien. 17 Ursprünglich mit der Bedeutung von „gut geeignet für Ackerbau“, aber von Petrarca anders gedeutet. 18 Das Königreich auf dem Festland ohne die Insel Sizilien, die den Namen Trinakrien führte und Aragon unterstand; vgl. unten. 19 Hier steht im Lateinischen laborat, zur Kennzeichnung von Terra di lavoro. 20 Io. Saresb. Policraticus 7,6; vgl. Fam. 5,1,3. 21 Berichte zu Übelständen in Neapel gibt es in Fam. 5,1; 5,3; 5,6; 6,5; 7,1. 22 Vgl. vor allem die Briefe Sine nom. 23 Den Anfang des „Hundertjährigen“ Krieges zwischen England und Frankreich datiert man im Allgemeinen auf 1337/1339 (Kämpfe um die Picardie). 24 Karl IV. hatte sich seine Krone nur mit Mühe gesichert; sein Gesetz über die Königswahl stand zur Zeit, da Petrarca den vorliegenden Brief verfasste, noch aus. Als König von Böhmen war er hauptsächlich mit seinem Reich und dem Ausbau seiner Hausmacht beschäftigt. 25 Die alten Rivalitäten zwischen den Königen von Kastilien und Aragon verschärften sich infolge der Expansionspolitik von König Pedro dem Feierlichen von Aragon, auch wegen des Hundertjährigen Krieges, als sich Frankreich mit Aragon, aber England mit Kastilien verband. Einbezogen in die Auseinandersetzungen wurden vor allem Navarra und Portugal. Zudem herrschten in den verschiedenen Reichen immer wieder schwere Kämpfe um die Thronfolge. 26 Der König Jaime II. von Mallorca fiel im Kampf um sein Reich in einer Schlacht vom 25. Oktober 1349. 27 Alter Name für die Insel Sizilien. 28 Beansprucht wurde es von Aragon. 29 Rhodos stand seit 1310 unter der Herrschaft des Johanniterordens, der sich dem Kampf für das Christentum gegen den Islam verschrieben hatte. 30 Gegen den Irrglauben der Kreter kämpfte schon der Apostel Paulus; vgl. Tit. 1,12 ff. Später, einmal unter der Herrschaft der Sarazenen, dann wieder der Byzantiner, standen sie der abendländischen Kirche fern, auch als sie an Venedig kamen. 31 Anspielung an 1Tim 5,18. 32 Der vollständige Bruch zwischen der griechischen Kirche (Ostkirche) und der abendländischen erfolgte 1054. Aber neue Einigungsversuche mehrten sich später regelmässig bei zunehmender Türkengefahr. 33 Über den moralischen Nutzen eines auswärtigen Feindes sprechen z. B. Fam. 14,5,31 und 14,6,8. Zypern beteiligte sich 1344 an einer Unternehmung gegen Smyrna und eroberte 1361 Attalia. 34 Ewiger Tod droht, so denkt Petrarca, für Abfall vom Glauben, zeitlicher Tod bei Angriffen durch politische Feinde. 35 Dies eine gebräuchliche Beschimpfung der Glaubensfeinde, denen man das Heiligtum hatte überlassen müssen; vgl. Mt. 7,6. 36 Der Hinweis ist vielleicht späterer Zusatz. Grosses Staunen überfiel die Venezianer, als die Genuesen 1353 vor dem Lido ihrer Stadt auftauchten, und desgleichen im Frühling 1355. Vgl. die Briefe Petrarcas an die beiden Städte. 37 Das kleine Heer Engländer vernichtete 1346 das grosse Ritterheer von Philippe VI. Valois bei Crécy. Zu den folgenden Angaben vgl. eine Reihe ähnlicher in Fam. 14,1,27,11. 38 Das Bürgertum erhob sich und verlangte Reformen in der Regierung und Verwaltung. 39 Im Lateinischen wird Gallien in der Mehrzahl gebraucht Aber Petrarca denkt hier nur an das gallische Gebiet im Norden der Alpen, also an Frankreich, nicht auch an das italienische. Vielleicht berücksichtigt er die alte Teilung Galliens im Hinblick auf Forderungen des englischen Königs auf Gebiete in Frankreich.

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40 Jean le Bon geriet in englische Gefangenschaft 1356 in der Schlacht von Maupertuis bei Poitiers und blieb 4 Jahre lang Gefangener, teils in London. Der vorliegende Brief, wenn wirklich schon 1352 geschrieben, muss später durch Petrarca Zusätze erhalten haben. 41 Es geschah nach der Niederlage der Franzosen in der Schlacht von Maupertuis bei Poitiers; vgl. Anm. 40. 42 Gemeint ist Valerianus, Kaiser von 253–260, über den Lactantius, De mortibus persecutorum in einem eigenen Kapitel berichtet. 43 Im Jahr 212 v. Chr. rückte Hannibal von Capua her gegen Rom vor, kehrte aber am Anio im Sabinerland um. 44 Rom wurde von den Westgoten unter Alarich 410 n. Chr. geplündert und war von den Senonen schon im 4. Jh. v. Chr. eingenommen worden. 45 Gemeint sind die eigentlichen, die geistigen Güter, die man nicht Fortuna, sondern sich selbst (vielmehr Gott) verdanke. 46 Ps. 72 (73),17. 47 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 120–123 und Petr. corresp. 73. Spätere Zusätze, wie man sie hier feststellen muss, sind bei Petrarca häufig.

Fam. 15,8, an seinen Lelio1 Beratung über die Wahl eines geeigneten Wohnortes. 1. Kein Platz auf Erden kann Petrarca gefallen, doch redet er sich ein, er befinde sich wohl, wo er ist. 4. Am liebsten wäre er in Rom; jetzt lebt er zu nahe bei Babylon. 7. Er wünscht Auskünfte über die Lage in Rom. 11. Aber verschiedene Höfe laden ihn zu sich. 15. Lautet die Antwort von Lelio ungünstig, wird er für immer an der Sorgue leben. 19. Es bleibt aber dabei, dass er in Rom zu leben wünscht. An der Quelle der Sorgue, am 24. April (1352).

1. Ich schreibe, was Dir auf den ersten Blick sonderbar vorkommen wird. Wenn Du aber Deine Gedanken der Vergangenheit zukehrst und meine Lebensweise (Dir von Jugend auf bekannt) und mein Ziel betrachtest, wird da nichts sonderbar bleiben. Hier die Hauptsache: Kein Ort auf der Welt gefällt mir. Wohin ich meinen müden Leib auch bette, kommt mir alles dornig und hart vor. Ich glaube, jetzt wäre es an der Zeit, ins andere Leben hinüber zu gehen; hier nämlich, so sage ich, fühle ich mich schlecht, ob das nun an mir liegt oder an den Orten oder an den Menschen oder an allem insgesamt. 2. Darüber habe ich recht ausführlich unserem hochangesehenen Stefano2 geschrieben, bin eben darum seit langer Zeit auf Erden ein Wanderer und habe mich deshalb vor kurzem auch selber vor dem Dogen von Venedig, dem erlauchten Andrea Dandolo, entschuldigt.3 Beide Schreiben schicke ich zugleich mit diesem an Dich, denn mit der Sache, derentwegen ich Dich um Rat bitte, haben wohl beide einiges zu tun. Gewiss bezweifle ich nicht, dass man gegen mich vieles vorbringen kann! Doch dass auch möglich sei, auf alles sachlich zu antworten, darauf baue ich. 3. Ein einziges Trostmittel habe ich mir unter so vielen Widerwärtigkeiten mit nicht geringem Aufwand und nicht eben leichter Verstandesarbeit zusammengebraut: Wo immer ich auf Erden wäre, und zwar recht übel, ja sogar schlecht, wollte ich mir doch einreden, es gehe mir gut, und wollte mich selber hintergehen und mich dazu zwingen, nicht zu spüren, was ich spüre. Das ist ein oft nützliches, ja notwendiges und letztes Mittel gegen seine Plagen. Was könnte es helfen, gegen ein unentrinnbares Fatum zu kämpfen und mit innerer Ungeduld und mit Widerwillen all das Lästige seiner Aufenthaltsorte zu vermehren? 4. Wirklich, Du kennst mein Herz. Ist auf Erden etwas zu finden, was mir gefällt, so liegt es in Italien. Und das kann Dich nicht wundern. Denn da ist unsere Heimat, und da sind die Gegenden von einer Beschaffenheit, die selbst Fremde, ja solche von barbarischem Wesen4 erfreut. Umgekehrt ist da allerdings entweder mein Geschick oder dann die Heissblütigkeit der Einwohner von einer Art, dass ich schon lange Zeit fern diesem Land und freiwillig in der Verbannung weile5 und– was Dich wiederum erstaunen könnte, würde es Dir als etwas Neues und zum ersten Mal gesagt6 – oft an der Quelle der Sorgue mich erhole, nämlich auf

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diesem armen, engen, jedoch einsamen, stillen Stück Land, das, weil vergleichsweise wenig fruchtbar, kaum anderen als jenen begehrenswert ist, welche den edlen und beschaulichen Studien obliegen. 5. Was diesen Ort angeht, könnte ich hier höchst geruhsam leben, würde ich nicht durch die von aussen eindringenden Stürme erschüttert. In diesem Hafen schaue ich mich in der Furcht vor mancherlei um, entsetze mich dabei am meisten vor dem benachbarten Babylon, das man römische Kurie nennt, was sonderbar ist, weil es ja, nichts weniger als römisch, nichts heftiger befeindet als Rom.7 Seine Nachbarschaft, sein Anblick, ja sein schrecklicher Gestank sind einem gedeihlichen Zustand durchaus verderblich. Er allein könnte genügen, mich von hier zu vertreiben! Und schweigen will ich von den Nachwehen früherer Stürme, die, aus der nächsten Nachbarschaft blasend, mein geborstenes Lebensschiff bis in diesen Hafen verfolgen! 6. Meine ganze Beratung führte zu folgendem Ergebnis, das Dir – hast Du es nicht vergessen – schon vor zwanzig Jahren bekannt war: Nirgends wäre ich lieber als in Rom und wäre da schon immer gewesen, hätte mein Schicksal es gestattet. Sagen lässt sich mit keinen Worten, wie hoch ich die ruhmvollen Überreste der Königin aller Städte und ihre mächtigen Ruinen und so zahlreichen, herrlichen Spuren mannhafter Grösse verehre, die allen, die da wandeln am Himmel und auf Erden, eine Leuchte vorantragen, um sie zu einem höchsten Ziel zu geleiten. Und ich würde jetzt noch begieriger als früher in eben dieser Stadt – ich möchte sagen können: „der halb zerstörten“ – das Bisschen Rest meines Lebens verbringen. 7. Nachdem ich schon fast alles erprobt habe, neige ich auf keine Seite stärker als dahin; denn wo ich oft als Fremder gewesen, möchte ich endlich ein Einwohner sein, und nachdem ich der Irrgänge durch des Reiches Glieder rings auf Erden jetzt müde bin, wollte ich endlich bei seinem Haupt mich niederlassen und, soweit es hier8 möglich ist, zur Ruhe gelangen. Muss ich noch weiterleben, so werde ich das kaum an einem anderen Ort besser tun; und gewiss wollte ich nirgendwo lieber beerdigt sein.9 Schon schaue ich voraus auf mein Ende und denke an meine allerletzte Behausung. Alles dreht sich schliesslich darum, ob ich tun kann, was ich wünsche. Bei allem Nachdenken erkenne ich ja nicht, was mir an Schwierigkeiten entgegenkommt. Aber wer etwas beginnt, pflegt alles für schwierig anzusehen. Und umgekehrt ist auch wahr, dass manches schwieriger ist, als es aussieht. 8. Bei so gegensätzlichen Sorgen werfe ich meine ganze Last auf Dich. Du, Bruder, hast eine gründliche Kenntnis von meinen Umständen, meinen Fähigkeiten, meiner Habe. Rom kennt niemand besser als Du. Die gegenwärtigen Verhältnisse dort betrachtest Du als Augenzeuge. Würde daselbst von drei Personen auch nur eine einzige noch leben, nämlich entweder jener wunderbare Greis oder jener ruhmvolle junge Mann oder jener hochherzig Heranwachsende,10 und müsste uns nicht scheinen, dass wir aller unserer und des Vaterlandes Leuchten beraubt zu wer-

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den verdienen, dann bestünde für mich kein Zweifel und dann hörtest Du nicht eine Bitte um Rat, nein, dann sähest Du mich persönlich vor Dir. 9. Nun aber bin ich des Rates bedürftig und frage vor allem: Was unternimmt nun Roma, die uns allen gemeinsame Mutter? Und weiter: Wie denkt darüber unser andere heranwachsende Mann,11 auf den die Hoffnung der hochangesehenen Familie überging? Was legt er an Früchten der Tugend, was an Ruhmestaten vor? Wie sehr bestimmt ihn das Ansehen seiner Vorfahren, und wie sehr begeistern ihn ihre Beispiele? Wie denkt er von uns? Wie liebt er die Seinen? Man pflegt in seinem Alter die Zuneigung zu den Seinen leicht zu verlieren. Schliesslich wünschte ich sehr zu wissen, ob Du beschlossen hast, eben da bis ans Lebensende zu bleiben. Das ist für meinen Entscheid von nicht geringer Bedeutung. Wenn Du bleibst, will ich es loben; wenn nicht, muss ich mich wundern. 10. Lange genug sind wir Pilger gewesen, um nicht von Herumgejagten zu reden. Richtig ist, gegen Abend Halt zu machen und Anker zu werfen, damit die Nacht uns nicht als Verirrte überrasche. Was mich angeht, so hast Du schon damals, als die Kurie Babylons noch weniger abscheulich war als heute und wir selber noch kindischer handelten, sehr wohl erkannt, in welchem Mass sie mich beglückte. Nachher hat sich im Verlauf der Zeit bei mir eine Entrüstung12 dazugesellt, während jene einen Zustand erreichte, dass viele, die früher gierig da verharrten, jetzt noch gieriger auseinander fliehen. 11. Doch nichts bleibe vor Dir verborgen, damit Du desto reiflicher überlegst. Ich werde zur einen und selben Zeit von verschiedenen Seiten umworben und zu kommen aufgemuntert. Nach Neapel ruft man mich zum sizilianischen König.13 Doch verdächtig ist mir dort die Witterung. Gesund mag sie sein für die Bevölkerung dort, wie es deren körperliches Wohlbefinden und ausnehmend schönes Äussere andeuten, für mich aber ist sie heisser, als ich wünschte. Auch ist da ein neuer König,14 und kann man auf ihn vielleicht ein Wort Lucans15 beziehen: „…sehr sanft ist das Schicksal, Steht ein Reich unter neuem Herrn…,“ so muss ich doch beim Gedanken an den früheren König fortwährend seufzen. Alles andere würde mir ohne weiteres zusagen; die Küste ist herrlich, und mir wird, weil sich herumsprach, was ich vor allem begehre, eine unbeschränkte Musse und Einsamkeit versprochen, und zwar von jenen,16die ihr Versprechen zu halten vermögen und für ihre Worte mit gutem Recht Glauben verdienen. 13. Überdies werde ich nach Paris zum König der Franzosen gerufen,17 zu diesem besten und mildesten Fürsten, der mir, wie Du weisst, so zugetan ist, als wäre ich ihm kein Unbekannter.18 Doch weder entspricht mir dort die Gesittung der Einwohner, noch ihm bis heute sein Schicksal. Auch ist mir nachteilig, dass ich einst dorthin gerufen wurde, um den Lorbeer zu empfangen,19 und ablehnte. Wenn ich nun hingehe, könnte ich vor den Richtern, die ein ihnen fremdes Leben

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begutachten, den Anschein erwecken, obwohl zweimal gerufen, hätte ich nur einmal gehorcht, und zwar nicht damals, als die Stadt von mir – wenn jemals – Ruhmvolles erwarten durfte, sondern erst heute, wo es für mich darum gehe, von dieser Stadt ausnehmend grossen Nutzen zu ziehen. Und von neuen Plänen nur soviel. Was nun folgt, betrifft die alten. 14. In eben der Gegend Italiens werde ich nun erwartet, in der ich einst manche Jahre verbrachte, als mir ein guter Teil meiner Geschicke verborgen war.20 Es könnte mir daselbst alles gefallen, würde nur den Feindseligkeiten unter den Bürgern nicht gar so vieles erlaubt! Gerufen werde ich auch an die benachbarte Kurie;21 da aber bekommt mir nun gar nichts und missfällt mir alles. Ob so vieler Schwierigkeiten bin ich ängstlich bei diesen Klippen an Land gegangen. Hier bleibe ich hangen, ohne zu wissen, wohin ich die Segel am ehesten wenden soll. Und wenn sich der Aufenthalt hier in die Länge zieht, wird aus mir ein vollendeter Waldmensch.22 15. Was ich tue, hast Du gehört. Und nun höre, was ich überlege. Auf Deine Antwort will ich warten. Wenn Du nach Rom zu kommen abrätst, werfe ich unverzüglich das Steuer nach jener eben erwähnten Seite herum und werde zwischen den Alpen und dem Apennin erfahren, ob entweder Fortuna oder die Vernunft mir mitten unter Meeresfluten einen ruhigen Ort zu gewähren vermöge. Scheint mir die Fahrt sehr gefährlich zu werden, will ich hier, wo ich bin, nicht allein Anker werfen23 und das Schifflein anbinden, sondern, wie man nach dem Schrecken eines Schiffbruchs oder im Ekel vor dem Meer zu tun pflegt, das Gefährt aufs Land ziehen, unter einem Dach verstauen oder vielleicht gar verbrennen, damit ich nach einer Änderung meiner Absicht nur ja nicht wieder ausfahren könne. 16. Und sollten mich hier das nahe Getöse der unheiligen Stadt und ihr Rauch noch so sehr belästigten: Ich werde die Ohren und Augen zuhalten und die angenehme Musse und das begehrte Alleinsein geniessen, wie ich schon tue. Und sollte, was ich nicht verbieten kann, ein Störenfried eindringen, wird er zu spüren bekommen, dass ich hier in den Wäldern die städtischen Sorgen vergass und nicht im geringsten an sie denke. Dann wird er sagen, er habe zu einem Tauben gesprochen; denn gar nichts werde ich hören und auf überhaupt nichts antworten, was meinem eigenen Vorhaben fern liegt. Ich werde umhergehen, allein und frei, wie ich schon tue, doch wird es einen bestimmten Unterschied geben: Während ich jetzt von dieser Gegend aus an den Tiber und den Po denke, ja auch an den Arno, die Etsch und den Tessin, werde ich später mit nichts anderem als einzig mit der Sorgue beschäftigt sein, um unter Bauersleuten zu leben und da mich begraben zu lassen und um einst am jüngsten Tag zwar jenseits der babylonischen Verwirrung – der jetzt schon zudringlichen –, aber immerhin in ihrer Nähe aufzuerstehen. 18. Endlich ist diese Abhandlung im Verlangen zu reden lange genug geraten. Und auf alles, Bruder, was hier zu einem Ganzen zusammengefasst wurde und

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selbst auf alles, was ich im vorliegenden Brief vielleicht zu sagen vergass, antworte bitte, was ich gemäss Deiner Meinung richtigerweise tun soll. Doch das Eine darfst Du nicht übersehen, dass ich nämlich bei freier Wahl die Stadt Rom allen anderen Orten bei weitem vorziehen würde.24 Das habe ich in Worten stets ausgedrückt und hätte es auch in Taten bezeugt, wäre ich mein eigener Herr gewesen. 19. Ich stand aber unter der Herrschaft Fortunas, der auch die Könige und Fürsten der Erde unterworfen sind und der sich von allen menschlichen Belangen gar nichts entzieht ausser die unverbrüchliche und vollendete Tugend, die ich allerdings nicht besitze. Nun werde ich in einer Sehnsucht, die um so heftiger brennt, je stärker sie gedehnt wird, dahin gezogen. Merke Dir also genau und schreibe es Dir ins Herz: Habe ich die heilige Stadt einmal betreten, werde ich sie nie mehr verlassen, mögen mich Iuno nach Samos, Venus nach Knidos und Iupiter nach Kreta locken.25 Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 24. April (1352).26

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an den selben Adressaten, so Fam. 3,19, und für den engeren Zusammenhang Fam. 15,1 und 15,9. 2 Fam. 15,7. 3 Fam. 15,4. 4 Im Lateinischen steht wie so oft neben alienigenas noch die andere Bezeichnung barbaros, nämlich für die ferneren Ausländer. 5 Über freiwilliges und unfreiwilliges Exil sagt Petrarca manches in Fam. 2,3,1 ff. 6 Lateinisch: quod forte miraberis – nisi quia nec idipsum novum audis – nec etiam, ut sepe alias… Eine von Petrarca geschätzte Häufung der Negationen. 7 Vgl. die Briefe im Buch Sine nomine. 8 Hic: das heisst wohl: hier auf Erden. 9 Petrarca denkt hier nicht an seine einst oft wiederholte stoische Lehre, der Mensch sei überall zu Hause, und es sei lächerlich, sich um den Ort seines Begräbnisses zu kümmern; vgl. z. B. Fam. 2,1,15 ff.; 2,4,14 ff.; 2,7,9 ff. 10 Die drei Personen sind verstorbene Glieder des Hauses Colonna. Lelio war diesem eng verbunden. Vgl. im Personenreg. Colonna 11 Im Lateinischen steht hic alter adolescens noster; es handelt sich also nicht um den selben adolescens, von dem im vorausgehenden Satz die Rede war, vielmehr denkt Petrarca an Stefanello, einen anderen Nachkommen des Hauses Colonna; dieser und Bertoldo Orsini hatten sich damals während grosser Unruhen in Rom zu Senatoren ausrufen lassen; vgl. Fam. 15,1. 12 Petrarca hat seiner Entrüstung im „Buch ohne Namen“ harte Worte geliehen und sich damit Feinde und Freunde erworben. Zur Entrüstung vgl. Fam. 14,4,30. 13 Der König Lodovico von Neapel hielt seinen Anspruch auf die Insel aufrecht, und sein wichtigster Ratgeber Acciaiuoli schien zu einer Rückeroberung fähig zu sein.

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14 Die Ehe der Königin Giovanna von Neapel mit Lodovico von Tarent war 1348 anerkannt worden, und dieser galt seit 1352 als König. Mit dem „früheren König“ meint Petrarca Roberto d’Angiò (Anjou). 15 Phars. 8,452–453. 16 In erster Linie von Niccolò Acciaiuoli, doch auch von Barbato da Sulmona und Giovanni Barrili; vgl. Fam. 12,15,5 f., auch DBI und das Personenreg. 17 Das ist seit dem Sommer 1350 Jean II le Bon. 18 Vgl. Fam. 19,4,8; 22,13 und 22,14; 23,2,7. 19 Vgl. Fam. 4,4 und 4,5. 20 Erwartet wurde er an verschiedenen Höfen Norditaliens. Ausser in Parma auch in Verona, Mantua und Padua. In Parma hatte Petrarca die Gunst des Bischofs Rossi verscherzt; vgl. Fam. 9,5. 21 Also nach Avignon; vgl. Fam. 11,6. 22 Als Silvanus oder Silvius hatte sich Petrarca in seiner Jugend gerne vorgestellt; vgl. z. B. Fam. 10,4,20. 13–16. 23 Vgl. Fam. 15,3,9. 24 Vgl. Fam. 15,9. 25 In Samos, dem Geburtsort der Hera (Iuno) befand sich ein Heiligtum dieser Göttin. In Knidos stand das Heiligtum der Aphrodite (Venus) mit dem Bildnis der Göttin von Praxiteles. Sehr frühe Zeugnisse für den Kult des Zeus (Jupiter) haben sich in Knossos erhalten. 26 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 115 Anm. 44, 121; und Petr. corresp. 73. Dieser Brief wurde nach Wilkins Auffassung ganz gewiss zum angegebenen Zeitpunkt geschrieben. Nach seiner Meinung ging er Fam. 15,1 zeitlich voran.

Fam. 15,9, an seinen Lelio1 Erörterung gewisser Ansichten, die gegen den Ruhm der Stadt Rom vorgebracht werden. 1. Petrarca rechtfertigt seine Ortswahl. Diese ist ehrenwert. 4. Getadelt wird sie von jenen, die Rom mit Babylon gleichsetzen. 5. Inwiefern Augustinus Rom als ein zweites Babylon bezeichnen konnte. 8. Dieser anerkennt immerhin die Auserwählung Roms zur Weltherrschaft. 11. Hieronymus hält Blitzschläge und anderes Unglück, das die römischen Hügel traf, für Strafen Gottes. 15. Petrarca setzt sich mit den beiden Kirchenlehrern auseinander. 17. Die Blitze und Erdbeben sind keine Beweise für Gottes Zorn. 26. Petrarca hält an seiner Ortswahl fest. (An der Quelle der Sorgue, im April 1352)

1. Schon hatte ich Lebe wohl gesagt, das Tagesdatum angefügt und den Brief gefaltet, als heimlich eine neue Überlegung heranschlich und das Schreiben zu ergänzen mahnte. Was tun? Das Blatt Papier war voll, für einen Zusatz fehlte ein Platz, denn schon „…klebt ja der letzte Vers am unteren Blattrand,“ wie Naso sagte.2 Selbstverständlich will ich nun, was dort wegblieb, hier ausführen. 2. Und dabei werden wir alles um so sorgfältiger zu behandeln haben, als es sich jetzt dem Urteil einer grösseren Menge wird unterziehen und sich ständig zwischen Neid und Ignoranz wird bewegen müssen. Nicht im mindesten ist zu vernachlässigen, was im früheren Brief3 zu meiner Rechtfertigung begonnen wurde, nämlich anders Denkenden, so weit als möglich, klar zu machen, dass mich ein grosses, aber auch durchaus würdiges Verlangen nach Rom zieht. 3. Ich schweige von Bürgerkriegen und von Begehrlichkeiten der dort unversöhnlichen Bevölkerung. Ich übergehe viele Übel, welche die Stadt mit dem ganzen Erdenrund gemein hat. Ich spreche nicht von den Belustigungen, die weit und breit im Schwange sind, denn ich suche nicht eine Vergnügungsstätte, sondern einen ehrenhaften Wohnsitz, dies im Gedanken an Scipio, der in seinem Exil das schreckliche Literno4 den Schwelgereien von Baiae vorzog und dafür gelobt wurde.5 Ich komme zu dem einen Thema, zu dem mir eben meine neue Überlegung verholfen hat. Es reisst mich jetzt über das Ziel des früheren Schreibens hinaus, wie Du gehört hast. 4. Mir fiel also ein, dass sich meiner Ortswahl die Meinung6 jener Menge widersetzt, die unter Babylon Rom versteht und – um im Zorn zu reden – seine Leistung für schmutzig und seinen Ruhm für schmählich erklärt. Und leugnen möchte ich nicht, dass diese Auffassung ihre bedeutenden Vertreter hat.7 5. Denn sogar Augustinus hat bei seiner Abfassung des Gottesstaates,8 als er bis zur Zeit der Geburt Abrahams gelangt war, Folgendes gesagt (da ja wirklich feststeht, dass sie in die Regierungszeit des Assyrers Ninos9 fiel): „Ninos hatte sein dreiundvierzigstes Regierungsjahr erreicht, als Abraham geboren wurde, und es entsprach ungefähr

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dem Jahr eintausendzweihundert vor der Gründung Roms.“ Nun wollte ich, das Nachstehende hätte er verschwiegen, doch er sagt:10 „Wie ein zweites Babylon im Abendland“. 6. Und nicht zufrieden, es einmal gesagt zu haben, wiederholte er das an anderer Stelle, nämlich da, wo er durch die Reihenfolge der Albaner und durch das Geschlecht ihrer Könige bis zu Romulus gelangte. Er sagt:11 „Ich fasse mich kurz: Rom wurde im Abendland als ein zweites Babylon gegründet.“ Und sieh, er bleibt nicht einmal beim früher Gesagten stehen, sondern geht darüber hinaus: „Gleichsam als Tochter des älteren Babylon.“ 7. Und an eben dieser Stelle wollte ich nun gar nicht, er hätte das Folgende verschwiegen; es lautet: „Denn Gott gefiel es, durch eben diese Stadt den Erdkreis zu unterwerfen, ihn zu einer einzigen Gesellschaft nach den Gesetzen eines Gemeinwesens zu gestalten und ihn im ganzen Umfang zu befrieden.“ Du hörst also, die mütterliche Stadt ist zwar im Namen Babylon verrufen, aber dank ihrem Ursprung und ihrer ausnehmenden Würdigung durch die himmlische Vorsehung glorreich! Es sagt ja Augustinus: „Da es Gott gefiel, durch sie den Erdkreis zu unterwerfen.“ Das hätte Gott auch durch eine andere Stadt vermocht, doch er wollte, dass es durch diese geschehe, und wirklich hatte er sie mit grossem Aufwand als die geeignetste unter allen von Ewigkeit her ausersehen.12 8. Und es war gewiss kein unbedeutendes Unternehmen, dem ungebändigten und zügellosen Erdkreis ein Haupt zu geben, und Augustinus hat hier nichts vorgetäuscht, da er seine Meinung mit der Überlegung bekräftigte: „Die Völker waren schon stark und kühn und die Stämme in den Waffen geübt, weshalb sie nicht leicht zurückwichen und es vielmehr nötig war, sie unter ungeheuren Gefahren und Verwüstungen und mit nicht geringer und entsetzlicher Anstrengung zu unterdrücken.“ 9. Sieh, mit welch gewaltigem Bemühen die göttliche Vorsehung das römische Imperium errichtet hat, damit es das Haupt der Erde sei! Dass hinwiederum dem assyrischen Reich teils wegen seiner engeren Grenzen, teils wegen der rohen und unkriegerischen Art der zu bändigenden Barbarenstämme fast wie von selbst die Rolle zufiel, das Haupt – nicht des Erdenrundes, aber – Asiens zu sein, hat der selbe Augustinus in langer Ausführung klargemacht. 10. Dem römischen Reich freilich, welchem Grösseres und Schwierigeres zu erledigen blieb, wollte Gott eine Besonderheit verleihen, wie es die riesige Zahl an Mühen und die Schrecken der zu bewältigenden Aufgaben forderten. Und in alledem gibt es, wie ich glaube, bis hier nichts Dunkles ausser dem Namen Babylon. Ihn haben viele verwendet, vor allem tat es in der Geschichtsschreibung als Nachfolger Augustins jener Aufstapler irdischen Unglücks Orosius.13 11. Gewiss hat Hieronymus14 in einer Abhandlung, worin er sein beschauliches und stilles Betlehem lobte, darauf hinweisen wollen, dass sein armseliger Ort Gott liebenswerter sei als die Burg auf dem Kapitol samt ihren zahlreichen Siegeszeichen.

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Eben deshalb sagte er zudem, diese Burg sei oftmals durch Blitze vom Himmel getroffen worden, und er täuschte sich nicht, wie jeder beim blossen Überfliegen der Geschichtsbücher sogleich feststellt. Auch bestreite ich nicht, dass ausser der genannten Burg auch alle anderen römischen Burgen von einem gleichen Schimpf getroffen werden können, unter ihnen insbesondere der hochragende Monte Celio,15 jedoch nicht infolge von dessen eigenem Versagen und nicht wegen eines hasserfüllten Blitzeschleuderers, vielmehr wegen seiner leidigen Sichtbarkeit! Ist es doch eben diese, die oft das, was bei andern ein geringes Unglück war, zum aussergewöhnlichen machte. 12. Und diesen Hügel, von dem ich rede, konnte allein schon das betrübliche und entsetzliche Ende des römischen Königs Tullus Hostilius16 in Verruf bringen. Dieser soll ja, nachdem sein ganzes Leben bis ans Ende ein einziges Blitzen und Donnern gewesen, am selben Ort durch einen Blitzschlag – wie stimmt doch das Lebensende mit dem ganzen Leben der Menschen überein! – mitsamt seinem ganzen Hause verbrannt sein. Ich übergehe andere, die den römischen Namen verspotten; es sind ihrer ja nicht wenige, teils alte, teils neue und einige auch aus unserer Zeit,17 und ihrer mehrere lassen sich, wie aus ihren Worten hervorgeht, nicht so sehr durch das Verlangen nach Wahrheit, sondern weit mehr durch Hass und Neid gegen diese Stadt hinreissen. Ihnen braucht man wohl nicht zu antworten; es genügt, dass ihr eigenes Gift sie verzehrt. 13. Denn sind sie gebildete Menschen und lesen sie die Geschichtswerke, so zwingt sie, wie ich glaube, der ihnen auf jeder Zeile begegnende glanzvolle Name Roms zu ständigem Aufseufzen, und zwar, was Verfälschungen ausschliesst, bei Büchern, die nicht von römischer Hand, sondern von fremder geschrieben wurden. Im römischen Volk gab es nämlich, wie Crispus18 sagt, niemals eine grosse Zahl Schriftsteller; man hielt es eben für ehrenhafter und rühmlicher, andere über sich berichten zu lassen, als selber über andere zu berichten, und man wünschte sich eher Taten und einen guten Ruf für Taten als einen für Worte zu erwerben. 14. Kurz gesagt: Welches Ende der Stadt Rom einst beschieden sein mag: Ihr Name lebt solange als die Erinnerung an die griechische und lateinische Bildung weiter besteht, und nie wird es den Neidischen an etwas fehlen, das sie innerlich aufzehrt. Einem Augustinus und Hieronymus immerhin, die man nicht geringschätzen darf, sei in folgender Weise geantwortet! 15. Dass Rom als ein zweites Babylon im Abendland gegründet wurde, gebe ich zu. Auf Gottes Befehl sollte eben das östliche Imperium, das viele Jahrhunderte in Babylon bestanden hatte, dort beseitigt und allmählich in den Westen überführt werden, wo zweifellos Rom bestand. Doch nicht alles stimmte überein. Die Lebensart der Städte war verschieden; zudem entstand aus dem morgenländischen Imperium nicht ein abendländisches, sondern ein universales, und zwar in der Art einer einzigen allumfassenden und wahrsten Monarchie. 16. Weil sich nun aus dem ganzen gebändigten Erdkreis ein Zustrom in eine einzige Stadt und eine

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grösste Vermischung aller Kulturen und vor allem auch eine der grössten Götterscharen und der heiligen Gegenstände ergab, sprach man von Babylon, und dass man das tun konnte, bestreite und verwerfe ich nicht; denn der Name bedeutet „Konfusion“, Vermischung. Dabei wage ich aber zu behaupten, dieser Name sei an jenem Tage von der Stadt abgeglitten, als sie die falschen Götter fort wies, den Kult und Namen des einen wahren Gottes einführte und – um ein Wort des Papstes Leo19 zu übernehmen – „aus einer Lehrmeisterin des Irrtums zu einer Jüngerin der Wahrheit wurde“. 17. Wenn dann noch behauptet wird, jener Felsen des Kapitols sei häufig von Blitzen getroffen worden, und dies zum Beweis dafür dienen soll, dass der Ort unserem Gott missfalle, so will ich in gutem Frieden dem heiligsten und gebildetsten Lehrer20 erwidern, jene Ereignisse seien nicht dem göttlichen Zorn zuzuschreiben, sondern der Natur. Andernfalls würde unter allen Völkern Ägypten von Gott besonders geliebt. Es ist zwar ein Sitz aller Gottlosigkeit und allen üblen Aberglaubens, hat nicht allein Isis und Osiris, sondern auch Apis und Serapis und das Krokodil angebetet und verehrt und betet heute zu Mahommed – kaum heiliger als das Krokodil21 –, aber dennoch, wie das Gerücht sagt, donnert es dort selten oder nie. 18. Umgekehrt würde Gott die Pyrenäen hassen, obwohl man da Christus anbetet. Denn wie entsetzlich und häufig es da donnert, wer könnte das besser wissen als wir,22 die in kräftigerem Alter einen ganzen Sommer da verlebten und sehr häufig von den Flammen des Blitzes die Felder gar rauchen sahen! 19. Wenn nun zwar jede Überlegung und jede Meinung nützlich und lobenswert ist, insoweit sie eine fromme und nüchterne Furcht erweckt, kommen dennoch jener Schall und jenes Feuer nicht so sehr vom Zorn, als von der Natur, sind zufälliger Art und stürzen mit rasenden Winden zur Erde, um ein Wort des Satirikers23 zu verwenden. Und der Grund dafür liege in der edlen24 Art der Luft, so behaupten einige, unter ihnen Plinius Secundus, ein sehr grosser Gelehrter. Und wäre das wahr, könnte man denken, die Luft eben in der Gegend der Pyrenäen sei ganz sonderlich vornehm. 20. Und der selbe Gelehrte erwähnt das auch als Grund für das häufige Donnern in Italien, und wäre das wiederum richtig, so wäre mir für meinen Teil wahrhaftig am liebsten, diese Vornehmheit könnte man in einem Tauschhandel mit Ägyptern oder Irländern loswerden, da es bei ihnen ja nur ganz selten und gelinde donnert, wie das von jenen bezeugt wird, die davon schreiben und von dorther stammen. Doch ich kehre zu Rom zurück. 21. Es liebt also Gott den Tarpeischen Felsen25 nicht, glorreicher Hieronymus! Er – um einen Vers des Maro26 zu zitieren –: „Hauchte ja flammenden Wind ihm zu und schlug ihn mit Feuer.“ Gestattet sei aber, bitte, mit Dir ehrfürchtig über Wahrheit zu sprechen. Es liebt also Gott den Tarpeischen Felsen nicht? Warum er dennoch das Haupt des Erdkrei-

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ses dort festsetzen wollte, wundert mich sehr, und dabei wirst Du’s selber nicht abstreiten. Was Du mir darauf aber antworten wirst, sehe ich voraus, weshalb ich auf dieses Bollwerk mich zu stützen verzichte. Dagegen erkläre ich: Gut, es gelte! Gott hasse jenen Ort, der freilich, ohne dass Gott ihn liebte, gar nicht bestünde.27 Doch ja, er hasse ihn, und dies sei in Erfahrung gebracht worden! Und folgerst Du nicht hieraus, dass Gott ihn mit Blitzen zu verfolgen schien? Dann beachte, bitte, die Kraft Deines Beweises! 22. Ich will Exempel nicht von ferne herholen, das ist nämlich auch nicht nötig. Denn in der Tat, wenn Gott den Tarpeischen Felsen nicht liebt, den er mit Blitzen schlug, und wenn er – was ich eher als ein Zeichen für göttlichen Hass ansähe –, oftmals und auch zu unserer Zeit ertragen hat, dass das Haupt der Erde zu einem Schlupfloch von Räubern werde, dann liebt er doch wenigstens seinen Wohnsitz im Lateran und wenigstens die Kirchen der Jungfrau Maria und seiner Apostel. Ob er diese aber geschont hat, das können wir feststellen. 23. Der Lateran ist zu unserer Zeit ein Raub der Flammen geworden und wird nun mit grosser Mühe und unendlichen Kosten wiederaufgebaut.28 Da wird einer vielleicht sagen, dies sei nicht durch Gottes Hass geschehen, sondern durch die Schuld der Menschen. Vier Jahre sind es her, dass bei einem entsetzlichen Erdbeben29 die Kirche des Apostels Paulus fast bis auf den Grund zerstört und die Kirche der Jungfrau auf dem höchsten Hügel30 schwer erschüttert wurde. Kann sein, dass einer sagt, ein Erdbeben sei kein so deutliches Zeichen für ein Gericht des himmlischen Zornes wie der Blitzstrahl. 24. Sieh demnach, was das heurige Jahr erlebt hat: Der Turm des Apostels Petrus brannte und brach unter dem Blitzschlag so völlig ein – es ist kaum glaubhaft zu sagen –, dass von dem mächtigen Bauwerk fast keine Spur mehr besteht und auch niemand, der es nie gesehen hatte, sich vorstellen kann, dass da je ein Turm gestanden hat. Was übrigens viele in Schrecken und Aberglauben stürzt: Die hochberühmte Glocke, das Werk von Bonifaz VIII., das seinen Namen trägt, soll derart geschmolzen sein, dass nicht die geringste Spur davon übrigblieb! 26. Das letzte Ereignis erzähle ich nicht, als hätte ich es gründlich erforscht, und rede nicht wie ein Wissender zu einem Nichtwissenden, sondern ich erfrage es als ein Nichtwissender von einem Wissenden. Wir haben einem Gerücht eben das geglaubt, was Du persönlich nachprüfen kannst.31 Ich war nämlich seit dem Jubeljahr, das nun drei Jahre zurückliegt, nicht mehr in Rom.32 Wenn jedoch wahr ist, was darüber alle Rompilger bei ihrer Heimkehr wie aus einem Munde behaupten (solche Übereinstimmung lügt selten), dann hat der Tarpeische Fels vorher zweifellos nie etwas Ähnliches erduldet.33 Was mich angeht, so glaube ich, Gott hasse nichts von allem, was er geschaffen hat. Liebt er aber den einen Ort mehr als einen andern, dann glaube ich, er liebe besonders den Ort, wo er sich besonders geliebt weiss, doch schlage er bisweilen sogar sakralste Orte, um profane zu erschrecken.34

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26. Kommt dazu, dass mich Donnerschläge jetzt weniger ängstigen, sei’s, dass ich den Tod dank zunehmendem Alter weniger fürchte oder sei’s, dass mir seit meinem Versuch, das Gewissen von verborgenen Sünden zu entlasten, vor äusseren Tumulten und Drohungen nicht mehr bangt. Und würde geschehen, was ich plane, so wählte ich mir den Tarpeischen Felsen nicht zum Wohnsitz, jedoch unterliesse ich’s aus einem andern Grund, als um einer Verdächtigung durch das Volk zu entgehen, wie wir das von Publicola lesen,35 sondern um nicht als ein Opfer des Überdrusses unbedacht dahin zurückzufallen, von wo ich zu fliehen gewillt bin. Du weisst aber, welcher der sieben Hügel, die über alle Berge und Täler gesetzt waren, mir weitaus am meisten zusagen würde und für meine Studien am besten geeignet wäre. 27. Um also zur Hauptsache zurückzukehren und zu schliessen: Ich rücke von meiner Meinung nicht ab. Meine grosse Sehnsucht nach der Stadt Rom lässt mich nicht los. Was geschehen wird, liegt in Gottes Hand. Gewiss, wenn ich je die heilige Stadt betreten habe, wirst Du für wahr erklären, was der frühere Brief versprochen hat. Lebe wohl! (An der Quelle der Sorgue, im April 1352)36

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

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Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. Ov. Metam. 9,565. Vgl. Fam. 15,8. Ein in der Wildnis gelegener Sitz des Helden. Gelobt z. B. von Seneca im Brief ad Lucil. 51,11; 57,1 ff. Vgl. Fam. 5,4,9. Der nachfolgende Satz verlangt hier die Einzahl „Meinung“, nicht Meinungen, obwohl im lateinischen Text sententias steht. Zu den genannten Urhebern gehörte neben Augustinus auch Ambrosius; vgl. Sine nom. 10, lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 257.259. Gemeint ist: bei der Niederschrift des Werkes De civitate Dei. Begründer des assyrischen Reiches und der Stadt Ninos (Ninive), Gatte der Semiramis. De civ. 16,17. De civ. 18,22. Petrarcas Überlegungen gründen auf der traditionellen Auslegung zur Stelle beim Propheten Daniel 2,31 f., wo die einander folgenden Weltreiche aufgezählt werden. Das römische sollte demnach das letzte und endgültige sein. Adv. pag. 2,1–3; 7,2. Epist. 46,11,2. Der Caelius mons mit einer Höhe bis zu 49 m und schon früh stark überbaut, wurde 27 n. Chr. zu einem guten Teil durch Feuer verheert. Tull(i)us Hostilius, dritter römischer König, nahm seinen Wohnsitz auf dem Monte Celio; vgl. Liv. 1,30 und hinten im Personenreg. Petrarca meint zweifellos unter andern die französischen Kardinäle in Avignon; diese allerdings dachten zuerst an den Papstsitz in Rom, erst dann an die Residenz des Kaisers; vgl. Sine nom. 2 und 3, Petrarca, Aufrufe 128 ff. und 17 ebenda 297 ff.

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Sall. Catil. 8,5. Serm. 82,1. Gemeint ist Hieronymus; vgl. oben. Das Krokodil genoss in Ägypten in einigen Kreisen Verehrung. Die Beschimpfung Mohammeds war in der Zeit der Kreuzzüge bei Christen üblich. Ihnen blieben die Araber nichts schuldig, nannten sie freches Gesindel, wünschten, dass Gott sie verdamme etc., wie jeder in zeitgenössischen arabischen Quellen nachlesen kann (vgl. z. B. Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, Zürich/München 1973). Wir: das sind Lelio und Petrarca 1330 im Gefolge des Bischofs Giacomo Colonna von Lombez. Vgl. Iuv. Sat. 13,225–226. Das Zitat ist sehr ungenau. Nat. 2,50,135–136. Petrarca las nobilis; in modernen Ausgaben steht die gewiss richtige Lesart mobilis! Fels am Kapitol, genannt nach Tarpeius, einem Gegner des Romulus, oder nach Tarpeia, welche den Zugang zur Burg dort den Feinden öffnete und als Verräterin von diesen umgebracht wurde. Verg. Aen.2,649. Vgl. unten 15,9,25. Besonders verheerend war der Brand von 1308. Vgl. zum folgenden Text die Hinweise in Fam. 11,7,4 ff. Da spricht Petrarca selber von Zeichen des göttlichen Zornes, freilich nicht des Hasses. Die Kirche auf der höchsten Erhebung des Kapitols war S. Maria d’Aracoeli. Petrarca spricht hier mit dem Adressaten Lelio. Das Jubeljahr fiel auf 1350. Petrarcas Schreiben müsste entsprechend seiner Angabe also auf 1353 datiert werden, weshalb dann mindestens auch 15,8 ins selbe Jahr zu datieren wäre. Soviel ich sehe, ist aber die Datierung auf 1352 (vgl. Wilkins, Studies 122–123) bisher nicht angefochten worden. Sonst wäre von ihm so wenig wie vom Turm des Apostels eine Spur zu entdecken. Lateinisch: loca sanctissima ferire ut profana perterreat. Das profana erfordert als Ergänzung loca, auch wenn man lieber den Bezug zu Menschen angeben wollte. Publicola riss sein Haus ab, um dem Verdacht, er erstrebe die Alleinherrschaft, zu entgehen; vgl. Fam. 6,2,8 und das Personenreg. unter Valerius. Zur Jahreszahl vgl. oben Anm. 32 und Petr. corresp. 73.

Fam. 15,10, an Ponzio Sansone1 Dank für eine Gabe. Petrarca weiss, er hätte den Freund aufsuchen sollen und hätte es in Bälde auch wirklich getan. (Sommer 1351-September 1352)

1. Die einmal entbrannte Freundesliebe2 kennt keine Zügel. Das habe ich, wenn je einmal, in Deinen überaus herzlichen und ungemein menschlichen Zeilen verspürt. Wundern müsste ich mich, wäre Deine mehr als brüderliche Zuneigung zu mir ganz neu, nicht schon in zarter Kindheit entstanden und bis auf heute ständig gewachsen! Ich danke Dir und nehme keck Dein Angebot an, um zur guten Zeit von Deinen Sachen Gebrauch zu machen, als wären es meine. Deine Entschuldigung zeigt mir meine Schuld: Nicht Du hättest mich, sondern ich hätte Dich aufsuchen sollen. Und hättest Du länger gewartet, wäre ich gekommen, um den zu sehen, den ich immerzu sehe.3 2. Gerne würde ich mehreres schreiben, doch Deine Boten, mir zur Bekräftigung Deines zwar sehr beredten Schreibens gesendet, warten schweigend und zählen die Buchstaben, seufzen heimlich und blicken zum Himmel, während die Sonne entflieht. Darum fürchte ich, ihnen lästig zu fallen, wenn ich handle, wie mir gefiele. Lebe wohl und denke an uns! (Sommer 1351-September 1352)4

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. das Schreiben an den selben Adressaten Fam. 14,8 zur bevorstehenden Abreise nach Italien. Im Lateinischen: caritas. Im Lateinischen: veniam quem semper video visurus. Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 122–123 mit Anm; Petr. corresp. 73.

Fam. 15,11, an Bischof Philippe von Cavaillon1 Vor dem Neid muss man sich verstecken. 1. Petrarca kann nicht herausfinden, was er sowohl kann wie auch will. 3. Er verlässt Avignon, als würde er nach Italien verreisen, verbirgt sich jedoch in Vaucluse. (Vaucluse, November1352)

1. Höchst Sonderbares wirst Du hören, aber Wahres. Ich weiss nicht, wie es anderen ergeht, aber ich selber bin in diesem meinem Alter noch immer unfähig, mit mir einig zu werden, was ich will. Nicht weil mir mein Wille unbekannt wäre, sondern weil meinem Wunsch sich vieles widersetzt. 2. Ich kann also nicht vollkommen wollen, da ich vergeblich zu wollen scheine. Daraus erwachsen mir Mühe und grenzenlose Verworrenheit aller Dinge; und täglich beeindruckt mich stärker jenes Wort des jüdischen Weisen,2 das kurze und gewichtige, das die meisten trockenen Fusses hinter sich bringen, während ich, sooft ich es lese, innehalte und seufzend zwei-, drei- oder viermal wiederhole: „Alle Dinge sind schwierig.“ Schau doch, wie gross ist die Schwierigkeit selbst bei kleinen Dingen! Was ich wollte, kann ich nicht, was ich könnte, will ich nicht, und was ich sowohl könnte wie wollte, ja das suche ich und finde ich nicht. 3. Inzwischen werde ich bei vielem Ratschlagen wie von Fluten umhergeworfen, hoffend, dass die Sache etwa eine Ende nehme. Während das falsche Gerücht meiner Abreise umlief,3 entfernte ich mich heimlich aus Babylon, als ginge ich nach Italien, und kehrte hierher zurück, und ich wäre sogleich zu Dir gekommen, dies weniger zur Befriedigung Deiner Augen als vielmehr der meinen, die fast nach nichts anderem so brennend verlangen wie nach Deiner Gestalt. Aber beachte, dass ich hierher kam, um versteckt zu sein und um womöglich nicht bloss vor andern, sondern auch vor mir selber zu fliehen, das heisst, vor den Lastern und Fehlern, die mich von Kind auf bis ins hohe Alter verfolgen. 4. Höchst wichtig ist mir überdies, dem Neid zu entkommen, der mir in allen Ländern entgegentritt, und könnte ich mich einzig in diesen Winkeln gegen ihn und alle Sterblichen schützen und sonst nirgends, wäre ich bereit, alle Freunde, die mir das Liebste sind, gleichzeitig mit dem Neid, der mir das Grässlichste ist, zu entbehren. 5. Denn wirklich käme mir der Winkel auf Deinem ländlichen Gebiet,4 wie er immer tat, als der für mein Vorhaben geeignetste Ort vor. Dulde also, dass ich hier unter Deinen Flügeln mich berge! Und halte das geheim, ich bitte Dich! Handelst Du so, wirst Du mich oftmals zum Gast haben, sowohl zur Nacht wie bei Regenwetter5 als ein Gefährte zweifelhafter Art, doch sicher als einer, der Dir dankbar ist. Andernfalls wird geschehen, was wir in Märchen hören: Machst Du das Geheimnis bekannt, verlierst Du mich. Lebe wohl! (Vaucluse, November 1352)6

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Fam. 15,11

Anmerkungen 1 Vgl. die anderen Briefe an den selben Adressaten, aufgezählt bei Wilkins, Petr. corresp. 21. Es gehören zu ihnen neben den Familiares mehrere Seniles und einige Variae nebst zwei Sine nom. 2 Ecclesiastes 1,8. 3 Vom Gerücht einer Abreise Petrarcas spricht Fam. 15,3,8, datiert auf den 22. Februar (1353). Vgl. auch zur Abreise aus Vaucluse Fam. 14,7 und 14,8; 15,1 und 15,2; 15,3. 4 Vaucluse gehörte zur Diözese des Bischofs. 5 Man könnte meinen, hier eine Anspielung an die beim Bischof verbrachte und in Fam. 152 erwähnte regnerische Nacht beim ersten Reiseversuch zu lesen. Eine genaue Lektüre weckt aber die Vermutung, dass dieses Schreiben 15,11 dem Schreiben Fam. 15,2 vorangehe. Diese Meinung vertritt Wilkins, Studies 142.172 und 178. Laut 15,11 hat Petrarca den benachbarten Bischof längere Zeit nicht mehr gesehen, und dieser hat noch nichts von einer bevorstehenden Reise des Dichters vernommen, auch noch nichts von einem heimlichen Aufenthalt in Vaucluse. Es wird ihm alles als etwas Unbekanntes mitgeteilt (vgl. Fam. 14,7,6). 6 Zur Datierung vgl. Anm. 5.

Fam. 15,12, an Bischof Philippe von Cavaillon1 Petrarca schickt dem Adressaten drei Geschenke. 2. Den von ihm verfassten Brief möchte er jedoch zurückerhalten. An der Quelle der Sorgue, am 14. Dezember (1352).

1. Drei Geschenklein, Vater, von ganz verschiedener Art erhältst Du von mir. Eines ist ein Fisch, golden schimmernd und gefleckt mit silbernen Schuppen. Die einen nennen ihn Torrentina, die andern Turtra.2 Angenehmer wird jedoch sein, seinen Geschmack als seinen Namen zu kennen. Ihn hat der Sohn meines Wirtschafters, Dein Knecht, heute in den leuchtendsten Wellen gefangen. Dann ist da eine fette Ente, schon lange Bewohnerin der lieblichen Quelle. Gegen meinen aussergewöhnlichen Hund von seltener Rasse3 hat ihr weder die Luft einen Weg noch der Fluss ein sicheres Versteck geboten, und deshalb war ihr weder schwimmend noch fliegend zu entrinnen gestattet. Drittens ist da eine neue Epistel; die habe ich kürzlich selber gefischt, nämlich für Dich auf Deinem Land mit der Angel meiner kraftlosen Fähigkeit und zwischen den Wogen meines Geistes und den Klippen meines Alltags. 2. Die anderen Sachen kommen, um bei Dir zu verbleiben, sie aber will zu mir zurück. Errätst Du den Grund? „Wahrheit ruft Feindschaft hervor.“4 Wenn das schon zur Zeit des Terenz zutraf, was meinst Du etwa von heute? Lies sie durch, wenn Du magst, aber ganz geheim, und lass sie mich wiederhaben, bis wir wissen, was Gott oder Fortuna der Welt bescheren werde. Dann wollen wir beraten, was mit ihr geschehen soll,5 ob wir sie den Flammen übergeben oder ihren Schwestern zugesellen. Inzwischen wisse und ermiss daran mein Vertrauen, dass ich sie keinen anderen Augen zu zeigen vorhabe ausser den Deinen. Lebe wohl, Du meine Zierde. An der Quelle der Sorgue, am 14. Dezember in der Stille der späten Nacht (1352).6 Anmerkungen 1 Vgl. die anderen Schreiben an den Bischof, besonders den vorangehenden. 2 Vgl. das italienische Trota, Forelle. 3 Einen Hund hatte Petrarca 1337(?) von seinem Herrn Kardinal Colonna erhalten; der wird aber mittlerweile seine Behendigkeit eingebüsst haben; vgl. Metr. 3,5; lat. und dt. bei Schönberger. Einen anderen Hund hatte ein Freund vor seiner Abreise in Vaucluse zurückgelassen, und um diesen hatte sich hernach Petrarca gekümmert; vgl. Fam. 13,11. 4 Ter. Andria 1,1,41 (= 68) 5 Es handelt sich gewiss um ein Schreiben Sine nom.; fraglich bleibt vor allem, um welches; vgl. Wilkins, Studies 146 f. 6 Vgl. Wilkins, ebenda 147.

Fam. 15,13, an Bischof Philippe von Cavaillon1 1. Der Bischof hat Petrarcas Brief wunschgemäss zurückgesandt. 2. Er soll einen neuen erhalten, um dessen Inhalt zu beurteilen. 3. Wichtig ist vor allem, ob Petrarca die geistige Fähigkeit habe, dem Stoff gerecht zu werden An der Quelle der Sorgue, am 15. Dezember (1352).

1. Den drei Geschenklein von gestern möchte ich nun ein viertes anfügen. Meine Epistel hast Du gelesen und sogleich zurückgeschickt.2 Bestimmt hatte ich sie für Dich, weil ich Dich als einen Hauptfeind der Laster kenne, und dass sie Dir sehr gefallen hat, freut mich. Dank Deinem Urteil kommt sie mir nun tauglicher und erfreulicher vor. 2. Nun schicke ich Dir eine andere, die ich dem Klerus der Kirche von Padua geschrieben habe, und zwar über den Hinschied ihres Bischofs Ildebrandino3 seligen Angedenkens. Ich weiss, dass Du ihn zu loben und zu bewundern pflegtest, obwohl er, so sage ich, alle menschliche Bewunderung dank dem Wunder seiner göttlichen Tugend überstiegen hat. Du liebtest ihn, nein Du liebtest seine Tugend, hattest aber mit ihm, wie ich meine, keine andere Gemeinsamkeit, als die notwendig daraus folgende, dass nämlich der Verächter der Sünde eins ist mit dem Verfechter der Tugend. 3. Bei einem Vergleich der beiden Briefe wirst Du, Vater, entscheiden, ob der Feder irgend eine Kraft für die so völlig verschiedenen Aufgaben innewohnt, nämlich sowohl für das Rügen wie für das Loben. Und dabei wirst Du bedenken, dass der Mangel, der dem einen wie dem anderen Brief anhaften mag, ein Versagen meines Verstandes beweist, dass hingegen für das Gefällige, das darin vielleicht sein könnte, ein Lob dem Gegenstand gebührte und nicht der Feder. Wer verstünde denn nicht, den einen zu preisen und den anderen zu tadeln? Es sei einer bei jedem Gesprächsstoff noch so stumpf; könnte er aber bei diesen beiden anders als beredt sein?4 Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 15. Dezember, frühmorgens (1352).5

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. die übrigen Briefe an den selben Adressaten, besonders den vorangehenden. Vgl. Fam. 15,12. Vgl. den folgenden Brief Fam. 15,14. Die Aussage des lateinischen Textes scheint mir nicht sonderlich klar zu sein. Petrarca fragt wohl, ob er für das Loben und Tadeln zweier bestimmter Personen die erwünschte besondere Kraft besitze; zugleich sagt er aber auch, dass jedermann beim Loben und Tadeln beredt sein könne, das sei freilich sicher. 5 Zur Datierung vgl. den vorangehenden Brief.

Fam. 15,14, an den Klerus von Padua1 Vom Hinschied und Ruhm des Kirchenvorstehers Ildebrandino. 1. Die Kirche von Padua hat ihren Bischof in den Himmel vorausgeschickt. 10. Dort gedenkt er der Kirche und tritt vor Gott für sie ein. 14. Sterbend hat er die Kurie um einen geeigneten Nachfolger gebeten. 15. Die meisten Menschen denken sterbend nur an sich. Beispiele. 19. Das Problem der Nachfolge stellte sich für Könige wie David und für manchen römischen Kaiser. 20. Verwerflich ist, schwache Nachfolger guten vorzuziehen. Beispiele für pflichtbewusste Vorsorge. 29. Petrarca denkt nicht daran, dem Verstorbenen zu schmeicheln. 30. Er beschreibt seinen früheren Umgang mit dem Bischof. 34. Dieser hatte umsonst versucht, ihn von der Reise nach Avignon abzuhalten. 36. Nun ermahnt Petrarca den Klerus von Padua, an Lehren und Gebräuchen des Verstorbenen festzuhalten. (Padua, November/Dezember 1352)

1. Verloren haben wir, liebenswerteste Brüder, unseren Vater, nein, vorausgeschickt haben wir, um ihm später zu folgen, unseren Hirten, unseren Führer, unseren Trost, unsere Zier, ja wahrlich „das Licht und die Leuchte für unsere Füsse und unsere Wege.“2 2. „Ausgelöscht“ hat nun, ach, der Herr unser „Licht und die Lampe Israels,“3 um sie anzuzünden in den Himmeln, nämlich unseren Praesul Ildebrandino.4 Und ob ich ihn einen irdischen Engel oder einen himmlischen Menschen nennen soll, weiss ich nicht. Vorausgeschickt haben wir ihn, Brüder, wohin auch uns auf den Spuren eben dieses unseres Vaters und unter Christi Geleit zu gehen bestimmt ist. Vorausgeschickt haben wir ihn, damit er uns dort im himmlischen Reich eine Wohnstatt bereite und den durch unsere Sünden beleidigten König mit seinen Fürbitten gnädig stimme. 3. Jener ging glücklich, und was könnte ich sonst noch sagen? Alles, was ich mir ausdenke, ist viel zu gering, als dass es der Verkündigung seiner Ehre genügte. Sage ich: „Er verliess die Erde“? Er war aber niemals hier, es sei denn dem Leibe nach, das heisst, mit einem einzigen und geringsten Teil seines Wesens. Sage ich aber: „Er verstiess seinen Leib“? Nein, er hat seinen Leib stets wie einen Kerker bewohnt. Sage ich: „Er entrann seinem Leib“? Das scheint vielleicht die angemessenste Rede zu sein. Doch auch sie trifft nicht das Richtige. Denn wie könnte von ihm gesagt werden, er sei ihm entronnen, hat er sich doch, „solange er im Leibe war“, um ein Wort Ciceros5 anzuführen, „über sich selber hinaus gelehnt“, um in der Betrachtung dessen, was ausser ihm war, sich stets so weit als möglich dem Leib „zu entziehen“? 4. Sage ich: „Er ging in den Himmel ein“? Doch immer schon wohnte er mit seinen heiligen Gedanken im Himmel, selbst wenn er hier unter uns zu verweilen schien. Sage ich: „Er ging zu den Gestirnen“? Wahrhaftig, er war auf dieser Erde selber das strahlendste Gestirn. Sage ich: „Er ging zu Gott“? Aber ohne Gott war er niemals; ist doch die Seele des Gerechten ein Sitz des Herrn.6 Und – was im Munde eines Heiden besonders herrlich tönt – „Gott kam zu den Menschen“, wie Seneca7 sagt, und „kein Herz ist gut ohne Gott.“ Ist das richtig, wie konnte dann dieser mildeste Vater unserer Seelen ohne Gott sein?

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5. Was also sage ich? Er ging zweifellos zu Ihm, der bei ihm war und der überall ist. Zu Jenem ging er und liess dabei den Leib, den er verachtete, und uns, die seiner Seele teuer sind, zurück, nachdem er hier die Verbannung mit uns für kurze Zeit leiblich geteilt hatte. Und mit welchen Worten, Du heiligster Praesul,8 – ich sage, was niemanden kränken kann – Du erhabenste Zierde aller Praesuln unserer Zeit, mit welchen Worten wünsche ich Dir Glück zu Deiner Seligkeit und klage ich ob unserer Vereinsamung? Du selber, so bitte ich, komm, weil Du es vermagst, der unzulänglichen Feder, der ihrer Aufgabe erliegenden, mit Deinen Gebeten zu Hilfe! 6. Es ging also unser Praesul, als der Anführer unserer Kriegerschar, zu den Himmlischen auf dem ebensten Pfad dahin. So völlig hatte er sich alles Hindernde und Höckrige gerade gemacht9 und den harten Weg mit dem Hammer feuriger Tugendwerke geglättet, dass ich meine, nichts sei ihm begegnet, was den Fuss des Schreitenden verletzte.10 Er ging also voran unter dem grössten Jubel seliger Geister, unter dem wonnigsten Engelsgesang, der die Gestirne und den Himmel umschmeichelt, um in den Schoss Abrahams11 aufgenommen, nein von Christi Armen umfangen zu werden. 7. Wenn irgendeine Hoffnung, irgendein Glaube wahr ist, dann hat unser Bischof das Empyräum12 erreicht, in welchem er schon immer sinnend verweilt war, und der Unterschied zwischen früher und jetzt liegt einzig darin, dass er nun dort, wohin er all sein Trachten gerichtet hatte, mit seiner ganzen Seele lebt und von der Knechtschaft des Leibes und – vom irdischen Karzer befreit – heiter und im Besitz des Ersehnten dort wohnt, wohin er einst viele heilige Seufzer vorausgeschickt hatte. 8. Dort ist er, von wo ihn nichts wegzieht, keine feindliche Gewalt, kein lastender Überdruss, kein Greisenalter, kein Tod. Dort, wo keine Krankheiten quälen, kein Mangel beengt, keine Sattheit beschwert, keine Sorgen zermürben, keine Kriege erschrecken; dort, wo kein Zorn die Herzen entflammt,13 kein Hass sie in Brand steckt; keine Üppigkeit schade, keine Gaumenlust reizt, keine Schwermut zernagt, kein sinnloser Wohlstand verwöhnt, keine Widrigkeit sticht, keine Lust überbordet, kein Hochmut sich bläht, keine Hoffnung betört,14 keine Furchtsamkeit drückt, kein Schmerz überwältigt, keine Traurigkeit aufzehrt, keine Verzweiflung zu Boden wirft. 9. Gegen diese Übel war die heiligste Seele, die schon hier auf Erden ein himmlisches Leben führte, gewappnet, und blieb dennoch von ihnen unmöglich ganz unberührt, weil sie unter menschlichem Elend zu leben hatte und deshalb nicht selten, ob auch selber bei bester Gesundheit, die Krankheit anderer mit zu erleiden, sie mitzufühlen, zu pflegen, zu heilen, zu lindern und sich dabei abzuquälen genötigt war. Nun endlich ist sie vollkommen glücklich dort, wo sie weder von eigenen noch von fremden Ängsten gemartert wird, ja, wo sogar die eigene unendliche Glückseligkeit an fremder Glückseligkeit weiter wächst. 10. Eines gibt es, so meine ich, was in so grossen Freuden den innig liebenden Vater immerhin bekümmert; denn er hat ja bei seinem Abschied die Kirche als Witwe15 zurückgelassen und uns ohne Haupt. Wer wird mir nun mit Worten das

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Verknotete in den Schriften entwirren? Wer wird Verriegeltes aufschliessen? Wer Rätsel erklären? Wer Finsternis erhellen? Wer wird auch Sitten formen, Laster ausrotten, Tugenden säen? Wer wird Gefallene aufrichten, Schwankende stützen und Aufrechte ermuntern? 11. Wer wird Niedrige erheben, Stolze niederdrücken, Verwegene schrecken, Nichtswürdige beschämen, Heuchler entlarven und Ehrbare mit Lobreden würdigen? Wer wird Verdiente belohnen, Sündige strafen, Verbrecher zertreten? Wer wird Rechtgläubige bestärken, Irrende zurechtweisen, Häretiker16 niederschlagen und von Christi Schafstall die Diebe fernhalten?17 Wer wird schliesslich18 Witwen und Waisen beschützen, Hungernde speisen, Nackte kleiden? Wer wird Traurige trösten, Kranke besuchen, Tote begraben? Und wer wird den Armen insgesamt Vater sein? 12. All dieses Gute haben wir, geliebteste Brüder, mit ihm verloren, oder besser, wie ich schon sagte, von einem Ort zum andern gesendet. Wir hatten auf Erden einen Lehrer, jetzt haben wir im Himmel einen Vermittler bei Christus, dem zu gefallen er zeit seines Lebens innigst bestrebt war und vor dem er, wie ich hoffe, nicht vergeblich für uns eintritt. 13. Und was vor allem wird er wohl erbitten, wenn nicht das, was jeder auch nur halbwegs gute Hirte erbäte, dass er nämlich seine Herde – wohl bewahrt vor einbrechenden Wölfen, vor Dieben und vor jedweder Krankheit – im Hause des Herrn, wohin er, weil gerufen, vorausging, wiedersähe? 14. Was anderes erbittet er nun von Gott im Himmel, als was er von dessen Stellvertreter hier auf Erden erbat? Er hat wenige Tage vor seinem Tod, als er sein Ende schon kommen sah, dem Inhaber des römischen Stuhles und einigen Kardinälen einen Brief von mehr als menschlicher Nächstenliebe und Umsicht gesandt, worin er – nur unter Tränen kann ich daran denken – kniefällig um einen geeigneten Nachfolger bat.19 Und wie ein sterbender Vater höchst besorgt seine heiratsfähige Tochter der Obsorge eines zuverlässigen Freundes empfiehlt, so hat er der Verlässlichkeit jener Kirchenmänner seine verwitwete Kirche empfohlen. Wirklich, welch vortrefflichste und heiligste Seele, welch wahrhaft vollkommener Mann und welch umsichtiger, wachsamer Bischof und Hirte! Zum Zeitpunkt, da andere nach Ärzten schicken und Wahrsager beiziehen oder umständliche Testamente aufsetzen, abändern oder überhaupt nichts mehr tun, ausser dass sie wortlos stöhnen, auf dem Lager weinend und jammernd sich wälzen oder erschreckt und bewegungslos ob der Nähe des Todes erstarren, da hat er sich nicht des eigenen, sondern des Zustandes seiner Kirche erbarmt, um einen zukünftigen Bischof angehalten und es abgelehnt, seine teuerste Angetraute, mit welcher er sieben Lustren verbracht hatte,20 bei seinem Hinschied sich selbst zu überlassen. 16. Wer würde solche Treue nicht loben, wer eine solche Gesinnung nicht wünschen, wer eine solche Charakterstärke im Sterben nicht bewundern? Von Iulius Caesar hält die römische Geschichte unter manch anderem fest, dass er sterbend, um eine Entblössung seines Unterleibs zu verhindern und in seinem Sturz die Ehrbarkeit zu wahren, den gefalteten Bausch seiner Toga hinab fallen liess.21 Gelobt

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wird auch Pompeius, dass er in seinem Tod um seine Ehre besorgt war. Und bei den Griechen berichtet man von der Königin Olympias,22 der Mutter Alexanders, sie habe bei ihrer Ermordung23 in gleicher Art die gefaltete Toga fallen lassen, was freilich bei der Schamhaftigkeit einer Frau weniger verwundert, während ihr Starkmut um so erstaunlicher ist. 17. Epameinondas aus Theben jedoch, unter den Griechen mehr als andere gepriesen, hat nach einer Verwundung in der Schlacht24 sterbend gefragt, ob sein Schild in der Hand des Feindes sei, und auf die Antwort, er sei unbeschadet, sogleich nach ihm geschickt und ihn dann mit einer Art kriegerischer Wollust wie einen Zeugen seines Heldentums umarmt, worauf er – unter Freudentränen ihn küssend – heiter verschied. Um wie viel besser ist da unser Bischof, da er weder um seine Toga, noch um seinen Schild, vielmehr um seine Seele und seine Kirche besorgt war! Sehr ähnlich einem Martin25 hat er den Tod nicht gefürchtet und hätte doch auch ein längeres und mühevolles, lästiges Leben nicht von sich gewiesen, wäre es seinem Volke von Nutzen gewesen. Das zu entscheiden überliess er der göttlichen Vorsehung und tat inzwischen, was an ihm lag, betete zu Gott und beschwor die Menschen, soweit er vermochte, seiner Angetrauten in ihrer Witwenschaft und Verlassenheit beizustehen. 19. Sich um eine Nachfolge gesorgt zu haben, das lesen wir auch von andern; denn wer hätte an einen Nachfolger überhaupt nicht gedacht? Um die Herzen zu rühren, halten wir uns an die berühmtesten Beispiele. König David, längere Zeit unschlüssig, machte nach einem wohlüberlegten und klar gefassten Entscheid seinen von ihm gezeugten Sohn zum Erben des Königreichs,26 einen sehr weisen Mann, wie sein Ruf behauptet. Der göttliche Vespasianus hatte als römischer Kaiser zwei Söhne, die ihm nacheinander im Imperium folgten, der eine von ihnen war tüchtig, schlecht aber der andere. Es heisst, er habe das vorausgeahnt und auch öffentlich bekundet.27 20. Deren Nachfolger Nerva28 konnte nicht ähnlich handeln, da ihm Söhne fehlten; er adoptierte Traianus,29 einen tüchtigen und energischen Mann, welcher der Republik nützlich war. Dieser adoptierte einen andern und dieser wieder einen andern, und für lange Zeit herrschte im römischen Reich die Nachfolgeregelung durch Adoption. Von dieser hatten auch schon früher die ersten Kaiser Gebrauch gemacht, wie denn einem Iulius Caesar der adoptierte Augustus folgte und wie auch dieser seinen Stiefsohn Tiberius aus Mangel an eigenen Söhnen adoptierte und zu seinem Nachfolger in der Reichsgewalt machte. 21. Und obwohl ich recht gut weiss, dass er verdächtigt wurde, eine solche Wahl willentlich und wissentlich deshalb getroffen zu haben, um nach seinem Tod dem Volk noch teurer und unvergesslicher zu werden, meine ich doch, eine solche Überlegung sei eines so grossen Fürsten unwürdig gewesen, sofern die Sache überhaupt wahr ist; denn sie wirkt unwahrscheinlich, und es befreien den Herrscher von solcher Verdächtigung recht angesehene Historiker.30 Kein Zweifel besteht allerdings, dass man die Tüchtigkeit von Verstorbenen dann besonders stark vermisst, wenn

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ihre Nachfolger unfähig sind; denn je mehr man deren Leistung herabsetzt, um so höher erhebt man den Ruhm ihrer Vorgänger. 22. Mit gutem Grund ist deshalb der Feldherr Philopoimen aus Achaia31 zu loben. Denn als ihn seine Feinde gefangen hatten, um ihn mit einem Gifttrank umzubringen, und als er das todbringende Getränk schon in der Hand hielt, fragte er, ob Likortas, der stärkste Mann in Achaia nach ihm und damals der zweite Praetor eben da, noch am Leben sei; und als er hörte, ja er lebe, erklärte er: „Gut so; an ihm hat das Vaterland einen tüchtigen Führer,“ und starb darauf zufrieden und unerschrocken. 23. Unser Praesul aber, um zu ihm zurückzukehren, erwirbt sich in der Tat einen Nachfolger, den ihm weder die Natur noch die Adoption gewährt hat, mit blossen Bitten, wobei er nicht etwa auf den eigenen Ruhm, sondern auf den Vorteil seiner Kirche bedacht ist. Und nicht den geringsten Zweifel habe ich, dass er, wäre die Entscheidung bei ihm gelegen, nicht einen Unfähigen verlangt hätte, um damit sein eigenes Lob zu steigern, sondern eher den wiedergeborenen Ambrosius oder geradezu einen Prosdokimos.32 Er wusste ja, dass die vom eben Erwähnten gegründete und mit seinen Lehren gefestigte Kirche schon zur ersten Zeit unseres Glaubens geblüht hatte. 24. Weil nun aber, wie wir annehmen, die Tage der Zeitlichkeit sich dem Ende zuneigen, wünscht er sich von den „späten Arbeitern des göttlichen Weinberges“33 gewiss gerade den Besten, wer immer er sei, und erbittet jetzt, da er im Besitz der Unsterblichkeit ist, von Christus als erste Gabe, er möge ihm einen Nachfolger verleihen, der mit leuchtenden Werken und mit dem Licht des Lebens seinen Ruf eher verdunkle als verkläre. Das freilich bittet er wohl umsonst. 25. Es möge doch Verona seinen Zeno schicken, Modena den Geminianus, Ravenna den Severus, Nola den Paulinus, Capua den Germanus, Aquitanien den Prosper! Es schenke Afrika Cyprian und Spanien Isidor!34 Wähle Dir, Padua, aus dieser heiligen Zahl nach Deinem Wunsch Deinen Bischof. Er wird strahlender sein als die Sonne, aber dennoch niemals den glänzenden Ruhm Deines Ildebrandino verdunkeln, den der Bischof von Rom Dir einst schickte wie er auch einen Ambrosius der Stadt Mailand geschickt hat. 26. Niemals wird sterben, was der Lebende im Himmel als seinen lebendigen Ruhm auf Erden zurückliess. Und wollte er nun – obwohl unaussprechliche Güter verströmend – Gunst und Beifall des Volkes ablehnen, da er solches schon hier, noch im Fleische lebend, in hoher Gesinnung verachtet hat, so könnte er doch, soviel er sich dagegen wehrte, es nicht entbehren. Dies ist der Glorie eigen: Die Fliehenden verfolgt sie, verherrlicht sogar die Widerstrebenden, lässt jedoch oft die masslos nach ihr Gierenden fliehend im Stich. 27. Wie könnte ein Fluss vertrocknen, der aus einer ewigen Quelle herabströmt? Oder wie könnte einem festen, vom Sonnenstrahl getroffenen Körper der Schatten entschwinden? Wo immer eines Menschen Ruhm seinen Ursprung habe und wem immer der Ruhm als Schatten folge: Die Tugend selber stirbt nicht.35 Ich handle also, Brüder, in diesem Schrei-

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ben, wie die Autorität des göttlichen Wortes befiehlt:36 Ich lobe den Menschen nicht bei seinen Lebzeiten, sondern wie Ambrosius sagt, lobe ich erst nach vergangener Gefahr. Ich verherrliche den Geretteten; ich preise den seligen Weltensegler als einen, der im Hafen des Himmels vor Anker liegt; ich preise den Kriegsführer, der im irdischen Kampf sich bewährt hat und jetzt triumphiert im himmlischen Königssaal unter dem Triumphbogen des Äthers. 28. Nicht dass mich gar sehr die Überlegung bedrängte, es könnte den Gepriesenen der Hochmut befallen; denn ihm öffnete er nie einen Zugang zu seinem Herzen, das als eine Burg der Bescheidenheit galt. Ich glaube auch nicht, der Lobredner könnte mit einer Schmeichelrede sich selber schaden, spricht er ja, so fürchte ich, zu wenig und recht frostig zum Lob dieses Mannes, weil an die Heiligkeit eines Besten die Rede eines Sünders nicht heran reicht.37 Freilich, die Wahrheit zu sagen, das hoffe ich! Ja das weiss ich, dass ich nicht lüge! 29. Wie sollte ich übrigens dem Beerdigten schmeicheln wollen, wo ich’s doch dem Lebenden nicht getan habe? Oder wie wagte ich vor ihm zu lügen, der nun den All-Sehenden ansieht?38 Ich habe ja, als er noch im leiblichen Kerker gefangen sass und vielleicht nach Menschenart getäuscht werden konnte, solches nicht gewagt. Gott sei mein Zeuge: Zum Bischof pflegte ich nie anders zu sprechen als in der Annahme, er erkenne wie mein Äusseres so auch meine Seele. Und ich dachte so, obwohl er mir mit seiner vertraulich wohlwollenden Zuneigung, soweit an ihm lag, viel Sicherheit einflösste. Ich weiss aber nicht, was Göttliches in diesem Menschen war; denn während er sich mir gefällig zeigte, ja sich mir recht eigentlich anbequemte, erfüllte er mich doch in zunehmendem Mass mit Ehrfurcht und Staunen. 30. Er pflegte meinen Namen oft in meiner Anwesenheit und häufiger in meiner Abwesenheit mit Lobreden – und wären sie zutreffend! – zu schmücken. Daraus empfing ich Freude und einen nicht geringe Ansporn, mir Ruhm zu erwerben. Doch viel grösser war meine Verwunderung, wie es denn komme, dass die Liebe, die blinde, wie man sagt, das Urteil selbst eines so vortrefflichen und bedeutenden Mannes verfälsche. Er war mir, soweit als erlaubt, der nachsichtigste Vater; ich aber drang tiefer als sich denken lässt, in sein innerstes Wesen wie in das Allerheiligste vor.39 Das hatte zur Folge, dass mir meine eigene Person nur immer lieber wurde und dass ich von ihm mit besonderer Gewissheit spreche. 31. Er liebte mich, während er lebte, als sähe er in seinem Geist das Feuer meines Herzens, und ich glaube, seine Zuneigung zu den Seinen ist im Tode nicht erkaltet. Niemals hegte ich grössere Hoffnung auf seine Hilfe als heute, wo ich vertraue, dass er nicht weniger helfen wolle als früher, aber es besser vermöge. Und weil schon die blosse Erinnerung an hervorragende Männer beglückend ist, verweile ich bei dieser Schilderung noch länger. 32. Seine Liebe gewann ich vor mehreren Jahren, als er wegen einiger kleiner Werke sich herabliess, mich zu Rate zu ziehen, und mein Verstand dabei bisweilen

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wohl etwas entdeckte, was er billigte. Nicht dass ein so geschickter Meister eines so bescheidenen Ratgebers bedurft hätte! Aber ihn freute ein Gespräch, und der Kopf wichtigerer Leute war, wie das üblich ist, mit ganz anderen Sorgen beschäftigt. Als ich schliesslich an die Kirche von Padua kam,40 „nahm mich der Mann Gottes väterlich auf,“ wie Augustinus von seinem Ambrosius sagt,41 „und würdigte meine Pilgerschaft in echt bischöflicher Weise.“ Darauf wurde er mir recht eigentlich mein Ambrosius, richtete meinen Geist auf und kräftigte ihn mit Worten nicht besser als mit dem Leben. 33. Übrigens kam ich später zu ihm, als ich wollte. Sonst hätte ich mehr Zeit gehabt, aus dem engelhaften Umgang Nutzen zu ziehen. Denn niemand hat sich je von ihm verabschiedet, ohne sich gebessert zu haben; und dass ich, so lange es möglich war, nicht fleissiger Gebrauch davon machte, beschämt und betrübt mich. Doch eine Hoffnung auf sein längeres Leben hat mich getäuscht; auf sein Alter achtete ich nicht, obwohl es schon bedeutend dem Ende zuneigte, vielmehr auf seine Mässigkeit in allen Gewohnheiten und auf die Reinlichkeit und Gesundheit seines greisen Körpers, und so widerfuhr mir seinetwegen, was vielen, ja fast allen widerfährt: Was einen beglückt, verspricht man sich auf lange Zeit. 34. Und mit wie vielen und wie umsichtigen Ratschlägen er sich doch abmühte (so als sähe er in die Zukunft), mich von der Reise abzuhalten,42 zu der ich mich rüstete und derentwegen ich – was ich am wenigsten vermutete – das verehrte Angesicht des heiligen Mannes auf Erden nicht nochmals sehen sollte, das wiederhole ich mir jetzt bekümmert. Und wie ich ihm für alles danken könnte, weiss ich nicht; denn ich habe nichts ausser mein Andenken, meine Liebe und mein Vertrauen, in dem ich ihn um seine Fürbitte anflehe. Umgekehrt würde ich das Gebet eines Sünders für einen überaus heiligen Mann nicht allein für überflüssig, sondern geradezu für anmassend halten.43 35. Doch meine persönliche Trauer soll mich nicht, weil ich meinen Vorsatz vergesse, von der allgemeinen Trauer ablenken, und so kehre ich mich denn erneut an Euch, teuerste Brüder. Freilich, was soll ich nun sagen? Ich vermag von der Erinnerung an jenen Mann nicht abzulassen; denn je mehr ich an ihn denke, desto heftiger brennt mein Herz; und je mehr ich sage, desto mehr möchte ich anfügen; und je weiter ich aushole, desto weiter dehnt sich das Feld und desto weniger finde ich den Schluss. Doch es fordert jedes Schreiben ein Ende. 36. Ich wage also nicht, Euch zu ermahnen, den Hinschied eines solchen Mannes zu beweinen, nein eher wage ich, es zu verbieten. Denn es könnte ja scheinen, dass gemäss einem Ausspruch Ciceros44 eher der Neid als die Liebe über den Glücklichen trauere. Wer denn ausser ein Neidischer wird einen Freund beklagen, der vom Fleischlichen zum Geistigen, von der Erde zum Himmel, von der Arbeit zur Ruhe, vom Sterben zum Leben, von zeitlicher Beschwerde zu ewiger Seligkeit hinüber ging?45 Umgekehrt wage ich Euch nicht zu verbieten, den grossen und unersetzbaren Verlust für die Kirche zu beklagen. Was ich zweifelsfrei tun kann, das

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rate und bitte ich: Wahrt die Erinnerung an Euren Vater, und bemüht Euch, seine Spuren nicht zu verlassen, Euren Glauben hochzuhalten, die von ihm tradierten heiligen Gebräuche zu beachten, auch fortzuführen, was er begonnen, und zu vollführen, was er begründet hat, dies zu jeder Zeit, vornehmlich aber jetzt, wo die Kirchenstelle vakant ist, Euer Gebet inständig und demütig an Gott zu richten, damit Er uns immerfort Hirten sende, die Ildebrandino ähnlich sind. Seid überzeugt, dass er in unserer Mitte eher als Engel Gottes denn als Mensch gewohnt hat. 38. Du aber, edles Padua, fruchtbar auf Deinem Erdenfleck unter einem freundlichen Himmel, in der Nähe des Meeres und von Flüssen umspült, reich an fettem Acker, bekannt für die Klugheit der Einwohner und hochberühmt dank dem Glanz Deines alten Namens,46 glaube mir, unter Deine Bischöfe und in den glorreichen Reigen Deiner heiligen Bekenner wirst Du Deinen Ildebrandino niemals als den hintersten einordnen. (Padua, November/Dezember 1352)47

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Vgl. das vorangehende Schreiben an Bischof Philippe von Cavaillon und unten Anm. 4. Ps. 118,105. Reg. 2 (Sam.), 14,7; 21,17. Vgl. den an Ildebrandino gerichteten Brief Metr. 3, 25, lat. und dt. bei Schönberger 287 ff. Vgl. Note sull’attività politico-diplomatica di Ildebrandino Conti, amico del Petrarca, in: Archivio Veneto 46–47,1950,16–44 und weitere Literatur DBI, Bd. 28. Der Genannte war Bischof von Padua 1319–1352; von der römischen Kurie wurde er für verschiedenste Missionen bestimmt. Unter ihm fand im Mai 1350 eine Provinzialsynode statt, während welcher die Überführung der Gebeine des Antonius von Padua aus der Kirche Maria Maggiore in die nach dem Heiligen benannte Kirche erfolgte. Davon spricht Petrarca schon in Fam. 9,13,32. Anwesend war damals von der römischen Kurie der mit Petrarca befreundete Kardinal Guy de Boulogne. In somn. Scip. 9,21; Cic. De rep. 6,26,29. Entspricht 1Cor. 3,16. Sen. Ad Lucil. 73,16. Der Heide spricht eine christliche Lehre aus; vgl. z. B. 1Cor. 3,16. Liest man die folgenden Sätze, könnte man vermuten, Petrarca habe beim Wort praesul, Vorsteher, nebenbei an den ursprünglichen Sinn gedacht, also an einen sakralen Vortänzer. Is. 62,10; Lc. 3,5. Ps. 90,12; Mt. 4,6. Lc. 16,22 f. Gemeint ist der oberste, feurigste Himmel. Hier treten unter verschiedenen Übeln die sieben Hauptsünden auf: Ira, invidia, luxuria, gula, acedia, avaritia, superbia. Hier folgen die wichtigsten Stimmungen und Gefühlslagen des Menschen. Anspielung an die in der Kirche allgemeine Auffassung vom Verhältnis eines Bischofs zu seiner Kirche Das wären Irrende, die sich der Belehrung widersetzen. Hinweis auf Jo.10,1 f. Vgl. zu den folgenden Fragen die Reden Christi beim jüngsten Gericht; Mt. 25,34 ff.; dazu Is. 58,7; Tob. 1,20; etc.

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19 Anwärter für den Bischofssitz von Padua gab es zweifellos sehr viele von verschiedenster Art; Petrarca vollendete diesen Brief vor der Wahl des Nachfolgers. 20 Das ist seine Kirche, seine Diözese. Ein Lustrum hat fünf Jahre. 21 Suet. Caes. 82. 22 Olympias, 357 mit Philippos II. von Makedonien verheiratet; herrschsüchtig, rachsüchtig, zerfiel mit ihrer Familie und mit dem Reichsverweser Antipatros. 23 Das war 316 v. Chr. 24 Das Urteil über den Feldherrn äusserte Cic. Tusc. 1,2 und de orat. 3,139. Zur folgenden Erzählung vgl. Iust. 6,8,11 ff. Epameinondas war berühmt für seine Siege gegen Sparta dank der „schiefen Schlachtordnung“; er fiel in der Schlacht bei Mantineia 362 v. Chr. 25 St. Martin von Tours, † 399. Vgl. Sulp. Sev. Epist. 3,12–13. 26 David selber war noch durch den Propheten Samuel gewählt worden; vgl. 1Reg. 16. Zum Nachfolger bestimmte er Salomon; vgl. 3 Reg. 2. 27 Die Söhne waren Titus und Domitian; vgl. Personenreg. 28 Nerva wurde nach der Ermordung Domitians 96 n. Chr. mit 66 Jahren Kaiser und regierte bis 98. Er adoptierte Traian im Jahr 97 und machte ihn zum Mitregenten. 29 Zu Traian vgl. das Personenreg. 30 Suet. Tib. 21. Das ungünstige Urteil über Tiberius, vorgelegt von Historikern seiner Zeit und später übernommen von Tacitus, wurde erst durch die moderne Forschung korrigiert. 31 Philopoimen wurde mit 70 Jahren, als er zum 8. Mal Stratege war, 183 v. Chr. umgebracht. 32 Eine höchst zweifelhafte Vita aus dem 12. Jh. machte diese Gestalt zu einem Schüler des Apostels Petrus und zum ersten Bischof von Padua, also der Kirche, der Ildebrandino vorstand. 33 Das sind gemäss der Parabel Christi die zuletzt berufenen Arbeiter der elften Stunde; vgl. Mt. 2,1–15 und Is. 5,1–7. 34 Aufgezählt werden die berühmtesten der ersten Bischöfe aus den genannten Städten. 35 Vgl. Cic. Tusc. 1,45,109. Deutlicher zitiert Petrarca in Fam. 15,1,8. 36 Der Schluss des Abschnittes 27 hält sich vage an Eccli. 11,2 und Ambr. Enn. in Ps. 37, § 52; vgl. die Anm. von Rossi zur Briefstelle Petrarcas. 37 Vgl. die entsprechenden Skrupel Petrarcas in Fam. 14,13. 38 Die Anschauung Gottes war zur Zeit Petrarcas ein viel besprochenes Problem auch im Kreis der Päpste Johann XXII. und Benedikt XII. in Avignon. Dazu gehörten Erörterungen über Wahrheitserkenntnis durch Anschauung Gottes. 39 Sancta sanctorum, eine Bezeichnung für eine Schatzkammer voll kostbarster Reliquien aus der Urzeit des Christentums im früheren Lateranpalast in Rom, Ort der Fusswaschungen durch den Papst am Gründonnerstag in der Nachahmung Christi. 40 Petrarca übernahm 1349 ein Kanonikat in Padua. Als er im Juni 1351 auf Verlangen von Clemens VI. nach Avignon reiste, übergab er die Geschäfte einem Prokurator; vgl. Wilkins, Studies 22. 41 Conf. 5,13,23. 42 Diese Briefstelle erlaubt die Vermutung, Petrarcas Brief Sine nom. 8 habe sich an Ildebrandino gerichtet. Denn dort wird auf beschwörende Warnungen des ungenannten Adressaten vor einer Rückkehr nach Avignon hingewiesen; vgl. den Text lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 250. 43 Petrarca denkt also im bestimmten Fall nicht daran, für den von ihm verehrten Verstorbenen zu beten, damit er von Sündenlast rascher befreit werde; im allgemeinen aber unterstützte er die betreffende Ermahnung der Kirche. 44 De am. 4,14. 45 Der Gedanke fehlt kaum einmal in Petrarcas Nekrologen. 46 Padua galt als Gründung des Troers Antenor. 47 Die Datierung berücksichtigt den Todestag des Bischofs, den 2. November 1352; vgl. Wilkins, Studies 144.

Fam. 16,1, an die Kardinäle Elie de Talleyrand und Guy de Boulogne1 Bitte um Beurlaubung aus einfachem, doch triftigem Grund. 1. Petrarca verweist auf Urlaubsgesuche antiker Feldherren und nennt als Grund für sein Gesuch den Tod seines Wirtschafters. 3. Er ist mehr um seine Bibliothek besorgt als um seine Anbaufläche. 4. Dem Verstorbenen spendet er grösstes Lob für seine Zuverlässigkeit. Dieser hatte trotz mangelnder Bildung eine grosse Verehrung für Bücher. 8. Der Dichter wünscht ihm ewige Ruhe. Avignon, am 5. Januar (1353).

1. Wenn jener früheste Schrecken der Karthager, ich meine Marcus Atilius Regulus,2 von Afrika aus, wo er mit einem bedeutenden und gefährlichen Staatsgeschäft für die Republik betraut war, in einem Schreiben an den Senat seine pflichtschuldige Bitte um Urlaub mit dem Tod seines Verwalters zu begründen nicht errötete (denn dieser war im Umkreis Roms für seine paar Joche Ackerland besorgt gewesen), wie sollte da ich erröten, der ich nur ein geringes privates Geschäft, und schon gar kein öffentliches betreibe, von Euch, einem Doppelgestirn der Kirche, einen Urlaub mit dem nämlichen Grund zu erflehen? Denn mein Wirtschafter, Euch nicht unbekannt und für mich bisher in ähnlicher Weise um ein paar Joche trockenen Erdbodens besorgt, ist gestern gestorben.3 Ich fürchte ja nicht, dass einer von Euch mir jetzt eben den Bescheid gebe, den damals Atilius vom Senat erhielt, nämlich er solle bei seiner Aufgabe ausharren, man werde sich selber der verlassenen Landwirtschaft annehmen! Der Acker jenes Römers war immerhin in Rom, während der meine an der Quelle der Sorgue liegt, Euch einzig dank einem vagen Gerücht bekannt. 3. Übrigens gesellt sich bei mir ein anderer Grund hinzu, wichtig genug, mich zu beunruhigen. Ich sorge mich nämlich nicht wie der Obengenannte bloss um einen Flecken unbebauten Boden. Jenes andere Werkzeug der Zerstörung Afrikas, ich meine Gnaeus Scipio,4 hat von Spanien aus, wo er höchst erfolgreich tätig war, um seine Entlassung darum gebeten, weil seiner Tochter ein Heiratsgut fehle, und ich meinerseits verspüre – damit die Gründe der beiden hochberühmten Feldherren sich bei mir, einem einzigen, vermischen – für meine Bibliothek, die ich als meine Tochter adoptierte, nun den Mangel eines Wächters. 4. Mein Wirtschafter war zwar ein bäurischer Mensch, aber ausgestattet mit einer mehr als gewöhnlichen Umsicht und Urbanität, und ich glaube, ein getreueres Lebewesen als ihn hat die Erde niemals hervorgebracht. Was sonst? Aller meiner Diener Verstocktheit und Verschlagenheit, über die ich mich täglich beklage und gelegentlich auch schriftlich beschwerte,5 hat er für sich allein mit seiner ausserordentlichen Verlässlichkeit gelindert und wettgemacht. 5. Deshalb hatte ich mich samt meinen Angelegenheiten und meinen hier in Gallien befindlichen Büchern ganz und gar ihm anvertraut, und obwohl ebenda an Büchern aller Gattung eine grosse Vielfalt vorhanden ist, auch allerkleinste sich zwischen dicken Schmökern

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verstecken, habe ich trotz häufiger Abwesenheit und wenn ich erst nach drei Jahren zurückkam, niemals bemerkt, dass eines entfernt oder auch bloss vom Platz verschoben worden wäre. 6. Obwohl ohne Schriftkenntnis, war er ein feuriger Liebhaber von Schriften, und die Bücher, von denen er wusste, dass sie mir besonders wertvoll seien, hütete er mit noch peinlicherer Wachsamkeit.6 Dank einem längeren Umgang mit ihnen gelangte er auch dahin, Werke der Alten benennen zu können und meine eigenen Werklein von ihnen zu unterscheiden. Er strahlte völlig, wenn ich ihm, was oft geschah, irgendein Buch in die Hand legte, und drückte es seufzend an seine Brust, sprach auch nicht selten mit leiser Stimme den Autor des Buches an.7 Verwunderlich, wie er durch blosse Berührung oder schon durch den Anblick eines Werkes sich gelehrter und glücklicher zu sein schien! 7. Mit einem solchen Wärter meiner Kostbarkeiten pflegte ich also während ganzer drei Lustren meine Sorgen zu teilen und habe ihn – wie man sagt – nie anders denn als einen Priester der Ceres8 und sein Haus nicht anders denn als einen Tempel der Treue betrachtet. Doch er, den ich vorgestern, indem ich auf Eure Forderung von hier wegging, als einen leicht erkrankten zurückzulassen meinte – er war zwar schon alt, aber hatte, wie Maro sagt, „ein unverwüstliches und blühendes Alter“9 – hat mich gestern abend verlassen und ist zum Dienst eines besseren Herrn hinübergeführt worden. 8. Möge ihm dieser nach so vielen körperlichen Mühen die eine ewige Seelenruhe gewähren. Denn nur „eine Bitte brachte er vor den Herrn, nur die eine hatte er.“10 Und diese, Christus, wirst Du nicht überhören, nämlich „dass er wohne“ nicht etwa in meinem Hause, sondern „im Hause des Herrn, alle Tage seines Lebens,“ das schon aufgehört hat, sterblich zu sein; „auf dass er nicht meinen Willen „erkenne“, vielmehr „den Willen des Herrn“ und „seinen Tempel besuche,“ aber nicht meinen Acker, auf dem er viele Jahre lang in Frost und Hitze seinen abgehärteten Körper gestählt hat. Möge er, der in meinem Dienst sich erschöpfte, in Deinem, so bitte ich, ausruhen! Zu Dir kommt er auf Dein Geheiss, von seinem alten Kerker11 befreit. 9. Einer meiner Diener, der bei seinem Verscheiden zufällig anwesend war, lief aufgeregt zu mir, die traurige Meldung zu überbringen, und erst tief in der Nacht kam er mit der Botschaft an, jener habe sein Leben ausgehaucht, nach mir rufend und Christi Namen unter Tränen anflehend. Das schmerzt mich, und noch schwerer würde es mich schmerzen, hätte ich wegen des hohen Alters dieses Menschen das Ereignis nicht schon lange vorausgeahnt. Nun muss ich hingehen; gestattet es, so bitte ich, glorreichste Väter. Gebt Eurem Bittenden Urlaub; der Stadt ist er nutzlos, doch dem Land unentbehrlich, und dort mehr um seine Bücher als um ein Äckerlein besorgt. Euch wünsche ich ein geruhsames und glückliches Leben. Avignon, am 5. Januar (1353).12

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Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diese Kardinäle, besonders Fam. 14,1 und 14,7. 2 Zu At(t)ilius vgl. Sen. Ad. Helv. 12,5; Val. Max. 4,4,6. Seine Gesandtschaft nach Rom zurück fällt auf 250 v. Chr. 3 Vgl. Fam. 13, 8, 9. Der Wirtschafter hiess Raymond Monet. 4 Vgl. Sen. Ad Helv. 12,6; Val. Max. 4,4,10. 5 Vgl. Fam. 4,14; 5,14; 10,3,30–35 etc. 6 Ein Beispiel dazu findet man Fam. 12,6,6. 7 Vgl. Fam. 13,7,21, wo Petrarca vielleicht an seinen Wirtschafter denkt. 8 Ceres; Göttin der Fruchtbarkeit und des Ackerbaus. 9 Verg. Aen. 6,304. 10 Alles frei nach Ps. 26,4. 11 Gemeint ist der sterbliche Leib. 12 Zum Briefinhalt und zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 91.149 und Petr. corresp.74. Angaben zu den Briefen Petrarcas findet man bei Dotti, Vita leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 16,2, an den Bruder Gherardo, den Kartäusermönch1 Ermahnung an den Bruder Gherardo, den Kartäuser.2 1. Petrarca war beim Bischof von Padua zu Gast, als zwei Kartäuser bei diesem vorsprachen. 3. Die beiden berichteten von Gherardos tapferem Verhalten während der Pest. 6. Er pflegte die erkrankten Brüder. 7. Er schützte das Kloster vor Räubern und sorgte für seine Erneuerung. 10. Die Erzählenden erkennen plötzlich in Petrarca den Bruder des Gelobten. (November 1352/Mai 1353)

1. Ich speiste einmal bei dem heiligsten und besten Mann Ildebrandino, dem Vorsteher der Kirche von Padua, der zu seiner Zeit mit seinen mannigfachen Tugenden diese Stadt verherrlichte, jetzt aber als neues Gestirn am Himmel aufging. Und sieh, da brachte der Zufall zwei Prioren Deines Ordens daher, einen Italer und einen Transalpinen. Der eine war Leiter im Haus von Casula, das an der Küste von Albenga in Ligurien hängt, und der andere Leiter im Haus Vallebuona, das nicht weit vom rechten Ufer der Rhone liegt. 2. Nachdem der Bischof – über die Ankunft solcher Gäste erfreut – die beiden seinem Brauch gemäss liebevoll aufgenommen hatte, erkundigte er sich bei ihnen in einem Gespräch, das sich bis zur Abendstunde hinzog, nach vielem und nicht zuletzt nach dem Grund, der sie nach Padua geführt habe. Sie antworteten, ihr Orden habe sie geschickt, damit sie auf dem Territorium von Treviso ein Kartäuserkloster errichteten;3 vor allem der Bischof, doch auch manche Bürger jener Örtlichkeit, gute und fromme Männer, begünstigten die Sache. Wie weit das Werk nun gediehen ist oder gedeihen wird, weiss ich nicht. 3. Indem nun der Gastgeber, beispielhaft im Leben wie heilig in Wissenschaft und Lehre, ein Wort aus dem andern hervorlockte, unter anderem auch Dich erwähnte und fragte, wie es Dir gehe und ob Du mit Deinem Los und Deiner Berufung zufrieden seist, stürzten sich die beiden wetteifernd auf diesen Gesprächsstoff und meldeten, was grossartige Gerüchte von Dir berichten, und sonderlich Folgendes: 4. Als jene Pest, die über alle Länder und Meere hinwegfegte, unvermeidbar auch zu Euch gelangte und in Euer Lager, wo Du für Christus streitest, eindrang,4 da habe Dein Prior, sonst von frommem und glühendem Eifer, wie ich selber weiss, im Entsetzen über das unerwartete Verderben zur Flucht geraten; Du aber habest ihm christlich und philosophisch geantwortet, der Ratschlag würde Dir gefallen, wenn irgendwo ein dem Tod unzugänglicher Ort bestünde. Darauf habe jener um nichts weniger eindringlich die Notwendigkeit der Abreise betont, worauf Du heftiger gesprochen, er möge gehen, wohin ihn gut dünke, Du aber wolltest auf Deinem Dir von Christus anvertrauten Wachtposten ausharren. 5. Und auf seine immer neuen Beschwörungen, mit denen er Dir manche Schrecken und schliesslich auch das Fehlen einer Bestattung androhte, habest Du gesagt, das sei unter

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allen Sorgen Deine letzte, denn nicht Du müsstest Dich darum kümmern, wie Du einst liegen solltest, sondern die Überlebenden. Hierauf habe er sich endlich zu den Penaten5 seiner Väter davongemacht, und nicht viel später habe der Tod, ihn verfolgend, dort eingeholt, während Du dank Deinem Beschützer, bei welchem „der Quell des Lebens“6 ist, verschont geblieben seist. Freilich habe dort der Tod in wenigen Tagen vierunddreissig Insassen weggerafft und Du seist im Kloster als einziger übrig geblieben. 6. Auch das Folgende fügten jene noch an: Du habest ohne Furcht vor Ansteckung Deinen sterbenden Brüdern Hilfe geleistet, ihre letzten Worte und Umarmungen entgegengenommen, ihre erkalteten Leiber gewaschen, oft an einem einzigen Tag ihrer drei und mehr in unermüdlicher Hingabe auf Deinen Schultern hinausgetragen und mit eigenen Händen bestattet, da sonst niemand gewesen sei, der ein Grab geschaufelt oder bei den Sterbenden ausgeharrt hätte. 7. Am Ende, als Du allein mit einem einzigen Hund noch da warst, habest Du ganze Nächte durchwacht und nur einen bescheidenen Teil des hellen Tages der nötigen Ruhe gegönnt, denn mittlerweile hätten nächtliche Räuber, an denen jene Gegend ungemein fruchtbar ist, in der Stille der tiefsten Nacht oft jenen Ort überfallen und seien durch Dich, richtiger durch Deinen Beistand Christus, teils mit friedlichen, teils mit scharfen Worten zurückgewiesen worden, so dass sie an den geweihten Gebäuden keinen Schaden anrichten konnten.7 8. Als aber jener schreckliche Sommer zu Ende war, habest Du zu den Dienern Christi in den benachbarten Niederlassungen geschickt, bittend, man möge Dir für Dein Kloster einen Wächter senden. Darauf seist Du zur Chartreuse gezogen8 und dort vom Prior, dem nun einzigen Vertreter des Ordens in jener Gegend,9 und von dreiundachtzig fremden Prioren als Nicht-Prior mit ganz ungewöhnlichen einmaligen Ehren empfangen worden und habest erlangt, dass man Dir einen Prior und Mönche gab, die Du aus verschiedenen Konventen auswähltest, um das nach dem Tod Deiner Brüder leerstehende Kloster zu erneuern. Und so seist Du wie in einem herrlichen Triumphzug hochbeglückt zurückgekehrt. 9. Auf diese Weise sei durch Deine Bemühung, Klugheit und Treue das einst verehrungswürdige, dann verlassene Kloster Montrieux wiederhergestellt worden. Auch seien Dir unter den genannten und vielen anderen Schwierigkeiten Deine kräftige Konstitution des Leibes und beste Gesundheit erhalten geblieben, ja auch die einem Mönch geziemende ansehnliche Gestalt. Das würde bei mir Staunen erregen, wüsste ich nicht, dass einer gesagt hat, heilige Männer hätten oft durch ihre Tugend körperliche Vorzüge erwirkt.10 In der Tat schützt eine gute Gesundheit des Geistes oft die Gesundheit auch des Leibes, kräftigt die Glieder und verleiht ein schönes Äussere. 10. Als nun unter diesem Bericht und anderen Dich betreffenden Reden der Bischof mit freudigen und feuchten Augen nach mir blickte, der ich vielleicht tro-

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ckene Augen, aber sicher kein trockenes Herz hatte, wandten sich jene beiden plötzlich mir zu und erkannten – sei’s auf göttliche Eingebung oder sei’s dank einer Ahnung ihres Geistes – in meinem Gesicht das Deine, umarmten mich unter innigem Aufseufzen und sagten jubelnd: „Wie bist Du glücklich in der frommen Unbeirrbarkeit Deines Bruders!“11 Noch manches andere fügten sie an, wovon ich am besten mit Verschweigen berichte. Du aber lebe wohl! Und da dies alles niedergeschrieben steht, handle, ich beschwöre Dich, mein Bruder, wie begonnen, auf dass Du Dich „bewährest bis ans Ende“.12 (November 1352/Mai 1353)13

Anmerkungen 1 Der Kartäuser Gherardo lebte im Kloster Montrieux; vgl. die früheren Briefe an den selben Adressaten Fam. 10,3–5 und Wilkins, The Making 337–338. 2 Die sehr knappe Inhaltsangabe in der von Rossi bevorzugten Handschrift enthält als das wichtigste Wort Exhortatio. Zutreffender ist, was in der von Fracassetti benutzten Handschrift steht: Bericht von seiner vortrefflichen Leistung, den Petrarca durch zwei Kartäuser vernahm. 3 Der Orden, der von seinen Mitgliedern ein strenges Einsiedlerleben in den Zellen einer gemeinsamen Siedlung fordert, war 1084 von Bruno von Köln mit Gefährten gegründet worden und erlebte besonders im 14.-15. Jh. eine starke Ausbreitung. 4 Hier die gängige Lehre, dass der Mönch ein miles Christi sei; vgl. die ersten Sätze der Regel Benedikts. 5 Penaten sind Hausgötter und stehen für das Zuhause; ihre Erwähnung wirkt hier spöttisch. 6 Prov. 13,14; 14,27; 16,22. 7 Selbst in den Klöstern streng asketischer Orden gab es dank freigebigen Spendern Schätze genug, die einen Überfall lohnten. 8 Es wird das von Bruno von Köln gegründete Kloster nordöstlich von Grenoble gemeint sein, La Grande Chartreuse. 9 Im Lateinischen steht ab illo, religionis nunc cultore unico in terris, priore. Das Wort religio heisst hier Orden, so wie religiosus oft Ordensmann, Mönch heisst; vgl. unten im Abschnitt 9 und Fam. 16, 9,18. 10 Rossi verweist in seiner Anm. zu Fam. 16,2, Bd. 3, 179 auf Parmenides, den Boethius, Cons. phil. 4 zitiere. Die Angabe ist zu knapp, und meine Nachprüfung kann die Behauptung nicht erhärten. 11 Frei nach Verg. Aen. 3,480. 12 Vgl. Mt.10,22 und 24,13 und Mc.13,13. 13 Wilkins, Studies 150–151.172 datiert auf Januar/Februar 1353.

Fam. 16,3, an seinen Sokrates1 Gegen Freunde, welche Begehren schüren. 1. Petrarcas Abwehr richtet sich gegen einen gemeinsamen Freund, dessen Ratschlag schädlich ist. 3. Er bekräftigt seinen Vorsatz, mit seiner Habe zufrieden zu sein. 5. Er zählt seine Güter auf. 10. Seine Freunde sollen seine Freiheit respektieren. 11. Vom neuen Papst begehrt er für sich nichts. An der Quelle der Sorgue, am 28. März (1353).

1. Vieles hätte ich Dir heute zu schreiben, was ich absichtlich übergehe; es wird sich nämlich offener und leichter mündlich ausdrücken lassen. Meine Zunge, die in der Einsamkeit lange unbewegt und stumm war, wird die ermüdeten Finger entlasten.2 Nur das Eine will nicht aufgeschoben sein; es geht aber nicht Dich selber an, sondern unseren gemeinsamen Freund, der eben jetzt nach seinem eigenen und auch verbreiteten Brauch mich bald in einem eigenen Schreiben, bald in einem fremden aufreizt und von seinem Willen nicht absteht, mich, der ich gegen Habsucht völlig kalt bin, zu entflammen, indem er, wie Horaz3 formuliert hat, „liebend zu schaden beeilt ist.“ Das entspricht einem üblichen Fehler einer gewöhnlichen Freundschaft. 2. Obwohl meine Liebe zu diesem Freund unbeschadet bleibt, hat sich doch meine Schätzung vermindert, und wie Brutus4 von seinem Cicero sagt, „wurde an Liebe nichts entzogen, an Achtung aber reichlich.“ Gewiss, wenn ich einerseits einem Mann von grosser, bewährter Treue, der mir in dauerhafter Freundschaft verbunden ist, meine Liebe keineswegs entziehen kann, so ist mir anderseits unmöglich, seine am Boden haftende Gesinnung mit ihren entarteten Grundsätzen nicht zu hassen. 3. Ihr solltet also beachten, nämlich Du und die Meinen, wo sie auch seien, ja alle, die mir Untüchtigkeit vorwerfen:5 Ich habe meinen Wünschen ein Ziel gesetzt und will mich um alles, was mir das Leben noch bringen kann, wenig sorgen; und begehren will ich schon gar nichts. Ich habe so viel zum Leben, als ein achtbarer Mensch benötigt, um mit Fortuna6 einen Vertrag zu schliessen und zufrieden zu sein. Weniger besass Quinctius,7 weniger Curius, weniger Fabricius, weniger Atilius,8 welche Könige und Völker besiegten und – was ihr herrlichster Triumph war – auch sich selber, ja die aufrührerischen Regungen ihres Herzens überwanden. 4. Und was sollte daraus werden? Niemals könnte ich, sofern ich auf die Habsucht hören wollte, so viel erlangen, dass ich aufhörte, vielen anderen und mir selber als ein armseligster Bettler zu erscheinen. Verschwendungssucht, Habgier und Ehrgeiz sind mit keinen Grenzen zufrieden; von falschen Meinungen strotzt alles, und wenn man sich ihnen nicht widersetzt, verstossen sie einen ins äusserste Elend. Sich ihrer zu erwehren, ist schwierig; ihnen nachzugeben, tödlich, und wer sich ihnen ausliefert, wird nicht stehen bleiben, wo er möchte. 5. Ich habe das Lebensnotwendige, wie man allgemein zu sagen pflegt. Ja ich habe sogar manches, was ich besser entbehren würde. Ich habe, um zu verschwen-

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den. Was heisst Ihr mich, mehr zu verlangen, was heisst Ihr mich, mehr zu erhoffen? Ich hätte, wenn nötig, genug für ein Grab auf einem eigenen Grundstück, so sage ich, sofern man hier9 überhaupt etwas zu eigen hat. Ich habe hier, wo ich kurze Zeit, ja wo ich lange Zeit wohnen kann; ich habe, um zu essen, um zu trinken, habe für Schuhe und Kleider, habe, wer mich bedient, wer mich begleitet, habe, um zu reiten,10 und habe, um mich zu decken, mich hinzulegen, mich zu ergehen, mich zu vergnügen. Hat der römische Kaiser etwa mehr? 6. Ich habe einen gesunden Leib, gebändigt mit grosser Mühe und mir daher nicht länger ein so störrischer Knecht wie früher. Zudem habe ich aller Art Bücher als den nicht geringsten Teil meines Reichtums. Weiter habe ich meinen Verstand, wie klein er auch sein mag, dann die Liebe zu den Büchern, die meine Seele mit wunderbarem Vergnügen weidet und ohne Langeweile ertüchtigt. Dazu kommt Ihr, meine Freunde, die ich zu meinen grössten Gütern zähle, solange meine Freiheit, ohne die ich nicht lange leben wollte, durch Eure Ratschläge nicht Schaden nimmt. 7. Überdies habe ich als beträchtliches Gut die Sicherheit. Ich habe auf Erden, so weit ich wüsste, keinen einzigen Feind, ausser die mir vom Neid bescherten. Diese verachte ich mit gutem Grund, und sie entbehren zu wollen, wäre wohl kein kluger Gedanke. Dazu kommt das öffentliche Ansehen bei allen Guten auf unserem Erdteil, auch bei jenen, die mich wohl niemals sahen und kaum je sehen werden. Das hat mir, so bekenne ich, himmlische Gunst, nicht etwa eigenes Verdienst erworben. 8. Für gering schätzt Ihr diese Reichtümer? Ihr wollt, dass ich Wucher treibe; Ihr wollt, dass ich Seereisen mache,11 Ihr wollt, dass ich auf dem Marktplatz schreie und eine käufliche Seele und Zunge habe? Oder was soll ich sonst noch tun, um mich zu bereichern? Ihr empfehlt mir also, unter Entbehrungen zu leben, um unter Reichtum zu sterben? Ihr ratet, umher zu betteln und zu sammeln, was ein anderer dann sitzend verschleudere? Unter Schmerzen soll ich nach etwas suchen, worüber sich ein mir Unbekannter einst freue? Unter Mühen soll ich finden, was ich unter Kummer verliere und unter Ängsten bewache? 9. Glaubt mir, aus grosser Besorgnis habt Ihr Euch harte Bemühung auferlegt, um die Habsucht zu sättigen. Unersättlich ist sie und unbezähmbar. Nach allem lechzt sie, alles verschlingt sie; und ein Boden fehlt ihr. Der Bestrafung von aussen bedarf das menschliche Begehren nicht; es ist sich selbst eine Folter. Scheitern seine Bemühungen, ist es unglücklich; fangen sie an, sich zu lohnen, entbrennt es; erreichen sie vollen Erfolg, dann vollends zittert es vor Angst und ist wahrhaft mittellos und elend. Doch lassen wir diese Philosophie, die allen verhasst, wenn auch wahr ist, und kehren wir zurück zum Alltäglichen. 10. Gelte ich Reichen als Armer, so doch mir selber als reich. Was ratet Ihr ? Soll ich schwitzen, bis ich sogar ihnen für wohlhabend gelte? Kein Ende wird das haben, auch nicht, wenn ich Länder und Meere besitze. Solange etwas Wünschbares übrig-

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bleibt, wird der Habgier nichts genügen. Gestattet mir, reich zu sein nach eigenem Urteil; es geht ja um das Meine. Wozu braucht es hier ein fremdes Urteil? Welcher freie Mann ernährt sich nach dem Geschmack eines andern? Behaltet Eure Meinungen für Euch, und lasst mir die meinen, das bitte ich. Vergeblich rupft ihr an ihnen; sie wurzeln in härtestem Stein! 11. Und was ist es denn, was Dein Schreiben zuletzt erwähnt und woraus mir unser Freund eine neue Hoffnung zurechtschustern möchte?12 In der Tat, selbst wenn es stimmt, was er sagt – dessen ich aber nicht im mindesten sicher bin –, was folgert er daraus? Sei es doch: Der neue Bischof von Rom13 liebe die Guten! Was geht mich das an? Wirklich, wenn er keine anderen liebt, dann liebt er wenige, und von diesen bin ich keiner, wollte es freilich eher sein als ein Pontifex. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 28. März (1353).14

Anmerkungen 1 Vgl. die im Personenreg. angeführten früheren Schreiben an diesen Freund Petrarcas. 2 Hindeutungen auf ermüdete Finger sind bei Petrarca nicht selten; vgl. z. B. Fam. 18,6,7; 18,12,3 und 22; 19,14,1; 23,12,14. 3 Frei formuliert nach Hor. Carm. 1,8,2–3. 4 Ad Brut. 1,17,6. 5 Lateinisch: quibus segnior appareo. 6 Hier steht Fortuna als Verwalterin zeitlicher, materieller Güter. 7 Gemeint ist Quinctius Cincinnatus. Er und die folgenden Gestalten werden von Petrarca oftmals als die grossen Vorbilder für Genügsamkeit nebeneinander aufgeführt; vgl. Personenreg. 8 Vgl. zu Regulus Fam. 6,2,8; nicht zu verwechseln mit 16,1 Anm. 2. 9 Lateinisch: hic, das ist hier auf Erden. 10 Lateinisch: qui me vehat. Petrarca reiste meistens zu Pferd. 11 Gedacht ist wohl – so legt der Textzusammenhang nahe – an Handelsreisen zu grossem Gewinn oder an eine Pilgerfahrt ins heilige Land, wie sie längst Mode war. 12 Dass Petrarcas Freunde noch lange nicht darauf verzichteten, ihm eine hohe Würde aufzudrängen, ergibt sich aus Fam. 20,14,15 ff. 13 Das ist Innozenz VI. Er folgte auf Clemens VI. durch die Wahl vom 18. Dezember 1352 und galt als sittenstreng, fromm und als Mann des Ausgleichs. Doch Petrarca vermisste bei ihm eine höhere Bildung. Sich von ihm zu verabschieden, weigerte er sich; vgl. Sen. 1,4. 14 Zum Inhalt des Briefes und zu seiner Datierung vgl. Wilkins, Studies 158–160. 172.

Fam. 16,4, an einen Freund1 Über Glaubenszweifel. 1. Zweifel an der Erlösung des Menschen sind unerträglich. 2. Allerdings ist der Mensch, seit Gott es bereute, ihn geschaffen zu haben, nicht besser geworden. 4. Gottes Menschwerdung ist scheinbar überflüssig gewesen. Doch mit zunehmender Unwürdigkeit des Menschen wächst Gottes Grossmut. 5. Dafür schuldet man vermehrten Dank. 6. Zu beherzigen ist, was Augustinus über das Werk der Erlösung gesagt hat. 9. Die Schuld und die Strafe wurden uns genommen. 14. Jeder Glaubensartikel der Kirche zeigt Mittel, die unserer Erlösung dienen. 16. Sowohl Gottes Macht wie auch Gottes Güte sind unendlich. 18. An der Verzeihung zweifeln heisst, entweder seine Allmacht oder seine überragende Güte leugnen. Kain und Judas haben dieses grösste Unrecht begangen. 21. Nicht Zweifel, sondern Dankbarkeit müssen wir hegen. Am 29. März (1353).

1. Ich übergehe manches, worüber wir, so hoffe ich, zu sprechen eine Gelegenheit finden werden. Nur zur einen Frage, die wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit keinen Aufschub duldet, will ich schreiben. Deine misstrauischen Zweifel an unserem letzten Heil ertrage ich schlecht; das habe ich Dir oft ins Gesicht gesagt, doch wie ich sehe, weniger oft, als ich sollte und als nötig wäre, um Dein hartes Herz zu brechen. 2. Was, so überlege ich, würde mitten auf den verschlungenen Wegen der Welt und unter den Betrügereien des Teufels den Geist eines Denkenden völlig beanspruchen,2 wäre es nicht das eine Unleugbare, dass das Menschengeschlecht dessen unwürdig ist, was ihm vom Himmel her bereitet wird und was wir gemäss unserem Glauben als etwas schon Geschehenes betrachten? Da ist einer ein Dieb, ein anderer ein Meineidiger, der dritte ein Ehebrecher, und da ist die ganze Erde voll eines Gesindels gleich jenem, das – wie wir lesen – den Schöpfer einst zu den Worten bewegte:“Mich reut, den Menschen geschaffen zu haben.“3 Wie nur tut der Grosse so Grosses für solche Wichte?4 3. Das eben sagst Du nun wohl zu Dir selber. Doch achten soll man darauf, dass die Überlegung nicht Unglauben, vielmehr Demut und Dankbarkeit bewirken muss. Gewiss, nur wenige sind der Wohltaten Gottes würdig, nein keiner ist es, ausser Er selber habe ihn würdig gemacht. Doch um so grösser ist sein Wohlwollen, um so herrlicher seine Grossherzigkeit und um so offensichtlicher seine Milde! 4. Noch eine weitere Schwierigkeit hat vielleicht Dein Misstrauen geschürt. Denn allgemein ist auch unbestritten, dass einerseits schon vor der Ankunft Christi sehr viele geistvolle und sittlich hochstehende Menschen gelebt haben, und dass anderseits uns zur Jetztzeit – wäre es doch weniger klar erkennbar! – Tugenden und Geisteskraft gründlich mangeln. Deshalb schwankt nun der Verstand, und wenn er den Grund nicht erkennt, weshalb etwas geschehen sei,5 glaubt er gar nicht, dass es geschehen sei. Doch diese Schwierigkeit deutet das Selbe an und ist wiederum von

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der Art, dass sie sowohl Frömmigkeit wie Liebe mehren müsste, nicht aber Unglauben hervorbringen dürfte. Je entschiedener wir uns für unwürdig erkennen, desto inniger müssen wir Gottes spendefreudige Grossherzigkeit gegen uns hochpreisen und bestaunen, jedoch nicht in einem Mass bestaunen, dass wir sie gar leugnen. 5. Wer ausser ein völlig verdorbener Kerl wird, nachdem er ohne Verdienste von seinem Herrn hoch geehrt wurde, gegen solchen sich auflehnen oder der empfangenen guten Gabe vergessen? Welcher würde nicht eher sagen: ‚Grundlos hast Du mich geliebt und einen Unwürdigen den Besseren vorgezogen. Habe Dank, ich anerkenne in Dir den getreuen Herrn, anerkenne das mir von Dir geschenkte herrliche Geschick. Den Lohn der Tugendreichen empfange ich, wiewohl der Tugend bar. Glücklich wurde ich ohne mein Zutun, und was ich nicht mit eigener Anstrengung, vielmehr dank Deinem Wohlwollen erwarb, schulde ich weder mir noch einem andern als einzig Dir.‘ 6. Was in der ganzen Lehre über Christus (uns überliefert durch Menschen, welche die Wahrheit, das heisst eben Christus, lieben), was in all dem, so frage ich, ist entweder Gott unmöglich oder uns nicht glaubhaft? Freilich offenbart sich da eine so grosse Selbstlosigkeit und Hingabe Gottes und ein so grosses Verzeihen Gottes gegenüber den Menschen, dass der Menschenverstand es kaum fassen kann. Und durchaus wahr ist, was Augustinus6 zum Psalm 147 erklärt hat: „Obwohl das, was uns beglückt, ganz sicher ist, wird es kaum geglaubt.“ 7. Da hast Du also, sterbliches Wichtlein, weshalb Du zuerst Deine Ungläubigkeit abzulegen und dann zur Danksagungen überzugehen hättest. Glücklicher bist Du geworden, als Du Dir auszudenken imstande wärest. Glaube, was geschehen ist! „Die Weisheit Gottes“ in Person, der einzige mit dem Vater wesensgleiche und ewige Sohn,7 ist Dich zu erlösen gekommen. Er hätte doch vom Thron seiner Herrlichkeit herab befehlen können, und mit Notwendigkeit wäre im Himmel und auf Erden gehorcht worden. Er wollte jedoch wirkungsvoller handeln und selbstloser; darum „liess er sich herab, den ganzen Menschen anzunehmen“, wie Augustinus sagt.8 „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“.9 8. Hierauf folgt die Begründung. „Damit nämlich,“ so sagt Augustinus, „zeigte er den fleischlichen Wesen, die unfähig sind, die Wahrheit im Geist zu erkennen, vielmehr ihren leiblichen Sinnen erliegen, welch erhabenen Ort die Menschennatur unter den Geschöpfen einnimmt. Das zu erreichen, erschien er nicht allein sichtbar – wie er das in irgend einem ätherischen, der Schwäche unserer Augen dennoch erträglichen Körper hätte tun können –, sondern unter den Menschen als wahrer Mensch.“ Und auf dieses Wort folgt eine weitere Begründung: „Gerade die Natur hatte er anzunehmen, die zu erlösen war.“ So weit Augustinus. 9. So hat denn Gott, als er Dich, mein Freund, gefährdet sah, Dein Verderben nicht geduldet. Und als er Dich nach Deinem Fall mit einem Wort hätte aufrichten können, tat er es lieber mit seiner Hand, und nach Art der leidenschaftlich Lieben-

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den beugte er sich zur Erde, wo Du lagst, hob Dich empor und barg Dich in seinen Schoss, und die Last, die Dich am schwersten drückte, nahm er auf sich und bürdete sich Deine Sünden auf. Erfüllt hat sich die Prophezeiung Davids:10„So weit der Aufgang dem Untergang fern steht, so weit hat er von uns unser Unrecht entfernt.“ 10. Erreichen konnte er das, wie ich sagte, mit einem Wort, doch er tat es mit seinem Blut, wie denn einer gesagt hat:11 „Sieh, dies Bündnis ward mit Dir im Blute geschlossen.“ Achte nur, es nicht zu verletzen! Er nämlich ist der zuverlässigste Wahrer seiner Versprechen. Bist Du einmal sicher, dass er Dich freimachen konnte, was zweifelst Du noch, dass er es wollte? Warum zauderst Du zu glauben, was Dir notwendig, dem Spendenden leicht und seiner Hoheit am würdigsten ist? Warum fürchtest Du, was Du heiss ersehnst, in Deine Seele einzulassen? Einzig darum, weil, wie ich sagte, der beschränkte Sinn die grosse Freude nicht fassen kann und Du des grossen Geschenkes Dich unwürdig fühlst. 11. Freue Dich endlich aus ganzem Herzen! Denn Grund dazu hast Du. So gross ist der Stoff zur Freude, dass Du ihn kaum begreifst; doch richtig ist, grösseren Mut zu fassen, nicht aber, weniger zu glauben. Du bist unwürdig, er ist gütig. Du bist Sünder, er ist barmherzig. Erkenne seine Fürsorge! Umfange seine Gnade! Zerstreue die Verdächtigungen! Eine lange Strafe ohne Ende hast Du verdient, und ewige Herrlichkeit steht für Dich bereit, ausser Du lehnst sie ab. Einen strengen Richter hast Du gefürchtet; einen liebevollen Vater hast Du gefunden. 12. „Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so hat Gott sich aller erbarmt, die ihn fürchten.“12 Nicht weil unsere Sünden es verdienten, sondern weil „er unsere Beschaffenheit kennt und sich erinnert, dass wir Staub sind.“ Über unsere Sünden also zürnt er weniger, als er sich unserer Gebrechlichkeit erbarmt und uns Bedürftigen Hilfe bringt. 13. Das ist so überwältigend, dass es fast unglaubwürdig zu sein scheint. Für Böses wird Gutes, für Beleidigung Gnade eben von Jenem geboten, den zu beleidigen ganz schändlich ist, und der sich aufs leichteste zu rächen vermöchte. Dennoch muss man es zweifellos glauben und das Erbarmen unseres Erretters erkennen. Denn man kann in dem tiefgründigen, vom Vater Augustinus verfassten Buch „Von der wahren Religion“13 auch noch Folgendes lesen: „Schon jene hochheilige Annahme des Menschen14 und die Jungfrauengeburt und der Tod des Gottessohnes für uns, ebenso die Auferstehung von den Toten und die Auffahrt in den Himmel und das Sitzen zur Rechten des Vaters und der Nachlass der Sünden und der Tag des Gerichts und die Auferweckung der Leiber – dies alles ist in der Erkenntnis der ewigen Trinität und der wandelbaren Schöpfung nicht allein Gegenstand unseres Glaubens, sondern auch Beweis der Barmherzigkeit des höchsten Gottes, die er dem Menschengeschlecht entgegenbringt.“ 15. Daher, Freund, sind all dieser Dinge

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wegen unendliches Verwundern, heilbringendes Staunen und fromme Furcht zu erwecken und festzuhalten. Denn in Wahrheit ist „der Herr in der Höhe wunderbar.“15 Und er ist „wahrhaft gross und furchterregend für alle, die ihn rings umstehen,“16 wahrhaft „erschreckend in seinen Beschlüssen über die Söhne der Menschen,“17 aber dennoch auch „freundlich und mild und von grossem Mitleid gegen alle, die ihn anrufen.“18 Er ist „ein Erbarmer und ein barmherziger Herr, langmütig und mitleidsvoll“19 und „geduldig und von grossem Mitleid und wahr.“20 Ja liebevoll und gerecht ist der Herr und gibt denen ein Gesetz, die den Weg verlassen,“21 ein Gesetz nämlich, damit sie zum Weg zurückkehren und gerettet werden. 16. Was heisst das? Eben dies, dass niemand furchtbarer ist als er, doch auch niemand mitfühlender als er und niemand von grösserer Gelassenheit. Viele zwingt er, sich abzumühen, auf dass sie nicht auftrumpfen; einige lässt er Gefahr laufen, um sie zur Einsicht zu bringen; keinen will er verderben lassen; und alles unternimmt er, um uns zu retten. Daher muss man die Verzweiflung von sich weisen, die Verstocktheit abwerfen, die Gottlosigkeit verbannen, die Ungläubigkeit aufgeben. Kein Vernünftiger wüsste nicht, dass für Gott nichts unmöglich, ja nichts auch nur schwierig ist. Und kein Frommer bezweifelt, dass ihm gar nichts für beschwerlich gilt, was zur Rettung seiner Schöpfung etwas beitrüge. Einen krankhaften Sinn verrät, wer etwas anderes vermutet und daher sagt, sich erbarmen und Sünden tilgen, das wolle Gott nicht oder könne er nicht. Aus eben solcher Behauptung und aus keiner anderen Quelle pflegt die Verzweiflung hervorzugehen. Denn mit der einen Aussage leugnet man, dass er gut und mit der andern, dass er allmächtig ist, und beide sind eine Lästerung des heiligen Geistes, die weder in dieser Welt noch in der zukünftigen vergeben wird.22 Denn hiermit wird dem Mächtigsten und dem Gütigsten entweder Ohnmacht oder dann Missgunst gegenüber unserer Rettung vorgeworfen. 18. Eben diesem Übel, so glaubt man, ist Kain verfallen, als er sagte: „Zu gross ist mein Unrecht, als dass ich Verzeihung empfangen kann.“23 Die Erbärmlichkeit des Geschöpfs konnte aber nicht grösser sein als das Erbarmen des Schöpfers. Dem selben Unheil verfiel auch der unselige Judas, als er die Silberlinge in den Tempel geworfen hatte und hinging, sich zu erhängen.24 Sogar wenn er weit mehr sündigte als Kain, war ihm doch einzig seine Verzweiflung ein Hindernis, Erbarmen zu finden; und hätte er solches von Christus erbeten, wäre es ihm geschenkt worden, wie Ambrosius vermutet.25 Nun aber erbat er sich das Erbarmen nicht, sondern bekannte vor jenen Hohenpriestern26 bloss, gesündigt zu haben, und diese freuten sich seiner Sünde und scherten sich nicht um seine Strafe. Am Ende hat er Christus, gemäss Hieronymus,27 mit der Verzweiflung tiefer verletzt als mit dem Verrat, was sehr zu beherzigen ist. 20. Was also vermag Gott? Alles, was er will! Er will aber alles, was er als etwas uns Heilsames ansieht. Und eben daran hat man mit sicherem Glauben und uner-

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schütterlicher Zuversicht festzuhalten. Aufhören müssen eitle und ängstliche Grübeleien. Fromme Ohren müssen verstopft sein gegen Deuteleien der Dämonen: ‚Etwas Grosses wäre es28 wenn ein Gott unseretwegen auf eine gewissermassen wunderbare Art geboren würde, noch grösser, wenn er in unseren Bedürfnissen und Armseligkeiten leben und am grössten, wenn er in einer einzigartigen – unseren gewöhnlichen Tod übersteigenden – für uns erbarmungsvollen, doch für ihn erbärmlichen Weise sterben würde.‘29 21. Dass das wundersame und unaussprechliche Merkmale göttlicher Liebe sind, wer wollte das leugnen? Aber soll deswegen die Grösse der Gnadengabe uns zur Undankbarkeit verleiten? Fern bleibe frommer Gesinnung solcher Wahnsinn! Einsehen müssen wir, dass wir der grossen Gnade nicht wert sind. Und dass unser Wort, um würdig zu danken, bei weitem nicht ausreicht, das müssen wir einsehen. Und dass unsere Gebrechlichkeit durch Gottes Milde besiegt ist, müssen wir zugeben und im Geiste, so viel wir vermögen, dankbar und lenkbar, gläubig und getreu sein. Und obwohl es um Grosses geht und wir unwürdig sind, dürfen wir, weil ja seine Macht unerreichbar und seine Hilfsbereitschaft unermesslich ist, niemals, als hätte er für uns besorgt zu sein nicht vermocht oder nicht gewollt, verzweifeln. Lebe wohl! Am 29. März (1353).30

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Über die Person ist nichts bekannt. Lateinisch: quid aliud…inter ambages rerum et fallacias dyaboli animum cogitantis involvere… Gen. 6,6–7. Quomodo ergo talia Tantus tam indignis. Vgl. Fam. 14,7,2: talia tantus tam pusillo. Gemeint ist eben die Ankunft Christi und das Erlösungswerk. In Psalm 147, 17. Das sind die Artikel aus dem Glaubensbekenntnis der katholischen Messe; vgl. Aug. De vera rel. 16,30. Ebenda. Jo. 1,14. Ps. 102,12. Psalmenzählung hier wie immer gemäss der Vulgata, die fast regelmässig um die Zahl 1 hinter anderen Zählungen nachhinkt. Luc. Phars. 9,1011. Ps. 102,13–14. De vera rel. 8,14. Hominis sacrosancta susceptio: gemeint ist die Menschwerdung des Gottessohnes. Es folgen die Hauptartikel aus dem Credo. Ps. 92,4. Ps. 88,8. Ps. 65,5. Ps. 85,5.

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Fam. 16,4

19 Ps. 102,8. 20 Ps. 85,15, und 108–109. 21 Ps. 24,8. Eine Reihe von Psalmenstellen zum Thema Barmherzigkeit findet sich in Sine nom. 12 vielleicht aus dem selben, nicht sicher bestimmbaren Jahr; vgl. den Text lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 266 ff. 22 Mt. 12,32; Lc.12,10; 23 Gen. 4,13. 24 Mt. 27,5. 25 Epist. 67,10. 26 Im Lateinischen steht bloss apud illos, doch kannte der Adressat die folgenden Worte: principes autem sacerdotum; sie können sinngemäss ergänzt werden. 27 Vgl. Hier. Tract. de Ps. 108 oder besser Pseudo Hier. Breviarium in Ps., das den Traktat enthält. 28 Lateinisch: magnum fuerit; das Folgende davon abhängig im Akkusativ plus Infinitiv. Der Konjunktiv als Potentialis verstanden, nämlich als eine coniectura der Zweifler: Etwas Grosses wäre es, wenn… 29 Lateinisch: ad nos misericordi, in se autem miserabili more mori. 30 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 91.160 und Petr. corresp. 74.

Fam. 16,5, an einen Ungenannten 1. Man geht auf den Tod zu, selbst wenn man ins Leben zurückzukehren meint. 2. Man gehe unerschrocken. Das Tor zum Leben steht offen. 4. Was wir Tod nennen, gilt den Philosophen als Ende des Todes. (Vor oder nach Ende März 1353)

1. Von der Pforte des Todes seist Du zurück, so höre ich. Doch Du eilst, was sonderbar tönt, zu ihm zurückzukehren. Richtiger würde ich sagen: Wir alle eilen dahin, wer immer wir seien, sobald wir den Weg dieses Lebens betreten haben. Wir eilen, sage ich, und nirgends1 bleiben wir stehen. Selbst wenn wir meinen, zu ruhen, laufen wir; ja, zu wenig habe ich gesagt: Wir laufen nicht, wir fliegen. Eben darum können wir dem Tod nicht mehr fern sein. 2. Doch seien wir guten Mutes, und gehen wir unerschrocken und ohne Zögern; denn vielleicht ist die Pforte nicht die des Todes, sondern die des ewigen Lebens, zwar durch unsere Frevel vermauert, aber durch Christi Blut aufgetan und in seinen Wundmalen offen.2 Oh dass uns zukäme, in jene Ruhe einzugehen, wiewohl dessen unwürdig! Oh dass wir in eben diesem Frieden schlafen dürften und, nachdem wir lange und viel uns abgemüht, endlich ausruhten in Ihm, der auf einzigartige Weise uns in der Hoffnung verankert hat, die als sein Geschenk nicht trügerisch sein kann. 3. Ich aber freue mich über die Dir neu geschenkte gute Gesundheit; und bisher wünsche ich nicht, dass wir im Exil dieses Lebens getrennt werden. Und dennoch, wo immer wir auseinandergerissen würden, müssten wir schliesslich doch unter dem Schutz unseres ewigen Lenkers zum selben Ziele gelangen. Weil übrigens des Menschen Herz sich dem Zufälligen viel freundlicher zuneigt als der natürlichen Ordnung, bin ich glücklich, dass mir Deine Gefahr nicht früher bekannt wurde als das Ende Deiner Gefahr.3 Sofern denn Krankheit und Sterben wirklich eine Gefahr und nicht einen Weg zu wahrer und dauernder Sicherheit bedeuten! 4. Bedenke aber dies: Nicht nur bist Du unter dem bestimmten Gesetz, dass Du sterblich bleibst, gesund geworden, sondern Du musst auch weiterhin zu jeder Stunde dem Tod entgegengehen und zu jeder Stunde unablässig sterben. Denn was bei der grossen Menge als Tod gilt, ist bei den Philosophen das Ende des Todes. Wahrlich, ein sonderbarer Stoff für einen Glückwunsch: die Verlängerung des Todes!4 Das für die Zukunft Befürchtete, geschieht eben jetzt, da wir sprechen, und – oh gewaltige Bestürzung – es graut uns gleichzeitig vor beidem, nämlich vor dem Tod und vor des Todes Ende; das anhaltende5 ziehen wir vor, während wir das plötzliche verfluchen.6 Allerdings nutzlos! 5. Es wird geschehen, jawohl, dem Du entflohen zu sein glaubst.7 Es geschieht um einiges später, dennoch sogleich, dennoch jetzt!8 Da gibt es keinen Raum für Versteckspiele, um es ein wenig aufzuschieben. Wie lange zögerst Du, dahin zu gehen, wohin man notwendigerweise gehen

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Fam. 16,5

muss und wo man, ist man zurückgekehrt, sich wundert, dass man gleichzeitig wegging und zurückkam?9 Genau das ist es, was ich zu sagen pflege: Hinausgeschoben ist der Tag der Auflösung, doch nicht aufgehoben ist die Schuld der natürlichen Verpflichtung, die man bei der Geburt auf sich genommen und die man im Sterben zu begleichen hat.10 Lebe wohl! (Vor oder nach Ende März 1353)11

Anmerkungen 1 Lateinisch: nusquam; Petrarca unterscheidet nicht genau zwischen nusquam und nunquam. Hier stünde vielleicht besser: „niemals“ statt „nirgends“. 2 Der Tod ist überwunden, ist längst Pforte zum ewigen Leben dank Christi Tod für die Sünder. Daher der Hinweis auf die Wundmale Christi, die seinen Sühnetod bezeugen. Zu ihrer Bedeutung für die Erlösung vgl. z. B. auch Fam. 18,16,29. Der Kult der Wundmale verbreitete und verstärkte sich nach der Stigmatisation des Franz von Assisi besonders vom 14. Jahrhundert an. 3 Natürlich und der zeitlichen Ordnung entsprechend wäre gewesen, zuerst von der Krankheit und erst dann von der Gesundung zu vernehmen. 4 Das heisst, es sei sonderbar, ein langes Leben zu wünschen, da das Leben auf der Welt gemäss philosophischer Auffassung ein fortwährendes Sterben sei. 5 Gemeint ist der exitus, der Ausgang, das Ende. 6 Der Sinn dieses Satzes ergibt sich aus den vorangehenden Sätzen; unser irdisches Leben ist anhaltendes Sterben; was wir Tod nennen, ist Anfang des wahren Lebens. 7 Im Lateinischen steht fiet; grammatikalisch genau hiesse das: „es wird geschehen“. 8 Die Kürze der Lebenszeit, die Distanz bis zum Tod ist soviel wie nichts. 9 Lateinisch: cum redieris, digressum simul reversum te stupeas. Das heisst wohl: Das Ausgehen vom Tod und das Zurückgehen zu ihm fallen zusammen, sind ein und das selbe, wie man bei der endgültigen Ankunft an der Pforte des Lebens mit Verwunderung feststellt. 10 Vgl. Fam. 2,1,7. 11 Zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 91.160 und 178.

Fam. 16,6, an den Bischof Niccolò von Viterbo1 Ermunterung des Kranken 1. Der Bischof hat im Heer Christi eine Führerstellung übernommen. 5. Der Angriffe gibt es viele, und eine hohe Stellung schützt dagegen nicht. 7. Bis in die Einsiedelei des Dichters ist die Nachricht von der Krankheit Niccolòs gedrungen. 9. Dessen Vater leidet in seinem Sohn und befindet sich auf der Reise zu ihm. 12. Mannhaftigkeit und Gottvertrauen sollen zur Genesung beitragen. 14. Über den Schmerz urteilen die Peripatetiker richtiger als die Stoiker. 17. Als Mediziner kann der Bischof sein Leiden beurteilen; er kennt auch die Wirkung seelischer Zustände auf körperliches Befinden. 19. Niccolò wird von Petrarca und seinem Freund Sokrates in die Einsiedelei Vaucluse eingeladen, damit er sich da erhole. (15. Februar 1353)

1. Ein starker Mann bedarf keiner Ermahnung, um unerschrocken auf einen bekannten Feind und auf eine gewohnte Kampfweise zuzugehen. Dem Angreifer schreitet er entgegen, des Sieges fast sicher und vollends sicher eines Lobes. Er freut sich, öfters erprobt zu werden und zieht es vor, unter Widerwärtigkeiten die Tüchtigkeit zu stählen, als in weichlicher Bequemlichkeit zu erschlaffen. Deshalb verweilt er unter Staub und Schweiss, unter Schwertern und Wunden nicht bloss frei von Trauer, sondern oft gar mit Lustgefühl. Er spürt das Gegenwärtige nicht, streckt sich einzig nach der Vollendung aus und ruht selbst bei ermattetem Leib im Frieden seines Herzens und in der Hoffnung auf Anerkennung. 2. Und Du, mir in Liebe ein Bruder, an Alter ein Sohn, an Würde aber ein Vater, bist schon vor der Zeit dank Deiner Tüchtigkeit vom Kinde zum Mann und dank Deiner Würde vom Jüngling zum Betagten gereift2 und hast eine lange Erklärung nicht nötig, um zu begreifen, was in den Heiligen Schriften zu lesen steht: „Ein Heeresdienst ist das Leben auf Erden“,3 nein, nicht bloss ein Heeresdienst, sondern ein unablässiger Krieg, ein todbringender, einer ohne Waffenstillstand und Friedensschluss. 3. Diesen Kampf hast Du als Christi Soldat auf Dich genommen und hast schliesslich verdient, einer unter seinen Anführern zu werden.4 Tüchtig damit begonnen zu haben, ist aber nicht genug; denn wenn Du die Krone des Sieges erlangen willst,5 musst Du vom Morgen bis zum Abend in der Schlachtreihe stehen und gegen den Feind, der zur Rechten und Linken wütet, den Schild unermüdlicher Tapferkeit hochheben. 4. Mit mannigfaltigen Geschossen werden wir angegriffen: Von hier droht drückende Armut, von dort beschwerlicher Reichtum, dann wieder ein unerwartetes eigenes Unglück oder eines unserer Freunde, einmal ein im Kummer sich verzehrendes Herz, ein krankes Gemüt, ein kranker Leib, und immer wieder sind es andere, neuartige Schläge Fortunas, die, ich sage nicht „zu ertragen“ sondern schon aufzuzählen beschwerlich sind. 5. Nichts hat der Menschen, was irgendwo sicher wäre. Oft scheint auf der Oberfläche des Meeres grösste Stille zu herrschen, aber in der Tiefe wütet ein

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Fam. 16,6

Sturm. Gerade wenn die Welt am freundlichsten schmeichelt, legt sie ganz heimlich ihren Hinterhalt. Jeder Weg ist mit Netzen besetzt, jeder Zweig mit Vogelleim bestrichen und der ganze Boden mit Kletten und Gestrüpp überwuchert.6 Kaum einmal wirst Du den Fuss bedenkenlos aufsetzen. 6. Da nützt es gar nichts, eine höhere Stelle einzunehmen; wohin Du Dich kehrst, droht gleiche Gefahr und ähnliche Mühe; nein sie wächst, weil eine Stellung im Mass, als sie höher liegt, gegen Geschosse Fortunas auch offener ist.7 Auf diesem Feld des Lebens, zu dem wir, um zu kämpfen, hinabgestiegen sind, gibt es also keine Hoffnung auf Flucht, keinen Unterschlupf zur Erholung. Unsere Rettung gründet einzig auf dem Beistand des Himmels und auf dem unbesiegten Starkmut unseres Herzens. 7. Doch kommen wir zur Sache. Ich habe gehört, Vater, und bis in die Winkel meiner Einsiedelei ist die traurige Nachricht gedrungen, dass Dir eine schwere körperliche Krankheit zu schaffen macht. Doch nicht, dass ich Dich als Leidenden ansprechen würde! Ich hoffe ja, Du seist seit dem Zeitpunkt, da das Gerücht Deiner Krankheit bis hierher drang, schon wieder gesund, und dieser Brief werde, wenn er bei Dir eintrifft, von der Krankheit keine Spur mehr entdecken. Daher verbreite ich mich etwas freier. 8. Ich gestehe Dir eine eigene Schwäche ein. Bei der ersten Ankunft des betrüblichen Geredes – merke Dir nur, dass ich eher Mensch als Philosoph bin – habe ich nach Menschenart so geklagt, dass sich die vorher heitere Ruhe meiner Musse ganz plötzlich in Trübsinn verwandelte und ich mein weiches Herz mehrmals hart zurechtweisen musste. 9. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich jedoch nicht so sehr mit Dir, der zweifellos alles bescheiden und tapfer ertragen hat und ertragen wird, sondern mehr mit Deinem Vater recht grosses Mitleid empfunden. Er nämlich krankt jetzt in Deinen Gliedern,8 und zwar, wie ich vermute, schwerer als Du selber, denn – wie ich sagte – bist Du vielleicht schon befreit von aller Gefahr und bedauerst, dass wir unnötige Sorgen und Ängste hegen. Er aber wird nicht gesund sein, bevor er sieht, dass Du gesund bist. 10. Zu Dir eilt er und stellt alles andere zurück. Die Obliegenheiten vernachlässigt er, denen er sich sonst hingebend widmet und deren Last und Vielzahl Dir bekannt sind. Sein Haus steht verlassen, das Meer scheut er nicht, die Alpen schätzt er für nichts, den Winter beachtet er nicht; alle Schwierigkeiten, alle Dinge, seine Sorgen und sich selber vergisst er als treu bekümmerter Vater, der einzig an Dich denkt. Was also bei Vergil9 der Vater zum Sohn gesagt hat, wird jetzt in wahrhaft zutreffender Weise der Sohn dem Vater zurufen: „Treue besiegt den beschwerlichen Pfad…“ 11. Daran zu denken, wird wohl viel zu Deiner Kräftigung beitragen! Zu Herzen muss Dir gehen, dass Dein Vater in Dir lebt, in Dir auch leidet; ganz zu schweigen von Deiner Mutter und von Deinen Brüdern, desgleichen von Deinen Schwestern

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und Deinen Freunden, denen ich mich nicht als letzten zuzurechnen wage. Denn wir alle können, wenn Du krank bist, nicht gesund sein. Wer nur hätte einen so kräftigen Körper, dass er bei siechem Herzen gesund wäre? 12. Eben hat es mir Freude bereitet, Dir ein paar warmherzige Worte zu sagen;10 und beinah hat das Mitgefühl mich zu Tränen gerührt. Jetzt aber muss ich Dich männlicher ansprechen, denn Du darfst nicht vergessen, dass es an Dir selber liegt, hohen Mutes das Vergängliche zu erdulden und es geringzuschätzen, das Gegenwärtige zu bestehen, Besseres zu erwarten, der Welt zu misstrauen – sie ist trügerisch! –, Dich und Deine Geschicke Gott zu empfehlen, auf ihn Deine Hoffnungen und Sorgen abzuwerfen, auch zu beachten, dass Du seit Deinem Eintritt in diese Welt, nicht zum Geniessen sondern zum Kämpfen bestimmt bist, ja zur Krankheit, Bedrängnis und Plackerei. 13. Bedenke auch, dass Du, was immer Dir zustösst, siegreich überwinden kannst, wenn Du nur willst, also nicht etwa die Waffen wegwirfst, nicht Dein Herz verwirrst und nicht gar Dich fallen lässt, denn Du weisst ja, dass geboren werden und leben und erkranken und altern und sterben zum Wesen der Natur gehört, dass aber tapfer und mit gleicher Miene und gleicher Haltung das alles zu ertragen, eine Gabe der Tugend ist. 14. Ich sage nicht, was gewisse Leute behaupten, es bestehe zwischen höchster Lust und bitterstem Schmerz kein Mittelding. Allzu sehr scheint mir diese Auffassung von Starrheit und Gefühllosigkeit zu zeugen. Auch sage ich nicht, was ich die hochvornehmen Kreise der Stoiker behaupten höre, dass nämlich der Schmerz des Körpers kein Übel sei.11 Obwohl sie mit Worten darlegen, dass das Übel nicht etwas an sich selber meine, sondern nur das dem Guten Entgegengesetzte und dass nichts anderes das Gute sei als die Tugend, welcher jedoch nicht etwa der Schmerz sondern das Laster gegenüberstehe, so bleibt für sie eben doch überaus schwierig, das mündlich Dargelegte mit der Sache zu beweisen. 15. Daher ziehen wir vor, eher wie die Menge zu sprechen und auf die Peripatetiker12 zu hören; denn gemäss ihrer Auffassung ist der Schmerz ein Übel, allerdings nicht das grösste Übel; und obwohl ein grosses Übel, so doch eines innerhalb des Guten und Nützlichen.13 Darin nämlich stimmen sie alle überein. Und gewiss ist das Ehrenvolle dann besonders herrlich, wenn es durch eine bedeutende Härte geläutert wurde, und ist der gute Ruf dann um so strahlender, wenn er einem recht traurigen Schicksal entsprungen ist. Zu ruhen, zu jubeln, zu schmausen, sich in Wollust zu ergehen, das verstehen alle; doch unermüdlich zu arbeiten, sich in der Krankheit zu gedulden, sich unter fürchterlichen Umständen tapfer zu bewähren und, wenn nötig, unerschrocken zu sterben, das ist wahrhaftig das Werk eines Mannes. Ist aber das Durchhalten bitter, so ist doch beglückend, daran zurückzudenken. 16. Allgemein bekannt ist ja das Wort Vergils14: „Später erinnern wir uns wohl gern dieser Prüfung…“

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es ist, so gestehe ich, mir unter bedrückenden Umständen öfters eingefallen und nützlich gewesen. Doch im Augenblick fehlt mir die Zeit, ausführlich zu schreiben. Die Hauptsache besteht im Folgenden: Setze Deine Hoffnung auf Gott und verlange Dir vom Allmächtigen Beistand; gegen alles, was Du duldest oder zu dulden vermagst, stärke und härte Deine Seele, damit sie gleichsam eine dicke Schutzhaut gegen ihre Anfechtungen überziehe, wie abgehärtete Menschen sie meist an ihren Gliedern haben. 17. Das rate ich Dir für Deine Seele. Dir ausserdem Sorge für Deinen Leib anzuraten, ist wohl überflüssig, denn Deine bischöfliche Würde hat Dir die Kunst der Medizin ja nicht entzogen. Du bist Mediziner und Sohn eines bekannten Mediziners, jedoch nicht einer wie viele andere, die ihre Wissenschaft missbrauchen, fremdem Leben nachstellen und einzig den Türen der Reichen Beachtung schenken. Somit sind Dir, wie ich vermute, die Ursachen Deiner Krankheit und nicht minder auch die Heilmittel bekannt; denn wenn ein Wort Ciceros15 wahr ist, glauben die Ärzte, sobald man die Ursache der Krankheit erkannt habe, sei sogleich die Arznei bereit. 18. Erlaube mir aber, noch etwas anzufügen, obwohl es jenseits meiner Grenzen liegt: Was zufällige Seelenzustände für den Leib in Hinsicht des Guten wie des Übeln bedeuten, ja was die Freude und was der Schmerz vermögen, das bestätigt eine Fülle berühmter Exempel; doch ich begnüge mich mit den zwei weitaus berühmtesten. Beim älteren Africanus förderte die Freude seiner Seele die Genesung seines Leibes. Er freute sich über seinen Sohn, und Du könntest Dich nun freuen über Deinen Vater. Zu jener Zeit führte umgekehrt bei König Philipp von Makedonien (ich meine den Kriegsgegner der Römer)16 ein Seelenschmerz zu Körperkrankheit und Tod. 19. Doch in der Tat, wenn es niemals einen Menschen geben wird, dem die Welt durchaus jeden Grund zur Trauer erspart, so gehörst Du in Anbetracht der Dir vom Himmel freigebig gespendeten Gaben zur Schar jener, für die sich ziemt, sich zu freuen. Lass deshalb nicht einen bloss geduldigen Sinn erkennen, sondern einen sogar heiteren. Und bedenke neben anderem auch dies: Vielleicht geschieht alles zum Zweck, Dich nicht allein daran zu erinnern, dass Du bei all den Gaben Gottes, die Dich schon frühzeitig schmücken17 (freilich nicht bevor Du sie verdient hast), ein Mensch mit hinfälligem Körper bist, sondern darüber hinaus, dass Du nach der gegenwärtigen Krankheit die Gesundheit nur um so höher schätzen und den Freunden nur noch teurer sein werdest. 20. Schliesslich möchte ich Dich noch mit dem Gedanken vertraut machen, dass, so meine ich, mit dem Einsiedlerleben hier, wo unser Sokrates18 und ich recht sehnsüchtig auf Dich warten, nichts zu vergleichen ist. Du könntest ebenda mit Gottes Hilfe leicht Deinen Körper kräftigen und Dein Gemüt erheitern. 21. Denn da gibt es keinen drohenden Tyrannen,19 keinen aufmüpfigen Bürger, keinen wütenden Ehrabschneider mit allzu bissiger Zunge, nicht Zorn, nicht politische

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Parteiung, nicht Beschwerden noch Nachstellungen, nicht Geschrei, nicht Menschengedränge, nicht Trompetengeschmetter oder Waffenlärm;20 ja auch nicht Habsucht, nicht Missgunst, überhaupt keinen Ehrgeiz, auch keine Notwendigkeit, unter Zagen die Türe eines Stolzen aufzusuchen. 22. Vielmehr findet man da Freude, Einfachheit und Unabhängigkeit und zwischen Reichtum und Armut die wünschenswerte Mitte, ein nüchternes und bescheidenes Bauernwesen, ein unbescholtenes Geschlecht, ein unbewaffnetes Volk, eine friedvolle Gegend, deren kirchlicher Vorsteher21 der beste Mensch und ein grosser Freund aller Guten ist, woraus folgt, dass er Dich wie einen Bruder aufnehmen wird, während er uns22 für seine Kinder hält. 23. Was soll ich sonst noch schildern? Die Luft ist weich, und der Wind ist mild, die Erde trocken. Klare Quellen sind da, ein fischreicher Fluss, ein schattiger Wald, feuchte Höhlen, grasreiche Winkel und lachende Matten. Man hört da das Muhen des Viehs, der Vögel Singen und das Säuseln der Bäume. Völlig abgelegen und gemäss seinem Namen Vaucluse ist das Tal: abgeschlossen und lieblich. 24. Im Umkreis hingegen erheben sich Hügel; sie wetteifernd im Dienst an Bacchus und Minerva.23 Doch weil ich bei allem, was zum Essen und Trinken gehört, nicht wie die Schmarotzer geradezu lustvoll verweile, füge ich bloss kurz noch Folgendes an: Was immer da aus dem Erdboden oder dem Wasser hervorkommt, ist so herrlich, dass man denkt, es sei ein Erzeugnis des Paradieses, wie die Theologen sagen, oder – wie die Dichter sagen – der elysischen Gefilde. Sollte dennoch dem Flecklein Bauernland irgend etwas fehlen, weil ein Menschenherz oft eine besondere Lust verspürt, wird man es aus der Überfülle der Nachbarschaft leicht nachliefern können. 25. Und um nicht endlos mit Einzelheiten fortzufahren: Hier bekommst Du die ersehnte Ruhe, die begehrte Stille und – was einer lernbegierigen Seele lieber ist als jeder andere Reichtum – an Büchern eine unabsehbare Fülle, dazu die Gesellschaft getreuer und ergebener Freunde; auch Umgang mit Heiligen, Philosophen, mit Dichtern, Rednern und Historikern wirst Du haben.24 Wir beide aber werden, so lang es Dir nicht lästig fällt, Dich zu beiden Seiten begleiten, und schon jetzt eilen wir in unserem Geist Dir entgegen und sind bemüht, jenem, der aus den Unwettern eines geschäftigen Lebens heimwärts flieht, einen besonders ruhigen Hafen zu bereiten. 26. Inzwischen befindet sich Dein Vater klagend und angstvoll auf der Reise zu Dir, und bei jedem Schritt sagt er seufzend die Worte Davids:25 „Wer leiht mir Flügel wie der Taube, auf dass ich fliege und ruhe ?“ Wann finde ich meinen Erstgeborenen, den Sohn, den ich mir zum Vater26 gemacht habe, und wann bin ich glücklich, ihn wohlauf zu finden? 27. Wir aber, die mit grösstem Verlangen auf Dich warten, handeln gleich Liebenden: Wir zählen beflissen jeden Tag und spitzen die Ohren, ob uns von Dir eine fröhlichere Nachricht erreiche. Und unter den Segenswünschen der Deinen,

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liebenswürdiger Vater, lebe, ich bitte, glücklich und gesund und komme, ja eile! Erhebe Deinen Geist hoch über Deine Kräfte hinaus und sage Dir oft und mit all Deinem Vermögen jenen hochberühmten Vers vor:27 „Harret nur aus, und bewahret das Herz auf sorglose Tage.“ (15. Februar 1353)28

Anmerkungen 1 Der Adressat ist Niccolò di Paolo dei Vetuli. Zum Brief existiert noch ein Autograph des Entwurfs; vgl. Wilkins, Studies 154 f.; Rossi 3, 215; auch Überblick. 2 Lateinisch: dignitas senem fecit ex iuvene. 3 Job 7,1. 4 Nämlich als Bischof den Gläubigen voranzugehen. 5 Zur Krone als Zeichen des Sieges vgl. ähnliche Wendungen in 1Cor. 9,25; 1Petr. 5,4 und oft. 6 Sehr ähnliche Wortfolge in Var. 48 an Cola di Rienzo; vgl. Petrarca, Aufrufe 78. 7 Nicht allein den Schicksalsschlägen ist der Hochgestellte besonders stark ausgesetzt, sondern auch der allgemeinen Kritik; dies eine von Petrarca oft wiederholte Bemerkung; vgl. Fam. 4,12,42; 14,1,6 f. und 9. 8 Vielleicht Anspielung an 1Cor. 12,26. 9 Aen. 6,688. 10 Der uns erhaltene Briefentwurf zeigt an, dass Petrarca die richtigen Worte nicht ohne Mühe fand. 11 Vgl. Fam. 23,12,11. 12 Das sind die Anhänger der aristotelischen Philosophie. 13 Lateinisch: Quamlibet magnum malum dolor sit, intra virtutem est. Das Übel Krankheit wird vom Guten nicht ausgeschlossen. 14 Aen. 1,203. 15 Tusc. 3,10,23. 16 Philippos V., 221–179 v. Chr. 17 Der Angesprochene hat offenbar seine Würde dank einem Privileg schon vor dem kirchlich festgesetzten Alter erlangt. 18 Das ist der Übername für Petrarcas besten Freund in Avignon, Ludwig van Kempen (van Be(e)ringen). 19 Die folgende Aufzählung weist sichtlich auf schwierige Verhältnisse in Viterbo hin, denen der junge Bischof nicht gewachsen war. 20 In Viterbo herrschten damals Geschlechterkämpfe zwischen Gatti und Vico. 21 Gemeint ist der oft genannte Bischof Philippe von Cavaillon, zu dessen Diözese Vaucluse gehörte. 22 Das sind Sokrates und Petrarca. Dagegen ist jeder Bischof dem andern ein Bruder. 23 Das heisst: geeignet für Weinreben und Oliven; zu Minerva vgl. Fam. 3,22,11. 24 Das heisst: mit deren Schriften. 25 Ps. 54,7. 26 Dies ein Hinweis auf die väterliche Würde eines Bischofs. 27 Verg. Aen. 1,207. Von Bischof Niccolò handelt auch der folgende Brief Fam. 16,7. 28 Zum Datum vgl. Wilkins, Studies 172 und 178, auch Petr. corresp. 74–75.

Fam. 16,7, an seinen Sokrates1 Sorgen nach dem Weggang eines Freundes. 1. Petrarca hat den von Sokrates gesandten Freund mit Freuden bei sich aufgenommen. Er hat ihm sein Gut gezeigt. 3. Der Freund zeigte Lust, eine Insel aufzusuchen und lehnte Begleitung ab. 4. Zurückgekehrt ist er nicht, und Petrarca lebt in Angst. An der Quelle der Sorgue, am 1. April (1353).

1. Gekommen ist unser Freund, wie Du versprochen hattest.2 Nachdem wir Grüsse getauscht, fragte ich, ob er von Dir etwas weniges an Schriftlichem bringe, und als er sagte: „Nichts,“ da überlegte ich mir, dass nach einem Brief zu fragen, wo man mündlich sprechen könne, überflüssig sei. Höre in Kürze: Nichts war mir angenehmer als seine Ankunft. Du weisst, worüber ich mich zu freuen pflege. Je härter sein Schicksal, desto lieber er selber, und je verächtlicher er vor sich und in den Augen der Stolzen, um so teurer mir. 2. Ich empfing ihn so gut ich konnte und der Ort es gestattete: bäurisch hinsichtlich der äusseren Gaben, doch in der Dienstbereitschaft meines Herzens königlich. Und ich zeigte ihm von meiner gebirgigen Einsiedelei soviel, als die Zeit erlaubte, also das in diesen Tagen an Geistesarbeit Geleistete, sowie das im Gärtlein und das auf dem Äckerlein Gesäte oder Geerntete. 3. Als wir so beisammen waren und ausser Deiner Gegenwart uns nichts zu fehlen schien, jedoch bei jedem Gegenstand uns Dein Name einfiel, packte ihn das jeder kranken Seele eigentümliche Verlangen, ein wenig herumzugehen. Er sagte, er würde herzlich gern die Insel aufsuchen, die in einer Entfernung von dreitausend Doppelschritten3 liegt und – von der Sorgue bespült und umplätschert – voll lieblicher Reize ist. 4. Das hiess ich gut und mahnte ihn, von meinen Knechten einen als Wegbegleiter mitzunehmen. Er aber bat mich, seinen Ausflug, von dem er sich eine grosse seelische Erleichterung versprach, nicht durch einen Gefährten zu belasten; ihm sei in seinem Zustand nichts angenehmer, als allein sein zu dürfen. Gewundert hat mich das nicht. Denn wie sehr ich selber die Einsamkeit liebe, wissen alle, denen ich bekannt bin. Daher liess ich ihn gehen; und er ging mit der Versicherung zum Essen zurück zu sein. Doch er kehrte nicht wieder, und jetzt ist er schon den zweiten Tag fort. 5. Was soll ich tun? Wie soll ich es erklären? Wie lange soll ich auf ihn warten? Oder wohin soll ich jemanden nach ihm schicken? Soll ich annehmen, er sei zu Dir zurückgekehrt? Oder ist er weiter fortgegangen? Dort, wo er hingehen wollte, ist er nicht, und was ich vermuten soll, ist mir rätselhaft. Mit Schrecken denke ich an seine bekannten Übel. Einem bedrückten Gemüt bekommt die Einsamkeit schlecht. Wenn Du etwas Genaueres von ihm weisst, erlöse mich aus meiner gewaltigen Verwirrung. Nichts anderes kann ich anfügen als einen Vers Ovids:

178 „Liebe ist eben ein Ding

Fam. 16,7

voll der Bedenken und Qual“4

Und etwa noch: „Und wächst, hat einer sich entfernt“, wie Flaccus5 den Naso ergänzen mag. Lebe wohl. An der Quelle der Sorgue, am 1. April (1353).6

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Freund Petrarcas, aber besonders den vorausgehenden Fam. 16,6 an den Bischof von Viterbo. Als solcher wurde dieser 1353 zum letzten Mal erwähnt. Er starb 1385. 2 Der Brief ist ein Kunstprodukt. Zweifellos schickte Petrarca zu Sokrates einen Boten. 3 Das macht etwa 5 Kilometer. 4 Her. 1,12. Vgl. Fam. 22,12,1. 5 Epod. 1,18. 6 Zur Jahreszahl vgl. den vorangehenden Brief und Wilkins, Studies 160 und Petr. corresp. 75.

Fam. 16,8, an seinen Lelio1 Über Römerinnen und die Lage in Rom. 1. Auf einer Reise spricht Petrarca römische Pilgerinnen an. 3. Sie geben ihm Auskunft über die Lage in Rom und insbesondere auch über Lelio. 4. Petrarca tadelt die Fehler des gestürzten Senators. 5. Das edle Benehmen der Pilgerinnen hält er für eine römische Besonderheit. 9. Er erkennt an ihnen die Würde antiker Frauen. 10. Er besucht den Bruder und Kartäuser Gherardo und unterhält sich mit ihm über vieles, nicht zuletzt über Lelio. An der Quelle der Sorgue, am 24. April (1353).

1. Am 19. April befand ich mich zwischen der Römerkolonie Aquae Sextiae und dem Haus, das Sankt Maximin geweiht ist,2 auf der Strecke, die mich „zu meinem, zu unserem, vielmehr zum Bruder Christi,“ wie einer gesagt hat,3 führen sollte. Da kam mir mitten auf dem Weg zufällig eine ansehnliche Schar römischer Frauen entgegen.4 Sonderbar! Schon von fern erkannte ich an ihrer Erscheinung und Gangart ihre Herkunft und ihre Vaterstadt; 2. und dennoch reizte mich, nachzufragen, ob meine Vermutung etwa falsch sei. Als ich aber schon beinah vor ihnen stand und die Stimmen der Sprechenden hörte, blieb mir kein Zweifel. Ich hielt an und nicht recht wissend, ob ich sie in der Vulgärsprache oder eher in derjenigen Vergils anreden solle, fragte ich: „Sagt, wer Ihr seid und woher“.5 Beim ersten italienischen Wort blieben sie fröhlich stehen, und die Älteste6 unter ihnen antwortete: „Römerinnen! Von Rom her kommend gehen wir zur Kirche Jakobs in Spanien.7 Und Du? Bist Du vielleicht ein Römer und gehst nach Rom?“ – „Wahrhaftig,“ sagte ich, im Herzen bin ich Römer, doch jetzt gehe ich keineswegs nach Rom. 3. Und als sie sich vertraulicher um mich geschart hatten, berichteten sie über alles Mögliche ganz offenherzig. Ich fragte sie in erster Linie nach dem Zustand der Republik, und sie erzählten Frohes und Trauriges durcheinander. Sobald wir zu Einzelheiten gelangt waren, hielt ich nichts für selbstverständlicher, als nach Dir zu fragen. Sie meldeten, es gehe Dir gut; Du habest Dein Ansehen durch eine glückliche und ehrenvolle Heirat vermehrt und seist Vater eines schönen Kindes.8 Darüber freute ich mich nun, wiewohl mir alles im Einzelnen schon bekannt war, als hörte ich es zum ersten Mal und sähe Dich und Deine Gattin und den Knaben vor mir. Sie fügten noch einiges über Deine Gefährdung an, und obgleich das vergangen ist, vernahm ich es mit Zittern; so sehr erneuerten sie mir mit ihren Reden den Schrecken. Aber der Ausgang war ja, Gott sei Dank, glücklich.9 4. Als ich darauf nach dem Zustand unseres jungen Mannes fragte,10 vernahm ich, welcher Bedrohung er sich zu entziehen vermochte, während der Senator Ber-

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toldo, sein Amtskollege, der Volkswut verfiel und, wie sie sagten, von Steinen bedeckt verschied. Sogleich erinnerte ich mich der Verse Lucans:11 „Strafe zahlt Ihr der jammernden Stadt mit dem eigenen Blute, Sühnen müsst Ihr am Strick für die Waffentaten, Ihr Herren.“ Da ich aber auch den Grund für seinen Sturz gehört hatte, dachte ich an das Wort Salomons:12 „Wer Getreide versteckt, wird vom Volk verflucht.“ Schlecht hat jener die Mahnung Caesars verstanden:13 „… höchstes Gefallen Wird mit Getreide erlangt…“ und überdies: „…Weiss nicht, dass die Plebs vor dem Fasten zurückschreckt.“ 5. Ich fragte noch, ob ich etwas für sie erledigen solle; denn ich beabsichtigte, im Gedanken an Gott, an Tugend, an’s Vaterland und an Dich, wenn sie einen Wunsch hätten, ihn nach Kräften zu erfüllen und mit ihnen mein Reisegeld zu teilen. Du weisst, ohne dass ich es verrate, was sie einstimmig erwiderten. Sie wollten durchaus nichts, ausser etwa, ich möge für sie zu Christus beten, dass er ihnen eine glückliche Heimkehr und am Ende einen leichten Zugang zum himmlischen Jerusalem gewähre. Für alles übrige sei hinlänglich gesorgt. 6. Ich versuchte nun immer aufs neue, sie zur Annahme einer Gabe zu bewegen; es war jedoch umsonst. Was willst Du? Ich erkannte daran die natürliche Veranlagung der Römerin und vergnügte mich beim Gedanken, dass viele Frauen anderer Nationen nicht nur Angebotenes nicht abwiesen, sondern gar Verweigertes aufdringlich forderten. Aber „verhasst ist die Wahrheit.“14 Darum wollen wir niemanden nennen. 7. Unsere Römerinnen hingegen haben sich dankbar meine Zuneigung gefallen lassen, doch das Geld in edler Art abgelehnt. Da möge doch sagen, wer will: „Lästig beim Bitten und ohne Dank nach Empfang!“ Ohne den hochgeschätzten Übelredner15 kränken zu wollen, will ich erklären, dass ich jedenfalls Römer kenne, die im Verschmähen einer Gabe hohe Gesinnung und nach Empfang einer Gabe Dankbarkeit zeigen, und zwar nicht allein Männer, sondern auch Frauen, obwohl sie von Natur aus geiziger sein sollen. 8. Ich will Dich heute mit diesem Brief nicht so lange hinhalten, wie ich jene auf ihrem Reiseweg aufhielt und gern sogar bis zum Abend aufgehalten hätte, obwohl kaum die dritte Stunde gekommen war. Aber ich fürchtete, den heiligen Schwung ihrer weiblichen Frömmigkeit zu hemmen, und zudem drängte ich darauf, nach meinem Besuch bei meinem Bruder unter Gottes Leitung die etwas längere Reise nach Italien zu unternehmen. Dies möglichst rasch auszuführen, war ich entschlossen, indem ich hoffte, mein Schicksal lasse sich durch Beharrlichkeit beugen, so

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dass ich nicht unter der Vorbereitung zur Abreise aufs neue gezwungen würde, sie auf den Juli oder Dezember zu verschieben.16 Somit trennten wir uns nach einem Abschiedsgruss.17 9. Und erst nachher merkte ich, wo ich war. Denn während des Gesprächs war ich in Rom und meinte Caecilia vom Haus der Meteller, Sulpicia von dem der Fulvier, Cornelia von dem der Gracchen zu sehen, auch Catons Martia und Scipios Aemilia und die ganze illustre Schar der Frauen der Antike vor mir zu haben. Oder um schicklicher zu sprechen und wie sich für unsere Zeit gebührt, die römischen Jungfrauen Christi: Prisca, Praxedis, Pudentiana, Caecilia und Agnes.18 10. Ich zog weiter und besuchte am nächsten Tag meinen Bruder. Er ist, sofern nicht die Liebe mich täuscht, von allen mir persönlich Bekannten der glücklichste Seefahrer in den elenden Stürmen der Welt und so sehr über Irdisches hinaus entrückt und in sich selber so wohlgeordnet, dass im Leben dieses Menschen Gott verherrlicht wird und ich – nach Vorsatz und Sitten ihm nicht im mindesten vergleichbar – zwar erröte, vom jüngeren übertroffen zu werden, aber mich dennoch freue und rühme, mit einem solchen Mann des selben Blutes zu sein und am selben Schoss Anteil gehabt zu haben. 11. Da hat nun zwischen uns Brüdern nach einer Trennung von fünf Jahren ein um so längeres und lebhafteres Gespräch stattgefunden. Wir haben vieles über vieles vorgebracht, doch über nichts anderes mehr als über unseren Lelio, nämlich wie Fortuna mit Dir umgehe und wie Du mit ihr; was Du treibest und wo, welchen Lebensweg Du gehest, welchen Fortgang, welches Ziel Du Dir setzest und wie Du Dir ähnlich bleibest. Als ich ihm auf alles Einzelne geantwortet hatte, liess ich ihn heiterer zurück, als ich ihn getroffen. Und wie sehr er Dir das Beste wünscht, weisst Du, ohne dass ich es sage. Lebe wohl! An der Quelle der Sorgue, am 24. April (1353).19

Anmerkungen 1 Zum Inhalt und zur Datierung des Schreibens vgl. Wilkins, Studies 161 f.; dazu auch die früheren Briefe an Lelio, besonders Fam. 15,1 mit Hinweisen auf dessen Tätigkeiten in Rom. 2 Das heisst: zwischen Aix-en-Provence und dem kleinen Dorf Saint-Maximin. Dieser Heilige galt als erster Bischof von Aix; und in der Kirche dort bewahrt man angeblich ausser Reliquien dieses Heiligen auch solche von Maria Magdalena. 3 Hieronymus, Epist. 60,1; verkürzte Formulierung in Fam. 12,5,6. 4 Petrarca muss wie üblich geritten sein, während die Frauen zu Fuss unterwegs waren. 5 Petrarca setzt in seinen Brief die lateinischen Worte, die er von Verg. Aen. 8,114 übernimmt: Quem genus, unde domo. 6 Lateinisch: natu maior. Es war kein Titel gemeint.

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7 Gemeint ist Santiago de Compostela. Die Reise dorthin gehörte im Mittelalter zu den beliebtesten Pilgerfahrten, und Dante verstand unter einem eigentlichen Pilger eben jenen, der nach Santiago ging; vgl. Vita nova 41. 8 Vgl. Verg. Aen. 1,75. 9 Vgl. die folgende Anm. 10 Vgl. zu dieser Stelle Fam. 15,1, Anm. 4, wo bereits vom Umsturz in Rom die Rede ist. Der Senator Bertoldo Orsini versuchte in Rom nach Art des Cola di Rienzo wie ein Volkstribun zu amten. Doch während einer Teuerung beschuldigte ihn das Volk im Februar 1353, er halte Getreide zurück, und begrub ihn unter einem Steinhagel. Sein Amtskollege war der junge Stefanello, Sohn von Stefano Colonna dem Jüngeren, der verkleidet aus einem Fenster des Senatorenpalastes entfloh. An ihn wird mit dem Wort: „unser junger Mann“ erinnert, weil Lelio und Petrarca eng mit der Familie Colonna verbunden waren. Auch Fam. 15,1,6 und 15,8,9 erwähnen ihn. 11 Phars. 4, 805–806. 12 Prov. 11,26. 13 Luc. Phars. 3,55–56. 14 Ter. Andria 1,1,41. 15 Bernhard von Clairvaux, De consideratione ad Eugenum III. 4,2,2; vgl. bei Rossi, Le Familiari die Anm. zu Fam. 16,8,7. 16 Von solchen Verschiebungen der Rückkehr nach Italien sprechen Fam. 15,2 und 15,3. 17 Dass eine Frauenschar im 14. Jahrhundert eine Wallfahrt oder wenigstens ein gutes Teilstück ohne Männerbegleitung macht, ist nicht ungewöhnlich. Es wird sich hier aber wohl um eine religiöse Gemeinschaft gehandelt haben. 18 Das sind Märtyrerinnen. Vgl. das Personenreg. 19 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Studies 161–163 und Petr. corresp. 75.

Fam. 16,9, an Zanobi da Strada1 Empfehlung der Kartause von Montrieux. 1. Bericht über die Klostergründung durch Handelsleute. 6. In der Kartause hat Petrarca seinen Bruder besucht. 9. Er erfährt von schweren Anfeindungen der Mönche durch Kleintyrannen der Umgebung. und durch die Kirche von Marseille. 12. Einst hatte Carlo d’ Angiò den Kartäusern Schutzbrief und Protektion genehmigt. 13. Sich eines solchen Beistands auf Dauer zu versichern, haben sie in ruhigeren Tagen vernachlässigt. 17. Petrarca entspricht einem Wunsch der Mönche, sich am Hof von Neapel für das Kloster einzusetzen. (April 1353)

1. Wer vom jüngsten Babylon nach Nizza2 am Varo und weiter nach Italien reist, hat auf halber Strecke zu seiner Rechten in der Entfernung von zehntausend Doppelschritten zwischen waldigen Bergen und Bergbächen einen abgelegenen Ort, der seinen Namen wohl von seiner Lage hat. Mons Rivus, Montrieux nämlich heisst er und bezeichnet eine alte Kartause nah dem Mutterhaus dieses Ordens.3 2. Es habe einmal zwei Brüder gegeben, so sagt man, nach Herkunft Genuesen, nach Beruf Seefahrer und „Wechsler“, um ein Wort Lucans4 zu verwenden, hervorragende Warenhändler, der eine im Westen, der andere im Osten tätig. Andere erzählen die Sache allerdings anders, und die Verantwortung tragen, wie man zu sagen pflegt, die Urheber des Geredes; ich aber berichte Gehörtes. Alljährlich sollen die beiden zur selben Zeit von Zuhause weggefahren sein und, wenn der eine vom Osten, der andere vom Westen nach langer Zeit zurückgekehrt war, sich in der Heimat getroffen, hier ihre Geschäfte und ihre Gewinne überprüft haben, um darauf, wenn alles geregelt war, wie es bei Händlern üblich ist, wieder auszufahren und sich erneut den Meeren anzuvertrauen. 3. Nachdem sie das oft getan und dank gutem Glück grosse, ehrlich erworbene Reichtümer aufgehäuft hatten, soll es geschehen sein, dass der im Osten tätige als erster zu Hause anlangte und dann vernahm, der vom Westen erwartete sei in Marseille gelandet. Als er diesen schriftlich aufgerufen und auf ihn längere Zeit umsonst gewartet hatte, sei er – wohl infolge einer Befürchtung und in der Ungeduld dieser Berufsleute, die keinen Aufschub dulden und mit der Zeit im höchsten Mass zu geizen pflegen – schliesslich selber nach Marseille gereist, habe dort einen durch veränderte Sorgen und Neigungen beinah unkenntlichen Bruder vorgefunden und ihn verwundert gefragt, was das bedeute, dass er ganz gegen seine Art untätig zu sein scheine. Hierauf habe er die Antwort erhalten, der Meerfahrten sei es nun genug; er wolle sein Leben nicht länger dem Wind anvertrauen, 4. der Bruder möge handeln nach seinem Belieben, er selber jedoch habe bereits für sich gesorgt, einen Hafen5 erworben, an der Küste oder richtiger im Vorhof des Paradieses ein Gebäude errichtet, wo er in seiner Müdigkeit ausruhen wolle, bis er zu seiner dauernden Wohnstätte übersiedle. Da der Fragende nun in noch

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grösserer Verwunderung ängstlicher nachgeforscht habe, was der Bruder mit solchen Andeutungen meine, habe dieser ohne weitere Antwort, seine Hand ergriffen und ihn zu jenen Stellen geführt, wo er sich das eben genannte Kloster in unwirtlichen Wäldern und verstecktesten Talwinkeln schon erbaut hatte. 5. Der andere aber, kaum über diese Wandlung unterrichtet, sei plötzlich von Frömmigkeit und vom Eifer der Nachahmung hingerissen worden und daran gegangen, auf dem benachbarten Hügel ebenfalls ein Kloster zu erstellen; und nach einer reichlichen Ausstattung des Ortes hätten beide sogleich der Welt und ihrer Lustbarkeit entsagt, den Rest ihres Lebens Christus geweiht und dort bis an ihr Ende ihr Gelöbnis unverbrüchlich gehalten. Ein Doppelkloster steht nun da für eine einzige christgläubige Familie und scheint nur schon durch sein Aussehen zu bekunden, es habe zwei Brüder von der selben Gesinnung zu Gründern gehabt. Und darüber nichts weiter. 6. Eben da habe nun ich selber – und Du vernimmst damit gewiss nichts Neues – als ein mir teuerstes und einzigartiges Unterpfand einen Bruder, an dem sich glänzend bewahrheitet, was der Psalmist6 „eine Veränderung durch die Rechte des Allerhöchsten“ genannt hat. So rasch hat sich da ein ungebundener und leichtsinniger Jüngling in einen standhaften und unerschütterlichen Mann verwandelt und hat – täglich immer behender von Tugend zu Tugend aufsteigend – in zehnjähriger Bewährung für das Feuer einer neuen Gesinnung ein so klares Zeugnis abgelegt, dass er, früher ein Gegenstand der Furcht und Sorge, mir nun zur Verwunderung und unendlichen Freude gereicht. 7. Um ihn wiederzusehen, den ich während mehr als fünf Jahren nicht mehr besucht hatte und den ich, wenn ich einmal nach Italien zurückgekehrt bin, auf mir unbekannte, wohl lange Zeit nicht mehr sehen werde, habe ich mir mit Mühe einige Tage gestohlen und mich dorthin begeben. Wovon denkst Du zu hören? Von des Bruders frommen Tränen oder den bescheidenen Versammlungen der dort weilenden Diener Christi, von heiliger Gastfreundschaft, wohltuenden Gesprächen, von dem, was ich sagte, was ich hörte, was ich sah, was hier in meiner Anwesenheit und bei meiner Abreise unternommen wurde; 8. und wie die ganze engelhafte Schar bei ihren heiligen Laren7 in ständiger Fürsorge für den Gast nichts an Dienstleistung unterliessen und wie alle den Scheidenden bis zur äussersten Grenze begleiteten, mein Bruder mit wenigen anderen mich etwas weiter bis zum Fuss des Berges auf waldigem Pfad noch weiterführte und im Hinblick auf die Zeit sehr eilig manches empfahl, manches erbat, manches anmerkte, wofür weder der Tag noch die ganze Nacht genügt hatten? Das alles, so sage ich, könnte ich eher Deiner Phantasie zum Erraten als meiner Feder zum Beschreiben überlassen. Eine einzige Sache, die Du nicht wissen kannst, ohne von ihr gehört zu haben, will ich Dir mitteilen. 9. Wenn ich unter der Fülle nüchtern heiliger Tröstungen, die mir jener geweihte Ort und die kurze Zeit dort beschieden haben, immerhin auch etwas an

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Bitterkeit schlürfen musste, so diente es, meine ich, wohl dem Zweck, mir begreiflich zu machen, wie so völlig richtig ist, was die Schrift aussagt: „Wer immer in Christus fromm leben will, muss Verfolgung erdulden,“8 und nichts finde der wandernde Mensch, um sein Haupt zu betten;9 die Hoffnung auf Ruhe erfülle sich eben erst bei der Ankunft im Vaterland. 10. Schau nun, diese schuldlose Schar wahrhaft überirdischer Menschen, die auf Ehren, Reichtum und Wohlbehagen verzichteten und den unsichtbaren Feind mit Füssen traten, werden von sichtbaren Feinden schwer belästigt. Zwischen weltlichen und kirchlichen Tyrannen sind sie – es schmerzt, das zu sagen – die Beute einer fremden ringsum herrschenden Habgier und werden oft durch äusserste Not gezwungen, von ihren Lobgesängen zu Gottes Ehre abzustehen. Lang wäre die Geschichte, wollte ich alle die von ihnen erduldeten Schändlichkeiten zusammenfassen. Hier hast Du das Wichtigste, und daraus magst Du das Geringere erraten. 11. Ihren ganzen Umkreis verunsichern Kleintyrannen; solche der widerwärtigsten Art, die auf jedwedem Pfad nach Möglichkeit zu meiden sind. Denn während grosse Tyrannen sich trotz ihren Raubzügen oft freigebig zeigen, sind die kleinen das niemals; vielmehr sind sie stets knauserige, unersättliche Hungerleider, die wegen allzu geringer Beute ganz rasend werden und darum der Hoffnung auf grössere nachjagen. Kommt dazu, dass für die Diener Christi, die in freiwilliger Knechtschaft dort eingeschlossen leben, keine Aussicht auf Flucht und keine auf ein Mitgefühl der Tyrannen besteht.10 Alles hängt bei ihnen einzig von göttlicher und königlicher Unterstützung ab. 12. Daher haben die Brüder einstmals Carlo II. seligen Angedenkens, den König von Sizilien,11 einen Vorfahren unseres Königs,12 mit einer Bitte angegangen und ihn gebeten, er möge ihnen einen seiner königlichen Amtsträger bestimmen, dank dessen Zeugenschaft sie im Schatten eines gerechten Königs vor Unrecht bewahrt würden. Das hat jener, der nach Cäsarenart nichts zu verweigern verstand, was immer einer Gabe würdig war, gerne genehmigt, und hierauf haben die Brüder unter diesem König und seinem Sohn Roberto, dem grössten der Könige und der Menschen, lange Jahre wie unter einem Schutzschild in grösserer Ruhe verbracht. Später wurde für die Kirche von Marseille, welche die Mönche schwer bedrängte, ein Bischof gewählt, der sich als ein so grosser Gönner des Kartäuserordens und als ein so grosser Förderer der Gerechtigkeit erwies, dass sie vorzogen, mit ihm auf freiwilliger Basis statt mit Rechtsmitteln oder irgendeiner höheren Befehlsgewalt zu verhandeln. 13. Während sie nun viele Jahre mit ihm in gutem Einvernehmen lebten und andere Leute aus Ehrfurcht vor dem guten Bischof auf böse Taten verzichteten, bestand kein Bedürfnis nach einem königlichen Privileg, was dazu führte, dass im Verlauf der Zeit infolge der Einfalt der Armen Christi (die vor den Weisen der Welt als Torheit, doch vor Gott als grosse Weisheit gilt13) ein Gunsterweis der besten Könige seine Rechtskraft verlor und veraltete. 14. Kaum hatte der erwähnte

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Bischof das Zeitliche gesegnet, als zunehmend Schlechtere und immer Schlechtere seine Stelle besetzten, bis sich alles ins Schlimmste verkehrte und man allmählich wieder beim früheren Zustand anlangte. Nun hat die Kirche von Marseille ihren Tyrannen, und was die dem Kloster benachbarten Burgen betrifft, so übt man da, weil die Menschennatur die schlechten Beispiele leichter nachahmt als die guten, eine Gewaltherrschaft, die eine allgemein übliche an Grausamkeit überbietet. 15. Wenn die Mönche vor Tagesanbruch Christus die Laudes14 singen, bringt ihnen, sieh da, ihr Hirt unter Tränen die Nachricht vom Raub ihrer Herde. Wenn sie an heiligen Altären das Gedächtnis an das Leiden des Herrn erneuern,15 kommt stöhnend der Wirtschafter herbei und schreit, die Saat, der Weinberg, die Wiese, der Garten würden durch das Zugvieh der Tyrannen zertrampelt. Wenn die Stunde für das dürftigste Bisschen Speise und die Zeit zum kürzesten Schlummer gekommen ist, taucht ein Diener der Diener Christi oder der Pförtner des geweihten Hauses auf, verprügelt von Strafvollstreckern der Tyrannen, und dringt voller Anklagen in die Stille der Mönche ein. 16. Zuflucht suchen diese bei alten Hilfsmitteln und strecken königliche Schutzbriefe vor. Man belacht diese Antiquitäten. Und aus keiner anderen Schuld, als weil sie meinten, der Freiheit unter Christi Joch16 würdig zu sein, werden sie unter eine andere um so schwerere Knechtschaft hinab gedrückt. Was halte ich Dich länger auf ? Würdest Du hören, was ich hörte, Du hieltest die Tränen nicht besser zurück, als ich tat. Es gibt da eine gute Menge an Kelchen, Schultertüchern17 und Büchern, welche zu dieser Zeit nur mit Mühe gegen die Räuberbanden verteidigt wurden. 17. Am Ende bleibt da nichts an Hoffnung und nichts an Abhilfe, wenn nicht unser König18 das Auge seiner königlichen Huld der geplünderten Behausung Christi zuwendet, die Privilegien seiner Vorgänger, des Grossvaters und des Onkels, erneuert und den von andern Händen gegründeten Ort19 in eigener Güte befreit, um damit ein nicht geringeres Verdienst als die Gründer zu erlangen, wie ja auch der Ruhm eines Brutus20 oder Camillus dem eines Romulus nicht nachsteht (sofern deren Heldentum für wahr und ihres Vorgängers Göttlichkeit nicht für erdichtet erklärt wird). 18. Dies also haben die Brüder unter Tränen von mir erbeten, dass entweder ein königlicher Amtsträger wiedereingesetzt oder irgendein Beschützer aufgestellt werde, damit sie gegen Unrecht gesichert seien. Ich antwortete ihnen, nur Achtung und Vertrauen besässe ich, sonst an Verdiensten gegenüber dem König nichts, doch schätzte ich da am Hof jenen einflussreichen und ausgezeichneten Mann, der beim König alles vermöge,21 und ihm sei auch ich – zwar eher wegen seiner Vorzüge als wegen meines Verdienstes – teuer geworden; ich hoffte, dass er die Gerechtigkeit nicht im Stich lassen werde, denn wie sehr er zur Gnade geneigt und übrigens gerade ihrem Orden günstig gesinnt sei,22 das habe er eben vor kurzem dadurch bewiesen, dass er auf eigene Kosten und mit persönlicher Anteilnahme nah den

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Mauern seiner Vaterstadt eine herrliche Kartause errichtete.23 19. Bei ihm wollte ich durch Deine Vermittlung für sie eintreten, denn wenn ich direkt an ihn schriebe, könnte ich diesen mit wichtigsten Sorgen beschäftigten Mann durch eine allzu lange briefliche Ausführung ermüden. Deine Zunge also wird meine Feder sein, dann werden ihre höchst gerechten Bitten durch meine Finger vor Deine Augen, hierauf durch Deine Zunge zu seinen Ohren und schliesslich durch ihn zur Kenntnis des Königs gelangen. Einen Caesar Augustus, von Titus Livius24 „aller Tempel Gründer und Erneuerer“ geheissen, soll jener nachahmen oder, was besser wäre, übertreffen! Dazu ermuntere Du den unseren, dass er, wie der frühere die Tempel der falschen Götter, so die des wahren Gottes erneuere, hat er sich doch bereits als deren Gründer betätigt. 20. Damit weisst Du das Wichtigste und siehst, worum sie bitten, siehst die Gerechtigkeit der Bitte und die Würde der Bittsteller, auch mein eigenes Begehren. Mit Bitten werde ich Dich nicht überhäufen; denn es könnte als ein Zeichen von Misstrauen gelten. Doch wirklich, wenn Du so handelst, wie ich hoffe, tust Du, was bei Christus grösstes Gefallen findet und so auch bei mir. Lebe wohl! (April 1353)25

Anmerkungen 1 Der Dichter und Humanist Zanobi da Strada aus Florenz weilte seit einiger Zeit am Hof von Neapel; vgl. die früheren Briefe an diesen Adressaten. 2 Die Stadt heisst, seit sie zu Frankreich gehört, Nice. 3 Vgl. Fam. 16,2, Anm. 6. 4 Zum lateinischen Wort mutatores vgl. Luc. Phars. 8,854, wo es Pferdewechsler meint. 5 Gemeint im übertragenen Sinn. 6 Ps. 76,11. 7 Lar, lares: Hausgötter, oft einfach für Wohnung, Behausung, Herd verwendet. 8 2 Tim. 3,12. 9 Ähnlich wie Mt. 8,20 und Lc. 9,58. 10 Zum Räuberwesen in jener Gegend vgl. Fam. 16,2,7. 11 Das war der zweite sizilianische König vom Geschlecht der Anjou (Angiò). Sein Vater Carlo I. hatte sich gegen die Staufer durchgesetzt und von Papst Urban IV. 1265 die Krone von Sizilien/Neapel erworben. Schon ab 1246 war er auch im Besitz der Provence, wo Montrieux lag. Ihm folgte Carlo II. 1275, und als er 1309 starb, folgte ihm sein Bruder Roberto. Zur Zeit, da Petrarca Fam. 16,9 schrieb, waren grosse Teile der Provence stark umstritten oder den Anjous bereits entfremdet. 12 Das ist Lodovico von Tarent, zweiter Gatte der Königin Giovanna von Neapel aus dem Hause Anjou; vgl. Personenreg. 13 Anlehnung an 1Cor. 1,18 und 2,14. 14 Eines der sieben Tagesgebete der Mönche. 15 Das heisst, wenn sie das Messopfer feiern. 16 Vgl. Mt. 11,29 f.: „…denn mein Joch ist nicht drückend, und meine Bürde ist leicht.“

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17 Das sog. Humerale gehörte zu den Gewändern der Messliturgie; manche Ordensleute bedeckten damit nicht allein die Schultern, sondern – beim Ankleiden – auch den Kopf. 18 Das ist der zweite Gatte der Königin Giovanna, Lodovico (Luigi) von Tarent. 19 Als Eigenkloster kann der König die Kartause Montrieux nicht betrachten. 20 Vgl. das Personenreg. 21 Petrarca hatte mehrfach die staatsmännischen und kriegerischen Leistungen von Niccolò Acciaiuoli gewürdigt und rechnete sich das als Verdienst an; vgl. Fam. 12,3; 12,11; 12,14, etc.; vgl. Personenreg. 22 Wie in Fam. 16,2,8 steht im Lateinischen religio für religiösen Orden. 23 Die Kartause, Certosa, beim Ort Galluzzo auf dem Colle di Montaguto an der Strasse zwischen Florenz und Siena, gegründet 1341. 24 Liv. 4,20,7. 25 Zum Inhalt und zur Datierung vgl. Wilkins, Studies 161–163 und Petr. corresp. 75.

Fam. 16,10, an Zanobi da Strada1 Neuer Entschluss zur Abreise nach Italien. 1. Zur Bedeutung des Wortes intercedere. 2. Petrarcas Einsiedelei leidet unter der Nachbarschaft von Avignon. 2. In Italien können die Zustände nur besser sein. 3. Deshalb ist Petrarca nun entschlossen, die Reise nicht mehr aufzuschieben. Babylon, am 28. April (1353).

1. Die Epistel, die Du liest und in der ich für die Kartäuser eintrete (ich gebe dem Wort den modernen Sinn, nicht jenen der Alten, die mit „eintreten“ so viel meinten wie „verhindern“ und sich „einer Sache widersetzen“, damit sie nicht ausgeführt werde2), also die Epistel, die Du liest oder gelesen hast, habe ich in jener höchst gottergebenen Einsiedelei Montrieux entworfen, dann einige Tage später im eigenen Helikon niederzuschreiben wenigstens begonnen, aber am selben Tag – denn so sehr missgönnt mir Fortuna meine Ruhe – in Babylon zu Ende geschrieben. Dorthin bin ich vorgestern zurückgekehrt, um dann auf Nimmerwiedersehen wegzugehen. 2. Erneut hatte ich nach Italien Boten zum Auskundschaften geschickt,3 und obwohl bekanntlich niemals irgendwo etwas vollkommen ruhig bleibt, vernehme ich nun immerhin, es fehle daselbst nicht am Schattenbild eines Hafens, wie ein Ermatteter ihn ersehne. Was auch kommen mag: Ich werde es ertragen, sofern ich bloss bedenke, dass es auf der ganzen Erde nichts Verworreneres, nichts Schrecklicheres gibt als Babylon.4 Die Wut seiner Unwetter hat sich zu solcher Raserei gesteigert, dass sie weit und breit, ja selbst in meinem Helikon nichts an Frieden duldet. Das bedenkend werde ich, wenn ich hier nur erst fort bin, überall, wo das gebieterische Los mich hin wälzt,5 einen Trost finden. 3. Und was nun? Meinst Du, es habe sich der Zustand des Ortes oder eher der meine verändert? Nie hat mich an diesem Ort ein heiteres Gerücht erreicht,6 und nie wird das geschehen! Kaum also habe ich die unselige Schwelle hier betreten, werde ich von zwei schlimmen Nachrichten gleichzeitig erschüttert. Ich vernehme von Deinem Unglück und vom Verlust jenes vortrefflichen Mannes.7 Klar erkenne ich die Pflicht meiner Feder, doch meine Arbeitsfülle entbindet mich meiner Verbindlichkeit.8 4. Der Ort, die Zeit, die Einschränkung, die Unmenge an Geschäften, all das verfolgt den Fliehenden, und nirgends sonst auf der Welt greift all das so rastlos nach der lieben Freiheit.9 Und auf die Reise, die ich gleich nach Beendigung dieses kurzen Schreibens unter Gottes Führung unternehmen will, stürze ich mich in solcher Hast wie ein aus dem Kerker Entronnener. All das hindert mich, als Freund zu schreiben, nicht aber, so zu klagen. Bin ich hier weggegangen, werde ich wie üblich in meiner Einsiedelei verweilen, doch nicht länger als acht Tage, und die Reise berechne ich in Gedanken so: Der

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Aufbruch von hier wird die Hälfte oder mehr, dabei auch der schwierigste Teil sein, alles übrige rascher und leichter vonstatten gehen. Lebe wohl! Babylon, am 28. April (1353).10

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief und die anderen Briefe an den selben Adressaten, vor allem auch Bemerkungen über Zanobi in Fam. 20,14,25 ff. und Sen. 6,6. 2 Petrarca bezieht sich auf das Wort intercedere; er hält sich an den Brauch, der vor allem auch in der Kirche geübt wird. Diese gibt dem Wort den Sinn von Vermittlung und Fürsprache (vor Gott). 3 Von einem früher Ausgesandten spricht Fam. 15,3,8 f. 4 Auch in Fam. 15,9,16 deutet Petrarca Babylon als confusio. 5 Im Lateinischen: caput …rotaverit 6 Vgl. Fam. 16,1, wo Petrarca um die Erlaubnis bittet, sich aus Avignon zu entfernen und nach Vaucluse zurückzukehren. Vgl. auch Fam. 14,7 mit der Bitte um Beurlaubung, Fam. 15,11,5 mit dem Hinweis, dass er in seiner Einsiedelei wie in einem Versteck lebe. 7 Unklar, welcher Art Zanobis Unglück war. Politische Unruhen waren in Neapel an der Tagesordnung. Sicher ist, dass Petrarca die Nachricht erhielt, Acciaiuolis Sohn Lorenzo sei gestorben. 8 Lateinisch: occupationes officio officiunt. 9 Vgl. die Klage in Fam. 14,8,2. 10 Petrarca wird sich von Freunden und von den Kardinälen Guy de Boulogne und Elie de Talleyrand verabschiedet haben. Sich nochmals vor Papst Innozenz zu zeigen, weigerte er sich. Zum Inhalt und zur Jahreszahl vgl. Sen. 1,4; Wilkins, Studies 163 und Eight years 5, auch Überblick.

Fam. 16, 11, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel1 Über den Wert der Zeit. 1. Über Raritäten. 2. Petrarca lernt den Wert der Zeit kennen, da sie entflieht. 4. Er nennt, was er der Zeit einst fälschlicherweise vorzog. 6. Von nun an wird er nur noch kurze Briefe schreiben. 8. Er berichtet von seiner Abmachung mit dem Stadtherrn von Mailand. 11. Er schildert seinen Wohnort bei Sant’ Ambrogio, wo ihn ein Bildnis dieses Kirchenvaters beglückt. Mailand, am 23. August (1353).

1. Die Zeit pflegte mir einst nicht gar so kostbar zu sein wie heute; denn selbst wenn sie immer gleichmässig unberechenbar ist, gab es früher doch etwas mehr davon zu erhoffen.2 Nun aber schrumpfen die Sache wie die Hoffnung darauf und schliesslich alle anderen Dinge ins Dürftige zusammen. Und eben die Seltenheit der Dinge ist es, die ihren Wert bestimmt. Lass die Erde weit und breit Perlen hervorbringen: Man tritt auf sie wie auf Steine. Lass den Phönix zahlreich werden wie die Tauben: Der Nimbus des einmaligen Vogels ist vergangen. Lass die Berge sich ringsum mit Balsamsträuchern bedecken: Das Öl wird plebejisch. Wirklich, im Mass als die Dinge an Zahl und Häufigkeit zunehmen, fällt ihr Preis. 2. Umgekehrt können selbst verächtlichste Dinge, wenn sie mangeln, an Wert gewinnen. Daher war in den Wüsten des durstigen Libyen ein Tropfen Nass auf der Hand des römischen Feldherrn ein Gegenstand des Neides; und ebenso war bei der Eroberung von Casilinum3 sogar das widerlichste Wesen, die Maus, von bedeutendem Wert. Auch genossen am Ende, was alles Unerträgliche übersteigt, ganz tatenlose Feiglinge oft einzig wegen eines Mangels an Männern erstaunliches Ansehen. Auf Exempel dafür verzichte ich; meine Feder verweigert sich schmutzigen Namen. Doch wozu brauchten wir Exempel? Weder in unseren Dörfern noch auf unseren Plätzen fehlt es an solchen Monstren. Kein Unheil ist in unserer Epoche noch häufiger.4 3. Kann ich’s ohne Überheblichkeit behaupten, so ist mir die Zeit niemals so wohlfeil gewesen wie gewissen Zeitgenossen, aber dennoch nie so wertvoll, wie sie sollte. Ich möchten sagen können, keinen Tag hätte ich verloren; doch viele habe ich verloren, und wären es doch nicht Jahre! Das aber zu sagen, scheue ich mich nicht: Keinen Tag, so weit ich mich erinnere, habe ich verloren, ohne es zu bemerken. Nicht entglitten sind mir die Zeiten, sie wurden mir entzogen, weshalb ich – verfangen in den Netzen der Geschäfte oder in der Hitze der Vergnügungen – sagte: „Weh, dieser Tag wird mir unwiederbringlich entrissen.“ 4. Und heute sehe ich ein, dass mir solches darum zustiess, weil ich „der Zeit noch keinen Preis bestimmt hatte“, nicht den Preis, den Seneca5 in einem Schreiben an seinen Lucilius erwähnte. Ich kannte kostbare Tage, aber unschätzbare kannte ich nicht.

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Hört mich, Kinder, die Ihr ein ganzes Leben vor Euch habt: Unschätzbar ist die Zeit. Das wusste ich in jenem Alter noch nicht, obwohl es zu wissen damals das Beste und Nützlichste gewesen wäre. Ich schätzte die Zeit nicht gemäss ihrem Wert; ich diente meinen Freunden, berechnete die Anstrengung meines Körpers, den Überdruss meines Geistes, den Aufwand an Geld. Die Zeit war das Letzte, was ich bedachte. 5. Nun aber sehe ich ein: Das Erste hätte sie sein sollen. Denn Ermüdung kann man ausgleichen durch Ruhen, verlorenes Geld kann man wiedergewinnen; aber nicht wiedergewinnen kann man die Zeit. Ihr Verlust bleibt unverminderbar. Was also soll ich sagen? Nun habe ich begonnen – sieh da „eine Wandlung durch die Rechte des Erhabenen“,6 wie ich hoffe, ohne es bedenkenlos zu behaupten –, ja ich beginne, die Zeit richtig einzuschätzen, und dies aus dem einzigen Grund, weil sie nun eben beginnt, mich zu verlassen. Und dann erst, so fürchte ich, werde ich sie vollends richtig einschätzen, wenn sie gänzlich verschwunden ist. Oh wir Unselige, welche Engpässe schaffen wir uns für die Zukunft! Was meinst Du? Welch hohen Wert besässe ein einziger Tag für einen, der den Geist aufgibt? Ja, ich beginne endlich, die Zeit richtig einzuschätzen, doch noch immer nicht, wie ich sollte, sondern bloss wie ich kann. Ich erkenne die unglaubliche Schnelligkeit ihrer Flucht und ihr schwindelerregendes Entgleiten, das sich einzig mit den Zügeln einer feurigen und gespannten Tatkraft bändigen lässt. Ich sehe mich beraubt, und meinen Schaden kann ich beinah mit meinen Augen bemessen. Und oft habe ich jenes Wort Vergils7 auf den Lippen: „…schon wird nun kürzer der Tag und milder der Sommer,“ denn schon liegt ein guter Teil meiner Zeit mir im Rücken, und die Leidenschaften meines Herzens werden gelinder. Ein Gewinn ist das, mit dem ich die Schäden der Zeitflucht behebe. Doch unter solchen Umständen müssen die künftigen Briefe knapper, der Stil bescheidener und die Ansichten milder werden. Das erste schreibe der Kürze der Zeit zu, alles übrige der Müdigkeit meines Geistes! 7. Und denke nicht, dass ich heute absichtslos philosophiert habe. Ich kenne doch Dein Herz und Deinen Charakter! Das Fortkommen der Freunde verfolgst Du ja mit grösster Spannung,8 und auf welcher Stufe der Freundschaft ich bei Dir stehe, das weiss ich. Du verzehrst Dich, Du ängstigst Dich, Du erhitzest und plagst Dich, und wenn Du am gründlichsten schweigst, schreit Deine Menschlichkeit besonders laut, und Dein unbesiegbares Mitgefühl fragt nach meinen Verhältnissen, wie und wo ich mich befände, was ich dächte und was ich unternähme. Höre also eine sehr straffe Zusammenfassung, hinter der sich eine endlos lange Geschichte versteckt hält. 8. Meinem Leib geht es so gut, als bei unsern schwachen, aus Gegensätzen erstellten Körpern üblich ist. Und dass ich auch dem Geiste nach gesund sei, dazu strenge ich mich nach Kräften an und hoffe, mit Erfolg. Andernfalls wird man den

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nackten Willen loben. Meine Gewohnheit kennst Du: Ist mein Geist des gewöhnlichen Zustandes müde, erquicke ich ihn durch Veränderung des Ortes.9 9. Eben deshalb bin ich nach einem schon zweijährigen Aufenthalt in Gallien nun zurückgekehrt.10 Und als ich Mailand erreicht hatte, legte hier dieser grösste Italer11 in so einnehmender und so ehrenvoller Weise Hand an mich, wie ich weder verdient noch erhofft, und um die Wahrheit zu sagen, nicht einmal gewünscht hatte. Entschuldigt hätte ich mich mit meinen Beschäftigungen, meiner Abneigung gegen Menschengewühl und meinem nach Ruhe lechzendes Wesen, wäre er nur nicht meiner wohlvorbereiteten Rede, als ahnte er schon ihren Inhalt, zuvorgekommen, indem er mir in dieser grössten und meist bevölkerten Stadt zuerst einmal Abgeschiedenheit und Ruhe versprach und sich gleich noch erbot, das Versprochene, soweit an ihm liege, zu halten. 10. Ich gab daher unter der Bedingung nach, dass an meinem Leben nichts zu ändern wäre, und an meiner Wohnart höchstens soviel, als ohne Einschränkung meiner Freiheit und unter Wahrung meiner Ruhe geschehen könne. Wie lange das so dauern wird, weiss ich nicht; ich vermute, nur kurz, sofern ich ihn und sofern ich mich, unserer beider Sorgen und Lebensart mit ihren durchaus gegensätzlichen Geschäften richtig beurteile. 11. Inzwischen wohne ich draussen an der Stadtgrenze gegen Westen hin bei der Basilika des Ambrosius.12 Das Haus ist äussert gesund und steht zur Linken der Kirche. Vor sich hat es den bronzenen Giebel des Gotteshauses und die zwei Türme beim Eingang; hinter sich sieht es die Stadtmauern, grünende ausgedehnte Felder und schneebedeckte Alpen, denn der Sommer ist schon vergangen. Am erfreulichsten unter allem würde ich die Gedenkstätte nennen, von der ich nicht wie Seneca13 „vermute“, sie sei das Grab eines grossen Mannes (er meinte: des Scipio Africanus), sondern sicher „weiss“, dass sie das ist. Zum Bildnis oben am Gemäuer, von dem man sagt, es sei jenem vollkommen ähnlich, schaue ich häufig voll Verehrung auf; im Stein gemeisselt scheint es beinahe lebendig zu sein und zu atmen.14 Das ist mir eine nicht geringe Belohnung für diesen Aufenthalt; denn nicht beschreiben lässt sich die hohe Würde der Stirne, die Majestät der Brauen und die Ruhe der Augen. Würde die Stimme nicht fehlen, hätte man den wahren Ambrosius vor sich. So viel für heute. Sobald mir über die Dauer meines Aufenthaltes etwas bekannt wird, lasse ich Dich darüber nicht länger in Unkenntnis. Lebe wohl! Mailand, am 23. August, vor Tagesanbruch (1353).15 Anmerkungen 1 Dies der erste Brief unter den Familiares nach Petrarcas Rückkunft in Italien. Vgl. die früheren Schreiben an den selben Freund Nelli, dazu auch die zahlreichen Hinweise auf Briefe Nellis an Petrarca bei Wilkins, Eight years 27 ff. und passim (unter Index of Persons; insbesondere im Appen-

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dix 254 ff. und 266), sowie die Briefe Nellis selber, in: Henry Cochin, Un ami de Pétrarque: Lettres de Francesco Nelli à Pétrarque, Paris 1892. Eine ähnliche Feststellung bringt Petrarca am Anfang von Fam. 15,1 vor. Hauptthema ist die Kürze der Zeit und wie man sie dehnen kann in Fam. 21,12, gerichtet an Nelli. Die Stadt, nördlich von Capua, war 216 hart umstritten im Kampf gegen Hannibal und wurde von den Römern 214 zurückerobert; vgl. Liv. 23,17 ff. Petrarca denkt wohl vor allem an Folgen des Söldnerwesens; vgl. Fam. 22,14,11 ff. Sen. Ad Lucil. 1,2. Ps. 76,11; vgl. Fam. 16,9,6. Georg. 1,312; vgl. Fam. 13,6,2. Fracassetti hat wohl die richtige Lesart:… totus pendes. Vgl. dazu z. B. Fam. 8,5,15 oder Fam. 15,4,8 und 11 ff. Die Reise von Vaucluse nach Italien erwähnt auch Var. 7. In Var. 25 versuchte Petrarca vor Boccaccio seinen Aufenthaltsort zu rechtfertigen. Vgl. Fracassetti Bd. 3, 318 und 364 ff. Das ist der Erzbischof Giovanni Visconti, der 1349 nach dem Tod von Luchino Visconti die Stadtherrschaft übernommen hatte. Mit ähnlichen Worten berichtet Var. 7 von der Unterredung mit dem Visconti. Zum Aufenthalt Petrarcas in Mailand vgl. Ugo Dotti, Petrarca a Milano, Mailand 1972. Die Basilika geht auf den Kirchenvater Ambrosius zurück; in der Krypta befindet sich der Sarkophag mit seinen Gebeinen, darüber ein Hochaltar mit Abbildungen; doch die noch heute bestehenden Bauteile der Kirche stammen aus dem 9. und dem 11.-12. Jahrhundert. Ad Lucil. 86,1. Von einer „beinah atmenden“ Darstellung spricht auch Fam. 19,3,14. Zur Reise Petrarcas nach Mailand und zur Jahreszahl des Briefes vgl. Wilkins, Eight years 7; Petr. corresp. 75. Zudem berichtet Wilkins über Reaktionen von Petrarcas Freunden auf seine Ortswahl, wie das auch Dotti, Vita 283 f. tut.

Fam. 16,12, an Francesco Nelli1 Vertraulich. 1. Zur Erledigung vieler Dinge muss Petrarca eine einzige Nacht genügen. 3. Der Dichter freut sich über das Verständnis des Freundes. 5. Er rechnet mit grossem Unverständnis der Menge. 7. Er hat der Notwendigkeit gehorcht. 8. Die Bitten des mailändischen Herrn waren Befehle. 9. Dessen Freundlichkeit hat ihn besiegt. Mailand, am 27. August (1353).

1. Sowohl für meine häuslichen Besorgungen, an denen es zu keinem Zeitpunkt fehlt, als auch für die notwendige Ruhe, die sogar von Widerwilligen ihr Recht verlangt, und für die nächtlichen Lobgesänge Gottes, welche die menschliche Frömmigkeit dem Vergessen des undankbaren Herzens entgegensetzt (indem wir Tag für Tag unsere Gebete erneuern), schliesslich auch für Deine Epistel und für die Briefe an Freunde,2 das heisst für verschiedene und bedeutende Geschäfte, wird mir kaum eine einzige kurze Nach zugestanden. Früh morgens, so hat mir der Bote gedroht, werde er erscheinen; und er wird es tun, denn auch er hat seine Geschäfte. Als er mir abends seine mit Briefen beschwerte Hand entgegenstreckte, schaute ich in das Gesicht eines Gehetzten. 2. Doch was bin ich beunruhigt?3 Kürzer war die Nacht des Volteius,4 als ihm gelang, mit einer Ansprache seinen angstvollen Gefährten die Liebe zum Tod einzuflössen; und überhaupt werden grosse Dinge oft in knappstem Zeitraum erledigt. Die Zeit ist nicht gar so kurz, wie ihr Ruf behauptet, obwohl kurz genug. Ich jedenfalls glaube, sie würde für manches reichen, wenn unsere Trägheit sie nicht zusammenpresste. Sie zu dehnen, nehme ich mir vor, und vielleicht ergibt sich einmal eine Gelegenheit, Dir hierüber mehreres zu schreiben.5 Was jedoch die heutige Nacht betrifft, werde ich beides versuchen: die müden Augen mit kurzem Schlaf zu täuschen und umständliche Gedanken in wenige Worte zu schnüren. 3. Mir, Freund, hat der lichtvolle Inhalt Deines Schreibens sonnenklar das Gemüt seines Verfassers gezeigt. Du bist voller Angst und quälst Dich wegen des Ausgangs meiner Lage. Wohin Du mich rufen, von wo Du mich wegziehen, was Du für mich hoffen, was für mich fürchten sollst, ist Dir fraglich; doch aus dem Fluten und Wogen des Geistes tauchst Du endlich als einer auf, der sich alles Heitere und Beste für meine Person verspricht und mit einer ehrlichen Hoffnung (möge sie dermassen wahr als liebevoll sein!) sich beruhigt! Deine sanfte Besorgnis schenkt mir, ich betone es, ein grosses, allerdings nicht neues Freudengefühl. 4. Ich wusste alles; keine Worte waren nötig; ich sehe den Fernen, ich höre den Schweigenden. Was soll ich zu Dir sagen, wenn nicht das, was Cicero6 zu seinem Bruder gesagt hat: „An Zartheit ein Bruder fast gleichen Alters, an Willfährigkeit ein Sohn und an Ratschlag ein Vater“?

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Jede Benennung freut mich, und ich weiss warum. Doch weil ein Fall für reifliche Überlegung vorliegt, halte ich mich im Augenblick an den letzten und umfange Deinen Ratschlag als den eines sehr weise vorausblickenden Vaters. Und in der Sache, die Du geheimzuhalten verlangst, gehe ich mit Dir einig. 5. In allem anderen wird Fortuna bestimmen, wo es enden, wie es sich entfalten, wie es sich auswirken und nach welcher Seite die scheele Meinung der Menge es ziehen wird.7 Mir obliegt, nichts zu tun, wofür ich keine vernünftige Rechtfertigung ablegen könnte. Ich empfinde, was ich schon vor der Lektüre Deines Schreibens empfand, und den Verlauf meines Schicksals sehe ich voraus. In den Händen der Menge werde ich gedreht und gewendet; das ist mein altes Los. Doch bitte, hab’ nur keine Angst! Unter solcher Reibung gewinne ich an Glanz.8 Was ich tue, kann die Menge bisweilen sehen; was ich aber denke, sieht sie nicht; folglich bleibt ihr mein besserer Teil, vielmehr fast mein ganzes Ich verborgen. 6. Doch es sei: Nur nach unseren Taten seien wir beurteilt. Und dennoch, was will da die Menge? Alles habe ich, so weit als möglich, umsichtig erwogen und habe darauf nach meinen Kräften gehandelt. Und gibt es da einen Zweifel, so tat ich doch wenigstens, was ich für das geringere Übel hielt. Wenig fehlt, und ich schwöre, es geschehe auf der Welt ja überhaupt nie etwas Gutes, und stütze mich auf den Psalmisten:9 „Es gibt keinen, der Gutes tut, nicht einen bis zum letzten.“ Und schliesslich, ob gut oder schlecht, ich habe zweifellos getan, was notwendig war. 7. Wer wagt zu widersprechen? Ich sage nicht: „meinem Urteil“ sondern dem Befehl der „Notwendigkeit“, die – wie Flaccus10 sagt – „stählerne Nägel selbst den würdigsten Scheiteln“ einschlägt und die unter ihr ehernes Joch sogar der Könige „stolze Nacken herabdrückt“. Was sollte ich tun, welcher Worte mich bedienen, welche Ausflüchte suchen, auf welchen Wegen entrinnen, mit welchen Künsten das Gewicht des gewaltigen Bittstellers abwerfen?11 Wo doch ein bloss zögerndes Gehorchen schon Rebellieren bedeutete? Bekannt ist das Wort des Laberius über Iulius Caesar:12 „So ist’s! Verweigert wurde diesem Mann von Göttern nichts; Wie wäre da erträglich, dass ich’s täte, ich ein Mensch?“ Das ist mir schon bei seinem ersten Wort eingefallen; und dazu auch ein anderes, nicht unedles, wenn zwar von einem unedlen Dichter:13 „Bitten der Herren versteh als die heftigste Art des Befehlens; Fast wie mit nacktem Schwert fleht Dich der Mächtige an.“ Etwas aber forderte er unter vielem besonders eindringlich. Und meine Verehrung anzustacheln und seiner Majestät Gewicht zu erhöhen, trug nicht wenig der Umstand bei, dass er ja ein Mann der Kirche ist, und – soweit das bei seiner Macht auf so hoher Stufe überhaupt denkbar ist – ein sogar überaus frommer! Sei-

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nem Gespräch auszuweichen, war für einen anständigen Menschen, ohne hochmütig zu wirken, ganz unmöglich. 9. Wie er endlich meinem Widerstreben und auch Verweigern Gewalt antat,14 das möchte ich Dir nicht verschweigen, obwohl eine grössere Schamhaftigkeit es zu sagen sich weigern müsste. Als ich nämlich ängstlicher fragte, was er von mir wolle, da ich zu all dem, was er benötige, nicht geeignet und nicht vorbereitet zu sein schiene, antwortete er, nichts wolle er von mir als einzig meine Anwesenheit; damit glaube er sich und seine Herrschaft zu ehren. 10. Hier, wirklich, musste ich, überwältigt von so viel Ehrbezeugung15 erröten. Ich schwieg, und schweigend habe ich nachgegeben oder den Anschein erweckt, es zu tun. Es gab nichts oder es fiel mir nichts ein, was ich dagegen hätte einwenden können. Doch was tue ich jetzt? Könnte ich die Menge doch so leicht von der Wahrheit des Gesagten überzeugen wie Dich! Aber, oh gute Götter, was ist es denn, was ich zu wünschen geneigt bin? Habe ich meinen Merkspruch vergessen? „Die Menge, wie beliebt! Wir, wie erlaubt!“ Lebe wohl! Mailand, am 27. August, eilig in der Stille der tiefen Nacht (1353).16

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief mit den Anmerkungen 1 und 12. 2 Mit diesen Freunden sind vor allem die in Florenz gemeint, die sich über Petrarcas Ortswahl entrüsteten. Die Visconti bedeuteten für Florenz eine schwere Bedrohung. 3 Diese Frage erinnert an eine ähnliche in Nellis Epist. 9 bei Cochin 190 f. Fam. 16,12 hat möglicherweise als Petrarcas Antwort auf Nellis Epist. 10 zu gelten. 4 Volteius (bei Petrarca: Vulteius), ein Militärtribun, hat angeblich unter Pompeius dem Grossen seine Leute einen Tag lang angehalten, den Widerstand nicht aufzugeben, dann in der kommenden Nacht sie bewogen, sich zu töten, um einer Übergabe an den Feind zu entgehen; vgl. Flor. Epit. 2,13,33. 5 Vgl. Fam. 21,12. 6 Ad Q. fr.1,3,3. 7 Petrarca spricht im folgenden von seinem Verhältnis zum Herrn von Mailand, Erzbischof Giovanni Visconti. Von dessen Beziehungen zu Florenz handelt Albano Sorbelli, La signoria di Giovanni Visconti e le sue relazioni con la Toscana, Bologna 1901. 8 Darin besteht der Nutzen, den man von Feinden, von Neidern hat; vgl. z. B. Fam. 16,3,7 und 5,11,3. 9 Ps. 13,1 und 3 sowie 52,4. 10 Hor. Carm. 3,24,5–7. 11 Vgl. Anm. 7. 12 So das sehr freie Zitat nach Macr. Saturn. 2,7. 13 Unauffindbares Zitat; doch von Petrarca schon Fam. 7,4,3 verwendet. 14 Bei Rossi steht: luctanti…vim attulerit, das heisst: dem Widerstrebenden Gewalt antat; dagegen steht bei Fracassetti: luctanti…vim abstulerit, das bedeutet: dem Widerstrebenden Kraft entzog. Der Effekt war in beiden Fällen der selbe.

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15 Im Lateinischen: humanitas; meint hier wohl eine freundlich huldigende Anerkennung und Ehrerweisung von seiten des Höhergestellten. 16 Zum Inhalt und zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 8–15.40.47 und Petr. corresp. 75.

Fam. 16,13, an Francesco Nelli1 Fabel zum Beleg, dass alles, was man tut, seine Tadler finde. (Oktober/Dezember 1353)

1. Gibt es im Bereich der Sterblichen etwas so umsichtig Überlegtes, dass es den Bissen der Lästerer keine Angriffsfläche bietet? Wen kannst Du mir nennen, der dieses Unheil umging? Christus sogar ist von denen, die zu retten er gekommen war, schlecht gemacht, ja sogar umgebracht worden. Und wir selber haben Glück, wenn wir – sicher vor dem Beil, gewappnet gegen Schläge – bloss Worten ausgesetzt sind. Wenn wir nicht etwa vermuten, die Antike sei besonders bissig gewesen, so war niemals eine Epoche so tadelsüchtig wie die unsere. Wenigstens eine einzige Fabel von den im Volk bekannten und von alten Weibern in Winternächten am Feuer erzählten will ich Dir berichten. 2. Ein alter Mann ging mit seinem heranwachsenden Sohn seines Weges, und ein einziger kleiner Esel erleichterte ihnen beiden abwechselnd die Mühe der Reise. Während nun der Vater ritt und der Sohn zu Fuss hinterher kam, höhnten die Entgegenkommenden: „Seht da, dieses Alterchen, dem Sterben nah und völlig unnütz, lässt, wenn ihm nur immer gehorcht wird, den prächtigen Jüngling verkommen.“ Der Alte blieb stumm und hob den Sohn, ob der sich auch sträubte, auf den Esel. Da murrten die Vorübergehenden: „Seht da diesen nichtsnutzigen, kraftstrotzenden Bengel! Er pflegt seine eigene Faulheit und mordet so den hinfälligen Vater.“ Von Scham getrieben zwingt dieser seinen Vater aufzusteigen, so dass sie beide zugleich auf dem Vierbeiner reiten. 3. Da aber beginnt der Protest unter den Vorübergehenden vor Entrüstung zu überborden, weil ein einziges kleines Tier von zwei schweren Ungeheuern erdrückt werde. Machen wir’s kurz. Beide sind gleicherweise betroffen, steigen ab und gehen auf eigenen Füssen hinter dem lastenfreien Esel einher. Nun wird aber der Spott noch heftiger und das Gelächter noch schallender; es heisst, da gehen zwei Esel, die wollen, um einen einzigen zu schonen, sich selber verderben. Da sagte der Vater: „Du siehst, mein Sohn, es gibt nichts, was von allen gebilligt wird. Kehren wir zu unserer alten Sitte zurück; sie dagegen mögen reden und alles zerpflücken, wie es ihr Brauch ist.“2 Unnötig, etwas beizufügen! Grobschlächtig ist die Fabel,3 jedoch schlagkräftig. Lebe wohl! (Oktober/Dezember1353)4

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Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief Fam. 16,12 mit den Hinweisen auf Stellen bei Wilkins, Eight years. 2 Bildlich dargestellt hat diese Fabel Ferdinand Hodler auf einem sehr grossen Gemälde, zu finden im Musée d’art et d’histoire in Genf. 3 Carlo Filosa, La favola e la letteratura esopiana in Italia dal medio evo ai nostri giorni, Mailand 1952, 69 erwähnt Petrarca und dessen Erzählung der Fabel Il vecchio, il fanciullo e l’asino. Ebenso erwähnt der Autor Seite 61, dass Petrarca in Fam. 3,13 die Fabel von der Gicht und der Spinne wiedergibt. 4 Vgl. Wilkins, Eight years 40.

Fam. 16,14, an Nelli1 Die Menschen sorgen sich mehr um ihre Schreibart als um ihre Lebensweise. 1. Petrarca lacht, weil der Freund sich eines Grammatikfehlers bezichtigt. 2. Probleme der Grammatik waren auch Cicero oft lästig. 5. Darin besteht eine Verkehrtheit der Menschen, veränderbare Regeln wichtiger zu nehmen als das ewige Gesetz. 12. Grössten Tadel verdient die Theologie. 14. Petrarcas Ruhe und Freiheit werden vermindert; das wird ihm vielleicht zum Guten gereichen. 17. Mit dem Freund teilt er alles, was er hat. Mailand, am 16. September (1353).

1. Gelacht habe ich, wie mir befohlen,2 jedoch nicht aus dem von Dir genannten Grund, sondern aus einem andern. Nicht dass Du in der lateinischen Sprache gestrauchelt bist, belächelte ich, sondern dass solches Straucheln so grosse Scham hervorrief.3 Gar sehr besorgt sah ich Dich wegen eines einzigen Wortes, nein, wegen einer einzigen Silbe, richtiger, wegen eines einzigen Lautes, der Dir zwar entfallen, aber meinem Ohr nicht etwa lästig fallen konnte, und deshalb sagte ich: „Oh was haben die besten Gelehrten doch Sorgen, und sind doch auch Menschen!“ 2. Wem bitte hätte das nicht ebenso gut unterlaufen können? Unser Cicero ist unser bester Vater der lateinischen Beredsamkeit, und ihm am nächsten steht Vergil; oder – da ich an gewissen Gelehrten ob solcher Reihenfolge ein Befremden entdecke –: Der römischen Redegewandtheit Väter sind Tullius und Maro.4 Und wollte mir einer auch das noch leugnen, wäre ich zu keinem weiteren Zugeständnis zu bewegen. Diese beiden nun führten einen grammatikalischen Streit über sämtliche Redensarten, und der Sache überdrüssig, forderte gerade Cicero seinen Atticus in einem Schreiben zur Hilfe auf, damit er, wie er sagte, „von grosser Plackerei befreit werde.“5 3. Gibt es nun in der Grammatik wirklich eine Schwierigkeit, bei der man einem Schwankenden und Gleitenden Nachsicht schuldet, so würde ich sie beim Problem des Perfekts der Vergangenheit ansetzen; denn hierüber haben, wie der führende Lehrmeister der Grammatik angibt,6 die bestens bewährten Kenner der Sprachkunst sich bekanntlich nach völlig unsicheren Regeln verbreitet. 4. Soll etwa ich nach Entschuldigungen für Dich jagen, als wäre der vorliegende Fehler Dein eigener und nicht eher einer Deiner Feder? Wann wäre Deinem Verstand und Deinem goldenen Mund entfallen, was Du zweifellos sogar im Schlafen bemerkt hättest? Vieles raubt die Feder und zwar am häufigsten den grossen Geistern, und übrigens gerade dann, wenn sie mit Bedeutendem beschäftigt sind. Dem Habenichts wird nichts genommen; aber die Besitzer grosser Schätze bemerken den Verlust an Kleinigkeiten nicht, und: „Arm ist der Mann, der die Schafe zählt,“

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wie Naso sagt.7 Ein grosser Geist gleicht dem gut ausgestatteten Haus eines reichen Herrn, welches im Mass, als es durch Erwerbungen gewonnen hat, anfälliger wird für Diebstähle der Diener. 5. Du wolltest also sagen „perfluxi“, und hast es in der Tat gesagt; doch die Feder, durch anhaltende Arbeit ermüdet, verschluckte das x.8 Erspare Dir Vermutungen! Du bist ja längst so tüchtig, dass Du nicht einmal im Urteil von Ehrabschneidern einen solchen Fehler aus Unwissenheit begehen könntest. Schau aber, bitte, überlege scharf und prüfe, ob ein Irrtum Deiner Feder bloss Deiner Schreibkunst schade oder ob er nicht vielleicht gleichzeitig Deiner Seele nütze? 6. Schau, Freund, wie wir doch alle, kaum haben wir den Sand dieser Palästra9 betreten, grössere Sorge auf die Beredsamkeit als auf das Leben und zäheren Eifer für den Ruhm als für die Tugend aufwenden, und wie wir wachsam darauf achten, dass in unserer Rede nur ja nichts mangelhaft oder ungepflegt sei, während wir, ohne viele Gedanken an unser Leben zu verschwenden, in diesem viel Fleckiges und gar Fürchterliches gering anschlagen. Während wir also menschliche Satzungen aufs gewissenhafteste befolgen, übertreten wir göttliche Befehle. Dass wir gut leben sollen, ist ein unveränderliches Gottesgebot, wogegen für die eine oder andere Sprechart bloss ein menschliches Gutdünken und Übereinkommen gilt, welches zudem durch die Macht der täglichen Gewohnheit oft geändert wurde und noch zu ändern ist, wie denn gemäss Flaccus:10 „… des Cato und Ennius’ Zunge Reichtum der Sprache verlieh und zum Altgewohnten auch neue Namen beschaffte…“, und wie feststeht, haben später auch Cicero und Vergil und die auf sie folgenden Schriftsteller manches verändert, und viele sind zweifellos bereit, sei’s dank Autorität, sei’s dank Gewohnheit auch in Zukunft wieder zu ändern. 8. Das eben ist die Verkehrtheit, die Augustinus in seinen Confessionen11 beklagt hat, und seine Worte setze ich, weil sie mir gefielen und wohl auch Dir gefallen werden, hierher. Denn er sagte: „Sieh, mein Herr und Gott, wie die Menschenkinder die von den früheren Rednern überlieferten Satzungen über die Buchstaben und Silben sorgfältig beobachten, doch die von Dir empfangenen zeitlosen Satzungen12 zum ewigen Heil geringschätzen. Wenn einer zwar die hergebrachten Meinungen zur Lautlehre übernimmt und weitergibt, aber entgegen der Lehre der Grammatik ominem statt hominem sagt, indem er auf die Aspiration der ersten Silbe verzichtet, ist er den Menschen verächtlicher, als wenn er im Widerspruch zu Deinen Vorschriften einen Menschen hasst, wiewohl er selber ein Mensch ist.“13 Manches andere beklagt man zudem im selben Sinn und nicht zu Unrecht. 9. Die Beredsamkeit ist ein Ziel für nur sehr wenige; die Tugend eines für alle, doch eben das den wenigen Zugedachte wird von allen erstrebt, das für alle Bestimmte von

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niemand. Und denke nur ja nicht, dieser Tadel gelte nur für die Grammatik! Kannst Du mir etwa einen Dichter nennen, der nicht lieber in seinem Leben hinkt14 als in einem seiner Gedichte? Und wie steht’s mit dem Historiker? Nehmen wir an, er habe alle Ereignisse aller Jahrhunderte in Schrift und Gedächtnis festgehalten und die Taten der Könige und der Völker, die Abfolge der Ereignisse und Zeiten anderen Leuten erklärt. Ist er aber bereit und imstande, seine eigenen Taten und die Ordnung seiner eigenen Verhältnisse und sein eigenes kurzes Leben auf seine Richtigkeit zu prüfen? 10. Und um auch die übrigen Wissenszweige15 zu durchlaufen: Zeige mir den Rhetoriker, der über eine Unschönheit in seiner Rede nicht stärker erschrickt als über eine solche in seinem Leben? Oder einen Dialektiker, der sich nicht lieber von seinen eigenen Leidenschaften besiegen lässt als durch ein Beweislein seines Gegners? Schweigen will ich von Arithmetikern und Geometern, die alles zählen und messen, jedoch Zahlen und Masse ihrer einzigen Seele übersehen. Die Musiker verbinden Zahlen mit Tönen und widmen diesem Studium ihre volle Zeit; doch sie sind es, die zwar über Töne herrschen, gleichzeitig sich um ihre Sitten nicht kümmern und sich an jenes Wort Ciceros16 nicht erinnern: „Grösser und Besser ist eine Übereinstimmung der Taten als eine der Laute.“ Dass die Übereinstimmung in den Sitten nicht zerfalle, das muss man gewiss verhüten; dagegen brauchte man sich um die andere, für die man sich viel zu sehr abmüht, nicht zu scheren. 11. Und die Astrologen? Sie durchforschen den Himmel und zählen die Sterne; und „sie wagen sich“, wie Plinius17 sagt, „an eine Sache, die auch Gott missfällt.“ Denn was Kaiserreichen und Städten später begegnen werde, das verkündigen sie sehr verwegen und lange bevor es eintrifft, doch was ihnen tagtäglich unterläuft, das berücksichtigen sie nicht; Mond- und Sonnenfinsternis sehen sie voraus, der gleichzeitige Schwund ihrer Seele bleibt ihnen unbekannt. Andere, die sich von der Philosophie einen glanzvollen Namen ableiten, suchen in aufgeblasener Überheblichkeit nach den Gründen der Dinge, während sie nach Gott, dem Schöpfer aller Dinge, zu fragen unterlassen; auch die Tugenden mit Worten beschreiben und aus dem Leben entfernen.18 12. Zum Schluss sind da noch jene, die sich einen besonders ehrenvollen Titel anmassten und die Wissenschaft von göttlichen Dingen dozierten. Wie tief sie gestürzt sind, das siehst Du: Aus Theologen sind sie Dialektiker19 geworden und hoffentlich nicht gar Sophisten! Sie sind nicht etwa Gottliebende, sondern Gottkenner. Nein, selbst das verlangen sie nicht zu sein, sondern bloss zu scheinen. Und obwohl sie das eine Ziel in aller Stille erstreben könnten, greifen sie unter lautem Geschrei nach dem andern. 13. Sieh da, was aus den Wissenschaften der Sterblichen geworden ist! Oh wüsstest Du, welche Aufregung sich meiner bemächtigt und welche Redewut mich befeuert, um das Thema endlos weiter zu führen! Doch allzu gross und unübersichtlich ist das Feld, als dass ich es mit dieser Feder jetzt auszukehren vermöchte.20

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Und täusche ich mich nicht, so ist auf das scherzende Fundament Deines kurzen Briefes eine reichlich grosse Fracht geschichtet worden. 14. Schliesslich wirst Du schon vernommen haben, wie sehr mir die Süsse meiner jederzeit lieben Ruhe und Einsamkeit kürzlich durch die Bitterkeit verhasster Besuche und unerwarteter Beschäftigungen vergällt wurde.21 Allzu lange bin ich glücklich, allzu lange frei, allzu lange ich selbst gewesen. Beneidet habe mich Fortuna, so würde ich sagen, könnte es nicht etwa gar vom Himmel verfügt worden sein, damit mein Herz im Besitz seines Wunsches nicht etwa mutwillig aufzutrumpfen beginne. Ich gebe ja zu, dass Einsamkeit, Musse, Freiheit einzig bei einer vollkommenen Tugend und vollendeten Seele von Gutem sind, und dass ich von dieser weit entfernt bin, spüre ich und beklage ich. 15. Wirklich ist für eine von Leidenschaften besetzte Seele nichts verderblicher als die Musse und nichts schädlicher als die Freiheit des Einsiedlers. Schmutzige Gedanken tauchen auf, Unmässigkeit schleicht sich ein und mit ihr als schmeichlerisches Übel die den müssigen Gedanken vertraute Seuche der Liebe. Von ihren Netzen glaubte ich befreit zu sein, doch ich täuschte mich wohl. 16. Ertragen muss ich also die Hand des verlässlichen Arztes,22 greift sie auch derb zu. Was, wenn sie verborgenen Übeln Heilung bietet? Was, wenn sie auflebenden Krankheiten steuert? Was, wenn sie mit einem kurzen Unbehagen das lange Glück vergangener und kommender Musse bekräftigt? Gewiss, ich habe (um ein Wort Vergils zu verwenden)23 „…als das Geschick und Gott es gewährten,“ meine Musse höchst begierig genossen und würde sie geniessen, wenn sie weiterhin dauerte. Doch ich füge mich in die veränderte Lage nicht allzu ungeduldig, obwohl ich Veranlassung und Wirkung nicht kenne. 17. Dass Du am Ende äusserst, Du möchtest verdienen, unter meinen Schülern genannt zu werden, was anderes ist das ausser ein einziges allzu freundschaftliches, allzu bescheidenes und unterwürfiges Angebot?24 Unter meinen Freunden wirst Du genannt, und nicht unter solchen, wie die Menge sie kennt, sondern wie die Gelehrten sie haben. Und wie gross ihre Seltenheit ist, das siehst Du. Und wie ich Dir an allen meinen Studien, allen meinen Neigungen, meinem Vaterland und meinem Namen Anteil gebe, so auch an meinem Ruhm – sofern es ihn gibt –, und dabei weiss ich freilich genau, dass ich mit Hilfe einer solchen „Studiengemeinschaft“ einen glücklichen Handel abschliesse und eine vielversprechende Gesellschaft und eine grosse Hoffnung auf Gewinn mit einem blossen Schärflein Ansehen erkaufe. Lebe wohl! Mailand, am 16. September, vor Tagesanbruch in Eile (1353).25

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Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Schreiben an den selben Adressaten. Jetzt antwortet Petrarca auf Nellis Epist. 8 vom 4. August 1353. Nelli wird dann mit seiner Epist. 11 auf Fam. 16, 14 antworten; vgl. Cochin 108 und zur Korrespondenz zwischen Petrarca und Nelli auch Wilkins, Eight years 27.254 f. 2 Vom Vergnügen, das dieser Brief dem Adressaten und seinen Freunden in Florenz bereitete, spricht Nellis Epist. 11; vgl. Anm. 1. 3 Vgl. Fam. 18,5,4 ff. über die Korrektur von Handschriften. 4 Cicero steht also nicht wie ein Vater über dem folgenden Vergil, sondern beide sind nebeneinander Väter. 5 Ad Att. 7,3,10; vgl. Fam. 7,4,1. 6 Ein Zitat kann ich nicht angeben. 7 Ov. Metam. 13,824. 8 Nellis Entschuldigungsschreiben Epist. 8 vom 4. August (1353) bei Cochin 101 f. findet hier eine Antwort. Der fehlerhafte Brief selber hat sich nicht erhalten. 9 Übungsplatz zur körperlichen Ertüchtigung; hier im übertragenen Sinn gemeint. 10 Hor. Ars 56–58. 11 Conf. 1,18,29. 12 Petrarca verwendet an dieser Stelle für Vorschriften Gottes und für solche der Grammatiker das selbe Wort: pacta (Übereinkunft, Abmachung), das er von Augustinus übernimmt und das in der Bibel oft zu finden ist; vorher aber und nachher stehen für Vorschrift, Gesetz verschiedene Wörter, was die Übersetzung anzeigt. 13 Mit dem Beispiel homo samt seiner falschen Aussprache rückt Augustinus einen Verstoss gegen die Lautlehre – zwar rein äusserlich – nah an das folgende moralische Versagen. 14 Hier offensichtlich in doppeltem Sinn gemeint, nämlich auch im Sinn von: ein schlechtes Leben führen. 15 Petrarca nennt neben der Grammatik die andern Fächer des Triviums und nennt dabei die Theologie, insofern sie Dialektik geworden ist, die Jurisprudenz insofern sie Redekunst ist; dann geht er zum Quadrivium über, bevor er Philosophie und Theologie erwähnt. Von diesen beiden handelt er jedoch erst im folgenden Schreiben Fam. 17,1. Die Medizin nennt er nicht; er rechnet sie auch gar nicht zu den Wissenschaften, sondern zu den mechanischen Künsten, wie er in den Invektiven gegen Ärzte klar heraussagt (1,13). 16 De off. 1,40,145. 17 Nat. 2,26,95. 18 Ähnliche Klagen findet man in Fam. 17,1,9 ff. 19 Das steht schon in Fam. 10,5,8. Es verweist auf den Streit zwischen zwei Theologenschulen, der insbesondere vom 12. Jh. an mit dem Überhandnehmen der Scholastik und der dialektischen Methode sehr lebhaft geführt wurde. Sehr beachtenswert ist Sen. 15,6 von 1373, in dem Petrarca einen einunddreissig jährigen Luigi Marsilius von Padua (der berühmte Namensvetter starb schon 1342/43) zum Studium der wahren Theologie anhält, die in der Liebe zu Christus gründet und sich entschieden von Averroes und Seinesgleichen abkehrt. Vgl. Dotti, Vita 429 mit Literaturangaben. Vorausgeht ein Hinweis auf Brief Sen 13,6, in dem Petrarca einem Medizinstudenten darlegt, dass sich seine Wissenschaft mit pietas verbinden müsse. Vgl. die folgende Anm. 20 Über die moderne Jurisprudenz klagt er in Fam. 20,4,2 und 23 ff., wo er betont, das Thema sei für ihn gefährlich. 21 Dies ein Hinweis auf Besuche von Kardinal Albornoz und Bischof Laurentius von Idaña in Mailand. Der Kardinal, mit dem Auftrag der Reformierung des Kirchenstaates betraut, hielt sich vom 15. bis 18. September in Mailand auf; vgl. Wilkins, Eight years 32 f., mit einem Hinweis auf Petrarcas Brief Varia 56, Fracassetti Bd. 3, 458 ff., an Nelli. Dessen Epist. 11 bezieht sich mit dem Hinweis auf den Kardinal Albornoz ebenfalls auf Fam. 16,14.

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22 Das ist die Hand Gottes. 23 Aen. 4,651. 24 Möglicherweise schloss die Bitte eine um Erwähnung in den Familiares ein; vgl. die Bitte von Guido Sette in Fam. 19,8. Wer in Petrarcas Freundeskreis aufgenommen wurde, durfte damit rechnen, im Briefband genannt zu werden, wie Fam. 23,20,7 nahelegt. 25 Zum Inhalt des Briefes und zur Datierung vgl. oben Anm. 1 und 8 und Wilkins, Eight years 33 und Petr. corresp. 75.

Fam. 17,1, an den Bruder Gherardo, den Kartäuser1 Über wahre Philosophie, wahres Gesetz und ihren wahren Lehrer. 1. Petrarca ist erstaunt über einen kenntnisreichen Brief des Bruders. 3. Er lobt dessen Lehrmeister Christus. 5. Echte Philosophie findet man nicht an den Bildungszentren. 8. Philosophie wäre die Kunst, auf das wahre Ziel hin zu leben, wäre Liebe zur Weisheit. 11. Das lernte Petrarca von Augustin und anderen Autoritäten. Von den vorchristlichen Philosophen kam Platon der wahren Philosophie am nächsten. 13. Er wusste, Gott ist das Ziel, das wahre Gut; es geniessen, ist wahres Glück. 15. Philosophie als Liebe zur Weisheit ist Liebe zu Gott-Sohn, der die Weisheit ist. 18. Durch diese Weisheit wurde und besteht alle Kreatur. 20. Der Liebhaber wahrer Weisheit muss Verehrer Christi sein. 23. Dieser ist als Weisheit auch das wahre Gesetz, das sich aller Kreatur mitteilt. 25. Er hat das Gesetz des alten Testamentes erfüllt und das Gesetz der Gnade gebracht. 27. Das alte Gesetz brachte Verheissungen; sie wurden offenbar, als der Vorhang des Tempels zerriss. 30. Cicero hat das wahre Gesetz glänzend definiert. 38. Die Grösse der alten Philosophen zerfällt neben der Grösse Christi. 44. Petrarca hat diesem Brief bewusst viele wörtliche Zitate eingefügt. Monza, am 7. November (1353).

1. Durch die Hände eines frommen Mönchs ist mir Dein noch frömmeres Buch überbracht worden. Ich öffnete es, um am folgenden Morgen mit der Lektüre zu beginnen; die letzte Tageszeit war nämlich schon da. Doch es „umschmeichelte mich sehr“, wie Seneca sagt,2 und ich legte es deshalb nicht weg, bevor ich in aller Stille es vollständig gelesen hatte. So wurde das Abendbrot für den Leib auf die Nacht verschoben, während meine Seele sich grossartig verköstigte und an ihren Speisen sich aufs sanfteste erbaute. 2. Gefreut habe ich mich, mein einziger Bruder, mehr als sich sagen lässt, denn ich erkannte nicht allein Deine (schon immer erhoffte) Beharrlichkeit in Deinem heiligen Vorhaben, auch nicht bloss Deine (mir sei langem bestens bekannte) Verachtung für die flüchtigen Gaben der Welt, sondern auch diese unverhoffte und unvermutete Fülle an Bildung, an welcher Du bei Deinem Eintritt in den Gott so wohlgefälligen Orden keinen Anteil hattest, vielmehr so gut wie nackt warst. 3. Obwohl die Bücher kein Heil in sich haben,3 waren und sind sie doch für viele ein Weg zum Heil. Auch ist es ein Anzeichen einer hervorragenden und leicht zur Höhe sich schwingenden Seele,4 wenn sie ein so grosses Gut ohne Lehrer sich aneignen kann. Freilich hast gerade Du, um die Wahrheit zu sagen, Dir nichts ohne Lehrer angeeignet, vielmehr hattest Du einen, der eine Begabung nicht allein fördern, sondern auch schenken kann; und dass Du unter ihm so grosse Fortschritte in so kurzer Frist gemacht hast, wundert mich nicht. 4. Denn wie dieser Lehrer rascher, als sich sagen lässt, grösste Tugend und Weisheit oft einer ganzen Schar einflösste und diese Schar mit einem mitleidigen Wink aus tiefster Finsternis ins strahlendste Licht emporhob, machte er jetzt, Bruder, mit einem Blick voll des Mitleids auch aus Dir, einem Ungelehrten einen Gelehrten und aus einem Schiffbrüchigen einen Geretteten. Ihm gebührt Ehre und Dank, nicht etwa Dir, denn

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Du sollst nicht denken, dass ich Dir heute schön tue. Habe ich das bisher nie getan, so ist es jetzt nicht an der Zeit, damit zu beginnen. 5. Es pflegten einst die Männer der Studien wegen das kekropische Athen5 aufzusuchen, nämlich als die Stadt Rom erst eine Quelle für Militärwesen und imperiale Macht, aber noch nicht eine auch für literarische Bildung war. Heutzutage reist man nach Paris oder eben nach Bologna, wohin auch wir beide – Du erinnerst Dich – in unserem ersten Lebensalter zogen. Wir taten es ohne Erfolg, und gewisse Freunde beklagten das in ihrer Gewinnsucht oft, während wir es seit jeher nicht zu den schlechtesten Gnaden Gottes zählten. 6. Kostspielige und schwierige Auslandreisen nimmt menschliche Hartnäckigkeit gierig auf sich, und keine Anstrengung weist sie zurück, um wenigstens einen Teil der aufgeblasenen Philosophie oder dann die hinterlistige Schwatzhaftigkeit der Gesetze zu erwerben und im Verschlucken von viel Einzelwissen das gesamte Leben mit zu verschlucken, ohne dass auch bloss ein winziger Rest von Zeit für bessere Sorgen bestimmt würden! 7. Du hingegen hast die wahre Philosophie und das wahre Gesetz in weniger als einem Jahrzehnt erlernt, und nun möchte ich nicht, dass Du meinst, Philosophie sei das, was in jener einen Stadt nun tausend Menschen verkünden. Sie ist nämlich keineswegs ein so allgemeines Gut, wie heute viele Leute sich einreden. Sie, die wir heute vor der Menge prostituiert sehen, wohin führt sie? Aufgeregt und ängstlich kreist sie um hohle Wörter und Spitzfindigkeiten, obwohl diese nicht zu kennen, oft nicht weniger vernünftig wäre, ja vielleicht sogar vernünftiger, als sie zu kennen. 8. Auf diese Weise wird die Wahrheit dem völligen Vergessen preisgegeben; vernachlässigt werden die guten Sitten und geringgeschätzt just jene Dinge, von welchen wahre Philosophie, die niemanden trügt, ihren Adel hat; denn nur um leere Worte ist man bemüht. Dass es so ist, beweist das Leben der Philosophen; es enthält nichts von dem, was sie predigen. 9. „Wie manchen kann man“, so fragt Tullius6 in seinem Tusculum, „unter den Philosophen denn finden, der sich so verhielte, dass sich sein Leben und seine Sitten nach dem richteten, was die Vernunft erfordert? Oder wo ist einer, der sein Lehrfach statt als ein Prunken mit Wissen als eine Richtlinie für das Leben verstünde, sich selber im Zaume hielte und seine eigenen Vorschriften befolgte? Da kann man gewisse Leute von solcher Leichtfertigkeit und Überheblichkeit treffen, dass für sie besser wäre, sie hätten nichts gelernt, daneben andere, die nach Geld gieren, wieder andere, die von Ehrgeiz zernagt und viele, die Knechte ihrer Leidenschaften sind, so dass ihr Leben in sonderbarem Kontrast zu ihrer Rede steht. Und eben das betrachte ich als das Ärgerlichste von allem. 10. Denn wenn einer, der als Sprachlehrer auftritt, barbarisch daherredet, oder wenn einer, der als Musiker gelten will, ohrenbetäubenden Lärm macht, so ist das besonders anstössig, weil er sich genau gegen das verfehlt, was er als seine Wissenschaft ausgibt. So ist es auch beim Philosophen. Sündigt er gegen vernünftige Lebensgrundsätze, ist das aus dem selben Grund besonders verächtlich; er versagt ja gerade

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in der Disziplin, in der er ein Lehrmeister sein will, und verleugnet die Lebenskunst, die er lehrt, in seinem Leben.“ In diesen Worten Ciceros ist unter manchem dies beachtenswert, dass er die Philosophie nicht als Wortkunst, sondern als Lebenskunst auffasst. 11. Willst Du, geliebtester Bruder, vielleicht wissen, falls Du es nicht weisst, welche Philosophie die wahre ist, um in der Kenntnis der in kurzer Frist zurückgelegten Strecke den restlichen Weg noch beschwingter zurückzulegen? Willst Du Dein Ohr, das sich allen, die fälschlicherweise mit dem Namen Philosophie sich brüsten, versagt hat, vielleicht mir zukehren, damit es einzig mich anhöre, richtiger nicht mich, sondern den Fürsten der Philosophen Platon und den Philosophen Christi, das ist Augustinus im 8. Buch „Über den himmlischen Staat“?7 12. „Nun,“ so sagt der Genannte, „genügt es sich zu erinnern, dass Platon erklärte, das Ziel des guten Menschen bestehe in einem Leben, das den Tugenden gemäss sei, und ein solches könne nur erreichen, wer Kenntnis von Gott habe und ihm sich angleiche;8 und aus keinem anderen Grund könne er glücklich sein. Platon zweifelte also nicht, dass philosophieren so viel heisst, wie Gott lieben, ihn, der von Natur unkörperlich ist. Daraus ist zu folgern, eben der sei ein glücklicher Ergründer der Weisheit, also ein Philosoph, der begonnen hat, Gott zu geniessen.9 13. Gewiss ist einer nicht sogleich glücklich, wenn er geniesst, was er liebt; denn viele lieben ja, was nicht liebenswert ist, und diese sind deswegen elend; ja sie sind erst recht elend, wenn sie es gar noch geniessen. Ebenso ist keiner glücklich, der nicht geniesst, was er liebt. 14. Und jene, die das Nicht-Liebenswerte lieben, wähnen sich nicht etwa glücklich im Lieben, sondern bloss im Geniessen. Kommt es aber dazu, dass einer geniesst, was er liebt, und dass das, was er liebt, das wahre und höchste Gut ist, wer ausser ein erbärmlicher Tropf könnte da leugnen, dass er glücklich ist? Eben dem echten und höchsten Gut gibt nun aber Platon den Namen Gott, und deshalb behauptet er, der Philosoph sei ein Liebhaber Gottes, so dass er, weil er in der Philosophie nach dem glücklichen Leben strebt, im Genuss Gottes glücklich ist als einer, der Gott liebt.“ 15. Eben diese Lehre Platons ist bei Augustinus wörtlich wiedergegeben, Platon aber ist in der Schar der Philosophen der einzige, der dem wahren Glauben wirklich nahe kam. Indem Augustinus10 dies und manches andere von ihm übernimmt, erklärt er im genannten Buch: „Das drückt ja gerade das Wort philosophia auch selber aus; denn das heisst auf Lateinisch amor sapientiae.11 Da nun aber die göttliche Autorität und Wahrheit gezeigt hat, diese Weisheit sei Gott, „durch den alles geschaffen ist,“12 ergibt sich daraus, dass der wahre Philosoph ein Liebhaber Gottes ist.“ 16. Und ich würde dem ohne Zögern anfügen, dass bei uns, die wir täglich Christum als unseren Gott bekennen, folgerichtig und wahrheitsgemäss zu schliessen ist, der echte Philosoph sei ein Christ. Doch was spreche ich mir selber zu? Nichts habe ich zugefügt ausser den Namen Christus. Denn hat Augustinus13 viel-

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leicht etwas anderes angedeutet, wo er sagt: 17. „Wenn also die Weisheit Gott ist, durch den alles geschaffen ist…“? An dieser Stelle heisst Weisheit zweifellos so viel wie Christus. Allerdings ist in der Dreieinigkeit jede Person Gott, was wir gemäss Athanasius14 in der christlichen Wahrheit zu bekennen genötigt sind, und deshalb ist jede von diesen Personen höchste Macht, jede höchste Weisheit und jede höchste Güte. Und dennoch bleibt, dass in besonderer Art die Weisheit des Vaters eben Christus ist, „durch den alles geschaffen ist“, wie gemäss dem Evangelium des Johannes und dem Glaubensbekenntnis die getreue Kirche allezeit vorträgt.15 18. Und ebenso sagt Augustinus16 in seinem Buch „Über die wahre Religion“, wo er das Werk der Dreieinigkeit behandelt: „Man darf nicht denken, einen Teil der Schöpfung habe der Vater geschaffen, einen Teil der Sohn und wieder einen andern der Heilige Geist, vielmehr hat die ganze und jede einzelne Kreatur der Vater geschaffen durch den Sohn in der Gabe des Heiligen Geistes.“ Das ist es, was er auch an anderen Stellen und am Ende des Buches wiederholt:17 „Ein Gott, von dem wir sind, durch den wir sind und in dem wir sind.“ Und wiederum: „Ein Gott, von dem alles, durch den alles, in dem alles.“ 19. Das selbe im 11. Buch vom Gottesstaat:18 „Fragt man bei jeder Kreatur: ‚Wer hat sie erschaffen, wodurch hat er sie erschaffen und warum hat er sie erschaffen,‘ ist zu antworten: ‚Gott durch das Wort, dass sie gut sei.‘19 denn in mystischer Erhabenheit soll uns eben die Dreieinigkeit verkündigt werden, nämlich der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“ Und nur wenig später sagt Augustinus:20 „Wir glauben, halten fest und verkünden getreu, dass der Vater das Wort gezeugt hat, nämlich die Weisheit, durch die alles geschaffen ist, also den einzig geborenen Sohn, der Lebendige den Lebendigen, der Ewige den Mit-Ewigen, der Höchstgute den Gleich-Guten.“ 20. Unnötig, das Folgende auch noch zu zitieren, denn die erwähnte Schrift beteuert in ihrem Wort über Christus regelmässig, es sei „alles durch ihn erschaffen.“ Wenn also diese Weisheit Gott ist, dieser aber Christus und Gottes Sohn ist, Philosophie zudem die Liebe zur Weisheit ist, dann lässt sich gerade aus den Worten Augustins ohne Zweifel schliessen, den wahren Philosophen könne es nicht geben, ausser er sei ein Liebhaber Gottes und ein wahrer Verehrer Christi. 21. Eben diese Philosophie, bester Bruder, hast Du also weder in Athen, noch in Rom oder Paris, sondern auf einer frommen Anhöhe und in einem heiligen Hain21 selig an Dich gezogen und bist damit ein viel echterer und gewisserer Philosoph als jene anderen, bei deren öffentlichen Disputen, wie wiederum Augustinus sagt,22 vor allem das „weitaufgerissene Maulwerk“ sich mit dem Namen Platons grossartig gebärdet, während die Brust längst nicht ebenso voll an Wahrheit ist 22. Wenn eine Warnung sogar den Platonikern gegenüber berechtigt ist, obwohl sie aus der ganzen Schar der Philosophen von den unsern23 bevorzugt werden, um wie viel mehr ist dann den andern gegenüber das angebracht, was der Apostel24 gesagt hat: „Nehmt Euch in acht, dass Euch keiner täusche mit Philosophie und

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hohlen Verheissungen, die bloss auf elementare Mächte der Welt gestützt sind.“ Manche haben wahrhaftig aus unendlich vielen Irrtümern immer neue und unzählige Sekten errichtet, die aufzuzählen jedoch unnötig ist. 23. Nun zu den Gesetzen. Was erwartest Du von mir über solche zu hören? Wir wissen, dass viele Rechtskundige bei verschiedenen Völkern auftraten. Doch das weniger Bedeutende übergehe ich. Berühmt waren für Gesetzeserlasse in Argos Phoroneus,25 bei den Lakedaimoniern Lykurgos, bei den Athenern Solon. Die Gesetze des letztgenannten wurden den Römern übermittelt und haben da vieles an Veredelung und Erweiterung empfangen. Es entstanden die Zwölftafelgesetze und andere Gesetze, es entstanden Senatsbeschlüsse, Plebiszite und das Recht der Honorarprätoren, schliesslich Edikte von Diktatoren und Fürsten. Solche Verordnungen und alle andern noch vorhandenen wurden wie von Menschen geschaffen, so von Menschen auch geändert, nämlich gemäss dem Wandel der Zeiten, auch gemäss den veränderten Neigungen und den Willensäusserungen der Menschen, in denen sie gründeten.26 Allgemein gilt die Forderung, dass ein Gesetz ein vorausgehendes verbessere. 25. Verlangst Du ein ewiges Gesetz? Dann unterlege ihm ein ewiges Fundament! Ein Gesetz wurde dem israelitischen Volk nach dem Diktat Gottes durch Moses gegeben. Es war recht dauerhaft; war es aber ewig? Gewiss ist durch Moses das Gesetz gekommen, durch Christus jedoch die das Gesetz erfüllende Gnade.27 Er hat das Gesetz nicht des Gehalts entleert, sondern erfüllt,28 hat dieses nicht aufgehoben, aber die vielen sakralen Handlungen des Gesetzes vollendet. 26. Deshalb sagt Augustinus29 zum Psalm 143: „Du erinnerst Dich, wie vieles wir im alten Gesetz lesen, was wir nicht halten. Doch verstehen wir es als etwas, das dank einer tieferen Bedeutung eine Verheissung und Vorbedeutung ist, und wollen das Gesetz Gottes zwar nicht abschaffen, aber die sakralen, verheissenden Handlungen, nachdem die Verheissung erfüllt ist, nicht mehr vornehmen. Was sie versprachen, hat sich ja ereignet. Die Gnade des Neuen Testaments war im Gesetz verhüllt gewesen,30 und im Evangelium wird es enthüllt. Die Hülle haben wir weg gehoben; was verhüllt war, haben wir erkannt. Erkannt haben wir aber durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, unseres Hauptes und Erretters, der für uns gekreuzigt wurde. Eben als er gekreuzigt war, zerriss ja auch der Vorhang im Tempel.“31 27. Wegen dieses letzten Hinweises vor allem habe ich das Zeugnis Augustins hier eingefügt, denn es soll Dir bis in alle Tiefe einleuchten, dass der zerrissene Vorhang, von dem wir im Evangelium lesen, ein ungeheures und unaussprechliches Mysterium verkündet, indem er anzeigt, dass die alte Hülle, welche bis zu jenem Tag die Geheimnisse des Gesetzes bedeckte, in der Passion Christi zerrissen wurde. Damit offenbarten sich einem demütigen und neuen Volk alle Geheimnisse, die das stolze Volk der früheren Zeit mit seinen verschwollenen und trüben Augen nicht gesehen hatte.

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28. „Die Juden nämlich,“ wie Augustinus32 wieder an anderer Stelle dartut, „flehen zwar zum allmächtigen Gott, wollten aber, da sie von ihm einzig zeitliche und sichtbare Güter erwarten, in ihrer allzu grossen Sicherheit, mit der sie auf ihre alten Schriften vertrauten, jene aus der Niedrigkeit sich erhebenden Anfänge des neuen Volkes nicht sehen und verharrten damit im Zustand des alten Menschen.“33 „Obwohl das Alte“, wie der selbe Kirchenlehrer sagt,34 „seiner früheren Zeit wegen vorangeht, ist ihm das Neue seiner Würde wegen vorzuziehen; jenes Alte ist eben nur eine Vorverkündigung des Neuen.“ 29. Und um zum Thema zurückzukehren, so ist, wie Du einsiehst, das mosaische Gesetz, obwohl von allen menschlichen Gesetzen das heiligste, in mancher Hinsicht der in Jesus Christus geschaffen Gnade gewichen. In Christus allein besteht ein unveränderliches und ewiges Gesetz, das keinem andern je weichen wird und dem alle andern weichen werden, sofern sie nicht schon gewichen sind. Es ist „das allgemein verpflichtende Gesetz Gottes,“35 das Caecilius Formianus Lactantius36 an einer bestimmten Stelle nicht bloss obenhin abhandelt. Er sagt: „Es geleitet uns auf den Weg der Weisheit, es ist jenes heilige, jenes himmlische Gesetz, das Marcus Tullius in seinem dritten Buch „Von der Republik“ mit beinah göttlicher Stimme geschildert hat und dessen Worte ich,37 um nichts Eigenes anzubringen, hier wiedergebe:38 30. ‚Es gib ein wahres Gesetz, eine richtige Anordnung, übereinstimmend mit der Natur, über alle ausgegossen, auch beständig und dauerhaft. Es ruft gebieterisch zur Pflichterfüllung auf, und es warnt abschreckend vor Betrug. Nicht umsonst gebietet und verbietet es den Redlichen, und nicht umsonst rüttelt es verbietend und gebietend die Unredlichen auf. An diesem Gesetz etwas abzuändern, ist nicht gestattet, und ihm etwas vorzuenthalten, ist nicht erlaubt, und das ganze aufzuheben, ist nicht möglich. Weder durch einen Senat, noch durch ein Volk können wir uns von diesem Gesetz befreien. Auch ist weder nach einem Erklärer, noch nach einem anderen Deuter zu suchen. Es wird in Rom kein anderes Gesetz sein als in Athen, kein anders jetzt als später, vielmehr wird das eine und ewige und unveränderliche Gesetz alle Völker zu allen Zeiten umfassen. Und für jedes Individuum wird es das eine und allgemeine sein, nämlich gleichsam als ein Lehrmeister und ein über alles herrschender Gott; denn eben er ist dieses Gesetzes Erfinder, Deuter und Aussäer. Und wer ihm nicht gehorcht, der muss vor sich selber fliehen und – die Natur des Menschen verachtend – mit schwersten Qualen sühnen, mag er auch dem, was gemeinhin als Strafe gilt, entrinnen‘.“ 32. Das also, mein Bruder, ist das Gesetz Gottes gemäss Cicero, das er dank einer Offenbarung Christi recht eigentlich erfasst hat, obwohl er ihn nicht kannte (ich werde von ihm aber nicht wie Lactanz39 behaupten, er sei „der Erkenntnis der Wahrheit sehr fern gewesen“). Dieses Gesetz also hat er so klar und einprägsam umrissen, wie es niemand, selbst nicht die mit den Geheimnissen des wahren Glaubens längst Vertrauten, noch einprägsamer und kürzer auszudrücken vermöchten.

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Und zweifellos (hierin eben weiche ich von Lactanz nicht ab) ist anzunehmen, dass er das unter dem Ansporn irgendeines göttlichen Geistes40 getan hat. 33. Weisst Du aber, weshalb das göttliche Gesetz unveränderlich bestehen bleibt? Weil es von Jenem erlassen wurde, der „stets der selbe ist und dessen Jahre nie ein Ende haben,“41 weil es überdies von Dingen handelt, die nicht vergänglich und veränderlich sondern ewig sind. Selbst wenn darin ab und zu von Vergänglichem die Rede ist, bezieht es doch alles im Geist des Gesetzgebers auf das ewige Leben, über das hinaus es nichts gibt. Und weil dieses Gesetz durch den Unendlichen und Unveränderlichen erlassen wurde, und zwar für das Unveränderliche und Unmöglich- Anderssein-Könnende,42 ergibt sich die Notwendigkeit, dass es auch im ewigen Gemeinwesen des Himmels unaufhörlich und unveränderlich bestehen wird. 34. Dieses Gesetzes Urheber ist Christus, und es ist „das makellose Gesetz des Herrn, das die Herzen verwandelt,“43 von dem der Psalmist gesagt hat: „Ein zuverlässiges Zeugnis des Herrn, das den Kleinen Weisheit verleiht.“ Dieses Gesetz, teuerster Bruder, hast Du nicht bei der Herde der Scholastiker und ihrem Gezeter, sondern als Einsamer in der Stille kennengelernt. Und Du hättest das nicht vermocht, wärst Du nicht einer der Kleinen gewesen. 35. Als Kleine die Demütigen zu betrachten, heisst uns die Stelle, wo geschrieben steht:44 „Lasst die Kleinen zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich“, und die andere:45 „Verborgen hast Du es den Weisen und Klugen, aber geoffenbart den Kleinen,“ doch insbesondere die von Dir nicht übersehene Stelle,46 wo der Psalmist sagt: „Ein Hüter der Kleinen ist der Herr,“ und wo er, damit ganz klar sei, wer diese Kleinen sind, sogleich anfügt: „Gedemütigt bin ich, und er hat mich gerettet,“ ganz so, als wollte er sagen: ‚Da der Herr die Kleinen behütet, bin ich, damit er auch mich behüte, in der Demut zum Kindlein worden.‘ 36. Im übrigen ist einer grossen Lernbereitschaft ein geeigneter Lehrer zu Hilfe gekommen, allerdings nicht ein Aristoteles, Pythagoras oder Platon für philosophische Fragen, und nicht ein Papinianus, Ulpianus oder Scaevola47 für Fragen des Gesetzes, sondern Christus. In beiden Wissenschaften hat unter einem solchen Lehrmeister ein frommer und demütiger Verstand rasch Früchte hervorgebracht. Ihn liebe, Ihn verehre, denn nichts anderes hast Du, was seiner würdig wäre; und gib Ihm (was weit würdiger ist als was Aischines48 dem Sokrates schenkte), gib Dich selbst! Er wird Dich als ein Gebesserter Dir wiedergeben; und was Sokrates seinem Schüler versprochen hat, das wird auch Christus Dir gewähren. 37. Sage ihm Dank wie für vieles, so ausdrücklich für die Gesinnung, die er Dir gegeben und die Du vorher nicht gehabt hast. Und fürchte nur nicht, Du könntest dabei zu viel tun und seine Wohltätigkeit mit Danken, Loben und Lieben übertreffen, denn Du könntest sie ja niemals auch bloss in Gedanken erreichen. Hier hast Du die einzige Ausnahme, für die man jenes Wort des Terenz49 nicht anführen kann: „Nur nicht zuviel!“ Hier müsste es eher heissen: „Niemals genug!“ 38. Und um nicht

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darüber zu rätseln, wie wirkungsvoll Christi Unterweisung sei, dank welcher Du in so kurzer Zeit mehr Fortschritte erzielt hast, als Du im Verlauf Deines ganzen Lebens sei’s in der Akademie Platons sei’s in anderen Schulen der Philosophen oder Juristen erreicht hättest, überlege Dir, wie des Menschen beliebige Grösse neben Gott so gänzlich ein Nichts ist. Platon war ein grosser Gelehrter, gross war Pythagoras, gross Aristoteles, gross Varro.50 Gross ist jeder von ihnen, wenn man ihn für sich selber betrachtet. 39. Nicht von hoher Gestalt soll Kaiser Augustus gewesen sein, jedoch von so überaus edler, dass er mit seiner ehrfurchtgebietenden Erscheinung den Mangel an Körpergrösse leicht ausglich, dies jedoch nicht länger, als bis ein hochragender Mann sich näherte; denn dann trat sogleich die vorher durch seine Geisteskraft verdeckte körperliche Kleinheit zutage. 40. Willst Du die wahre Grösse der scheinbar Grössten erkennen? Dann vergleiche jeden einzelnen von ihnen oder besser alle miteinander und so viele als vorausgingen und nachfolgten und bis ans Weltende folgen werden, mit dem einen Christus. Du wirst vielleicht erkennen, dass es grossartig klingende, aber doch eitle Namen sind, und auf jene, zu welchen Du einst ehrfürchtig aufgeschaut hast, nach erkannter Wahrheit von oben herabschauen. 41. Sogleich wird der falsche Glanz verschwinden, wenn die Sonne der Gerechtigkeit51 Christus erstrahlt ist. Und damit Du solches im Hinblick auf eine grössere Autorität zu glauben noch eher geneigt seist (obwohl Du dazu keiner Ermahnung bedarfst), wollte ich, es sei Dir bei einer derartigen Betrachtung jene Psalmstelle52 gegenwärtig, wo es heisst: „Verschlungen wurden ihre an den Felsen gelehnten Richter,“ oder wie die alte Übersetzung lautet: „Verschlungen wurden ihre Richter nahe dem Felsen.“ Der Fels jedenfalls, das wissen wir, ist Christus. 42. Und so erläutert Augustinus53 diese Stelle: „Alle Lande vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang lobet den Namen des Herrn! Was aber tun die wenigen, die dagegen Einspruch erheben? Gemeint sind die Richter der Gottverlassenen. Was soll‘s? Beachte, was nachfolgt: ‚Verschlungen wurden nahe dem Felsen deren Richter.‘ Was heisst das: ‚Verschlungen nahe dem Felsen‘? Der Fels war Christus. Verschlungen ‚nahe‘ dem Felsen: ‚Nahe‘ heisst ‚verglichen mit‘; und ‚Richter‘ meint: ‚die Grossen, die Mächtigen und die Gelehrten.‘ Eben diese gelten hier als ihre Richter, als solche, die über Sitten und Meinungen Urteile abgeben. 43. Aristoteles hat das und das gesagt! Stelle ihn nahe an den Felsen! Er wird verschlungen. Wer ist Aristoteles? ‚Sie mögen hören,‘54 hat Christus gesagt, und jener erbebt in der Unterwelt. Pythagoras hat das und das gesagt; Platon das und das. Stelle sie nahe an den Felsen! Vergleiche die Autorität, nämlich die ihre, mit der Autorität der Evangelien! Vergleiche die Aufgeblasenen mit dem Gekreuzigten! Wir wollen zu ihnen sagen: ‚Ihr habt Eure Schriften in die Herzen der Stolzen geschrieben; jener hat sein Kreuz auf die Stirne der Könige geheftet. Am Ende starb er und auferstand; Ihr aber seid tot, und fragen will ich nicht, wie Ihr einst aufersteht.‘ Also

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sind ihre Richter nahe dem Felsen verschlungen worden. Nur solange scheinen sie etwas zu sagen, als sie noch nicht mit dem Felsen verglichen wurden.“ Soweit Augustinus wörtlich. 44. Vieles, was von einem Fremden stammt, habe ich heute meinem Text, wie Du siehst, entgegen meinem Brauch eingefügt, obwohl gemäss den Aussagen gewisser Gelehrter55 einfach alles, was irgend jemand gut ausgedrückt hat, uns gehört oder jedenfalls durch unsern Gebrauch das Unsere werden kann. Es gibt ja eine Aneignung durch Gebrauch wie bei Dingen so auch bei Worten. Getan habe ich das, damit meine Reden bei Dir mehr Glaubwürdigkeit hätten, wenn sie mit dem Zeugnis so bedeutender Männer bekräftigt wären. Doch hat meine Rede, so sage ich, selbst ohne äussere Stützen bei Dir stets grosses Gewicht gehabt, was nicht etwa mein Verdienst, sondern Deine wahrhaft brüderliche Liebe bewirkt hat. 45. Und hiermit, Bruder, möge meinem freudigsten Erstaunen, das aus der unerwarteten Fülle Deiner Kenntnisse erwächst, gehörig entsprochen sein. Nichts sage ich zum Übrigen! Ausser dass ich alles, was Dein Bändchen enthält – und das ist viel! – mit grosser Begeisterung umfange und lobe, dabei mit inständigen Wünschen danach verlange, es möge meine Seele nicht weniger kräftigen, als es sie glücklich macht! Lebe wohl, meine Zierde! Monza, am 7. November (1353).56

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an den Bruder; dazu auch Henry Cochin, Le frère de Pétrarque et le livre „Du repos des religieux“, Paris 1903, 136–140. 2 Ad Lucil. 46,1. 3 Vgl. z. B. 2Cor. 3,6; Rom. 2,29. 4 Das erinnert an Fam. 4,1,9 ff., wo Petrarca in seinen Meditationen hervorhebt, dass sein Bruder – im Gegensatz zu ihm – sehr rasch die Höhe des Mont Ventoux erreichte. 5 Die kekropische Burg Athens steht oft für ganz Athen. 6 Tusc. 2,4,11–12. 7 Gemeint ist der Gottesstaat; vgl. De civ. 8,8. Das Zitat endet erst mit Abschnitt 14. 8 Im Augustinus-Zitat steht: qui notitiam Dei habet et imitationem. 9 Die Folgerungen im Platon-Zitat sind – weil aus dem Zusammenhang gerissen – nicht durchaus nachvollziehbar. Leicht begreift man die sogleich folgenden Schlüsse Augustins. 10 De civ. 8,1. 11 Deutsch: „Liebe zur Weisheit“. 12 Per quem facta sunt omnia: Wie unentbehrlich dieser Zusatz ist, zeigt sich in der folgenden Ausführung. Die Formulierung stammt übrigens aus dem Credo der katholischen Messe, und sie bezieht sich da auf Gott-Sohn. Denn Gott-Vater erschafft alles nicht anders als durch den Sohn. Dass die Weisheit mit der zweiten Person Gottes gleichzusetzen sei, wie im folgenden zu lesen ist, entspricht einer oft ausgedrückten schon frühkirchlichen Auffassung.

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13 Vgl. bei Rossi die zugehörige Anmerkung. Rossi hält den nachfolgenden Text für den Teil eines Augustinus-Zitats, das er nicht finden könne. Es ist aber wohl so, dass Petrarca sich mit der verkürzten Wiederholung des schon vorher zitierten Bedingungssatzes begnügte, in den er jedoch, wie er selber sagt, den Namen Christi einfügte. 14 Athanasius, *ca. 295, ab 328 Patriarch von Alexandrien, verteidigte gegen die Lehre des Arius wie kein anderer die Gottgleichheit Christi mit Gott-Vater, dem Schöpfer. 15 Jo. 1,1: In principio erat verbum…, omnia per ipsum facta sunt. Vgl. Anm. 12. 16 De vera rel. 7,13. 17 De vera rel. 55,113. 18 De civ. 11,23. 19 Man erwartet wohl quia bonus est, und wirklich hat Fracassetti diese Lesart, die ich selber vorziehen wollte. Doch steht bei Rossi entsprechend den Ausgaben von Augustins Werk über die Republik quia bona est. Dann muss aber quia hier den Sinn von „dass“ haben wie in der Vulgata sehr oft; vgl. z. B. Ps. 143. 20 De civ. 11,24. 21 Gemeint ist die Kartause Montrieux. 22 De vera rel. 3,5. 23 Das heisst: von christlichen Denkern, von Augustinus und andern Kirchenlehrern. 24 Paulus, Col. 2,8. 25 Phoroneus: Vater der Menschen; Schiedsrichter zwischen Poseidon und Athene im Streit um die Stadt Argos in der peloponnesischen Gegend Argolien. 26 Vgl. Fam. 16,14,7 ff. 27 Vgl. Jo. 1,17; Rom. 3,24 und sehr oft. 28 Mt. 5,17. 29 In Ps. 143, 2. 30 Vom Gesetz, das einen Schatten des zukünftigen Heils anzeigt, spricht Hebr. 10,1. Gemeint ist der Vorhang des Tempels in Jerusalem; er verbarg vor der Menge das Allerheiligste. 31 Mt. 27,51; Mc. 15,38; Lc. 23,45. 32 De vera rel. 5,9. Es ist klar, dass Petrarca nicht an eine Rasse, sondern an eine Glaubensrichtung denkt. 33 Vgl. 1Cor. 15,45; Ephes. 4,24; Col. 3,10. Der unerlöste Mensch ist der Sohn des alten Adam; dagegen ist der neue Mensch erlöst durch den neuen Adam, das heisst durch Christus. 34 De civ. 20,4. 35 Lateinisch: suscipienda lex Dei. 36 Div. inst. 6,8,6–9. 37 Es spricht Lactanz. 38 Der folgende Text ist Zitat aus Cicero, De rep. 3,22,33. 39 Ebenda. 40 Lateinisch: divino aliquo spiritu instigatus. 41 Ps. 101,28. 42 Lateinisch: legem…de immutabilibus et impossibilibus aliter se habere editam. 43 Zu diesem und dem folgenden Zitat vgl. Ps. 18,8. 44 Mc. 10,14. 45 Mt. 11,25. 46 Ps. 114,6 (=116,6). 47 Aemilianus Papinianus, bedeutender Jurist der Spätantike; 212 unter Caracalla ermordet. Im Cod. Theod. vielfach zitiert. Domitius Ulpianus, Jurist unter Septimius Severus, zu seiner Zeit von ungewöhnlich grossem Einfluss, ermordet ca. 225, und Quintus Mucius Scaevola, Jurist, Lehrer Ciceros, zur Zeit der Unruhen unter Marius umgebracht.

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48 Aischines (Aeschines), Schüler des Sokrates, Redelehrer; soll sich das Ziel gesetzt haben, die mündlichen Reden und Lehren des Sokrates genau wiederzugeben; ist nicht zu verwechseln mit dem Gegner des Demosthenes. 49 Andr. 60 (1,1,34). 50 Marcus Terentius Varro; vgl. Personenreg. 51 Mal. 4,2. 52 Ps. 140, 6. Die Fassungen unterscheiden sich bloss durch die Lesarten iuncti petre und iuxta petram. Absorbti sunt iuncti petre iudices eorum oder absorbti sunt iuxta petram iudices eorum. 53 Aug. In Ps. 140,19 und Ps. 140,19. Das Augustinuszitat, voller Zitate und fingierter Fragen, endet mit Abschnitt 43. 54 Bei Rossi: Audiant; wohl nach Michaeas 6,2. 55 Sen. Ad Lucil. 16,7. Den hier geäusserten Gedanken hat Petrarca mehrfach wiederholt; vgl. z. B. Fam. 1,8,3 und 17,3,3. 56 Die Einreihung dieses Briefes kümmert sich nicht um eine chronologische Abfolge. Petrarca ist wichtig, den Brief herauszuheben. Vgl. zur Datierung Wilkins, Eight years 47 und Petr. corresp. 75. Angaben zu den Briefen Petrarcas findet man bei Dotti, Vita, leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 17,2, an einen ungebärdigen jungen Mann1 1. Petrarca klagt über bedenkliche Gerüchte. Er strafte den jungen Mann bisher mit Schweigen und denkt an härtere Strafen. 2. Doch hofft er auf Besserung. (Herbst 1353)

1. Bisher sind hier üble Meldungen und von Tag zu Tag bedenklichere Gerüchte von Deiner Lebensführung eingetroffen. Ich habe mich darüber wortlos betrübt, und während eine andere Art Busse sich aufdrängte, Dich, der Schwereres verdiente, mit gestrengem Schweigen bestraft. Indessen wird eine noch stillere Strafe nicht ausbleiben. Meine Hände, wiewohl Dir gegenüber allzu gütig (zwar bloss wegen der örtlichen Distanz lassen sie das Rütlein ruhen), habe ich von der üblichen Freigebigkeit endlich weggezogen, und ich werde sie nicht früher dem Üblichen zuwenden, als bis Du vom abschüssigen Seitenpfad Deiner Flegeljahre auf die gerade Strasse der Tüchtigkeit zurückkehrst. Dabei bin ich nicht gewillt, irgend jemandem zu glauben, sondern höchstens einem verbreiteten, anderslautenden Gerücht oder etwa einer eigenen Erfahrung. 2. Übrigens ist es unser Freund,2 der mich drängt, mein Schweigen kurz zu unterbrechen, doch wenn er Dich weniger liebte, würde er bei mir grösseren Glauben verdienen. Sollte aber immerhin wahr sein, was er von Dir berichtet (es ist ja nur natürlich, dass jeder gerne glaubt, was er wünscht), dann sei beharrlich und strenge Dich an, die bisherige Trägheit durch einen um so rascheren Lauf auszugleichen. Ist es jedoch nicht wahr, so bemühe Dich, dass es wahr zu werden beginne. Ich ermahne und beschwöre Dich bei Dir selber, sofern Du ein wenig Sorge für Dich, ein wenig Lust auf Ansehen, ein wenig Furcht vor Beschimpfung hast! Was werde ich je von Dir haben? Ausser etwa ein paar Apfelbutzen3 eine sorgenvolle Hoffnung und vielleicht eine zweifelhafte Freude auf Zukünftiges! Hingegen wirst Du, willst Du mir glauben, nach meinem Verscheiden von Deinen Mühen und der gegenwärtigen Zeit angenehmste Früchte ernten können. (Herbst 1353)4

Anmerkungen 1 Der Adressat ist zweifellos Petrarcas Sohn Giovanni. Er war 1352 als Kanoniker nach Verona gekommen; vgl. Fam. 13,2,6 und 13,3 mit Anmerkungen. Dass er sich dort Herbst/Frühjahr 1353/1354 an einer Verschwörung beteiligt hätte, ist kaum möglich, doch vermochte er in den Wirren der Stadt nicht, sich sein Kanonikat zu erhalten. Vgl. Dotti, Vita 292 mit dem Hinweis auf L. Muttoni, Giovanni di Francesco Petrarca, canonico a Verona, in IMU 1982, 387 f. Über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn orientiert H. Cochin, Un ami de Pétrarque; lettres de Francesco Nelli à

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Pétrarque, Paris 1892,59–66 und in der italienischen Ausgabe dieses Werkes: Un amico di Francesco Petrarca…, Florenz 1901, XLII-XLVI. 2 Petrarca hatte seinen Sohn der Obhut seiner Freunde Rainaldo von Verona und Guglielmo da Pastrengo anvertraut; vgl. Fam. 13,2 und 13,3. 3 Das verwendete Wort flosculus bedeutet nicht allein Blütchen, sondern auch das, was aus einem Blütchen geworden ist. 4 Zum Inhalt des Schreibens und zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 37–38. 61.

Fam. 17,3, an Guido Sette, Archidiakon von Genua1 Über allgemeine Schwierigkeiten und eine unglückliche Unternehmung der Genuesen. 1. Petrarca ist froh, dass der Freund das Unglück Genuas nicht mitansehen muss. 3. Kein Ort auf Erden ist frei von schweren Unruhen. 5. Trotzdem darf man nicht freiwillig aus dem Leben scheiden. 11. Den Freund erwartet Petrarca in Italien. Materielle Rücksichten dürfen ihn nicht in Avignon festhalten. 15. Die genuesische Niederlage wirkt bestürzend. 8. Unerwartete Schicksalsschläge beweisen die Unbeständigkeit der Fortuna. 20. Das lehrt auch die Geschichte. 26. Der Wechsel hat teils angenehme Wirkungen. 31. Grossreiche und Städte können, weil langlebig, dem Wandel nicht entgehen. 34. Den Genuesen hatte Petrarca vergebens Einigkeit empfohlen, 36. Sein Aufruf zu tapferem Durchhalten kam zu spät. 41. Die Glanzzeit Genuas scheint beendet zu sein. 44. Alle Grossreiche haben ein Ende gefunden. 47. Auslegung zu einer Vision Nebukadnez(z)ars. (September 1353)

1. Deinen Ratschlag, ich möge weder billigen noch missbilligen, den gibt die verworrene Lage auch selber. Wer wollte denn billigen, dass Du nach plötzlicher Änderung Deines Vorhabens Deine Zelte am schlechtesten und schmutzigsten Ort der Welt befestigt hast?2 Und umgekehrt: Wer würde missbilligen, dass Du unter waltenden Umständen vor dem ersehnten Anblick der Heimat zurückschrecktest und alles andere lieber wähltest, als dort das öffentliche und allgemeine Elend mitanzusehen? 2. Was war denn besser, wenn Du ohnehin nicht helfen kannst, als Dein Auge von dort abzukehren, um das Unglück Deines Volkes nicht schauen zu müssen? Fliehen hättest Du müssen, weit über den Erdkreis hinaus, um nicht zu erblicken, was Du bekümmert gehört und was zu beenden nicht in Deiner Macht steht, obwohl weder Deine Menschlichkeit noch Deine allbekannte Heimatliebe zulässt, das Geschehene nicht zu bedauern. 3. Was soll ich vorbringen, wenn nicht das selbe, was ich auch sonst zu sagen pflege? Oft habe ich zu einer solchen Lage meine Meinung geäussert und eben in der häufigen Wiederholung mir ganz zu eigen gemacht.3 Nirgends auf Erden gibt es ein ruhiges Verweilen. 4. Hier Krieg, dort Frieden, erbärmlicher als Krieg. Hier verdorbene Luft, dort verheerender als die Pest, verderbte Sitten. Hier nagender Hunger, dort gefährlicher als Hunger, überbordende Fülle. Hier unglückliche Knechtschaft, dort schlimmer als Knechtschaft, ausgelassene Freiheit. Hier dürstendes, wasserloses Land, dort unbändiges Toben der Flüsse. Endlich hier Hitze, dort Kälte, hier wilde Tiere, dort hinterlistige Menschen. Hier weite, erschreckende Öde; dort unerträgliches Menschengewühl. Somit also ist der Ort, den wir suchen, nirgendwo.4 5. Was bleibt uns zu tun? Sollen wir etwa möglichst bald aus diesem Leben ausziehen? Gerade das ist unerlaubt, wie immer man es rechtfertigen will; es ist unerlaubt. Es schweige Annaeus Seneca.5 Besser ist die Meinung Ciceros.6 Er sagt: „Du und alle Rechtdenkenden, Ihr sollt Eure Seele in der Obhut des Leibes bewahren,

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denn Ihr dürft Euch nicht anders als auf Befehl des Seelenspenders aus dem Leben der Menschen entfernen.“ Edel ist dieses Wort und auch die Begründung nicht unedel: „Es soll nicht so aussehen,“ sagt er, „als hätten wir die von Gott uns zugedachte menschliche Aufgabe geflohen.“ Eindrücklich ist das gesagt und sehr klar! 6. Denn wirklich, wenn sogar unter dem Befehl eines zeitlichen Herrn der Soldat die ihm auferlegte Wache durchhält und nicht früher als auf des selben Befehl von seiner Pflicht ablässt, andernfalls jedoch des gnädigen Blicks verlustig geht und die eigene Schande und den Kerker, ja Schläge und Tod befürchten muss, was hat man dann bei der Vernachlässigung eines Befehls des ewigen Königs zu gewärtigen? Daher ist offenkundig, dass man nicht überstürzt handeln soll. In Geduld wird ein Unglück überwunden, und hervorragend ist die Ermahnung des Psalmisten:7 „Wir müssen warten auf den Herrn und uns männlich betragen.“ Sobald er aber ruft, haben wir unerschrocken zu antworten. Bis dahin wollen wir schweigend harren in Geduld, bemüht zu verdienen, dass der Herr uns unter die Schar zu seiner Rechten rufe.8 7. Hilfreich ist auch jener Ratschlag Ciceros,9 „man halte mittlerweile die Gerechtigkeit und jene Treuepflicht hoch, die zwar gross gegenüber Eltern und Verwandten ist, aber am grössten gegenüber dem Vaterland, denn ein solches Leben führt zum Himmel.“ Was bezweckt er mit diesem Wort, wenn nicht eben das, was auch die unsern10 sagen, nämlich dies, wir hätten uns als Pilger zu bewähren, deren Aufgabe es ist, zum Himmel, der unser Vaterland ist, auf den Flügeln guter Werke und mit den Schritten guter Gedanken aufzusteigen. Das geschieht leichter, wenn wir – wie es wiederum Cicero11 ausdrückt – „schon jetzt, da wir im Leibe sind, uns darüber hinaus lehnen und in der Betrachtung des Jenseitigen, uns so weit als möglich, vom Leiblichen wegziehen. 8. Das sind, wie mir scheint, in unsern so gewaltigen Widrigkeiten gesunde Ratschläge heiliger und gelehrter Männer. Hingegen ist Seneca12 mit seinem unbedachten und fremdartigen Lehrsatz13 – was der sonst bedeutende Gelehrte übersehen hat – unter dem Vermeiden eines zeitlichen Jammers einem ewigen verfallen. Jene anderen stimmen alle im Wichtigsten überein: Den Kerker, in dem wir leben, haben wir nicht zu lieben, doch auch die Befreiung daraus nicht vorzeitig zu suchen. Denn vermeiden müssen wir, was vielen geschieht, nämlich auf der Flucht kopfüber stürzend zu verderben. Dagegen sollen wir im Kerker so leben, dass wir, wenn die Zeit gekommen ist, einen glücklichen Ausgang verdienen. 9. Was aber unsere gegenwärtige Lage betrifft, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren, so widerspreche ich der Meinung, es gebe unter den Sternen einen Ort, wo ein edler Mensch höchstens durch geringe Unannehmlichkeiten bedrängt werde.14 Vielmehr ist niemand vom Schicksal so begünstigt, niemand so lebensdurstig, dass er nicht ab und zu, wenn die zügelnde Geduld ihm fehlt, vom Hass auf das Leben oder von der Sehnsucht nach dem Tod ergriffen würde. Ist das Dasein

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auf Erden höchst widerwärtig, so ist auch der Aufstieg zum Himmel unter der Bürde irdischer Bussübungen höchst schwierig. Und wie nach eigenem Gutdünken von hier wegzugehen verboten ist, so ist auch nicht erlaubt, entgegen dem Befehl der höheren Macht einen Augenblick da zu verweilen. Wie immer Du Dich also drehst und wendest, ist alles gefährlich, mühsam, widerwärtig und jammervoll. 10. Und dennoch, welche Blindheit! Obwohl wir im Lebensüberdruss oft zu unserer Hilfe den Tod herbei flehen, verlangen wir nach tiefschürfendem Erwägen einzelner Umstände, sei’s aus Gewissensangst, sei’s wegen lockender Gelüste oder eingepflanzter Todesfurcht, schliesslich doch nichts inständiger, als hier zu verbleiben. Möchten wir doch, bitte, endlich wünschen, anderswo zu sein, und – wär’s auch als Angeklagte, gewiss aber im Vertrauen auf göttliches Erbarmen – hin und wieder danach verlangen, „aufgelöst und bei Christus zu sein.“15 Aber bis dieser Tag einmal kommt (gewünscht oder gewiss wünschenswert), seien wir, so bitte ich, wenigstens mit unserem Herzen im Himmel, mit unserem Leib aber nüchtern, geduldig und demütig auf Erden, um das Unerträgliche unserer Aufenthaltsorte dank der Verträglichkeit unserer Seele mildern zu können. 11. Wirklich, ich habe Dich, Gott bezeugt es, hier in Italien mit grösstem Verlangen erwartet und Deine Verzögerungen hart gescholten, denn das angenehme Wetter des Herbstes traf früher ein als Deine Meldung, Du kämest. Ich war ja nachsichtig und sogar voll Mitleid gegen Dich gewesen, als ich Dich mitten im Sommer krank hinter mir zurückgelassen hatte. Aber selbst wenn Du gesund gewesen wärst, hätte ich Dir nicht zugemutet, ohne Not Deinen Kopf der Gluthitze des Phöbus16 auszusetzen und trotz Deinem etwas zarten Körper gemeinsam mit mir unter dem Wüten des Krebses und des Löwen Staub und Schweiss zu ertragen.17 Ich freilich bin für irgendeinen mir fatalen, wenn zwar waffenlosen Kriegsdienst unter diesen beiden geboren worden.18 12. Doch als die Sonne schon zur Jungfrau hinüber gegangen war und nach der Waage ausschaute, wunderte ich mich über Deine Saumseligkeit, und als ich die lustvolle Landschaft Italiens und die Milde des Wetters bedachte, wiederholte ich mir oftmals: Ja was tut er nur? Wenn er nicht gar sein Versprechen bedauernd und unsere Freundschaft vergessend seinen Fuss mit Babylons Kot beschmutzt, indem er – ein grossartiger Anhänger der Freiheit und Lobredner der Bescheidenheit! – freiwillig von einer Türe der Stolzen zur andern geht! Wenn ihn der Ehrgeiz treibt, so gibt es nichts Eitleres, und treibt ihn die Habgier, so gibt es nichts Schmutzigeres. 13. Und wie sähe dann das Ende aus?19 Wird mit einem Berg von Schätzen eine Begierde erstickt? Sie entbrennt unter dem Aufhäufen nur stärker. Entferne den Reichtum, so ist der Habgier der Boden entzogen. Der Arme wünscht sich einzig das Lebensnotwendige, und das ist wenig. Hat dagegen der Reiche Haufen von Geld gesehen und damit auch schon gelernt, Unermessliches und Unnützes anzustaunen, stellt er in unmässigen Träumen gleich Berge von Gold neben Flüsse von

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Silber. 14. Meinen wir also, unsere Begierde mildern oder gar befriedigen zu können, indem wir uns grosse Reichtümer zulegen, erzielen wir das genaue Gegenteil: Sie wächst mit den Erfolgen und kriecht heimlich voran. Und nicht die Begierde allein tut so, vielmehr wächst hinter ihr her die gemiedene Dürftigkeit nach. An Beschwerden gibt es kein Ende, ausser man beginnt zu begreifen, dass man alle diese Netze einzig in der Verachtung der Reichtümer zerreisst, doch gewiss nicht mit Hilfe neuer Bereicherung. 15. Während ich solches im Zorn auf Dich und auf mein Schicksal in Gedanken herumwälzte, da schau, erschütterte plötzlich mein Ohr – schrecklicher als ein finsterer Donnerschlag – die Nachricht von der unglücklichen Schlacht der Genuesen.20 Ich war betäubt vor Entsetzen und sagte in Gedanken zu Dir: „Ach Freund, begünstigt wirst Du selbst im Unglück. Entweder hast Du das vorausgeahnt, und dann ist die Schärfe Deiner Voraussicht gross, oder es hat nichts Dergleichen Dich gewarnt, nichts das Fernbleiben angeraten, und dann ist Dir wenigstens Dein Los darin gnädig gewesen, dass es, solange es zuschlug, Dich vom Schauplatz fernhielt.21 Welche der beiden Vermutungen auch richtiger sei: Saumseligkeit war jedenfalls besser für Dich als Raschheit; denn wenigstens musst Du das Unglück Deiner Vaterstadt nun nicht anschauen.“ 16. Was soll ich sagen? Mit welchen Worten kann ich dem gewaltigen Ereignis gerecht werden? Was ich befürchtete, ist geschehen! Nein, wollte ich das behaupten, würde ich lügen. Vielmehr ist geschehen, was ich kaum für möglich hielt:22 Das Meer hat die Flucht einer genuesischen Flotte erlebt und ist erstarrt. Was aber, wenn die Seltenheit23 ein Ereignis zum Wunder macht und auf hoher See nichts seltener ist als eine Niederlage von Genuesen in tüchtiger Schlachtordnung? Doch da war weder eine tüchtige Schlachtordnung, noch eine ebenbürtige Flotte, sondern ein übermässiger Haufe auswärtiger Hilfstruppen und eine Vielzahl verschiedener Völker gegen das eine Volk, das gegen ein viel zu grosses Heer und gegen Winde und Feinde und wahrlich nicht unter einem vergleichbaren Kriegsglück kämpfte! 17. Und dennoch höre ich nicht auf, mich zu wundern, und ich werde auch nie davon lassen, solange mir erinnerlich ist, dass seit der Vorzeit unserer Ahnen nie zu hören war, die Genuesen, obwohl vielleicht zahlenmässig unterlegen, hätten in ihrer Tüchtigkeit und mit den weithin sichtbaren Flaggen ihrer Vaterstadt irgendeine Seeschlacht verloren. „Doch was rede ich und wo bin ich?“ wie einer24 gefragt hat. Da haben wir ja die allbekannte Treue Fortunas! Und wir leben auf Erden, wo es niemals ein Wohlergehen auf längere Dauer gab noch geben wird. Träume sind es, die uns erheitern und betrüben. Doch Gott weckt die Träumer auf. „Seine Gerichte25 sind gleich zahllosen Abgründen,“ und die „unendliche Kluft seiner Ratschlüsse ist von unauslotbarer Tiefe.“26 18. Wahrscheinlich forderte solches der Übermut! Denn was ein fortwährendes Gedeihen genährt hat, das wird jetzt durch das unerwartete Unglück gebändigt.

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Den Fehler einer langen Zeit straft oft eine kurze Stunde, wie ja den Glücklichen oft nichts anderes so nützlich ist wie ein Missgeschick, welches sie daran erinnert, dass sie zwar von Fortuna begünstigt, aber von Fortunas Herrschaft nicht etwa losgekauft sind. 19. Vom Afrikaner27 stammt das Wort, das Panaitios überliefert und Cicero28 den Büchern von den Pflichten eingefügt hat: „Wie man Pferde, wenn sie nach wiederholtem Wettstreit von Kampflust überschäumend sich aufbäumen, den Bändigern übergibt, damit man sie gefügiger zurückerhalte, so muss man die Menschen, die in glücklicher Lage sich zügellos gebärden und gänzlich auf sich selber vertrauen, gleichsam im Kreis von Vernunft und Erkenntnis herumführen, damit sie die Hinfälligkeit menschlicher Verhältnisse und die Launenhaftigkeit Fortunas genau zu durchschauen lernen.“ 20. Und was anderes heisst das, als was der Psalmist29 zwar mit anderen und kürzeren Worten festhält: „Damit die Völker wissen, dass sie Menschen sind“? Viele verleitet ein allzu grosses Glück, ihre menschliche Beschränktheit zu vergessen, und wo das geschieht, da ist eine Geissel nicht allein nützlich, sondern auch notwendig, damit sie aufgeschreckt werden und spüren, dass sie Menschen sind und nicht Götter. 21. Ein Alexander von Makedonien hatte sich vor lauter Irrtümern und vor allem in der falschen Annahme eigener Göttlichkeit dermassen aufgebläht, dass er seinen Schmeichlern glaubte, er sei gar Jupiters Sohn. Dass er jedoch ein Mensch sei und nicht Gott, das lehrte ihn die in Indien empfangene Wunde. Darum ist sein von Seneca30 überliefertes Geständnis das eines Ehrlichen: „Alle schwören, ich sei Jupiters Sohn; doch diese meine Wunde schreit, dass ich ein Mensch bin.“ Weise ist das von einem Menschen gesprochen, der nicht so sehr der Vernunft als der Fortuna zu glauben gewohnt war! 22. Wenn nun aber siegreiche Schlachten bewirkten, dass Mars zum Kriegsgott gemacht wurde, und wenn Erfolge in irgendwelchen anderen Künsten ihren Erfindern den passenden Namen einer Göttlichkeit eintrugen, wie hätte da nach einem so gewaltigen Erfolg zur See, nämlich nach einer langen Reihe vieler und grosser Siege, nicht der Glaube aufkommen sollen, die Genuesen seien Götter der Meere? Der Misserfolg hat nun gelehrt, auch sie seien irdische Menschen. Das Gelingen nahm ein Ende, aber nicht das allein; vielmehr schwand mit ihm auch die Gefährtin, die Täuschung. So viel dem einen der Gegensätze entzogen wird, so viel fügt sich zum andern. Deshalb gilt: Je geringer das Glück, um so grösser die Einsicht. 23. Diese eben hätte man zur Beratung beiziehen müssen; doch das ihr feindlich gesinnte Wohlgedeihen liess es nicht zu. Immerhin wird sie unseren Schrecken und Schmerz überwinden. Sie wird uns den Charakter Fortunas und ihre Beständigkeit vorstellen. Wie oft siegte Hektor, wie oft Hannibal, wie oft Pompeius! Und jeder wurde am Ende besiegt! Vielleicht ist das der Grund, weshalb – so lesen wir31 – Iulius Caesar, nachdem er stets mit brennender Begierde zum Kampf gedrängt hatte, in seinen letzten Jahren vorsichtiger wurde. 24. Dieser Feldherr wusste (denn

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dank seiner Veranlagung war er ungemein scharfsinnig, dank Kunst und langer Erfahrung ganz ungemein klug), wo sein gewisses Glück seine Wurzeln habe. Und was wir von ihm lesen, das wusste er infolge von Selbsterlebtem:32 „Nicht war da sicher der Grat, nein rutschig, von wo er auf alles Niederschaute. Er stand ja auf Schutt, und der stützte ihn nimmer.“ Deshalb hat er das Feuer seines grossen Geistes mit massvollem Planen und im Gedanken an viele Gefahren gemildert. 25. Wir jedoch sündigen hier auf vielfache Weise. Denn selbst das, was beglückend zu sein scheint, ist es nicht, und was wir für dauerhaft halten möchten, hat keine Dauer, und was einmal verloren ging, kehrt nicht wieder. Nichts bleibt auf längere Zeit sich gleich; nichts ist am Ende wie am Anfang. Alles gleitet vorbei; die Zeit fliesst dahin; das Jahr geht um, der Tag eilt voran; es fliegen die Stunden; die Sonne dreht sich auf schräger Bahn; der Mond ist täglich ein anderer und immer sich selber ungleich und sieht niemals mit ein und demselben Auge seine Schwester.33 26. Eben daher haben unsere Zeiten eine für uns höchst angenehme Abwechslung und eine höchst wechselvolle Annehmlichkeit.34 Wo es eben geschneit hat, blüht schon bald die Rose; und ein Strunk, der eben noch nackt und fast vertrocknet war, bekleidet sich gleich mit grünem Laub. Eine dünne Schicht Boden, kürzlich in der Sommerhitze zu Staub zerbröselt, wird unter häufigen Regengüssen massig und fett. 27. Alles ändert seine Art, so Länder, Meere, selbst der Himmel und der Mensch, der ständig beschäftigte, edelste Bewohner der Erde. Seine Schicksale schwanken ohne Unterlass, seine Vernunft unterliegt den Stimmungen und sein Leib dem Einfluss der Umgebung; sein Geist mindert sich täglich; sein Gedächtnis wird schwach, und sein Scharfsinn wird stumpf. Seine Gesundheit wird zerrüttet, seine Leibeskraft erschüttert, seine Bewegung beschwerlich, seine Gestalt zehrt sich auf, und seine Farbe wird fahl; der Tod drängt herbei, und das Leben entflieht. Obwohl überhaupt in allem ein schwindelerregendes Kreisen herrscht, ist doch der Wechsel Fortunas der rascheste, was wohl am genauesten jene erkannten, die für sie als Attribut ein haltloses Rad bestimmten.35 28. Und wir wundern uns noch immer, dass sie ihren Sitten treu bleibt? Siegen können die Besiegten, die als Sieger besiegt werden konnten. Und siegen und besiegt werden, das eben ist Kriegshandwerk. Wer sich für eine lange Reise rüstet, muss wissen, dass er irgendwo gleiten wird; geschieht ihm das nicht, soll er begreifen, er sei dem Reisegeschick entkommen, das ihn auf der Weiterreise getroffen hätte. 29. Wer von unablässig Siegenden liest, der merke sich, dass sie widrige Umstände entweder dank einem rechtzeitigen Abschied vom Kriegshandwerk (was wahrscheinlich für meinen Africanus gilt) oder dank einem vorzeitigen Tod vermieden. Ein solcher Tod hat vielen eine ausserordentliche Verherrlichung gegönnt, vor allem dem oben genannten Alexander, nämlich von seiten der Ungebildeten und

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Denkfaulen. 30. Über ihn sagt Livius:36 „Ich leugne nicht, dass Alexander ein hervorragender Feldherr war, aber besonders berühmt machte ihn der einmalige Umstand, dass er schon als junger Mann unter den sich mehrenden Erfolgen starb, bevor er ein widriges Schicksal erlebte. Viele andere berühmte Könige und Feldherrn, denkwürdige Exempel menschlicher Schicksale, übergehe ich und erwähne bloss Kyros,37 den vor allem die Griechen mit Lob überhäufen. Nichts anderes als seine lange Lebensdauer überliess ihn – wie soeben einen Pompeius den Grossen – der umwerfenden Fortuna.“ Soweit Livius. 31. Überhaupt sollten gegen eine veränderliche, unbeständige Fortuna alle, die den Ruf eines unerschütterlichen Glücks begehren, als wirksamen Behelf ein kurzes Leben erbitten. Denn einzelnen Königen und Feldherrn kann das etwa geschenkt werden, freilich nicht Königreichen und Städten, die – ich sage nicht wie Cicero38„unsterblich“, sondern – lang dauernd sind. Bei der sehr langen Dauer, wie sie der Republik verliehen war, lässt sich kaum denken, das zwar ungemein siegreiche Volk hätte die Notwendigkeit, beide Gesichter Fortunas zu sehen, vermeiden können und sich keiner Niederlage zu schämen brauchen. 32. Roma, Siegerin über alle Völker, wie oft ist sie besiegt worden! Zeugen sind die Tage unglücklicher Schlachten, die in den Annalen verflucht, schwarz, unselig, unnennbar und verhängnisvoll heissen. Zeugen sind auch die Orte traurigen Angedenkens: Allia, Cremera, Ticino, Trebbia, Trasimeno, Cannae und Thessalia,39 wo Rom sich mit seinen eigenen Händen besiegte. Wäre uns eben das schon vor dem neuen Ereignis eingefallen, hätten wir gewusst, dass auch Genua besiegt werden könne. Doch so ist es: Ein bitterer Gedanke kränkt das Behagen des Gemüts; kaum einer denkt gerne an das, was den Denkenden foltert; leicht hängt sich das Herz ans Angenehme. 33. Was mich angeht, so hätte ich nicht gedacht, diesen Tag zu erleben. Nicht dass meiner Kenntnis das flüchtige Rad Fortunas entgangen wäre; ich meinte jedoch, mit besonderer Anstrengung aller Kräfte lasse es sich anhalten, und überdies versprach ich mir von einer Vereinigung der fremden Nationen rings um das Mittelmeer eine dauerhafte Verbesserung der Lage. Ja wahrhaftig, das habe ich gehofft; das habe ich gesagt, das schliesslich in Schriften eingefügt.40 Willst Du vielleicht etwas von der Verwegenheit des Schreibers hören? Und noch reut mich nicht, darüber geschrieben zu haben, obwohl der Sachverhalt beweist, dass ich Falsches behauptet und Falsches erhofft habe. 34. Was also? Ist eine Lüge etwa nicht beschämend? Schämen würde ich mich gewiss, meinte ich gelogen zu haben. Nun aber versprach ich mir wirklich immerfort Siege und dauerndes Glück, sofern nur unter den Bürgern Einigkeit und unverbrüchliche Eintracht nicht fehlten. Die aber fehlten in der Tat. 35. Einige behaupten, im Hass auf den Befehlshaber41 hätten die Soldaten willkürlich sich für besiegt erklärt. Und ist das wahr, so ist es nicht neu; Ähnliches kennen wir aus Geschichtsbüchern. Andere sagen, im Hass auf die Soldaten habe der Befehlshaber

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sich ohne Not ergeben. Und wenn wir das glauben, fehlt uns ein Exempel für solchen Frevel. Etwas jedoch gibt es, was mich bis ins Innerste in Trauer erstarren lässt: Ich sehe wahrhaftig, dass schon beim ersten Schlag Fortunas die Gemüter verwirrt und gebrochen sind, wo ich doch meinte, sogar ein allumfassendes Verderben, das den ganzen Himmel zum Einsturz brächte, könnte nur Unerschütterte begraben.42 36. Als aber aus einer benachbarten Gegend ein Unglücksbote keuchend hier eintraf, war es Nacht, und mir war, als geselle sich zur Schwärze der Nacht die Finsternis. Am ganzen Leib und an der ganzen Seele erschauerte ich. Wie ich mich gefasst hatte, griff ich bedrückt nach der Feder. Stoff zum Schreiben war da genug; vieles diktierte der Schmerz, vieles die Empörung; viel Trostreiches trug die Beredsamkeit zusammen, und meine Herzenseinfalt schenkte mir die Zuversicht, es könnte mir, der ich von Anfang an stets vor einem Krieg unter Italern gewarnt und später zu einem zuversichtlichen Angriff auf auswärtige Feinde applaudiert hatte,43 jetzt noch erlaubt sein, mit Ermutigung die wankenden Herzen zu stärken. Doch wie ich sehe, liegen sie hingestreckt und besiegt, obwohl es, solange sie unbesiegt aufrecht standen, unnötig war, wegen irgend eines Ungemachs der Fortuna zu verzweifeln. 37. Ich plante und hatte schon begonnen, neben Vernunftgründen und Ermahnungen auch Beispiele für mannhafte Taten aller Völker und in erster Linie solche der Römer zusammenzutragen. Diesen gebührt ja in Hinsicht jeder Tüchtigkeit und namentlich in der des Kriegswesens der erste Platz. Sie kehrten doch nach unabsehbar vielen blutigen Niederlagen und nach jener bei Cannae empfangenen „beinah tödlichen Verwundung des Imperiums“ – wie die Historiker sagen44 – mit unverminderten Kräften, ja mit einem durch Unglück beinah verdoppelten Mut, immer von neuem in die Schlacht zurück, so dass sie ihre Sieger um so glorreicher übertrafen, je weiter sie vom erhofften Sieg entfernt zu sein schienen. 38. Ich fügte die Lakedaimonier an, ein unbändiges und in seinem hohen Mut den Römern nah verwandtes Volk, das bei den Thermopylen45 vom gewaltigen Heer der Perser vernichtet wurde, nicht lange danach mit einer rächenden Flotte nach Asien fuhr und oftmals aus einer wahrhaft verzweifelten Lage siegreich hervorging. Ich nannte dann die Athener, die den Kampf mit den Lakedaimoniern aufgenommen hatten und die trotz ihren schlimmsten Missgeschicken – als ihre Feldherren tot, ihr Heer vernichtet und fast ihre ganze Flotte bei Syrakus im Meer versunken war46 – nur weil ein einziger Feldherr noch lebte, ihren Mut bewahrten und kurz hernach zu Wasser und zu Land sich grossartig rächten. 39. Und ich schwieg nicht von den Puniern, die zwar treulos und unzuverlässig, aber ausdauernd, oft ihre Waffen von neuem erprobten, oft nach schweren Niederlagen sich erhoben und es schliesslich vorzogen, zu sterben statt zu dienen.47 Und um hinter den völkischen Beispielen noch private nachzuschicken und damit Scham zu wecken, weil das, was einst ein einzelner Mann gewagt hat, ein

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gesamtes Volk nun nicht ebenso wagte, rückte ich Marcus Claudius Marcellus ins Licht. Am ersten Tag stritt er gegen seinen ungemein kämpferischen Feind bis zum unentschiedenen Ausgang, wurde am folgenden Tag geschlagen, kehrte jedoch am dritten Tag ins Heer zurück und besiegte seinen Sieger Hannibal.48 40. Als Zeugen rief ich dann Caesar auf. Sein Heer wurde in seiner Abwesenheit in Dyrrhachium geschlagen;49 es löste sich auf, und der tüchtigste Hauptmann war verloren; doch war Caesar gleich darauf in einer gewaltigen Schlacht in Thessalien siegreich. Und damit männliches Versagen durch die Betonung einer weiblichen Tüchtigkeit noch beschämter dastehe, beschwor ich die Erinnerung an die glorreiche Tat der skytischen Königin Tomyris herauf.50 Als der gefürchtete persische König Kyros ihr erhebliche Wunden beigebracht, ihr Heer in einem Hinterhalt geschlagen und ihren einzigen Sohn umgebracht hatte, verfiel sie nicht einer weibischen Bestürzung und Verzweiflung, sondern griff den königlichen Sieger mit der selben Kunst an, metzelte ihn samt zweihunderttausend persischen Soldaten nieder und übte so, da Fortuna ihrer Mannhaftigkeit Hilfe bot, eine ewig denkwürdige Rache. 41. Nachdem ich solches und Ähnliches beim ersten Gerücht in hitzigem Ungestüm zu schreiben begonnen hatte, erreichte mein Ohr früh morgens die Nachricht, für hochtönende Worte bestehe kein Anlass, der Mut sei den Besiegten gesunken, und sie heckten Pläne aus, die bescheidener geworden seien – oder muss ich gar sagen: vorsichtiger? Noch weiss ich darüber nicht Bescheid. Warten wir das Ende ab, dann urteilen wir leichter. Vorerst aber, wirklich, erbebte ich, warf meine Feder weit von mir und sagte zu mir selber: 42. ‚Was tue ich? Habe ich denn vergessen, dass Worte keine Taten erzeugen?‘51 Um den Ruhm der Stadt ist es geschehen; das muss man dulden. Welches Volk hat ewige Tugend, da selbst die römische sterblich war? Auch die Städte und der Erdkreis haben ihr hohes Alter, ihren Niedergang, ihren Tod. Dem Ende läuft alles entgegen. Hochgemut haben wir das Los, das allem Geschaffenen gemeinsam ist, auf uns zu nehmen. „Alles Entstandene vergeht, alles Gewachsene altert.“ Hätte Sallust52 das nicht gesagt, so wüssten wir es dennoch; aber mit Selbstbetrug täuschen wir uns. Ist das Unglück einmal eingetroffen, tun wir, als verstünden wir nichts und lamentieren erschüttert. 43. Ich jedoch beklage nicht das Geschehnis, vielmehr schmerzt mich, dass es in unsere Epoche fiel, obwohl auch dies nicht ein wirklich tapferer und mannhafter Schmerz ist. Was tut es zur Sache, weshalb man weiss, dass alles verdirbt, sofern man’ s nur weiss? Gewisse Seher haben das Ende des römischen Imperiums geweissagt; wir aber betrachten nicht sein Ende, sondern den Zustand, der schlimmer ist als das Ende. Sie also haben vorausgesehen, was vergehen werde, während wir jetzt sehen, was vergangen ist.53 Hätten wir nun dieses Schicksal der Genuesen niemals erlebt, wäre uns dennoch solches zu verkennen unmöglich gewesen, da wir aus Vergangenem Rückschlüsse auf Künftiges ziehen und der Wandelbarkeit menschlicher Verhältnisse und ihrer Unbeständigkeit uns

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bewusst sind. 44. Das stolze Babylon ist gefallen,54 und vom allbekannten Turm, der gegen den Himmel protzte,55 ist auf Erden kaum ein verlorener Rest zu finden. Die Zepter der Assyrer, welche tausenddreihundert Jahre oder fast so lange glanzvoll herrschten, gingen nach dem Sturz des verweichlichten Königs56 durch den Präfekten Arbakes57 an die Meder und an die Perser über; und nicht lange darnach wurden sie ihnen mit makedonischer Waffengewalt entrissen und den pelläischen Palästen58 zugeführt, entfernten sich aber von dort noch rascher. 45. Obwohl nämlich zwischen den ersten Anfängen des makedonischen Reiches und seinem letzten König eine lange Zeit verstrich, sind nach jenem Alexander, den die Begehrlichkeit aus seiner Monarchie fortriss,59 und den die Griechen als den Grossen bezeichnen, bis zu Aemilius Paullus,60 sofern meine Berechnung stimmt, nur etwa hundert Jahre, wenige mehr oder weniger, vergangen, während die Reiche der Meder und der Perser die doppelte Länge erreicht hatten. Der Sieger aber, der dem Reich ein Ende setzte und alle Könige als Gefangene vor den Triumphwagen spannte, leitete vom überwältigten und in eine Provinz verwandelten Makedonien seinen Zunamen ab. 46. Damit aber auf den Osten und Norden der Süden nicht neidisch sei, hat auch dieser bestimmte Erdteil sein Fatum empfangen. Er ist unter vielen Anstrengungen seine Stufen hinaufgestiegen und dann abgestürzt. Frage nach Karthago! Du findest nichts als Ruinen. „Wo sind“, so fragt Valerius,61 „die hohen Mauern des stolzen Karthago? Wo ist die glorreiche Seeherrschaft der herrlichen Hafenstadt? Wo ist die für alle Gestade furchterregende Flottenmacht? Wo ist die Masse des Fussvolks und wo die gewaltige Reiterei? Wo sind die feurigen Geister, nie zufrieden mit Afrikas unermesslicher Weite? Alles das hat Fortuna den beiden Scipionen62 zugeteilt.“ 47. Doch ich frage Dich, Valerius: Wo sind denn just auch diese von Dir genannten Bändiger Karthagos? Du wirst sagen: Sie waren Menschen, und der Tod hat von seinem Recht Gebrauch gemacht. Doch ich frage weiter: Wo ist das römische Imperium, das letzte von allen und das stärkste, das in der Vision jenes assyrischen Königs mit dem Eisen bezeichnet wird, weil ihm jedes andere Metall unterliegt? Gewiss, nachdem die Reiche aus Gold und Silber und Erz von scharfer Schneide zersplittert untergingen, wird dieses ihnen folgende Reich, ohne mit Ton vermischt zu sein (was der letzte Teil der Vision verkündet), nicht von einem anderen zerschlagen, sondern gemäss der Eigenheit des Eisens durch den Rost seines hohen Alters aufgezehrt.63 48. Nun aber will ich mit dem letzten und wichtigsten Ergebnis schliessen: Es zeigt sich in den vielen Exempeln ein grosser Trost. Ich schneide Dir nicht Deine Hoffnung ab, ich vermische sie bloss mit Vorsicht. Die Lockungen und Drohungen Fortunas musst Du überhören. Und Du musst Dich nicht allein mit dem Geschehenen, das schon nicht mehr ungeschehen werden kann, abfinden, sondern Dich auch für all das, was einmal geschehen mag, gürten, nämlich so, als geschähe es eben jetzt.

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Mit einem harten und unversöhnlichen Feind führen wir Krieg. Frieden können wir nicht erhoffen, aber Sieg, wenn wir nicht erlahmen! Wenn wir falschen Meinungen keinen Raum gewähren! Töricht ist es, wenn der Mensch hier auf Erden sich Ewiges verspricht, da wir ja sehen, dass selbst Königreiche sterblich sind. Lebe wohl! (September 1353)64

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an den selben Adressaten und das Personenreg; wo ein Datum korrigiert werden muss; der Archidiakon Sette wurde am 2. Juni 1358 (nicht 1348) Erzbischof von Genua. Vgl. zudem den folgenden Brief Fam. 17,4, dann auch die späteren Briefe gemäss Personenreg. Angaben zu seiner Person findet man auch bei Dotti, Vita, gemäss Register und bei Wilkins, Eight years zu den einzelnen Briefen an ihn. 2 Fixisse tentoria heisst es im Lateinischen: Guido Sette aus Luni lebte als Rechtsgelehrter an der Kurie in Avignon, doch hätte er nach seiner Wahl zum Archidiakon von Genua in diese Stadt übersiedeln sollen, und er hat das vorübergehend auch geplant. 3 Petrarca spricht von der Aneignung fremder Meinungen durch Gebrauch immer wieder, so Fam. 1,8,3 und 17,1,44. 4 Vgl. Fam. 15,7. 5 Seneca hat mehrfach den Selbstmord verteidigt; vgl. Ad Lucil. 13,14; 82,12; 117,22; und mehrmals hat Petrarca dessen Meinung zurückgewiesen; vgl. Fam. 3,10,12 und 4,11,1 ff. 6 Somn. Scip. 3,7, in Cic. De rep. 6,15,15. 7 Ps. 26,14; 30,25. 8 Beim letzten Gericht werden die Schafe, das heisst die guten Menschen, auf die rechte Seite gestellt, die Böcke auf die linke; vgl. Mt.25,33 f. 9 Somn. Scip. 3,7 in De rep. 6,15,15. 10 Das sind die christlichen Lehrer. Petrarca scheint nicht an einen bestimmten gedacht zu haben; die Texte des Neuen Testaments bieten viele Hinweise auf die Pflicht, im Glauben und in guten Werken das Himmelreich zu suchen; vgl. z. B. den Jacobusbrief 1,3–4; 2,14; 2,17; auch Col. 1,10; 1Petr. 1,17; 29,8 f.; 1Jo. 3,18. 11 Somn. Scip.9, 21 in De rep. 6,26,29. 12 Vgl. oben Anm. 5. 13 Fremdländischer, ausländischer Irrtum meint Petrarca, indem er an griechische Philosophen, besonders an Stoiker denkt, die unter besonderen Umständen den Selbstmord guthiessen. 14 Vgl. Fam. 15,4,10 ff. und 15,7,16 ff. über die Übelstände in der Welt und die Wahl eines Wohnortes. 15 Paulus, Ad Phil. 1,23. 16 Phoibos: die Sonne, der Sonnengott. 17 Wilkins, Life 127 datiert Petrarcas Abreise auf Ende Mai oder Anfang Juni 1353. Vgl. dazu Eight years 7 über andere Daten und über die Reisedauer. 18 Geboren am 20. Juli unter dem Sternzeichen des Krebses. Seine militia besteht in seiner Schriftstellerei. 19 Vgl. ähnliche Gedankengänge Fam. 16,3,3 ff. 20 Die Genuesen, die sich den Sieg in der Schlacht auf dem Bosporus vom 13./14. Februar 1352 zuschrieben (vgl. Fam. 14,5), erlitten am 27./28. August 1353 im Kampf gegen Venedig und Aragon eine grauenhafte Niederlage in der Nähe von Alghero (Loiera; Nordwestküste Sardiniens); vgl.

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unten Anm. 40; auch Wilkins, Eight years 30 und passim, Dotti, Vita 268 f. und Petrarcas Briefe an die Genuesen Fam. 14,5 und 14,6. Petrarca hatte zum Kampf gegen Pedro von Aragon ermuntert; er hatte jedoch nicht erwartet, dass sich die Venezianer diesem Feind der Genuesen anschliessen würden, also wieder ein Kampf zwischen Italienern stattfinden müsse. Hier der von Petrarca oft geäusserte Gedanke, dass vom Unglück zu hören weit weniger schmerzhaft sei, als es mitanzusehen. Vgl. z. B. Fam. 4,12,38. Vgl. Fam. 14,5 und 14,6. Vom Wert der Rarität spricht auch Fam. 16,11,1 f. Verg. Aen. 4,595. Ps. 35,7. Eccl. 7,25. Scipio Africanus der Jüngere, der Freund des Philosophen Panaitios ist gemeint. De off. 1,26,90. Ps. 9,21. Ad Lucil. 59,12. Suet. Caes. 60. Luc. Phars. 5,249–251. Lateinisch: sol… circumflectitur, luna…nunquam uno oculo fratrem videt. Der Bruder der Luna ist die Sonne. Ähnlich Fam. 1,7.15. Vom Rad der Fortuna spricht in der lateinischen Antike z. B. Cicero, In L. Pisonem 22. Im Mittelalter wurde es sehr häufig auch bildlich dargestellt, so z. B. eindrücklich in den Carmina Burana. Petrarca nennt es hier nicht zum erstenmal; vgl. bei Rossi, Indice delle materie unter Fortuna. Liv. 9,17,5–6. Gemeint ist Kyros II., der Gründer des persischen Grossreiches; er fiel nach zwanzig Jahren grosser Erfolge im Kampf 529 v. Chr. Pompeius, gest. 48 v. Chr., erreichte das Alter von 58 Jahren, während Caesar mit 56 Jahren starb. Pro Sestio 22,50. Das sind der Fluss Allia: Schlacht gegen Gallier 387 (oder 390?); Flüsschen Cremera: Niederlage der Fabier gegen das Volk von Veji 477; es folgen Schlachten des 2. Punischen Krieges: am Ticino 218; an der Trebbia 218; am Trasimenischer See 217; bei Cannae 216; dann ein Hinweis auf Pharsalos 48, wo Caesar gegen Pompeius d. Gr. kämpfte. Vgl. die Briefe an den Dogen von Venedig Fam. 11,8,31 ff.; und die beiden Briefe an die Genuesen Fam. 14,5 und 14,6. Im Lateinischen: odio ducis. Das lateinische dux hier mit Doge zu übersetzen, ist wohl richtig, doch waren in Genua die politischen Verhältnisse überaus verworren und einen Dogen mit weitgehenden unbestrittenen Befugnissen auf Lebenszeit liess sich da kaum denken. Petrarcas Worte zur Frage nach der Schuld am Verhängnis werden aber allgemein auf Antonio Grimaldi bezogen. Vgl. Hor. Carm. 3,3,7–8, von Petrarca zitiert in Fam. 1,1,46 und 11,7,10. Vgl. ein Schreiben an den Dogen von Venedig Fam. 11,8,28 ff. und die beiden Briefe an Genua Fam. 14,5,11 ff. und 14,6. Flor. Epit. 2,6,15. Kampf gegen Xerxes 480 im genannten Engpass unter Leonidas. Expedition der Athener gegen Syrakus auf Anraten des Alkibiades 415 und Niederlage im Hafen von Syrakus 413. Karthago wurde 201 zu Tributzahlungen an Rom verpflichtet, im 3. Punischen Krieg 146 zerstört. Dies ist der bekannteste der Meteller, berühmt für seinen Zweikampf mit Viridomarus, nach Cannae 216 führend beteiligt an den Kriegen gegen Hannibal. Im Kampf gegen Pompeius 49. Die nächste, für Caesar erfolgreiche Schlacht war die von Pharsalos 48.

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50 Petrarca schreibt Thamiris. Gemeint ist eine Königin der Massageten. Ihr Kampf 529 gegen Kyros wird in verschiedenen Varianten erzählt. 51 Sall. Cat. 58,1. 52 Iug. 2,3. 53 Petrarca wendet seinen Blick vom Zustand des römischen Reiches weg und befasst sich wieder mit dem Schicksal Genuas. 54 Hinweis auf die Apokalypse des Johannes 14,8; 18,2; so nach Is. 21,9. 55 Der babylonische Turm aus Gen. 11,4. 56 Die Hauptstadt Ninive fiel 612 v. Chr. Petrarca denkt an den legendären, völlig verkommenen König Sardanapal. 57 Petrarca schreibt Arbatus und kann nur Arbakes meinen. Dieser war gemäss Sage Feldherr der Meder und Zerstörer Ninives. 58 Pelläisch steht für makedonisch. 59 Die Begehrlichkeit führte ihn von Makedonien weg, als er ein Weltreich zu errichten trachtete. 60 Das lateinische Satzgefüge wurde stark geändert. Der genannte Aemilius siegte über den König Perseus im 3. Makedonischen Krieg bei Pydna 168 v. Chr. Er erhielt bei den Römern den Beinamen Macedonicus. 61 Val. Max. 5,6, ext. 4. 62 Das sind der ältere und der jüngere Africanus, Helden in den Punischen Kriegen. Vgl. Anm. 47. 63 Vgl. im Buch des Propheten Daniel 2,34 ff. den Traum des Königs Nebukadnez(z)ar in der Deutung Daniels (auch Balthasar genannt) vom Koloss mit den tönernen Füssen, besonders Vers 40: „Ein viertes Reich wird stark sein wie Eisen. Das Eisen vermag alles zu zertrümmern und zu zerschlagen. Wie das Eisen alles zermalmt, so wird jenes Reich alle andern zermalmen und zertrümmern.“ – In Anlehnung an Vers 43 f. unterscheidet Petrarca zwischen den Wendungen „Eisen mit Ton verbunden“ und „Eisen mit Ton nicht vermischt.“ Übrigens spricht er wie Daniel von der Abfolge von Reichen; doch denkt er offensichtlich, dass mit dem Ende des letzten Reiches alles am Ende sei. Paulus Orosius war es, der als erster deutlich mit den Weltreichen je ein Weltalter verbunden und die Meinung vertreten hatte, mit dem römischen Reich als dem letzten, gehe die Weltzeit zu ende. 64 Zur Datierung vgl. oben Anm. 17 und Wilkins, Petr. corresp. 76.

Fam. 17,4, an Guido Sette1 Zur genuesischen Niederlage. 1. In Mailand ist eine genuesische Gesandtschaft eingetroffen. Petrarca wird mit Hofleuten in den Ratsaal des Stadtherrn gerufen. 3. Er findet eine Gelegenheit, sich mit dem Haupt der Gesandtschaft zu unterhalten. 5. Er gibt dessen Ansichten wieder. 6. Die Bitte einiger Räte, der Gesandtschaft zu antworten, lehnt er ab. 7. Die Versprechungen des Erzbischofs wirken ermutigend. 10. Petrarca hofft auf Verbesserung der genuesischen Lage durch Einherrschaft. 12. Er schliesst mit Zitaten Augustins. (Oktober 1353)

1. Warten ist eine Folter; Dich möglichst rasch davon zu befreien, habe ich mir vorgenommen. Auf die erste Nachricht von der Niederlage ist nach nur wenigen Tagen eine hoch offizielle Delegation hier eingetroffen, und sie kam in einer gewissen nüchternen, und ich möchte meinen: in gleichsam verehrungswürdiger Trauer, und wie Statius2 vorzüglich formuliert hat: „in ernster Hoheit des Unglücks.“ In ihren Augen standen die Scham über die empfangene Schmach, der Schmerz über die öffentlichen Verluste, das Mitleid mit der Vaterstadt und unter vielen matten Empfindungen ein strenger Unwille und ein beträchtlicher glühender Funke Rachelust. 2. Das vergangene Ereignis war Gegenstand vieler Verhandlungen, für die hier kein Platz ist. Endlich aber wurde für das letzte Gespräch ein Tag anberaumt; und sobald er anbrach, kamen wir, die dazu Geladenen, zusammen. Aufgefordert, mich unter die den Stadtherrn Erwartenden einzureihen, gehorchte ich begierig, denn ich wünschte den Ablauf der unglücklichen Geschichte, die im Volk verschieden ausposaunt wurde, aus dem Mund des Wissenden zu erfahren. Die Sitzung fand mitten im Regierungsgebäude statt. Der Saal dort ist ungemein gross; mit Gold sind seine Wände und Balken bekleidet, und alles erstrahlt in wunderbarem Glanze. 3. Als sich viele von den Höflingen zusammengefunden hatten, wollte es der Zufall, dass der Anführer der Gesandtschaft neben mich zu sitzen kam,3 ein kluger Mann von einiger literarischer Bildung, mit dem ich mich, soweit die Zeit es zuliess, über Verschiedenes unterhielt, zuerst eine Weile über Dich, denn er schien Dich recht gut zu kennen, hierauf über den Zustand Deiner Vaterstadt, und zwar recht lange, auch reichlich bedrückt, und die Hauptsache führe ich hier an. 4. Die ganze Schuld am unglücklichen Verlauf der Schlacht wird dem einen Befehlshaber4 zur Last gelegt. Und wäre er doch Anführer der Karthager gewesen! Denn bei ihnen wurden bekanntlich nicht bloss ängstliche oder tollkühne sondern auch glücklose Kriegsführer gekreuzigt. Als Grund übrigens für die völlige Mutlosigkeit nannte man mir nicht etwa die Furcht vor den Feinden, die, wie feststeht,

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nach viel Blutverlust nur den nackten Namen eines Sieges davontragen, auch nicht ein Misstrauen gegenüber der eigenen Streitmacht, von deren Überlegenheit man ja noch immer überzeugt ist, vielmehr, was wir von Anfang an befürchtet hatten,5 ein Übelstand in den eigenen Mauern, eine Angst vor Parteihader. Die Einflussreichsten der führenden Kreise, die sich um das schwer getroffene Volk hätten kümmern müssen, sollen unter verhängnisvollen Umständen und in verwerflicher Gesinnung eine tyrannische Regentschaft geplant haben, und eben deswegen habe das erschreckte Volk – in der Bedrohung teils durch äussere Feinde, teils durch Mitbürger, schlimmer als jeder Feind – Zuflucht im Schutz des gerechtesten Fürsten6 gesucht. 5. Während solcher Gespräche verfügten sich, als die Audienz begann, alle zum Stadtherrn, und eine nicht geringe Menge angesehener Persönlichkeiten strömte zusammen. Hier nun machte der Anführer der Gesandtschaft mündlich die Mitteilung, dass er im Auftrag seines Volkes die Stadt, die Bürgerschaft, auch Kulturland, Meer, Ländereien, befestigte Orte, Anwartschaften, Vermögen und alle materiellen Güter, schliesslich sämtliche göttlichen und menschlichen Einrichtungen der Hand des Stadtherrn anvertraue, nämlich von Corvo bis Porto, das einst, wie manche behaupten, Herkules geweiht und Meneco oder gemäss dem Volksmund Monaco7 hiess, jetzt unter beiden Namen in die Übergabe einbezogen wurde. Und er fügte eine Reihe von Bedingungen an, die ihrer Fülle wegen nicht aufzuzählen sind, aber, weil bereits von öffentlicher Hand schriftlich festgehalten, mit lauter Stimme verlesen wurden. 6. Ich war am Abend von gewissen Ratsmitgliedern gebeten worden, auf die Rede der Legaten zu antworten, ich möge zu so wichtiger Sache etwas aussagen; damit würde ich dem Stadtherrn einen grossen Gefallen erweisen. Zwar fiel mir mancherlei ein, und ob der Ton ergreifend oder ob er feierlich sein sollte, ob das Unglück zu beklagen oder neue Hoffnung zu wecken wäre: eine Rede vorzubereiten hätte jene Nacht vollauf genügt. Aber ich entschuldigte mich auf Grund meiner Erfahrung, dass es schwierig ist, einer fremden Ansicht mit unsern Worten durchaus gerecht zu werden, und gab an, die knappe Zeit reiche für ein so wichtiges Geschäft nicht aus, und überdies sei in den Ohren der Gedemütigten ein einziges Wort des Stadtherrn von höherem Wert als alles, was von irgendeinem andern gesagt werden könne.7. Und ich täuschte mich nicht. Er nämlich antwortete in einer Art, dass ein anderer es vielleicht schöner, aber wirkungsvoller keiner getan hätte. Und der Sinn seiner Ansprache lässt sich so zusammenfassen: Er stütze sich nicht auf eigene Kräfte und Vorzüge sondern auf göttliche Hilfe, und er habe nicht etwa im Begehren nach Erweiterung seiner Grenzen, sondern einzig aus Mitgefühl mit einem befreundeten Volk sich eine mühevolle und schwierige Verpflichtung auferlegt. 8. Er nehme sie also in seinen Schutz auf und verspreche, soweit immer er mit Rat und Tat vermöge, der Republik militärische Hilfe, dem schwachen Volk

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besondere Gunst, allen aber Gerechtigkeit zu gewähren. Er bitte Gott und alle Himmelsbewohner, für deren Aufzählung er einen guten Teil seiner Rede aufwendete, sie möchten das von ihm pflichtbewusst und getreu Begonnene glücklich vollenden. Was willst Du: Bei unserer alten Freundschaft schwöre ich: Während seiner Rede kamen mir die Tränen; und ich glaube, anderen erging es ebenso; das verrieten mir ihre unbeweglichen Gesichter, ihre gespannte Aufmerksamkeit und die grosse Stille. 9. So sehr schien dieser überragende Mann8 den Jammer der Genuesen mitzufühlen und so hochherzig ihnen Hilfe bringen zu wollen, dass, sofern er nur am Leben bleibt – und von dieser Bedingung freilich hängt alles ab! – eine bedeutende Hoffnung entweder auf einen grossen Sieg oder auf einen ehrenvollen Frieden besteht.9 Wenn wir sehen, wie oft mit dem Wechsel eines Befehlshabers auch das Kriegsglück wechselt, was darf man da wohl erwarten, da ja überdies so viele Legionen und eine so bedeutende Macht bestehen?10 Wenn der Genannte unsere Hoffnungen einst erfüllt, wird er sich aus diesem fremden Unglück ewige Verehrung und unsterblichen Ruhm zusammenschmieden. Sollte jedoch dem besten Willen ein Schicksalsschlag entgegenwirken, würde er wenigstens des Verdienstes, das im guten Vorsatz liegt, nicht verlustig gehen. 10. Schau, nachdem ich Dir in zwei Episteln vieles dargelegt habe, bleibt da noch immer ein grösserer Stoff zur Behandlung übrig. Den Ablauf des Vergangenen und die Lage der Gegenwart hast Du vernommen. Fragst Du mich, was ich von der Zukunft erhoffe, wage ich der Schrift darüber nichts anzuvertrauen. Denn sollte Fortuna später nach ihrer Art zu rasen beginnen, wäre ich den Anschuldigungen vieler ausgesetzt, wenn ich aber schweige, können sie nicht sehen, was ich denke. Um aber anderes zu übergehen, was mir nun grössere Hoffnung einflösst als gewöhnlich: Fest steht ein von kundigen Männern aufgestellter Lehrsatz, dass die beste Verfassung einer Republik auf der gerechten Herrschaft eines einzigen Machthabers beruhe.11 Und nun, da wir für alles gerüstet sind, will ich mit Augustinus12 schliessen. 11. Er sagt: „Es besteht ein Staat, der uns dem Leibe nach erzeugte. Gott sei gedankt! Möge dieser Staat sich auch in geistiger Weise erneuern, damit er mit uns in die Ewigkeit eingehe. Denn es verbleibt13 nicht der Staat, der uns dem Leibe nach erzeugte; es verbleibt der andere, der uns dem Geiste nach erzeugte. Gott erbaut Jerusalem.14 Sollte er etwa schlafend sein Bauwerk dem Verderben preisgegeben oder aus Unachtsamkeit gestattet haben, dass Feinde eindrangen? ‚Wenn Gott den Staat nicht behütet, wachen seine Hüter vergeblich.‘15 Und welcher Staat ist gemeint? ‚Nicht schlafen und nicht im Schlaf versinken wird er, der für Israel wacht‘16.“ 12. Und kurz darauf fügt Augustinus an: „Du erschrickst, weil die irdischen Reiche vergehen? Eben deshalb ist Dir das himmlische Reich verheissen, damit Du nicht mit den irdischen Reichen vergehest. Dass diese vergehen müssen,

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wurde vorausgesagt, ja wahrhaftig vorausgesagt. Und leugnen können wir Vorausgesagtes nicht. Dein Herr, auf den Du wartest, hat Dir gesagt: ‚Erheben wird sich Volk über Volk und Reich über Reich‘.17 Den Wandlungen erliegen die irdischen Reiche, doch kommen wird Er, von dem geschrieben steht: ‚Und seines Reiches wird kein Ende sein.‘18“ 13. Dies also ist Augustins Ratschlag, Freund, ob unser irdischer Staat bleibe oder vergehe. Ich bemühe mich wenig, jemanden zu überzeugen, wenn ich weiss, er ist überzeugt, auch wenn ich schweige. Es gehört sich für einen Mann und hochgesinnten Geist, der über Irdisches hinwegtritt, für alles, was dem Menschen begegnen kann, bereit zu sein, und zwar hinsichtlich der unsicheren und flüchtigen „Glücksgüter“, wie man sagt, wie auch hinsichtlich seines Leibes und des Leibes seiner Angehörigen, auch seiner Freunde und seines Vaterlandes, dessen Wohlergehen einem guten Menschen teurer ist als das eigene. Das gilt solange, als die Seele nicht in die Irre geht, denn von ihr behaupten heilige Philosophen,19 sie könne nie geschädigt werden, sofern sie nicht selber sich schädige. 14. Alles übrige müssen wir hohen Mutes ertragen. Wenn es aus den Zufälligkeiten des Lebens keinen Ausweg gibt und wenn selbst geringe Übel in der Ungeduld sich nur vergrössern, was bleibt uns da, wenn nicht die einzige Hoffnung, die in der Geduld liegt? Lebe wohl! (Oktober 1353)20

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten, aber auch Fam. 14,5 und 14,6 an die Genuesen. 2 Theb. 7, 748. 3 Casu michi princeps legationis in sortem datus heisst es im lateinischen Text; der Zufall wirkte kaum unbeschränkt; an einer Rangordnung wird es nicht gefehlt haben. 4 Der Beschuldigte ist Antonio Grimaldi; vgl. Fam. 17,3,34, Anm. 40. Im Gefecht wird es mehrere Befehlshaber gegeben haben, und einen Dogen mit unangefochtener Befehlsgewalt duldeten die zerstrittenen Genuesen damals nicht; vgl. unten Abschnitt 10 mit Anm. 9 und Fam. 14,5,29. 5 Hier ein unvermittelter Wechsel von der dritten Person Mehrzahl zur ersten; Petrarca spricht von der Furcht vor innerem Zwist, die er schon in Fam. 14,5 und 14,6 den Genuesen gegenüber geäussert hatte. 6 Mit dem bewunderten Mann ist der Stadtherr von Mailand, Erzbischof Giovanni Visconti, gemeint. 7 Das ist das heutige Fürstentum dieses Namens. 8 Lateinisch: ille vir maximus; vgl. Fam. 16,11,9: maximus iste italus. 9 Vgl. Fam. 18,16; 19,9; 20,3 und Überblick. 10 Einen triumphalen Sieg über Venedig gewannen die Genuesen später noch am 4. November 1354 bei Modon auf dem peloponnesischen Meer (vgl. Fam. 19,9,11 ff.); aber sie verstanden nicht, ihn zu nützen.

Fam. 17,4

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11 Vgl. Petrarcas früheres Schreiben an Paganino Bizzozzero, den Stellvertreter des Luchino Visconti in Parma, Fam. 3,7. Vor den Genuesen hatte Petrarca schon in Fam. 14,5,29 die Wahl eines Dogen auf Lebenszeit zur Überwindung von Bürgerzwist angeraten. Giovanni Visconti gab der Stadt am 10. Oktober 1353 Guglielmo Pallavicini als seinen Stellvertreter. Vgl. Dotti, Vita 289. 12 Serm. 105,7,9. 13 Im Lateinischen steht zweimal das selbe Wort manet, das aber, weil ein unauflösbarer Widerspruch auszuschliessen ist, mit den verschiedenen deutschen Wörtern „besteht“ und „verbleibt“ zu übersetzen ist. 14 Der Name Israel gibt die Antwort auf die Frage, welcher Staat gemeint sei. Israel steht für den geistigen Staat, das heisst für das Volk Gottes. 15 Vgl. Ps. 126,1. 16 Vgl. Ps. 120, 4. 17 Mc. 13,8 und Is. 19,2. 18 Vgl. das Credo der katholischen Messe. 19 Gemeint sind in erster Linie die Kirchenlehrer. Die folgende Aussage entspricht dem Titel, den Chrysostomos (354–407) einem seiner Traktate vorgesetzt hat; vgl. Fam. 17,10,4. 20 Die Datierung richtet sich nach den erwähnten politischen Ereignissen. Vgl. Wilkins, Eight years 35.

Fam. 17,5, an Guido Sette1 Lob des Landlebens. 1. Mahnung, sich Heiterem zuzuwenden. 3. Erholung bietet das Leben auf dem Land. 4. Der Adressat, der sich in Vaucluse aufgehalten hat, wird ermuntert, das oft zu tun. Ihm und Sokrates wird die Aufsicht über das Landgut anempfohlen. 9. Petrarca gibt Ratschläge für rechtzeitiges Pflanzen. 11. Er beschreibt die Gegend, in der er sich aufhält. 15. Dabei denkt er an Vaucluse und seine Freunde zurück. Am 21. Oktober auf dem Kastell San Colombano (1353).

1. Welche Hoffnung und welcher Trost im öffentlichen Unglück liegt, hast Du vernommen; nun ist es an der Zeit, die Feder etwas Fröhlicherem zuzuwenden. Gehört habe ich eben, unter den drückenden Sorgen seist Du der Stadt entflohen, um aufs Land zu gehen, und ich lobe eine solche Sitte unentwegt in Worten und, so oft ich kann, in der Tat. Über die Qualen städtischer Geschäfte und über die Ruhe des einsamen Lebens habe ich mich schon anderswo weitläufiger geäussert, ja es ist ein Stoff, über den ich selbst nach vielen und häufigen Beschreibungen noch vieles andere hinzufügen werde, nämlich sofern mir länger zu leben geschenkt wird. 2. Damit rede ich wie die grosse Menge, aber wahr ist, dass im Bereich des Menschen ja gar nichts lange anhält, und das gilt nicht bloss von flüchtigem Glück und Gedeihen, da auch das Leiden und Seufzen nie lange dauert, obwohl es mit uns beginnt und mit uns endet. Wovon aber könnte mir in den Nöten des sterblichen Lebens – wie sie auch beschaffenen seien – immer von neuem zu sprechen einfallen, wenn nicht von dem, was meinem Sinn nie entfällt, ausser mitsamt meinem Leben?2 3. Damit meine ich das Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit. Über beide habe ich bisher je eine Abhandlungen ausgearbeitet,3 und zwar nicht so wohl für andere als für mich. Denn ich wollte verhindern, dass auf ein Unterlassen ein Vergessen folge und dieses Vergessen meiner Seele gestatte, sich wieder in Leidenschaften zu verstricken.4 Nun freilich bin ich dieser Furcht wohl schon enthoben; meine Überzeugung ist mit mir gealtert, hat sich auch verhärtet und verkrustet und sich mir in eine Lebenshaltung verwandelt. 4. Ich will nun das Allgemeine kurz abtun, um das anzugeben, was mich trotz dem Vielerlei, das mich vom Schreiben wegzieht, jetzt dazu hinzieht. Ich höre, Du habest – ich weiss nicht wie manchen Tag – auf meinem ländlichen Gut an der Quelle der Sorgue geweilt und dort Deine hochbrandenden Sorgen in der erfrischenden Kühle dieses besten Plätzchens beschwichtigt.5 Dein Entschluss gefällt mir; ihn lobe ich. Und wenn meine Liebe zu meinem Eigentum und die Macht einer alten Gewohnheit mich nicht täuschen, ist dieses Grundstück wahrhaftig Ort des Friedens, Stätte der Musse, Ruheplatz der Geschäfte, Gasthaus der Stille und Werkhof der Einsamkeit. 5. Nirgends sonst lassen sich nach meinem Urteil bedeutende Erzeugnisse des Geistes herrlicher ausfeilen, und ich sage das aus Erfahrung,

Fam. 17,5

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sofern aus meinem kleinen und beschränkten Geist etwas Herrliches überhaupt hervorgehen könnte. 6. Da gibt es eine angenehme Erholung von Sorgen,6 eine wohltuende Zerstreuung des bedrückten Herzens, da gibt es Stillschweigen und Freiheit, unbeschwerte Freude, heitere Sicherheit. Weit entfernt bleiben städtische Umtriebe, hitzige Streitereien und das Lärmen von Zechenden. Nichts hört man vom Klirren der Waffen, nichts vom eitlen Jubel der Triumphierenden, auch nichts von sinnloser Betrübnis über das Gegenteil, das uns soeben bedrängt.7 Da spielen silberglänzende Fische in der Tiefe kristallklaren Wassers; auf den Matten muhen da und dort Kühe, gesunde Lüfte säuseln in sanft bewegten Bäumen, Vögel jeder Art singen in den Zweigen, und wenn Du erlaubst, dass ich vor Dir eigene Verse zitiere:8 „Horch, die Nachtigall schluchzt, ein Täuberich weint um die Freundin, Und aus dem hell aufstrahlenden Quell fällt rauschend der Wildbach.“ Mit Landarbeit beschäftigt, schweigt der Wirtschafter zur Erde gebeugt; und seiner zerschundenen Hacke entlockt er bald Klang, bald glimmende Asche. Um aber kurz zu schliessen: Man wohnt hier glücklich wie im Paradies und gleichsam mit Engeln.9 8. So oft Du also Zeit hast, fliehe, das lass’ Dir gesagt sein, aus den Stürmen der Kurie hierher wie zu einem Hafen. Hier nämlich vermagst Du das schaukelnde Schifflein Deines Herzens – ähnlich wie man im Hafen von Brindisi tut – „mit vibrierendem Tau zur Ruhe zu bringen.“10 Bediene Dich meiner Bücher; sie klagen häufig über ihren abwesenden Besitzer und den Wechsel ihres Hüters.11 Benütze das Gärtlein; es hat, so weit ich sehe, auf Erden nicht Seinesgleichen, und es erfleht von Dir wie auch von unserem Sokrates zuverlässige Pflege, damit meine Abwesenheit ihm nicht schade. 9. Angeben will ich Dir den günstigen Termin für das Säen und Pflanzen,12 doch nicht jenen, den die Bauern wahrscheinlich anderswo mit Rücksicht auf verschiedenen Boden beachten. Von alten Leuten auf eben diesem Gut, aber auch von meinem Verwalter, einem ausgezeichneten Mann mit grösster Erfahrung in der Landwirtschaft, hörte ich sagen, wenn man dort vor dem 6. Februar13 pflanze, wurzle alles sich glücklich ein und gehe bei einem ungünstigen Stern nicht zugrunde. 10. Um diese Zeit also, ja wenn auch der Stand des Mondes günstig ist, pflanzt, ich bitte Euch, etwas Neues. Sollten die Geschicke uns vielleicht einmal erlauben, dort ein friedliches Alter zu verbringen, werden wir dank Eurer Vorsorge einen gefälligeren Anblick und einen dichteren Schatten finden. Nutze Busch und Baum; die älteren haben einst Bacchus und Minerva14 mit eigenen Händen gepflanzt, wogegen die jüngeren von den meinen gesetzt wurden. Sie sollen nicht erst den Nachkommen, sondern schon uns selber einst Schatten spenden. Benütze unser kleines Haus und die bäurische Schlafstatt! Hat sie Dich in ihren Schoss aufgenommen, wird sie nach meiner Gegenwart nicht fragen.

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Fam. 17,5

11. Wozu nun alle diese Mitteilungen? So magst Du Dich wundern. Doch wirst Du davon lassen, wenn Du vernimmst, an welchem Ort ich das schreibe. Es gibt einen ungemein fruchtbaren und ganz herrlichen Hügel beinah mitten in unserem cisalpinen Gallien. Und auf jener Seite, über welche Boreas und Eurus15 hinwegfegen, thront das Kastell San Colombano,16 seinem Namen nach weit herum bekannt und dank Lage und Mauerwerk unangreifbar. Den Fuss des Hügels umspült der Lamber, ein schmaler, jedoch klarer Fluss, knapp fähig, richtige Schiffe zu tragen. Er gleitet durch Monza herab und mündet nicht weit von da in den Po. Nach der Westseite hin liegt ein ausgedehnter höchst anmutiger, einsamer Landfleck, da gibt es eine köstliche Stille und eine sehr freie Aussicht. 12. Niemals habe ich, wie ich mich erinnere, von einer so bescheidenen Erhebung her einen so weiten Rundblick über eine so edle Landschaft genossen. Mit nur geringer Wendung der Augen erkennt man Pavia, Piacenza, Cremona und noch andere bekannte Städte in grosser Zahl; so jedenfalls behaupten ansässige Leute, was allerdings der heutige dunstige Tag nachzuprüfen nicht gestattet. Nur für die drei genannten Orte kann ich meinen eigenen Augen trauen. 13. Die Alpen, die uns von Germanien trennen, sind mit ihren schneebedeckten Jochen in unserem Rücken und berühren Wolken und Himmel; vor unseren Augen haben wir den Apennin und unzählige Ortschaften, unter diesen auch Casteggio,17 das im Sturm des Punischen Krieges und dank der Erwähnung durch Historiker zu Berühmtheit gelangte, dann die Ufer des Po, wo einst in einem ungemein hitzigen und ungleichen Kampf der römische Heerführer Marcellus,18 als der König der insubrischen Galllier Viridomarus erschlagen war, den dritten Teil der Habe aller feindlichen Anführer als Beute davontrug. Schliesslich ist da der Po selber, der am Fuss des Hügels die fetten Äcker in einer mächtigen Schlaufe von einander scheidet. 14. Was, meinst Du, habe ich, kaum dass ich oben auf der Anhöhe stand, als erstes gedacht und gewünscht? Vielleicht wie ich diese Städte unterjochen, mit wie vielen Pflügen diese Felder durchfurchen, mit wie vielen Rindern die lachenden Weiden bestücken, mit wie vielen Schiffen ausländische Ware flussaufwärts ziehen, mit wie vielen Legionen die grünenden Fluren zerstampfen und unter was für Vergnügen in der reizvollen Landschaft herum schwelgen wolle? Wirklich nichts von all dem. Ein völlig anderes, ja wirklich anderes Lebensende habe ich mir vorgenommen. 15. Also welches? Nimm für sicher, dass ich niemals einer anmutigen Gegend ansichtig werde, ohne mich sogleich meines ländlichen Besitzes und all jener Menschen zu erinnern, mit denen ich herzlich gern, sofern es mir vergönnt wäre, eben dort des kurzen Lebens Reste hinbringen wollte. Im Gedanken also an Dich und an jenes Gütleins habe ich die für Dich bestimmten Zeilen dem Gedächtnis anvertraut, da ich an Schreibzeug nichts bei mir hatte, und dies mein Gedächtnis hat, als ich wieder daheim war, das ihm Anvertraute getreulich wiedergegeben. Und aufgeschrieben habe ich eben dies gegen Abend auf meinem Lager, und zwar nicht

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einem für Philosophen oder Poeten, sondern einem für Könige! Und ausgedacht hatte ich’s kurz vor Sonnenuntergang hier allein, angelehnt an einen Ballen aus dichtem Rasen im Schatten einer weit ausladenden Kastanie! Lebe wohl! Am 21. Oktober auf dem Kastell San Colombano (1353).19

Anmerkungen 1 2 3 4 5

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Vgl. den vorangehenden Brief. Im Lateinischen: nunquam ex animo nisi cum anima. Das sind de otio religioso und de vita solitaria. Petrarca hat mehrmals seinem Freund Guido gegenüber sehr offen von seinen besonderen Nöten gesprochen, so z. B. in Fam. 5,17 und erst recht 5,18. Mitgeteilt hat ihm das gewiss Sokrates, der offenbar um die Einsiedelei in Vaucluse besorgt war; vgl. Fam. 16,6, 20 und 16,7. Übrigens pflegte Petrarca, wenn er sich in Avignon aufhalten musste, bei Guido Sette zu wohnen. Vgl. zum folgenden Lob wiederum Fam. 16,6,20 ff. Hier ein Hinweis auf die Folgen der letzten Niederlage Genuas. Man findet die folgenden Verse in keinem Werk Petrarcas. Vgl. Fam. 20,14,26, wo Petrarca von seinem Leben in Vaucluse sagt: prope angelus degebam. Luc. De bello civ. 2,609 und 621. Vom Tod des Raymond Monet spricht Fam. 16,1. Die Verwaltung der Liegenschaft hatten dessen Söhne Jean und Pierre übernommen. Vgl. Sen. 6,3 und Dotti, Vita 272 f. Diem tibi serendis arboribus ydoneum. Serere heisst sowohl säen wie pflanzen. Petrarca denkt vielleicht an Reben, vielleicht an Baumreben, wie sich aus dem Textzusammenhang ergibt, vielleicht an Ölbäume; er hat selber in Vaucluse auch solche gepflanzt; vgl. Anm. 14. Das heisst wohl: nach dem im Volk wohlbekannten Fest Sankt Blasius (3. Februar) und am Fest der beliebten Märtyrerin Agatha (5. Februar), die mancherorts gleichsam die Rolle der Göttin Ceres übernommen hat. Sie war Patronin für Verschiedenstes. Man erbat von ihr Fruchtbarkeit der Felder und gutes Wetter und weihte an ihrem Fest Brote. Vgl. im Überblick die Notiz zu Fam. 20,7. Petrarca spricht von arbustis. Hier meint er eindeutig Rebe und Ölbaum. Das sind – grob gesprochen – der Nord- und der Südwind. Es folgt sogleich eine genaue Ortsangabe. Der irische Missionar Kolumban, tätig unter den Merowingern, begraben 615 in Bobbio, fand in Oberitalien grosse Verehrung. Gemeint ist das keltische Clastidium nahe von Piacenza, wo 222 v. Chr. M. Claudius Marcellus siegte. Was im Text folgt, findet man Liv. Periocha 20 (und Flor. Epit. 1,20,5). Der genannte König Viridomarus heisst dort dux Vertomarus. Vgl. das Personenreg. Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 41–43 und Petr. corresp. 76.

Fam. 17,6, an Bernardo Anguissola, Statthalter in Como1 1. Petrarca nennt Gründe, den Freund zu besuchen. 2. Sein Versprechen kann er wegen der schlechten Witterung nicht halten. 3. Sein Herr (Visconti) schickt ihn über die Alpen, damit er zwischen zwei Mächten Frieden vermittle. (Ende 1353)

1. Man pflegt ein bockiges Pferd mit beiden Sporen anzutreiben; meine Trägheit dagegen wird mit dreien aufgestachelt: Mit der Neugierde auf einen neuen Ort, mit dem Verlangen nach einem lieben Freund und mit dem Einlösen meiner Versprechen. In der Tat bin ich begierig, die nahegelegene Stadt in unserem cisalpinen Gallien, umkränzt von luftigen Hügeln, unterworfen den Alpen und angeschmiegt an einen berühmten See, ich meine Como, wenigstens einmal zu besuchen, habe ich doch Cumae in der Campagna2 sehr häufig besucht. Freilich, auf einen so guten Freund bin ich noch weit begieriger; denn täusche ich mich nicht, gibt es für die Augen keine grössere Erquickung als das ersehnte Angesicht eines Freundes. 2. Zu diesem doppelten Wunsch gesellt sich das hochheilige Pfand der Treue; ich habe zu Kommen versprochen, und das Versprechen reut mich nicht, vielmehr beschämt mich, es noch nicht erfüllt zu haben. Jedes der drei Dinge reisst an mir und vereint, so sage ich, reissen die drei mich um. Doch mein Bester, was soll ich tun? Siehst Du nicht, wie der Wassermann seinen Krug, der von heftigen Regengüssen überbordet, vornüber kippt? Schon stürzen vom Himmel nicht mehr Wasserströme sondern Fluten; jeder Weg hat sich in ein hochwogendes Flussbett verwandelt, das der Reisende nicht watend sondern schwimmend zu durchqueren hätte. 3. Aber wirklich, was rede ich? Oh ich Dummkopf! Obwohl mir in meinem brennenden Verlangen nach Ruhe schon eine Eintagereise entsetzlich ist, werde ich eben auf eine Strecke vieler Tage ausgeschickt und soll die Alpen, mir nur allzu gut bekannt, nun mitten im Winter übersteigen. Und der mir zu gehen, Dir aber, der vielleicht zu gehen Lust hätte, zu bleiben befiehlt, ist ein und der selbe! So lebt eben kaum einer mit seinem Geschick zufrieden! Dennoch gehorche ich als einer, der durchaus nichts verweigern möchte, und tue es um so lieber, als jener – richtig gesagt – gar nicht befiehlt, sondern anfragt, da er seinen Ehrenrang, wie hoch er auch ist, in seiner berühmten Menschlichkeit überstiegen hat. 4. Wie sehr übrigens die Rauheit der Wege und die Strenge des Winters mich schrecken, so sehr freut mich der Grund dieser Reise.3 Ich gehe ja, um zwischen zwei grossmächtigen italischen Völkern Frieden zu vermitteln, hoffentlich so erfolgreich wie gutwillig.4 Wenn also ich und gleichzeitig mit mir der milde Frühling zurückkehren, kann mir zweifellos nichts wichtiger sein, als bei einem Besuch der angesehenen Stadt und im Anblick des besten Freundes endlich mein Versprechen zu erfüllen. Lebe wohl! (Ende 1353)

Fam. 17,6

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Anmerkungen 1 Der Adressat amtete in Como im Namen der Visconti von Mailand. Er starb am 28. November 1359; vgl. Dotti, Vita 301 und vgl. auch das folgende Schreiben Fam. 17,7. Befreundet war mit Petrarca seit längerer Zeit der Bruder Bernardos, nämlich Lancellotto Anguissola, vgl. die Briefe an diesen und das Personenreg. 2 Es scheint, dass Petrarca hinter den ähnlich klingenden Namen irgendwelchen gemeinsamen Ursprung und historische Zusammenhänge vermutete, vielleicht auf Grund alter sagenhafter Nachrichten. Doch Cumae in der Campagna, aus griechisch Kyme, war eine griechische Kolonie aus dem 8. Jh. v. Chr., zeitweise etruskisch, und Comum eine Gründung erst von Galliern im 3. Jh. v. Chr. nach der Vertreibung der Etrusker aus der Gegend. 3 Eutropius, Breviarium 9,20,3. 4 Petrarca sollte im Auftrag des Erzbischofs Giovanni Visconti, dem Herrn von Mailand, den Papsthof aufsuchen, denn kaum hatte sich Genua der Schutzherrschaft Mailands unterstellt, brachte Venedig eine Allianz gegen diese Stadt zustande, so dass der Visconti an einer Vermittlung der Kurie interessiert war. Eine Reise nach Avignon blieb Petrarca vorerst jedoch erspart. Erst die Nachfolger des genannten Visconti schickten dann 1360 den Dichter über die Alpen, jedoch nach Paris; vgl. Fam. 22,13. Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 46 ff. 52. Unsicher ist, ob Fam. 17,6 früher geschrieben wurde als 17,7.

Fam. 17,7, an Bernardo Anguissola1 Petrarca bittet den Freund, einem Deutschen, der mit einem päpstlichen Legaten nach Italien gekommen war, den Weg in die Heimat zu weisen. Petrarca bringt seine Fürbitte vor. 2. Schilderung des Empfohlenen. 4. Verschiedene Vorstellungen von Barbarei. (Juli 1354)

1. Ich schicke Dir nichts Vergnügliches, sondern wie üblich etwas Bemühendes, und so könntest Du mich in einen anderen Erdteil verwünschen, woher Du von mir zwar ein gleiches Mass an Liebe, aber ein geringeres an Belästigung empfingest. Der Mann, den Du vor Dir siehst, ist zwar fremder Herkunft, aber freundlicher Gesinnung, und er liebt und verehrt nicht allein mich sondern alle, von denen er weiss, dass sie mir lieb sind. Daher betrachte auch Du ihn als Freund. Ist sein Äusseres unbekannt, so ist doch (wenn Du mir ein bisschen glaubst) sein Gemüt in seiner Menschlichkeit bestens bekannt. Weise ihn, bitte, wie Du kürzlich bei anderen getan hast, auf den Weg, der ihn am sichersten und raschesten über die Alpen ins niedere Germanien leitet.2 2. Um ein Jahr in Italien zu verbringen, ist er mit dem Legaten3 des apostolischen Stuhles hierher gekommen. Übermannt hat ihn jedoch die Liebe zur Heimat und zu den Seinen. Länger als ein Jahrhundert schien ihm das Jahr zu dauern; und den ganzen zehnten Monat auszuhalten, gelang ihm nicht. Nun eilt er weg von da, wo ihn der Überdruss abstösst, zum Ort, wo die Sehnsucht ihn hinlockt. Er hat eine betagte Mutter und brennt darauf, sie vor ihrem Todestag zu erreichen, fürchtet aber zugleich, er habe sich zu lange verweilt. Unter anderem hat er ein bewunderungswürdiges Pflichtgefühl und misst die Grösse der mütterlichen Sehnsucht an seiner eigenen, wodurch eben die seine nur höher und höher flammt. 3. Auch Du kannst das Verlangen der Mutter ohne weiteres ermessen, wenn Dir das Bild Deiner eigenen Mutter entgegentritt. Und Dein Pflichtgefühl wird das des anderen gutheissen, sobald Du zu bedenken beginnst, was es für eine alte Witwe bedeutet, wenn ihr einziger und so gut gearteter Sohn in der Ferne ist. Es pflegen kostbare Dinge durch die Vermehrung ihrer Zahl und ihrer Häufigkeit an Wert zu verlieren; hier aber vereinigt sich alles, was den Wert noch zu steigern vermag. Da ist ein einziger Sohn, und zwar ein vortrefflicher Mann, wie schon sein Äusseres verrät; einer, der von zu Hause schon fern war, bevor er nach Italien kam, und den nun vieles zur Heimkehr mahnt: einesteils seine angeborene Anhänglichkeit, andernteils die Erwartung seiner Freunde, vor allem aber das Alter seiner Mutter und die Sorge um diese. 4. Einem so treuen und so allseits feurigen Verlangen hilf mit all Deinen Kräften! Und erobere Dir damit etwas von der Pflichttreue eines andern! Gib das Kind der angstvollen Mutter zurück; gib den Bürger seiner ersehnten Vaterstadt zurück!

Fam. 17,7

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Es wäre denn, wir wollten vermuten, das Herz eines Ausländers verspüre nichts von der Trautheit des heimischen Bodens, und wollten eine solche Empfindung auf Italer und Griechen beschränken. Frage nur, wen immer Du willst! Ich denke nicht bloss an jene aus der eher gebildeten Barbarei, die der Rhein bespült,4 sondern auch an jene, die uns eine erst recht rückständige zugeschickt hat, eine durch Donau oder Don recht verrohte. Jeder Befragte wird Dir sagen, nichts mache ihn froher als der Himmel seiner Heimat, nichts sei ihm lieber in der ganzen Welt. Und hüte Dich wohl, ihm einen Vergleich zwischen den Ländern zu gestatten! Er wird Dir nämlich sagen, barbarisch sei Italien.5 Lebe wohl! (Juli 1354)6

Anmerkungen 1 Das Schreiben findet man auch bei Piur, Briefwechsel 178 f. Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. 2 Gesprochen wird von der Provinz Germania inferior nördlich der Provinz Germania superior. Petrarca denkt an das linksrheinische Land nördlich dem Gebiet von Trier und Ardennenwald, angrenzend an Belgien. 3 Der Genannte war also mit dem Kardinal Albornoz gekommen, der im Auftrag der römischen Kurie in Italien, besonders im Kirchenstaat, die Ordnung wiederherstellen sollte; vgl. Fam. 16,14, 14 mit Anm.19 und Var. 56, bei Fracassetti Bd. 3, 459 f. beide Schreiben an Francesco Nelli. 4 Lateinisch: non dicam ex his quos hec cultior quam Rhenus alluit, sed quos misit incultior illa barbaries, quam… 5 Man vgl. Theorien zu Heimatliebe und Weltbürgertum in anderen Briefen Petrarcas, z. B. in Fam. 2,1,14; 2,3,31; 2,4,14; 4,1,18; 23,2,5 f., auch die Notiz oben im Überlick. 6 Vgl. Wilkins, Eight years 47 und 72.

Fam. 17,8, an Bruder Matteo von Como1 Das Verlangen nach Weiterbildung ist ehrenhaft, nicht aber das nach grösserer Habe. 1. Vom Unterschied zwischen dem Begehren nach materiellem Reichtum und dem nach Wissen und Weisheit. Das erste macht arm, das andere reich. 3. Geld kann man in Behältnissen ruhen lassen, das Gedächtnis aber bedarf ständiger Pflege bis zum Tode. 5. Grosse Vorbilder aus der Antike. 10. Der Adressat ist reich an Büchern. Was er jetzt sucht, besitzt Petrarca nicht. (Oktober/Dezember 1353)

1. Ich freue mich wahrhaftig und juble, so oft ich einen gebildeten Menschen von grosser Lernbegierde entdecke. Es pflegt die Habgier unter ihrem Raffen zu wachsen und mit ihren Erfolgen sich aufzustacheln. Zu welchem Zweck weiss ich nicht; denn hätte sich die Vernunft von menschlichen Einsichten nicht verabschiedet, müsste man folgerichtig um so weniger begehren, je mehr man schon hat. Trägheit wird mit Schlaf, Müdigkeit mit Ruhe ausgetrieben; mit Speise wird Hunger, mit Trank wird Durst gestillt; doch sonderbar: Einzig die Habgier verstärkt sich im Gewinn des Begehrten. Doch offenbar hat Horaz2 vor Tauben gesungen: „Nun aber sei des Raffens genug; viel hast Du gewonnen, Schwinden sollte die Furcht vor der Armut und allmählich enden Alles Sorgen! Du hast, was Du forderst.“ 2. Ein gesunder Rat ist das! Doch ist er leider nicht bis in die Tiefen des Herzens gedrungen! Wir Sterbliche sind voll unsterblicher Sorgen! Und dann erst packt uns die Furcht und die Sorge so recht, wenn man uns heisst, von allem zu lassen. Unser Begehren nach Geld wächst unter dem Wachsen der Geldmenge; aber weh, wie so viel würdiger und schöner wäre es, wenn uns beim Lernen der Eifer für Weisheit und der Hunger nach Bildung wüchsen! Und dies um so mehr, als bei dem einen Erwerb das Mass bestimmt und fest umrissen ist,3 während das Fortschreiten im Lernen bis ans Ende kein Ende hat. 3. Niemand soll denken, er sei weit genug vorangekommen. Niemals bemüht sich einer, zum Höchsten zu gelangen, wenn er sich einbildet, schon angekommen zu sein. Die Anstrengung des Weges flieht, wer erreicht hat, was er wünschte. Das gilt auch für jeden, der erreicht zu haben bloss wähnt. Er bleibt stehen, und stillstehend schreitet er nicht bloss nicht vorwärts, vielmehr geht er auch rückwärts. Während ein reicher Kaufmann, nachdem seine Seereisen beendet sind, sein Geld in guter Menge wohl verwahrt zu Hause im Besitz hat, kann ein Bildungsbeflissener, wenn er sein Lesen und Forschen beendet, sein Gedächtnis nicht so sicher verschliessen, als wäre es eine Truhe. 4. Es ist ja durchlässig und rissig, und wenn man nicht ständig etwas hineinstopft, verringert es sich täglich um sehr vieles. Wer also nicht lernt, der vergisst; und wer sein Gedächtnis, das angeblich volle und überquellende, nicht pflegt, wird bei späterem

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Nachsuchen sich wundern, dass es hohl ist und leer. Stets zu studieren und bis zum letzten Lebensrest ohne Unterlass zu forschen, dazu werden wir durch unzählige und glanzvolle Exempel ermahnt. Nur wenige will ich hier anführen. 5. Sokrates also,4 sozusagen der Vater der Philosophen, hat sich in seinen alten Tagen um das Saitenspiel, Cato sich um die griechische Sprache bemüht. Um stets gelehrter zu werden, hat Pythagoras keine Anstrengung, Plinius nicht den Tod und Demokrit nicht die Blindheit gefürchtet.5 Der Fürst der Beredsamkeit Cicero soll es abgelehnt haben, das Wort zu ergreifen, als er drei Tagen lang zu lesen unterlassen hatte. Und als Platon, der Fürst der Philosophie, im Alter von einundachtzig Jahren starb, barg er unter seinem Kopf nicht etwa Säcke voll Gold, (Zeugen eines greisenhaften Geizes), sondern Bücher zum Beweis seiner Beschäftigung mit Philosophie, als wolle er schweigend verkünden: Worauf ich zeit meines Lebens meinen Forscherdrang stützte, will ich sterbend, wenn mir nichts anderes möglich bleibt, meine Körperlast legen. 6. Von Karneades, der in seinem höchsten Alter schon an allen Gliedern fror, wissen wir, dass er im unbegreiflichen Feuer seines Geistes und im unstillbaren Durst nach Bildung oft zu speisen vergass, weshalb er zwischen den Mahlzeiten wohl verhungert wäre, hätte nicht seine Magd für ihn gesorgt. 7. Kein Exempel unter allen ist aber herrlicher als das des grossen Gesetzgebers Solon; denn da an seinem letzten Tag rund um sein Sterbebett seine Freunde disputierten, erhob er sein halb erstorbenes Haupt, und als man fragte, was seine unverhoffte Bewegung bedeute, gab er den Staunenden zur Antwort, er möchte hören, wovon sie sprächen, und beim Zuhören sterben. Und nicht grundlos wollte er lernend sterben, war er doch – so nämlich soll er oft von sich gerühmt haben –, nicht anders als unter täglichem Lernen gealtert. 8. Oh diese hochherzige Begierde edler Geistesgrössen! Jene Vorfahren wünschten zu lernen, nicht reich zu werden! Aber unsere eigenen Alten,6 die unser Tullius7 mit gutem Recht verflucht, „verlangen, je näher sie am Reiseziel sind, um so grösseres Reisgeld.“ Mir gefällt daher, was ich als geflügeltes Wort schon oft gelobt habe: „Glücklich die Menschheit, wäre jeder mit seinem Erbe so zufrieden wie mit der eigenen Weisheit.“ Wir, so neidisch bei einem Vergleich unserer Habe, kommen uns rasch gelehrt und weise, doch niemals wohlhabend vor. Davon stammt die grosse Verkehrtheit, dass wir einerseits nach Geld entsetzlich begierig sind, andererseits von rühmlichen Studien absehen. 9. Weshalb tun wir so, ich bitte, wenn nicht wegen eines Verlangens nach dem, was wir zu entbehren vermeinen, und wegen einer Vernachlässigung dessen, was wir im Überfluss zu haben wähnen! Nicht falsch wäre das, wenn die Unterscheidung auf einer richtigen Voraussetzung beruhte; doch Geld haben viele im Überfluss und oft sogar in todbringender Menge, wogegen wahrhaft niemand an Weisheit so viel besitzt, dass er ihrer nicht noch sehr bedürfte. 10. Dir aber, Freund, wünsche ich Glück, weil Du das Geld nicht allein dank persönlicher Gesinnung, sondern auch gemäss Deinem Ordensstand verachtest und

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Fam. 17,8

nach Weisheit und Büchern, an denen Du eine Menge hast, ein inniges Verlangen hegst. Du suchst eifrig, wo Du sie finden könntest, und hast daher – obwohl schon reich – nach Art eines Bettlers an meine Türe geklopft, im höchsten Masse würdig, erhört zu werden! Stünde bloss Deinem Begehren nicht meine Armut entgegen! Ihretwegen muss ich antworten: Geh, Du Glücklicher, suche anderswo die Schwelle eines Reichen auf; denn hier ist, was Du erfragst, zweifellos nicht vorhanden. Lebe wohl! (Oktober/Dezember 1353)8

Anmerkungen 1 Kein anderes Schreiben Petrarcas an diesen Adressaten hat sich erhalten. 2 Sat. (Serm.) 1,1,92–93. 3 Lateinisch: presertim cum querendi certus sit et definitus modus. Wie das gemeint ist, wird in der folgenden Ausführung klarer. 4 Zu den folgenden Beispielen vgl. Cic. De sen.(Cato) 8,26 und Val. Max. 8,7, ext. 14. 5 Man vgl. das Personenreg. 6 Gemeint sind die Lateiner späterer Zeit, zu der aber offenbar auch schon Cicero gerechnet wird. 7 De sen. 18,66; von Petrarca mehrfach zitiert; vgl. 14,4,17. 8 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 48 f.

Fam. 17,9, an Marco von Genua1 Wer sehr liebt, urteilt falsch. 1. Das alte Wort verliere durch neuen Gebrauch nicht an Wahrheit. 2. Der Freund möge den Schaden beachten, den sein blindes Urteil anrichten könne. 3. Vor den Freunden will Petrarca nichts verstecken; sie sollen sehen, was sie beurteilen. (Oktober/Dezember 1353)

1. Du irrst Dich, Freund, wenn Du von meinen Erzeugnissen meinst, sie müssten allen Leuten so gefallen wie Dir. Nicht alle Augen haben die selbe Sicht. Blind ist die Liebe; blind sind die Liebenden; auch die Urteile der Liebenden sind blind.2 „Das sagst Du nicht als erster, das Wort ist alt,“ meint einer. Alt, sage ich, aber wahr. Die Wahrheit altert nicht. Einfallsreicher mag der Wortschöpfer gewesen sein, doch nicht wahrer.3 „Ein anderer hat das gesagt.“ Was tut das zur Sache? Ist etwas weniger wahr, wenn es von vielen gesagt wird? Gesagt hat es ein anderer; ich aber pflichte bei und erkläre, dass man vollkommen richtig gesprochen hat, und trete der fremden Aussage dank eigener Erfahrung bei. Da es sich so verhält, verhindere bitte, dass Deine Nachsicht, unfähig, ihre Lobsprüche auf mich zu zügeln, uns beide einer beträchtlichen Gefahr für unser Ansehen aussetze. Du müsstest als ein Richter von ungenügendem Scharfblick gelten, ich dagegen, bisher im Verborgenen recht sicher, sähe mich nach Deinem Verrat strengeren Richtern unterworfen. Etwas Drittes kann ich freilich gar nicht fürchten, nämlich dies, es könnte irgend jemand mit einer neuartigen Vorstellung Dich von Deiner alten Meinung abbringen. 3. Doch wie dem sei! Es soll immerhin niemals vorkommen, dass Deine Freunde die Tore unserer Freundschaft verschlossen finden. Ich will vor ihnen nichts verborgen halten; vielmehr sollen sie sehen, was sie beurteilen. Ich werde ihnen entgegengehen, und treffe ich auf Menschen, die anders denken als Du, bleibt mir die Hoffnung, dass sie nicht anders lieben werden als Du. Schliesslich wollte ich am Ende vorziehen, man werfe Dir Dein blindes Urteil vor (denn die Liebe entschuldigt es leicht), als man sage mir Überheblichkeit nach,4 denn dieser Fehler ist unentschuldbar, und wäre es besonders bei mir, weil ich an all dem Mangel habe, womit die Menschen sich etwas zu dünken pflegen. Lebe wohl! (Oktober/Dezember1353)5

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Fam. 17,9

Anmerkungen 1 An diesen Adressaten mit dem Zunamen Portonario richtet sich schon Fam. 3,12, dann wieder Fam. 20,4. 2 Dass Liebe sich täusche, hat Petrarca so häufig wie nur weniges andere beteuert; vgl. 1,1,17; 7,14; 8,3,15; 9,5,33; 10,6,3; 11,11,1; 12,5,4; 15,14,30; etc. etc. vgl. Indice delle materie bei Rossi. Häufig verwendet Petrarca die Formulierung, „sofern nicht Liebe mich täuscht“, so nicht zuletzt, wenn er selber seinen Bruder oder seine Freunde lobt und empfiehlt. – Vgl. überdies im letzten Band Le Familiari der Edition Rossi und Bosco Seite 121 die Anm. zu 22,7,11. 3 Auch über die unverminderte Wahrheit von oft Gesagtem und Zitiertem hat sich Petrarca immer wieder geäussert, und zwar als müsse er sich gegen Vorwürfe wehren; vgl. 1,8,3; 3,15,1; 5,18,6. 4 Überheblichkeit wäre es unter anderem, das Tor der Freundschaft verschlossen zu halten. 5 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 48 f. 237.

Fam. 17,10, an Giovanni (Aghinolfi) von Arezzo1 Warum man das eine will und das andere tut. 1. Dank für einen Brief. 3. Die Vorwürfe seien berechtigt. Petrarcas Fehler seien die von jedermann. 6. Hauptfrage: Weshalb er als Freund der Einsamkeit sich in städtische Geschäfte verwickle. 9. Petrarca habe die Bitte seines Herrn als Befehl betrachten müssen. 10. Er tue nicht, was er wolle, sondern was er nicht wolle. 14. Er streite mit sich an der Stätte, wo Augustinus einst seinen inneren Widerstreit beendete. 20. Über die beiden gegensätzlichen Willen. 24. Petrarca habe den Willen, dem besseren Willen zu gehorchen. Doch ihm schade sein vorzeitiger Ruhm. 26. Umsonst versuche er, ihm zu entfliehen. 28. Unter seinen Geschäften sehne er sich nach Musse. Mailand, am 1. Januar (1354).

1. Drei mir eingewurzelte Meinungen von Dir hast Du kürzlich in der einen Epistel erhärtet und erneuert. Sie bezeugt sowohl Deine Klugheit wie Deine Charakterstärke und Deine Freundschaft. So stellst Du mir denn klar vor Augen, was, weiss Gott, aus ihrem Blickfeld nie verschwindet: die Flucht der kurzen und ungewissen Zeit. Ebenso ernsthaft zählst Du einerseits meine langjährigen Beschäftigungen auf, sofern es einige lobenswerte gibt, und häufst dann anderseits meine neuen, den älteren widersprechenden zusammen, die der unverzichtbaren Ehrliebe feind sind. 2. Und so fährst Du fort, wie ich in die Freiheit ausbrechen und die einst mit beträchtlichem Aufwand geschaffenen Fundamente für edlere Tätigkeiten nicht verlassen, vielmehr das einst Begonnene eher beschleunigen und die Gefahr eines längeren Verweilens wohl beachten, deshalb der Schaffenskraft Flügel leihen und dem Schreibrohr die Sporen geben sollte, und sagst das so liebevoll, dass Du mir jetzt (was ich kaum für möglich hielt) noch klüger erscheinst und so, als wärst Du noch besser und herzlicher um das Meine besorgt, als ich jemals gedacht habe. 3. Was meinst Du, sollte ich antworten? Könnte ich etwas leugnen? Wahrhaftig nichts. Ich könnte es vielleicht mit der Zunge, doch kann ich es nicht mit dem Herzen. Ich werde ja festgeschraubt, und einer Folterbank bedarf es nicht. Gewalttätig ist die Wahrheit; sie umschnürt unser Herz. Warum sollte ich Dir nicht offenherzig bekennen, was ich mir vorzulügen nicht wage? Kaum hatte ich mit der Lektüre Deines Briefes begonnen, sagte ich mir gleich: „Der hat mir die Stricke der Wahrheit gebracht; ich bin gefangen.“ 4. Wohin also könnte ich entkommen? Mit welchen Kunstgriffen mich befreien? Mit welcher Ausflucht mich lossprechen? Schliesslich, was sollte ich vorbringen, wenn nicht etwa dies, mein Unrecht sei mir eigen wie dem ganzen Menschengeschlecht? Wo gibt es einen Menschen, der sich nicht oft genug schadet, und auf den man nicht mit vollem Recht das alte Sprichwort anwenden könnte: „Alle die Übel, Du Dummkopf, hast Du Dir selber verschafft“?2 Hervorragend und scharfsinnig ist die Abhandlung des Johannes Chrysostomus, die auf den ersten Blick vielleicht eine Lüge zu sein scheint, bei genauerem Hinsehen jedoch durchaus wahr ist. Der

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Titel nämlich lautet: „Nur von sich selbst kann einer Wunden empfangen.“3 Kaum hat die Menge, der Wahrheit abhold, solches gehört, beginnt sie zu toben. Hat sie aber vernünftigen Gedanken Zugang gewährt, wird sie gern oder ungern gestehen, so sei es. 5. Wir erleiden das Böse, das wir getan haben! Oft fällt die Strafe auf das Haupt des Sünders zurück. Nicht von anderswo werden wir gepresst, auch ist das nicht nötig. Glaube mir, kein Heer muss man aufstellen, keine Maschinen an Mauern legen, keine Minen vergraben; denn jeder hat seinen verheerenden Feind bei sich selbst, sogar mitten unter Vergnügen. Jeder gehorcht ihm – was unbegreiflich ist – und begünstigt ihn hartnäckig zum eigenen Nachteil. Doch Du willst sagen, und bevor Du beginnst, pflichte ich bei: „Damit lässt sich kein Fehler beheben, sondern bloss mit sehr vielen teilen; es bedeutet eine Anschuldigung anderer, nicht eine Entschuldigung unserer selbst. Zum vielleicht vornehmeren Schuldigen macht uns ein Genosse, aber wahrlich nicht zum unschuldigeren.“ – Also lasse ich die anderen und kehre zu mir selber zurück. 6. Ich sehe, Freund, Du bist mit Wahrheit bewaffnet, und wenn ich mich wehre, wirst Du im Gefecht leicht Sieger sein. Zu ungefähr der selben Zeit, wo ich die Hiebe Deiner Argumente am Kopf verspüre, schlägt von jenseits der Alpen ein Freund4 in einem Schreiben nicht weniger tüchtig als höflich auf meinen gleichsam nackten Rücken ein, mich fragend, was es bedeute, dass ich – angeblich ein grosser Liebhaber ländlicher Ruhe – mich völlig freiwillig, wie ihm scheine, in eine Fülle städtischer Geschäfte hätte zurückfallen lassen. 7. Und beachte nur, seine höchst raffinierte Artigkeit, mit welcher er – damit seine Frage mich nicht beschäme –, noch bevor er mich angreift, verwundert sich selber fragt, nämlich wie es nur komme, dass er trotz seinem Hass auf die babylonischen Quertreibereien5 nicht entfliehe, obwohl er es könnte. 8. Sieh nur, wie da eine gewisse Geistesverwandtschaft zwei Freunde aus verschiedenen Erdengegenden zu einem gleichartigen Kampf zusammengeführt hat! Was aber würdet Ihr beide gar sagen, wenn der eine wie der andere wüsste, in welchen Verhältnissen ich zumal jetzt, da ich spreche, mich befinde? Eben jetzt, wo alle Gestirne des Himmels sich nicht bloss zum Landregen, vielmehr zur Sintflut verschworen haben und der Winter hart und unbezähmbar regiert, werde ich gezwungen, die Alpen, Dir und mir bestens vertraut, zu überqueren.6 9. Doch von wem gezwungen, wirst Du fragen. Ja von wem wirst Du denken, wenn nicht von mir selber, der ich nun eines anderen Eigentum bin, und zwar in einem Mass, dass seine liebenswerten Bitten und, um des Laberius7 Wendung anzufügen, „Eben des hohen Herrn… Freundlich bittendes Wort, gesprochen mit schmeichelnder Stimme“

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bei mir die Gewalt eines unerbittlichen Befehls und den Wert einer machtvollen Majestät erreichen. So ist denn dem Menschen nichts so schäbig als sein Selbst und nichts so feil als seine Freiheit! 10. Meinem anderen Freund will ich, sofern ich lebend und gesund bei ihm ankomme,8 seine Frage mündlich beantworten; die recht heikle und nützliche lautet ja, wenn ich nicht irre, gleich wie die Deine; vor Dir jedoch will ich die Sache schriftlich und peinlich behandeln, und gewiss nicht in der Absicht, mich zu entschuldigen, was ich, wie gesagt, nicht vermöchte, nein, ich wollte nur, wenn irgendwie möglich, mich nicht in einer trägen, gestaltlosen und namenlosen Menge, sondern im Glanz und Ruhm hochangesehener Gefährten verbergen. Was also hat der Apostel Paulus,9 ein in jeder Hinsicht hervorragender Mann, gesagt? Ich bitte Dich! Er sagte: „Denn nicht das Gute tue ich, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ 11. Was werden andere sagen, Freund, wenn Paulus so spricht? Schon weisst Du, was folgt, und mit welchen Worten sich jener entschuldigt:10 „Wenn ich nun aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht ich es, der das vollbringt, sondern die in mir wohnende Sünde.“ Eine doppelbödige und wirklich schwerwiegende Schlussfolgerung und eine, die, wie ich nicht leugne, gewiss gegen mich gerichtet werden könnte. Doch fehlt jetzt die Zeit, darauf einzugehen. Eine Stelle aber möchte ich Dir angeben, welche Du nachsehen kannst, wenn Du vielleicht ähnliche Sorgen hast. Ich meine Psalm 118. Hier stösst man gleich nach dem Anfang auf diesen apostolischen Knoten, den Augustinus in einer äusserst scharfsinnigen Untersuchung auflöst.11 12. Wir aber fahren mit Einfacherem weiter. Was hat denn gerade Vater Augustinus an jenem Tag seiner Bekehrung und unter seinem heilsamsten, aber schwierigsten Widerstreit seiner Seele getan, als er zu einem besseren Leben hinübergehen wollte und nicht ging? Was für Ängste tobten in ihm? Welche Stacheln trieben ihn vorwärts? Und welch ein unheilvoller Zügel hielt ihn zurück, damit er unterlasse, voranzugehen, obwohl er dafür keiner grossen Anstalten bedurfte, sondern bloss seines Willens, gemäss dem vortrefflichen Spottvers des Horaz:12 „Streng erzieht uns die Trägheit, und wenn wir uns Schiff und Quadriga Wünschen, um glücklich zu sein, dann sagt sie: Du suchst, was ja hier ist.13 13. Willkommen ist, der Bedrängnis dieses grossen Menschen und seines Kampfes im Innersten seiner Seele zu gedenken, wurde doch eben hierdurch, wie es seiner würdig war, sein schlechterer Teil endlich besiegt und seinem besseren Teil der herrlichste und ewige Triumph gestattet. Und ich gedenke dessen um so lieber, als sich die Geschichte in eben der Stadt zutrug, wo ich jetzt etwas gewissermassen Ähnliches erlebe. 14. Die Basilica des Ambrosius steht allein zwischen meinem Wohnhaus und der sehr kleinen Kapelle, wo Augustinus – endlich Sieger in jenem geheimen Streit seiner widerstrebenden Neigungen – durch diesen Ambrosius in der

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heiligen Taufe reingewaschen und von der Unruhe seines bisherigen Lebens befreit wurde. Nach dieser Handlung haben beide, nämlich jener alte Freund Christi und der neue, sogleich, in grosser und heiliger Freude aufjubelnd, Gott gemeinsam und wechselweise jenen hochberühmte Hymnus des Lobens und Bekennens gesungen, von dem man heute weiss, dass er,14 der sich rasch über alle Kirchen verbreitete, eben hier seinen Ursprung nahm. 15. Und nun möchte ich mit Verlaub eben die Worte wiedergeben, die Augustinus15 in seinen Bekenntnissen selber verwendet hat. Denn ich nehme an, es sei kaum möglich, den gewaltigen geistigen Sturm einer solchen Seele mit anderen Worten wirkungsvoller zu schildern. Er sagt: „Ich tat unter diesem mächtigen Wogen meiner Unentschlossenheit gar manches mit meinem Leib, was die Menschen bisweilen wollten, aber nicht vermögen, weil sie entweder die nötigen Glieder überhaupt nicht haben oder weil diese mit Ketten gefesselt oder in Mattigkeit erschlafft oder aus einem anderen Grund nicht zu gebrauchen sind. Raufte ich die Haare, schlug ich an die Stirne, umschlang ich mit gefalteten Händen die Knie, dann handelte ich so, weil ich es wollte. Ich konnte auch wollen, ohne es tun zu können, wenn nämlich die sonst beweglichen Glieder ihren Dienst versagten. 16. Damals tat ich also vieles, wobei das Wollen nicht das selbe war wie das Können, und ich tat nicht das, was mir in meiner unvergleichlichen Erregung weit besser gefallen hätte, nämlich dies, dass ich sogleich, wie ich wollte, auch gekonnt hätte, weil ich, wie ich wollte, auch wirklich gewollt hätte.16 Denn dann wäre die Fähigkeit das selbe wie der Wille und eben das Wollen auch schon das Tun gewesen. Aber noch geschah es nicht; und leichter gehorchte der Leib dem dürftigsten Willen des Geistes, um die Glieder nach dessen Wink zu bewegen, als die Seele sich selber folgte, um ihren starken Willen in einem einzigen Willen zu vollenden. 17. Woher diese Ungeheuerlichkeit und wozu ? Mir leuchte Deine Barmherzigkeit,17 dann will ich prüfen, ob vielleicht die Ausflüchte für menschliche Verschuldung und hoffnungslose Zerknirschung der Söhne Adams mir zu antworten wissen. Woher diese Ungeheuerlichkeit und wozu? Die Seele befiehlt dem Leib, und er gehorcht ohne Zögern; die Seele befiehlt sich selber; sie widersteht. Die Seele befiehlt der Hand sich zu bewegen, und das geschieht mit solcher Leichtigkeit, dass der Gehorsam vom Befehl sich kaum unterscheidet; wobei die Seele die Seele ist, die Hand aber Leib ist. Es befiehlt die Seele, dass die Seele wolle; und sie ist keine andere als sie selber und tut es dennoch nicht. Woher diese Ungeheuerlichkeit und wozu? Sie befiehlt, sage ich, dass sie wolle, und befehlen würde sie nicht, wenn sie nicht wollte; doch nicht geschieht, was sie befiehlt.“ 18. Das ist Augustins Erstaunen über sich selber. Und wenn das ihm zustossen konnte, wie wäre es erstaunlich an mir? Aber noch immer, wie Du siehst, suche ich Ausflüchte und weiche ich aus; noch immer wird Deine Bestürzung und die jenes Freundes und die meine – denn glaube nicht, dass mich meine Irrtümer und das

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Ungeheuerliche meiner Seele, die das eine will und das andere tut, weniger erstaunen als irgend einen –, noch immer wird die Bestürzung nicht mit einer kurzen und klaren Antwort überwunden. 19. Woher kommt es also, dass Paulus, dass Augustinus, dass unzählbare andere und – um unsere persönliche Frage zu verfolgen – wie kommt es, dass jener Freund, dass ich, dass vielleicht auch Du das eine wollen und das andere tun, obwohl uns zweifellos niemand dazu antreibt? Darüber spricht Paulus, wenn auch, wie gesagt, etwas allzu unklar. Und doch ist gerade die Einfachheit eine Freundin der Wahrheit wie auch der gewöhnlichen Redensart. Deshalb wollen wir nochmals Augustinus anhören und vernehmen, wie er jenes Unbegreifliche seines Wesens am Ende erläutert. 20. Er sagt: „Aber nicht voll und ganz will die Seele, und deswegen befiehlt sie auch nicht voll und ganz. Denn sie befiehlt bloss in dem Mass, in dem sie will. Und im selben Mass geschieht nicht, was sie befiehlt, in welchem sie nicht will. Denn der Wille befiehlt, dass der Wille geschehe, und zwar nicht ein anderer sei, sondern er selber. Doch befiehlt er nicht als ganzer, und somit ist er nicht, was er befiehlt. Denn wenn er voll und ganz wäre, würde er nicht befehlen, zu sein, denn er wäre es dann bereits. Das ist also keine Ungeheuerlichkeit, teilweise zu wollen und teilweise nicht zu wollen, sondern das ist eine Krankheit der Seele, dass sie nicht als ganze sich erhebt, sondern teils vom Willen gehoben und teils von der Gewohnheit gedrückt wird. Es gibt eben zwei verschiedene Willen, und zwar deshalb, weil einer von ihnen nicht voll und ganz ist; das heisst, weil das, was dem einen fehlt, im andern besteht. 21. Das also ist die nackte und reine Wahrheit, Freund: Wir wollen alle glücklich sein, und das können wir unmöglich nicht wollen; denn das ist ein bei der Geburt uns eingepflanzter, unausrottbarer Wille. Wir wollen, so sage ich, alle glücklich sein; aber wir tun doch nicht alle, was uns glücklich macht, vielmehr wollen nur wenige diesen einzigen und schmalen Grat, auf dem man dem Glück entgegengeht, weiterschreiten, und diese wenigen wollen das nicht einmal voll und ganz, weit eher denken sie, zu wollen, als dass sie wollen. Daher diese verhängnisvolle und stumpfe Verworrenheit jener Seelen, von denen wir schon manches gesagt haben, dass sie das eine tun, während sie das andere zu wollen scheinen. Wenn sie aber wirklich wollten, ja dann würden sie das Gewollte tun und nicht das andere, das sie eben tun. 22. Wir können also, wenn wir wollen, auf das Glück hingehen, das heisst, wir können die Wege beschreiten, von denen wir wissen, dass sie uns zur wahren Seligkeit und geistigen Freiheit geleiten; allerdings nur, wenn wir wahrhaftig, wenn wir vollkommen, wenn wir beständig, wenn wir in gutem Glauben wollen. Übrigens wird das Glück, so zu wollen, nicht sogleich von unserer Entscheidung abhangen.18 Denn haben wir eine freie Entschlusskraft zwar empfangen, so haben wir die Freiheit doch durch die Last unserer Sünden niedergehalten und mit den Ketten

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schlechter Gewohnheit in einem Masse gefesselt, dass sie ohne die unmittelbarste Nähe göttlicher Hilfe sich kaum zum Ehrenhaften19 erhebt. Zu vieles hält uns zurück und verhindert es. 23. Denn gemäss den Ausführungen Augustins20 an der genannten Stelle „war nicht allein das Gehen, sondern auch das Ankommen nichts anderes als ein Gehen-Wollen.“ Und er fährt fort: „Aber gemeint ist ein kräftiges und unversehrtes Wollen, und nicht ein halbwegs wundes, das sich schwankend dahin und dorthin wendet, so dass sein aufstrebender Teil mit seinem sinkenden Teil beständig im Kampf liegt.“ Dies alles haben nun eben in fast derselben Bedrängnis auch die genannten göttlichen und gewaltig grossen Seelen empfunden! Und es ist das, was Ihr, so viele Ihr immer sein mögt, die Ihr Euch in Freundschaft um mich sorgt und ängstigt, in der Schwierigkeit meiner gegenwärtigen Lage als Antwort empfangen sollt! 24. Dies eine vor allem bedrückt mich gewaltig: dass ich nicht vollständig will, was ich teilweise will, und was ich, wenn da keine Täuschung besteht, vollständig zu wollen gewillt bin. Ich will, so sage ich; und diesen Willen auszusprechen vor Christi Ohr, das fürchte ich nicht. Doch nur richtig ist, ich gebe es zu, wenn ich das unrichtig Erstrebte nicht als Süsse empfinde, sondern als Bitterkeit. Zu Ruhe und Musse zu gelangen, hindert mich übrigens auch das Gewicht meines Ansehens. Ob dieses berechtigt sei oder nicht, tut nichts zur Sache, sofern es, ob wahr oder falsch, das selbe bewirkt. Sonderbar, das frühzeitig – um nicht zu sagen: vorzeitig – erreichte hohe Ansehen schafft ein Vorurteil, und die hohe Bedeutung des falschen Titels verzögert die Vermehrung des wahren Ruhmes.21 Hätte ich nicht vor der Zeit erlangt, was ich nicht verdiente, wäre mir vielleicht möglich gewesen, zur rechten Zeit zu verdienen, was ich wünschte. 25. Doch es lässt sich nicht ändern, und deswegen verursacht mir alles Verworrenheit und Ruhelosigkeit. Doch lassen wir es gut sein. Ich erleide nichts Neuartiges. Oft werden hoch gepriesene Seen durch Fischernetze, oft berühmte Wildnisse durch Hundegebell in Aufruhr versetzt. Oh glücklich der Mensch, wenn es ihn irgendwo gäbe, dem es gelänge, unter ehrenvollen Studien sich versteckt zu halten und dem Lärm der grossen Menge und den Umtrieben menschlicher Neugier zu entgehen. Wer so im Verborgenen bliebe, würde daraus herrlicher hervorgehen und dann so recht zu leben beginnen, wenn er zu sterben schiene. 26. Mir hat vielleicht eine Schuld, vielleicht ein Schicksal ein liebes Versteck vorenthalten. Bis heute hat mein Ansehen, allzu geschwätzig und lügenhaft, auf einer oft versuchten Flucht mich jedesmal verraten. So kommt es, dass ich, obwohl von früher Jugend auf ein grosser Liebhaber der Einsamkeit und der Wälder, jetzt in höherem Alter unter Städten und verhassten Menschenmengen leide, was mir schlecht bekommt. 27. Und oft fällt mir ein Wort des göttlichen Vespasian22 ein; denn als ihn am Tag seines Triumphes ob der Verspätung pomphafter Aufzüge und

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ob des Menschenzulaufs der Ekel übermannte, soll er gesagt haben, er verdiene diese Strafe; denn nach solcher Ehrung auszuschauen, deren er so unwürdig sei wie seine Vorfahren, das wirke, gerade weil es spät geschehe, nur um so verächtlicher. Vielsagend war das und bescheiden! Mich erleichtert einzig die Entschuldigung, dass ich zwar, wie ich nicht leugne, den wahren Ruhm begehrt habe, dagegen aber, so weit ich mich erinnere, niemals einen öffentlichen Pomp, der mich belastet hätte.23 28. Soweit bin ich im Eifer des Gesprächs abgeschweift. Nun sei der Rede ein Ende gesetzt. Merke Dir: Obwohl mir aus den einen Mühen andere und unter diesen andern Mühen täglich neue Ursachen und Stoffe zu Mühen hervorwachsen, würde ich dennoch selbst in Ketten, sofern das Los sie erforderte, an Freiheit denken, in den Städten ans Landleben, unter der Anstrengung an Ruhe und schliesslich, um ein viel zitiertes Wort meines Africanus24 umzukehren, unter Geschäften an Musse. Vorläufig wisse, dass ich dank einer gewissen Technik oder dank meiner Natur in einer anhaltenden und tüchtigen Betrachtung das entwerte, was ich nicht erreichen, und das versüsse, was ich nicht vermeiden kann. Vergiss uns nicht und lebe wohl! Mailand, am 1. Januar (1354).25

Anmerkungen 1 Der Adressat, Petrarca seit langem bekannt, war Kanzler der Gonzaga von Mantua. Petrarca begegnete ihm nicht allein in Italien, sondern auch in Avignon. Vgl. die anderen Familiares, die Petrarca an ihn richtete, dazu Var. 24 bei Fracassetti, Bd. 3,362 ff. 2 Herkunft des Spruchs unbekannt. 3 Diesen Titel zitierte Petrarca schon in Fam. 17,4,13. 4 Das muss Sokrates in Avignon sein. Der Hinweis Petrarcas weiter unten in Abschnitt 8, dass zwischen ihm und dem Freund die Geistesverwandtschaft gross sei, obwohl jener aus einer fremden Gegend stamme, erinnert an Fam. 9,2,7 f., wo eben das selbe von Sokrates gesagt wird. 5 Das heisst: die der Kurie in Avignon. 6 Davon spricht Fam. 17,6 mit ähnlichen Worten; auch spätere Briefe melden vom besonders harten Winter, so Fam. 19,2 und 19,3 von 1354/1355. Alpenüberquerungen der beiden Freunde erwähnt Fam. 11,9,2. 7 Macr. Saturn. 2,7,13. 8 Das heisst: in Avignon ankomme, wohin Petrarca auf Wunsch von Giovanni Visconti gehen sollte. 9 Rom. 7,19. 10 Rom. 7,20. 11 Vgl. Augustinus In Psalm. 118,2,3. Lateinisch: nodus apostolicus…disputatione resolvitur. 12 Epist. 1,11,28–29. 13 Navibus atque quadrigis ist bei Horaz sprichwörtlich gemeint: zu Wasser und zu Land, überall. 14 Gemeint ist das Te Deum laudamus. Ambrosius bleibt vor allem auch als Hymnendichter berühmt 15 Conf. 8,8,20. 16 Lateinisch: placebat, et mox ut vellem possem, quia mox ut vellem utique vellem.

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Anrede Augustins an Gott. Hinweis auf das Problem des freien Willens. Das honestum (im Gegensatz zum utile), letztes Ziel der Menschen, ist hier gemeint. Conf. 8,8,19. Eine Klage über den eigenen (vorzeitigen) Ruhm äussert Petrarca z. B. auch Fam. 13,7,16; 19,5,7; 19,16,12. Suet. Vesp. 12. Gemeint ist der Triumph Vespasians mit seinem Sohn Titus 73 nach der Unterwerfung Jerusalems 70 n. Chr. Die Dichterkrönung, mit grosser Feierlichkeit verbunden, hat er immerhin freudig genossen; vgl. Fam. 4,6 und 4,7. Bei Cicero, De off. 3,1,1 steht: „während der Musse an Geschäfte denken“. Vgl. Wilkins, Eight years 47–48 und 49. Zu denken hat man an gewisse Briefe Sine nomine, die Petrarca um die selbe Zeit verfasste.

Fam. 18,1, an Karl IV.1 Antwort auf einen Brief Karls, in dem die Verzögerung der Italienfahrt begründet wurde. 1. Hinweis auf die verspätete Ankunft des kaiserlichen Schreibens. 3. Petrarca erhalte Lob auf seine Treue, aber sein Rat werde nicht angenommen. 6. Er mahne zu Raschheit, nicht zu überstürzter, doch zu besonnener. 11. Die Lage in Italien sei Karl günstig. Sein Hinweis auf ruhigere Verhältnisse in der Antike sei unrichtig. 17. Ein Umschwung zum Guten sei für den Mutigen noch immer erreichbar. 21. Das Imperium sei in der Tat „ein wildes Tier“; ein Kaiser aber vermöge dieses Tier zu bändigen. 26. Das Eisen sei erst als das letzte aller Heilmittel einzusetzen, doch habe der Kaiser alle anderen schon erfolglos angewandt. 30. Beispiele für kühnes Handeln in der Antike. 36. Missstände bedeuteten eine Aufforderung an die Macht des Kaisers. 37. Italien habe schon immer unter Kriegen und Aufständen gelitten, und immer sei Handeln nötig gewesen. 45. Mangel an Geld und Gefolgschaft könne im Krieg behoben werden. Am 23. November (1353).

1. Dass Deine kaiserlichen Lettern erst ungefähr drei Jahre, nachdem Du sie abgesandt, bei mir anlangten, wird Dich wundern.2 So aber ist es. Also sind schon nicht nur für Dich und Deine Legionen, sondern auch für Deine Boten und Briefe, Cäsar, die Alpen unüberwindbar! 2. Ich aber, wie heftig ich das bedaure, freue mich immerhin und gratuliere mir heimlich – so gestehe ich –, dass ich dazu nicht schweige. Gerufen habe ich, wenn zwar vergeblich, und für zwei Briefe kein Gehör gefunden. War ihr Stil für Dein Ohr vielleicht zu ungepflegt, so war doch wirklich ihr Inhalt aufrichtig und echt des Schreibenden Treue, überdies – wie man im Römerreich ringsum bestätigen wird – für die Ausführung des Vorhabens der Augenblick denkbar günstig. Ich rufe auch jetzt, und ob es für Dich zwecklos oder sinnvoll ist, wirst eben Du entscheiden. Für mich jedenfalls wird nicht zwecklos sein, was immer ich redlich vollbringe. Denn wenn es anderen nicht nützlich ist, so nützt doch sicher mir, meiner Aufgabe genügt und meine Pflicht erfüllt zu haben. 3. Und persönlich habe ich für meine Anhänglichkeit als unschätzbare und als grösste aller erreichbaren Belohnungen das Zeugnis Deiner Majestät empfangen, überhäuft sie doch meine Treue mit vielen Lobpreisungen. Meinen Rat allerdings beachtet sie nicht. Lieber will ich mir Treue ohne Klugheit als Klugheit ohne Treue bewahren. Solange Dir meine Treue und meine Ergebenheit genehm sind, werde ich wenig nach einer Auszeichnung für Sachverstand jagen, aber mit Gleichmut hinnehmen, ob mein Ratschlag verworfen oder zurückgesetzt werde. Ja ich werde mich sogar freuen und mit gutem Recht frohlocken, dass Du nicht allein mir, sondern den Sterblichen insgemein wie durch die Erhabenheit der Reichsgewalt, so auch durch die Lebhaftigkeit Deiner Einsicht überlegen bist. 5. Zugeredet habe ich Dir und geglaubt, auch eingeredet zu haben, dass Raschheit Deinen Vorhaben günstig sei. So nämlich dünkte mir, Dir jedoch anders. Du

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bist’s, der die Zügel auf dem Festland, Du, der das Steuer auf dem Meer beherrschst. Auf Deinen Entscheid wird alles gegründet sein. Ich aber möchte als redlicher Sprecher gelten; das ist mir genug. Klugheit mag man von Verkündern der Klugheit verlangen. Wird mir aber nicht verwehrt, mein Wort zu erläutern, so habe ich Dir zu raschem Handeln geraten, nämlich um Trägheit zu verscheuchen, nicht aber, um Dich in deren äusserstes Gegenteil zu drängen. 6. Ich wusste ja: Wenn Überstürzung bei allen Geschäften verächtlich ist, dann bei der Ausübung der höchsten Befehlsgewalt am weitaus verächtlichsten. Angeraten also habe ich nicht überstürzte Raschheit, sondern besonnene. „Besonnen sei Eure Flucht“, sagt Maro,3 und diese Stelle erläutert Macrobius4 mit den Worten: „Unvereinbar erscheint uns die Flucht mit der Besonnenheit.“ Und kurz darauf: „Besonnen, das ist weder zu früh noch zu spät, sondern etwas in der Mitte und etwas Gemässigtes. 7. Diese Auffassung beherzigend mahnte Caesar Augustus,5 man möge zur Erledigung einer Sache beides gebrauchen: die Raschheit des Eifers und die Bedächtigkeit der Sorgfalt, aus welchen zwei Gegensätzen die Besonnenheit entspringe.“ Viel Ähnliches steht noch da. Doch ich kehre zum Thema zurück. 8. Wenn Dir also, Cäsar, dieser Ratschlag missfällt, so gefalle Dir meine Treue, wie sie ja tut. Was sonst glaubst Du von mir noch zu hören? Wirklich, mir fehlt ein anderer Ratschlag. Doch möchte ich wünschen, alles, was immer Du entscheidest, werde Gott der Allmächtige begünstigen, und er werde dafür sorgen, dass auch Dein Zögern der Welt zum Nutzen und Dir zur Ehre sei. Und er werde, wie der Psalmist6 sagt, „Dir lohnen gemäss Deiner Gesinnung und all Dein Vorhaben gutheissen.“ 9. Weil aber meine Aufgabe solange unerfüllt bleibt, bis das vom Verstand Erzeugte durch die Sprache hervorgebracht wurde, will ich jetzt, Cäsar, Dein Schreiben so beantworten, dass Du erkennst, es sei nicht so sehr die Beweiskraft Deines Briefes als vielmehr die Majestät Deines Namens, der ich mich beugte. Welcher vernünftige Mensch würde denn wagen, anders zu urteilen als der Cäsar, zumal in Fragen der Herrschaft? 10. Wenn von Dichtung oder ganz allgemein von Literatur die Rede wäre, nähme ich mir vielleicht die selbe Freiheit wie der Dichter Accius,7 von dem bekannt ist, dass er vor Iulius Caesar, wenn dieser eine Sitzung der Dichter besuchte, sich nicht zu erheben pflegte,8 dies aber nicht aus Verachtung gegen den Fürsten, sondern im Vertrauen auf seine eigene Leistung. Jetzt aber, wo es sich um die Herrschaft handelt, wer wollte sich da nicht vor Dir erheben, und wer würde sich nicht beugen, ausser ein Kopfloser, der aller Dinge vergessen hat? Ich spreche also nicht, um Dich zu widerlegen, sondern um mich im Fechten zu üben, nicht um zu widerstehen, sondern um Dir mein Innerstes aufzudecken und alles zu entblössen, was immer mein Herz in seinen Winkeln versteckt hält. 11. Zuerst bedeckst Du Deine Bedächtigkeit mit dem Schutzschild „Wandel der Zeiten,“9 und verstehst diesen mit mancherlei Worten so kräftig zu betonen, dass ich viel eher die Begabung des Diktierenden als die Gesinnung des Befehlshabers

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zu bewundern und zu loben gezwungen bin. Was gäbe es heute, was es früher nicht schon gegeben hat? Nein, umgekehrt, wann haben wir denn gelitten, was vergleichbar wäre mit den Mühen und Gefahren unserer Väter, als Brennus, als Pyrrhos und Hannibal Italien verwüsteten?10 Wie sähe ein Vergleich aus? Dass uns jede Wunde für tödlich gilt, kommt nicht von der Natur der Sache, sondern von unserer Weichlichkeit. Was unsere Ahnen belachten, macht uns trauern; und bei jeder auftauchenden Schwierigkeit erschrecken wir und erstarren, derweil wir so ungemein prompt sind im Zusammenraffen von Ausflüchten, dass kein Zeitalter und kein Volk uns darin gleich kommt. 13. „Einst“, so sagst Du, „war das römische Gemeinwesen reich.“ Was, ich bitte, hat es reich gemacht, wenn nicht die Mannhaftigkeit seiner Bürger, ihre Liebe zur Mässigkeit, ihre Pflege der Gerechtigkeit und ihre Kriegszucht? Was denn hältst Du für grösser: Unter so vielen unbezähmten Stämmen, unter so vielen widerstrebenden Völkern in Wäldern und auf Hügeln voll Dorngestrüpp ein zu jener Zeit noch unbekanntes Imperium und einen unvertrauten Namen zu errichten oder ein in seinen Fundamenten noch bestehendes, dessen Name in aller Welt noch verehrt wird (obwohl es altersschwach zusammensank) zu erneuern? Wenn mir also jemand den „Wandel“ entgegenhält, will ich nicht darauf hören, oder wenn ich darauf höre, will ich lachen.14. Glaube mir, Cäsar, die Welt ist die selbe, die sie war: Sich gleich blieb die Sonne, sich gleich blieben die Elemente, einzig die Tüchtigkeit ist geschwunden. Einige Städte freilich und einige von Menschenhand errichtete Bauwerke wurden vergrössert, andere verkleinert, und wieder andere sind völlig zerfallen, einige zu unserer Zeit neu entstanden. Von Alters her folgen sich die Wechsel menschlicher Zustände. Was gewinnst Du daraus? 15. Und wiederum glaube mir, bitte: Wenn jenes Rom, von welchem Du Deinen Titel ableitest, und wenn jener Cäsar, dessen Name und – so pflegten wir zu hoffen – dessen Gesinnung Dir eigen sind, auch heute noch lebten, sie würden den Hauptsitz der Welt und den Höhepunkt der Herrschaft viel rascher als damals erreichen. Damals war der Widerstand mächtig, die Gefahr für die Unseren drückend, auch gewaltig die Anstrengung. Nun aber ist der Weg eben und leicht, und nur der Benützer des Weges bleibt aus. Luxus und Trägheit herrschen weit umher; die Feigheit hat den Erdkreis erobert; doch wird sie einem bewaffneten Cäsar rasch weichen, ja sogar Deine Sache zu fördern bereit sein. 16. Würde nicht schon Dein blosser Titel – unterstützt von einigen Guten und Freunden der Tapferkeit und des Imperiums – jedes Treffen mit dem trägen Wohlleben und dem waffenlosen Hochmut mit Leichtigkeit bestehen? Soll ich nicht nur behaupten, sondern auch beweisen, dass es ist, wie ich sage? So höre! 17. Eben erst hat ein Mann aus dem einfachen Volk sein Haupt erhoben,11 nicht etwa ein römischer König, nicht ein Konsul, nicht ein Patrizier, nein, ein kaum bekannter römischer Bürger, der sich durch keinerlei Titel seiner Angehöri-

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gen, durch keinerlei Ahnenreihen, ja bis dahin nicht einmal durch eigene Grosstaten auszeichnete. Er versicherte jedoch, er sei der ‚Erretter der römischen Freiheit‘!12 Für einen unbeachteten Mann ein glänzendes Versprechen! Sogleich, das weisst Du,13 hat Tuszien ihm eilfertig seine Hände gereicht und von ihm Befehlsgewalt angenommen. 18. Und bald folgte fast unbemerkt ganz Italien, bald geriet auch Europa, ja der Erdkreis in Bewegung. Wozu viele Worte? Nicht gelesen haben wir das, nein miterlebt. Schon konnte man meinen, Gerechtigkeit und Frieden seien – begleitet von wohltätigem Vertrauen und ruhevoller Sicherheit – zurückgekehrt und endlich auch die Merkmale des goldenen Zeitalters gekommen. 19. Jener aber verdorrte mitten in der Blüte des Erreichten. Weder ihn möchte ich beschuldigen noch einen andern. Weder verurteile ich ihn, noch spreche ich ihn frei; ich bin nicht Richter. Was ich aber meine, das weiss ich. Dabei hatte er bloss den Titel eines Tribuns angenommen, der unter den Würden des Römertums den bescheidensten Klang hat.14 Wenn also die tribunizische Gewalt so Grosses vermochte, was vermöchte da der Titel des Cäsars? Doch wenn Du zögerst, wenn Du zauderst und die Flucht der Zeit, welche ich Dir vor Augen geführt habe,15 nicht beachtest, ist alles aus, das Imperium vernichtet und die Freiheit verloren. 20. Lies das, ich bitte Dich, Cäsar, nicht im Ärger, selbst wenn es vielleicht weniger behagt, als Dir lieb ist. Weisst Du nicht, dass in die Galle, wenn sie überläuft, keine anderen Heilsäfte eindringen als bittere? Ich jedenfalls fürchte mich nicht, Dir die Wahrheit zu sagen, denn ich weiss, Du liebst die Wahrheit und verachtest die Schmeicheleien. Das ist klug, vortrefflich und grossartig! Denn Wolfswurz sind solche für Könige, sind Verspottung der Mächtigen und Tod der Fürsten, Waffen der Lügner. 21. Doch wir wissen nicht, „welch ein Ungetüm das Imperium ist“.16 Das galt Dir ja als neue Deckfarbe für Deine Ausflüchte. Weshalb Du diese Worte dem Augustus in den Mund gelegt hast, möchte ich wissen, denn sie stammen von Tiberius. Mag sein, dass Deine Sorge um gegenwärtige Geschäfte Deine Erinnerung an die Vorzeit vernebelt oder dass Du gemäss einem verbreiteten Wortgebrauch jedweden Imperator ebenso als Cäsar wie als Augustus bezeichnest. 22. Vielleicht aber hast Du es getan, weil Du weisst, dass für dieses Zitat, das Du zu verwenden beschlossen hattest, die Glaubwürdigkeit eines angesehenen Autors erforderlich und Dir der Unterschied zwischen Augustus und Tiberius genau bekannt ist. Der eine war von allen Fürsten der weiseste und beste, der andere schändlich und zügellos, und darum hat einer von ihm gesagt, er sei „ein Lehmklotz, durchtränkt von Blut.“17 Zu welchem Zeitpunkt er jenen Ausspruch verwendete, weisst Du oder kannst es, falls sich unter Deine so vielen wichtigeren Sorgen ein kleines Vergessen einschlich, bei Tranquillus nachlesen. 23. Tiberius hat ihn eben damals verwendet, als Augustus den menschlichen Geschicken schon entzogen war, er dagegen als ganz ungleicher Nachfolger das

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Imperium tatsächlich schon aufs schamloseste erbeutet hatte, während er allerdings mit mehrdeutigen Worten und mancherlei trügerischen Machenschaften dasselbe ablehnte, um sich den falschen Ruhm der Bescheidenheit zu verschaffen. Er tat das übrigens in so auffälliger Art, dass einer den heuchlerischen Zauderer mit sehr geistreichem Witz ins Angesicht verhöhnte, andere Menschen würden, was sie versprechen, später erfüllen, er jedoch erfülle zum voraus, was er später verspreche.18 24. Doch es sei: Das Wort stamme von einem guten Fürsten und es sei nicht unredlich gesagt worden, ja der Urheber sei Augustus! Was hilft das? „Ihr wisst nicht, welch ein Ungetüm das Imperium ist.“ – Doch, wirklich, wir wissen es nur zu gut. Dieses Ungetüm ist ganz gewaltig; doch es lässt sich von kundiger Hand einen Zügel gefallen. Das Ungetüm ist riesig, jedoch lenkbar und nur bei mangelnder Lenkung unbändig. Wage, handle, ergreife die Zügel, besteige den Thron, der Dir zusteht! Fürchtest Du Dich, wird er andere Inhaber finden. 25. Iulius Caesar, dessen Titel, wie ich eben sagte, Du geerbt hast, ritt ein Pferd, das – bei ihm aufgezüchtet – keinen anderen Reiter duldete ausser ihn. Er aber rechnete das zu seinen Wonnen.19 Und Du? Willst Du den Thron, der sich gegen andere Anwärter nicht sperrte, ja der sich einst von recht verschiedenen Fürsten besetzen liess, jetzt aber heftig nach der Besitznahme durch Dich begehrt, als einziger fliehen? 26. Nun ist auch wirklich „alles eher zu versuchen als das Eisen.“ Das ist unter Deinen Entschuldigungen die letzte, wobei ich nicht weiss, ob Dir entfallen ist, dass bei Terenz20 der wichtigtuerische Soldat so gesagt hat: „Alles zuerst mit Beratung versuchen und dann erst mit Waffen, das ist klug.“ Du führst zur Empfehlung des erwähnten Satzes nur an, „die Ärzte hätten das gelehrt und die Cäsaren es beherzigt.“ Gut jedenfalls hast Du ganz Verschiedenes miteinander verbunden! Denn wirklich haben auch die Cäsaren – wie wir hörten – oft den kranken Erdkreis gesund gemacht, doch sind sie jetzt selber krank wie alles übrige, und die kranke Welt entbehrt eines Arztes, und der allgemeine Tod steht vor der Türe. 27. Nun aber sage mir, Cäsar, was unter allem unversucht blieb? Etwa Reden, Bitten, Drohungen, Verlockungen und Rüstungen? Was bleibt denn, ausser Du wirfst Dich den Feinden der Kaisermacht als Flehender zu Füssen? Ist das zu hören schändlich und erbärmlich, so gibt es als letztes Heilmittel für faulende Wunden nur noch das Eisen. 28. Was erwartest Du ausserdem? Dass der Po zur Quelle zurückkehre? Er wird gehen wie gewohnt; und es werden mit dem Fluss die Jahre dahinfliessen; und – was Du nicht zum ersten Mal von mir hörst – es wird die Jugend vom Alter verzehrt werden, darauf das Alter vom Tod. Und Du wirst von hier gar nichts mit Dir nehmen ausser Deine guten oder schlechten Taten, und nichts wirst Du von Deiner Habe zurücklassen als das Gedächtnis an Deinen Namen und ein blutleeres Kör-

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perlein, und auch dieses wird Dir schon nicht mehr gehören, vielmehr der Mutter Erde und den Würmern. Denn solche verschonen die Cäsaren nicht eher als die Plebejer, vielmehr sind sie erst recht bereit, die edleren Leiber zu zernagen. 29. Was aber wird mit all dem übrigen geschehen, das Dein Eigen zu sein scheint? Zweifellos musst Du Deinen Reichtum und das Imperium einem anderen überlassen, und weisst nicht wem.21 Das gehört zum menschlichen Los, dem weder ein Cäsar noch ein römischer Bischof noch irgendein König und überhaupt kein Mensch jemals entgehen kann. Jetzt also – denn es wird Dir nicht zu jeder Zeit vergönnt sein –, eben jetzt sorge Dich darum, wie es sich mit dem verhält, was Dein Eigentum und unwiderruflich das Deine ist: nämlich mit der Seele und dem Ruf. 30. Zwischen Verwegenheit und Bedenklichkeit, ich weiss nicht, was ich wählte. Oft brachte Verwegenheit grösseres Glück, aber mich freuen nicht die Extreme, ich suche die Mitte. Dennoch, ach (möge dieses Wort weder Dich noch andere kränken, die irgendeiner Herrschaft vorstehen oder mit der Ausführung von Geschäften betraut sind), ich fürchte, es sei vollkommen richtig, was ich ständig im Munde führe, dass nämlich die einzelnen Fehler ihre je einzelnen Ausflüchte hegen, einzig die Bedenklichkeit alle. 31. Hätte Scipio Africanus22 sich länger besonnen, wäre Italien, von den Seinen im Stich gelassen, den Afrikanern anheimgefallen. Hätte Scipio Nasica23 sich länger besonnen, wäre die römische Freiheit den dreisten Anstrengungen der Gracchen erlegen. Hätte Claudius Nero – ich sage nicht‚ viele überflüssige, lang dauernde Sitzungen des Senates, sondern – die eine kurze aber für nötig erachtete abgewartet, dann hätte Hasdrubal sich mit seinem Bruder verbunden und das Römertum vernichtet.24 32. Doch was verweile ich bei Männern zweiten Ranges? Selbst Iulius Caesar, den ich immer wieder nenne, hätte als ein Zauderer in der Kürze seiner Amtszeit niemals diesen Riesenbau, den man Imperium nennt und den man kaum zu erhalten vermag, begründet und errichtet. Willst nun aber Du alles überlegen und bei Einzelheiten verweilen, so prophezeie ich Dir, was Dein Gefallen kaum finden kann, was jedoch meine Treue, die mich bindet, Dir schuldet (und wäre ich doch ein falscher Prophet!), dass nämlich die ganze Sache nie ein Ende nehmen und dass ein Hindernis dem anderen folgen wird, weshalb Italien niemals Dich und Du niemals Italien zu sehen bekommst. Dabei weiss ich freilich nicht, wo Du jenseits seiner Grenzen das Haupt des Imperiums suchen könntest. 33. Wenn Du übrigens schreibst, Du habest nicht aus Ehrgeiz nach der Kaisergewalt gegriffen, sondern Du habest nicht ohne Kenntnis der Schwierigkeiten einen göttlichen Auftrag beachtet, so glaube ich das wohl. Denn wie Deine Klugheit so ist mir auch Deine Bescheidenheit bekannt. Doch sieh zu, ob nicht eher dieser Umstand ein erster und grösster Ansporn sein müsste, bauend auf göttliche Hilfe, Dich zu beeilen! Statt dessen hast Du, mit den Grenzen des väterlichen Reiches zufrieden, die Last der kaiserlichen Bürde und Würde gar andern überlassen.

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Doch jener unfehlbare Urheber und Lenker und Kenner aller Dinge hat sie dennoch den vielen Begehrlichen entrissen und auf Deine Schultern gelegt, und Du hast Dich gefügt. 34. Das Imperium auszuschlagen wäre vielleicht Sache der Grossmut gewesen, doch mögen darüber die Gelehrten entscheiden. Sicher wäre ohne Frevel möglich gewesen, es abzulehnen, hingegen das angenommene sich selbst zu überlassen, ist ohne Frevel unmöglich. Gott (was Du Dir nicht verhehlst), Gott, so sage ich – und nicht etwa Deine Anstrengung, und nicht Dein Ehrgeiz – ist Urheber Deiner Herrschaft. Fürchtest Du, unter seiner Leitung vorwärts zu schreiten, wo doch auf sein Gebot hin ein Abraham seinen einzigen Sohn zu schlachten und der Hirte Moses unbegleitet vor dem Antlitz eines stolzen und unerbittlichen Königs25 zu erscheinen nicht fürchteten? 35. Ich weiss, viel Beunruhigendes hast Du vor Dir, und wenn es überwunden ist, wird ständig noch Neues der selben Art vor Dich hintreten. Oder hältst Du für möglich, als Kaiser ein sorgloses Leben zu führen, während selbst ein Hirte in seiner Hütte das nicht tut? Und was ist es, womit Du Dich verteidigst? Ist denn die Zahl politischer Rückschläge in der Welt nicht gleich der Zahl an Hieben gegen Deinen persönlichen Ruf? Und gereichen Dir die Entschuldigungen, die Du aus ihnen gewinnen willst, nicht zu ebenso vielen Anklagen gegen Dich? Wessen Schmach vergrössern denn die Übelstände einer Herrschaft? Doch gewiss einzig die des Herrschers. 36. „Zerstört ist,“ so sagst Du, „die Freiheit des Imperiums.“ Du, der Vater des Imperiums, wirst die zerstörte neu errichten. „Gebeugt haben sich die Lateiner der Knechtschaft.“ Du wirst diese vom Nacken der Deinen abschütteln. „Im Hurenhaus der Habsucht wird die Gerechtigkeit geschändet.“ Du wirst sie ins Innere ihres Heiligtums zurückholen. „Der Friede ist aus den Herzen der Sterblichen gewichen.“ Du wirst ihn auf seinen Thronsitz zurückführen. Dazu bist Du geboren, für diesen Auftrag auserkoren, dass Du die Republik der Missgestalt entledigst und der Welt ihr früheres Antlitz zurückgibst. Dann wirst Du mir als wahrer Cäsar und als wahrer Imperator erscheinen, wenn Du Deinen Auftrag erfüllt hast, denn ohne das wird nicht bloss kein Fürst, sondern auch kein einziger Privatmann mit gutem Recht geachtet. 37. Überdies fügst Du an – man hört es mit Staunen –, dass Italien einstmals von Zersetzung nichts wusste.26 Wann denn, ich bitte Dich, war das? Ich nämlich hätte geglaubt, in den Annalen kaum eine solche Epoche gefunden zu haben oder finden zu können. Ich halte mich bei jener älteren Geschichte der Stadtgründung nicht auf, weder bei dem frühesten vom Brudermord triefenden Mauerwerk,27 noch auch bei jenen mit grauenhafter Schandtat erworbenen Diademen.28 Denn wie oft hat selbst nach der Geburt der Freiheit die erzürnte Plebs von den Vätern sich losgesagt! Das bezeugen der Monte Sacro, der Gianicolo und Aventin.29 38.

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Pyrrhos ist nach Italien herüber gekommen, und zwar um die aufständischen Tarentiner zu unterstützen,30 und zur gleichen Zeit haben sich die Bruttier samt den Lukanern und andern italischen Stämmen losgesagt, und alle mussten mit Krieg bezähmt und gegen ihren Willen zum Treueverhältnis zurückgebracht werden.31 Nachher kam Hannibal; Capua sagte sich los,32 obwohl die Stadt wegen grosser Gunsterweise von seiten der Römer eben diesen verpflichtet, und um genau zu sein, eine Freigelassene des römischen Volkes war, freilich eine untreue, undankbare. Und überhaupt: Wer hat in jener stürmischen Zeit sich denn nicht losgesagt! 39. Überprüfe die Geschichte! Achtzehn Kolonien in ganz Italien wahrten die Treue, und mit ihrer Unterstützung blieb – um Worte des Livius33 zu verwenden – „die Herrschaft des römischen Volkes damals erhalten, und ihnen gehörte der Dank im Senat und im Volk.“ Warum sollte ich die so oft rebellierenden Herniker und die immerfort feindseligen Volsker und Äquer34 erwähnen oder all die häufigen gegen die Latiner geführten Kriege der Römer, die fast als innere zu bezeichnen sind,35 weil diese beiden Stämme gemeinsam einen einzigen Reichskörper zu bilden schienen? Oder all die niedergerissenen Städte und in erster Linie die Mutter der römischen Herrschaft Alba?36 Und wodurch wurde das alles veranlasst, wenn nicht durch die Furcht vor einem Abfall und das Gedächtnis an solchen? 40. Wie oft wurde mit den Sabinern37 ohne Entscheidung gestritten? Wie oft mit Umbrern, Samnitern38, Etruskern, Ligurern, Boern, Galliern, Insubrern da, wo jetzt Mailand und Pavia liegen? Doch was schweife ich in die Ferne? Tivoli, Tuscolo und Preneste,39 gleichsam drei Vorstädte Roms, haben Gründe und Stoff zu Kriegen geliefert, als sie nicht nur aus eigenen Kräften sich empörten, sondern auch ausländischen Feinden Hilfe und Unterschlupf boten! Zu nennen sind zudem das in zehn Jahren nur mit Mühe vernichtete Veio,40 das verbrannte Fidene,41 das unter wunderbarer Rechtswahrung besiegte Faleria,42 das gewaltsam besetzte Neapel,43 das eroberte Brindisi und Corioli,44 Fregelle, Sora,45 Algido, Corniculi, Sutri, Boville, Veroli und Fiesole, von dem meine Vaterstadt46 ihren Namen ableitet. Lästig ist, sage ich, an Allerbedeutendstes auch Geringfügiges zu knüpfen. War aber der schon erstarkten, kraftvollen Stadt nichts mühsam, so war hingegen für das noch zarte, kaum knospende Gemeinwesen kein Stachel etwas Geringes. 42. Füge dazu die lange und aufreibende Belagerung von Syrakus,47 den Untergang dieser herrlichen Stadt, der selbst ihren Feinden Tränen des Mitleids entlockte, weiter die gänzliche Unterwerfung von Fermo, Ascoli und Piceno,48 ferner die der Vestiner, der Marser und Paeligner,49 zudem die während vieler auswärtiger Wirren auch im Innern herrschenden Aufstände,50 den Hochmut des Senats,51 den Wahnwitz der tribunizischen Gewalt,52 und die wilden Tumulte wegen des Agrargesetzes,53 um von andern zu schweigen, die aufzuzählen mein Vermögen übersteigt. 43. Füge dazu die erst nach der Erneuerung der Einherrschaft erfolgten zahllosen Verschwörungen, die vielen, wenn zwar vergeblichen heimtückischen

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Anschläge gegen das Reichsoberhaupt Augustus, um nichts zu sagen von jenen, die dem Gift oder dem Schwertstreich erlagen. Füge dazu die Hungersnot in Perugia,54 die Belagerung von Modena,55 das Versagen der Kolonie Cremona,56 die doch eine der wenigen allergetreusten gewesen, an die ich eben erinnerte. Auf eine allzu lange historische Bahn bin ich losgestürmt. Nun will ich einhalten. 44. Jede Epoche Italiens ist voll von Spaltung und Abfall, so dass einem tapferen und mit der Vergangenheit vertrauten Denken nichts wie ein ungewohnter Schrecken aufstossen könnte. Darum scheint auch nur allzu gerechtfertigt und so ganz aus dem Innersten des Wesens geschöpft zu sein, was Vergil57 gedichtet hat: „…hart von Gewalten bedrängt und von Kriegslärm erschüttert: Das ist Italien…“ So war es am Anfang, so ist es heute, so wird es sein bis ans Ende. 45. Wie grosses Gewicht hat nun aber das Wort: „Die Armut hält zurück“? Was hat Armut mit einem Cäsar gemein? Oder wie ist denn arm, wer andere bereichert? Die Gesinnung ist es, die arm oder reich macht. „Ich bin arm!“ Auch Iulius Caesar war arm vor der Herrschaftsübernahme, und nachher war er nicht reich, denn „niemand hat einen Sieg freigebiger genutzt als er,“ wie Annaeus Seneca sagte,58 „nichts behielt er für sich als die Verfügungsgewalt.“ Zum letzten Mal: „Ich bin arm.“ – Viele hat eben die Armut zum Kämpfen bewogen, viele hat sie ermutigt, vor allem dann, wenn der Widersacher reich war. Zu Reichtum nämlich verhilft den tapferen Helden der Krieg. 46. „Doch es warnt mich die geringe Zahl meiner Leute.“ – Gefolgschaft bringt der Krieg. – „Die öffentliche Meinung schafft Schrecken.“ – Ganz bedeutungslose Dinge erhalten oft grossen Wert, und oft ist ein Gerücht schrecklicher als der Anblick der Wirklichkeit; eine blosse Meinung verändert die Lage nicht. Was Deine eigenen Augen nicht vermögen, das sehen die Augen der Deinen, freilich nicht wegen grösserer Schärfe, aber wegen grösserer Nähe. Vieles ist für Fernstehende schrecklich, wirkt aber auf Näherkommende lachhaft. 47. Sieh da, so vieles habe ich Dir, Cäsar, in drei Briefen geschrieben! Hoffend, Du werdest vielleicht dem dreimaligem Rufe willfahren und – weil es anders nicht möglich ist – meine Gesinnung in diesen Zeilen erkennen. Lieber wäre mir, ich könnte mit bewaffneten Legionen Dir entgegengehen, um Befehle auszuführen. Doch ich tue das einzige, was mir vergönnt ist: Mit Mut und Ermahnung eile ich Dir entgegen. Freilich weiss ich schon kaum mehr, was ich überdies sagen soll, und wenn das Gesagte nicht genügt, finde ich nicht, was ich hätte, um zu genügen. 48. In Dir, Du Hochgesinnter, in Dir Cäsar, sage ich, hat jenes Feuer zu brennen, von dem wir erwarten, es werde uns und der frierenden Gerechtigkeit aufhelfen. Denn sollte es erstickt sein, blasen wir umsonst in die Asche. Von einem schlechten Menschen, der aber in diesem Punkt wahr gesprochen hat, stammt der Ausspruch:59

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„Worte vermehren keine Tugend.“ Die Ermahnung kann solche erwecken, nicht verleihen. Deshalb will ich nichts weiter sagen als das, worauf die Kraft des ganzen Unternehmens sich gründet: Alles bedarf des Rates, Cäsar, nichts aber der Bedächtigkeit. Und es kommt vor, dass nicht lange zu ratschlagen, ratsam ist. Lebe wohl! Am 23. November (1353).60

Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Briefe Petrarcas an Karl von Böhmen, Fam. 10,1 und 12,1. Meine Übersetzung hält sich wie immer an die Briefausgabe Rossi, doch sei ab und zu hingewiesen auf die sehr verdienstvolle Ausgabe lat. Texte mit Anmerkungen von Paul Piur, Briefwechsel mit deutschen Zeitgenossen, in: Vom Mittelalter zur Reformation, Bd. 7, Berlin 1933; auf diese stützt sich der Band Petrarca, Aufrufe 384–389 (lat. und dt). 2 Der Brief Karls an Petrarca ist wohl im Frühling 1351aus Prag abgeschickt worden. Möglicherweise war Cola di Rienzo, Flüchtling in Prag, an seiner Abfassung beteiligt. 3 Verg. Aen. 1,137. 4 Saturn. 6,8,7 ff. 5 Als Eigenname wird Caesar mit ae geschrieben, als Titel mit ä, um Missverständnissen vorzubeugen. 6 Ps. 19,5. 7 Accius, 170–84, berühmt für seine Freiheitsliebe. Seine Werke, vor allem seine Tragödien, wurden allgemein und speziell auch von Cicero sehr geschätzt. Zur Anekdote vgl. Val. Max. 3,7,11 und die folgende Anm. 8 Mit Iulius Caesar war nicht der Staatsmann, sondern Gaius Iulius Caesar Strabon, ein Zeitgenosse von Accius, gemeint. 9 Petrarca bezieht sich im folgenden Text mit Zitaten auf Karls Brief mit den Anfangsworten Laureata tui gratanter. Man findet ihn lateinisch bei Paul Piur, Briefwechsel 12 ff.; auch lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 384 ff. 10 Von den folgenden Zitatnachweisen stammt ein guter Teil von Piur, Briefwechsel zu Fam. 18,1, S. 35 ff. Vgl. zu den von Petrarca oft genannten Namen das Personenreg. 11 Gemeint ist Cola di Rienzo. Wenn die Datierung von Fam. 18,1 auf den 23. November 1353 stimmt, befand sich Cola, um mit dem Segen des Papstes nach Rom zurückzukehren. Karl IV. kannte ihn genau; vgl. oben Anm. 2 und das Personenreg. 12 Ausdruck nach Liv. 2,1,9: vindex libertatis. 13 Karl IV. wurde durch Clemens VI. über die Geschehnisse in Italien informiert; auch gab Cola di Rienzo als Gefangener des Königs in Prag Auskunft über seine Erfolge. Vgl. Karl Burdach/Paul Piur, Briefwechsel des Cola di Rienzo, in: Vom Mittelalter zur Reformation, Bd. 2, Teile 3–5, Berlin 1912.1929. Ein Schreiben des genannten Papstes an Karl findet man lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 156–163. 14 Die Kaiser legten Wert darauf, die tribunicia potestas, die mit der Freiheitsidee verbunden war, lebenslänglich zu besitzen. Aber unter den verschiedenen tribunizischen Amtspersonen verlor der Volkstribun unter den Kaisern allmählich seine Bedeutung. 15 So vor allem in den früheren Briefen Fam. 10,1 und 12,1. 16 Suet. Tib. 24. Sueton wird sogleich mit seinem Namen Tranquillus erwähnt. 17 Suet. Tib. 57. Die moderne Geschichtsforschung hat dieses Urteil zu Gunsten des Kaisers korrigiert; vgl. die Literaturangaben in einem modernen Lexikon der Antike.

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Suet. Tib. 24. Suet. Iul. 61. Eun. 789 (das ist 4,7,19). Karl hatte damals noch keinen Sohn. Gemeint ist Scipio Africanus Maior, der berühmteste Held im 2. Punischen Krieg. Vgl. Liv. 22,53,4 ff. Gemeint sind der Oberpontifex Scipio Nasica und die Ermordung des Tiberius Gracchus 133 v. Chr. Vgl. Cic. Cat. 1,3; Phil. 8,4,13; Tusc. 4,23,51; auch Val. Max. 3,2,17. Der Römer schlug Hasdrubal im 2. Punischen Krieg am Fluss Metaurus in Umbrien 207; vgl. Liv. 27,43. Gemeint ist der Pharao in Exod. 3 ff. Petrarca scheint im Brief Karls secessio gelesen zu haben, doch muss man dort eher successio lesen; vgl. die Anm. bei Rossi. Liv. 1,6 f. Petrarca spricht nicht von der Gründung Roms. Petrarca hält sich nicht bei den römischen Königen auf, sondern wendet sich gleich der Geschichte der Republik zu. Auf den Monte Sacro wanderte die Plebs 494 und 449 aus; vgl. Liv. 3,52. Auf dem Gianicolo wurde 121 Gaius Gracchus ermordet; auch der Aventin war Ort der Zuflucht für die Plebs und für den Gracchen; Liv.2,32,3; 3,52,2 f. Liv. 7,29. Vgl. unten Anm. 38. und das Personenreg. Liv. 28,12; 8,24,2; 22,61,12; 32,1,7; 35,9 ff. Liv. 23,2 ff. Liv. 27,10,9. Liv. 2–9; zu Kämpfen gegen Rom im 5./4. Jh. vgl. Liv. 6,2 ff. etc. Die Herniker und die Volsker siedelten in Latium und Campania, die Äquer zwischen dem Fluss Anio und dem Gebirge Algidus. Endgültig unterworfen wurden die Herniker durch Rom 306, die Äquer 304. Eine ihrer wichtigsten Städte war Bovillae, in der Nachfolge von Alba Longa. Die verschiedenen Städte bildeten einen Latinerbund bis 338 v. Chr. Ein Bündnis mit Rom lösten sie beim Galliereinfall auf. Zu den Städten, welche sich gegen Rom mehrmals erhoben, gehörten vor allem Palestrina (Praeneste), Tivoli (Tibur), Tuscolo (Tusculum).Vgl. Liv. 1–8 passim; vgl. zu Praeneste 6,21 ff.; zu Tibur 7,9,ff; zu Tusculum 6,25 ff. Liv. 1,28 ff. Berühmt ist der Raub der Sabinerinnen, mit dem sich die ersten Römer Gattinnen verschafften. Das Volk bedrohte Rom seit dem 5. Jh.; Angriffe auf Rom machte es ab ca. Mitte 4. Jh. Zur penuria mulierum und dem Beginn der Sabinerkriege vgl. Liv. 1,9 ff. Man zählt 3 Samniterkriege: 343–341, 326–304, 298–290; in die Zwischenzeit fiel der Latinerkrieg 340–338; anschliessend an die Samniterkriege folgte 282–272 der Krieg um Tarent, an dem sich Pyrrhos beteiligte. Niedergemacht wurden die Samniter im Bundesgenossenkrieg durch Sulla 82. Einige der von Petrarca erwähnten Namen verweisen auf Völker, die sich auf der Seite der Samniter an diesen Kriegen beteiligten. Liv. 6,21 ff.; 7,9 ff. Zu den drei Städtenamen vgl. oben Anm. 35. Für die verschiedenen Orte werden hier die Namen auch dann in italienischer Sprache aufgeführt, wenn sie heute nicht mehr bestehen. Bei Veio (dem alten Veii) sollte die zehnjährige Dauer der Eroberung an die Eroberung Troias erinnern. Die Belagerer behalfen sich schliesslich mit der Entwässerung des Albanersees; vgl. Liv. 5,15–22; Flor. 1,6,8 ff. Die Stadt pflegte Waffenbrüderschaft mit Veio seit dem 5. Jh.; vgl. Liv. 4,17; 5,8 ff. Ein verräterischer Schulmeister wurde bestraft, und der Friede mit Rom wurde wiederhergestellt; vgl. Liv. 4,17 ff.; 5,27. Erobert wurde die Stadt 212/13 durch Claudius Metellus; vgl. Liv. 8,22 ff; 22,32; 23,1; Flor. 1,11,6 f.

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44 Die hier genannten Städte wurden mehrfach umkämpft, besonders im Zusammenhang mit dem Krieg um Tarent (vgl. Anm. 35); sie wurden von Rom gewonnen und wieder verloren. Benevent wurde 275 besiegt, Brindisi 267 gewonnen; Corioli in den Albanerbergen gelangte einmal an die Volsker, wurde römisch, kam an die Volsker zurück und liess nach den Kriegen keine Spuren zurück. Vgl. für Brindisi Florus 1,15; Eutrop 2,17; für Corioli Liv. 2,33; 2,39. 45 Sora 345 von Rom erobert; 306 samnitisch, 303 latinische Kolonie; vgl. Liv. 7,28; 9,23. 46 Das ist Florenz. Fiesole gehört zu den Städten, die besonders im Bundesgenossenkrieg 91–82 gewaltig zu leiden hatten; vgl. Liv. 22,3. 47 213–212; vgl. Liv. 24,33 und 25,23. 48 Ascoli, im Piceno gelegen, war Ausgangspunkt eines Aufstandes verschiedener Völkerschaften, wurde mit der genannten Gegend 268 von den Römern unterworfen; vgl. Plin. Nat. 3,111; Florus 1,14. 49 Paeligni und Vestini waren Bergvölker im Hinterland von Ostia, die im 4. Jh. mit Nachbarn gegen Rom kämpften. Das Bergvolk der Marsi, mit Rom verbunden, erhob sich mit den andern und wurde ebenfalls 268 unterworfen; vgl. Liv. 8,29; 9,41; 10,3; Per. 72–76. 50 So z. B. Sklavenaufstände 73–71. 51 So bei den Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebs; vgl. Fam. 11,16. 52 Petrarca unterscheidet nicht zwischen Militärtribunen und Volkstribunen. Sulla schränkte die Macht der letztgenannten wegen ihrer gefährlichen Ansprüche ein. 53 Gemeint ist das Agrargesetz von Tiberius Sempronius Gracchus vom Jahr 133, erneuert durch dessen Bruder Gaius Sempronius 123. 54 Die Hungersnot entstand 41/40 im Kampf gegen L. Antonius; vgl. Liv. Per. 126. 55 Bellum Mutinense gehörte zu den Kämpfen nach Caesars Tod um Vormacht; vgl. Liv. Per. 113; Plin. Nat. 10,110; Florus 2,15. 56 Zu Cremona vgl. Servius (Sergius) ad Verg. Ecl.9,28. Die Stadt war Kolonie seit 41 v. Chr., zerstört 70 n. Chr. 57 Verg. Aen. 4,229 f. 58 Sen. Dial. 3,30,4. 59 Der schlechte Mensch ist Catilina; vgl. Sall. Cat. 58,1. 60 Vgl. Wilkins, Eight years 44–45 mit einem Hinweis auf Bernabò Visconti und die Geburt seines ersten Sohnes, dem Petrarca Pate stand. Davon spricht Metr. 3,29; bei Schönberger 306 ff. Angaben zu Briefen Petrarcas findet man bei Dotti, Vita leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 18,2, an Nikolaos Sygeros1 Dank an den griechischen Prätor Sygeros für die Sendung eines Buches. 1. Der Adressat hat ein Geschenk geschickt. 3. Nicht ein materieller Wert zeichnet es aus, sondern ein geistiger. 5. Einen Homer hat Petrarca empfangen. 7. Der Spender kann dem Empfänger nicht als Griechischlehrer helfen; und einen andern hat Petrarca nicht. 11. Einen Text Platons besass er schon; er hofft jetzt, seine Kenntnisse des Griechischen zu verbessern. 13. Er bittet noch um Hesiod und Euripides. Mailand, am 10. Januar (1354).

1. Eines prächtigen Geistes prächtige Gabe ist das: So muss es sein.2 Die Handlungen der Menschen ahmen ihren Geist nach, und welcher Art einer ist, erkennt man an der Art seiner Taten. Etwas Aussergewöhnliches war von Dir zu erwarten, denn Du bist ein aussergewöhnlicher Mensch und in Deiner ganzen Zielsetzung von der grossen Heerschar unendlich verschieden. Wärst Du einer aus der Menge, hättest Du gehandelt wie die andern, nun aber hast Du wunderbar Deinem Wesen entsprochen und so in einem einzigen Akt beides bekundet: Freundschaft und geistige Überlegenheit. 2. Gesandt hast Du mir von Europas äusserten Enden ein so vortreffliches Geschenk, dass Du kein Dir angemesseneres oder mir erfreulicheres und der Sache nach edleres hättest schicken können. Der mächtige König Antiochos aus Syrien,3 wie einige meinen, oder der König Attalos aus Pergamon, wie Cicero4 behauptet, hat unserem Publius Scipio „grossartige Gaben von Asien bis nach Numantia gesandt,“ die jener berühmteste der Helden nicht verheimlichte, sondern, wie jener sagte, vor den Augen seines Heeres in Empfang nahm.“5 Von seinem Ahnen, jenem älteren Africanus lesen wir, er habe dem König Masinissa ob seiner Verdienste hervorragende Geschenke gemacht, weil er das römische Heer mit nicht geringem Einsatz im Krieg unterstützt hatte.6 3. Ähnlich handelten oft auch andere. Doch ich zähle jetzt nicht einfach öffentliche und private Grosszügigkeit auf, sondern hebe einige Gegenstände hervor, dann wirst Du dank ihrer Erwähnung leicht erraten, was ich anzudeuten wünsche. Einige geben Gold, einige Silber, das heisst einen vielleicht begehrenswerten, aber gewiss höchst gefährlichen Bodensatz irdischer Werte. Sie schenken Strandgut vom Roten Meer oder Erbeutetes aus reicherem Meergewächs,7 nämlich Perlen und Gemmen, selbst solche, die gleich den Kometen oft unheilverkündend und blutrot funkeln. Sie schenken Geschmeide, Gürtel, den Schmuck aus der Hand russiger Werkleute; sie schenken Burgen und Gemäuer, Produkte schmutziger Baumeister. 4. Du aber, Bester der Männer, gibst nichts von dem, was den Reichtum des Schenkenden hervorheben oder die Habsucht des Empfängers aufstacheln könnte. Was also? Eine hocherfreuliche Seltenheit, deren ich wert sein möchte, Du freilich, wie gesagt, in höchstem Masse wert bist. Was also sollte der erfindungsreichste und sprachgewandteste der Männer mir anbieten, wenn nicht eben die Quelle aller Erfindungskraft und Sprachgewandtheit?

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5. Homer hast Du geschenkt! Als „Quell und Ursprung“ alles göttlichen Erfindungsgeistes bezeichnet ihn richtig Ambrosius Macrobius;8 und würden alle von ihm schweigen, bestünde noch immer das Zeugnis der Sache selber. Doch verkündet wird es von allen. Von diesen habe ich absichtlich nur den einen Zeugen angeführt, jenen, von dem ich meine, er sei Dir aus allen Lateinern am besten vertraut. Denn leicht glauben wir den Menschen, die wir lieben. 6. Doch ich kehre zu Homer zurück. Ihn hast Du mir geschenkt, hoch verehrter Freund, eingedenk Deines Versprechens und meines Verlangens. Und was den Wert der Gabe in nicht geringem Masse steigert: Du hast die Dichtung nicht in einer Übersetzung – wie Leitungswasser aus ungestümen Fluten – gereicht, sondern in der griechischen Sprache, wie sie gleich einem sprudelnden Quell rein und unverfälscht und unmittelbar dem göttlichen Genie entsprang. Das herrlichste und – wenn man nach dem wahren Preis der Sache fragt – das unschätzbarste Geschenk besitze ich. Und nichts könnte den Wert noch steigern, würdest Du dem Homer die Gegenwart Deiner Person beifügen, so dass ich, einmal eingetreten durch die engen Pforten der fremden Sprache, unter Deiner Führung glücklich Deine Gabe geniessen und jenes Licht und die gewaltigen Wunderdinge gleichsam betäubt betrachten könnte, von denen Flaccus9 in seinem Gedicht De arte poetica gesagt hat: „Antiphates, Skylla, dann Kyklops neben Charybdis.“10 7. Jetzt aber, ach, was soll ich tun? Du Glücklicher, mit Deiner einzigartigen Kenntnis beider Sprachen lebst viel zu fern von mir! Und unseren Barlaam11 hat der Tod mir geraubt und, um ehrlich zu sein, hatte ich selber schon vorher mich seiner beraubt. Denn besorgt um seine Ehre achtete ich nicht auf meinen Verlust, so dass ich mit der Beförderung seines Aufstiegs zum Episkopat eben meinen Lehrer verlor, unter dem ich mit grosser Hoffnung mich zu exerzieren begonnen hatte. 8. Freilich, sein Verhältnis zu mir war völlig verschieden von dem zwischen Dir und mir. Denn Du könntest mir ja vieles beibringen, ich hingegen, soweit ich sehe, Dir gar nichts, während jener andere gleich zu Beginn seines täglichen Unterrichts mir zwar vieles vermittelte, aber auch seinerseits aus dem Zusammenleben mit mir nicht unbedeutenden, ja oft sogar beträchtlichen Gewinn schöpfte, wie er jedenfalls behauptete, ob aus Höflichkeit oder wahrheitsgemäss, weiss ich nicht. Sicher war er so überreich an griechischer Sprachgewandtheit wie armselig an römischer; und obwohl von grosser geistiger Beweglichkeit, hatte er doch Mühe, was ihn beschäftigte, auch auszudrücken. 9. So kam es, dass ich unter seiner Leitung zaghaft auf sein Gebiet zuging, er indessen hinter mir her auf unserem Gebiet zwar oftmals irrte, dies aber auf recht sicherer Spur. Dabei gestaltete sich unser Verhältnis auch dadurch anders, dass er eine weit grössere Kenntnis der lateinischen Sprache hatte als ich der griechischen. Als ich zu lernen eben erst anfing, war er schon einigermas-

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sen fortgeschritten. Als gebürtiger Italiener hatte er in Griechenland gelebt und konnte selbst in ziemlichem Alter dank persönlicher Beziehung und Lehrtätigkeit recht leicht zu dem ihm früher Vertrauten zurückfinden. 10. Ihn also hat, wie ich soeben geklagt habe, der Tod geraubt, Dich jedoch raubt mir die dem Tod vergleichbare Abwesenheit.12 Und obwohl ich, wo immer Du sein magst, eines so guten Freundes mich freue, wird dennoch Deine lebendige Stimme, sie, die mir meine Lernbegier, eine mich verzehrende, wie ich bekenne, stärken oder auch stillen könnte, mein Ohr nie im mindesten treffen. Somit ist Dein Homer mir gegenüber stumm, wenn nicht eher ich vor ihm taub bin. Allerdings schätze ich mich glücklich, obwohl einzig im Anschauen, und oft drücke ich ihn an mich und sage ihm seufzend: „Oh Du Überragender, wie begierig wollte ich Dich hören: aber das eine Ohr hat mir der Tod und das andere die lästige Entfernung der Länder verstopft.“ 11. Dir aber danke ich für Deine ausserordentliche Grossherzigkeit. Ich hatte zu Hause, es ist merkwürdig, einen aus dem Westen kommenden Platon. Er ist der Fürst der Philosophen, wie Du weisst,13und ich fürchte nicht, dass Du, ein gebildeter Mann, über eine solche Anpreisung Dich empörst, wie gewisse Scholastiker zu tun pflegen. Denn selbst Cicero, auch Seneca, Apuleius, Plotin, dieser bedeutende Platoniker,14 schliesslich Ambrosius und Augustinus würden sich darüber nicht empören. 12. Nun aber hat sich endlich dank Deiner Gabe dem Fürsten der Philosophen der Fürst der Dichter aus Griechenland zugesellt! 12. Und wer würde sich solcher Gäste nicht freuen und rühmen? Ich habe an Werken der beiden alles das, was die Latinität in der Sprache ihrer Väter besitzt. Aber die Griechen in ihrem eigenen Gewand vor mir zu haben, ist für mich, wenn vielleicht nicht nützlich, so doch gewiss beglückend. Und ausserdem lasse ich mir die Hoffnung nicht nehmen, dass ich sogar trotz meinen vielen Jahren die Kenntnis Eurer Literatur vermehren werde, denn dass man selbst im höchsten Alter damit vorankommt, erkennen wir an Cato.15 13. Solltest aber vielleicht Du etwas von mir wünschen, so erwidere mir mein Vertrauen und gebrauche mir gegenüber Dein Recht. Ich, wie Du siehst, gebrauche ja das meine gegenüber Dir. Und weil der Erfolg eines Ansuchens die Kühnheit gebiert, so bitte ich Dich, mir womöglich auch den Hesiod zu schicken und überdies den Euripides. 14. Lebe wohl, Du Hochverehrter, und meinen Namen, der ohne mein eigenes Verdienst und nur dank irgendwelcher Nachsicht der Menschen oder Fortunas im Okzident schon recht bekannt ist, lass bei Gelegenheit am orientalischen Hof, ja auch bei Euren Helden vernehmen. Denn was unser römischer Cäsar sich gefallen lässt, das verachte auch nicht der Kaiser von Konstantinopel.16 Mailand, am 10. Januar (1354).17

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Anmerkungen 1 Nikolaos Sygeros, ein Byzantiner, war im Januar 1348 mit zwei andern byzantinischen Würdenträgern im Auftrag des Kaisers Johannes VI. Kantakuzenos an die Kurie nach Avignon gereist, um dort neue Gespräche über eine Einigung der Kirchen einzuleiten. Er hatte auf dem Weg dorthin in Verona Petrarca kennengelernt und dem Dichter versprochen, ein Manuskript Homer zu senden. Vgl. A. Pertusi, Leonzio Pilato fra Petrarca e Boccaccio, Venedig/Rom 1964, 43–72. 2 Lateinisch: munus, ut decuit, fuit. Die Übersetzung erfordert die Gegenwart. 3 Liv. Per. 57. Zur Zeit, da Scipio in Spanien die Stadt Numantia belagerte, herrschte in Syrien Antiochos VII. Euergetes, † 129. 4 Vgl. Cic. Pro rege Deiot. 7,19,17. Attalos III. wurde König 138. Er machte das römische Reich zum Erben seines Königreichs, wie schon in Fam. 6,8,11 berichtet wurde. Numantia lag im Gebiet des späteren Altkastilien. 5 Das wird lobend hervorgehoben, weil es dem allgemeinen Brauch der Feldherren, die dem Heer keinen Anteil an der Gabe gewährten, widersprach. Vgl. dazu Liv. Per. 57. 6 Ma(s)sinissa, numidischer Fürst, liess sich 204 durch Scipio zum Kampf gegen Syphax und gegen Karthago gewinnen und hatte Anteil an den nachfolgenden Siegen; Sall. Iug. 5,4.; vgl. Personenreg. 7 Im Lateinischen: Alge ditioris exuvias. 8 Macr. Somn. Scip. 2,10,11. Der Adressat scheint mit Macrobius besonders gut vertraut gewesen zu sein. 9 Horaz, Ars 143–145. 10 Antiphates, in der Sagenwelt König der Laistrygonen (später Leontini) im Osten Siziliens, vor dessen Brutalität Odysseus sich und seine Leute nur durch Listen rettete (Odyssee 10,106 ff.). Kyklops: einäugiger Riese, hauste am Aetna (ebenda 9,240). Skylla und Charybdis waren Seeungeheuer in der Meerenge von Messina (ebenda 12,73 ff. 201 ff.) 11 Barlaam. Ein Mönch aus Kalabrien, bedeutender Theologe, hält sich zeitweise in Konstaninopel auf, doziert dort an der Universität und beteiligt sich führend an Glaubensstreitigkeiten. 1339 veranlasst ihn Kaiser Andronikos III., zur Erörterung theologischer Streitfragen nach Avignon zu reisen. In Konstantinopel wird seine Lehre verurteilt, und 1342 bestellt ihn der neue Papst Clemens VI. zum Bischof von Gerace in Kalabrien. Er stirbt 1347/48, und 1351 schliesst ihn eine Synode von Konstantinopel aus ihrer Kirche aus. Vgl. Fam. 24,12,35 und DBI Bd. 6,392 ff. 12 Eine Gleichsetzung, die man auch in Petrarcas Nekrologen findet; vgl. Fam. 2,1,24 und 4,12,17 und 23 13 Dass Petrarca in Vaucluse ein Platon-Manuscript zurückgelassen hatte, erwähnen Sen. 10,2 und Var. 25, Fracassetti Bd. 3,371. Zweifellos besass er eine lateinische Version des Timaeus (Timaios). Vgl. Pierre de Nolhac, Pétrarque et l’humanisme, éd. 2, 1907 vol. 2, 142. Von einem Raubüberfall auf Vaucluse, der sich nicht lange nach Petrarcas Abreise ereignet hatte, wohl Weihnacht 1354 (nicht 1353), berichtet ebenfalls Sen. 10,2; nur dank Vorsichtsmassnahmen durch den Sohn des früheren Wirtschafters Monet wurde die Hinterlassenschaft an Büchern des Dichters (ca. 30) mitsamt den griechischen Werken gerettet. Vgl. Wilkins, Eight years 85.89. 14 Plotin lebte ca. 203–270; vgl. das Personenreg. 15 Cato der Censor ist gemeint; vgl. Cic. De sen. passim. 16 Das ist Kaiser Kantakuzenos, der bis 1357 gegen den Palaiologen Johannes V. an der Macht bleibt. Vgl. Personenreg. 17 Vgl. Wilkins, Eight years 51.

Fam. 18,3, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio)1 Dank für die Zusendung von Augustins Schrift zum Psalter Davids. 1. Petrarca dankt für die Gabe; sie bedeutet ihm so viel wie ein Schiff für eine wogende See. 3. Das Studium des Werks wird die letzten Mussestunden aufschlucken. 6. Ein Wunder, dass der Verfasser zur Niederschrift nicht alle Lebenstage benötigte. 9. Der Band ist auch von grosser Schönheit. 10. Petrarca hat ihn sehnlichst erwartet. (Mailand, am 11. April 1355)

1. Glückselig machst Du mich mit Deiner grossartigen und kostbaren Gabe!2 Gleich werde ich auf den Davidischen Gewässern sicherer schiffen, die Klippen meiden und mich weder durch das Hochwogen der Worte noch durch den Zusammenprall zerbrochener Sätze erschrecken lassen. 2. Ich pflegte mit eigenen Kräften aufs Meer hinaus zu steuern, indem ich, bald mit den Armen um mich schlagend und bald auf ein angeschwemmtes Scheit gestützt3 den erschöpften Geist durch die Wellenberge im Gleichgewicht hielt, wobei ich freilich oft wie Petrus4 schon nah am Ertrinken aufschrie: „Herr, rette mich!“ und mit ihm zusammen, weil Christus den Flehenden die Hand entgegenstreckt, wieder auftauchte. 3. Mitten in solche Brandung hast Du mir ein wunderbar starkes Schiff und einen tüchtigen Schiffspatron, Augustinus mit seiner göttlichen Verstandeskraft, zugesandt. Und dieses gewaltige Werk (üblicherweise dreigeteilt, in gewissen Ausgaben mannigfach unterteilt und in vielen grossen Bänden vorgelegt), habe ich, so wie Du es als ganzes in einem einzigen Band zusammengefasst mir geschickt hast, begeistert und staunend empfangen und mir dabei gesagt: „Fürs Nichtstun gibt’s kein Plätzchen mehr; war mir bis heute ein bisschen Musse geblieben, zehrt dieser sie jetzt auf. Ein wichtiger Gast ist da, zu pflegen mit grossem Aufwand. Ganze Nächte zu schlafen, wird er nicht dulden. Umsonst, meine Augen, werdet Ihr ermatten und zufallen! Wachen ist angesagt und Nachtarbeit. Umsonst denkt Ihr an Ruhe. Anstrengung wird gefordert.“ 5. Wahrhaftig hat keiner meiner Freunde den Band ohne Bewunderung betrachtet. Alle haben einstimmig bezeugt, nie sei ihnen ein Buch von solchem Umfang begegnet (was auch ich beteuere, der ich in solchen Dingen nicht der schlechteste Kenner bin), auch keines von solcher Dichte der Lettern und solcher Überfülle an Inhalt. 6. Ungeheuerlich, sich auszudenken, wie gross dieses Mannes Verstand und wie gross sein Forscherdrang war! Woher dem Heiligen dieses Feuer und diese Schreibwut, woher dem von weltlichen Reizen Verführten diese Kenntnis göttlicher Weisheit oder schliesslich dem Alternden die ausdauernde Anstrengung, dem Bischof die Zeit für Studien, dem Afrikaner die Beherrschung der römischen Sprache zukamen! Obwohl zu seiner Lebenszeit, wie er irgendwo zu verstehen gibt,5 die Afrikaner sich ganz allgemein des Lateins bedienten! Man könnte meinen, ganz

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eigentlich für ihn gelte, was er selber von Marcus Varro in der Nachfolge des Terentianus Maurus gesagt hat:6 „Dieser grösste Gelehrte Varro, der so viel las, dass man sich wundert, woher er die Zeit zum Schreiben nahm, und der so viel schrieb, dass man meint, kaum einer vermöge das alles zu lesen.“ 7. Doch um andere Denkmäler von Augustins Geisteskraft zu übergehen – nämlich die vielen, die ich habe, und die vielen, die mir noch fehlen, oder auch die in seiner Schrift Retractationes 7 von ihm selbst aufgezählten, oder die ebenda übergangenen (von ihm vergessenen oder vernachlässigten oder noch gar nicht verfassten), die zu lesen ein Menschenleben kaum hinreicht –: Wer würde nicht sogar dann, wenn Augustinus nichts anderes getan hätte, die Niederschrift dieses einen Werkes bestaunen?8 8. Ich wüsste kein einziges lateinisches Werk eines einzelnen Autors, das diesem hier an Umfang vergleichbar wäre (ausser vielleicht sein anderes zu den Briefen des Apostels Paulus, das – wenn meine Einschätzung richtig ist und mein Gedächtnis mich nicht täuscht – etwa die selbe Schreibmasse erreicht haben dürfte), und etwa noch das riesige Werk des Titus Livius von der römischen Geschichte,9 das übrigens nicht der eigene Verfasser in sogenannte Dekaden zerrissen hat, sondern die ärgerliche Denkfaulheit seiner Leser.10 9. Das Geschenk Deiner Freundschaft zeichnet sich ausser durch den genannten Umfang auch durch die Schönheit der Gestaltung und die Würde altertümlicher Lettern, weiter durch jede Art massvoller Verzierung aus, weshalb meine Augen, sobald ich sie darauf hefte, so wenig davon loskommen wie durstige Blutegel, bevor sie satt sind.11 So kommt es, dass immer wieder ein Tag ohne Essen und eine Nacht ohne Schlaf vergeht. Und wie sehr meine einzige Freude, die ich jetzt fast ausschliesslich aus der Lektüre von Büchern ziehe, durch Deine Grossherzigkeit sogar gemehrt wurde, könnte dem Volk kaum je begreiflich sein, weil es körperlicher Reize bedarf, um Lust zu empfinden; es fällt aber Dir sehr leicht. Und verwundern wird es Dich nicht, dass ich die Ankunft des Buches aufgeregt und wie von Durst geplagt erwartete. 10. Du weisst ja, dass für eine Begierde sogar das Kürzeste lang und das Rascheste träge ist. Und wenn bei Naso12 ein Liebeskranker gesagt hat: „Sieben Nächte sind’s, mir so lang wie die Frist eines Jahres“, was meinst Du, wie lange da mir die Wartezeit zu dauern schien! Unter dem Warten fragte ich mich, wie der selbe Dichter sich durch den Mund eines andern:13 „Luna verschwand viermal? Oder hat sie sich viermal erneuert?“ Es pflegt eine edle Leidenschaft in ihrem Feuer heiterer zu sein als jene Liebe, doch nicht weniger heiss. 11. Absichtlich aber wurde, so meine ich, nicht etwa von Dir, der beim Verschicken sich grosser Sorgfalt befleissigte, nein viel eher von Fortuna eine Verspätung verursacht; damit wurde meinem Begehren noch ein besonderer Auftrieb und Deinem Geschenk noch ein höherer Anreiz verliehen. Und was eine

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wohlverdiente Danksagung an Dich betrifft, – denn glaube nur ja nicht, die Buchstabenzahl dieser Epistel oder ein einziger Tag könnten ihr Mass angeben! –, so merke Dir, dass sie nicht früher enden wird als meine Lesung und mein Leben. Bleibe gesund und denke an uns! (Mailand, am 11. April 1355)14

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

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Vgl. die andern Schreiben Petrarcas an den selben Adressaten, vor allem Fam. 11,1 mit Anm. 1. Der Titel des Werkes heisst Enarrationes in Psalmos. Lateinisch: poste fortuito subnixus. Mt. 14,30. Vgl. Conf. 1,14. De civ. 6,2. Terentianus war ein afrikanischer Grammatiker im 2./3. Jh. n. Chr. – Varro galt schon seinen Zeitgenossen, so einem Cicero (Ad Att. 13,36,3), als ein Mann von geradezu unbegreiflich grosser Bildung und Schaffenskraft. Vgl. Petrarcas Fam. 24,6 an ihn und das Personenreg. Gemeint ist Augustins Buch der Überprüfungen und Verbesserungen eigener Werke. Das genannte Werk zu den Psalmen ist im Verlauf vieler Jahre entstanden. Vom Geschenk Boccaccios handelt E. G. Billanovich, Nella biblioteca del Petrarca. Il Petrarca, il Boccaccio e le „Enarrationes in Psalmos“ di S. Agostino, in: IMU 1960,16–27. Die Handschrift befindet sich heute in der Bibliothèque Nationale in Paris als Pal. lat. 1989,1–2. Sie trägt den von Petrarca stammenden Vermerk:“Dieses prachtvolle Werk schenkte mir der hervorragende Gelehrte Giovanni Boccaccio, Dichter unserer Zeit; es wurde mir von Florenz nach Mailand gesandt und erreichte mich am 10. April 1355.“ Vgl. Dotti, Vita 308 Anm. und Wilkins, Eight years 93. Liv. Ab urbe condita libri. Vgl. Fam. 24,8 an Livius und die dazu gehörigen Notizen in Überblick. Vgl. Hor. Ars 476. Ov. Her. 17,25. Ebenda 2,5. Zum Datum vgl. oben Anm. 8 Schluss.

Fam. 18,4, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio)1 Dank für die Übersendung von Schriften Varros und Ciceros. 1. Petrarca hat in einem Band vereint kleine Schriften Ciceros und Varros geschenkt erhalten. Boccaccio hat sie selber kopiert. 2. Dass Boccaccio einst als Dichter berühmt werde, ist denkbar. 3. Nicht leicht hätte er ein anderes Paar Autoren von gleicher Bedeutung vereinen können. 4. Nur unter Bedenken wagt Petrarca zu verraten, wen er von den beiden für den Grösseren halte. (Mailand, Anfang Dezember 1355)

1. Meine Feder sehe ich durch Deine Freundesgaben matt gesetzt. Viel früher erlahme ich in Worten des Dankes als Du im Schenken von Dankenswertem. Da habe ich nun wieder einen Band mit ganz hervorragenden und dazu seltenen Werklein von Varro und Cicero empfangen, und nichts mir Lieberes, nichts mir Wünschenswerteres, ja wahrhaftig nichts Erfreulicheres hätte man mir senden können.2 Und erst recht liebenswert wird mir das Buch, weil es von Deiner Hand geschrieben wurde. Das hat Dich in meinen Augen zum Vermittler der beiden gewaltigen Heroen lateinischer Sprache gemacht. 2. Und nicht unpassend ist es, Dich unter die grossen Namen einzufügen, denn „Nicht sei Dir leid, dass oft die Schalmei Dir die Lippen gerieben,“ wie einer3 gesagt hat. Auch wenn Du manche, welche die Antike als die Mutter aller Künste ernährte, bewunderst und dabei Dein gutes Recht gebrauchst, indem Du nach Deiner Wesensart das bewunderst, was die Menge verachtet und verachtest, was jene bewundert, wird es wohl einmal Menschen geben, die Dich bewundern.4 Denn schon jetzt hat man über Dich zu staunen begonnen, und obwohl alle glänzenden Talente, solange sie gegenwärtig sind, Neid und Undank erleiden,5 ist Dir sehr wohl bekannt, wie vieles auch schon den Altvorderen, solange sie lebten, entzogen blieb, was eine spätere Epoche (darin gerechter und weniger verdorben), ihnen ganz allmählich zugestand. 3. Vortrefflich hast Du gehandelt, als Du die beiden Genannten miteinander vereintest, die auch durch ihr Vaterland, ihre Zeit, Begabung, Liebe und Neigungen verbunden waren. Sie liebten sich in gegenseitiger Hochachtung, schrieben sich gegenseitig vieles und einer über den anderen manches. Sie hatten beide die eine und selbe Gesinnung, den selben Lehrer, übten sich in den selben Schulen und verkehrten im selben Gemeinwesen, freilich nicht auf den selben Stufen der Ehrenämter, vielmehr stieg Cicero zu höheren Stufen auf. 4. Was weiter? Gut und einträchtig leben sie jetzt beisammen und, glaube mir, nur wenige ihrer Art hättest Du in allen Jahrhunderten und unter allen Völkern so verbinden können wie diese beiden, den besonders Gelehrten mit dem besonders Beredten. Ich halte mich an ihren Ruf! Denn oh, wenn ich zu reden wagte…! Doch welcher Gott oder welcher

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Mensch hätte mich, ich sage nicht bloss: über bedeutende Parteien6 zum Richter bestellt, sondern ich sage weit mehr: Wer wollte mich, wenn ich zu urteilen wagte, mit geduldigem Ohr auch nur anhören? 5. Weil aber mein Verlangen mich anstachelt, will ich wenigstens Dir allein ins linke Ohr flüstern, was ich meine: Wohl ist jeder der beiden überragend; doch entweder täuschen mich meine Liebe und Vertrautheit, oder dann ist in jeder Hinsicht Cicero grösser.7 – Oh was habe ich geredet? Wohin habe ich mich, ja bis zu welchem Abgrund hab’ ich mich vorgewagt! Doch ich habe geredet und mich vorgewagt! Und wäre ich aus der Gefahr eines Urteilsspruchs bloss nicht in die noch grössere Gefahr einer wahren Dreistigkeit geraten! Lebe wohl! (Mailand, Anfang Dezember 1355)8

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. 2 Boccaccio hat im Jahr 1355 Schriften Ciceros und Varros im Kloster Monte Cassino entdeckt. Hilfreich waren dem Dichter glückliche Umstände: Der Verwandte des Gross-Seneschalls Niccolò Acciaiuoli namens Angelo Acciaiuolo war Abt und damit Bischof von Montecassino, er aber hatte Zanobi da Strada zu seinem Vertreter im Kloster gemacht. Das Kloster selber, das unter dem Erdbeben von 1349 schwer gelitten hatte, stand vor einem Wiederaufbau. 3 Verg. Ecl. 2,32. 4 Vgl. Fam. 18,15, wo Petrarca wegen dieser Worte seinen Freund besänftigen muss. 5 Dass die Gegenwart, das Gegenwärtig-Sein, dem Ansehen der Menschen wie auch berühmten Dingen oft schade, hat Petrarca mehrmals wiederholt; vgl. z. B. Fam. 1,2,13 ff.; 2,14,2,f.; 22,6,1, oft mit dem Trost, dass ein begabter Mensch nach seinem Tod oder dank Abwesenheit an Ansehen gewinne. 6 Gemeint sind Parteien im Gelehrtenstreit zur Frage, welcher der beiden der grössere sei. Vgl. Fam. 24,7,3 ff; 24,9,5. 7 Vgl. das Urteil in Fam. 18,14,8 ff. und 24,9,5 ff. 8 Vgl. Wilkins, Eight years 111.

Fam. 18,5, an den Kartäuser Gherardo1 Oft enthalten die Bücher der Gelehrten mehr Fehler als die anderer Leute. 1. Der Bruder darf nicht hoffen, die übersandte Schrift sei fehlerfrei, weil sie Petrarca gehört habe. Die Liebe verfälscht sein Urteil. 4. Viele Gelehrte vermeiden bescheidene Arbeiten wie Ausstattung und Korrektur der Bücher; um solche bemühen sich oft die weniger Gebildeten. Mit groben Fehlern braucht der Bruder aber nicht zu rechnen. Mailand, am 25. April (1354).

1. Das versprochene Buch der Confessionen Augustins schicke ich Dir mit diesem Schreiben.2 Vielleicht hoffst Du, es sei durchaus fehlerfrei, eben weil es mir gehört hat. Du bist ja, wie ich weiss, überzeugt, ich sei etwas besser als die Menge, doch Dir flüstert solches die ausgezeichnete Überredungskünstlerin Liebe ins Ohr. Denke nicht so, Bruder; täusche Dich bitte nicht und lass Dich nicht durch andere täuschen. Wenn Dir die Liebe das sagt, tut sie es lügnerisch; sagt es ein anderer, kennt er mich nicht; sagst Du es selber, könnt’ ich Dir glauben, sofern Du nicht liebtest. 2. Was also? Geht es um mich, dann glaube nur mir! Ich liebe mich zwar auch, hasse aber doch meinen Unverstand und vermag zwischen Hass und Liebe ein ausgewogenes Urteil zu fällen. Was aber meinst Du, werde ich nun sagen? Dass ich noch immer einer von vielen bin, obwohl ich mit grösster Anstrengung fortwährend versuche, einer unter wenigen zu sein. Wenn das gelingt, ist es gut, und meine Mühe wird belohnt sein. Andernfalls werde ich den grossen Haufen wenigstens in meinem Bemühen und Wollen übersteigen. 3. Nun fragst Du: „Und wann denn versprichst Du Dir, wird es Dir gelingen, wenn es noch jetzt nicht ist, obwohl Du, was immer Du hättest sein müssen, jetzt schon bist?“3 Lieber Bruder, Weisheit und Tugend zu erwerben, ist kein Lebensalter unfähig. Und wann immer es dazu kommt, ist es nicht zu spät, sofern es nur eintrifft. Und von mir jetzt nur soviel! 4. Was soll ich von anderen sagen? Von wahren Gelehrten? Ich meine nicht etwa jene, die voll Nachsicht sich selber betrügen, sondern die mit einem wahrhaftigen und unbestechlichen Urteil. Sie machten zu jeder Zeit eine geringe Schar aus und heute eine allergeringste. Und nicht einmal von ihnen kannst Du erwarten, dass ihre Handschriften immer bis auf Strich und Punkt fehlerfrei seien. Wichtigeres und Löblicheres überlegen sie. Den Kalk löscht nicht der Architekt; er befiehlt, dass es geschehe. Schwerter wetzt nicht der Heerführer, Mast oder Ruder glättet nicht der Schiffspatron, Tafeln schnitt nicht Apelles zurecht, Elfenbein nicht Polykleitos, und auch ein Pheidias4 nicht den Marmor. Ein einfacher Verstand hat die Aufgabe, das Werk vorzubereiten, das ein edler ausführen wird. 5. Ähnlich ist es bei uns: Die einen schaben Pergamente, andere schreiben Bücher, wieder andere korrigieren sie, und nochmals andere – um ein übliches

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Wort zu verwenden – illuminieren sie; andere binden sie und schmücken den Einband. Ein vorzüglicher Geist aber lechzt nach Höherem und fliegt über das Bescheidene hinaus. Daher merke Dir: Wie die Äcker der Reichen, so sind auch die Bücher der Gelehrten oft weniger gepflegt als die der andern. Denn die Begabung gebiert Sicherheit, die Sicherheit Lässigkeit, die Lässigkeit Nichtstun. 6. Gichtkranke pflegen ihren Weg, den sie häufig begehen müssen, in der Furcht vor rascher Verwundung oder in der Erinnerung daran selbst von winzigsten Steinchen zu säubern, während andere mit gesundem Fuss auch kantigste Steine übersehen. Ebenso sorgen Kränkelnde dafür, jede noch so kleine Lucke mit Glas abzudichten, wogegen Gesunde die frische Luft und den Hauch des kalten Nordwinds als angenehmes Schmeicheln empfinden. Ebenso sind Ungebildete, die ein einziger fehlerhafter Strich oder Buchstabe oft für etliche Zeit beunruhigt, auf peinlichst genaue Überprüfung bedacht, damit ihnen Ähnliches nicht noch einmal unterlaufe;5 die Selbstbewussten hingegen und die, welche auf Wichtigeres bedacht sind, übersehen manches. Und all das gilt ganz allgemein. 7. Nun zu diesem Buch. Was Du von ihm erhoffen kannst, das gibt Dir schon sein Äusseres an. Neu ist es und nackt und auch von keines Korrektors Zahn benagt worden. Jener Diener hat es geschrieben, der Dir im vorigen Jahr als mein Begleiter in Deinem Hause begegnet ist,6 ein junger Mann mit tüchtigerem Finger als Verstand. Du wirst dennoch eher eine nachlässige Orthographie als schwerwiegende Mängel entdecken. Und wahrscheinlich triffst Du einiges, woran Dein Verstand sich üben kann, aber nichts, was ihm zusetzt. 8. Lies genau und mach Dir dabei Deine Gedanken. Diese Schrift wird ein glühendes Herz entflammen, da es sogar frierende entzünden könnte. Du wirst sehen, dass unser Augustinus, wie in der Sage von Byblis7 erzählt wird, sich in einen Tränenstrom hingebungsvoller Liebe verwandelt hat. Ihn also beschwöre, so bitte ich, dass er bei unserem gemeinsamen Herrn für mich einstehe. Was sonst noch? Auch Dir werden unter dem Lesen die Tränen fliessen, und lesend wirst Du weinen und weinend Dich freuen und sagen, Du habest in diesen Zeilen eine wahrhaft feurige Zwiesprache und8 „die spitzen Geschosse eines Gewaltigen samt den Kohlen der Untröstlichkeit“ gefunden. Lebe wohl! Mailand, am 25. April, gegen Abend (1354).9

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an Gherardo, den Bruder Petrarcas, besonders Fam. 10,3 Anm. 1. 2 Das genannte Werk wünschte sich der Kartäuser von Petrarca anlässlich von dessen Besuch in der Kartause im April 1353; anwesend war beim Klosterbesuch auch ein Kopist Petrarcas; vgl. Fam. 16,9 und Wilkins, Eight years 63 und 70.

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3 Lateinisch: Et quando, inquis, hoc tibi futurum spondes, si nondum est, cum quidquid esse debueras, iam nunc sis? Möglicherweise müsste die Verneinung stehen: iam non sis. 4 Apelles war Maler im 4. Jh. v. Chr., Polykleitos Erzgiesser und Bildhauer und Pheidias Bildhauer, beide im 5. Jh. v. Chr. Vgl. Personenreg. 5 Vgl. Petrarcas Schreiben an Nelli Fam. 16,14,1 ff. über Flüchtigkeitsfehler. 6 Vgl. Fam. 16,8,10. 7 Byblis stürzte sich wegen ihrer unglücklichen Liebe zu ihrem Bruder über einen Felsen, aus dem hierauf eine Quelle von Tränen entsprang. Vgl. Ov. Metam. 9,451 ff. 8 Ps. 119,4. Die von Petrarca gelesene Version der Vulgata lautet: sagittae potentis acutae cum carbonibus desolatoriis. 9 Die Jahreszahl ergibt sich aus dem Hinweis auf den vergangenen Besuch bei Gherardo; vgl. Anm. 2.

Fam. 18,6, an den Pfarrer Forese Donati1 Über grosse Verschiedenheit des Verhaltens bei Wesen der selben Gattung. 1. Liebenswürdige Vorwürfe des Freundes haben Petrarca gefreut. 2. Über verschiedene Ausdrucksweisen von Gattung zu Gattung staunt man nicht, aber über die Vielfalt in ein und der selben Gattung. 3. Erfahrungen mit einem monströsen Hausgenossen. 6. Oft kann in der Freundschaft ein kleines Vergehen gute Folgen haben, und grösste Not vermag Stummheit zu brechen. Mailand, am 15. März (1354/1355).

1. Deine Vorwürfe, Verehrter, mir eine grössere Labsal als alle Schmeicheleien, hat Deine Feder in ganz auserlesener Weise vor mir ausgebreitet. Wunderbar und unendlich ist die Verschiedenheit der Dinge, aber wahrhaft zum Staunen ist ihr Wechsel, so dass je nach Person etwas Liebenswürdiges nicht selten abstossend und etwas Abstossendes liebenswürdig wird, was uns freilich bei einem Wechsel von Gattungen zu Gattungen nicht erstaunt.2 Wer würde sich denn wundern, dass ein Lamm mild und unschuldig, ein Wolf dagegen reissend und räuberisch, ein Löwe wiederum gewalttätig und unbezähmbar ist? 2. Wenn der Bär, der Eber, Panther oder Tiger nach dem Gebot der Allmutter Natur sich begatten und über ihre Verbindung sich ergötzen, bleibt doch die Weise ihrer Liebkosung immer entsetzlich, und bei all ihrer Freude hat das, was sie ihren Weibchen in die pelzigen Ohren schnauben, etwas gewissermassen Traurig-Mürrisches. Dagegen gibt die Nachtigall, wenn ihr das Nest geraubt wurde und sie doppelt unglücklich ist, süsse und schmelzende Laute von sich, und vom Schwan behauptet man, gerade vor seinem Sterben habe sein Gesang einen wunderbaren Wohlklang. Treten aber solche Verschiedenheiten in der einen und gleichen Gattung auf, betrachten wir es nicht ohne Betroffenheit. 3. Muss sich also nicht jedermann wundern, dass die Schmeicheleien gewisser Menschen lästig und stinkig sind, dagegen die Schimpfereien anderer süsser als der Honig von Hybla?3 Für die beiden Arten gebe ich ein Exempel, ohne lang zu suchen. In meinem Haus habe ich ein altes Männlein, geboren an der äussersten Grenze der bewohnbaren Zone, jenseits welcher keine Menschen mehr siedeln. Er ist ein Mensch mit eines Menschen Seele und Gestalt, hat sonst aber so gar nichts von menschlicher Lebensart, dass er im Verlangen zu schmeicheln wütet wie ein Bär oder etwas Unverständliches wie ein Eber knirschend hervorstösst. Überhaupt hat er so scheussliche, so gänzlich barbarische Gewohnheiten, dass er zum Beispiel gleichsam ableckend zubeisst, und dass man annehmen könnte, für ihn im besonderen gelte nicht etwa das Wort des hervorragenden Propheten:4 „Wie Tau sinkt Deine Rede herab,“ sondern eben das andere des Komikers:5 „Er stottert Steine.“ Steine sage ich, echte und vollkommen harte, mit denen er sein Gehirn unglaublich erschüttert und zerstösst, ja den ganzen Himmel wie mit greulichem Donnern verfinstert.

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5. Ihm gegenüber sind da Freunde, gleichsam als kostbarer, lieber und unverwüstlicher Hausrat, die mir mit Schelten und Auszanken wohltun. Und einer von ihnen bist Du! Deine honigträufelnden Vorwürfe haben sich, so sage ich, als wahre Labsal über mich ergossen, weil Du ungemein sanft und freundlich teils Dein Schicksal und teils meine Härte beklagst – doch nein, nicht Härte, glaube mir, ist das, vielmehr ist es Schwerfälligkeit. Denn es stimmt nicht, dass ich an Dich nicht denken oder mich selber vergessen würde. 6. Ich erinnere mich ganz gewiss an die ersten Anfänge unserer Freundschaft, die Du mir jetzt, als wären sie verblasst, mit einem so wohltuenden Rückblick vor Augen führst, dass ich geradezu glücklich bin, ein Angeklagter zu sein. Denn obwohl ich nicht wünschen kann, Dir einen wahren Grund zu Beschwerden geboten zu haben, soll mir doch recht sein, wenn etwas geschehen ist, was Dich zum Klagen bewegte. Förderlich ist bisweilen, ein Gemüt zu reizen, und oft verhalf eine Art kleiner Beleidigung zu einer mutigen Tat. 7. Manchen hat entweder Entrüstung oder Schmerz oder Angst ein Wort abgerungen, und hätte nicht ein Krieger des Kyros sich gewaltsam auf Kroisos geworfen, wäre Atys, dessen Sohn, für immer stimmlos geblieben.6 So habe ich mit meinem Schweigen Dich zum Sprechen gebracht, was ich mit allem Reden vielleicht niemals erreicht hätte. Nun aber bin ich glücklich, dass Du gesprochen hast, während mich betrübt, dass meine Schweigsamkeit Dich gequält hat. Ich werde dafür sorgen, dass sie Dir nie mehr beschwerlich sei. Nie wieder sollst Du meinen, Du habest mir vergeblich geschrieben; oder – wenn Du nichts geschrieben hast – Du habest Grund, Dich in eigenen oder wenigstens in Briefen der Freunde7 über Deine Vernachlässigung zu beschweren. Und soviel für heute. Habe Mitleid mit der abgeschabten Feder, bedenke meine ermüdeten Finger,8 entlasse die vielbeschäftigte Seele und lebe wohl! Mailand, am 15. März (1354/1355).9

Anmerkungen 1 Der Adressat war Pfarrer an der Kirche Santo Stefano in Botena bei Florenz, ein Freund von Francesco Nelli. Vgl. Fam. 12,5 und 12,8 und Personenreg. 2 Petrarca spricht zuerst vom Wechsel ex persona, dann vom Wechsel zwischen speciebus, und denkt dabei an verschiedene Tierarten, wobei er die Verschiedenheiten auf die einzelnen Arten verteilt. Im 3. Abschnitt zeigt er verschieden geartete Individuen innerhalb der einen species Mensch. 3 Gegend auf Sizilien nahe dem Aetna, berühmt für ihre Kräuter und ihren Honig. 4 Moses, Deut. 32,2. 5 Plaut. Aul. 152 (2,1,34). 6 Nach Herodots Historien 1,85 war nicht Atys stumm, sondern dessen ungenannter Bruder. Dieser Stumme rettete aber den gefangenen Vater Krösus durch lauten Ausruf seines Namens vor der Ermordung durch einen Krieger.

Fam. 18,6 7 Einer der Freunde war eben Francesco Nelli in Florenz; vgl. Anm. 1. 8 Über müde Finger klagt Petrarca häufig; vgl. z. B. Fam. 18,12,1; 19,14,1; 18,12,3; 23,12,14. 9 Vgl. Wilkins, Petr. corresp. 77 und Eight years 62 und 90 f.

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Fam. 18,7, an Francesco Nelli, Vorsteher der Apostelkirche in Florenz1 Oft sei etwas um so erfreulicher je weniger ausgefeilt. 1. Die rasch hingeworfene Epistel hat Freude bereitet. 3. Beispiele für den Reiz des Ungepflegten. 4. Petrarca will sich kurz fassen, darum von häuslichen Geschäften im Brief nichts berichten. Ohnehin sind sie ihm völlig fremd. Seine Leidenschaft für Bücher leugnet er dagegen nicht. 6. Aber Cicero hegte sie auch. 7. Verschiedene Briefe an Nelli sind von Strebern abgefangen worden. Diese sind dem Dichter verächtlich. Mailand, am 1. April (1355).

1. Deine aufgeregte und hastig geschriebene Epistel, die ich vor mir habe, ist in ihrer Art meinem Auge und Sinn nicht etwa weniger wert, sondern fast besonders lieb, nämlich etwa so wie einem sehnsüchtigen Liebhaber eine ungeschminkte Freundin.2 Ich seufzte und sagte: „Wie sähe sie wohl aus, hätte sie in den Spiegel geschaut?“ Sie behauptete von sich, während Du vom Essen aufstandest und während Ceres und Bacchus miteinander stritten3 – so hast Du ja gescherzt –, habe sie im rasch übergeworfenen Alltagskleid gemäss Deinem Befehl sich auf den Weg zu mir gemacht. Im Gegensatz zu dieser Aussage verrät aber ihr Stil einen nüchternen und noch fastenden Autor. Nichts könnte massvoller, nichts knapper sein. Trotz geringem Zeitaufwand sind die Meinungen von ausgereiftem Ernst, und freundlich und natürlich sind die Mienen ihrer Worte! Schon vielen Frauen,4 die man unerwartet ertappte, haben Scham, unsichere Stimme, ungekämmtes Haar, gürtelloses Kleid, nackter Fuss und irgendwelcher Überwurf besonderen Reiz verliehen; und oft hat ein nachlässiges Gebaren die Rolle einer sehr gepflegten Aufmachung übernommen. 3. Auf diese Weise also hat einst Kleopatra5 mit ihrem aufgelösten Haar die überlegene Geisteskraft Caesars sich geneigt gemacht. Ähnlich hat der sittenstrenge Hippolitos mit seiner kunstlosen Haartracht und seinem zwar edlen, doch von Staub bedeckten Gesicht die Augen Phaidras6 betört. Ähnlich wird es auch bei Sophonisba7 gewesen sein, als sie, eine Besiegte, den Sieger Masinissa für sich gewann, und eben darum ist diese Begebenheit aus dem alten Afrika in den Büchern meiner neuen Afrika ein Stoff für eine dramatische Darstellung geworden. Ähnliches, so meine ich, trug sich bei Lucretia zu,8 als sie das Herz des Sextus Tarquinius entflammte, womit dann der Anlass zum Ende des römischen Königtums und zum Anfang der römischen Freiheit gegeben war. Doch obwohl es sich so verhält, ist es alltäglicher Brauch der schön gestalteten Menschen, über Missgestalt zu klagen, denn dem Sinn, der nach Höchstem strebt, ist nichts hoch genug, bevor er es wirklich erlangt hat. 4. Dass aber Deine Epistel in knapp bemessener Zeit geschrieben wurde, zeigt sich an nichts anderem als an seiner Kürze. Üblicherweise bist Du gegen mich mit

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Worten nicht so sparsam. Doch damit nun diese ihre ausserordentliche Kürze von mir nicht mit einem Wortschwall erdrückt werde, sollst Du das, was mir heute die Hauswirtschaft vorlegte, auf einem anderen Papier gesondert lesen. So fern liegt mir eine solche Beschäftigung, dass ich einfach alles für meiner unwürdig und gewissermassen mir fremd ansehe, was immer ich über häusliche Besorgungen schreibe. Obwohl da nicht zuletzt auch von den Büchern die Rede ist, um die ich, offen gestanden, ängstlich bekümmert bin.9 5. Diese Leidenschaft für Bücher verfolgt mich von Jugend auf, und mancher wird wahrscheinlich sagen: „Wie ist sie doch sinnlos!“ Und wirklich ist es dumm, hartnäckig zu suchen, was man nach seinem Erwerb ja gar nicht zu nützen versteht.10 Ganz als würde Flaccus11 nicht mit vollem Recht spotten: „Kauft einer Zithern und fügt die gekauften zum Stapel zusammen, Ist’s noch kein Zitherspiel und längst nicht ein Dienst an den Musen.“ Du kennst den Rest; die Stelle hast Du! Vorausgesetzt, dass ich mit den Büchern immerhin einen gewissen Umgang pflege, wird sich über meine Leidenschaft keiner wundern, der einmal die Briefe Ciceros gelesen hat. Denn in ihnen hat der Gelehrte, aus dessen Geisteskraft wie aus einem reinsten und überquellender Born beinah alles strömte, was die alte Latinität an grossartigen Büchern, wahren Prunkstücken, vorzeigt, Bücher anderer Autoren ganz offensichtlich nicht erbeten, sondern hitzig gefordert. Und dazu nur soviel. 7. Dass einige meiner Episteln, die ich an Deine Adresse schrieb, Dich nicht erreicht haben, weiss ich.12 Dieses Ärgernis verschaffen mir gewisse lästige Leute mit einem höchst unverschämten Bildungsdurst. An solchem Durst pflegen Fieberkranke zu leiden, wenn sie sogar nach solchen Tränklein lechzen, die ihnen schaden. Was irgend jemandem entfällt, das fangen sie unbedenklich auf, verzichten aber nicht auf eine Beschimpfung der ernsthaft um Bildung Bemühten; begierig schlürfen sie, was ihnen und anderen später, indem sie es kalt verdauen, Übelkeit bereitet. Diese nenne ich nicht Gebildete, sondern eher schäbige Bildungshascher; denn, wie der Dichter13 gesagt hat: „…es mangelt ein Bündnis der Liebe.“ Unter ungünstigem Stern geboren, laufen sie als Liebhaber und niemals Geliebte hinter der ihnen entfliehenden Bildung her. Doch darüber habe ich genug und übergenug gesagt. 8. An derartigen Episteln schicke ich Dir nochmals einige, weniger weil sie nötig und angebracht wären, als weil sie Dir beweisen sollen, dass ich in meinen Studien oft an Dich denke, oder richtiger, dass ich niemals nicht an Dich denke. Lebe wohl! Mailand, am 1. April, in Eile (1355).14

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Anmerkungen 1 Der Brief bezieht sich auf ein Schreiben Nellis, das verloren ist. Doch auf Petrarcas Antwort Fam. 18,7 bezieht sich Nellis Epist. 13 vom 16. August 1355, bei Cochin 203; sie scheint noch andere Schreiben Petrarcas berücksichtigt zu haben, die nicht genau zu datieren sind. Vgl. Cochin 111. 2 Den selben Gedanken äussert Petrarca in seiner Beurteilung der Psalmen; vgl. Fam. 22,10,11. Auch ist daran zu erinnern, dass Petrarca mehrmals betont, Sprachbegabung sei ein angeborenes Talent, das durch schulmässige Studien wenig gewinne; vgl. Fam. 13,7,14 und 13,9,3. 3 Die beiden Götter stehen für Wein und Feldfrüchte. Der Scherz deutet auf die Verdauung. 4 Die Übersetzung folgt hier wie immer Rossis Ausgabe; Fracassetti bietet eine andere Lesart. Da wie dort bestehen Unklarheiten. Zu multas subito deprehensas ergänze ich mulieres, die Worte wären sonst rein grammatikalisch auf sententias zurückzubeziehen, und die Personifizierung der Redewendungen würde allzu künstlich wirken. 5 Die letzte Königin der Ptolemäer in Ägypten erschien 48 v. Chr. Hilfe flehend vor Caesar. 6 Der Sohn des Theseus wurde von seiner Stifmutter begehrt und dann verleumdet; vgl. z. B. Ov. Metam. 15,497 ff. 7 Sophonisba (Sophoniba), Tochter von Hasdrubal, verheiratet mit Syphax, erflehte 206 kniefällig die Gnade des Mas(s)inissa; vgl. Personenreg. und Liv. 30,12. 8 Die berühmte Geschichte berichtet Liv. 1,17,6–1,59,2. 9 Nelli scheint sich um Petrarcas Haushalt gekümmert zu haben. Vgl. Nellis Briefe Epist. 15 und 16, bei Cochin 222 ff. Vgl. Übersicht. 10 Petrarca dachte wohl nicht bloss an seine griechischen Bücher, die er nicht verstand (vgl. Fam. 18,2), sondern auch an die vielen, die zu lesen er kaum Zeit fand (vgl. Fam. 18,3). 11 Hor. Sat. (Serm.) 2,3,104–105. 12 Von Briefen, die nicht ankamen und abgefangen wurden, liest man auch in Fam. 18,7; 18,15; 19,2; 20,6. 13 Verg. Aen. 4,520. 14 Zum Inhalt und zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 91 f. 98–100. 106. 254 f.

Fam. 18,8, an Francesco Nelli1 In Gesprächen unter Freunden genüge das Vertrauen; nach dem Stil habe man nicht zu fragen. 1. Niemand dürfe denken, Petrarca kümmere sich in Freundesbriefen sehr um seinen Stil. 3. Den guten Stil, den er da nicht bietet, fordert er auch nicht von andern. 4. Wichtig ist nur die Verständlichkeit des Gesagten. Und am Freund ist einzig die Freundestreue wichtig, da ohnehin Glücksgüter blosse Zufälligkeiten sind. 5. Durch Zufall findet man in Rom Kulturgüter aus der Antike. 10. Petrarca spricht mit Freunden wie mit sich selber und ist dabei der Nachlässigkeit verfallen. 11. Er legt einem Freund nicht feste Ergebnisse seiner Überlegungen vor, sondern macht ihn zum Teilnehmer an einem Denkvorgang. 14. Das hat auch Cicero so gehalten. 16. Allerdings sucht Petrarca mit besonderer Wortwahl oft grössere Wirkung zu erzielen. 17. Deshalb schickt er eine Ergänzung zum vorangehenden Brief. (April/Juli 1355)

1. Du wirst denken, ich sei sehr darum bemüht, dass meine Episteln schön gekämmt seien, da ich ihretwegen sogar Tage später mir selber Sorgen mache oder eine Dir auferlege, um ganz wie ein allzu eitler Jüngling nicht bloss mein Gesicht, sondern auch meinen Rücken im Spiegel zu begutachten.2 Glaube mir, nichts bin ich weniger. Ein guter Teil dessen, was ich zu Freunden sage, fällt mir von ungefähr ein; ich hoffe, sie kennen mich, und fürchte nicht, ihnen, ungepflegt, wie ich bin, zu missfallen. Denn der ist ein schlechter Liebhaber, den das unordentliche Haar seiner Geliebten ärgert.3 2. Von fremden Personen dagegen erwarte ich Nachsicht. Wenn sie überlegen, wer spricht und zu wem und was er spricht, kümmert sie vielleicht die Art und Weise nicht. Ich jedenfalls vermeide überflüssige Mühe. So viel als nötig zu sagen, genügt mir. Wirklich, grosse Liebe bedarf nicht der kunstvollen Rede. Wer hielte sein Liebchen nicht für redegewandt? Wen entzückte nicht das Stammeln seines kleinen Kindes? Und schliesslich, wer wollte bei einem Selbstgespräch nach Ausschmückung suchen? Dabei gibt es ja das geflügelte Wort:4 „Ein Freund, ein anderes Ich“, wozu Cicero5 vortrefflich gesagt hat: „Was ist schöner, als jemanden zu haben, mit dem man alles wagt und redet, wie mit sich selber?“ 3. Daher sollte keiner vom Freund verlangen, was er selber nicht leistet, andernfalls spricht er mit andern nicht wie mit sich selber. Mir gilt jede Redeweise eines Freundes so viel wie meine eigene, und das gilt auch für sein Schweigen und seine Winke, denn was ist wichtig, ausser ich verstehe, was er will und was er nicht will, da ich einmal beschlossen habe, mit ihm „das selbe zu wollen und nicht zu wollen“?6 Immerhin, wenn ein Freund Redegewandtheit besitzt, ist sie mir wert, wie es auch seine anderen Gaben sind, solche der Gnade und solche der natürlichen Tugend, wobei ich allerdings erwarte, dass des Freundes Seele nicht weniger schmuck ist als seine Rede, ich aber gegen Freunde nicht empfindsame Ohren habe. 4. Gewiss will ich lieber, mein Freund sei beredt als er stottere, da ich ja auch lieber will, dass er gesund sei und nicht krank, und übrigens lieber, dass er schön sei als hässlich. Dies nicht darum, weil mir ein kranker und unschöner minder lieb

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wäre, sondern weil ich mir denke, ein gesunder und schöner sei glücklicher. So ziehe ich auch vor, dass er wohlhabend sei und nicht arm, tue es jedoch nicht, weil ich an einen Gewinn für mich dächte, jedoch an seine Bequemlichkeit und auch an die Freude für mich, die ohne ein Wohlbefinden des Freundes nicht bestehen könnte. Hohe Gesinnung7 ist das Fundament der Freundschaft, und um sie zu erhalten, ist nichts nötig ausser gegenseitige Liebe, und zwar eine einfache, makellose, die nichts Äusserliches sucht. 5. Denn wenn sogar der bedürfnislosen manche Gabe in den Schoss fällt – wer wollte etwa alle ihre Annehmlichkeiten und Beglückungen aufzählen? –, so benötigt die Freundesliebe8 doch keinen Ansporn. Sie ist mit sich zufrieden, ist sich selber sowohl Ansporn als auch Lohn. Erreicht sie darüber hinaus eine Zugabe, ist das nicht ihr Werk, sondern ein Glücksfall. So ist ein Fischer, der in den Eingeweiden seines geangelten Fisches einen Jaspis findet, deshalb nicht besonders geschickt, sondern vom Zufall begünstigt. Gleicherweise war jener Jäger nicht sonderlich tüchtig, der zur Zeit unserer Ahnen an der Nordküste – wenn nur das Gerede wahr ist – einen Hirsch mit einem Halsring fing, worauf in angeblich uralten Lettern zu lesen war: „Niemand soll mich fangen.“ Iulius Caesar hat ihn freizulassen befohlen. 6. Anders erging es einem Bauern; denn als er am Fuss des Gianicolo Erde umgrub, bot ihm der reine Zufall sieben griechische und sieben lateinische Bücher an, zudem das Grab des Königs Numa Pompilius.9 Oft suchte mich in Rom der Bearbeiter eines Weinbergs auf, streckte mir in der Hand Gemmen antiker Arbeit oder goldene und silberne Münzen entgegen, deren manche vom Zahn einer Hacke beschädigt waren, und wünschte einmal, ich möchte sie kaufen, ein andermal, ich möchte die Köpfe der abgebildeten Heroen bestimmen. Oft findet ein Architekt bei der Suche nach einem festen Fundament ein goldenes Gefäss und einen in der Erde vergrabenen Schatz. 7. Doch wer von ihnen allen hätte für seinen zufälligen Fund den Ruf eines Künstlers oder eines Erfinders gewonnen? Glückssache sind diese Dinge, keines Menschenlobes wert, und eher verdient jener die Bezeichnung Künstler, der während tüchtiger Arbeit durch eine in Löcher geglittene Viper erschreckt wird, als der andere, der alles keck durcheinander wühlt und über das zufällige Aufleuchten verborgenen Goldes in freudiges Staunen gerät. 8. Das selbe gilt für die Freundschaft. Ich habe mir klug einen Freund erkoren, ihn feurig geliebt, aufmerksam umsorgt und ihm Treue bis zum Äussersten geleistet; doch hat mich diese Freundschaft Mühen, auch Sorgen und Gefahren gekostet. Darin zeigt sich nicht ein Irrtum der Freundschaft, sondern einer der Fortuna. Jener leistete mir das selbe, er aber gewann in dieser selben Freundschaft grössere Ehre und bedeutende Mengen Geldes, wurde dadurch, wie angedeutet, vielleicht ein besonders glücklicher, aber kein besserer Freund. 9. Ein anderer heuchelte Freundschaft, täuschte Treue vor, fand Annehmlichkeiten10 und zog daraus noch vieles (denn, wie Laelius bei Cicero11 gesagt hat, „können Nutzen oft auch jene

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gewinnen, welche sich bloss dank einer geheuchelten Freundschaft hegen lassen und nur der Umstände wegen gepflegt werden“). Und Du fragst, was ich von einem solchen halte? Ein schlauer Verkäufer von Schminke ist er, der von der Lüge glücklichen Gebrauch macht. Im Hinblick auf die Freundschaft gebe ich ihm den Namen eines Betrügers, nicht eines Freundes. „Denn in der Freundschaft,“ wie der erwähnte gesagt hat, ist nichts erdichtet, nichts geheuchelt, und was immer besteht, ist aufrichtig und gutwillig.“ Das ist also das Wesentliche: In der Freundschaft ist einzig die Freundschaft begehrenswert. Der echte Freund beachtet nichts anderes als den Freund. 10. Weil ich nun weiss, dass ich meinen Freunden stets ergeben war und von ihnen Ergebenheit empfing, darum glaube ich nicht, die Redekunst, die ich anderen erlasse, werde in meinen vertraulichen Episteln von mir gefordert und man nehme es mir übel, wenn man entdecke, dass ich zu meinen Freunden so spreche, wie zu mir selber. Diese Auffassung hat mir freilich mit der Zeit eine solche Unbekümmertheit beschert, dass ich nicht bloss in der Wortwahl, sondern auch in der Sache nachlässig werde. Daher wird mir auch – um es beiläufig zu erwähnen – von gewissen Bekannten Widersprüchlichkeit vorgeworfen; denn sie meinen, auch im Gespräch mit Freunden müsse man alles genau abwägen, um sowohl in der Formulierung wie auch im Inhalt alle Abweichung zu meiden. 11. „Was soll denn das,“ so fragen sie, dass man einem Freund gegenüber heute etwas ausdrückt oder etwas will, von dem man morgen das Gegenteil behauptet oder will! Festigen muss man zuerst seine innere Haltung und erst dann den Freunden Ansichten eröffnen; denn nur so entsteht Gleichförmigkeit in Worten und Taten.“ Dass solches für andere Umstände zu fordern nützlich ist, gebe ich zu; doch im Umgang unter Freunden wirkt es geradezu verschroben. Deshalb erwidere ich jenen Bekannten – denn „noch dauert der Streit vor dem Richter“,12 und wenigstens von Dir lasse ich mir ein Schiedsgericht gefallen –, dass ich, wie oft schon wiederholt, mit den Freunden alles wie mit mir selber bespreche, mit mir aber nicht nur Überprüftes und Anerkanntes, sondern oft Ungeklärtes und Ungewisses behandle, deshalb auch zögere, erörtere, berate und unter Überlegungen nach der Wahrheit fahnde. 12. Daraus folgt, dass mir, wie bei Nachdenkenden üblich ist, nun diese, nun jene Meinung einleuchtet, wie übrigens auch Vergil13 nicht bloss einmal von seinem verherrlichten Helden erklärt hat: „Seinen erregten Verstand vertreibt er bald hierhin, bald dorthin, Reisst ihn in mancherlei Stück’ und zwingt ihn, durch Welten zu kreisen.“ Falls ich den Freunden bloss Feststehendes und Besiegeltes vorlegte, würde das wohl für vorsichtiger gelten, und einem Mann, der nach einem leeren Titel der Stetigkeit jagt, würde die wohlbegründete Preisverleihung gesichert sein. Doch wirklich und wahrhaftig hiesse das nicht, seine Freunde zu Mitberatern, sondern sie zu

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Mitwissern zu haben. 13. Dabei will ich doch nicht bloss meine Entscheidungen, vielmehr auch meine Überlegungen und jene Regungen meines Geistes, die man als erste bezeichnet, den Freunden bekannt machen, und ich will nicht nur die Hauptsache einer Frage und ihre Schlussfolgerung, vielmehr die Schritte von den Anfängen an und ihre Entwicklung und alles, was mir während der Nacht in den Sinn kam, am frühen Morgen den mir begegnenden Freunden darlegen. Und wenn mir später unter dem Essen etwas anderes richtiger vorkommt, will ich aufstehen, es den Freunden zu melden, und sollte es zum Streit über die Meinungen kommen, wollte ich mich freuen, wenn die bessere siegte. Das kann aber besonders leicht geschehen, wenn von Anfang an die treue Freundschaft zur Teilnahme am Hin – und Widerraten aufgerufen ist. 14. Als ich solche und ähnliche Argumente zur Entschuldigung für eine tägliche Übung schon mehrmals vorgebracht hatte, geschah es zufällig, dass ich auf die Episteln Ciceros stiess.14 Diese machen ein dickes Buch von grosser Vielfalt aus, und von derartigen vertraulichen Gesprächen ist es geradezu vollgestopft. Hier habe ich eine ähnliche Entschuldigung gelesen und mich darüber vergnügt, dass ich vielleicht dank einer ähnlichen geistigen Veranlagung – und dürfte ich wie Wünsche so auch Hoffnungen anknüpfen! – oder bloss auf Grund ähnlicher Umstände das aussprach, was schon früher dieser grosse Gelehrte gesagt hatte.15 Denn obwohl ich doch, Gott weiss es, diese Darstellung Ciceros bis dahin nicht gekannt hatte, war ich mit ihm (wie er an anderer Stelle sagt) „auf die selbe Fährte geraten.“ 15. Um das zu verdeutlichen, füge ich die einschlägigen Worte Ciceros an. Da er in einem Schreiben an Atticus immer wieder anders formuliert hatte, setzte er wie im Selbstgespräch die Frage hinzu:16 „So oft änderst Du Deine Meinung?“ und antwortete dann, wie hier folgen soll: „Ich spreche zu Dir wie zu mir selber. Wo aber wäre einer, der über einen so wichtigen Gegenstand nicht einmal so und einmal anders mit sich stritte?“ Und auf diese Überlegung stülpte er noch die nächste: „Gleichzeitig wünsche ich, Dir Deine Meinung zu entlocken, damit, wenn die meine Bestand hat, ich um so sicherer bin, und falls sie geändert wird, ich Dir beipflichte.“ Der letzte Satz trifft auf mich aber nicht zu. Ich bin nicht so gerieben; ich kenne in meinen Freundschaften keine Kunst, ausser dass ich sehr liebe und sehr vertraue, um nichts zu erdichten, nichts zu verstecken und um schliesslich vor dem Ohr der Freunde alles darzulegen, wie es in meinem Innern ist. Doch ich kehre zurück. 16. Gewiss, obwohl ich mir vornehme, Deinen Ohren nicht stärker zuzusetzen als den meinen, wird doch oftmals das Eine und Gleiche von mir besonders eindringlich gesagt, indem ich aufreizende und auch kämpferische Worte verwende und nicht bloss mässige. Und dann möchte ich, dass dem Freund genau wie mir selber dank der geänderten Redeweise die Sache besser einleuchte. Somit wird meine Sprache etwas bohrend, weil ich aufrütteln, aber gewiss nicht täuschen oder

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mit eitler Meisterschaft beeindrucken möchte. 17. Und so steht es mit dem Dir kürzlich geschriebenen Brief.17 Ihn überdachte ich schweigend bei mir, nachdem ich ihn eilig abgeschickt hatte, und auf einmal schien mir, man müsse etwas anfügen, damit der Kernsatz voller und runder laute. Das habe ich Dir nun, so wie es mir einfiel, gesondert aufgezeichnet, und wenn es Dir gefällt, füge es dort ein und sieh zu, dass unsere Angelegenheit durch Deine Hand erledigt werde! Lebe wohl! (April/Juli1355)18

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Fam. 18,7 zum ganzen Inhalt dieses Briefes. Diese Bemerkung findet eine Erklärung am Ende des Briefes. Vgl. den vorangehenden Brief. Cic. De am. 6,22. De am. 21,80. Sall. Cat. 20,4. Lateinisch: virtus. Petrarca versteht sie als celsitudo animi in Fam. 8,7,4. Lateinisch caritas, wie sehr oft bei der Erwähnung der Freundschaft. Zweiter König in der Frühgeschichte Roms. So die Übersetzung nach der Ausgabe von Rossi. Fracassetti legt eine etwas andere nahe. Cic. Lael. 8,26. Hor. Ars 78. Verg. Aen. 285 f. De orat. 2,36,152. Vgl. die Ausführungen in Fam. 21,1; 22,2. Ad Att. 8,14,2. Fam. 18,7. Vgl. Wilkins, Eight years 98–100. 254 f.

Fam. 18,9, an Francesco Nelli1 Ein deutliches Anzeichen für persönlichen Wert ist Unbekanntheit in der Menge. 1. Petrarca merkt in einem Gespräch mit einem Florentiner, dass Nelli in seiner Vaterstadt wenig bekannt ist. 2. Bedeutende Menschen, unter ihnen grosse Philosophen, waren der Menge auch nicht bekannt. 3. Erwähnter Florentiner konnte sich über Petrarcas Lob auf Nelli vor Staunen kaum fassen. (April/Juli 1355)

1. Was mir nötig schien, habe ich auf Deine Epistel geantwortet und durch einen zufällig anwesenden Boten unserer Republik2 an Dich abgeschickt. Mit ihm sprach ich manches über Dich, und dabei gefiel mir am besten, dass Du in Deiner Vaterstadt und bei ihren Bürgern wenig bekannt bist. Denn um so besser bekannt bist Du mir, um so rühmlicher mir und um so lieber mir. Immer habe ich von Dir Gutes erhofft, jetzt aber höre ich zu hoffen auf. Die Hoffnung leitet ja ihren Wert von einem unsicheren, zukünftigen Gut ab, mir aber ist jetzt an Dir schon gar nichts mehr unsicher. 2. Epikur und Demokrit, hochberühmt in der ganzen Welt, waren in Athen, der bildungshungrigsten aller Städte, unbekannt.3 Sollte man sich da wundern, wenn unsere handeltreibende und wollwebende Stadt von Dir nichts weiss? Einen grossen Platz hast Du bisher in unserer Freundschaft eingenommen; und ich meinte, als einer, den niemand zu übertreffen vermöchte, doch sieh, nun übertrifft Du Dich selber! 3. Jener Bote nämlich, der Dich vom Sehen bestens kennt, hat meine Worte über Dich angehört, als wäre von den indischen Philosophen Dindimus oder Kalanus4 die Rede. Erschrocken und gespannt hielt er die Augen fest auf mich geheftet, während im Entsetzen vor irgendwelchem neuen Ungeheuer sein Haar sich sträubte. Dabei bin ich ja nicht einmal für Dich, sondern einfach für die Wahrheit eingetreten. Ich meinerseits staunte über das Staunen dieses doch wahrlich nicht witzlosen Mannes und lachte – wie man zu sagen pflegt – mir heimlich ins Fäustchen und sagte zu mir selber: ‚Wie hoch erhaben muss doch mein Freund sein, wenn der da mit seinem Blick höchstens bis zu seinen Hüften und sicher nicht bis zu seinem Scheitel hinauf reichte!‘ 4. Ich nehme an, er war von Wolken umgürtet, wie das bei hohen Bergen oft vorkommt, ja er war wohl über die Wolken hinaus gestiegen; denn wenn das dem Olymp vergönnt ist, wie viel leichter vermag da jener bestimmte Seelenteil, wenn er die Nebel der Leidenschaften überwunden hat, dort hinauf zu steigen, wo ungetrübte Heiterkeit wohnt, während das triefäugige und von Nebelschwaden bedrängte Völklein vergebens hinaufschaut.5 Doch darüber nichts weiter! Lass Dir immerhin gesagt sein: Meine beträchtliche Meinung, welche Du schon seit langem bei mir verdienst, noch weiter auszudehnen, ist keines Menschen Redegewandtheit jemals so tüchtig gewesen, wie dieses Mannes Stummheit und Starre vermochten. Lebe wohl! (April/Juli1355)6

Fam. 18,9

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Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Briefe. Von den zahlreichen Briefen Nellis an Petrarca aus dem Jahr 1355 ist ein grosser Teil verloren gegangen; vgl. Wilkins, Eight years 254 f. 2 Das ist Florenz. 3 Demokrit, 460–370, Philosoph, stammte aus Abdera und lebte, nachdem er seine langen Reisen beendet hatte, in seiner Vaterstadt; Epikur, ca. 342–271, eine Zeit lang in Samos, siedelte in noch jungen Jahren nach Athen über und lebte dort mit seinen Jüngern fern der Öffentlichkeit. Die Formulierung Athene famosos mundo accolas sibi autem incognitos habuere ist, wie immer man sie übersetze, nicht für beide Genannten ganz zutreffend. 4 Dindimus, richtig Dandamis galt als König der Brahmanen, war Asket und Philosoph der genannten indischen Priesterkaste zur Zeit Alexanders des Grossen; Kalanos war ein Weiser der selben Priesterkaste, also der Brahmanen; beide Namen waren Petrarca wohl durch Cicero bekannt. 5 Das Bild vom erhabenen Olymp hat Petrarca unter Hinweis auf Platon mehrfach für den allen Leidenschaften überhobenen Teil der Seele verwendet; vgl. Fam. 11,3, 9; 12,14,8. 6 Die Jahreszahl entspricht derjenigen in den vorangehenden Briefen an Nelli; vgl. Wilkins, Eight years 106. 254 f. Im August/September 1355 wird Nelli im Besitz dieser Briefe und zudem der Metr. 3,22 gewesen sein. Diese findet man lat. und dt. bei Schönberger 278.

Fam. 18,10, an Francesco Nelli1 Vorschriften Varros für das Gastmahl. 1. Bei Nelli haben sich Freunde versammelt, und diesen zitiert Petrarca Verhaltensregeln aus Varro. 4. Er fügt solche für Diener und Gastgeber an. 5. Nellis Einladungen übertreffen die Gebräuche der Antike durch Vornehmheit. 6. Petrarca ist dank seinen Briefen gegenwärtig. (April/Juli 1355)

1. Oh glückliche und heitere Tafel, die drei so tüchtige und einmütige Freunde zur Ankunft unseres Boten am festlichen Tag bei Dir versammelt hat! Von Marcus Varro gibt es eine Schrift mit Richtlinien für ein Gastmahl,2 und darin wird unter manch anderem empfohlen, die Zahl der Gäste solle nicht grösser als die der Musen und nicht geringer als die der Grazien sein,3 damit man sich nicht in ein Extrem, in die Menge oder Einsamkeit, verirre. Hierzu meine ich allerdings, man müsse sich stets eher der Einsamkeit zuneigen. 2. Du weisst, was besagte Vorschrift zum Gastmahl ausserdem festsetzt, damit es nämlich in allen Stücken vollkommen sei. Da heisst es: „Ein liebenswürdiges Völklein soll sich versammelt haben;“ und das sagt Varro wohl darum, weil eine grosse Schar übermütiger Leute der Ruhe fast immer so abträglich ist wie ein stürmisches Meer. Weiter sagt er: „Der Ort muss passend sein, und weder die Zeit noch die Zurüstung dürfen vernachlässigt werden.“ 3. Gefordert wird überdies, dass keine Geschwätzigkeit überhand nehme und umgekehrt die Stille nicht in Stummheit versinke, damit vielmehr – zwischen beiden Übeln – das Beisammensein mit vergnüglichem Geplauder sowie mit nützlichem und angenehmem Gespräch gewürzt sei, in welchem kein Zank und keine Rechthaberei, auch keine Ängstlichkeit und Befangenheit aufkomme, dagegen herzliche Geselligkeit und Offenheit herrsche. Das ist leicht gesagt, aber eher schwierig in die Tat umzusetzen, wenn nicht zum vornherein eine milde und unerschütterliche Heiterkeit die Mienen und Worte der sprechenden Menschen beseelt4 hat. 4. Was sonst noch? Welche Regeln soll ich für die Diener und den Gastgeber aufstellen, ausser dass jene von geringer Zahl, bescheiden und aufmerksam seien, dieser hingegen sich freigebig und auch nüchtern, heiter und zurückhaltend, überdies sich umsichtig, freundlich, höflich und redegewandt erzeige, dabei als einer, der schweigen kann und – wenn er einmal mit Rücksicht auf die Besonderheit der Gäste, der Zeit und des Ortes Anregungen wie Samen ausgestreut hat – anzuhören versteht, was andere sagen. 5. All das und was es sonst von dieser Art geben mag, hat gewiss bei Deinem attischen und wahrhaft philosophischen Gastmahl5 nicht gefehlt. Nur dass Du wahrscheinlich in vornehmerer Art bewirtet hast, als das bäurische Altertum6 es verstand. Immerhin weiss ich, dass Deine vornehme Haltung mit äusserster Nüchternheit und Mässigkeit vereint ist.

Fam. 18,10

297

6. Wo aber bin denn ich geblieben? Die selbe Macht, die meine Abwesenheit gefordert hat, das ist Fortuna, war anderseits dafür besorgt, dass ich auf die einzige mir erlaubte Weise anwesend sei. Denn sie hat meinem besonders lieben Freundeskreis die Episteln zugestellt, von denen Du schreibst, sie hätten Eure Freude verdoppelt. Das glaube ich; denn die Reinheit treuer Freundschaft lässt ein Misstrauen nicht zu. Lebe wohl! (April/Juli1355)7

Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Schreiben an Nelli, zudem Nellis Epist. 13 vom 18. August 1355, Cochin 203 ff. 2 Zum folgenden Text vgl. Varro, Saturae Menippeae bei Gell. Noct. att. 13, 11,1–5 und Macr. Saturn. 1,7,12. 3 Nicht mehr als neun nicht weniger als drei. 4 Von dieser Heiterkeit der Seele sprechen z. B. Fam. 12,14,5 f. und Fam. 18,9,4, und auch viele andere Stellen. 5 Hier eine Erinnerung an Platons philosophische Schrift „Gastmahl“. Darin berichtet der Autor von einer Einladung, bei der Sokrates mit seinen Schülern über den Eros philosophierte. 6 Lateinisch: rustica… antiquitas. Die antike Gesellschaft ist noch ländlich, ehrlich, ungeschickt. 7 Vgl. Wilkins, Eight years 254 f.

Fam. 18,11, an Francesco Nelli1 1. Petrarca fragt nach dem Aufenthaltsort eines Freundes. 2. Dieser hat wegen politischer Unruhen seine Studien unterbrochen. 3. Ein Buch, das er einst Petrarca geliehen hat, soll ihm durch den Adressaten zugestellt werden. Mailand, am 14. November (1353/1355)

1. Ob unser gemeinsamer Freund noch immer in Bologna sei, weiss ich nicht.2 Lieber wüsste ich ihn an der Akademie3 oder auf dem Parnass, und lieber unter der Leitung Platons oder Homers als bei Werken Ulpians oder Scaevolas,4 und er beschäftige sich mit Gesangsnoten statt mit Gesetzesknoten. Doch einer Menge als Einziger zu widerstehen, vermag ich nicht. Genügen muss mir, dem Sturzbach der allgemeinen Ansichten selber entkommen zu sein, sofern ich überhaupt entkommen bin, und nicht mit Tausenden versinke und fortgerissen werde. Freilich wäre ich froh, die Meinen mit mir zu retten, doch wenn ich keine Erretteten beglückwünschen kann, verbietet mir niemand, die Schiffbrüchigen zu beklagen. 2. Ob er sich noch immer in Bologna aufhalte, und zwar mit jener Lernbegier, die an beinah allen Universitäten die selbe ist, oder ob er nach Florenz zurückgekehrt sei, weil ihn die gewaltigen Unruhen unseres diesseitigen Gallien vom Studienort in die Heimat zurückjagten: Jedenfalls beteiligen sich an diesen Gärungen jetzt – wie Du siehst – und zwar nicht ohne Erschütterung von fast ganz Italien und Germanien, auch noch die machtvollen Waffen der Ligurer und Veneter.5 Deswegen hat das unglückliche Bologna (einst eine strahlende Stätte der Freude, jetzt ein finsteres Haus der Trauer) soeben für seine Kühnheit schwere Strafe erlitten, dabei an seiner Habe und am eigenen Blut erfahren, wie so völlig richtig das allgemein bekannte Wort aus Cordoba ist:6 „Freiheit des Volkes wird…, wenn Mächte es zwingen, Eben durch Freiheit zerstört.“ 3. Wo immer also der Gemeinte während dieser Unruhen sein mag: Du wirst gewiss dafür besorgt sein, dass dieses Bändchen Cicero, das ihm gehört und das ich einst in Deiner Gegenwart von ihm empfing, möglichst bald zu ihm zurück gelange. Ich nämlich wollte es mit Rücksicht auf die ungewisse Lage am liebsten Dir zuschicken, denn gewiss ist mir ja, dass Du aus Deinem Nest ohne Not nie ausfliegst.7 Einen Brief zum Weiterschicken habe ich beigefügt,8 weil mir schien, unter Waffengeklirr und blitzenden Schwertern könne ein unbegleiteter und unbewaffneter Cicero nicht wohlbehalten ankommen. Einer hat ja9 von ihm gesagt, er sei „zu nichts weniger geschaffen als zum Krieg.“ Freilich würde er das, wenn mit Toten zu scherzen

Fam. 18,11

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erlaubt ist, wohl nur ungern hören, war er doch, was sonderbar klingt, in Briefen an Atticus10 ungemein darauf erpicht, Triumphe zu feiern. Lebe wohl und denke an uns! Mailand, am 14. November (1353/1355).11

Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Schreiben und das folgende. Von Ciceros Schriften ist in Fam. 18,12 die Rede. 2 Gemeint ist Lapo da Castiglionchio (Giacomo von Florenz), an den Fam. 7,16 und auch der folgende Brief Fam. 18,12 adressiert sind. 3 Gemeint ist die von Platon 385 gegründete Schule in Athen. 4 Der Jurist Ulpianus war unter Kaiser Septimius Severus tätig; Quintus Mucius Scaevola einer der bedeutendsten Juristen im 1. Jh. v. Chr. und Lehrer Ciceros. 5 Unsicher bleibt, ob der Brief auf 1353 oder auf etwas später zu datieren sei. Das folgende Schreiben Fam. 18,12 gehört aber sicher ins Jahr 1355. Grosse Unruhen herrschten in Oberitalien ohne Unterlass, denn die Spannungen zwischen Mailand, Venedig und Genua verschärften den Streit fast aller umliegender Mächte. Der Erzbischof Giovanni Visconti, der die Stadt Bologna im Oktober 1350 gekauft hatte, galt dort ab 1352 als päpstlicher Vikar. Doch blieb die Stadt umstritten. Der Kardinal Albornoz, der den Kirchenstaat wiederherstellen sollte, kämpfte ab 1354 um Bologna; aber gegen jede fremde Herrschaft wehrten sich energisch die führenden Geschlechter der Stadt. 6 Ein gekürztes Wort Lucans aus Cordoba: Phars. 3,145–146. 7 In diesem Wort versteckt sich ein kleiner Vorwurf, den Petrarca auch anderswo andeutet; vgl. Var. 56, Fracassetti Bd. 3,464. 8 Das ist Fam. 18,12. 9 Liv. per. 111. 10 Cic. Ad Att. 7,2,6. Petrarca denkt an Ehrungen für Feldherren. 11 Wilkins, Eight years 59 Anm. 10. 254 f. und Petr. corresp. 77 datiert den Brief unter Berufung auf Foresti ins Jahr 1355, nicht auf 1353, also in die Zeit nach Karls IV. Romzug.

Fam. 18,12, an Lapo da Castiglionchio1 Viel schlimmer ist der Verlust an Schriften grosser Gelehrter als der an Orakeln alter Götter. 1. Klage über den Mangel an Kopien der Werke antiker Schriftsteller. 3. Petrarca entschliesst sich, einen Text Ciceros selber zu kopieren. 4. Dabei beobachtet er eine Methode, die er zur Nachahmung empfiehlt. 6. Sie erlaubt, das Lästige an der Arbeit zu übersehen. 9. Um Ciceros Ruhm zu fördern, opferte er sogar den letzten Rest seiner Zeit. (November 1353/1355)

1. Dein Cicero ist vier Jahre und länger bei mir gewesen. Dass ich ihn nicht früher zurückschickte, hat seinen Grund in der ungemeinen Seltenheit kenntnisreicher Schreiber, ja in ihrem eigentlichen Mangel.2 Dieser hat schon früher einen unglaublichen Verlust an Bildung bewirkt. Was immer seinem Wesen nach schwer fassbar war, hat allmählich aufgehört, verständlich zu sein und ist am Ende, weil es von niemand gepflegt wurde, zugrunde gegangen. Daher mussten unsere Epochen die überquellenden und kostbarsten Früchte der literarischen Tätigkeit, der Nachtarbeiten und Anstrengungen glänzender Geistesgrössen mehr und mehr entbehren, wobei ich nicht verwegen darüber entscheiden wollte, ob es auf Erden etwas Wertvolleres gebe als sie. 2. Soviel immerhin möchte ich aufs zuverlässigste behaupten, dass man diesen Verlust zu unserer Zeit als einen besonders grossen mit weit besserem Recht bedauern muss als das Verstummen des Orakels von Delphi, obwohl Lucan3 geklagt hat, seinem Zeitalter fehlte diese einzigartige Gabe der Götter, die – wie er urteilte – alle anderen an Wert übersteige. Aber jener Tempel hätte mitsamt seinem Insassen Apollon alle Zeiten hindurch besser geschwiegen und sich ganz stumm verhalten! Er ist ja nicht allein durch das prophetische Zeugnis:4 „Alle Götter der Heiden sind Dämonen,“ sondern auch durch seinen eigenen Mund widerlegt worden. Als einer ihn fragte, für wen er sich ausgebe, bekannte er selber – so gross ist die Kraft der Wahrheit! –, er sei ein Dämon.5 3. Da wird nun gewiss niemand leugnen, dass es verhängnisvoller war, den köstlichen Trost der Literatur als die Reden eines wortbrüchigen und lügnerischen Dämons zu verlieren. Doch lassen wir die Klagen über den Untergang der Wissenschaft; ich kehre zu Deinem Cicero zurück. Da ich diesen nicht entbehren wollte, aber wegen der Unfähigkeit der Schreiber auch nicht zu erwerben vermochte, wandte ich mich wegen des Mangels an fremder Hilfe an meine mir häuslich vertraute und machte diese meine müden Finger und diese meine zerfranste, abgenützte Feder für die Kopierarbeit bereit. Dabei beobachtete ich folgenden Brauch, den ich Dir für den Fall empfehlen möchte, dass Du eine ähnliche Beschäftigung auf Dich nehmen müsstest. 4. Ich habe nichts gelesen, bevor ich mit Schreiben begann. – „Wie das“, wird einer fragen, „Du hättest zu kopieren angefangen, ohne den Inhalt zu kennen?“

Fam. 18,12

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Nun, mir genügte eben, zum voraus zu wissen, dass ein Werk des Tullius vorliege, und zwar ein ganz seltenes. Während der Arbeit aber begegnete mir dann Schritt für Schritt so viel Herrliches und trieb mich eine so grosse Begeisterung vorwärts, dass ich beim gleichzeitigen Lesen und Schreiben nur eine einzige Schwierigkeit wahrnahm, nämlich die Feder laufe nicht so rasch, als ich wünsche, und somit sei zu befürchten, ich könnte sie mit den Augen überholen, was zur Folge hätte, dass mir unter dem Lesen die Lust am Schreiben erkalten würde. 5. Indem also die Feder das Auge zurückhielt und das Auge die Feder vorantrieb, rückte ich vorwärts, während ich mich nicht allein am Werk erbaute, sondern schreibend auch vieles lernte und meinem Gedächtnis anvertraute. Je mehr nämlich die Niederschrift hinter der Lektüre zurückbleibt, um so tiefer drückt sich das Gelesene dem Gedächtnis ein und um so hartnäckiger bleibt es da haften. 6. Dennoch gestehe ich, dass ich schreibend an den Punkt gelangte, wo mich zwar nicht ein geistiges Genügen – was denn würde sich bei Cicero schlechter schicken! –, wohl aber die Anstrengung der Hände besiegte, mein Entschluss mich reute und ich schon nicht mehr bedauerte, von dieser Mühe abzustehen. Doch da treffe ich unvermittelt auf die Stelle, wo Cicero6 daran erinnert, er selber habe Reden abgeschrieben –, ich weiss nicht wessen, doch sicher die eines andern und gewiss nicht eigene, denn immer ist dieser Mann der selbe, sein Stil der selbe und seine Geistesart die selbe. 7. Er sagt an jener Stelle: „Denn die Reden, Cassius,7 von denen Du erneut erklärst, dass Du sie in Deiner Mussezeit zu lesen pflegst, die habe ich sogar kopiert.“ Und da er wie üblich mit seinem Gegner scherzt, fügt er hinzu: „Wild drauflos,8 um nur ja niemals müssig zu sein.“ Als ich das gelesen hatte, geriet ich in Hitze, und wie ein beschämter Soldat, den ein Wort seines hochgeschätzten Heerführers getadelt hat, sagte ich zu mir: „So ist das also: Cicero schrieb irgendwelche Reden ab, und du ersparst dir, Reden Ciceros abzuschreiben! Das nennst du Begeisterung, das Studium, das Verehrung für ein göttliches Genie?“ 8. Dank solchem Ansporn arbeitete ich weiter, meines Entschlusses schon sicher. Und wenn mitten aus meiner Finsternis sich etwas dem Glanz seiner himmlischen Redekunst nähern könnte, so bestünde es wohl nicht zuletzt darin, dass ich hingerissen von ihrem unbeschreiblichen Zauber die wesentlich ganz mühselige Beschäftigung des Schreibens beschwingt erledigte und sie kaum wahrnahm. 9. Nun endlich kommt also Cicero gern und in meinem Namen dankend zu Dir zurück; er bleibt aber nicht ungern auch bei mir.9 Und ihm allein schreibe ich’s heimlich zu, dass ich mich für ihn so aufgeopfert habe wie kaum je für einen anderen Schriftsteller; denn seinetwegen habe ich unter vielen stechenden alltäglichen Plagen, die ich durchaus nicht abschütteln kann, und unter grossen Sorgen für meine Studien, die zu bewältigen selbst ein langes Leben zu kurz wäre, mir die Zeit für das Kopieren eines fremden Werkes genommen. 10. Ähnliches habe ich höchstens früher getan, als ich an der eilig gleitenden Zeit noch reicher zu sein schien,

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Fam. 18,12

obwohl sie ja von allen Kostbarkeiten die unsicherste und flüchtigste ist. Nun werden ganz merklich die zeitlichen Verhältnisse schon enger und enger; jetzt gibt es keinen Raum mehr, sich frei zu ergehen; jetzt ist es dringend nötig, und hoffentlich nicht schon zu spät, ans Sparen zu denken. Aber so überragend schien mir Cicero zu sein, dass ich ihm sogar von meinem geringsten Überrest einen Anteil schenkte. Lebe wohl. (November 1353/1355)10

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief Petrarcas an Nelli und Petrarcas frühere Dankesworte an Lapo in Fam. 7,16 und Fam. 12,8. An den selben Adressaten richten sich Sine nom. 5 und Var. 45, Fracassetti Bd. 3,420 f. Vgl. Marco Palma, Castiglionchio Lapo, in: DBI 22,40–44. 2 Klagen über ungenügende Kopisten findet man an verschiedenen Stellen, so Fam. 7,4,4; 18,5,7; 20,7,9; Lob auf einen hervorragenden Kopisten äussert Fam. 23,19. 3 Luc. Phars. 5,111–113. 4 Ps. 95,5. 5 Lact. Div.inst. 1,7,9. Mit dem Wort Dämon bezeichnete die Antike sowohl gute wie schlechte Geister, auch Götter, aber nicht – wie Petrarca im Gefolge des Lactantius anzudeuten scheint – ausschliesslich böse Unwesen. 6 In Planc. 27,66 spricht Cicero den Ankläger Cassius an. Vgl. ebenda 58 ff. 7 Das ist Lucius C. Longinus; er trat 54 als Ankläger gegen Plancus auf, den Cicero dann verteidigte. 8 Petrarca hat die Worte rudis et ferus, bei Cicero steht aber ludis et feriis, was heisst: „während Veranstaltungen und Feiertagen.“ Damit wird auch der Nebensatz erst verständlich. 9 Cicero bleibt bei Petrarca in der Kopie seiner Werke. Es handelt sich um Pro Milone, Pro Plancio, Pro Sulla und Pro lege manilia. 10 Vgl. Wilkins, Eight years 109 f.

Fam. 18,13, an den Grammatiker Crotto aus Bergamo1 Vergleich zwischen den Leistungen Ciceros und den Mühen des Herkules. 1. Petrarca hat vernommen, dass Crotto Bücher von Cicero besitzt. 3. Vom Lob auf den Redner geht er zum Bitten über. Er hofft auf Leihgaben. (21. August 1355)

1. Ein Gerücht behauptet, Cicero, jetzt unter allen Italern wohlbekannt, sei bei Dir sogar auf Besuch,2 und Du habest sehr viele Bücher dieses grossen Geistes, und zwar sehr seltene. Wie bist Du glücklich, einen solchen Gast zu haben! Um vieles glücklicher als Evandros über seinen Alkeides.3 2. Denn worin wäre die Kraft des Herkules mit der Redegewalt Ciceros vergleichbar? „Fing einst den Hirsch mit den Hufen aus Erz; und am Berg Erymanthos Schaffte er Frieden dem Hain, und sein Bogen erschreckte die Lerna.“4 Da mag man die Taten des Herkules noch so sehr feiern, man entdeckt bei einer gründlicheren Erforschung der Wahrheit, dass dieser seinen Körper ertüchtigte, jener seinen Geist, der eine mit den Armen wirkte, der andere mit der Zunge, der eine bei den Griechen über ein Ungeheuer, der andere bei uns über das verderblichste Monstrum, die Dummheit, siegte. 3. Doch um im Lob auf den Lobenswertesten nicht am Ende zu versagen oder Dich vielleicht mit Aufhäufen des Dir Wohlvertrauten zu ermüden, wende ich mich vom Loben zum Bitten. Obwohl Dir von Angesicht unbekannt, wollte ich Dich ersuchen, mir so, wie Dir gut erscheint – ausser Du hältst mich für unwürdig – an Deinem Gast Anteil zu gewähren. Er wird vor meiner Schwelle wohl nicht zurückschrecken, und Dir wird es kaum zur Schande gereichen, wenn Du mir bei meinen Studien Hilfe bietest. Was also meine Feder bei dieser Bitte vermissen lässt, wird unser gemeinsamer Freund mit seinen Worten ergänzen.5 Lebe wohl! (21. August 1355)6

Anmerkungen 1 Croto oder Crotto war der Übername eines Lehrers Jacopo Domenico de Apibus aus Bergamo; dieser war bekannt für seine Sammlung von Ciceroschriften. Petrarca verkehrte mit ihm wohl öfters durch seinen Freund, den Goldschmied Enrico Capra, der den hier folgenden Brief übermittelte. Vgl. Wilkins, Eight years 106; und vgl. auch den folgenden Brief Fam. 18,14 an den selben Adressaten. Zum Goldschmied vgl. Fam. 21,11 und 22,11. 2 Vgl. zum „Cicero aus Bergamo“ Fam. 20,11,1.

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Fam. 18,13

3 Alk(e)ides ist ein Name für Herkules, weil er als Enkel des Alkaios betrachtet wurde. Von Evandros ging die Sage, er sei vor dem Troischen Krieg aus Arkadien nach Italien ausgewandert, habe dort Aeneas getroffen und sei erster Siedler Roms geworden (Verg. Aen. 8); auch habe er den Kult des Herkules dahin gebracht. 4 Drei Taten des Herkules werden angedeutet: Der Fang der Hindin im Gebirge Keryneia; die Überwältigung des erymanthischen Ebers; der Kampf mit der Hydra im Sumpf von Lerna; vgl. das folgende Schreiben. 5 Der Freund ist der Überbringer des Schreibens; vgl. oben Anm. 1. 6 Zu Datierung und Inhalt vgl. Wilkins, Eight years 106.

Fam. 18,14, an den Grammatiker Crotto aus Bergamo1 Lob auf Ciceros Gespräche in Tusculum und auf Cicero selber. 1. Petrarca hat von Crotto Werke Ciceros als Leihgabe erhalten. 2. Zu den Taten des Herkules gibt es Parallelen bei Cicero. 3. Petrarca kann das mit Leichtigkeit belegen. 4. Die Taten Ciceros sind denen von Herkules jedoch weit überlegen. 5. Petrarca hält Cicero für das grösste Sprachgenie der lateinischen Antike. 7. Seine Meinung stützt sich nicht zuletzt auf Urteile Senecas und Quintilians. 11. Die ihm gesandte Abschrift ist fehlerfrei. Mailand, am 1. September (1355).

1. Mit welcher Freude höre ich doch, meine eindringlichen Bitten hätten Deine Schwelle so leicht betreten, dass sie – um von Ablehnung gar nicht zu reden – nicht der leisesten Andeutung eines Zögerns begegnet seien! Und wie glücklich ich Deinen Cicero unter meinem Dache betrachte, das vermöchte sogar Cicero selber kaum auszudrücken! Es handelt sich aber, sei’s dank einem Zufall, sei’s dank einer bestimmten Überlegung – schon gibt es nichts mehr, was ich Deinem Scharfsinn nicht zutraute –, um genau jene ciceronianische Schrift, die eine im früheren Schreiben erwähnte Auffassung als neue anbieten oder als alte wie mit ehernen Nägeln2 befestigen könnte. 2. Zwar hat Herkules als ein Weltenbummler weit auseinander liegende Gebiete befriedet und den Wald von Nemea von einem Löwen, die Höhen des Erymanthos von einem Eber, den Aventin vom brandstiftenden Räuber, den Sumpf der Lerna von der vielköpfigen Schlange gesäubert3 und ist darauf für solche und ähnliche Taten dank dem Wohlwollen der durch ihn befreiten Völker auf den Flügeln des Ruhmes angeblich zum höchsten Himmel aufgestiegen. Dennoch bedeutet es einiges mehr, was unser Cicero in eben diesem fünfteiligen Büchlein geleistet hat,4 und dass es sich so verhält, kann ich sehr leicht beweisen. 3. Im ersten Teil erlegt er die den Sterblichen überall mit schrecklichem Gebrüll auflauernde Todesfurcht; im zweiten bändigt er den heftigen und schwer verwundenden Schmerz des Leibes; im dritten erdrückt er eine – gleichsam finsterste Nebelschwaden aushauchende – Geisteskrankheit und im vierten rottet er die verschiedenartigen giftigen Leidenschaften des Herzens samt den Wurzeln aus.5 Meint vielleicht jemand, diese Monstren seien, weil unsichtbar, eben harmloser als jene Schreckensgestalten, die Herkules Ruhm verliehen? Mir kommt im Gegenteil nichts schlimmer vor als ein Feind, der schadet und nicht sichtbar wird. 4. Schliesslich erklärt er im fünften Teil die Funken des Verstandes als sternengleiche Lichter, wodurch gezeigt wird, dass zum seligen Leben die alleinige Tugend genüge. Und was ist mir eben dieser fünfte Teil des Werkes, wenn nicht ein Abbild des ciceronianischen Himmels, wo dieser sternklare und erhabene Verstand, nachdem er weit und breit so manche ungeheuerlichen Irrtümer überwunden hat, zur Ruhe kommt?

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Fam. 18,14

5. Wie ein Heidenvolk nach Belieben den Herkules feiern mag, so handle ich an unserem Cicero, und zwar bete ich ihn nicht an als einen Gott, sondern verehre und bewundere ihn als einen Mann göttlichen Geistes, und mehr als sich denken lässt, staune ich über die Köpfe gewisser Gelehrter unserer Epoche, die ihn mit ich weiss nicht welchen Geistesgrössen, zwar bedeutenden, wie ich zugebe, aber keineswegs ebenbürtigen, zu vergleichen pflegen. 6. Obwohl ich wünsche, es werde anderen von mir – wie eben auch mir von andern – immerfort ein freies Urteil gewährleistet, weiss ich doch, woran ich selber in meinem Inneren festhalte und was da so sehr verwurzelt ist, dass es durch keine Kraft zu entfernen wäre! Nicht einmal durch Demosthenes, käme er aus der Unterwelt zurück und stürmte mit der ganzen Macht seiner Sprachgewalt dagegen an! Auch nicht durch die Eiferer, die Ciceros strahlenden Namen sein Leben lang mit dem Gewölk ihres Neides zu umhüllen suchten, ja nach seinem Tod erst recht darauf beharrten und es sogar noch zuversichtlicher taten, weil ihre Furcht vor schlagfertiger Antwort jetzt dahinfiel und zugleich ein blutrünstiger Feind Ciceros sie begünstigte,6 aber sein Tod ihren Zorn noch nicht gesättigt und ihren Neid noch nicht erstickt hatte. 7. Ich glaube weit eher mir selber, nein vielmehr der Wahrheit, dem allgemeinen Ruf und den vielen bedeutenden Autoritäten, die ich aufzählen wollte, wären sie nicht unzählbar. Wenigstens zwei will ich erwähnen, aber nicht italienische (denn es soll nicht Heimatliebe das Zeugnis verdächtig machen), sondern Spanier, und zwar grosse und hochangesehene Gelehrte, deren Wort noch darum besonders glaubwürdig ist, weil sie unter sich Gegner und von ganz verschiedener Wesensart waren. Wie sie nun einzig in ihrem Lob auf Cicero einig gehen, ist zu vernehmen wohl weder absonderlich noch abwegig.7 8. Annaeus Seneca, ein gewaltiger Gelehrter, hat im Buch seiner Deklamationen gleich nach dem Anfang folgendes gesagt:8 „Was immer die römische Beredsamkeit vorweist, um es dem überheblichen Griechenland gegenüberzustellen oder vorzuziehen, ist im Umkreis Ciceros aufgeblüht. Alle Studien, die der lateinischen Literatur ein Licht aufsetzten, wurden mit diesem Mann geboren.“ 9. Und kurz darauf: „Mir scheint, ich habe alle grossen Redner gehört ausser Cicero; und nicht etwa meine Lebenszeit hat ihn mir versagt, sondern der damals wütende und alle Länder überziehende Bürgerkrieg. Ich verhielt mich still in meiner Kolonie, andernfalls hätte ich ihn sehen und seine geistreichen Ansichten hören können, nämlich in jenem kleinen Atrium, wo gemäss seinem Wort zwei vornehme Praetextati9 mit ihm zu deklamieren pflegten. Und eben dieses Genie, welches allein für das römische Volk so hohen Wert wie sein Imperium besass, und von dem allein gesagt werden dürfte, was von vielen ohne Unterschied gesagt wird, hätte ich mit eigenen Ohren vernehmen können.“ 10. Aber auch Quintilian, ein höchst scharfsinniger und peinlich genauer Gelehrter hat in seinem Lehrbuch zur Redekunst10 nach mancher gewichtigen Aus-

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sage über Cicero und seine herausragende Stellung in der Redekunst so geschlossen: „Deshalb wurde er von seinen Zeitgenossen nicht zu Unrecht der Fürst des Gerichtswesens geheissen. Und bei späteren Generationen kam es so weit, dass der Name Cicero nicht mehr einen Menschen, sondern geradewegs die Beredsamkeit selber bezeichnete. Auf ihn also wollen wir aufmerken. Seine Redeweise sei unser Vorbild. Und eben jener glaube an den eigenen Fortschritt, der an Cicero grosses Gefallen findet.“ Just dieses letzte Zitat, beim Herkules, freut mich, sofern es zutrifft; denn andernfalls wagte ich ja nicht zu hoffen, ich sei ein wenig voran gekommen! 11. Doch ich hole schon viel zu weit aus. Dieser Dein Cicero, verherrlicht im Titel „Tusculanische Gespräche“, in welchem der Name einer zerstörten und dann verschwundenen Kleinstadt lebt,11 war mir von frühester Jugend an aufs beste vertraut, und eben diesen hast Du mir jetzt in einer tadellosen Fassung,12 „korrekt bis zu den Fingernägeln,“ samt anderen Tullianischen Werken und mit einem ungemein freundschaftlichen und anmutigen Begleitbrief gesendet. Dafür danke ich Dir, und nach einem gewissen Recht unserer jüngst geschlossenen Freundschaft beschwöre ich Dich, Du möchtest meinem brennenden Wunsch – er ist Dir aus meinen Briefen oder aus der Rede unseres Freundes13 gewiss schon bekannt – in der bestimmten Hinsicht Dich immer gefälliger erzeigen. Lebe wohl! Mailand, am 1. September (1355).14

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 18,13 an den selben Crotto. 2 Hor. Carm. 3,24,5–7. 3 Petrarca fügt zu den in Fam. 18,13 erwähnten Taten des Herkules zwei weitere an: Nemea ist eine Landschaft der Peloponnes, wo der Held einen unverwundbaren Löwen erwürgte; auf dem Aventin aber riss er den feuerspeienden Cacus, der ihm Rinder gestohlen hatte, aus seiner Höhle. Diese Tat gehört nicht zu der kanonischen Zwölfzahl, wird aber bei Verg. Aen. 8, 190 ff. berichtet. 4 Petrarca hat vor sich das Buch Tusculanae disputationes. 5 Hier also die Parallelen zu den Kämpfen mit Löwe, Eber, Räuber Cacus und Hydra. 6 Den Namen dieses Feindes kann ich nicht angeben. Clodius starb 52, also vor Cicero; von seinen Hauptfeinden überlebte ihn Antonius, er starb im Jahr 30; der Historiker Sallust, der gegen ihn eine Schmähschrift (ob echt ?) verfasste, starb 34. Kritiker hatte er als Redner viele, so Asinius Pollio und seinen Sohn; vgl. Fam. 24,6,7 ff. und 24,9,5 ff. 7 Vgl. Fam. 18,4,5. 8 Controv. 1, praef. 6. Das von Petrarca zitierte Werk stammt nicht vom Philosophen Seneca, sondern von dessen Vater. Zu seiner Zeit hat man die beiden noch nicht voneinander geschieden; vgl. das Personenreg. 9 Das sind Redner und Grammatiker dieses Familiennamens; vgl. a. a. O. 10 Inst. 10,1,112. 11 Tusculum, in den Albaner Bergen, wo Cicero 45 das genannte Werk verfasste.

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12 Lateinisch ad unguem correctum, korrekt bis zu den Fingernägeln, ist eine Formulierung, die Petrarca öfters verwendet. Hier bezieht er sie auf die Handschrift der Tuskulanen, indem er an ihren Verfasser Cicero denkt. Ins Deutsche lässt sich das kaum übernehmen. 13 Gemeint ist wie im vorangehenden Schreiben der Überbringer des Briefes, der Goldschmied Capra aus Bergamo. 14 Rossi hat im Datum: 1. Dezember, weil er eine spätere Änderung Petrarcas übernahm. Vgl. dazu Wilkins, Eight years 106, wo auf Arnaldo Foresti, Aneddoti della Vita di Francesco Petrarca, Brescia 1928, 372 f. verwiesen wird.

Fam. 18,15, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio)1 Kein Geschoss Fortunas fliegt hinauf in die Burg der Vernunft. 1. Petrarca verweist dem Freund sein vieles Klagen. 2. Dass Boccaccio nicht als Poet bezeichnet werden will, quittiert Petrarca mit Spott. 4. Eingetroffen sind bei ihm die vom Adressaten gesandten Bücher; und dass sein Dankesbrief nie ankam, wundert ihn nicht. Der Bote wird manches mündlich berichten. Mailand, am 20. Dezember (1355).

1. Deinen zahlreichen Episteln, die ich in letzter Zeit gelesen habe, entlockte ich einzig dies: Du bist verstimmt. Das wundert mich, ärgert und schmerzt mich. Was denn bitte kann das sein, was Deine Brust erschüttert, wo sie doch mit so viel Bildung und mit einem Mörtel aus Moral und Natur gefestigt ist? Ich las Deinen „syrakusischen“ Brief, und ich entdeckte Dionysios.2 Doch was soll’s? Was denn, wenn der Tod und wenn Kummer, wenn Karzer, Exil und Armut hereinbrechen? Sie sind Pfeile der unbändigen Fortuna. Und welches dieser Übel wäre zur hoch thronenden und bewehrten Burg Deines Geistes emporgestiegen,3 hättest nicht Du selbst diesen Feinden aus eigenem Antrieb die Schlüssel ausgeliefert? Freilich, das gebe ich zu, wird manches oft rascher gesagt als getan und leichter gelehrt als gelernt.4 2. Zornig bist Du (um anderes zu übergehen), weil ich Dich in meinem Brief einen Poeten nenne.5 Sonderbar! Poet wolltest Du sein, doch der Name Poet ist Dir zuwider? Wo doch viele genau diesen Namen begehren, selbst ohne die Kunst zu besitzen! Oder kannst Du, weil noch nicht mit dem Laub des Peneios bekränzt, kein Poet sein?6 Würden etwa, wenn es nirgendwo Lorbeer gäbe, die Musen alle verstummen? Und wäre es etwa unerlaubt, einen hoch tönenden Gesang im Schatten einer Pinie oder Buche zu dichten? 3. Doch weil mich die knappe Zeit eben sehr einengt, denke ich nicht daran, mich mit Dir in einen gründlicheren Streit einzulassen. Schau selber zu, wie Du genannt sein willst; ich für meine Person betrachte Dich ein für allemal so, wie ich beschlossen habe. Im einen Punkt also folge ich Dir, im andern mir. 4. Deine mir geschenkten Bücher sind bei mir angekommen und die von Dir zurückgeschickten, habe ich ebenfalls empfangen. Dass Du meine Dankesbriefe nicht erhalten hast,7 müsste mich wundern, hätten wir nicht vieles dieser Art täglich zu erleiden. Das gehört zu meinen dauernden Beschwerden. Über alles weitere hat dieser junge Mann, der mich liebt und auf Dich begierig ist, mündlichen Bescheid für Dich übernommen, und hast Du ihn angehört, weisst Du nicht allein, was ich tue, sondern auch, was ich denke und darüber hinaus, was ich Dir zu tun und zu denken empfehle. Ich möchte, Du wärst wohlauf! Mailand, am 20. Dezember (1355).8

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Anmerkungen 1 Vgl. die früheren und späteren Briefe an diesen Freund Petrarcas, besonders Fam. 18,4. 2 Name zweier Tyrannen von Syrakus. Berühmt sind die Briefe, die Platon an sie richtete. Hier Deckname für den Regenten im Königreich Neapel/Sizilien, also für Niccolò Acciaiuoli. Er hat die Erwartungen, die Boccaccio mit seinem Aufenthalt in Neapel verband, nicht erfüllt, den Dichter überhaupt früher und später wenig freundlich behandelt. Vgl. E. G. Léonard, Un poète à la recherche d’ un ami: Boccace et Naples, Paris 1944. 3 Von dieser Hochburg des Geistes, oft mit dem Olymp verglichen, spricht Petrarca häufig; vgl. Fam. 18, 9, Anm. 5. 4 Boccaccio war im Sommer und Herbst 1355 sehr krank; vgl. Wilkins, Eight years 110 f. und 144. ff. 5 In Fam. 18,4,2 sagt Petrarca höchstens andeutungsweise, dass er Boccaccio als Poeten betrachte und seinen zukünftigen Ruhm voraussehe. Ein Brief, in dem er klarer spricht, ist wohl verlorengegangen. Zur Verstimmung Boccaccios vgl. oben die Notiz im Überblick. 6 Der Peneios fliesst durch das Tempetal, wo ein Apollon-Heiligtum lag; von diesem brachte man Lorbeerzweige nach Delphi. 7 Vgl. Fam. 18,3 und 18,4. 8 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years (wie oben Anm. 4) mit Literaturangaben.

Fam. 18,16, an Andrea Dandolo, den Dogen von Venedig1 Warnung vor Kriegsplänen. 1. Petrarca erinnert an seinen früheren Brief ähnlichen Inhalts. 3. Er gedenkt auch der von Mailand versuchten, ihm anvertrauten Friedensvermittlung. 4. Seine Bemühungen in Venedig waren vergeblich. 5. Verhängnisvoll war das Gerücht von sich nahenden ausländischen Söldnertruppen. 6. Keinen grösseren Wahnsinn gibt es, als für den Kampf unter Italienern sich fremder Söldner zu bedienen. 8. Aus Venedig hat Petrarca nur Selbstvorwürfe heimgetragen. 11. Die Hoffnung auf eine Gesinnungsänderung des Dogen gibt er nicht auf. 13. Er schildert erneut das Unglück eines Krieges. 17. Der Doge könnte den Herrn von Mailand zum Freund haben, wenn er wollte. 19. Unfassbar, dass er die Republik den Söldnern ausliefern könnte. 28. Er soll sich den Namen eines Friedensstifters verdienen. Der Dichter nimmt Gott und seinen Brief zum Zeugen, dass er die Kriegspläne verurteilt.2 Mailand, am 28. Mai (1354).

1. Nichts Neues wirst Du hören, nichts Ungewohntes lesen, sondern bloss das selbe, womit ich Deine Ohren und Augen schon oftmals ermüdet habe. Du erinnerst Dich gewiss, hochansehnlichster Doge,3 welch langen Brief voll grosser Liebe und Erregung und Angst ich Dir einst geschrieben habe, nicht fürchtend für mich, jedoch für Italien, das freilich, so gestehe ich, mein zeitliches Heil in sich einschliesst. Das war vor fast drei Jahren, und eben hatte der Kriegsgott unheilbringend zwei hervorragende Völker in schreckliche Waffen gesteckt, doch war das dunkle Meer noch nicht rot von Blut.4 2. Solltest Du Dich meines Schreibens aber nicht erinnern – ich werte es ja nicht so hoch, dass ich meine, es verdiene solche Erinnerung –, dann hättest Du doch wenigstens Deine ganz vortreffliche und sehr gewichtige Antwort nicht vergessen können. Nachdem man schon in zwei Treffen gekämpft, schon zwei Meere mit unseren doppelten Niederlagen versehrt hatte und man schon fast als Wirklichkeit vor sich sah, dass der hochlodernde Zorn nicht anders als im breiten Blutstrom verebben könnte, 3. da hat kürzlich dieser Grösste der Italer5 mich als getreuen (und ach wie erfolglosen!) Friedensvermittler zu Dir und Deinen Bürgern gesandt,6 und einen kundigeren Dogen und ein ruhigeres Volk hat es niemals gegeben. Wie viele Worte ich im Rat, dem Du vorstehst, und wie viele ich allein mit Dir in Deinem Gemach aufwandte, das wird Dir wohl wegen der zeitlichen Nähe noch jetzt, ich möchte sagen: in den Ohren klingen. 4. Doch es war umsonst! Denn den Verstand Deiner Räte und – was mich in sonderbarem Mass bestürzt – auch den Deinen hatten die Kriegslust und das Waffenklirren, Überreste alter Bitterkeiten und der Gedanke an den letzten stolzen Sieg7 gegen heilsame Ermahnungen und sehr berechtigte Bitten verschlossen. Das allerdings ist nichts Unerhörtes. Denn der „Zorn“ ist, wie Cicero8 sagt, „ein Feind der Besonnenheit“ und „der Sieg seiner Natur nach anmassend und hochtrabend.“ 5. Aus dem Norden war gleich einem dünnen Lüftchen etwas von gewissen Neuigkeiten hierher gedrungen. Wohl lief das Gerücht meinen Plänen zuwider

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und bewirkte eben das, was ich befürchten musste; aber es hätte – mit Verlaub gesagt – Eure Bedachtsamkeit nicht aufheben und Eure vernünftigeren Beschlüsse nicht zerstreuen dürfen.9 Wie lange noch wollen wir Arme nach barbarischen Hilfstruppen ausschauen, damit sie dem Vaterland an die Kehle springen und ein allgemeines Morden veranstalten? Wie lange noch wollen wir Fremde in Sold nehmen, damit sie uns erwürgen?10 6. Mit klaren Worten will ich aussprechen, was ich denke: Unter allen Irrtümern der Sterblichen – und sie sind unzählig – gibt es keinen verderblicheren Wahnsinn, als wenn wir, italische Männer, solche Verwüster Italiens anwerben und solches gar unter gewaltigen Kosten und riesigen Verlusten. Wie sähe das Land doch aus – ach Barmherzigkeit, ach unbändiger Schmerz! –, befände es sich in den Händen liebender Freunde und Wohltäter! Dabei ist es schon während so vieler Generationen in den gewalttätigen Händen von Zerstörern! Und dennoch sogar heute allen anderen Ländern weit überlegen! 7. Warum fahre ich fort zu sprechen? Ist ja gerade Dir alles, was ich sage, bestens bekannt? Gespürt habe ich damals unter Qualen die Nachstellungen Fortunas. Doch wenn ich geglaubt hatte, diese gelte den wahrhaft Gebildeten für ein Nichts,11 so habe ich doch gelernt, dass sie etwas sei. Ja ich wurde gezwungen, mit Sallust12 zu bekennen, „sie beherrsche alles“, dann mit Cicero,13 „sie sei Herrin der Welt“, und mit Vergil,14 sie sei „allmächtig und unbezwingbar.“ Ich habe also viele Worte verschwendet! Und so voll Hoffnung war ich auf meinem Weg zu Dir, wie voll Trauer und Scham und Angst auf dem Rückweg. 8. Das öffentliche Los beweinte ich; auch schämte ich mich meiner. Denn obwohl ganz ungeeignet, hatte man mich zu so wichtigem Geschäft ausersehen. Dank der Wertschätzung des Sendenden und entgegen meinem heftigen Sträuben kam es dazu, dass ich nicht bloss als irgendein Glied der so rühmlichen Gesandtschaft, vielmehr als Anführer und Redner der überaus tüchtigen und hochgelehrten, mich weit überragenden Männer auftrat und nicht etwa die Frucht einer ausgezeichneten Verhandlung, sondern nichts als das Verschulden meines Ungenügens davontrug! Und dies, obwohl mein Mitgesandter in der letzten Auseinandersetzung – wenn nicht Liebe zu ihm mich täuscht – mein Versagen mit glanzvoller soldatischer Erörterung der Sache wettmachte. 9. Aber verstopfte Ohren zu öffnen und widersetzliche Herzen zu rühren, steht unserer Rede nicht zu, und vielleicht nicht einmal der eines Cicero. Nur hervorragendste Redekunst oder überhaupt keine vermag Widerwillige zu zwingen. Das habe ich voller Angst schon zu Beginn jener erregten Rede unter Verwendung eines ciceronischen Ausspruchs15 vorgebracht, der besagt, „nötig sei ein Herz ohne Widerstreben.“ Dies betonte ich ganz umsonst, wie alles übrige. 10. Ich befürchtete nämlich sehr, was ich jetzt vor mir sehe, dass der Grund für diesen gewaltigen Krieg und die Ursache eines grenzenlosen Unheils in Eurer Herzenshärte besteht. Würde sie Dir und den andern Vorstehern der Republik so missfallen wie mir, einem Ein-

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zelgänger fern aller Politik,16 wäre die Italia noch heute gemäss ihrem Recht glückliche Herrscherin über alle ihre Provinzen, sie, die schon beinah eine Sklavin ist. 11. Weil jedoch grosse Liebe mir viel an Kühnheit verleiht und ich einen Rest der lieben Hoffnung nur widerwillig von mir werfe, werde ich immer und immer wieder alles versuchen und selbst aus so grosser Entfernung Dich, einen Dogen unvergleichlicher Weitsicht, mit Bitten beschwören. Es könnte ja sein, dass ich in der Ferne erfolgreicher wäre als in der Anwesenheit und mit der Feder mehr vermöchte als mit der Zunge. Oder dass eine zweite Epistel die erste überträfe. Bekannt ist Dir, Vortrefflicher, dass von allen vergänglichen Dingen die Hoffnung als das letzte abgelegt wird, nämlich erst mit dem Lebenshauch, nein, dass sie auch dann nicht abgelegt, sondern dem Besseren zugekehrt wird, so dass sie endlich doch an ihr Ziel gelangt! 12. Doch meine Rede verweilt im Bereich der Sterblichen. Eben die Hoffnung belebt mich jetzt. In ihr allein finde ich – ermattet ob der vielen politischen Fehlschläge und erschreckt durch mächtige Drohungen Fortunas – einige Ruhe. Zu leben höre ich auf, wenn ich aufhöre zu hoffen. Und fragst Du mich, was ich erhoffe, so erhoffe ich, was ich wünsche, nämlich dies: Einen gesunden Verstand und einen reiferen Entschluss, der, wenn nicht auf einer Berechnung, so doch auf Erfahrung beruht. 13. Du kennst dank eben der Erfahrung, was der Friede und was der Krieg mit sich bringt. Gesehen hast Du die Mienen beider Geschicke: Ihr wart besiegt und Ihr wart siegreich, obwohl Du das eine – der Menschensinn ist ja unbändig und voll Begierde nach Sieg – wahrscheinlich leugnen wirst.17 Ich streite darüber nicht; mag sein dass Ihr immer gesiegt habt. Aber rechne aus, was Dir und der Republik mit Euren Siegen beschert wurde! Wahrhaftig eine Einbusse an Gold, eine an Blut, und was am schlimmsten ist: eine Zunahme an Unrecht und Unglück.18 14. Und wenn Sieger solches erdulden, was müssen dann Besiegte erwarten? Diesem anderen Geschick wende jetzt Dein Auge zu! Es schaut ja auf die übrigen Dinge so wachsam und durchdringend wie das eines Luchses. Findet sich da mehr an Verlust als an Gewinn, mehr an Bösem als an Gutem, mehr an Schandtat als an Heldentum, ja ist da im Krieg überhaupt nichts an Gut und Gewinn und wird da ein unendlicher Haufen sogar an Gegenteiligem aufgetürmt, so halte endlich ein, und nimm für sicher, dass mit Rücksicht auf Dein teilweise troisches Blut jener bestimmte Dardanus mit seinem Wort gerade auf Dich zielt:19 „Wirf die Geschosse weg; Du Sohn meines Blutes…“ 15. Lass nicht zu, dass unter Deiner Führung die Gewalten der Veneter und Ligurer20 zusammenprallen. Wie Du siehst, hält sich der Krieg schon nicht mehr in deren Grenzen, denn er hat etwas Ansteckendes, kriecht leicht in die Nachbarschaft, umfasst allmählich selbst Entferntes und schwemmt nach Art eines Wild-

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bachs sogar manches, was zuerst für unangreifbar galt, unter seinem Schlamm von Hass und Zwietracht mit sich. 16. Du hast gemeint, mit den Genuesen hättest Du zu schaffen, und das allein wäre schon bedrückend und beklagenswert genug gewesen. Doch sieh, nun führst Du Krieg mit ganz Ligurien.21 Und was ich unter all diesen Übeln nicht etwa als das kleinste ansehe: Auch dem wahrhaft grossen Fürsten und Friedensstifter22 widersprichst Du. Dabei weiss ich nicht, ob seine Tüchtigkeit oder sein Schicksal wunderbarer ist und ob grossartiger seine Kühnheit oder seine Menschlichkeit. 17. Es pflegt unter Hochstehenden eine gewisse Umgänglichkeit und ein Wohlwollen selbst gegen Unbekannte zu herrschen, da die Natur verwandte Seelen zusammenschmelzt. Ähnlichkeit schafft ja Freundschaft, und der gemeinsame Nutzen nährt sie. Nun seid Ihr beide gerecht, beide klug, beide grossherzig. Wo wäre da ein Grund zur Uneinigkeit? Der Friede ist Euch beiden nützlich; vielmehr allen notwendig ausser jenen, die sich vom Raub ernähren und einen geringen Besitz mit reichlichem Blut erkaufen.23 Ein ungeheuerliches Menschengeschlecht ist das, sofern überhaupt als Menschen gelten dürfen, die vom Menschen nichts haben als das Aussehen. 18. Sie sind es, die eines schimpflichen Soldes wegen ein verzweifeltes, schmutziges Leben führen. Sie haben guten Grund, den Frieden und samt dem Frieden auch den Hunger zu fürchten, also den Krieg zu lieben und gleich Wölfen und Raubvögeln sich der Menschengemetzel und Kadaver zu freuen.24 Willst etwa auch Du solche Bestien nachahmen? Ohne Unterschied verzehren sie Fleisch und Eingeweide der Erschlagenen; ohne Unterschied lechzen sie nach Blut und Geld. 19. Nimm Dich doch ja in acht vor dem Verbrechen, die so blühende, Deiner Obhut anvertraute Republik und die zwischen Apennin und Alpen sich erstreckende ungemein fruchtbare und herrliche Gegend Italiens den ausländischen und hungrigen Wölfen als Beute auszuliefern. Von ihnen hat uns ja, wie ich beständig wiederhole, gerade die vorsorgende Natur25 durch die Joche der Alpen getrennt; und so dürfen wir über niemanden klagen. Denn es ist unser eigener Mangel an Ausdauer, der jenen den Weg gebahnt hat. Während wir uns für die leichtesten Vergehen unserer Landsleute rächen, haben wir zugelassen, dass Ausländer an den unsern sich ungestraft weiden und an deren Innereien sich mästen! Ach wie viel besser wäre, wenn jene Fremden durch Hungern und Rasen sich selber verzehrten! Und wirklich, das würden sie tun, sobald die Hirten in Italien wieder Vernunft annähmen. Denn die umsichtige Vorsorge der Hirten ist der Tod der Wölfe. 21. Dass allen voran Du selber Dich dazu ermannst, ja dass Du solches schon getan hast, das hoffe ich. Denn ich täusche mich kaum in der Annahme, Dich habe schon Empörung erfasst, und längst erfülle Dich die Anmassung und Habsucht der Söldner mit Ekel. Worauf also wartest Du? Wende Dich an Dein Herz! Und wenn die Ausländer Dir missfallen, so liebe die Deinen! 22. Sollte jedoch in Deinem Innern etwas an Rost, etwas an Hass zu finden sein, so reibe beides mit der Liebe

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zum Vaterland und mit der Anteilnahme am allgemeinen Jammer hinweg. Und rede Dir nicht ein, im Untergang Italiens werde Venedig sich retten. Es ist ja ein Teil Italiens, und zum Wesen des Teils gehört, das Schicksal des weiter bestehenden oder des einstürzenden Ganzen mitzutragen. Indem Du solches immer neu überdenkst, bester Doge, hüte Dich wohl, die ganze Sache auf die äusserste Spitze zu treiben, wo das Unterliegen zwar ein Elend, aber das Siegen ein Verbrechen und eben dadurch noch schlimmer ist als das Unterliegen. 23. Besser wäre, unsere Geschosse gegen unsere Feinde – und dass wir doch keine hätten! – statt gegen uns selber zu richten. Besser wäre es, die riesigen Summen für Schutzmassnahmen im unvermeidlichen Krieg oder zur Verherrlichung des Friedens als zur Errichtung einer freiwilligen Knechtschaft zu gebrauchen. Beeile Dich, so viel Du vermagst! Und da man dem vergangenen Übel nicht abhelfen kann, widerstehe dem kommenden! 24. Und warte nicht zu, bis das über uns drohende Gewölk des Krieges sein Gewitter auf unsere Häupter entlade und ganz Italien sich im eigenen Blut ertränke. Da die Umstände das Klagen erlauben, aber nicht mehr das Ratschlagen, schüttle den Schlaf von Dir, wecke die Bürger und zeige ihnen die umfassende Gefahr. Tu das, bevor alles zugrunde geht und bevor Italien sich entweder in Wüste oder in Barbarenland verwandelt! 25. Lass nicht den Anschein entstehen, dass Du – von Natur aus gütig und friedfertig – mit Deinem ganzen Volk, dessen Glück nicht im Kriegswesen, sondern auf dem Fundament von Frieden und Gerechtigkeit ruht – jenen Scharen angehöre, die gemäss einem Wort des Psalmisten:26 „Böses sannen in ihren Herzen und den ganzen Tag Schlachtpläne ausheckten;“ oder dass Euch etwa des selben Psalmisten Verfluchung trifft:27 „Zerstreue die Völker, die nach Kriegen verlangen.“ 26. Nichts ist, so meine ich, Gott so unerträglich, als wenn Du, obwohl von Ihm mit besonderen Vorzügen ausgezeichnet, in einer Weise handelst und eiferst, dass Du eigenwillig und in einem unbändigen Begehren ein schlechter Mensch wirst. Deshalb wiederhole ich hier immer und immer wieder und rufe Dir zu: „Folge nicht dem Wahnsinn der grossen Menge, sondern Deiner Natur, die Dich ohne Unterlass auf die rechte Seite und zu allem Besseren ruft. 27. Und bist Du vielleicht mit Rücksicht auf die Volksgunst bis zum Unguten abgeirrt, so zieh Deinen Fuss vom abschüssigen Pfad zurück! Jetzt kann es noch geschehen, weil die Feldzeichen noch nicht versammelt sind, der fürchterliche Mars noch immer nur donnert, aber nicht blitzt, noch immer das teuerste Wort des Friedens vernehmbar ist, noch immer die eine Hoffnung (weil trotz so vielen Schrecken noch nicht aufgezehrt) als einzige Leuchte durch die dichte Finsternis dringt, um vielleicht nicht wiederzukommen, wenn man sie sinken lässt. 28. Greife nach ihr, so lang sie sich anbietet, damit man Dich einen Urheber des Friedens in Italien heisse und damit Du dank vielen und grossen Leistungen, vor allem jedoch dank diesem bestimmten Verdienst, Deinen Namen den späteren Geschlechtern glorreich überlieferst. Nichts rate ich Dir, ausser was Deine Pflicht ist: nämlich der Ver-

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nunft zu folgen, nicht Deinem Ungestüm, und nicht im Ungestüm alles mit Dir ins Verderben zu ziehen. Wäre das bei jedermann verächtlich, so doch bei Dir am verächtlichsten. Ja auch völlig befremdend, denn was hätten Dein Bücherwissen und Dein Studium der edleren Künste genützt – von der, wie die Fama verkündet und nicht lügt, zu unserer Zeit kein anderer Doge so überbordende Kenntnis hat –, wenn Du zwar das Bessere voraussehen könntest, aber das Schlechtere wähltest? 29. Fern bleibe Dir eine solche Schandtat! Und weil meine Epistel schon wortreicher ist, als ich wollte, bitte und flehe, dränge, bestürme und beschwöre ich Dich bei Deiner Liebe zur Gesittung und Bildung, in welcher Du niemandem nachstehst, und bei der Vaterlandsliebe, in der Du jeden überflügelst, ja auch bei den fünf Wunden Christi,28 denen das heiligste und wahrhaft schuldlose, uns erlösende Blut entströmte, Du möchtest mir, wenn ich gut und pflichtgemäss und getreulich gesprochen habe, Ohr und Herz nicht verweigern, und sofern mein Ratschlag Dir genehm ist, seinen Urheber nicht verschmähen. 30. „Andernfalls“ müssen mir Christus, der alles sehende Gott, und für alle Ewigkeit auch „der vorliegende Brief bezeugen,“ – um ein Wort des Philosophen Plutarch einzuschieben29 – „dass Du nicht auf Anraten“ Francescos „Dich bereit machst zum Verderben“ Italiens, dass dieser vielmehr mit all seinen Kräften dies zu verhindern bemüht war und, weil zu anderem ausserstande, mit lautem Wehruf und mit gewaltigen Seufzern seines Herzens Dich zurückrief. Lebe wohl! Mailand, am 28. Mai (1354).30

Anmerkungen 1 Das Schreiben Fam. 18,16 antwortet auf einen Brief des Dogen vom 13. Juni 1354 (ediert unter den Werken Petrarcas in der Edition Venedig 1501), den bereits Fam. 15,4, berücksichtigt hatte. Vgl. auch Petrarcas früheres Schreiben an diesen Dogen Fam. 11,8, wo er sich ebenfalls gegen Kriegspläne ereiferte, weiter seine Briefe an Genua Fam. 14,5 und 14,6. Vgl. auch Wilkins, Eight years 53–60, das Kapitel mit der Überschrift: „The Mission to Venise“. Genaue Auskünfte zu Andrea Dandolo bietet der Dizionario biografico degli Italiani (DBI) Bd. 32. 2 Lateinisch: geminis cladibus nostris. Unsere Niederlagen heisst: die im Streit unserer Seemächte. Doch er weiss, dass die Venezianer nach der Schlacht auf dem Bosporus sich als Sieger ausgaben, wie auch ihre Gegner, die Genuesen, taten. Vgl. Anm. 4. 3 Die lange verschlungene Periode im Lateinischen verlangt hier eine Auflösung und bedeutende Umstellungen. 4 Gemeint sind die Schlachten vom 13. Februar 1352 auf dem Bosporus und vom 28. August 1353 bei Loiera nahe Sardinien. Vgl. Fam. 14,5, 17,3 und 17,4. 5 Gemeint ist Erzbischof Giovanni Visconti, der Herr von Mailand, von dessen Gunst Petrarca damals abhing. Als grösster Italiener, maximus iste italus wurde der Visconti schon in Fam. 16,11,9 bezeichnet. Für einen Friedensstifter hielt ihn Petrarca, weil er kurz vor der Ankunft Karls IV. zu Waffenstillstand und Friedensverhandlung mit der gegen ihn gerichteten Liga bereit war.

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6 Der Aufenthalt fiel wohl auf Ende Winter 1354 und dauerte einen ganzen Monat. Davon spricht Jahre später auch sein Brief Sen. 17,2. Der Herr von Mailand hatte zuerst geplant, eine Delegation mit Petrarca nach Avignon zu schicken, weil Papst Innozenz VI. an den Friedensvermittlungen teilnehmen sollte. An den Plan erinnern knapp Fam. 17,6,3 vom September 1353 und 17,10,8 vom 1. Januar 1354. 7 Gemeint ist der Sieg verbündeter Mächte über Genua bei Loiera; vgl. Anm. 4. 8 Pro Marc. 3,9. 9 Die folgenden Zeilen verweisen auf Gerüchte betreffend bewaffneter ausländischer Hilfstruppen. 10 Zum Söldnerwesen und zu den Übelständen im Heer ganz allgemein vgl. vor allem Fam. 22,14. 11 Vgl. Fam. 22,13,7. 12 Catil. 8,1. 13 Pro Marc. 2,7; Tusc. 5,9,25. 14 Aen. 8, 333. 15 Tusc. 2,5,15. 16 Zweifel am eigenen diplomatischen Geschick äussert Petrarca mehrmals; vgl. Fam. 19,3,6; 22,12,4; 2213,1, wohl nicht aus falscher Bescheidenheit. 17 Über den Ausgang der Schlacht auf dem Bosporus bestanden gegensätzliche Auffassungen; vgl. oben Anm. 2. 18 Nicht vorauszusehen war, dass Venedig im Begriff war, über Genuas Macht weit hinaus zu wachsen. 19 Dardanus: angeblich Gründer von Dardania in Troia, Ahnherr der Herrscher von Troia, von dem sich auch römische und andere Geschlechter ableiteten. In der von Petrarca zitierten Stelle Verg. Aen. 6,835 ist unter dem Namen Dardanus der Vater des Aeneas, Anchises, zu verstehen. 20 Lateinisch: Venetorum et Ligurum regna. 21 Ligurien: für Petrarca so viel wie die Lombardei. 22 Gemeint ist wieder Giovanni Visconti von Mailand; vgl. auch oben Anm. 6. 23 Gemeint sind die Söldnerbanden. 24 Ähnliche Formulierungen in Fam. 22,14,14 f.18 ff. 25 Dass die Alpen die Mauern oder die Akropolis Italiens seien, sagten unter andern schon Cato Censor, Frg. 85, Liv. 21,35,8 und Cic. Phil. 5,37; vgl. Fam. 11,8,4 und 31. 26 Ps. 139,2. 27 Ps. 67,32. 28 Ein Hinweis auf die Verehrung der Wunden Christi findet sich bei Petrarca auch anderswo, so Fam 16,5,2 und 24,11,24 f. 29 Petrarca fand die hier zitierten Worte im Policraticus 5,1, verfasst 1159 von Johannes von Salisbury. Dieser gab eine Epistula ad Traianum wieder, die angeblich von Plutarch stammte. Schon dieser rief seinen Brief zum Zeugnis auf und sagte dann: quia in perniciem imperii non pergis auctore Plutarcho. Plutarchos, berühmt vor allem als Biograph, * ca. 45 n. Chr., † nach 120; vgl. Personenreg. 30 Die Jahreszahl berücksichtigt die oben genannten historischen Ereignisse. Kurz nach Empfang dieses Briefes, im Juli 1354, kaufte Venedig eine bedeutende Schar Söldner, zumeist Ausländer, für 150‘000 Goldgulden. Am 7. September starb der Doge Dandolo, erlebte die Niederlage der Venezianer am 4. November bei Modon vor der Peleponnes also nicht mehr. Vgl. Fam. 19,9. Ein Friede zwischen den gegnerischen Seemächten kam am 1. Juni 1355 im Mailand dank der Vermittlung des Kaisers Karl IV. zustande.

Fam. 19,1, an Karl IV.1 Glückwunsch zur lang erwarteten Ankunft. 1. Petrarca findet vor Freude kaum Worte. 2. Karl gilt ihm bereits als wahrhafter Cäsar. 3. Alles jubelt, den lang Erwarteten zu empfangen. (Mitte Oktober 1354)

1. Dass eine mächtige Freude uns die Stimme verschlägt, ist üblich; was aber, wenn sie uns den Atem benimmt? Auch ich, so manches Mal wortreich zu Deiner Ermahnung, bin, sieh da, in der Freudenbekundung ganz kurz.2 Was sollte ich sagen? Wo sollte ich beginnen? Befreit hast Du mein Herz von vieler Bangigkeit und es erfüllt mit Freude, gemäss dem Wort des Psalmisten:3 „Sättigen wird mich mit Freuden Dein Antlitz.“ Schon durch den blossen Ruhm Deines Namens ist es gesättigt; was wird da das kaiserliche Antlitz, was die erhabene Stirn vermögen? 2. Langmut wünschte ich in der Wartezeit und Geduld. Und sieh, nun beginne ich zu wünschen, dass ich solchem Jubel gewachsen und für solche Freude nicht untauglich sei. Schon bist Du mir nicht mehr bloss König von Böhmen, vielmehr König der Welt, schon römischer Kaiser, schon wahrhafter Cäsar! Du wirst finden, bezweifle es nicht, was ich versprochen habe. Alles ist bereit: Diadem, Herrschaft, unsterblicher Ruhm, offener Zugang zum Himmel und überhaupt alles, was einem Menschen zu bitten und zu hoffen gegeben ist. 3. Dich mit allerlei Sprüchlein angestachelt zu haben, das lobe ich mir jetzt frohlockend. Da Du über das Joch der Alpen eben herabkommst, eile ich Dir in Gedanken entgegen und gewiss nicht als einziger. Eine ungeheure Menge ist bei mir, und wahrlich auch die uns allen gemeinsame Mutter Italien und das Haupt Italiens, Rom! Sie gehen Dir entgegen und rufen mit lauter Stimme Dir jene Verse Vergils zu:4 „Endlich bist Du nun da, und wie es die Mutter erhoffte, Siegte auf mühsamem Pfad Deine Liebe…“ Und verschmähe und verstosse nicht aus Rücksicht auf Germanien diese Deine Mutter, bei der Du frühe Jahre Deines Lebens verbracht hast!5 Und – wenn Du der eigenen Ehre gedenkst – auch die letzten verbringen wirst. Wir jedenfalls pflegen Dich, Cäsar, wie ich schon immer gesagt habe, woher Du auch kommen magst, als Italer anzusehen.6 Wenig nämlich tut es zur Sache, wo Du geboren bist, sondern wozu. Lebe wohl und wirke, Cäsar, und eile! (Mitte Oktober 1354)7

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Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an König Karl IV. Fam. 10,1; 12,1 und 18,1. Die Übersetzung hält sich wie immer an die Briefausgabe Rossi, doch sei ab und zu hingewiesen auf die sehr verdienstvolle Ausgabe der lateinischen Texte mit Anmerkungen von Paul Piur, Petrarcas Briefwechsel mit deutschen Zeitgenossen, in: Vom Mittelalter zur Reformation, Bd. 7, Berlin 1933; auf diese stützt sich der Band Petrarca, Aufrufe 384–389 (lat. und dt). Karl war 1346, als Ludwig der Bayer noch lebte, in Bonn zum König gekrönt worden. Nach Ludwigs Tod 1349 in Aachen nochmals gekrönt, verhandelte er wegen seines Italienzuges und seiner Kaiserkrönung in Rom mit der Kurie in Avignon. Einige Schwierigkeiten fielen unter dem neuen Papst Innozenz VI. (gewählt 18. Dezember 1352) dahin. Am 26. September 1354 brach Karl in Nürnberg mit nur geringer militärischer Begleitung auf und zog von Salzburg aus über die Alpen nach Udine, wo er am 14. Oktober ankam, reiste von dort weiter nach Mantua, Mailand und über Pisa, Siena nach Rom, wo er am 2. April 1355 anlangte. 2 Der mailändische Stadtherr Erzbischof Giovanni Visconti war am 2. Oktober 1354 gestorben. Dem König Karl hatte Petrarca, wie er selber angibt, in früheren Briefen alles dargelegt, was immer er ihm persönlich zu sagen hatte. Dieser Brief ist daher kurz. 3 Ps. 15,10. 4 Verg. Aen. 6,687 f. 5 Vgl. Fam. 10,1,7 f. 6 Vgl. Fam. 10,1,12 und 26; 12,1,2 ff, 18,1,15 und passim. 7 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 78. Angaben zu den Briefen Petrarcas findet man bei Dotti, Vita leicht mit Hilfe des Indice dei luoghi petrarcheschi.

Fam. 19,2, an Zanobi da Strada1 Beschreibung eines besonders kalten Winters. 1. Der Norden Italiens leidet unter aussergewöhnlichem Winterwetter. 2. Petrarca hört in Mantua Karl IV. von der grossen Kälte in Germanien sprechen und vermutet eine geheimere Ursache. Er hätte auf Briefe Zanobis trotz der Kälte geantwortet, doch er hat sie nicht rechtzeitig empfangen. 6. Immer wieder erreichen Briefe ihre Adressaten nicht; sie werden oft auf ihrem halben Weg abgefangen. Am 27. Dezember (Mailand 1354).

1. Die Kürze der Zeit beschränkt mir die Lust am Schreiben; und die eiskalte Luft dämpft die Hitze des Kopfes. Beispiellos ist dieses Jahr, und der fürchterliche Winter gilt dem Volk schon beinah als erschreckendes Wunderzeichen, das, wie man zu sagen pflegt, das Beten lehrt.2 Oh Parthenope, so voller Ruhe, und oh Campanien, so berühmt für Deine Geistesgrössen! Von Euch hat Maro3 gesagt: „Ewiger Frühling! Wenn nicht gar jeder Monat ein Sommer.“ Aber wahrhaftig ganz anders ist die Mutter des so Dichtenden, die eisige Stadt Mantua, und auch ganz anders das von lästigen Kälteschüben geplagte und von schneereichen Höhen der Alpen wie des Apennin erdrückte Ligurien.4 2. Könnte freilich sein, dass dieses Jahr, welches in seiner neuen Art sogar alte Leute verwirrt, irgendeine mir unbekannte geheimere Ursache aufgedeckt hat, denn es ist vielleicht der neue Cäsar, der aus den Gegenden Germaniens die Kälte seines Landes in unser Wetter herüber bringt. Die ist übrigens so gross, dass sie sogar bei den Germanen Bestürzung hervorruft. 3. Wirklich, ich hörte vor einigen Tagen5 in Mantua, wohin mich der Cäsar mit eindringlichen Bitten bestellt hatte, in einem zwanglosen Gespräch, deren mich der überaus gütige Fürst oft würdigt, obwohl er mich bisher einzig durch Briefe kannte (er ist aber nach Sitte und Sprache nicht weniger Italer als Germane), ich hörte ihn also sagen, selbst in Germanien habe er kaum einmal eine solche Kälte erlebt. Darauf habe ich ihm geantwortet, das habe wohl der Himmel so verfügt, damit ein deutscher6 Soldat ob einer plötzlich veränderten Wetterlage und Hitze Italiens nicht in Schrecken gerate.7 4. Doch ich lasse das. Der Winter wird den Frühlingslüften weichen, der Sommer den Nordwinden, alles dem Greisenalter, bis der Tag kommt, der allen Tagen ein Ziel setzt, und bis die Stete der Ewigkeit allen Zeitenwandel in sich vereinigt. Die Natur verrichte ihr Geschäft; inzwischen wollen wir dem unseren nachgehen. 5. Mir freilich hätte sogar ein noch so bissiger Frost, wie er bei den riphäischen Bergen oder den meotischen Sümpfen lagert, die Lust, einen langen Brief abzufassen, nicht verkürzt, sofern ich nur Deine Briefe rechtzeitig erhalten hätte. Doch als Dein hochangesehener Mann8 in Mailand eintraf, war ich, wie angedeutet, dort abwesend, und als ich da zurück war, fand ich zwar Deine höchst kunstvollen Epis-

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teln, aber den Boten schon reisefertig. Da kam mir sinnlos vor, etwas anzufangen, was sich nicht beenden liess. 6. Alles Übrige an seinem Tag! und vielleicht wird uns ein längerer und stillerer geschenkt. Jedenfalls will ich an dem heutigen kurzen und stürmischen kein anderes Wort sagen als dieses: In den vergangenen zwei Jahren sei an Briefen von Dir überhaupt nichts bei mir eingetroffen. Mich wundert nicht, dass es Dich wundert,9 ja gar entrüstet. Unsere Briefe finden auf halbem Weg ihre Räuber.10 Doch müssen wir’s tragen, es lässt sich nicht ändern.7. Was wissen wir denn? Vielleicht, Freund, begeistern wir viele für unsere Studien. Vielleicht haben wir viele zu rühmlichem Eifer angefeuert. Sie mögen fortfahren; lass sie machen! Sie sollen uns doch oft die Arbeit verdoppeln, unsere Briefe abfangen und entwenden! Wenn sie uns nur lieben und das Geraubte bewundern! Geschrieben mit erstarrten Fingern, am 27. Dezember vor Tagesanbruch (Mailand 1354).11

Anmerkungen 1 Das Schreiben steht (lateinisch) bei Piur, Briefwechsel 180 f., und im selben Band findet man auch die andern Briefe Petrarcas, die deutsche Verhältnisse berühren. Zu Fam. 19,2 vgl. Fam. 16,10 und die noch früheren Briefe an diesen Adressaten, auch die Bemerkungen über ihn in späteren Familiares, weiter in den beiden an ihn gerichteten Metr. 3,8 und 3,9, bei Schönberger lat. und dt. 248 ff. Nach der Abfassung dieses Briefes fand die Dichterkrönung Zanobis durch Karl IV. statt, nämlich am 24. Mai 1355 in Pisa. 2 Vgl. bei Liv. 26,11,4 die Wendung res vertitur in religionem, die Petrarca hier wie schon oben Fam. 15,2,9 und wieder 20,14,3 abwandelt. 3 Verg. Georg. 2,149. 4 In dieses Wort schliesst Petrarca die Lombardei ein. 5 Lateinisch: nudiustertius; hat oft nicht den ursprünglichen Sinn. 6 Hier steht im Lateinischen theutonicus. Petrarca unterscheidet regelmässig zwischen germanisch und deutsch. 7 Diese Deutung wiederholt Petrarca in Fam. 21,7,3. 8 Im Lateinischen: iste vir clarus: ein angesehener Mann, der einen Botendienst übernommen hatte. 9 Mirari te non miror; eine von Petrarca geschätzte Wortwiederholung. 10 Vgl. Fam. 18,15,4, ebenso Fam. 20,6,4 ff. und andere Schreiben mit ähnlicher Klage. 11 Die Jahreszahl ergibt sich aus Petrarcas Hinweis auf seinen Besuch bei Karl IV. in Mantua.

Fam. 19,3, an seinen Lelio1 Falscher Ruhm sei nicht zu begehren und wahrer nicht zu verschmähen. 1. Lelio sei aus Liebe leichtgläubig wie seine Namensvettern in der Antike. An Friedensverhandlungen in Mantua hat Petrarca nicht teilgenommen. 8. Doch Karl IV. hat ihn dorthin gerufen. 9. Schilderung der Reise dorthin durch eisige Kälte. 11. Freundschaftlicher Empfang durch den Fürsten. 12. Gespräche über Werke Petrarcas. 14. Geschenke Petrarcas, die Karl gefallen. 16. Auf dessen Verlangen erzählt Petrarca sein Leben. 19. Streit über den Wert des Einsiedlerlebens. 22. Karl bittet den Dichter vergeblich um Begleitung nach Rom. 25. Petrarca vergleicht sein ruhmvolles Erlebnis mit einem ähnlichen Platons. (Mailand, im Februar 1355)

1. Leichtgläubig sei die Liebe, sagt Naso,2 und täuscht sich nicht. Schau hierhin, schau dorthin: Die Erfahrung bestätigt es. Wie leichtsinnig nämlich und voreilig neigt die Freundesliebe zu hochfliegenden Hoffnungen und herrlichsten Ahnungen; und was Grossartiges liesse sich ausdenken, was ein Liebender vom Geliebten nicht leichthin glaubte? Ich jedenfalls meine, die Arbeiten des Herkules seien niemandem glaubwürdiger erschienen als dem Philoktetes,3 und ebenso meine ich, das Gerücht von der Eroberung Karthagos habe niemanden tiefer beeindruckt als Laelius. 2. Hellhörig sind die Ohren der Freunde; alles erhaschen sie früher als andere. Gross ist die Zuversicht der Freundschaft; alles Herrliche4 glaubt sie sogleich, und bloss zu glauben, genügt ihr nicht, vielmehr will sie dem Vernommenen Eigenes anfügen. Und wie ist die Begleiterin der Liebe, die brennende Eifersucht, doch umgekehrt so voreilig, alles Missfällige für wahr zu halten. Nicht bloss durch wirkliche Dinge, nein auch durch Schatten und Träume lässt sie sich schrecken. Doch ich kehre zur gutmütigen Leichtgläubigkeit der Freundschaft zurück; von dieser will ich nun reden. 3. Sofern ich richtig verstehe, lebten einst in Rom zwei Männer des Namens Laelius,5 und dieser Name war den Scipionen lieb, indem der eine Laelius den älteren Scipio verehrte und der andere dessen Enkel. Der eine erlebte, dass Karthago tributpflichtig, der andere, dass es zerstört wurde.6 Und sieh da, auch ich habe meinen Laelius! Ihn hat nach vielen verflossenen Jahrhunderten die gleiche Stadt,7 zwar hochbetagt, aber noch immer nicht unfruchtbar, geboren. Du wunderst Dich? Auch Dich täuscht die Liebe. Sehr leichtfertig, mein Laelius, hast Du geglaubt, was Dir wohl der erst Beste, der Dir begegnet ist, von mir erzählt hat, und hast nach dem Grad der Glaubwürdigkeit des Erzählers nicht gefragt. 4. Wer aber wäre so nüchtern, um nicht zu sagen: so hart, dass er auf höchst Erfreuliches gerne verzichtete, zumal wenn die Freude ehrenwert und wenn unter dem Schleier der Freundschaft der Irrtum nicht nur entschuldbar, sondern gar lobenswert wäre? Geglaubt hast Du also, ich weiss nicht wem (denn kaum wagte ich zu vermuten, das Gerücht, das freilich sehr häufig zu lügen pflegt, habe nun gar öffentlich gelogen,

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nämlich dies), ich sei als einziger auserwählt worden, mit dem neuen Cäsar über einen Frieden in Italien zu verhandeln; und nach der glücklichen Beendigung der Geschäfte und nach Erlangung des Friedens für das Gemeinwesen sei ich ruhmbedeckt zurückgekehrt.8 5. Ich möchte nicht, dass Du irrst und aus dem Irrtum falsches Vergnügen gewinnst. Die Sache verhält sich anders, mein Freund. Denn natürlich erforderte eine so schwierige Sache mehr als einen einzigen Kopf. Die Bedeutendsten unter den Grossen waren abgesandt worden. Wenn wir nämlich lesen,9 die Argiver hätten einst die vortrefflichsten Männer zur Eroberung des goldenen Vlieses (des vielleicht bloss erdichteten) ausgeschickt, war es jetzt ja wohl richtig, womöglich noch weit vortrefflichere Italer auszuschicken, um einen wirklichen und goldenen Frieden herbeizuschaffen. Jene früheren haben sich mit geringer Hoffnung auf einem weiten und stürmischen Meer zur barbarischen Insel Kolchis begeben, wo ein unbekannter König Oethes10 regierte; und da hätten die Unsern, obwohl angelockt durch eine grosse, ja unschätzbare Beute, nicht nach Mantua gehen sollen, wohin ein allbekannter Cäsar11 sich schon verfügt hatte und wohin die Wegstrecke kurz und eben war? 6. Sie sind also gegangen und, wie sich zeigte, unter glückverkündenden, heiteren Vorzeichen. Und wie die Griechen eine hochberühmte, giftmischende Magierin,12 so haben die Unsern ein köstliches Gut für das Vaterland heimgebracht! Doch ich war nicht einer von ihnen. Niemand soll sich mit Lügen bei Dir einschmeicheln! Allerdings hätte ich – wiewohl für ein so wichtiges Geschäft nicht im geringsten geeignet13 – aufgrund eines günstigeren Urteils der Auftraggeber der ruhmvollen Mühe nicht zu entrinnen vermocht, wären nicht den öffentlichen Begehren gewisse private Gründe entgegengestanden, die hier besser ungenannt bleiben.7. Damit aber diese Worte Dich nicht zur Meinung verleiten, ich sei ein Verächter allen Ruhmes, sondern damit Du einsiehst, dass ich bloss den falschen von mir stosse, den wahren hingegen nicht verabscheue, will ich sagen, was viele Tage nach dem Weggang unserer Legaten, als schon beinahe alle Vereinbarungen getroffen und bestätigt waren, geschehen ist. Beim Cäsar hatte sich nämlich mittlerweile ein Verlangen nach mir eingestellt; da er mich bereits der Gesinnung, der Sitten und Studien nach kannte, wünschte er, auch mein Äusseres kennen zu lernen. 8. Schon war der Winter mit erstaunlicher Strenge hereingebrochen,14 und dennoch schickte er nach mir, ohne auf meine Beschäftigungen oder Anstrengung Rücksicht zu nehmen, ja, schickte feierliche Gesandtschaft;15 und er, der selbst Königen befiehlt, ersuchte mich, möglichst rasch zu ihm zu kommen. Überdies sandte er Bitten auch an jenen, dem ich, wie er annahm, nichts abschlagen würde,16 und täuschte sich nicht. Was willst Du? Da der eine rief und der andere drängte, bin ich gegangen. Und niemals vorher hat mir dermassen eingeleuchtet, was Augustinus17 gemeint hat, als er sagte: „Eisglatter italischer Boden“. 9. Am 12. Dezember18 ging ich von hier fort, und der Weg gemahnte eher an Stahl und Eisen als an Erde; die Angst

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aber vor der Glätte wurde einzig durch hilfreichen Schnee gemildert, der aber entgegen seiner Gewohnheit auch etwas unheimlich Erschreckendes an sich hatte. Wir trafen dennoch bei grosser Vorsicht immer wieder eine Stelle, wo die Pferdehufe – gegen Eis nutzlos gewappnet – einigermassen feststehen konnten, und die ständige Angst vor dem Stürzen liess uns die Anstrengung der Reise vergessen. 10. Überdies herrschte da noch ein dichter winterlicher und frostiger Nebel, wie er seit Menschengedenken nicht geherrscht hatte, und bei einer rauhen Luft eine ausgedehnte Leere des Geländes, ja eine entsetzliche Einsamkeit, von der Du gesagt hättest, sie eigne sich nicht für Musen und Apollon, wohl aber für Mars und Bellona.19 Überall niedergerissene Häuser, nirgends ein Einwohner, doch rauchende Dächer der Gehöfte, Brachfelder voller Dornen und da wie dort aus Verstecken vorprellende Krieger, für uns zwar nicht gefährlich (denn sie gehörten zu den Unsrigen), aber immerhin grauenerregend, weil sie Spuren des anhaltenden Krieges verrieten.20 Doch ich musste meinem alten Schicksal mich fügen und unter Schwierigkeiten und Gefahren vorangehen. 11. Nachdem ich Mailand verlassen hatte, kam ich in vier Tagen, vielmehr in viertägiger, fortwährender Dunkelheit nach Mantua, wo mich der Nachfolger unserer Cäsaren mit mehr als cäsarenhafter Freundlichkeit und mehr als imperialem Wohlwollen aufnahm. Und um Gewöhnliches zu übergehen: Bisweilen haben wir bloss zu zweit die ganze Zeit vom Anzünden der ersten Fackel bis zur Stille der tiefen Nacht mit Sprechen und Plaudern verbracht. Und kurz gesagt gibt es nichts Gewinnenderes als die Majestät dieses Fürsten und nichts Menschlicheres als sie. Dies eine sollst Du wissen. Über alles andere gebe ich gemäss einem Wort des Satirikers,21 weil „Äusseres nichts verspricht“, noch kein Urteil ab. Wir wollen warten und die Grösse des Cäsars – um der Täuschung zu entgehen – nicht nach seinen Reden und seinem Antlitz, vielmehr nach seinen Taten und Erfolgen bemessen. 12. Das habe ich übrigens ihm gegenüber nicht verhehlt. Denn weil der Cäsar im Gespräch mit mir beiläufig sich herabliess, etwas von meinen Werklein zu fordern, und zwar in erster Linie das Buch mit dem Titel „Von ruhmvollen Männern“, antwortete ich, es sei noch nicht fertig und bedürfe der Zeit und der Musse. Und als er sich dieses auf spätere Zeit ausbedingen wollte, antwortete ich mit der Freiheit, deren ich mich im Umgang mit den Grossen häufiger zu bedienen entschlossen bin, da eine natürliche Veranlagung sie mir geschenkt hat und das heranrückende Alter sie vermehrt und das kommende sie immer weiter vermehren wird. Ich sagte also: „Beachte wohl, es sei Dir versprochen, sofern Dir bis dahin die Herrschertugend erhalten bleibt und mir das Leben.“ 13. Und da er sich wunderte und sich nach dem Grund der Rede erkundigte, sagte ich: „Was mich betrifft, so

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schulde ich einem bedeutenden Werk die gehörige Zeit meines Lebens; denn nur schlecht kann sich das Grosse in der Enge entfalten. Was aber Dich betrifft, Cäsar, so wisse: Nur dann bist Du der Gabe und des Buchtitels würdig, wenn Du nicht bloss dank einem glanzvollen Titel oder einem prunkenden Diadem, sondern auch durch Taten und Geistesgrösse den ruhmvollen Männern Dich angereiht und ein solches Leben geführt hast, dass, nachdem Du die Alten gelesen hast, auch Du selber von den Späteren gelesen wirst.“ 14. Dieser Aussage spendete er mit hellem Leuchten seiner Augen und mit heiterem Nicken seines erhabenen Hauptes seinen Beifall. Daher schien mir jetzt äusserst günstig zu sein, etwas auszuführen, was ich schon einige Zeit zu tun überlegt hatte. Ich nutzte also nach diesen Worten die Gelegenheit, einige goldene und silberne Schaumünzen unserer Fürsten mit feinster antiker Beschriftung, die ich zu meinen Köstlichkeiten rechnete, ihm als Geschenk anzubieten, unter ihnen ein Antlitz von Caesar Augustus, ein fast atmendes. 15. „Und sieh nur“, sagte ich, „Cäsar, auf welche Männer Du gefolgt bist, und sieh, welche nachzuahmen und zu bewundern Du Dich mühen und nach welcher Beispiel und Vorbild Du Dich richten musst. Niemandem – ausser Dir – hätte ich sie jemals gegeben; Deine Hoheit hat mich dazu bewogen. Mir zwar sind ihre Sitten und Namen und Taten bekannt; aber Dir obliegt, sie nicht nur zu kennen, sondern auch zum Vorbild zu nehmen. Darum sollen sie Dir gehören.“ Und als ich darauf von jedem einzelnen die wichtigsten Lebensdaten in aller Kürze zusammenfasste, mischte ich darein möglichst viele Worte des Ansporns zur tüchtigen Tat und zur eifrigen Nachahmung. Darüber geriet er in unbändiges Vergnügen, und es schien, als hätte er kein anderes Geschenklein lieber empfangen. 16. Doch wozu soll ich Dich mit Einzelheiten hinhalten? Vieles hat er mit mir noch besprochen, was ich übergehe. Nur von etwas Bestimmtem, das Dich wohl wundern wird, mag ich nicht schweigen. Vom Tag meiner Geburt bis zum jetzigen Alter wollte er meines Lebens – sage ich ganze Fabel oder Geschichte? – in zeitlicher Folge vernehmen, wiewohl ich beteuerte, sie sei viel zu lang und ermüdend. Und während ich eine ziemliche Weile erzählte, hörte er mit Geist und Ohr sehr aufmerksam zu, so dass, wenn ich irgendwo aus Vergesslichkeit oder im Bedürfnis nach Kürze etwas ausliess, er es sogleich ergänzte und oft dies und jenes aus meiner Vergangenheit besser wusste als ich selber; denn von solcher war (zu meiner Verwunderung) ein Dunst durch irgendeinen Windhauch über die Alpen gefegt worden und hatte dort Augen getrübt, die mit der Betrachtung irdischer Mängel beschäftigt waren. 17. Da schliesslich meine Erzählung bis zum heutigen Tag gelangt war und ich kurz innegehalten hatte, forschte er mich über meinen Plan für mein weiteres Leben aus und fragte: „Sag, wie denkst Du über Deine Zukunft? Wie willst Du Dein Ende gestalten?“ – „Meine Absicht, Cäsar“, antwortete ich, „ist sehr gut,

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obwohl ich bisher mein Wirken nicht bis zur Vollkommenheit habe ausfeilen können. Die frühere Lebensweise, ungestüm und mächtiger als die gehegte Absicht, wirft das Herz einem frischen Vorsatz entgegen wie eine Flut, von anderen Lüften bedrängt, gegen aufkommenden Wind.“ – 18. Hierauf sagte er: „Ich glaube, es ist, wie Du angibst; doch ich wollte etwas anderes hören. Welche Lebensweise würde Dir zusagen?“ Ich antwortete ungesäumt und unbedenklich: „Die der Einsamkeit; denn sie bedeutet das sicherste, ruhigste und beglückendste Leben, und meines Erachtens übertrifft sie selbst den glorreichen Gipfel Deiner Regentschaft. Ihr will ich, sofern es mir vergönnt ist, an ihrem eigensten Ort, das heisst in Wäldern und Bergen, wie ich schon oftmals getan habe, andernfalls aber, soweit als möglich, ganz wie ich jetzt tue, ihr hier in den Städten ergeben sein.“ 19. Dazu sagte er lächelnd: „Ich wusste es, und wissend habe ich Dich zu diesem Bekenntnis mit Fragen schrittweise hingeführt, um Dein Urteil, das ich in manchem billige, am Ende zu missbilligen.“ – Damit begann unter uns ein gewaltiger Wortstreit, während dessen ich immer wieder ausrief: „Sieh nur Cäsar, wohin Du Dich vorwagst! Du lässt Dich auf einen ungleichen Kampf ein; im Streit um diese Frage müsstest nicht allein Du, sondern sogar der mit Syllogismen bewaffnete Chrysippos erliegen.22 20. Lange Zeit nämlich habe ich einzig darüber nachgedacht, und so ist mein Kopf voll von Beweisen und Beispielen. Die Lehrmeisterin des Lebens, die Erfahrung, teilt meine Ansicht; nur die gedankenlose und unbelehrbare Menge sträubt sich dagegen. Verzichte darauf, ihre Partei zu ergreifen; ich werde Dich besiegen, Cäsar, vor jedem gerechten, wenn urbanen Tribunal; ja, ich bin so erfüllt von dieser Sache, dass ich kürzlich einen wenigstens kleinen Teil davon als ein besonderes Büchlein ediert habe.“23 21. Er unterbrach mich aufs prompteste: „Auch das weiss ich, und sollte mir dieses Buch je in die Hände kommen, werfe ich’s ins Feuer.“ – „Ich werde dafür sorgen, Cäsar“, versetzte ich, „dass es nicht zu Dir kommt.“ In dieser Weise wurde mit langen Scherzreden der Wortstreit weitergesponnen, und ich muss gestehen, dass von allen, die mir je als Gegner eines einsamen Lebens bekannt wurden, ich keinen gegen diese Lebensweise überzeugender habe argumentieren hören. 22. Das aber war das Ergebnis: Wenn man von einem Cäsar sagen oder glauben darf, er sei unterlegen, so ist er durch Worte und Beweise – ausser ich täusche mich – besiegt worden, obwohl er nicht bloss überzeugt war, Sieger zu sein, sondern auch öffentlich als Sieger auftrat, um mich zuletzt noch zu bitten, ihn nach Rom zu begleiten. Das nämlich sei der eigentliche Grund dafür gewesen, mich trotz meinem Bedürfnis nach Ruhe bei so schlechter Witterung zu bemühen. Er wünsche die so herrliche Stadt nicht nur mit seinen eigenen Augen, sondern, wenn ich so sagen darf, auch mit den meinen zu betrachten. Auch bedürfe er meiner Gegenwart in gewissen tuskischen Städten, die er übrigens so schilderte, dass man ihn als Italer von italischer Geistesart ansehen könnte. 23. Mir hätte das nicht wenig zugesagt, denn die beiden teuren Worte Rom und Cäsar sind so innig ver-

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einigt, dass mir nichts hätte lieber sein können, als den Cäsar nach Rom zu begleiten. Dennoch habe ich aus mancherlei Gründen, teils vertretbaren, teils notwendigen, abgelehnt, worüber dann nochmals ein Streit entbrannte, der sich manche Tage hinzog und bis zum letzten Lebewohl nicht zu beheben war. Nachdem ich ihm nämlich nach seinem Aufbruch aus Mailand bis über die Mauern Piacenzas hinaus und bis zum fünften Meilenstein gefolgt war,24 gelang es mir in einem fast endlosen Wortgefecht doch kaum, mich von ihm loszureissen. 24. Zu diesem Zeitpunkt war es, dass ein gewichtiges und freies Wort eines tuskischen Ritters aus dem Gefolge des Cäsars sich hören liess.25 Er hielt mich bei der Hand und sagte, die Augen auf jenen gerichtet: „Der ist es, oh Kaiser,26 von dem ich Dir oftmals gesprochen habe; wenn Du Lobenswertes vollbringst, wird er nicht dulden, dass Dein Ruhm im Schweigen versinke; im übrigen versteht er zu reden und zu schweigen.“ 25. Doch ich nehme den Faden wieder auf. Nicht deshalb vermeide ich eine gebotene Ehrung, weil sie mir verhasst wäre, sondern weil mir die Wahrheit über alles teuer ist. Vermittler des Friedens war ich nicht, wohl aber sein Anhänger; nicht sein Bittsteller, aber sein Befürworter und Lobredner. Dem Anfang der Verhandlungen habe ich nicht beigewohnt, doch dem Ende.27 Denn als zuletzt durch öffentliche Verlautbarungen der Friedensschluss bekräftigt wurde, wollten der Cäsar und Fortuna, dass ich dabei sei. 26. In der Tat weiss ich, dass in dieser Hinsicht keinem Italer mehr zuteil wurde als mir: nämlich gerufen und gebeten zu werden vom Cäsar, zu scherzen und zu disputieren mit dem Cäsar. „Platon, dem Oberpriester der Weisheit, hat“, wie Plinius mitteilt,28 „der Tyrann Dionysios29 ein mit Bändern geschmücktes Schiff zugesandt und hat ihn, als er ausstieg, persönlich mit seinem weissen Viergespann an der Küste empfangen.“ Das wird als etwas Grossartiges zur Ehre Platons berichtet. 27. Schau nun, mein liebster Lelio, worauf ich ziele und dass ich nichts von dem, was mir zu wahrer Ehre gereicht, übergehe. Woran würde ich mich nicht wagen, wo ich mich doch selbst mit Platon zu vergleichen nicht scheue? Aber ferne sei, dass ich mit jenem mich vergleiche, dem (gemäss einem Urteil grösster Denker und vor allem des Tullius30 und Augustinus25) nicht einmal Aristoteles vergleichbar ist! Nicht auf die Geistesgaben, sondern auf die Begebenheiten bezieht sich mein Vergleich. 28. Der Genannte hat dem Platon, den er vielleicht von der Burg von Syrakus aus gesichtet hatte, für eine bescheidene Meerstrecke ein bebändertes Schiff gesandt; der Cäsar dagegen hat einen sehr edlen Ritter, einen Mann von grosser Tüchtigkeit,31 über eine Wegstrecke von mehreren Tagen – mit Bitten beladen – mir zugeschickt. Jener frühere hat einen, der von sich aus herbeikam, empfangen; dieser hier aber hat mich gebeten zu kommen. Stelle nun alles Einzelne nebeneinander, also den gewappneten Ritter neben das bebänderte Schiff und die Freundlichkeit des Cäsars neben das Viergespann des Dionysios, schliesslich den römischen Princeps neben

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den sizilischen Tyrannen! Ich glaube, Du wirst billigerweise bekennen, dass ich Platon an Glück übertreffe! Doch schon haben wir im Scherz genug an Ruhm erschlichen, und das könnte nicht der Eitelkeit entbehren, spräche ich mit Dir anders als mit mir selber. Den Brief, den ich in Deiner Angelegenheit an den Cäsar schreiben soll, auf dass Du – von ihm begleitet – noch sicherer und mit grösserer Zuversicht vor jenen hintreten könnest, empfängst Du mit diesem zusammen.32 Beide erwarten Dich in Pisa, wo Du Deinerseits den Fürsten erwarten wirst. Das Empfehlungsschreiben – wie ich hoffe – aber noch weit mehr Deine eigene Vortrefflichkeit und das Andenken an unsere Heroen werden Dir den Zutritt zum Cäsar verschaffen. Lebe wohl! (Mailand, im Februar 1355)33

Anmerkungen 1 Fam. 19,3 (lateinisch bei Piur, Briefwechsel 182 ff.; auch lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 426 ff.) antwortet auf einen Brief, den Lelio dem Dichter im Februar geschrieben hatte. Lelio, sesshaft seit einiger Zeit in Rom, befand sich jetzt in Avignon, weil er Aufgaben für den Empfang Karls in Italien übernehmen und Kardinal Bertrandi als päpstlichen Legaten zur Kaiserkrönung nach Rom begleiten sollte. Vgl. die früheren Schreiben Petrarcas an diesen Freund, vor allem auch das unten folgende Empfehlungsschreiben Petrarcas zu seinen Gunsten Fam. 19,4. 2 Metam. 7,826 und Her. 6,21. 3 Freund des Herakles; erhielt von ihm Pfeil und Bogen geschenkt; vgl. Personenreg. 4 Das Wort „Herrliches“ wird im Deutschen zur Verdoppelung des nur einmal gesetzten lateinischen magnificum zugefügt. Der Gegensatz kann sonst im folgenden Satz nicht deutlich werden. 5 Vgl. Personenreg. und die folgende Anm. 6 Africanus Maior besiegte Hannibal bei Zama 202 und Africanus Minor wirkte 146 bei der Zerstörung Karthagos mit. 7 Gemeint ist Rom. 8 Am 30. Dezember 1354 wurde Karl IV. von einer Liga lombardischer Städte dazu ermächtigt, mit den Visconti in Mailand einen Vertrag für einen viermonatigen Waffenstillstand abzuschliessen. Dies geschah dann am 8.-9. Januar 1355 in Mailand. 9 Cic. Tusc. 1,20,45. 10 König Aietes, Vater der Medeia. 11 Karl war am 10. November in Mantua angelangt. 12 Gemeint ist Medeia; vgl. das Personenreg. 13 Vgl. Petrarcas Urteil über seine Eignung bei der Mission nach Venedig Fam. 18,16,8. 14 Von dieser ausserordentlichen Kälte spricht schon Fam. 19,2, dann wieder Fam. 20,14,3. 15 Vgl. unten Abschnitt 28. 16 Gemeint ist wohl Bernabò Visconti. Der Erzbischof Giovanni, Herr von Mailand, war am 5. Oktober 1354 gestorben, und unter seinen drei Neffen vermochte sich in der Folge der genannte über die anderen zu erheben. Petrarca war schon Ende November 1353 Pate von dessen erstgeborenem Sohn geworden. Seine Gattin war eine della Scala, an deren Hof in Verona Petrarca verkehrte. Vgl. Wilkins, Eight years 45,75 ff. und passim. 17 Conf. 9,6,14. Vgl. die Reisebeschreibung in Fam. 21,7,3 ff.

Fam. 19,3

329

18 Petrarca schreibt nicht pridie Idus decembris, wie man gemäss römischem Kalender für den 12. des Monats erwarten würde, sondern ad II. Idus Decembris. Es ist aber nicht der 11. gemeint, denn der wäre der 3. Tag vor den Iden. 19 Bellona: weibliche Gottheit des Krieges. 20 Es herrschte Krieg zwischen einer Liga von Städten gegen Mailand; vgl. Anm. 8. 21 Iuv. Sat. 2,8. 22 Chrysippos, 281/77–208/04, Skeptiker, berühmt für seine dialektische Schärfe. 23 Vom Werk De vita solitaria schrieb Petrarca eine erste Fassung schon 1346 in Vaucluse; er überarbeitete diese jedoch fortwährend; vgl. Dotti, Vita 140 ff. 24 Petrarca war, wie sich aus Fam. 19,2 ergibt, am 27. Dezember wieder in Mailand. Er war zugegen, als Karl dort am 6. Januar, dem Fest der drei Könige, 1355 als Oberhaupt von Reichsitalien die eiserne Krone (Langobardenkrone) empfing. Am 10. oder 12. Januar reiste Karl weiter. 25 Der Name dieses Ritters wird nicht verraten. 26 In diesem Zitat steht imperator, sonst regelmässig cesar. 27 Vgl. oben die Abschnitte 6 ff. 28 Plin. Nat. 7,30,110. 29 Dionysios II., Tyrann von Syrakus, empfing Platon 366. 30 Cic. De fin. 5,3,7; Aug. De civ. 8,4 und 12. 31 Das ist Sagremor de Pommiers; vgl. die Angaben in Fam. 21,7,5; auch Wilkins, Eight years 79 und ebenda die im Register unter Pommiers aufgeführten Stellen. 32 Vgl. das folgende Empfehlungsschreiben zu Gunsten des Freundes Fam. 19,4. 33 Der Brief musste nach Pisa geschickt werden; ebenda sollte Lelio im Geleit des oben genannten Kardinals Bertrandi den König empfangen. Vgl. Wilkins, Petr. corresp. 78 und Eight years 79. 89.

Fam. 19,4, an Karl IV.1 Empfehlung seines Freundes Lelio. 1. Die Freundlichkeit des Kaisers ermutigt Petrarca, eine Bitte vorzutragen. 3. Er rühmt die Urteilskraft des Kaisers. 4. Er zählt die Persönlichkeiten auf, bei denen sein Freund Ansehen geniesst. 5. Auch erinnert er den Kaiser an eine Begebenheit in Avignon. 7. Er versichert, dass für Lelio alle seine hohen Freunde vor dem Kaiser eintreten würden. Mailand, am 25. Februar (1355).

1. Sieh, wie viel Hoffnung und wie viel Mut mir Deine Menschlichkeit einflösst, Cäsar! Nicht bloss wage ich, wie ich immer tat und noch tue, Deiner Gnade mich selber anzuempfehlen, sondern auch andere. Und je schweigsamer ich zu sein scheine, um so kräftiger rufe ich. Freilich, um wahr und genau zu reden, ist es nicht ein anderer, den meine Ergebenheit Dir jetzt empfiehlt, ausser etwa – wie man zu sagen pflegt – ein anderes Ich. 2. Dieser Mann, höchster Cäsar, der sich mit einem Brief von mir Deinen Füssen nähert,2 ist ein römischer Bürger von edlem Blut und noch edlerer Geistesart, und ich hätte Grund, zu seinem Lob weitschweifig zu sein, denn seine Klugheit, Treue, Beflissenheit, Beredtheit, Umsicht und seine vielfältigen anderen Gaben bieten einen reichen, ausgiebigen Stoff zur Erörterung, doch halte ich’s für angezeigt, ihn ganz Dir, Du weisester Fürst, und Deinem eigenen Urteil anzuvertrauen. Du wirst ihn, während diese meine Feder der Sache vielleicht nicht gewachsen ist, auf das trefflichste einschätzen, wenn Du Dich würdigst, mit dem durchdringenden, untrüglichen Blick Deines göttlichen Sinnes auf ihn zu sehen und ihn kennen zu lernen. 3. Mit Deiner eigenen Wahrnehmung also wirst Du ihn beurteilen. Doch wenn ich bei Dir, unbesieglicher Cäsar, einiges Vertrauen geniesse, so wisse, dass er ein tüchtiger Mann ist, mit vielen Gaben der Natur und der Wissenschaft geziert, der – um es kurz zu fassen – an sich selber (ausser meine Liebe täuscht mich) Deiner Huld und Deines Wohlwollens würdig ist. Kommt dazu, dass er der heiligen Kaisergewalt und Deinem Namen stets im höchsten Mass ergeben war und insbesondere Deinen Anhängern liebenswert. 4. So hat denn einst der grossherzige, unvergessliche Stefano Colonna,3 dessen Treue gegenüber Deinem glorreichen Grossvater, dem römischen Kaiser, in der ganzen Welt aufs beste bekannt ist und der sich nach Deinem Tag und nach Dir nicht weniger sehnte als Simeon nach Christus,4 aber freilich – vom Alter besiegt und vom Tod überrascht – das Ersehnte nicht mehr erlebte: Er hat diesen geliebt wie einen Sohn. Auch seine ganze hochadlige Familie hat diesen Mann wie einen Bruder stets in brüderlicher Liebe umfangen.5 5. Giovanni Colonna6 aber, der grosse Enkel des genannten Stefano, der vornehme und kraftvolle Jüngling, dessen Ende jedoch unheilvoll und dessen Leben allzu kurz war: wüsste ich nicht aus anderer Quelle, wie hoch Du ihn geschätzt hast,

Fam. 19,4

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so bliebe doch, dass ich es einst dank eigener Anschauung erahnen konnte. Es war vor ungefähr sieben Jahren,7 und die göttliche Vorsehung machte sich eben daran, Dich zum Kaisertum zu erheben. Da besuchtest Du die römische Kurie, die unter Preisgabe des Tibers jetzt an der Rhone weilt, und das war genau zur Zeit, als ich selbst – Dir unbekannt – mich dort aufhielt! Damals sah ich, wie Deine Majestät sich in der Öffentlichkeit vertraulich an seine Schulter lehnte und ihn in liebevoller Umarmung umfasst hielt! Und sieh, eben dieser ist es, der den genannten Mann wie einen Vater verehrte! 6. Wozu viele Worte? Alle haben einmütig auf die Treue dieses Mannes gebaut, und einzeln haben sie, miteinander wetteifernd, ihn geliebt. Er aber war allen gefällig und kannte eines jeden Geheimnis. Mit ihnen hat er die Kindheit, mit ihnen die Knabenjahre, mit ihnen das Jünglingsalter hingebracht; und er hatte beschlossen, mit ihnen auch die blühende Jugendzeit und das Alter zu verbringen und endlich mit ihnen zu sterben, und hätte es auch getan, wenn nicht ein verfrühter Tod dieses ganze ruhmvollste, Dir völlig ergebene Geschlecht in ach so kurzer Zeit dahingerafft hätte.8 7. Doch jene alle, die so lange sie auf Erden weilten, die Deinen waren, sind auch jetzt – so meine ich –, wo sie auch wohnen, noch immer ganz die Deinen und erflehen für Dich ein glückliches, lang dauerndes Leben und den erwünschten Erfolg Deiner Herrschaft. Stelle Dir nun vor, sie alle hätten sich zu Deinen Füssen versammelt und bäten Dich in grossem Vertrauen, diesen Mann, welcher der Ihre war, zu dem Deinen zu machen! 8. Und bedenke dabei, dass er dem römischen Bischof Clemens, der Dich vor allen anderen wie ein Vater liebte und den Du wie ein Sohn verehrtest, nahestand und teuer war!9 Und dass er auch dem König der Franzosen,10der mit Dir durch Blut und Liebe verbunden ist, überdies dem Bischof von Porto,11der mit der Leuchtkraft seines Geschlechts und seiner Gesinnung das Kardinalat der römischen Kirche verherrlicht (und Dir als Priester wie ein Vater und in seiner Herzlichkeit wie ein Bruder gilt), auf die selbe Weise nahe und teuer ist. 9. Wo fände jetzt unter so vielen strahlenden Namen mein Name12 einen Platz? Und dennoch – sieh wie grosses Vertrauen der Glaube hervorbringt! – werde ich wagen, mich als ein Käuzchen unter die Adler und als ein Maulwurf unter die Luchse zu mischen und hingegossen zu bitten, Du möchtest diesen Mann, den die eigene Tüchtigkeit und die Zuneigung so vieler Menschen Dir empfehlen, zuerst kennen lernen und dann, wenn er es verdient hat, lieb und wert haben. Sein Name lautet Laelius;13 dieser galt bei den Alten, wie Cicero sagte,14 „für weise und für ausgezeichnet durch ruhmvolle Freundschaft.“ Bei uns hat dieser Gleichnamige denselben doppelten Lobspruch erworben. Der frühere hatte zum Freund einen Scipio, und ich bin freilich kein Scipio wohl aber ein Freund, und für den Freund trete ich vor dem Herrscher fürbittend ein.15 Lebe wohl, Cäsar, wirke, siege und herrsche, unser gedenkend! Mailand, am 25. Februar (1355).16

332

Fam. 19,4

Anmerkungen 1 Vgl. den lat. Text bei Piur, Briefwechsel 44 ff.; lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 442. Vgl. die beiden vorangehenden Briefe Fam. 19,2 und 3 über einen Besuch Petrarcas bei Karl IV. in Mantua (alle auch bei Piur und in Aufrufe). 2 Es handelt sich um Lelio. Vgl. zu diesem Freund Petrarcas das Personenreg. und die dort angegebenen Stellen. 3 Stefano der Alte, Vater von Petrarcas Freunden Colonna, berühmt vor allem durch seine Feindschaft gegen Papst Bonifaz VIII., später durch seine Unterstützung Heinrichs VII. (des Grossvaters Karls) bei dessen hart umstrittener Krönung am 29. Juni 1312 in Rom; er starb 1348/1349. 4 Gemeint ist der greise Simeon im Tempel zu Jerusalem mit seinem prophetischen Wort über das Christkind; vgl. Lc. 2,25–32. 5 In einem Dienstverhältnis stand er gegenüber dem Kardinal Colonna und später dem Bischof Giacomo Colonna von Lombez. 6 Gemeint ist der Neffe des Kardinals Colonna, der 1347 im Kampf gegen Anhänger Colas di Rienzo fiel. 7 Petrarca rechnet die Jahre nicht genau. Karl war mit seinem Vater Johann von Böhmen wegen Verhandlungen mit Clemens VI. im April 1346 in Avignon. Zum König wurde Karl am 11. Juli 1346 in Rhens gewählt, gekrönt darauf in Bonn am 26. November, doch ein zweites Mal gekrönt in Aachen am 25. Juli 1349. 8 Von den zahlreichen Kindern des alten Stefano starben einige Anfangs der vierziger Jahre, so Petrarcas Freund, Bischof Giacomo von Lombez 1341. Einige fielen, wie angedeutet, im Kampf gegen Cola, andere im Pestjahr 1348. Als Petrarca Fam. 19,4 verfasste, lebte noch als Stammhalter der Familie der junge Stefanello, von dem in Fam. 16,1,6 die Rede ist. Er war 1352 Senator in Rom, musste 1353 die Stadt für einige Zeit meiden und starb 1360. 9 Karl war mit sieben Jahren an den Hof von Paris gekommen und hatte dort die Gunst des Abtes Pierre von Fécamp, des späteren Papstes Clemens VI., gewonnen. Lelio wurde von diesem Papst mit verschiedenen diplomatischen Aufgaben betraut. 10 Karls Schwester Guta war mit Jean le Bon (König 1350–1364) verheiratet. Karl selber hatte zu seiner ersten Gattin eine Schwester von Philippe VI. (König 1328–1350), namens Blanca. 11 Kardinal Guy de Boulogne, verwandt mit dem französischen Königshaus wie auch mit den Luxemburgern, also der Familie Karls. Vgl. Petrarcas Briefe an diesen und die Briefstellen, die ihn nennen, gemäss Personenreg. 12 Im Lateinischen steht die bewusst gewählte Wortfolge nomina nomini. 13 Ausnahmsweise wird hier der Name in der lateinischen Form wiedergegeben, weil der Text Petrarcas das nahelegt. 14 Cic. Lael. (De am.) 1,5. 15 Lelio wurde 1355 familiaris domesticus des Kaisers Karl und Generalprokurator des kaiserlichen Fiskus in Italien. Bei der Krönung des Kaisers spielte er als Syndicus des römischen Volkes eine beachtliche Rolle; vgl. Fam. 20,2. Er starb 1363 in Rom. 16 Vgl. Wilkins, Eight years 90 und Petr. corresp. 78.

Fam. 19,5, an den Grammatiker Moggio von Parma1 Aufmunterung zu gemeinsamen Studien. 1. Ein Wunsch, den Petrarcas Sohn dem Adressaten ausgedrückt hat, wird unterstützt. 2. Moggio wird eingeladen, als Freund bei Petrarca zu wohnen. 4. Er soll da über sein Leben völlig frei verfügen. 5. Doch wird er gebeten, sich um die Weiterbildung von Petrarcas Sohn zu kümmern. 7. Der Dichter verspricht ihm eine Freiheit, die er wegen seines Ruhmes selber nicht geniesst. 9. Den Freunden wird in Mailand Ambrosius nahe sein. Mailand, am 1. Mai (1355).

1. Unser junger Mann2 hat Dir geschrieben, was, weiss ich nicht. Richtiger: Ich weiss nicht mit welchen Worten und überhaupt nicht wie, doch weiss ich was. Er hat gewiss nicht geschrieben, um Dich mit Bitten zu belästigen, sondern um Deine Neigung auszuforschen, ob Du nämlich bereit wärst, bei uns zu wohnen. Weil nun aber gerade die Jugend an Zweifeln wenig leidet und vorschnell etwas ausheckt, um sich einen Wunsch zu erfüllen, kann Dir wohl willkommen sein, wenn ich bekräftige, was Du von ihm vernommen hast. Höre also, und – willst Du von wenigen Worten vieles ableiten – halte dieses Papier für die Niederschrift von Abmachungen unter Verbündeten. 2. Ich möchte Dich nämlich gerne bei mir haben, obwohl ich weiss, dass Dir die Höfe der Grossen und Mächtigen offenstehen.3 So habe ich mir denn eingeredet, besser bekomme Dir, sofern ich Dich wirklich kenne, mit uns die Armut als mit jenen den Reichtum zu teilen. Köstlicher ist ehrliche Armut mit einem Freund als gewaltiger Reichtum unter einem Herrn, und das gilt vor allem, wenn einer auf Freiheit, Ruhe und Einfachheit so begierig ist, wie Dich vielleicht nicht die Natur, aber dann vermutlich Dein Studium gemacht hat. 3. Und das Wort Armut sei Dir nicht verdächtig. Denn, glaube mir, es gibt hier so wenig Raum für Schmutz und drückende Bedürftigkeit als für beunruhigenden und quälenden Reichtum. Einzig im Vergleichen zeigt sich, was dem Volk als Reichtum oder Armut gilt. Man wähle aus der Schar der Querulanten, die mit ewigem, nutzlosem Schimpfen und Jammern ihr Los beklagen, einen ganz beliebigen aus und vergleiche ihn mit dem Caesarenfreund Amiclas,4 dann wird man ihn für wohlhabend ansehen. Oder man wähle sich umgekehrt einen aus der Schar der Glücklichen, die nicht mit wahren Gütern sondern mit Gold und Purpur sich brüsten, stelle ihn dann neben jenen reichen Marcus Crassus oder neben den König der Lyder Krösus,5 und er wird arm sein. Den wahren Reichen schafft nicht die gängige Meinung, vielmehr tut das einzig die Gesinnung. Doch welche Du mitbringen willst, musst Du selber wissen. 4. Bei uns wird Dir das Beste geboten werden: Die Mitte zwischen Extremen und die Freiheit. Ich jedenfalls rufe Dich nicht zu einer dienenden Stellung sondern zur Freundschaft. Entweder wirst Du niemals und nirgends so recht frei sein oder

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Fam. 19,5

dann jetzt bei mir, sofern Du den Rufenden anhörst. Und fragst Du, wozu ich Dich rufe, so habe ich die Antwort schon gegeben: zur Freundschaft, zur Lebensgemeinschaft. Fürchte aber nicht, Du werdest zu geistigem Erstarren gerufen. Ich möchte, Du werdest tätig sein, doch soll die Art der Arbeit von Deiner eigenen Entscheidung abhangen. 5. Wann beginnen und wohin zielen, das soll Dir niemand mit Sporen oder Schreien aufzwingen; auch soll Dir niemand Zügel anlegen. Du selber wirst den Lebensablauf und Deine Ruhezeit einteilen. Doch eben den jungen Mann da könntest Du, wenn er Deiner würdig ist, besser und gelehrter machen; denn entweder lernt er von Dir oder von niemand. Von Kindheit auf hat er sich daran gewöhnt, Dich zu bewundern und Dich mehr als andere zu lieben, und dabei können gerade Vertrautheit, Liebe und Bewunderung die Gelehrsamkeit fördern. 6. Auch würdest Du etwas von meinen Kleinigkeiten, doch nur so fern Du magst und im Mass als Du magst, abschreiben; und Du würdest entscheiden, ob sie wertvoll genug sind, um Deine Feder, die schon mit Deinen Erzeugnissen nicht wenig beschäftigt ist, ermüden zu dürfen. Komm, um an meinen Studien Anteil zu nehmen! Besser werden sich meine Arbeiten mir empfehlen, wenn sie mit Deinen Fingern geschrieben sind. Ich würde hoffen, all das, was mir infolge von Vergesslichkeit oder Nachlässigkeit etwa unterlaufen sei, könne sich Deiner Hand und Aufmerksamkeit nicht entziehen. 7. Dafür verspreche ich Dir nicht Berge von Gold, nicht Gewänder aus Purpur, nicht Marmorpaläste mit Zierwerk von Elfenbein und Ebenholz, sondern – was Du vermutlich höher wertest – einen nicht ärmlichen, aber bescheidenen Lebensunterhalt, dazu eine Musse, von der ich nicht zu behaupten wage, sie werde die eines Philosophen, wohl aber, sie werde annähernd so sein, und weiter ein Leben in ungestörter Freiheit. 8. Sonderbar, dass ich Dir angelobe, was ich für mich selber nicht finden kann! Doch oft kann ein kränklicher Arzt andern die Gesundheit verschaffen, die er selber vermisst. So kann ich wegen der Fesseln eines hinderlichen, unnützen und lästigen Ansehens, ja wegen eines klingenden Titels und eines überflüssigen Glanzes, dessen ich, wie ich gern gestehe, nicht würdig bin, weder frei noch verborgen leben,6 während Dir in der Fremde, bis man Dich kennen lernt, weder Musse noch Freiheit noch höchst beglückende Verstecke versagt sein werden. 9. Das ist es, was sich im Augenblick als Entgelt für Dein Kommen bezeichnen lässt. Ich möchte anfügen können, vielleicht würdest Du beim Schreiben aus der Teilnahme an unseren Studien so etwas wie Seligkeit empfinden. Doch auch das hängt von Dir ab. Nur dies eine möchte ich noch, nicht etwa als das Letzte, aber in die letzte Zeile dieses Briefes einfügen: Nah wird Ambrosius sein!7 Lebewohl! Mailand, am 1. Mai, in Eile (1355).8

Fam. 19,5

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Anmerkungen 1 Der Text bei Rossi folgt einem Autograph Petrarcas; vgl. bei Rossi die Anm. zum Brief, und vgl. auch Dotti, Vita 125 (mit Hinweis auf Foresti, Aneddoti, 405 f.), 292 und 323 Anm. 37. An den selben Adressaten, den Petrarca als liebsten Freund bezeichnete, richten sich sieben Briefe; man findet sie in der Sammlung Varia als die Nummern 4.8.12.19.37.46.60 bei Fracassetti Bd. 3. 2 Gemeint ist Petrarcas junger Sohn Giovanni, der in Verona Moggios Schüler gewesen war; vgl. Anm. 3. 3 Petrarca denkt hier an die Verhältnisse in Verona, wo sich Azzo da Correggio seit seinem Verlust Parmas aufhielt. Moggio hatte bis vor kurzem Azzos Söhne zu seinen Schülern gezählt, doch bei einem Umsturzversuch, den Fregnano, ein natürlicher Bruder des Scaligers Cangrande II., im Februar 1354 in Verona unternommen hatte, flohen Azzo, Moggio und dessen Zögling Giovanni Petrarca aus der Stadt. Angehörige Azzos gerieten in Gefangenschaft, Giovanni verlor sein Kanonikat, das er dort besass. Dotti verweist auf Luigi Simoni, La ribellione di Fragnano della Scala e la politica generale italiana, in: Studi storici veronesi 1961, 5–62. Vgl. auch Egidio Rossini im Literaturverz. 4 Lateinisch: Amicle illi cesareo; Amiclas war ein armer Fischer, der sich für den gefährdeten Caesar opferte. 5 Für die beiden Namen vgl. Personenreg. 6 Ähnliche Klagen über die Auswirkungen seines Ruhmes in Fam. 13,7,16; 17,10,24 ff.; 19,16,13. 7 Vgl. Fam. 16,11,11. 8 Der Dichter sandte das Schreiben nicht vor dem 1. Juni ab und zwar mit einem Zusatz, der besagte, der Dichter habe vernommen, der Adressat befinde sich nicht in Parma, sondern habe sich zu seinem Herrn Azzo verfügt, der Brief, zwar überholt, werde trotzdem abgeschickt; Moggio möge die Einladung annehmen, wenn sie ihm gefalle und wenn sein Herr es billige. Vgl. Anm. bei Rossi; auch Wilkins, Eight years 95 f.

Fam. 19,6, an Francesco Nelli von der Kirche der Heiligen Apostel Empfehlung eines Rompilgers. 1. Petrarca lobt den Rompilger; er kennt ihn seit vielen Jahren. 2. Dieser kann über das Leben des Dichters gewissermassen Auskunft geben. (Ende Dezember 1355)

1. Dieses Menschlein, das Du vor Dir siehst, voll Verehrung für Christus und voll gewaltiger Verachtung für die Welt samt ihren flüchtigen Gaben, aber mit um so heftigerer Begierde nach ewigen Dingen, ausserdem (winzigste Zugabe zu so grossem Lob, aber fähig, Deine Liebe zu ihm mächtig zu steigern!) mir überaus lieb und wert, befindet sich auf dem Weg nach Rom. Du wirst ihn anschauen, als wäre er ich; er hat ein gutes Herz, und ist mir von früher her bekannt, denn wir haben im selben Lager Kriegsdienst geleistet und sind noch immer nicht entlassen, obwohl unser Anführer schon tot ist.1 Bedarf er zur Ausführung seiner geplanten frommen Wallfahrt Deines Rats oder irgendeiner Gunst, wird man Dich, wie ich meine, um solche Hilfe nicht erst bitten müssen; und dennoch bitte ich. 2. Ja was könntest Du Christus, Deinem Dienstherrn, und was den Aposteln, Deinen Gastgebern,2 Angenehmeres bieten, als diesem so christlich gesinnten Mann beizustehen und weiterzuhelfen, reist er doch nach seiner Flucht aus dem Lärm eines ewig tosenden Hofes stracks zu ihren ruhevollen Stätten? Und wäre Dir lieb, ihn ein wenig über mich auszuforschen – und wirklich wird Dir ja vieles zu wissen lieb sein –, so erlaubt ihm die Vielfalt unserer Beschäftigungen zwar nicht, alles zu wissen; aber von dem, was zu meiner verschwiegensten Lebensweise gehört, wird er Dir einiges, und was zur äusseren gehört, beinah alles berichten können. Soviel schreibe ich Dir eiligst in einem Winkel am Stadtrand Mailands und aus dem entlegensten Raum im Haus des Ambrosius, und zwar bei eben dem „Licht“ und zu eben der Stunde des „Lichts“, in welcher einst (denn die Welt starrte von Finsternis und die Sterblichen waren mit Blindheit geschlagen) von der Erde das wahre, lebendige Licht aufging. Lebe wohl und denke an uns! (Ende Dezember 1355)3 Anmerkungen 1 Der Empfohlene, er hiess Giovannolo, hatte einst wie Petrarca im Haus des Kardinals Colonna gedient und hatte sich nun auf eine Romfahrt gemacht. Auf Fam. 19,6 antwortete Nelli mit Epist. 17 vom 3. Februar 1356, zu finden bei Cochin 230 ff. Darin nennt Nelli den armen Mann

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mit Namen und spendet ihm höchstes Lob, erwähnt auch den Plan Petrarcas, in der kommenden Fastenzeit selber nach Rom zu reisen. Vgl. Fam. 19,7. 2 Hinweis auf die Patrone der Kirche, welcher Nelli vorstand. 3 Die letzte Zeile verweist auf Weihnachten. Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 112 und 118. 255.

Fam. 19,7, an Francesco Nelli1 Dank für einen Bescheid über den Rompilger. 1. Viele Gedanken, die Petrarca nachts dem Gedächtnis anvertraut, kann er am Tag aus Zeitmangel nicht niederschreiben. 4. Eine geplante Romreise verschiebt er wegen Unruhen in Ligurien auf später. (Februar/März 1356)

1. Ganz anders steht es um mich als um den Maler Mallius. Mit seiner Hand malte er anmutige Bilder, und dabei hatte er hässliche Kinder. Als man ihn aber fragte, weshalb er so viel besser male als zeuge, gab er dem Spötter die witzige Antwort: „Ich zeuge bei Nacht und male bei Licht.“2 Für mich gilt das Gegenteil: Das in der Dunkelheit mit meiner geistigen Hand Erzeugte und Gedachte ist entweder ansehnlicher oder jedenfalls nicht weniger ansehnlich, als was ich am hellen Tag mit diesen armen Fingern da male. Nicht dass mir das Licht an sich selber schadete; denn einzig Triefäugigen und Übeltätern ist es verhasst.3 Doch es bereitet lästigen Störungen Zugang, während die liebe und schweigende Finsternis sie ausschliesst. 2. Wozu halte ich Dich hin? Ich hatte in der Nacht meinem Gedächtnis vieles diktiert, was für Dich bestimmt war, und jetzt nach der Wiederkehr des Lichts kann ich mit der Feder daraus kaum etwas hervorkratzen. Allzu oft ertönt an der Türe ein Klopfen; allzu gross ist das Heer der mich belagernden Alltagssorgen; allzu viele Bitten von Freunden, allzu viele Klagen von Dienern drängen auf mich ein. Faul scheint Bootes4 vielen zu sein, mir aber rascher als alle Winde. Mit allzu hastiger Drehung wendet er auch jetzt seine eiskalten Wagen durch die Nächte! 3. Dass „die Nacht die tüchtigste Ernährerin vieler Sorgen“ ist, sagt auch Naso;5 mir hingegen ist die Tageszeit Gebärerin schwieriger und drückender Pflichten und eben die Nacht Mutter der Stille und Ruhe. Und Du wunderst Dich, dass ich nur wenigen gefalle, wo ich doch mit nur wenigen einiggehe und fast über alles anders urteile als die Menge, der möglichst fern zu bleiben, mir als der wahrhaft richtige Weg erscheint? Doch damit die Bosheit des Tages nicht alles bei Nacht Empfangene zur Fehlgeburt zwinge, sollst Du wenigstens Folgendes wissen. Dein Brief, so völlig gleich seinem Vater und seinen Geschwistern,6 ist bei mir angelangt, und etwas Liebenswerteres und Freundschaftlicheres gibt es nicht. 4. Gefühlt habe ich in ihm, was ich früher schon in der Erfahrung gelernt hatte,7 nämlich wie Du, der eben meinen Rompilger so gut empfangen hat, einst mich aufnehmen werdest. Und dass ich ihm nicht folge, wie er Dich hoffen hiess, verschulden die Unruhen in Ligurien.8 Ich will abwarten, ob der Herbst ruhiger werde als der Frühling. Ein sturmerregendes Gestirn schaut freilich auf diese Gegend herab, und das beste Hilfsmittel dagegen ist die Flucht. Doch nein, was habe ich gesagt! Wo gäbe es einen Fluchtweg

Fam. 19,7

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abseits der donnernden Fortuna? Nur einen einzigen Ratschlag habe ich: Den Frieden, den wir ausserhalb ganz umsonst gesucht haben, müssen wir in unsern innersten Herzenswinkeln suchen, und ihn, den die Welt nicht hat,9 von Gott erbitten. Lebe wohl und denke an uns! (Februar/März 1356)10

Anmerkungen 1 Vgl. das vorangehende Schreiben an den selben Adressaten und bei Cochin Nellis Epist. 17,230 ff. besonders 233 f., auf die Petrarca antwortet. 2 Vgl. Macr. Saturn. 2,2,10. Das Zitat steht auch in Fam. 5,17,7. Der Reim fingo-pingo erhöht den Reiz der Rede, doch lässt sich dafür kaum eine gute Verdeutschung finden. 3 Vgl. Jo. 3,20. 4 Bootes, der Ochsentreiber, Erfinder des Pfluges, als Gestirn und Hüter des Bären oder Wagens an den Nordhimmel versetzt. 5 Ov. Metam. 8,81. 6 Dies wiederum ein Gegensatz zum Maler Mallius. 7 Petrarca war Nelli 1350 anlässlich seiner Romreise in Florenz begegnet. 8 Zu Beginn des Jahres 1356 war in Bologna eine Rebellion gegen den Herrn von Mailand ausgebrochen (er beherrschte die Stadt seit 1352), und in der alten Liga hatte bei den oberitalienischen Städten die Feindseligkeit gegen Mailand an Kraft nichts eingebüsst. Der Markgraf von Monferrat unternahm im Januar einen Feldzug gegen Mailand im Piemont; auch war er Mailands Gegner im Kampf um Pavia; vgl. Fam. 19,18. 9 Vgl. Jo. 14,27. 10 Zum Datum vgl. Wilkins, Eight years 117 und 255.

Fam. 19,8, an den Archidiakon Guido Sette von Genua1 Guido Sette rühmt sich, in Petrarcas Briefen genannt zu werden. 1. Petrarca weiss, dass die Freundschaft ihm Wertschätzung verschafft. 2. Jeder sucht eher das ihm Liebe und Vertraute als das Wertvollere. 5. Der Dichter bittet um Nachsicht, da er den Freunden die Plätze nicht gemäss ihrer Würde zuweisen kann. (1355)

1. Wenn Du es für grossartig ausgibst, dass Dein Name in meinen Briefen steht, tust Du es wie gewöhnlich, ohne nach meinen Verdiensten zu fragen und rein aus Deiner nachsichtigen Güte. Ich halte mich deswegen also nicht für hochbegabt, Dich jedoch für einen Freund. Seneca2 sagte in einem Brief an Lucilius: „Obwohl Du mich um die Sendung meiner Bücher bittest, halte ich mich nicht für ein Sprachgenie; ich würde mich ja auch nicht für schön ansehen, wenn Du mein Bild haben wolltest.“ Geistreich ist das gesagt. Denn wer zöge nicht das Bild eines missgestalteten Freundes dem eines wohlgestalteten Feindes vor? Nicht was man schätzt, sondern warum man es schätzt, ist entscheidend, da man nicht durch die Dinge selber, sondern durch seine Neigung bewogen wird. 2. Du also suchst nun einen Platz in meinen Briefen nicht weniger als in meinem Gedächtnis und achtest nicht auf die Gaststätte, wo Du wohnen sollst, sondern auf den Gastgeber. Und wirklich wäre einer allzu aufgeblasen, wenn er statt sein eigenes Haus oder das eines armen Freundes lieber den Palast eines unbekannten Königs beträte. 3. Du siehst, wie gern der Hirt in seine Hütte, der Vogel in sein Nest, das Wild in seine Höhle und die Schafherde in ihre Stallung zurückkehren, „ja dass auch die Ziegen,“ wie Maro3 sagt, „nie vergessen, ihr Obdach zu suchen,“ und dabei nicht ein schönes, sondern das eigene meinen. Dieser Trieb also, den wir nicht allein bei den Menschen, sondern bei allen Lebewesen eingepflanzt finden, ist ohne Zweifel jener natürliche Instinkt, dem auch Du gehorchst, weshalb Dir nicht wichtiger ist, Deinen Namen in den Schriften der Gelehrten als in denen Deiner Freunde zu treffen. 4. Dir Deinen Wunsch zu erfüllen, bin ich besorgt gewesen und werde, sofern ich am Leben bleibe, auch weiterhin besorgt sein, doch sei Dir zum voraus zitiert, was einst König Evandrus4 zu einem Gast gesagt hat. Als jener nämlich Aeneas an seinen ärmlichen Hof einlud, erinnerte er ihn an einen anderen Gast, der ihn früher besucht hatte: „…dieses Haus, so sprach er, hat früher der Sieger Alkides5 besucht, und königlich nannt’ er die Stätte,“ als wollte er damit sagen: „Verachte nicht unsere Armut und verschmähe nicht das Haus, das einst Herkules seiner Gegenwart würdigte.“ 5. Das eben will ich Dir und

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den anderen Freunden beteuern –, um jetzt alle, deren Namen ich meinen Schriften eingefügt habe, gemeinsam mit Dir anzusprechen: Seid bitte gnädig und ertragt gleichmütig, wenn der Euch zugewiesene Platz nicht Eurer Würde gemäss ist. Auch dürfen Eure Ohren und Augen an der Unzulänglichkeit und Dürftigkeit meiner Reden nicht Anstoss nehmen, denn dass Ihr an einem vornehmeren Ort zu stehen verdientet, bezweifelt niemand. Nicht Euer Verdienst, nein meine Fähigkeit werde veranschlagt! 6. Nicht wo Euch geziemt, sondern wo ich kann, füge ich Euch ein. Allumfassend ist die Liebe, das Haus aber eng. Wäre ich Cicero, setzte ich Euch in Ciceros Schriften, nun aber setze ich Euch in meine; denn in fremde könnt‘ ich es nicht, selbst wenn ich es wollte. Und dabei weiss ich, dass Ihr nicht den Grad der Berühmtheit Eures Gastgebers, sondern dessen Freundschaft bewertet. Und damit Ihr Euch am Ende für Euren niedrigen Platz durch eine glänzende Nachbarschaft trösten könnt, setze ich Euch dahin, wo Herzöge, wo Könige, wo Cäsaren, wo Päpste und, was schliesslich doch wohl noch besser ist, Philosophen und Dichter und – was gar das höchste ist – gute Menschen einen Platz fanden. Lebe wohl! (1355)6

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. Fam. 5,16 und die anderen Schreiben Petrarcas an den selben Freund. Ad Lucil. 45,3. Georg. 3,316. Euandros (Evandros): Arkadischer Held, nach der Sage erster Siedler auf dem Boden Roms, wo er den Herkuleskult einführte, Figur im 8. Buch der Aeneis. Er erhielt ein Heiligtum auf dem Aventin; vgl. ebenda 362 f. 5 Alkeides, Enkel des Alkaios, ist Herkules. 6 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 113 f.

Fam. 19,9, an Guido Sette1 Dem in Gallien Weilenden wird von den Unruhen in Italien und insbesondere von der Hinrichtung des Dogen von Venedig berichtet. 1. Petrarca klagt über unablässige Wirren in ganz Italien. 9. Er erwähnt Unruhen, die dem Adressaten schon bekannt sind. 11. Er wendet sich Venedig zu; seine Mahnungen zum Frieden quälten den Dogen, ohne ihn zu bekehren. 20. Diesem ersparte der Tod den Anblick der besiegten Stadt. 22. Bericht von der Wahl und Ermordung des neuen Dogen Falier. Mailand, am 24. April (1355).

1. Von den Tumulten in Italien hörst Du gewiss täglich bis zum Überdruss.2 Und wären sie nur seltener oder weniger grausam! Nun aber sind sie häufig und gewalttätig, dabei so lautstark, dass man sie gewiss nicht bloss in beiden Gallien und benachbarter Region, sondern auch bei den Indern und Arabern vernehmen kann. 2. Gross sind die Aufstände, gross die Wirren der Kriege und gross der unaufhörliche Zusammenstoss zwischen den Imperien.3 Laut ist auch die Stimme des Gerüchts, das nicht allein die heimatlichen Alpen, vielmehr auch die Meere überquert. Sind nun die gegenwärtigen Plagen immerfort gross, ist doch die Vorbereitung zukünftiger immerfort grösser. Daher wird uns der letzte Trost – und das ist in allem Unglück am härtesten –, nämlich die Hoffnung genommen. 3. Werden wir uns etwa nicht gegenseitig völlig zugrunde richten? Werden wir nicht ständig aller Völker Ohr und Mund mit dem Lärm unserer Scherereien betäuben und vollschreien? Werden wir nicht der Welt fortwährend etwas zu hören und dem Gerücht nicht ständig etwas zu reden geben? Hat denn Flaccus4 ausser für die eigene Zeit auch noch für alle Jahrhunderte richtig gesprochen? „… hörbar wird den Medern, Was hierzuland5 unter Streit zerstört wird.“ 4. Fortuna fahre nur fort! Sie vollende, was sie begonnen hat, ob sie nun dank ihren eigenen Kräften oder dank unserer Erbärmlichkeit herrsche! Denn jene Waffen der Vernunft, die uns befähigen, ihr zu widerstehen, haben wir von uns geworfen. Sie fahre nur fort, sage ich; sie wüte, donnere und blitze insbesondere auf diesem Erdteil, wo sie sich schon immer mit Vorliebe im Guten wie im Bösen geübt hat. Sie gehe voran, sie drohe, drücke und dränge, und wenn es dem Himmel und der Hölle gefällt, vollende sie, wie gesagt, ihr Beginnen! 5. Ich befürchte freilich, dass diese Vorrede hier als Anzeige meiner grossen Trauer Dein liebendes und in Liebe schreckhaftes, sehr besorgtes Herz verwirrt habe. Aber lass das Fürchten! Im Privaten gibt’s an Widerwärtigem gewiss so gar nichts, wie in der Öffentlichkeit so gar nichts an Wünschenswertem. 6. Was ist aber wünschenswert für Männer, oder richtiger: Was ist für sie nicht schmerzhaft und niederdrückend, wenn die Freiheit, für die doch viele mit grosser

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Begierde und Ehre ihr Leben verströmt haben, erstorben und begraben ist? Vor allem, wenn sie nicht unbegleitet zugrunde ging, sondern auch Treue, Pflichtgefühl und Schamhaftigkeit mit sich riss, so dass nun weit und breit die schlimmsten Laster regieren, dagegen nirgends Platz für Gerechtigkeit und Mässigkeit ist? 7. Da solches ohne das Einverständnis des Menschengeschlechts so weit nicht kommen konnte, jammert die empörte und entrüstete Seele über ihr eigenes Los nicht lauter als über das der Öffentlichkeit. Und daher kommt’s, dass mein Schmerz – was aber niemandem nützt und mir sogar schädlich ist – sich in lächerlichen Klagen Luft verschafft. Und eben dieser Art, so musst Du wissen, ist die Einleitung dieses Schreibens da. 8. Doch will ich Dich nicht länger auf die Folter spannen. Was ich beschlossen habe, führe ich aus, sage nichts weiter von all den Tumulten, die im schreienden Gerücht Dir fortwährend um die Ohren dröhnen und gewiss in keinen Annalen zusammenzufassen wären. 9. Ich schildere nicht die Volksaufstände in Pisa und Siena,6 nicht den Zustand, welchen der Umsturz in Bologna7 herbeigeführt hat, auch nicht die Lage meiner Vaterstadt, die, derweil sie immerfort blüht, bisweilen auch Früchte zeitigen sollte,8 nicht all das, was Rom9 beweint, was Parthenope10 befürchtet, und nicht die Werke, mit denen man dort dem Zunamen „Terra di lavoro“11gerecht wird, nicht die hasserfüllten Ausbrüche im schwefligen Trinakrien,12 nicht das, was Genua ausführt,13 was Ligurien ausbrütet, was Emilien und das Gebiet von Piceno im Schilde führen.14 Sage nicht, wie schlaflos und abgehärmt Mantua ist,15 10. oder wie ängstlich besorgt Ferrara,16 wie elend Verona, das, einem Aktaion17 ähnlich, von eigenen Hunden zerfleischt wird. Sage auch nichts über Aquileia und Trient, die für Einfälle der Barbaren immerfort offen stehen,18 schliesslich auch nichts – und das ist die grösste Schande – von den Räuberbanden, die Italien verwüsten, so dass aus der „Herrin der Provinzen“ schon eine „Provinz der Sklaven“19 geworden ist –, vielmehr eile ich zum „Winkel der Veneter,“ um ein Wort des Livius20 zu verwenden und zu dem, was Du noch kaum gehört haben wirst. 11. Denn kaum hatte man dort den Krieg gegen Genua beschlossen – oder soll ich sagen „entfesselt“, denn im Geheimen hatte er wohl immer schon bestanden –, da war man auch nach kurzer Frist zuerst besiegt, darauf siegreich und in gewaltiger Schlacht wieder besiegt.21 Dieser Sache wegen habe ich für die Veneter, sind sie doch Menschen und Italer, Mitgefühl, 12. bin aber meinetwegen froh, dass ich ihnen all dieses spätere Unheil angekündigt und vorausgesagt habe, und zwar nicht dank einer Sternkunde oder mit irgend etwas wie Weissagung, die ich völlig verachte und von mir weise, sondern dank einer gewissen Ahnung meiner Vernunft und aufgrund zwingender Rückschlüsse. Diese drängten mir damals eine so bestimmte Meinung auf, dass ich vor mir zu sehen glaubte, was ich eben jetzt sehe. 13. Und würde der Doge Andrea,22 der damals über die höchste Befehlsgewalt verfügte, doch heute noch leben! Ich würde ihn mit Briefen aufrütteln, mit allen spitzen Waffen auf ihn eindringen und mich dabei aller Freiheit bedienen. Ich kannte ihn als

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einen guten und sittenreinen Menschen, einen voll feuriger Liebe zu seiner Republik und von herzlichster Zuneigung gegen mich, überdies gelehrt und redegewandt, umsichtig, zugänglich und mild gesinnt. An einer einzigen Schwäche nahm ich Anstoss: Sein Kriegsverlangen war grösser als der Natur der Sache und seinen Sitten geziemte.14. Als er noch lebte, habe ich ihn einmal als Anwesender mit Worten, einmal als Abwesender mit Briefen schonungslos getadelt,23 und er hat das, von meiner guten Absicht überzeugt, ungemein geduldig ertragen.24 Doch im Hochgefühl des letzten Sieges25 hat er meine Besorgnis geringgeschätzt, worauf dann der Tod dafür besorgt war, dass er das bitterste Leid seiner Vaterstadt und meinen besonders bissigen Brief nicht mehr anschauen musste.26 Er pflegte sich nämlich auf ein glückliches Ereignis wie auf ein Zeugnis zu stützen und nicht zu zweifeln, dass im Mass, als jenes günstig zu sein schien, auch seine Sache gerecht sei. 15. Daher missbrauchte er mir gegenüber oft ein Wort des Scipio Africanus,27 der im Gespräch mit Hannibal sagte: „Die Götter sind Zeugen, denn sie haben den Ausgang jenes früheren Krieges gemäss Recht und Gerechtigkeit entschieden, wie sie auch diesen neuen entscheiden und spätere entscheiden werden.“ Oder auch jenes von Caesar:28 „Soll ein Heer dank Schicksalsgunst den Gerechten bezeichnen, Wird es mit Waffengewalt den Besiegten zum Schuldigen machen.“ Und nur ein kleines Bisschen länger hätte er leben müssen, und mir wäre möglich geworden, solche Meinung auf ihn selber anzuwenden und dank dem Zeugnis des Fatums ihn der Unklugheit zu überführen, nachdem er mit dem selben Zeugnis seine Klugheit bekräftigt hatte. 16. Wenige Tage vor seinem Hinschied hat er von mir ein Schreiben empfangen,29 ein stechendes und beissendes, wie ich zugebe, aber eines voll der reinsten Empfindungen. Und er hat sich seinetwegen dermassen abgequält und unter der Anstrengung einer Antwort sich derart aufgeregt – so berichteten mir später die bei ihm Weilenden –, als sähe er es für eine gewaltige Schande an, nicht einen ebenbürtigen Stil zu schreiben! Dabei war das für ihn, den gebildeten und vor allem auch sehr beredten Mann in Wirklichkeit das Leichteste. Daher vermute ich eher, er habe das Schwierigste gar nicht angepackt, nämlich nicht die Berichtigung und Widerlegung meiner Meinungen. Mit Wortschatz und Redebegabung gut ausgestattet, fürchtete er nämlich den Wortstreit nicht. 17. Doch wie verhält man sich gegenüber Tatsachen, und wie begegnet man der offenkundigen Wahrheit, ausser man schweigt oder nimmt sie an? Worte kann man zurechtbiegen; man kann ihnen gewachsen oder überlegen sein; doch den Tatsachen muss man sich notwendigerweise beugen. Oft wird eine schwer gewappnete Redekunst durch die nackte Wahrheit überwältigt. 18. Nachdem sich jener also lange vergeblich abgeplagt hatte, schickte er nach sieben Tagen meinen Boten ohne Brief an mich zurück, indem er versprach, eine Antwort und einen eigenen Boten zu senden, hat diesen dann aber nicht gesandt

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und eine Antwort nicht geschickt, sei’s dass der körperliche, sei’s dass der seelische Tod es verhinderte. Denn in eben jenen Tagen erschien entgegen seiner und aller Menschen Voraussicht an der Küste von Venedig mit gewaltiger Kühnheit genau jene genuesische Flotte, von der er gemeint hatte, sie sei vollständig besiegt und moralisch erledigt. Und mitten im Tumult trat entgegen allem Brauch der Doge persönlich in Waffen auf.30 19. Nach diesem Tag hat er fast nichts mehr getan, als hätte er sich beeilt, durch einen rechtzeitigen Tod sein Haupt dem drohenden Unheil zu entziehen. Und obwohl einige ausstreuen, er habe noch irgend etwas geantwortet, gelangte doch nichts an mich, weil der Tod des Dogen dazwischentrat.31 20. Gleich darauf wurden die Venezianer bei der Insel Achaia, welche nach der Sapientia32 benannt ist, durch die hin und her kreuzende Flotte der Genuesen abgefangen und in einer fürchterlichen Schlacht niedergemacht, wobei Fortuna dem besten Dogen soviel Achtung erwies, dass er, wie schon gesagt, das verzögerte Unglück seiner Vaterstadt nicht mehr als Mensch von Fleisch und Bein ertragen musste. 21. Und dass die Veneter gerade dort mit solcher Macht unterworfen wurden, ist, so nehme ich an, vom Himmel verfügt worden. Es sollten eben spätere Heerführer durch den Namen des Ortes dazu ermahnt werden, sich lieber der Sapientia als der Fortuna zu fügen und eher von der Vernunft als vom glücklichen Ausgang eines Unternehmens Beweise abzuleiten. Doch bin nicht eben ich wortbrüchig? Ich habe ja Neues versprochen und biete Dir Altes an! Aber warte nur; zuletzt hole ich von zuunterst herauf, was mir Glaubwürdigkeit verschafft. Bis hierher etwas Deinen Ohren schon Bekanntes; jetzt aber etwas Neues! 22. Auf den tüchtigen jungen Dogen ist ein älterer gefolgt33 und zur Regierung spät gelangt, aber früher als ihm und der Vaterstadt wohl bekam. Ich kannte ihn bereits dank näherem Umgang, doch war er, worüber meine Meinung sich täuschte, eher draufgängerisch als weise. Er hiess Marino Falier,34 und kein ganzes Jahr vermochte er sich in der höchsten Würde zu halten, hatte er doch den Dogenpalast mit dem linken Fusse betreten.35 23. Eben diesen ihren Dogen haben nun die Veneter, obwohl diese Amtsperson zu allen Zeiten hochheilig war und in der genannten Stadt schon in der Antike wie eine göttliche Macht verehrt wurde, vorgestern im Vorraum eben dieses Palastes enthauptet. Und die Gründe dafür kann ich, sofern ich Gesichertes vorbringen wollte – wie die Dichter in den Einleitungen ihrer Werke zu erklären pflegen –, nicht angeben; denn allzu zweifelhaft und verschieden lauten die Berichte. 24. Niemand entschuldigt ihn. Alle behaupten, er habe in der von Alters überlieferten Republik ich weiss nicht was abändern wollen. Und darin stimmt alles so sehr überein, dass gemäss Flaccus36: „Erstem die Mitte nicht widerspricht, nicht das Ende der Mitte.“

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Kaum einem andern ist meines Erachtens je Ähnliches zugestossen. Denn in der vorausgehenden Zeit, als wegen eines Friedens zuerst durch mich und gleich darauf eben durch ihn ergebnislos verhandelt wurde (wobei er am Ufer der Rhone37 vor dem römischen Bischof als Legat auftrat), hat man ihm, ohne dass er sich beworben und ohne dass er von Plänen auch bloss gewusst hätte, die Würde des Dogenamtes zugesprochen. 25. Doch kaum nach Hause zurückgekehrt, plante er, wie ich vermute, was nie ein anderer geplant hatte. Und sogleich erduldete er, was nie ein anderer erduldet hatte, und dies am berühmtesten, herrlichsten und schönsten Ort von allen, die ich je gesehen, eben da, wo seine Vorfahren oft die glücklichsten Ehrungen unter triumphalem Pomp erlangten. 26. Denn er wurde dort unter dem Zulauf aller Adligen weggezerrt, der Insignien der Dogen beraubt und um den Kopf verkürzt. Er sank hin, und den Eingang des Domes, den Zugang zum Palast und die Marmorstufen, so oft mit festlichen Veranstaltungen und mit Beutestücken aus Feindeshand geziert, besudelte er mit seinem Blut. Damit ist der Ort bezeichnet. Nun bestimme ich die Zeit: Es geschah im Jahr 1355 nach Christi Geburt, und als Tag nennt man den 18. April. 27. Die Erregung bleibt gewaltig, und bedenkt einer die Verfassung und das Brauchtum dieser Stadt und welch mächtige Veränderung der Lage droht, verursacht durch den Tod eines einzigen Menschen, obwohl gewiss mehrere andere, so heisst es, aus der Zahl der Komplizen die selbe Strafe erlitten oder noch zu gewärtigen haben,38 wird in Italien zu unserer Zeit kaum eine grössere sich ereignen. 28. Hier erwartest Du vielleicht mein Urteil. Ist das Gerücht glaubwürdig, entschuldige ich das Volk. Freilich hätte es seine Tollheit mässigen und für seinen Schmerz mildere Rache nehmen können. Doch lässt sich ein gerechter und ungeheurer Zorn nicht leicht unterdrücken, schon gar nicht im Volk. Die Menge hat denn auch kopflos und ungezügelt seine ohnehin gereizte Wut mit rasendem und unbedachtem Geschrei noch angeheizt. 29. Für den unglücklichen Menschen empfinde ich sowohl Mitleid wie Abneigung. Was er sich nach seiner Erhöhung zur ungewöhnlichen Ehre für den Rest seines Lebens noch versprochen hat, weiss ich nicht. Das jedenfalls vermehrt sein Unglück, dass für alle Zukunft die Meinung der Öffentlichkeit gelten wird: Er sei nicht bloss erbärmlich, sondern auch entartet und wahnsinnig gewesen und habe Jahre lang unter betrügerischen Künsten einen falschen Ruf der Klugheit missbraucht. 30. Den zukünftigen Dogen erkläre ich folgendes: Sie sollen bedenken, dass ihnen vor die Augen ein Spiegel gesetzt wurde, damit sie erkennen möchten, sie seien Führer, aber nicht Herren, ja selbst nicht Führer, sondern geehrte Diener der Republik. Du aber lebe wohl! Und da das öffentliche Leben wallt und wogt, lass uns bemüht sein, unsere persönlichen Verhältnisse in aller Bescheidenheit zu lenken. Mailand, am 24. April (1355).39

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Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe Petrarcas an den Genuesen Guido Sette; zu Andrea Dandolo ebenfalls die Schreiben Petrarcas an ihn, vor allem Fam. 18,16, und die Angaben dazu von Wilkins, Eight years 74, dort auch das ganze Kapitel The Mission to Venice 53 ff., weiter Dotti, Vita 304 ff.; auch DBI, Bd. 32. Vgl. unten Anm. 6 und 35. 2 Zu den politischen Verhältnissen in Oberitalien vgl. Raoul Manselli, Petrarca nella politica delle Signorie padane alla metà del Trecento, in: Venezia 1976, 9–22. 3 Lateinisch: imperii…collisio, wobei Petrarca an den Streit zwischen Ost- und Westrom gedacht haben wird; beteiligt war Byzanz jedenfalls nicht allein an den Kämpfen zwischen Venedig und Genua, sondern an allen Konflikten im Bereich des Mittelmeeres und im Grenzgebiet zwischen Ost und West. Zu den folgenden Angaben Petrarcas über die politische Lage vgl. Ruggiero Romano, L’Italia nella crisi del secolo XIV, in: Tra due crisi: L’Italia del Rinascimento, Turin 1972,13–34. 4 Hor. Carm. 2,1,31 f. 5 Hesperia im Lateinischen heisst Westland, meint bei Horaz Italien oder Spanien, aber später bei Erweiterung der Erdkunde auch Abendland. 6 Petrarca weist auf Unruhen hin, welche die Rückreise des Kaisers Karl begleiteten oder auf diese folgten, nennt jedoch Karl und seine Einmischungen nicht. Nur wenige von ihm nicht näher bezeichnete Ereignisse seien in den nächsten Anmerkungen aufgeführt. In Pisa z. B. kam es zu einem Aufruhr mit Brandstiftung, der den Neugekrönten in die Flucht jagte und den Sturz der Familie Gambacorta forderte. In Siena herrschten lang dauernde Streitereien unter den Adelsgeschlechtern; sie führten zu einem Umsturz, der das Volk an die Regierung brachte. 7 Bologna widersetzte sich der Herrschaft der Visconti, und deren Statthalter Giovanni d’Oleggio versuchte, eine Tyrannis zu errichten. Der päpstliche Legat Kardinal Albornoz, der den Kirchenstaat wiederherstellen sollte, mischte sich hier früher und später ein, wie übrigens in sehr vielen anderen Orten, und behalf sich mit kirchlichen Strafen wie Anathem, so gegen die Ordelaffi von Forlì und Malatesta von Rimini. 8 Von Florenz hätte Petrarca vor allem grössere geistige Regsamkeit fordern wollen; vgl. z. B. Fam. 18,9,2. Die Stadt war seit Jahrzehnten darauf bedacht, ihr Territorium zu vergrössern; sie rivalisierte mit Siena, beteiligte sich am Streit um Lucca und übte erfolgreich Druck auf Viterbo und Pisa aus; auch war sie Mitglied der Liga gegen die Visconti. 9 Rom erlebte von 1354 an Raubzüge von Söldnerbanden, denen eines Landau; im Oktober 1354 sah es das klägliche Ende des einstigen Volkstribunen Cola, dann 1355 nach Karls IV. Krönung und Abzug die herkömmlichen Kämpfe unter den Adelsgeschlechtern. 10 Das ist Neapel. Zur Bezeichnung Terra di Lavoro vgl. Fam. 7,1,4: 12,2,13; 15,7,9. Der Regent Niccolò Acciaiuoli vermochte die ständigen Umtriebe der Parteien nur mit Mühe niederzuhalten. Und um 1355 wurde das Königreich von den Söldnerbanden des Führers Landau heimgesucht. 11 Vgl. Fam. 15,7,7. 12 Auf Sizilien (Trinakrien) herrschten Unruhen, da eine feste Hand fehlte. Federico III. war, als Petrarca über die Insel diese Zeilen schrieb, vierzehn Jahre alt. Übrigens litt die Insel unter den Versuchen Neapels zur Rückeroberung. 13 In Genua regte sich Widerstand gegen die Schutzherrschaft Mailands, die man kurz zuvor gewünscht und erlangt hatte; vgl. Fam. 17,4; man arbeitete auf eine Befreiung hin, die 1356 gelang; Boccanegra wurde erneut als Doge anerkannt; vgl. den einschlägigen Artikel in DBI, Bd. 11 unter Boccanegra. 14 In diesen Gegenden litt man vor allem unter Kämpfen der neuen Herrschaften gegen alte Ansprüche des Kirchenstaates und deren Verteidiger Albornoz. In der weiteren Umgebung, dauerte die Bedrohung durch die sich befehdenden Mächte Mailand und Venedig an.

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15 Die Gonzaga vermochten sich keineswegs aus den allgemeinen Fehden herauszuhalten; sie wurden von allen Seiten umworben. Über die führenden Persönlichkeiten der Gonzaga gibt genaue Auskunft DBI, Bd. 57. 16 Unter Aldobrandino d’Este unterstützte Ferrara die della Scala und stand zuerst auf der Seite der Visconti, wurde dann aber von Venedig (hauptsächlich auf Betreiben von Marino Falier; vgl. unten) auf die Gegenseite gezogen und in die antimailändische Liga eingebunden. Auch mischten sich die Este in die Streitereien, die 1354 nach einer Entzweiung in Verona unter den begehrlichen Mächten der Umgebung entstanden. Vgl. DBI, Bd. 43. 17 Zu einem Aufruhr in Verona kam es am 17. Februar 1354 in der Abwesenheit von Cangrande II. unter dessen Bruder Frignano. Vgl. Fam. 19,5 und die vorangehende Anm.16. Genannt wird ein Halbgott, von Cheiron zum Jäger ausgebildet, von Artemis (Diana) in einen Hirsch verwandelt, und dann von eigenen Hunden zerrissen. 18 Unter Barbaren sind hier besonders Söldnerbanden, deutsche Landsknechte, zu verstehen, jedoch auch Kriegsleute aus Ungarn. 19 Ähnliche Formulierung wie im Buch Klagelieder (Lamentationes) 1,1. 20 Liv. 5,33,10. 84–86. Gleiches Zitat Fam. 20,14,2. 21 Vgl. Petrarcas Briefe an Guido Sette Fam. 17,4, Fam. 17,5 und an Andrea Dandolo Fam. 18,16. 22 Vgl. die vorangehende Anm. und das Personenreg. 23 Als Gesandter des Erzbischofs Giovanni Visconti von Mailand hatte sich Petrarca nach Venedig verfügt, um für einen Frieden mit Genua einzutreten, dies wohl Anfangs 1354. An diese Mission erinnert er Fam. 18,16,7 ff. 24 Briefe Dandolos an Petrarca, die sich erhalten haben, stehen unter Petrarcas Werken in der Edition von Venedig 1501 und in den Reprints von 1503. 1554. 1581. 25 Vgl. Fam. 17,3 zum Sieg der Venezianer über die Genuesen am 27./28. August 1353 bei Alghero. 26 Er starb am 7. September 1354 nach letzten Anstrengungen zur Verteidigung der Stadt; vgl. unten Anm. 29 und 30. 27 Liv. 30,31,9. 28 Gemäss Luc. Phars. 7,259–160. 29 Einer sehr deutlichen Sprache hatte sich Petrarca in Fam. 18,16 bedient. Ein späteres Schreiben an den Dogen hat sich nicht erhalten. 30 Dass der Doge während der Bedrohung durch den äusseren Feind an einem Aufruhr in der Stadt bewaffnet teilgenommen habe, wird bezweifelt. 31 Vgl. Fam. 19,11,11, wo von einem Brief des verstorbenen Dogen gesprochen wird. 32 Das lateinische Wort bedeutet Weisheit. Gemeint ist die Niederlage der Venezianer am 4. November 1354 nahe von Modon (Methoni) bei Porto Longo vor der Isola della Sapienza; vgl. Dotti, Vita 306 und die ebenda erwähnte Literatur; V. Lazzarini, La battaglia di Porto Longo, NAV 1894,5–45. 33 Dieser Satz und die nächsten zeigen bei Petrarca das Plusquamperfekt, als würde von einer lang zurückliegenden Sache berichtet. Das kann im bestimmten Fall auf spätere Überarbeitungen hinweisen. 34 Auf den Dogen Dandolo, gestorben am 7. September 1354, folgte im Dogenamt der schon betagte Diplomat Marino Falier(o); vgl. DBI, Bd. 44. Nach seiner Übernahme des Dogats zettelte er eine Verschwörung zur Mehrung seiner Machtbefugnisse an. Das Datum seiner Enthauptung gibt Petrarca in seinem Schreiben an; vgl. Vittorio Lazzarini, Marino Faliero avanti al Dogato, in: NAV 1893,95–197. Genaue Auskünfte über die politische Tätigkeit und den Aufruhr des Marino Falier findet man in DBI, Bd. 44, 429 ff. mit unzähligen Literaturangaben. 35 Lateinisch: sinistro pede. 36 Ars 152. 37 Gemeint ist eine Verhandlung über einen Frieden zwischen Venedig und Genua im Herbst 1354. Die Wortstellung im lateinischen Text lässt die Annahme zu, Petrarca habe an der Friedensverhandlung in Avignon teilgenommen; er war aber weder bei einer früheren noch bei einer späteren in Avi-

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gnon zugegen; der Erzbischof von Mailand ersparte ihm eine Reise dorthin, dagegen wirkte er in Venedig selber für den Frieden, wie oben Anm. 23 sagt; vgl. auch Fam. 17,6. 38 Mindestens elf Personen wurden erhängt, einige zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Viele Einzelheiten will die Chronik von Lorenzo de’ Monacis wissen. 39 Zur Datierung vgl. Anm. 1.

Fam. 19,10, an Guido Sette1 Zweifel, ob dem neu gewählten Erzbischof Mitfreude oder Mitleid auszudrücken sei. 1. Die neue Würde raubt dem Freund Ruhe und Freiheit. 2. Doch besser ist es, ein Diener Gottes als wie bisher ein Diener der Menschen zu sein. Der Angesprochene ist auf sein neues Amt bestens vorbereitet. 4. Petrarca will auf Ratschläge verzichten und bloss einen Segensruf nachschicken. (Juli/August 1358)

1. Ob ich mich über Deine Erfolge am Ende freuen oder betrüben solle, war mir lange Zeit zweifelhaft. Ich erwog hier die Ruhe und dort die Ehre und stellte fest, dass Dir die eine im Augenblick, wo Du ihrer sonderlich bedürftest, entrissen und die andere, die man im höheren Alter ohnehin erwarten darf, Dir wie eine überflüssige Zugabe gespendet wird. Dass Dir eine rühmliche Last auferlegt werde, bedauerte ich allerdings nicht, weiss ich doch, wie unmöglich es ist, ohne Mühe echten Ruhm zu erlangen und zu bewahren. Ich entsetzte mich aber, weil die Freiheit, die Du immer geliebt hast, offensichtlich in Gefahr zu geraten drohte und weil Deiner Würde zweifellos eine Bürde auferlegt wurde. 2. Je höher ein Rang, desto drückender der Zügel im Alltag, sofern man üble Nachrede fürchtet! Ist ein Gipfel ja weithin sichtbar!2 Was willst Du? Meine Rücksicht auf die Liebe zur Freiheit und zur Musse und übrigens auch auf die angenehme Verborgenheit behielten die Oberhand! Und schon hätte ich beinah zu klagen begonnen, wäre mir nicht eingefallen, dass Du bisher ja auch nicht frei gewesen und dass Du, was die schlimmste Art von Knechtschaft ausmacht, unter einem ungeeigneten und allseitig drückenden Joch gelitten hast, während Du nun aus einem Diener vieler Menschen zu einem Diener des einen Gottes geworden bist. Eine glückliche Wendung ist das, über die man sich freuen muss. 3. Was Du in diesem Stand zu tun und welche Steuerleute Du in den stürmischen Fluten und zwischen den Riffen Deines Amtes Dir zu beschaffen hast, bin ich zu raten nicht befugt, noch bist Du eines Rates bedürftig. Denn Du hast Deine ganze Zeit mit dem Erwerb der Kenntnisse, die sich für diesen Stand bestens eignen, hingebracht; und wenn Du erst seit kurzem ein Bischof3 bist, sind Dir doch von Jugend auf das bischöfliche Recht mit allen damit verbundenen Zeremonien aufs innigste vertraut, weshalb das, was andere sich nur mühsam aneignen, Dir längst zur Verfügung steht. 4. Damit nun aber der mir einst so liebe Bruder (und mir nun auch Vater!) bei seiner Abfahrt aufs hohe Meer4 – ich sage nicht meinen Rat und Zuspruch sondern bloss – meine glückwünschende Stimme nicht vermisse, rufe ich Dir beim Aufrollen der Taue ein Wort des Horaz zu:5 „Geh, mein Guter, wohin Dich die Tüchtigkeit ruft, und geh glücklich!“ Denn wohin man andere mit dem Sporn und Stachel langer Ermahnungen nur mühsam vorantreibt, wird Deine Natur Dich führen. Du brauchst nicht gezwun-

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gen, nicht einmal gedrängt oder gebeten zu werden. Sogar ein Mahnwort wäre fast sinnlos, könnte es nicht der Treue des Mahnenden Glauben verschaffen6. 5. Hauptsache ist, Du folgst Deiner guten Natur, um Dich des erhofften Hafens einst zu freuen. Vertraue ihr das Steuer Deines Schiffes an, das die Wellen durchfurcht. Wenn aber ein Sturm etwas Ungewisses herbeiführt, hast Du Rat bei der höchsten Feste und dem obersten Rang Deines Geistes zu erbitten, der für irdische Wirren unerreichbar, stets heiter und ruhig bleibt.7 Hinsichtlich des Gelingens Deiner Werke masse Dir nur ja nichts an, sondern festige den Anker Deiner Hoffnung in Gott gemäss dem Psalmisten:8 „Empfiehl dem Herrn Deine Wege und hoffe auf ihn; er selber wird alles richten.“ Das ist es, was ich zu dieser so wichtigen Sache heute schreiben will. Voller Begierde hätte ich gerne mehr gesagt; doch weil der Bote ungeduldig Einhalt gebot, war mir sogar dies wenige kaum möglich. Lebe wohl! (Juli/August 1358)9

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. Zum Erzbischof wurde er (eine Korrektur zum Personenreg. Bd. 1 ist nötig) am 2. Juli 1358 gewählt. 2 Auf diesen Nachteil einer hohen Stellung weist Petrarca mehrfach hin, so z. B. Fam. 7,13,22; 14,1,6 ff. 3 In der Überschrift steht für Erzbischof lateinisch archiepiscopus. Für die selbe Würde sagt Petrarca im Text pontifex. Dieses Wort zieht er allgemein vor und nennt auch den Papst nicht anders. Das Wort papa vermeidet er meist. 4 Das ist bildlich gesprochen. 5 Epist. 2,2,37. 6 Lateinisch: fidei fidem facit. 7 Cic. Tusc. 1,10,20. Das selbe Zitat wird von Petrarca auch sonst angeführt, gleich wieder im folgenden Schreiben Fam. 19,11,2 an Benintendi; vgl. dort Anm. 4 mit Stellenhinweisen. 8 Ps. 36,5. 9 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 171.

Fam. 19,11, an den venezianischen Kanzler Benintendi1 Wer durch fremdes Lob erregt wird, muss zur Feste der Vernunft und zum eigenen Gewissen flüchten. 1. Ein Brief voller Lob bringt den Dichter zum Erröten. 2. Doch Vernunft und Gewissen schützen Petrarca gegen den Zwang einer beredten Liebe. 4. An der Aufrichtigkeit des Freundes zweifelt er nicht. 5. Die Tore der Freundschaft hat er ihm längst aufgetan. 6. Freundschaften schliesst er nie unbedacht; geschlossene löst er nicht auf. 9. Er schickt dem Freund die gewünschten Werke. 10. Auch empfiehlt er ihm zwei Musiker. Mailand, am 19./26. Mai (1356).

1. Gut traf sich, dass in dieser Stadt, wie belebt sie auch ist, Dein Brief mich in der Einsamkeit erreichte. Errötet wäre ich, hätte ich ihn öffentlich erhalten, vor den Augen vieler; nun errötete ich einzig vor mir selber und sagte: „Was vermagst Du nicht, gebieterische Liebe? Was vermagst Du nicht, wenn Du sogar eines so tüchtigen Mannes Augen und Urteil bezwingst? In Deinem Brief, mein Bester, habe ich beieinander zwei Überzeugungen der Alten entdeckt, nämlich die von der grossen Kraft der Liebe und die von der Beredsamkeit. Zu Recht wurde gesagt „der Liebenden Urteil ist blind“ und „des Redners Gewalt vermag alles“.2 2. Die erste, Freund, täuscht Dich zweifellos bei Deiner Einschätzung meiner Werke, und die zweite hätte auch mich fast getäuscht, denn ich war in Gefahr, mich so zu betrachten, wie Du mich darstellst. So ganz hast Du die Herzen der Lesenden in Deiner Hand,3 so sehr ist Dir das Papier eine Königsmacht und die Feder ein Zepter! Doch im Gefühl eines Zwanges bin ich zur „Feste der Vernunft“ entwichen4 und habe bei mir nachgeforscht, ob das, was Deine Rede über mich so kunstvoll und honigsüss vortrage, auch wahr sei. 3. Ich weiss, was mir im Innern und in aller Stille geantwortet wurde, und so bitte ich denn, künftig mein Schamgefühl zu schonen und mich nicht mit Lobreden zu überhäufen. Ich bitte Dich nicht, Deinen Irrtum abzulegen, denn er gefällt mir, sondern bloss, mich nicht an einem Haken der Redekunst in einen Irrtum zu ziehen, der von dem Deinen völlig verschieden wäre. Dein Irrtum ist ja ein geistvolles Zeichen aussergewöhnlicher Freundschaft; der meine dagegen wäre, sofern er entstünde, nicht anders denn unsinnig und lächerlich. Freilich ist, wenn ich nicht irre, für mich vorgesorgt, dass ich nicht falle. 4. Denn ich habe etwas, um mich daran zu klammern, das ist mein Gewissen, und von diesem werde ich schwerlich losgerissen, es sei denn unter dem Einfluss fremdartiger Windstösse. Denn dort wehen einzig die reinsten Lüfte und die wahrhaftigsten Geister. Beachte also: Ich kann Dir alles glauben, nur nicht das, was Du schreibst über mich. Käme es von einem andern, was meinst Du, mit welcher Miene ich es läse? Doch nun ist mir Deine Lauterkeit bestens bekannt; und was immer Du tust oder sagst, empfiehlt sich meinen Gefühlen, und was aus dem Munde eines andern wie Spott erschiene, kommt über Deine Lippen als etwas

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Angenehmes und Freundliches. 5. Und hier das Wichtigste: Wer immer ich bin: Ich bin Dein! Und die Tore unserer Freundschaft, die Du unter grossem Aufwand mit den Schlüsseln Deiner Redekunst zu öffnen Dich abmühst, sind schon offen. Tritt herein nach Belieben, weil herzlich erwartet, und glaube mir, dass Du keiner Anstrengung und keiner Kunst bedarfst. Denn zum vornherein bin ich voll Verlangen dazu bereit und empfange Dich freudig an meiner Schwelle, um Dich nicht früher zu entlassen, als diese meine Seele der Tod entlässt. Und dass es so ist, wie ich sage, davon solltest Du überzeugt sein! 6. Wenige Dinge gibt es, deren ich mich rühme, und selbst bei den wenigen pflege ich zu zaudern. Eines aber versichere ich unbedenklich: Zeitliche Freundschaften aufgrund einer flüchtigen Berechnung unnützer Vorteile kenne ich nicht, sondern nur ehrbare, zu denen eine unsterbliche Überzeugung5 verlockt, die nicht zulässt, dass das aus ihr Geborene sterblich sei. Ich pflege, dies sei nicht geleugnet, nur zögernd eine Freundschaft einzugehen, aber eine zu beenden, widersetze ich mich hartnäckig. Diese hier zu schliessen, bin ich jedoch sehr geneigt; und dass Du ja nicht an Zufälligkeit denkst! Vielmehr war bei mir, was Dich angeht, seit langem alles schon abgemacht. Denn unter meine Freunde aufgenommen zu werden, schienst Du wert und begierig zu sein. 7. Nun hast Du Dich freilich noch gewürdigt, neben Deinem sehr bescheidenen Wunsch nach Freundschaft ein Verlangen nach einem Teil meiner vertraulichen Briefe zu äussern, die mit ihrem notwendigerweise vielfältigen Stoff täglich meiner Hand entfallen, so dass ich mich wundern muss, weshalb Du als einer, der zu Hause einen lebendigen und klaren Quell besitzt, durstig auch halb ausgetrocknete und trübe Bächlein der Nachbarschaft aufsuchst. Doch ich habe bei Dir schon früher ein leidenschaftliches Verlangen des Herzens entdeckt, das ob seinem Ungestüm keinen einzigen Sprudel irgendeines Geistes, woher er auch komme, verschmäht und selbst am eigenen, den die überfliessende Brust in unablässigem Wogen reichlich hervorbringt, kein Genügen hat, vielmehr Dich anhält, an die Türen der Armen zu klopfen und bei grosser eigener Habe um fremde zu betteln. 8. Fahre fort, Du hast Führer, denen Du folgen kannst, nämlich je nach Deiner Wahl Sokrates oder Platon. Der eine von ihnen war, wie man lesen kann, genügsam im Lernen, doch überreich im Lehren, während der andere alle Wissenschaft in aller Welt sammelte, um sie in aller Welt zu verströmen.6 Gestützt auf solche Vorbilder und weiter wandernd auf Deinem Weg, musst Du unumgänglich bis zum grössten Reichtum gelangen. 9. Was aber meine Kleinigkeiten angeht, so fügt sich zu Deinem Wunsch wiederum Deine Liebe zu mir und zu dem Meinen. Und die Liebe ist, wie gesagt, ein blinder, stets ungerechter Richter über alles. Im Volk pflegt man zu sagen: „Gefällt der Komödiant, singt er einzig Gefälliges.“ Wirklich liegt es nicht an mir und meinen Schriften, wenn sie Dir gefallen, sondern an Dir. Im Mass Du aber an ihnen Gefallen hast (sofern sie Dir überhaupt gefallen) und im

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Mass, als Dir Besseres gefiele, wenn ein freundliches Los es genehmigte, möchte ich Dir zu Diensten sein. Und was dagegen ich, wenn es beliebt, von Dir erlangen möchte, wirst Du von dem Boten erfahren, aus dessen Hand Du dieses Schreiben entgegennimmst. 10. Er ist ein Mann, fähig, mit schmeichelnder Musik Ohren zu betören und mit seinem Finger Überragendes hervorzuzaubern. Und obwohl er selber bedeutend ist, hat er – zwar nicht dank einer Heirat mit Thetis7 – einen noch Bedeutenderen gezeugt.8 Nun haben beide im Verlangen nach Ruhe sich auf der ganzen Welt Venedig ausgewählt. Steh ihnen bei, das bitte ich, so viel Du vermagst. Sie sind mein, und deshalb wünschen sie erst recht, auch Dein zu sein, und werden dabei meinen, es bedeute das selbe. 11. Zum Schluss sei angefügt, dass ich den Brief jenes besten Mannes und Bürgers und Dogen9 freudig, jedoch nicht ohne Tränen gelesen habe. Er lebt nun in einem besseren Vaterland, dessen wir längst so gerne würdig wären, und mir scheint, er habe mir aus dem Grabe, nein aus dem Himmel geantwortet, womit er mir manchen Seufzer erneuerte. Aber nicht so sehr, dass ich darauf verzichten wollte, ihm manches zu entgegnen, wenn er mit uns verhandeln wollte. Jetzt freilich, wie ich glaube, versteht er mich, selbst wenn ich schweige. Lebe wohl und denke an uns! Mailand, am 19./26. Mai (1356).10

Anmerkungen 1 Der Brief antwortet auf ein Schreiben des Kanzlers Benintendi dei Ravagnani von Venedig mit dem Anfang Nerius noster vom 26. Januar 1356; man findet es in der Ausgabe der lateinischen Werke Petrarcas von 1501; vgl. Wilkins, Eight years 120. Eine ungenannte Person, auf die Petrarca schon früher in Fam. 9,11,1 und 11, auch 9,12,1 hinwies, ist wohl identisch mit Benintendi. Unter der von Wilkins genannten Literatur sind herauszuheben Vincenzo Bellemo, La vita e i tempi di Benintendi de’ Ravagnani, cancelliere grande della veneta Repubblica, in: Nuovo archivio Veneto (NAV) 23,1912,237–284 und 24,1912,54–95; Nicholas Mann, Benintendi Ravagnani, il Petrarca, l’umanesimo veneziano, in: Venezia, Firenze 1976, 109–122. 2 Auf die Blindheit der Liebe hat Petrarca unzählige Male, teils mit Nachdruck, teils beiläufig, hingewiesen; so bereits in Fam. 1,1,17 und dann z. B. in Fam. 7,14; 9,5,33; 10,6,3; etc. etc. Ein Beispiel für die Macht der Rede folgt im Text sogleich. 3 Im Lateinischen: corda legentium in manu habes. Eben das sagt Petrarca mit fast genau den selben Worten zu König Roberto von Neapel, um dessen Überzeugungskraft zu rühmen; vgl. Fam. 4,3,2. 4 Vgl. „zur Burg der Vernunft“ Fam. 7,12,16; 9,13 18; 12,14,1–6; 19,10,5; 21,12,21. 5 Für das Wort ratio im lateinischen Text gibt es in der deutschen Sprache kaum ein Substantiv von so reicher Bedeutung, wie in diesem Satz nötig wäre. Vgl. ähnliche Ausführungen in Fam.18,8,4 ff.; 21,9,21 ff.; 22,4,2 und oft. 6 Vgl. Val. Max. 8,7, ext. 8,3. 7 Thetis gebar Achille(u)s, und dieser war grösser als sein Vater Peleus, entsprechend einer Voraussage des Prometheus (oder der Themis).

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8 Möglicherweise sind die Musiker Floriano da Rimini und sein Sohn gemeint. An sie hatte Petrarca früher Metr. 3,15 und 16 gerichtet; diese findet man lat.und dt. bei Schönberger 263 ff. Vgl. auch Wilkins, Eight years 120 Anm. 9 Vgl. die Briefe Petrarcas an Andrea Dandolo und Fam. 19,9 an Guido Sette über die letzte Auseinandersetzung zwischen den beiden. Ein Testament hatte Dandolo am 7. September 1354 aufgesetzt. Einen Brief angeblich des Dogen Dandolo an Petrarca, eine Antwort auf dessen letzte Ermahnungen, datiert aus seinen letzten Lebenstagen, hatte der Kanzler Benintendi unter seinen Schreiben aufbewahrt. Zusammen mit einem Sohn des Verstorbenen bat er Petrarca, einen Nachruf oder ein Epitaph zu verfassen. Vgl. Wilkins, Eight years 142 und 147. 10 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 116.120.

Fam. 19,12, an Karl IV., den römischen Kaiser1 Vorwurf wegen des Abzugs aus Italien. 1. Die Lage Italiens hat sich seit der Ankunft Karls völlig verändert. 3. Karls Abzug ist so viel wie eine Flucht. 4. Er bleibt trotz Kaisertitel blosser König von Böhmen. 7. Das Geschenk des Kaisers für Petrarca ist diesem ein Anlass zu grossem Schmerz. (Mailand, Juni 1355)

1. Als Du kürzlich über Grenzen und Wälle unseres Landes herbei kamst, bin ich im Geist und in Briefen Dir entgegengegangen und nicht viel später – auf Dein Geheiss – auch in Person. Da Du weggehst, folge ich Dir gleichfalls im Geist und mit Brief; doch besteht ein Unterschied; denn der Brief war damals heiter und heiter auch das Herz; jetzt aber ist alles voll Trauer.2 2. Du also, Cäsar, hast, was Dein Grossvater3 und zahllose andere mit sehr viel Blut und sehr viel Mühen erstrebten, ganz ohne Mühe und Blut erlangt: Ein völlig geebnetes, zugängliches Italien, eine offene Pforte zu Rom, ein leicht zu führendes Zepter, eine von Aufruhr verschonte und friedvolle Herrschaft und Kronen frei von Blut.4 Doch ob im Undank für so grosse Gaben oder ob als ungeeigneter Beurteiler der Lage: Du verlässt dieses alles, um Dich erneut (oh dass die Natur zu ändern so schwierig ist!) barbarischen Reichen zuzuwenden. 3. Ich wage nicht, Dir deutlich zu sagen, was der Verstand und die Sache doch erfordern, denn ich will Dich nicht mit meinem Wort betrüben, wiewohl Du mich und die Welt mit Deiner Handlung betrübst. Nicht dass ich einem, der Schmähungen und Satiren verdiente, eine Lobrede schuldete! Oder dass ich aus einem anderen Grund die Wahrheit zu sagen mich scheute, als weil ich vermute, über Deinen hastigen Rückzug, der – um die Wahrheit zu sagen – so viel wie eine Flucht ist, sei niemand unglücklicher als Du selber! Doch gerade deshalb steigert Dein Entschluss mehr und mehr meine Bestürzung, und ob das Glück ihn jemals begünstigen werde, weiss ich nicht. Sicher steht, dass Vernunft und Tapferkeit und alle Guten, ja auch das Imperium (könnte es reden) ihm widersprechen, dagegen alle Schlechten und Rebellen ihm Beifall bekunden. 4. Geh dennoch, da es in Deinem Geist eben feststeht! Doch halte in Deiner Erinnerung auch dieses fest und trage es als kleines Andenken an einen Abschiednehmenden mit Dir: Bisher wurde durch keinen anderen Fürsten eine so grosse, so blühende, so reife und würdige Hoffnung freiwillig aufgegeben. Und doch ziemte sich für einen römischen Herrscher nicht geringerer Mut als für einen König der Makedonier,5 der – gleich nach dem Wegzug aus seinem Vaterland – nicht etwa befahl, dass man ihn Herrn Makedoniens nenne, sondern Herrn aller Länder, wenngleich er das nicht war.6 Du aber, Herr des römischen Kaiserreichs, sehnst Dich einzig nach Böhmen! 5. Wann hätten, ich bitte Dich, Dein Grossvater oder

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Dein Vater so gehandelt? Dieser hat,7 zwar selber nicht Kaiser, im blossen Gedanken an das väterliche Kaisertum8 ein Recht auf sehr viele Städte beansprucht. Doch zum Erbgut gehört die Tüchtigkeit nicht. Und obwohl ich selbst nicht glauben wollte, es fehle Dir die Kenntnis zum Herrschen oder zum Kriegführen, fehlt Dir doch die Quelle allen Handelns, der Wille. 6. Oh möchten Dir auf den Höhen der Alpen eben jetzt Dein Grossvater und Vater begegnen! Was, meinst Du, würden sie sagen? Ich glaube, Du hörst sie, selbst wenn sie nicht da sind: „Erstaunlich weit, grossmächtigster Cäsar, hast Du’s gebracht mit Deiner so viele Jahre verzögerten Italienfahrt und mit Deinem eiligen Abzug. Nach Hause bringst Du diese eiserne und jene goldene Krone8 und dazu den fruchtlosen Titel des Kaisertums. Kaiser der Römer wirst Du heissen und bloss König von Böhmen sein. Oh liesse sich dieses Land doch nirgends finden! Dann müsste Deine Tatkraft gezwungenermassen sich höher erheben, und der Hunger im eigenen Haus müsste Dir die vernachlässigte Obsorge für den grossväterlichen Erbteil recht eigentlich aufdrängen. 7. Doch vom kurzen Anlauf schon erlahmt, mag die Feder ruhen; und den Ohren, die, wie ich fürchte, die Wahrheit plagt, gewähre sie Ruhe! Einen Gruss hat mir mein Lelio mit Deinen Worten übermittelt9(er war mir ein doppeltes Geschoss und eine tödliche Wunde), dazu ein Bildnis Caesars10 von sehr alter Arbeit.11 Und wäre diesem doch vergönnt zu sprechen und Dir, es zu betrachten! Es hätte Dich gewiss vom unrühmlichen – um nicht zu sagen vom schimpflichen – Abzug zurückgeholt. Lebe wohl, Cäsar, und bedenke, was Du hinter Dir lässt und was Du aufsuchst! (Mailand, Juni 1355)12

Anmerkungen 1 Die lat Brieftexte an deutsche Adressaten findet man bei Piur, Briefwechsel, sowie lat./dt. in Petrarca, Aufrufe. Vgl. die vorangehenden Schreiben Petrarcas zu Karls IV. Italienreise, vor allem die Fam. 19,1–19,4, dann auch spätere Briefe an den Kaiser ähnlichen Inhalts und die Klage in De vita solitaria, Buch 2,4,3. 2 Als Petrarca diesen Brief verfasste, befand sich Karl noch auf italienischem Boden. Dieser hatte Pisa wegen eines Aufruhrs in der Stadt am 27. Mai verlassen und hielt sich nachher etwa zwei Wochen lang in Pietrasanta auf; vgl. Fam. 19,9 Anm. 5. 3 Das war Heinrich VII. 4 Unruhen gab es da und dort, so zum Beispiel in Siena und Pisa; vgl. Anm. 2. Zwei Diademe gewann Karl: die eiserne Lombardenkrone in Mailand und die Kaiserkrone in Rom. 5 Gemeint ist Alexander der Grosse. 6 Iust. 12,16,8 f. 7 Das ist Johann von Böhmen. Er erlangte tatsächlich von Ludwig dem Bayern in vielen Ghibellinenstädten die Signorie als Reichspfand. 8 Gedacht wird an die Kaiserherrschaft von Karls Grossvater, von Heinrichs VII.

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Fam. 19,12

9 Lelio war im Gefolge des Kardinals Pierre Bertrandi an der Kaiserkrönung beteiligt gewesen; er befand sich offenbar im selben Gefolge, als der Kardinal nach Avignon zurückkehrte; vgl. Fam. 19,3 und 4. 10 Der Name wird regelmässig nur dann mit ae geschrieben, wenn er den Begründer der Kaisergewalt benennt. 11 Petrarca hatte dem Kaiser eine alte Münze mit dem Bildnis des Augustus und auch andere Münzen geschenkt; vgl. Fam. 19,3,14. 12 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 115.

Fam. 19,13, an Francesco Nelli, Vorsteher der Apostelkirche1 Über die Gesandtschaft zum Kaiser. 1. Petrarca wird bis fast zum Nordmeer gesandt. 3. Er geht in der Hoffnung, sein Auftrag werde den politischen Frieden fördern. Bei dieser Gelegenheit wird er dem Kaiser seine schmähliche Flucht aus Italien vorhalten. Mailand, am 19. Mai (1356).

1. Oh stahlhartes Menschenlos, oh wahrhaft „drückendes Joch auf den Kindern Adams“, wie einer sagte,2 „vom Tag, da sie ausgehen aus dem Mutterschoss bis zum Tag, da sie begraben werden in die Mutter aller.“ Sieh, während ich selber in höchstem Mass auf Einsamkeit und Ruhe bedacht bin, werde ich jetzt entgegen meinem Brauch und Begehren mit dem geräuschvollen Aufwand an Habe und Dienerschaft beinahe bis zum Nordmeer geschickt.3 2. Wer hätte geglaubt, dass ich denselben Rhein, den ich als junger Mensch dort, wo er alt ist, besuchte,4 später, wenn ich alt wäre, dort, wo er jung ist, besuchen müsste? Und doch bin ich einst, als sich meine Jugend noch stärkte, bei der Verzweigung des Stromes gewesen, wo er Stärke verliert und in zwei Enden auszulaufen beginnt, wogegen jetzt, da ich meinerseits Kraft verliere, mein Weg mich bis zum Fuss der Berge geleitet, wo jener entsteht und sich kräftigt, hierauf aber noch weiter bis zu den Enden der Erde! Eine grosse Mühe, zumal bei so entgegengesetztem Bestreben! Doch wenn nicht vergeblich, dann nicht beschwerlich! Für das öffentliche Wohl darf eine persönliche Mühe nicht anders als leicht erscheinen. 3. Nur aus diesem Grund und aus keinem andern werde ich – da der Regent Liguriens mich sendet5 – zum Cäsar reisen; und wie nützlich das dem Absender und dem übernommenen Auftrag sein mag, wird der Ausgang erweisen.6 Mir selber werde ich dabei insofern Genüge tun, als ich jenem, den ich aus der Ferne und schriftlich zu nichts bewegen konnte, in der Nähe und mündlich hart zusetzen werde. Ich will mit ihm streiten, „ich will ihn tadeln und ihm ins Gesicht erklären,“7 wie schmählich und wie ganz unkaiserlich seine Flucht war.8 Und sollte meine Reise sonst niemandem nützen, werde ich doch gewiss ein Gesandter meiner selbst sein. Zuerst nämlich werde ich meinen Auftrag und nachher gesondert meine eigenen Vorhaben ausführen. Ich werde meinen Freimut erproben und erproben auch die Geduld des Cäsars. Somit werde ich wenigstens mich selbst, auch Italien und das im Stich gelassene Imperium rächen. Du wirst für meine glückliche Rückkehr beten! Nach dieser werde ich, wie ich hoffe, so gänzlich in die Einsamkeit eintauchen, dass mich da keine Anstrengung (oh was erhoffe ich vor dem Begräbnis!) und keine Missgunst, die ja vornehme Schlupfwinkel ausforscht, entdecke. Lebe wohl und denke an uns! Mailand, in grösster Eile und im Tumult der Leute, die das Gepäck verschnüren, am 19. Mai (1356).

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Fam. 19,13

Anmerkungen 1 Der Brief steht auch bei Piur, Briefwechsel 206 f. Vgl. die früheren Schreiben an den selben Freund Petrarcas. 2 Eccli. (Ecclesiasticus = Sirach) 40,1. 3 Die Gesandtschaft führte Petrarca bis nach Prag. Petrarca meinte aber vorerst, sie führe ihn bloss an den Rhein. 4 Köln besuchte Petrarca wohl 1333; vgl. Fam. 1,5. 5 Petrarca sagt Ligurien für Lombardei. Er reiste auf Geheiss seiner Herren Galeazzo und Bernabò Visconti, die 1356 von einer neuen Liga ihrer Gegner bedroht, aus eigenen Interessen eine Verhandlung mit Karl IV. wünschten. Der kaiserliche Vikar Markward von Randeck führte eine italienische Opposition gegen Mailand an, und Genua entzog sich der mailändischen Herrschaft; vgl. Fam. 19,15, Anm. 6 Petrarca reiste am 20. Mai 1356 von Mailand ab. Er machte einen längeren Halt in Basel, vergeblich hoffend, vom Kaiser günstigen Bescheid über einen Treffpunkt am Rhein zu erhalten. Basel schilderte er mehrfach; vgl. Berthe Widmer, Francesco Petrarca über seinen Aufenthalt in Basel 1356, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 94,1994, 17–27. 7 Ps. 49,21. 8 Vgl. das Schreiben Fam. 19,12, das ins vorangehende Jahr datiert wird, auch Fam. 19,14 wieder an Nelli und vgl. Wilkins, Eight years 115 f. 254 f. über Schreiben Nellis an Petrarca.

Fam. 19,14, an Francesco Nelli1 Mitteilung von der Rückkehr. 1. Petrarca hat für Briefe kaum Zeit. Er stellt aber den Vorrang Italiens über alle Länder fest. 3. Dem Adressaten empfiehlt er, sich vom Briefboten Wissenswertes erzählen zu lassen. Mailand, am 20. September (1356).

1. An Dich dachte ich bei der Abreise; an Dich denke ich bei der Rückkehr. Doch während damals meine Feder für weniges genügte, kann sie jetzt – mehr als gewöhnlich beschäftigt – einem vieles heischenden Kopf nicht genügen. Daher fordert sie eine Schonfrist, und dass ich diese nicht verweigere, dazu drängt mich die Zeitnot.2 Dass ich zurück bin, soll Dir zu wissen genügen, füge ich bei, ich sei wohlauf zurück. Doch wichtiger als Rückkehr und Gesundheit wird Dir sein, dass ich die weite Welt, je mehr ich herumreise, desto weniger liebe.3 2. Ist etwas liebenswert, so liegt es, wenn nicht Liebe mich täuscht, in Italien, dem überhaupt alle Länder, wenn sie reden könnten, den Vorrang überliessen und auch ohne Reden überlassen, nur dass hier, was ich trauernd hinzufüge, die Freundlichkeit der Natur durch die Händelsucht und Scheelsucht der Bewohner verdorben wird.4 Zu Italiens Lob haben wir oft manches gesagt und werden wir, sofern uns das Leben erhalten bleibt, noch sagen.5 Jetzt aber habe ich beschlossen, aus frischem Gedächtnis bunt vermischt etwas von dem mitzuteilen, was mir auf der Hinreise und bei der Heimkehr begegnet ist.6 3. Übrigens ist der Bote, aus dessen Hand Du dieses Brieflein empfängst, unser Mitbürger und Freund (ihn den unsern zu heissen, zögere ich nicht, weil er der meine ist); er wird Dir vieles von meiner Lage berichten; und ich füge nicht bei: wenn es Dir recht ist; denn Deinen unstillbaren und ständigen Durst nach Wissen kenne ich. Lebe wohl! Du kannst von mir einen längeren Brief, sofern nicht Geschäfte mich hindern, schon in kurzem erwarten.7 Mailand, am 20. September (1356)8

Anmerkungen 1 Das Schreiben steht lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 472 f. Vgl. den vorangehenden Brief an Nelli und auch dessen Antwort auf Fam. 19,14 in Epist. 16 vom 10. Oktober 1356, bei Cochin 224 ff. 2 Schon Erzbischof Giovanni Visconti hatte Petrarca nicht so völlig mit Arbeit verschont, wie dieser gewünscht hätte. Bernabò beschäftigte ihn noch stärker, liess ihn zum Beispiel Briefe im Kanzleistil schreiben; vgl. R.Weiss, Il primo secolo 136 f.

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Fam. 19,14

3 Nelli galt Petrarca als rechter Stubenhocker, dem Florenz zum Wohlbefinden genügte; vgl. Fam. 18,11,4, auch 9,2,6. 4 Vgl. z. B. 19,9,2 ff. 5 So in 4,1,18; 8,3,17; 9,13,10; 11,16,8; 12,8,4; etc., dann auch im folgenden Schreiben 19,15. 6 Man erwartet nach dem letzten Satz, dass wenigstens einige knappe Mitteilungen angefügt würden, doch sie folgen nicht. So fällt auch kein Wort über das Erdbeben, das damals Basel und weite Gegenden Süddeutschlands verwüstete und das Petraca später mehrmals erwähnte, vor allem auch in De otio, ed. Rotondi, 38 f. und 52.f. so beschrieb, dass ein Leser meinen konnte, er habe davon nicht bloss gehört, sondern bei der Rückreise auch etwas von der Verwüstung gesehen. Vgl. Wilkins, Eight years 129–130. Vgl. Fam. 19,13, Anm. 6. 7 Vgl. Fam. 19,15. 8 Die Jahreszahl ergibt sich aus dem Inhalt des Schreibens. Vgl. Wilkins, Eight years 27. 126. 255 über Briefe Nellis und Petrarcas aus dieser Zeit, die verlorengingen.

Fam. 19,15, an Nelli1 1. Petrarca hat in Germanien erkannt, was zum Lob auf Italien zu sagen wäre. 2. Er hat darüber zu schreiben begonnen, aber wegen der Fülle der Gedanken und der mangelnden Zeit die Feder wieder weggelegt. 3. In Mailand hat die Lage sich beruhigt. Mailand, am 30 Mai (1357).

1. Du verlangst, ich solle den Brief zum Lob Italiens, den ich Dir zu versprechen schien, nicht vorenthalten. Und wirklich ist mir nichts lieber, als recht oft mit Dir zu sprechen, und gerne gestehe ich, dass ich neulich, als ich durch fremdländische2 Gebiete reiste, unter dem Reiten Vieles und Verschiedenes dachte, was sich zum Lob des Vaterlandes sagen lässt. So kam es, dass ich seinen Wert nie klarer erkannte als im Ausland. Überhaupt habe ich, wie schön Italien ist, so recht gründlich in Germanien eingesehen. 2. Und darin bestand der Anfang jenes Briefes, den ich gleich nach meiner Rückkehr mit grossem Schwung begonnen habe und bald wieder aufgab, nämlich erdrückt durch die Wucht der Verhältnisse und hin- und hergerisssen durch ihren Wechsel.3 Ich hatte ja seither noch kaum einen ruhigen Tag, keinen Augenblick zum freien Aufatmen, was Dich gewiss nicht verwundert, wenn Du Dir alle Unternehmungen und den jetzt herrschenden Zustand Liguriens4 vor Augen führst. In einem Schiff, das durch solche Stürme erschüttert wurde, vermochte ein Passagier vielleicht unerschrocken, nicht aber aufrecht zu bleiben.5 3. Du erinnerst Dich an ein Wort, das Augustinus6 von sich und von dieser nämlichen Stadt in einer ähnlichen Lage gesagt hat: „Wir,“ so meinte er, „waren damals noch kaltherzig, wurden jedoch durch die Hitze Deines Geistes erwärmt, und zwar mitten in der erschreckten und aufgeregten Stadt.“ Wenn das ihm, einem NichtItaler, zustiess und einem, wie er sagte, noch „kaltherzigen,“ was meinst Du sei mir, einem Italer geschehen, der ich, Gott sei Dank, der Wärme des Geistes7 noch nicht völlig entbehre und zweifellos von Kindheit auf von einer bestimmten Liebe zur Grösse Italiens stärker als alle meine mir bekannten Altersgenossen verzehrt wurde? 4. Übrigens ist dank einer Gunst des Himmels die von vielen Unwettern geschüttelte Stadt unter grossem Ruhm zum Hafen der ersehnten Ruhe gelangt.8 Doch hinsichtlich des von Dir gewünschten Themas habe ich manches in beiderlei Sprachen ausgedacht, um es schriftlich festzuhalten, und das ist, wie ich vermute, Dir unter die Augen gekommen. Und wenn ich bei Gelegenheit vielleicht auch jetzt wieder darüber schreibe, sollst Du es früher als alle anderen sehen. Lebe wohl! Mailand, am 31. Mai (1357).9

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Fam. 19,15

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an Nelli und bei H. Cochin 224 ff. Nellis Epist. 16 an Petrarca vom 10. Oktober 1356. Ein anderer Brief Nellis, auf den sich Fam. 19,15 bezieht, hat sich nicht erhalten; vgl. Wilkins, Eight years 255. 2 Im lateinischen Text steht hier wie so oft bei Petrarca das Adjektiv barbaricus, das man schlecht übersetzen kann, denn „ausländisch“ tönt zu neutral und „barbarisch“ allzu verächtlich. 3 Lateinisch: mole rerum pressus et varietate distractus. Diese Aussage bezieht sich nicht mehr auf Erlebnisse im Ausland; vgl. den nächsten Satz. 4 So sagt Petrarca für die Lombardei. 5 Zu den gefährlichen Stürmen, die Petrarca zu schaffen machten, vgl. Dotti, Vita 316 f. und Wilkins, Eight years 127–128, vgl. übrigens auch Fam. 20,10,3 f. vom Anfang 1358. Galeazzo und Bernabò Visconti sahen sich einer verstärkten Opposition gegenüber, da gegen Ende 1356 der von Karl IV. bestellte kaiserliche Vikar Markward von Randeck (Bischof von Augsburg) von Bologna aus die Leitung der Opposition unternahm. Brief Var. 59, Petrarca zugeschrieben, ist eine Antwort Galeazzos auf ein Schreiben des Markgrafen von Randeck mit dem Datum 1. Oktober 1356; er ist bei Fracassetti Bd. 3,469 ff. zu finden. Vgl. Überblick. 6 Conf. 9,7,15. Augustinus spricht Gott an; er verweist auf die Unruhen, welche die Arianer 385/386 hervorriefen. Gegen ihre Propaganda versammelten sich die Christen unter ihrem Bischof Ambrosius zum gemeinsamen Hymnengesang. „Wir waren noch kaltherzig,“ sagt Augustinus, und meint: für den christlichen Glauben noch nicht in dem Masse begeistert wie die Mutter Monika. 7 Petrarca entfernt sich vom Sinn seines Zitats bedeutend. Er spricht nicht von einer Erwärmung seines Herzens durch den Geist Gottes, sondern von seiner Begeisterung für Italien. 8 Die Gutwetterlage hielt nicht lange an; vgl. Fam. 19,18. 9 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 140.

Fam. 19,16, an Guido Sette, den Erzbischof von Genua1 Bericht über den eigenen Zustand. 1. Der Freund hat schon früher über die Lebensweise Petrarcas Bescheid erhalten. 3. Dieser liest und schreibt und gönnt sich nur die nötigste Erholung. 5. Da die Zahl der Aufgaben wächst, arbeitet Petrarca immer rascher. 7. Über seinen Erfolg entscheidet ein anderer. 9. Die Hoffnung auf Gottes Hilfe im Tod bleibt bestehen. 12. Noch immer sucht Petrarca in allem die Mitte der Extreme. Aber sein Ruhm gefährdet diese Position. 14. Er findet in Mailand Ruhe und Ansehen bei jedermann. 23. Den Sommer verbringt er in Garegnano; er geniesst die reizvolle Landschaft und die Freundlichkeit der Bevölkerung. 27. Doch vermisst er die Freunde. Dabei schätzt er den Verkehr mit den Mönchen des Kartäuserklosters ebendort. (Mailand/Garegnano, Juni/August 1357)

1. Ich kenne Dich; ich weiss, wie sehr Du Dich stets um mich geängstigt und gesorgt hast, und wahrhaftig, wer nicht fürchtet, der liebt nicht. Von meinem „Zustand“ willst Du hören. Aber wenn der Stand von Stehen kommt,2 dann ist keinem Menschen hier ein Zustand gegeben, vielmehr ein beständiges Fliessen, dann ein Gleiten und am Ende der Untergang. Was Du wissen willst, begreife ich, doch ob angenehm oder schwierig, so stehen meine Sachen nicht, so sage ich, sondern wälzen sich um, und darüber habe ich auf Fragen meiner Freunde je nach Zeit Verschiedenes geantwortet. 2. Was aber könnte verbieten, entweder mehrmals das selbe zu sagen oder dann anders zu reden, wenn sich in den Verhältnissen oder Meinungen eine Änderung ergeben hat? Dass Du mein Tun und Treiben der Hauptsache nach einst bestens gekannt hast, weiss ich.3 Und nun, so vermute ich, verlangst Du Genaueres und Alltägliches, zu hören; nämlich das, was ich gewöhnlich und von einem Tag zum andern tue, was ich für die Zukunft plane, obwohl ich mir von Deiner Einbildungskraft verspreche, sie wisse – wo immer ich sei – nicht bloss über mein Handeln, sondern sogar über mein Träumen Bescheid. Wie aber sollte ich unter Träumen nicht die Handlungen und Überlegungen der Menschen verstehen, von denen Gott ja weiss, „dass sie eitel sind,“ wie der Psalmist4 sagt? Und wahrhaftig, ich mache Dir das Erkennen dessen, was ich tue, nicht mühevoll und nicht schwierig. 3. Da die Aufwallungen der Jugend einmal bewältigt und jenes gewisse Feuer dank der wohltätigen Wirkung eines reiferen Alters einmal erstickt waren – oh was sage ich angesichts so vieler ausschweifender und wahnwitziger alter Leute, die den Jungen ein schändliches Schauspiel und Exempel bieten? –, nein, da die Feuersbrunst im himmlischen Tau und in Christi kühlendem Segen gelöscht war, behielt mein Leben stets den sozusagen einen und selben Charakter und blieb, wiewohl ich derweil den Wohnort öfters wechselte, unverändert. 4. Wie, das kann niemand besser wissen als Du, denn kaum weniger als zwei Jahre war ich ja Gast in Deinem Hause,5 und was Du mich damals tun sahst, das schreibe auch dem heute Wirken-

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den zu. Nur beachte dabei, dass ich mit zunehmendem Weiterrücken schneller gehe und, wie ein müder Pilger gegen Abend hin im Gedanken an die noch lange Strecke seufze, mich ansporne, die Trägheit abschüttle, den Schritt verdopple und den mannigfachen Lebensüberdruss mir aus dem Sinn schlage. 5. Tag und Nacht also lese und schreibe ich wechselweise, und die eine Arbeit gereicht zur Erholung der andern, so dass die eine Anstrengung für die andere Ruhe und Linderung ist. Kein Vergnügen und keine Freude des Lebens kommt mir von anderswo her, und eben diese eine beansprucht mich so sehr und hält mich so sehr in Atem,6 dass ich bei ihrem Verlust gewiss kaum verstünde, woher ich denn sonst sowohl Arbeit wie Ruhe erlangen sollte.7 Der Stoff erfährt dabei unter der Hand eine ständige Zunahme, und dies bei ständiger Abnahme des Lebens; und um ehrlich zu sein, bereitet mir die gewaltige Masse begonnener Werke angesichts einer so knapp bemessenen Lebensfrist einen wahren Schrecken. 6. Über ihr Gedeihen wird Gott entscheiden! Ihm ist mein Wille aufs beste bekannt, und ich hoffe, er werde ihm weiterhin helfen, selbst wenn er darin keinen andern Nutzen als einen für meine Seele erkennen würde, weshalb dann der Wille zum Lohn einzig sich selber hätte, nackt bliebe und der erhofften Erfolge entbehren müsste. Inzwischen jedenfalls seufze ich, wache, schwitze, brenne und kämpfe, und wo das Dorngehege der Schwierigkeiten sich masslos verdichtet, dahin wende ich meinen Schritt nur um so beschwingter, angestachelt und aufgeregt durch die Neuheit und die Härte von Anforderung und Ansporn. Gewiss ist die Plackerei und ungewiss der Gewinn! Darin besteht das tägliche Elend, das ich mit allen andern teile, die eine solche Laufbahn betreten. 7. Unter solchen Beschäftigungen zerrinnen mir die Überreste des Lebens, und mit ihnen gehe ich dem Ende zu, als ein Sterblicher zum unsterblichen Exerzitium gezwungen, so dass die Hand in Schreibarbeit, das Auge in Nachtwachen, die Brust in Sorgen sich aufreibt. Schon bin ich völlig „abgehärtet und versteinert“, um ein Wort unseres Cicero zu verwenden.8 Und würde ich dort ankommen, wo ich wollte, so wäre das gut. Andernfalls hätte ich wenigstens gut sein wollen. Somit wäre das eine glückhaft und das andere löblich, denn das eine hinge von einem Höheren ab, das andere dagegen von unserem eigenen Handeln. Daran halte ich fest, dass kein Tag und keine Nacht, weder Arbeit noch Ruhe oder Vergnügen mein Herz von diesem ehrenvollen Bestreben ablenken. 8. Im übrigen trage ich mein Los nicht bloss gleichmütig sondern hochgemut. Und sollte ich bei der Nachwelt einmal bekannt und geschätzt sein, hätte ich etwa nicht guten Grund, mich zu freuen? Wenn anders, würde die Bekanntheit in der eigenen Zeit genügen. Und erschiene mir auch das als unerreichbar, wollte ich damit zufrieden sein, dass ich nur wenigen oder einzig mir selber bekannt war. Möge ich mich dann sehen, wie ich bin, und sein, wie ich wünsche! Etwas Grossartiges wäre das, so sage ich, und eher zu erbitten als zu erwarten.

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9. Unter solchen Sorgen arbeite ich, und oft bitte ich Gott, er möge, wie immer er über meine Studien und mein Ansehen entscheide, eine gute und leichte und Ihm gefällige Vollendung gewähren und dem so oft aus vielen Gefahren Geretteten am Ende die Hilfe nicht versagen. Und aufseufzend flüstere ich Ihm jenes Wort Davids zu:9 „Verstosse mich nicht in meinem hohen Alter; und wenn meine Kraft erlahmt, lass mich nicht fallen.“ Oder auch dies: „Belehrt hast Du mich von Jugend auf; bis heute und bis zu Greisenalter und Greisenhaftigkeit; mein Gott, verlass mich nicht!“ Und nichts erflehe ich inständiger und nichts öfter, als dass er mir beistehe in meinem Tod. 10. Dies, bester Bruder, ist die Hauptsache dessen, was Du Zustand nennst, ich jedoch eher Lauf oder gar Niedergang heisse. Doch weil Du über Einzelheiten genauer nachforschst, vernimm noch Folgendes. Mein Leib ist so völlig gesund, dass ihn weder eine besonders strenge Gesinnung, noch ein abgeklärtes Alter, weder Enthaltsamkeit noch auch andauernde Fehde, die ich diesem hartnäckigen und aufrührerischen Sklaven, oder richtiger diesem störrischen Esel angesagt habe, vollständig unterwerfen könnten. Doch schliesslich wird er einmal unter der Leitung Christi bezwungen werden, ohne den ich freilich ohne Zweifel unterliegen müsste, wie ich ja oft getan. 11. Vorläufig ruft er mich noch häufig aus dem Winterlager ins Feld zurück und denkt sogar jetzt noch daran, mir die Freiheit streitig zu machen! Oh unbarmherziges Los aller gezeugten Wesen, immer in der Schlachtreihe zu stehen und da nicht bloss gegen fremde Feinde, sondern auch gegen einheimische und gegen sich selber all die Zeit in einem gefährlichen Abenteuer hinzubringen. Die erste und letzte Hoffnung ist Christus; bringt er Hilfe, kann ich meine Feinde besiegen, von denen ich in jüngeren Jahren so oft unterworfen wurde. Dank ihm werde ich auch diesen törichten Esel mit einem sicher verknoteten und starken Halfter bändigen, damit er nicht ausbreche, um mir den wohltätigen Schlaf und die Seelenruhe zu stören. 12. Für andere Dinge, die man als zufällige bezeichnet, ist die beste Wahl das Mittehalten zwischen äussersten Gegensätzen, fern von Dürftigkeit wie von Überfluss, fern vom Reichtum, fern vom Neid. Das Mittelding, sicher und angenehm und leicht, ist mir nah, so meine ich und täusche mich vielleicht. 13. Denn wenigstens etwas habe ich, das über das Mittelding hinaus geht: Ich bin – und wenn mich das beneidenswert gemacht hat, wundert es mich nicht – ich werde weit mehr geschätzt (oder richtiger gehetzt10), als mir je erwünscht oder meiner ersehnten Ruhe je förderlich war.11 Und an diesem Ort hier empfange ich nicht allein vom Grössten der Italer12 und seinen Vornehmen, sondern auch – was ich zum allgemeinen Lob betonen möchte – vom ganzen Volk mehr Beachtung und Liebe als ich verdiente. 14. Schon vier volle Jahre, wie Du siehst, verweile ich hier in Mailand, und überschreite bereits die Schwelle zum fünften, was, beim Herkules! weder ich noch Du oder irgendeiner aus der Schar der Freunde je auch nur im Traum

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hätte vorausahnen können. Doch das ist in menschlichen Verhältnissen von Alters her immer üblich gewesen: So wie nichts von allem, was wir erhoffen, mit Sicherheit eintrifft, so gibt es auch gar nichts, was – entgegen aller Hoffnung – dem Menschen nicht zustossen könnte. Niemand täusche sich und sage: „Hier werde ich sterben, dort leben.“ Die Ereignisse fragen nicht nach den Plänen. Wie vieles man erwogen, wie lange man manches überlegt hat, irgend etwas ist einem doch entgangen; und hat man vieles gar beschlossen, macht Fortuna Gebrauch von ihrem Recht und wirft in einem einzigen Augenblick die Beschlüsse über den Haufen. 15. In dieser Stadt also, wie gesagt, habe ich eine griechische Olympiade überschritten oder ein römisches Lustrum erreicht,13 und geniesse ebenda nicht bloss das Wohlwollen führender Kreise, von denen ich Dir bestimmt geschrieben habe, sondern bisher auch das des ganzen Volkes, weshalb mir vorkommt, ich sei sowohl an vornehmste Bürger, wie auch an Erde und Luft und gewissermassen an Wände und Mauern der Stadt auf ewig gefesselt. Aller Gunst umfängt mich; dass ihre Augen mich anschauen und ihre Stimmen mich feiern, das spüre ich, weshalb ich weiss – um von einzelnen Freundschaften zu schweigen, die aufzuzählen zeitraubend wäre –, dass ich auch bei der Menge beliebt bin. 16. Der Grund dafür ist mir unbekannt; doch nehme ich an, das Gerede habe das Seine geleistet. Bei all ihren Beschäftigungen und den meinen fehlt ihnen die Gelegenheit, mich aus der Nähe zu betrachten und mir die Notwendigkeit, mich vor ihnen zu zeigen. Somit lässt sich das Volk bis heute täuschen, derweil ich mich verstecke. Kommt dazu, dass mein Wohnhaus von allem städtischen Getriebe entfernt ist (eine Ausnahme macht die Unruhe, die der alte fromme Brauch jeweils am Morgen des achten Tages14 herbeiführt). Es liegt in einem Winkel der grossen Stadt gegen Westen hin; und eben da bin ich Gast des Ambrosius.15 17. Obwohl nun manche teils im Begehren, den Bekannten zu treffen, teils im Wunsch, den Unbekannten kennenzulernen, ihren Besuch ankündigen, werden sie nachher entweder an den Haken ihrer Geschäfte oder angesichts der Entfernung des Ortes davon abgehalten. So wie also mein genannter heiligster Gastgeber durch seine körperliche Gegenwart mir sehr viel Trost gewährt und, wie ich meine, auch geistige Hilfe bietet, so erspart er mir auch manchen Ärger und Überdruss. Angesprochen und besucht, gefeiert, umdrängt und angeschaut zu werden, das sind Belästigungen, vor denen ich unter einem solchen Gastwirt Ruhe habe, nämlich wie einer, der vom Ufer her den Stürmen auf hoher See zuschaut und ihr Toben vernimmt, aber den Fluten unerreichbar ist. 18. Und habe ich bisweilen den Wunsch, über die Schwelle hinauszugehen, oder zieht mich die Pflicht, meinen Herrn aufzusuchen (doch nichts anderes als ein seltener Wille oder der Anstand bewegt mich dazu), dann halte ich die Augen gesenkt und die Lippen geschlossen und gehe, nach links und rechts mit dem Kopfe nickend und aus der Ferne grüssend und zurückgegrüsst, ohne dabei etwas Lästiges zu erleben, vorüber.

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19. Und nun zum Übrigen! Die Geschichte ist kürzer und Dir längst recht gut bekannt. Denke nicht, mit der Veränderung der materiellen Lage16 habe sich meine Lebensgewohnheit geändert; ich bin, der ich war. Meine Nahrung und Kleidung kennst Du; meine Schlafgewohnheit ebenfalls. Dies eine füge ich an: Nichts hat mein Wohlstand je mir einreden können. Eher verringere ich ihn täglich um einiges; und schon ist es dahin gekommen, dass man ihn kaum noch weiter verringern könnte. Selbst wenn mir königliche Schätze zukämen, vermöchten sie nicht, die Genügsamkeit von meinem Tisch zu verbannen und einen langen Schlaf für mein Bett zu erwirken. 20. Einen Gesunden und Wachen nimmt mein Bett nie bei sich auf. Nur als Kranker oder Schlafender verweile ich auf dem Lager. Verlässt mich der Schlaf, dann ich das Bett. Der Schlaf gilt mir fast so viel wie der Tod und mein Lager fast soviel wie das Grab. Ist einmal der letzte Schlaf herangeschlichen, liegen wir lang genug, ja überlang auf dem Lager aus Erde oder Stein, und dies bedenkend hasse ich das Bett und ohne dringende Notwendigkeit kehre ich nie zu ihm zurück. Und kaum dass ich mich von den Fesseln der Natur befreit fühle, reisse ich mich unverzüglich los, um in die angrenzende Bibliothek wie zu einer Burg zu fliehen. 21. Mitten in der Nacht findet diese Scheidung zwischen uns statt, und ob die Nacht kürzer sei oder ob sich die Nachtwachen verlängern: Jedenfalls trifft uns das Morgenrot niemals beisammen. Schliesslich bemühe ich mich, auf jede Weise zu verhindern, dass irgend etwas die wichtigeren Beschäftigungen unterbreche, und nehme nur aus, was die natürliche Notwendigkeit herrisch fordert, ich meine den Schlaf, die Nahrung und eine kurze, ehrenhafte Erholung, geeignet für eine Kräftigung des Leibes und Neubelebung des Geistes. 22. Soviel sage ich nämlich, weil die Verschiedenheit von Zeiten und Orten notwendigerweise Änderungen fordert, Du aber nicht wissen kannst, worin sie eben jetzt bestehen, wenn Du nichts davon hörst. Zwar liebe ich die Einsamkeit wie immer und bin noch stets ein Liebhaber der Stille, aber freilich nicht im Freundeskreis, wo ich geschwätziger bin als alle. Das kommt wohl daher, dass Freunde jetzt seltener bei mir weilen als früher. Seltenheit steigert eben das Verlangen. Oft also entschädige ich mich für ein jahrelanges Schweigen mit tagelangem Schwatzen und bin dann nach dem Abschied der Freunde wieder stumm. Denn das wäre ein unnützer Zeitvertreib, mit dem Volk oder überhaupt mit jemand zu sprechen, an den Dich weder Liebe noch Wissenschaft bindet.17 23. Übrigens habe ich nach Art jener Leute, die, wie Anneus18 sagt, „Abschnitte des Lebens überdenken, aber nicht das ganze,“ mich auf den nahenden Sommer hin an einen ungemein reizvollen und gesunden Aufenthaltsort begeben. Er heisst Garegnano,19 liegt gemäss Zählung dreitausend Doppelschritte von Mailand entfernt etwas erhöht über der Ebene und ist rings von Bächen umgeben. Diese sind mit unserer Sorgue jenseits der Alpen nicht zu vergleichen, vielmehr gehen sie bescheiden, schimmernd und in so sanften Biegungen, immer wieder sich kreu-

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zend, hin und her, dass ich kaum begreife, woher sie kommen und wohin sie fliessen. Sie vereinen sich, teilen sich, kommen erneut zusammen und gleiten dann in verschiedenen Rinnen zu einem gemeinsamen Flussbett auf mäandrischen Windungen zurück; man könnte meinen, dass eine Schar Nymphen einen mädchenhaften Reigen vollführen. 24. Hier also bin ich, und was ich tue, habe ich gesagt, und wenn ich schweige, weisst Du es trotzdem. Ich tue, was immer, nur dass hier auf dem Land meine Freiheit grösser ist. Müssig wäre es, wollte ich noch angeben, welchen städtischen Belästigungen ich hier entgehe und welche ländlichen Erleichterungen mir im Überfluss zuströmen oder was an Früchten der Bäume, an Blumen der Wiesen oder Fischlein aus den Quellen, was an Entlein von den Ufern und Vögelchen aus den Nestern, was an Igelchen aus den Fluren oder Häslein, Böcklein und Schweinchen einfache Leute der Umgebung wetteifernd herbeibringen. 25. Es gibt hier eine neue, aber vornehme Kartause, und von ihr kann ich alles, was an heiliger Freude zu geniessen ist, zu allen Stunde empfangen. Ich hatte beschlossen, mich in die Mauern dieses Klosters einzuschliessen, und wen das mehr gefreut hätte, mich oder die heiligen Männer, lässt sich nicht sagen. Wäre es in der Tat geschehen, hätte ich nicht befürchtet, meine Gegenwart falle ihnen in irgend einer Weise beschwerlich. Doch indem ich überlegte, dass ich bei dem Leben, das ich bisher führe, auf Pferde und Knechte angewiesen bin, fürchtete ich, das Benehmen einer trunkenen und schreienden Dienerschaft könnte der religiösen Stille abträglich sein. 26. Deshalb zog ich es vor, ein Haus in der Nachbarschaft, das den Mönchen gehört, zu beziehen, bin ebenda ihrem Gebetsleben nahe und dem Ärgernis fern und kann den heiligen Handlungen der frommen Familie, als wäre ich eines ihrer Mitglieder, beiwohnen, so oft mir beliebt. Stets ist die geweihte Türe mir offen, dagegen bleiben meine Diener ihr fern, wie übrigens auch alle Ankömmlinge mit Ausnahme der wenigen, die dank guter Lebensführung einer solchen Gaststätte würdig sind. Man darf ja von andern keinen Trost in der Weise begehren, dass man ihnen eine Last auferlegt, um sich der eigenen zu entledigen. Oft wird dadurch gesündigt, dass jeder in allzu grosser Nachsicht gegen sich selber den Nachteil des andern missachtet. 27. An diesen Orten spüre ich – damit Du ja alles wissest –, dass mir nichts fehlt ausser meinen alten Freunden. An solchen sehr reich zu sein, haben ihre Verdienste und mein Los bewirkt, und arm an ihnen hat mich früher der Tod gemacht und macht jetzt ihre Abwesenheit. Diese trennt zwar nur die Körper, nicht aber die Seelen, und dennoch gibt es ein nicht bloss leises Verlangen nach ihrer leiblichen Gegenwart, und glaube mir, dass ich solches bei anderen leicht beschwichtigen könnte, wollte Fortuna Dich und wollte sie auch unseren Sokrates mir wiedergeben. Das habe ich wirklich lange Zeit so erhofft wie gewünscht. 28. Ich möchte aber nicht im Verlangen, mich zu entschuldigen, irgend jemanden anklagen. Wenn

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Ihr weiterhin fernbleibt und ein anderes Hilfsmittel nicht zu erlangen ist, soll eine fingierte Anwesenheit der Meinen mich trösten.20 Und diesen heiligen und einfachen Freunden Christi hier will ich das abringen, was sie geben können, nämlich etwas an Geistesaustausch, zwar nicht an hochgeistigem und redekundigem, aber an bescheidenem und demütig frommem. Mit ihnen ab und zu ein gemeinsames Mahl einzunehmen, aber häufiger ein Gespräch und immer die Liebe zu pflegen, das freut. Und nicht zuletzt hoffe ich, in ihren Gebeten liege eine letzte Hilfeleistung für Leben und Tod. Füge diesen Gebeten auch die Deinen hinzu, damit die Ankunft des Heiligen Geistes, dem der heutige Tag geweiht ist, die düstere und kalte Seele entflamme, und lebe wohl! (Mailand/Garegnano, Juni/August 1357)21

Anmerkungen 1 Der Brief zerfällt in zwei Teile; der erste wurde wohl vor Ende Juni in Mailand geschrieben; der zweite Teil später im Sommer in Garegnano abgefasst; vgl. Wilkins, Eight years 138–141. Vgl. auch die vorangehenden Schreiben an den selben Adressaten, besonders Fam. 19,10 und den folgenden Brief Fam. 19,17. Über Lebensgewohnheiten zu verschiedenen Zeiten berichtet Petrarca an Guido Sette auch in Sen. 10,2, und in eben dem selben Schreiben Sen. 10,2 erinnert er an einen Überfall auf Vaucluse an Weihnachten 1354 (nicht 1353); vgl. Wilkins, Eight years 86 und 89. 2 Gleiche Formulierung in Fam. 9,8,3. 3 Eine Art Beichte hatte Petrarca diesem Freund früher in der Zeit einer Krise abgelegt; vgl. Fam. 5,18. 4 Ps. 93,11. 5 Guido Sette lebte in Avignon; und Petrarca fand bei ihm Unterkunft, wenn er aus Vaucluse dorthin gerufen wurde. 6 Lateinisch: sed hec ipsa me pregravat… 7 Vgl. dazu Fam. 13,7. 8 Mil. 28,76. 9 Ps. 70,9 und 70, 17–18. 10 Frei nach lateinisch honoratior-honeratior. 11 Über Nachteile des frühen Ruhmes spricht Petrarca oft, so in Fam. 13,7,16; 17,10,24 ff. 12 Als den Grössten der Italer bezeichnete Petrarca mehrmals und so auch in Fam. 16,11,9 den Erzbischof und Stadtherrn Giovanni Visconti von Mailand. Dieser war im Oktober 1354 gestorben. Dennoch muss man das Schreiben 19,16 auf 1357 ansetzen, da der Dichter ja sogleich betont, er halte sich schon vier Jahre in Mailand auf. Seine Herren sind jetzt Galeazzo und Bernabò. 13 Eine Olympiade dauert vier Jahre, ein Lustrum fünf Jahre gemäss dem zeitlichen Abstand zwischen öffentlichen Schauspielen. 14 Petrarca bezeichnet den Sonntag als den achten Wochentag gemäss traditioneller christlicher Auffassung, dass er über die sieben Tage der jüdischen Woche hinaus führe und somit als der erste Tag der neuen Woche eine neue Welt und neue Zeit verkünde. 15 Petrarca erinnert an den Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts und an die ihm geweihte Kirche in Mailand.

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16 Im Lateinischen steht fortuna, dessen Sinn hier wohl – wie bei Petrarca auch sonst oft – dem französichen fortune entspricht. Von finanziellen Veränderungen spricht der Dichter gleich auch im folgenden Schreiben Fam. 19,17,2 ff., übrigens auch schon 16,3,3. 17 Hier endet der erste Teil des Briefes; vgl. oben Anm. 1. 18 Sen. Ad Lucil. 71,2; vgl. Fam. 8,3,8. 19 Zu diesem Ort vgl. Wilkins, Eight years 62 und 141mit dem Hinweis auf Ambrogio Annoni, Il Petrarca in villa, in: F. Petrarca e la Lombardia, Mailand 1904, 97–127; auch Dotti, Vita, 319 f. 20 Von einer solchen Fiktion spricht Petrarca mehrmals, ausführlich in Fam. 22,4,3 ff. 21 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 138–142. Es scheint die Pfingstzeit angedeutet zu sein, da von einem dem Heiligen Geist geweihten Tag die Rede ist. Dann aber gehört das Datum zum ersten Teil des Briefes nicht zum später abgefassten Teil.

Fam. 19,17, an Guido Sette1 Gleiches Thema wie im vorangehenden Brief. 1. Ein Gerücht spricht vom Reichtum Petrarcas. 2. Dieser leugnet nicht eine Vermehrung seiner Güter. 3. Es gehört zum Wesen des Reichtums, Begehren zu steigern; doch dieses Begehren kennt Petrarca nicht. 4. Das Mittelmass zwischen Reichtum und Armut bewahrt ihn vor gefährlichen Ansprüchen. 6. Doch gehört es auch zum Wesen des Reichtums, dass sich mit seiner Vermehrung die Schar der Verzehrer zunimmt. 8. Gold hortet Petrarca nicht, sondern lässt es weitergehen. 9. Für seinen Sohn erhofft er eine gute Entwicklung. Er ist begabt. 11. Bücherwissen aber lehnt er ab. 12. Hauptsache, er wird ein guter Mensch. (Sommer 1357)

1. Ich dachte, Du hättest meine Geschichten nun satt; doch der Liebe genügt nichts, solange etwas übrig bleibt, nach dem sie eifern kann. Nun fragst Du noch, ob dem Gerücht, das Dir von meinem vermehrten Reichtum berichtet, Glauben zu schenken sei. Hättest Du Glauben doch mir geschenkt! Dann brauchtest Du jetzt nicht bei einem, der das Mittelmass lobt,2 nach etwas schon Bekanntem und Erwiesenem zu forschen. Die Frage nach dem Reichtum taucht auf? Wie ich sehe, wankt Dein Glaube an die Worte meines vorigen Briefes. Das bedenkend, will ich mich kurz fassen; denn oft findet gerade Wortreichtum kein Vertrauen und eine Beteuerung, je aufwendiger sie ist, desto weniger Gehör. 2. Dass also etwas an Mitteln dazu gekommen ist, will ich nicht leugnen.3 Doch glaube mir, auch an Kostenaufwand ist einiges dazu gekommen. Meine Lebensart kennst Du: nie allzu reich, auch nie allzu arm.4 Nicht dass ich dabei etwas entbehrte; ich bin an allem reicher als gewöhnlich. Und das nicht deshalb5 weil es dem Reichtum entspricht, dass mit seiner Vermehrung auch der Durst nach ihm wächst und dieser Durst einer Armut gleichkommt, die grösser ist, als wenn einer weder Reichtum noch auch Verlangen danach hat. Denn wirklich hat man im einen Fall die äusserste Armut und im andern den bedeutendsten Reichtum.6 3. Und wenn man die Wahrheit wissen will, gibt es einerseits keine grössere Mittellosigkeit als das Verlangen nach vielem und anderseits keinen grösseren Reichtum als die Zufriedenheit mit seiner Habe. Dabei ist es ganz unmöglich, dass jemand, der eine Sache heftig begehrt, nicht gleichzeitig auch sehr bedürftig ist, und ebenso unmöglich, dass jemand einer Sache bedürfte, die er gar nicht begehrt. Vom Wort bedürfen ist ja das Wort Dürftigkeit abgeleitet, und dieses Wort meint das selbe wie Mittellosigkeit, also Armut. Mich also macht das nicht mittellos.7 4. Ich wage, mir in dieser Sache eine Besonderheit zuzuschreiben, nein nicht mir, sondern jenem Einen, von dem alles kommt, was in mir oder auch in irgend einem Menschen an Gutem ist. Was ich bei grossem Wohlstand tun würde und welcher Gesinnung ich dann wäre, weiss ich nicht, doch bis heute habe ich bei vermehrten Mitteln nur desto weniger gewünscht und bei wachsender Fülle eine um

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so grössere Ruhe und geringere Begierde, auch weniger an Sorgen und Ängsten empfunden.8 5. Leicht fällt mir zu glauben, es könnte anders werden, wenn ich nämlich grosse Reichtümer erlangte. Denn wie ein Schiff unter wohl berechneter Last meist flott vorankommt, aber bei übergrossem Gewicht versinkt, oder wie die Augen an mässigem Licht sich freuen, aber durch übermässiges Schaden leiden, so wäre auch ich, es sei denn ich täusche mich, durch eine allzu starke Belastung wie jedermann zu bezwingen. Dank meinem mittleren Mass also bin ich bisher unbesiegt geblieben,9 obwohl mir scheint, dass es vielen, und ich weiss nicht ob auch Dir, höchst sonderbar und geradezu unglaubhaft vorkommt. 6. Fehlt nun also das, was dem beschriebenen Übel gewöhnlich anzuhaften oder was sogar eines seiner wesentlichen Merkmale zu sein scheint, dann stellt sich vielleicht die Frage, aus welchem Grund das bei mir fehle.10 Ich will etwas nennen, was Dir erlaubt, sowohl das Wesen der Sache wie das meiner Person deutlicher zu sehen. Es gibt ein ewiges und unveränderliches Gesetzt11 des Besitzes, und gemäss diesem nimmt mit dessen Vermehrung immer auch die Zahl der Verzehrenden zu.12 Mir war bekannt, dass Salomon13 diese Ansicht hegte, aber was wir nicht erlebt haben, glauben wir kaum; das Erlebte hingegen glauben wir nicht, das wissen wir, denn da ist nicht mehr Gläubigkeit, vielmehr sichere Kenntnis. 7. Das Gold hat gelernt, mir durch die Finger zu rinnen, nicht hängen zu bleiben. Es erzeugt Gefallen, und es erfreut. Zu solchem Zweck wird es gesucht, gefunden, ausgegraben, gereinigt und bezeichnet; das alles jedoch nicht, um im Stehenbleiben die Begierden der Menschen zu nähren, sondern um im Vorbeigehen ihren Bedürfnissen zu steuern. Und beim Herkules, wer das Gold nüchtern geringschätzt, „nicht hinter ihm her rennt und nicht darauf seine Hoffnung setzt,“14 gilt mir als Weiser, „der in seinem Leben Wunder wirkt“ und nach dem die Schrift ausschaut, um „ihn zu loben.“ Und wer das Gold nutzbringend und ehrlich verteilt, ist Herr; wer es ängstlich behütet, ist Wächter, wer es liebt, ist Verrückter, wer es meidet, ist Knecht und wer es verehrt, ist Götzenanbeter. 8. Welche Stufe ich unter allen einnehme, weiss ich nicht, und in eigenen Dingen will ich nicht mir selber glauben. Gern und leichtsinnig täuschen wir uns in dieser Sache. Das aber weiss ich: Für das Geld bedeuten mein Haus und mein Schrein einen Weg, nicht eine Ruhestatt. Damit erreiche ich, dass unter meinen Erben kein Streit oder ein bloss geringer entstehen wird.15 Und so viel über mich. 9. Was ich über unseren Zögling16 – denn auch über ihn möchtest Du Bescheid haben, und nicht von ungefähr, denn er ist ja sozusagen ein Teil von uns –,17 was ich also über ihn aussagen soll, ist mir unklar. Seine Sitten, bedenkt man sein Alter, sind ernsthaft, und die Blüten, die er jetzt treibt, sind nicht zu verachten.18 Fragst Du mich aber, welche Früchte ich von ihnen erwarte, so hoffe ich, er werde ein guter Mensch sein; denn dass er begabt ist, das weiss ich bereits. Was aber nützt

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eine Begabung ohne Studium? Er flieht vor einem Buch wie vor einer Schlange. Doch es genügt, wenn er gut wird. Nicht umsonst wird geboren, wer als guter Mensch endet. 10. Mich freut seine Begabung; oft aber werde ich zornig, weil er sie in Tatenlosigkeit versinken lässt. Da helfen nicht Bitten, nicht Schmeicheleien, nicht Drohungen, nicht Ruten. Unsere Anstrengungen besiegt die mächtigere Natur. Doch es möge so gehen, wenn es anders nicht sein kann. Gewiss, ruhmvoll und strahlend ist der Titel literarischer Bildung, aber nicht leicht zu erwerben. Deshalb ist ein Mangel der Beredsamkeit und Wissenschaft erträglicher als jener der Sittlichkeit; denn die einen Gaben sind nur wenigen zugedacht, die letzte dagegen allen. 11. Und wenn unser Zögling, wiewohl er den wenigen zugehören könnte, das hartnäckig ablehnt, was kann ich da tun? Abgegolten habe ich meine Schuld, abwarten werde ich den Ausgang; tragen werde ich alles, wenn er nur am Ende ein guter Mensch ist. Wie nämlich die Wahrheit eine Sache der Einsicht ist, so das Gutsein eine des Wollens. Wer solches also nicht hat, kann niemanden dafür zur Verantwortung ziehen und niemandem eine Schuld zuweisen; er ist jeder Verzeihung unwürdig, weil er willentlich sündigt. 12. Gewiss können nicht alle ein Cicero, ein Platon, ein Vergil oder Homer sein; gut sein aber können alle; wenn sie nur wollen. Auch Bauer kann einer sein oder Fischer oder Hirte; ist er gut, so wird er seinen Wert haben. Wenn ihm jedoch eines von beidem fehlen sollte – um ein Wort des Themistokles19 über den Reichtum auf die Bildung zu übertragen – schätze ich den Mann ohne Bildung höher als die Bildung ohne Mann. Lebe wohl! (Sommer 1357)20

Anmerkungen 1 2 3 4 5

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Vgl. den vorangehenden Brief an Guido Sette. Fam. 19,16,12 f. Vgl. Fam. 13,5,6 ff. Lateinisch: Mos tibi notus est meus: ut nunquam ditior sic nec pauperior unquam fui. non quod ulla egeam re. Weshalb er reicher geworden sei, versucht Petrarca erst nach einer langen Ausführung über Bedürfnislosigkeit zu erklären, nämlich Abschnitt 6 ff.; vgl. den lateinischen Text in Anm. 10. Mit der Möglichkeit eines späteren Einschubs ist hier wie oft zu rechnen. Durst nach Reichtum, wenn man reich ist, bedeutet grösste Armut; nichts begehren, selbst wenn man nichts hat, ist grösster Reichtum. Lateinisch: non me igitur hoc inopem facit. Damit nennt Petrarca seine Besonderheit; normal wäre, dass – wie ausgeführt – seine grössere Habe nach Vermehrung verlangte. Zum Mittehalten zwischen Reichtum und Armut vgl. z. B. Fam. 20,8,12 ff. Lateinisch: Si hoc igitur non est, quod mali huius usitatum et maxime proprium videretur, quid aliud cause est forsan interroges. Die Übersetzung versucht, den Sinn der Worte hervorzuheben.

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11 Oben ist von natura divitiarum die Rede; hier steht als Entsprechung: opum lex. Damit verrät Petrarca, an welches Wort „Salomons“ er denkt; vgl. Anm. 13. 12 Lateinisch: corrosorum numerus augeatur. Zur Vielzahl seiner Gäste vgl. Anm. 13. 13 Frei nach Eccl. 5,10: Ubi multae sunt opes, multi et qui comedunt eas. 14 Eccli. 31,8 f. 15 Petrarca hat mehrmals eine Pfründe, die er erworben hatte, weitergegeben; vgl. Wilkins, Studies, das Kapitel Ecclesiastical career 24; vgl. auch Fam. 14,4,18 und 24 ff. über Vergabungen und eine testamentarische Verfügung. Fam. 13,5,6 erwähnt Unterstützungen von Freunden und des Bruders in jüngeren Jahren, Fam. 6,8 spricht von einem grösseren Geldgeschenk, Fam. 19,5 von einer Einladung an den Grammatiker Moggio. Andere Personen unterstützte er über längere Zeit in beträchtlichem Mass, wie z. B. einen alten Freund in Fam. 20,13,11. Von seinem Haushalt in Arquà berichtete der alte Dichter in Var. 15 und gibt da an, wen er beherberge und verköstige. Oft gibt es da eine convivarum acies, deren er sich nicht erwehren kann; vgl. den Text bei Fracassetti, Bd. 3, 331 ff. 16 Petrarca spricht von seinem Sohn Giovanni. 17 Sette wird den jungen Giovanni recht gut gekannt haben; dieser lebte längere Zeit beim Vater in Vaucluse, doch – wenn dieser nach Avignon gerufen wurde – mit diesem im Haus des Adressaten. 18 Vgl. Nellis Schreiben Epist. 18 vom 8. September 1357 und 19 vom 19. März 1358 an Petrarca mit freundlichen Worten über dessen Sohn, Cochin 238 ff., vgl. auch die im Personenreg. angegebenen Stellen zu seiner Person, wie auch Fam. 7,17; 13,2; 19,5; insbesondere die an ihn gerichteten Fam. 17,2 und 22,7. 19 Vgl. Cic. De off. 2,20,71. Das lateinische vir schliesst hier den Sinn von Mannhaftigkeit, virtus, Tugend ein. 20 Vgl. Wilkins, Eight years 146.

Fam. 19,18, an Bruder Iacopo vom Augustinerorden, Tyrann von Pavia1 Geharnischte und vielfältige Schelte. 1. Petrarca beschwört den Augustiner zum wiederholten Mal, sich von Kriegsplänen abzukehren. 4. Zitate aus Augustinus und den heiligen Schriften, die zum Frieden mahnen. 11. Der Augustiner diene im Gewand Christi dem Kriegsgott. 12. Er hindere Tausende von Menschen, in Frieden zu leben. 16. Mit Beredsamkeit und ohne Waffen glorreiche Kriege führen zu wollen, sei unerhörte Torheit. 18. Dabei missachte er über dem Ruhm der Beredsamkeit sein Gewissen. 20. Der Bruder wolle die dreifache Leistung eines Cato und Scipio vollbringen. 22. Doch sei er nicht einmal ein wahrer Redner, da er kein guter Mensch sei. 24. Mit Redekunst habe er Pavia zerstört. 30. Keiner der alten Feldherrn habe so unbesonnen auf geringe Mittel vertraut. 33. Die Gutgläubigkeit des Volkes missbrauche er. 35. Nur spottend lasse sich von Erfolgen sprechen. 42. Caesar sei nur bedingt ein Vorbild. 43. Das Wohl des Augustinerordens müsse der Bruder im Auge behalten. Mailand, am 25. März (1359).

1. Oft habe ich, Bruder, Dich ermahnt, Du möchtest, Deines Standes und Deiner Aufgabe eingedenk, Dich um Frieden bemühen.2 Haben wir ihn verloren, ist das Leben der Menschen dann noch etwas anderes als Tod und die Welt etwas anderes als Werkstatt unablässiger Mühen und Gefahren? Bitten und Beschwörungen habe ich beigemischt, damit, wenn Vernunftgründe Dich nicht bewegten, die Liebe des Freundes Dich rühre.3 2. Gebeten habe ich Dich und bei allen Himmelsbewohnern angefleht, doch vor allem beim heiligen und ehrwürdigen Namen Deines Vorbildes Augustinus, dem auch ich in meinem Geiste, wenn zwar als Sünder diene. Auf seine Fürbitte hoffe ich zu Christus. 3. Möchten doch die Flammen des Hasses erstickt oder niedergehalten und auch der aufgeblähte Stolz unterdrückt werden, der ja die geistigen Augen und Ohren gegen heilsamen Rat verschlossen hält, damit Du endlich die Schärfe Deiner Geisteskraft und Deine Dir vom Himmel verliehene Sprachgewalt auf bessere Vorhaben ausrichten würdest. Denn Du bist bisher – das sage ich Dir in aller Freundschaft – darum bemüht gewesen, sie mehr erfolgreich als segensreich zum Anheizen eines bürgerlichen Aufstandes einzusetzen, obwohl Deine erste Pflicht doch darin bestanden hätte, Deine religiöse Gesinnung auf Gedanken des Friedens auszurichten! 4. Nichts Anspruchsvolles und nichts Schwieriges forderte ich, sondern bloss das eine: als Streiter und Schüler Augustins den Frieden zu wollen, nämlich unter Beachtung der Worte Deines Vorbildes und Lehrers, der oft in verschiedener Art, doch besonders ausdrücklich in jenem Buch, wo er die Gesetze des himmlischen und des irdischen Staates4 erörtert, an bestimmter Stelle über den Frieden gesagt hat: 5. „Ein so grosses Gut ist der Friede, dass man unter allen irdischen und sterblichen Dingen nichts Erfreulicheres vernehmen, nichts Begehrenswerteres wünschen, schliesslich auch gar nichts Besseres finden kann.“ 6. Und kurz nachher:

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„Wie es niemanden gibt, der sich nicht freuen wollte, so gibt es auch niemanden, der den Frieden nicht wollte, da ja sogar die Befürworter eines Krieges nichts anderes wollen als siegen, und folglich wünschen, durch den Krieg einen glorreichen Frieden zu erlangen.“ Und wiederum: „Um den Frieden sind sogar die besorgt, welche mit Befehlsgewalt und Waffen militärische Ertüchtigung bezwecken. Somit ist bewiesen, dass eben der Friede das begehrte Ende des Krieges ist. Jeder Mensch sucht selbst im Waffengewerbe den Frieden.“ 7. Darin stimmt er auch mit Cicero5 überein, der sagt, man unternehme einen Krieg mit dem Ziel, von Unrecht befreit in Frieden zu leben“. Ich führe nicht aus, was zur angegebenen Stelle der selbe Augustinus mit göttlichem Scharfsinn knapp zusammenfasste, denn Dir ist es bestens bekannt und ich selber muss darauf achten, dass mit einer lückenlosen Zitatenreihe, wie erwünscht sie auch wäre, der gewaltige Stoff den Rahmen eines Briefes nicht sprenge. Die Schlussfolgerung besagt ganz klar, dass aller Gebrauch vergänglicher Dinge im irdischen Staat die Frucht des irdischen Friedens und im himmlischen Staat die Frucht des ewigen Friedens herbeizuführen habe. 8. Demnach hätte ich wahrhaftig erwartet, dass jedes Lebewesen, nämlich selbst das tierische, aber vor allem das vernunftbegabte, das heisst der Mensch, dem die wahre Menschlichkeit innewohnt, und vor anderen Menschen auch Du, dem eine reichlichere Einsicht und eine besonders religiöse Gesinnung und Frömmigkeit eigen sein sollten, den Frieden lieben und den Frieden suchen würden. Du musst ja gewiss annehmen, an Dich sei jene Aufforderung Davids gerichtet, von der Du häufig singst:6 „Suche den Frieden und lass nicht ab von ihm!“ Ausser Du wolltest behaupten, ohnehin suchtest Du ihn bereits, obwohl Du ihn doch offenkundig aus Deiner Umgebung verstossen hast und in der Verbannung zu leben zwingst. 9. Was denn antworten wir dem selben königlichen Propheten,7 der da ruft: „Erbittet, was Jerusalem zum Frieden dient“? Wissend, dass im Frieden die ganze Fülle des Guten, alle Gerechtigkeit, alle Glückseligkeit und die Ruhe für alle heiligen Seelen bestehen, fügte er, sieh, noch an:8 „Und Überfluss für alle, die Dich lieben.“ Dann weiter:9 „Friede komme dank Deiner Kraft,“ sodann: „Überfluss sei in Deinen Türmen.“ Dann wieder an anderer Stelle:10 „Erstehen werden in jenen Tagen seine Gerechtigkeit und die Fülle seines Friedens,“ und auch anderswo:11 „Die Sanftmütigen werden das Land als ein Erbe besitzen und sich freuen an hundertfältigem Frieden;“ und nochmals anderswo:12 „In Frieden werde ich schlafen und ruhen.“ 10. Zu weit würde es führen, sämtliche Stellen zu zitieren, aus denen sich ergibt, dass alles Gute und Wünschenswerte dieser einen und gleichen Quelle entströmt und dass bei ihrem Versiegen Dürftigkeit, Überdruss und Mühsal entstehen. Was aber erwidern wir Jeremia?13 Denn wundern würde mich, wenn dieses sein Wort nicht unablässig in Deinen Ohren schallte: „Sucht den Frieden für Eure Stadt, und betet für sie zu Gott, auf dass in ihrem Frieden der Eure beschlossen sei.“

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11. Eine hervorragende Kenntnis von diesen und ähnlichen Zeugnissen der heiligen Schriften setzte ich bei Dir voraus und erwartete daher Gutes von Dir und redete mir ein, Du seist ein Freund des Friedens. Aber ich täuschte mich, wie ich nun einsehe. Du bist ja in Christi Gewand ein Verehrer des Mars und dienst besser einer Bellona14 als Maria. Unter dem Habit eines Ordensmanns versteckst Du eine kriegerische Absicht, nein, versteckst sie nicht mehr, sondern zeigst sie in Worten und Taten vor und meinst – was zu berichten unerhört und zu denken entsetzlich ist –,12. darin bestehe der Gipfel Deiner Verdienste, Deiner Seligkeit und Deines Ruhmes, wenn unser Zeitalter sehe und die Nachwelt höre, eben Du habest einen Krieg, der für viele Geschlechter, ja für fast ganz Italien unheilvoll und für Dein Volk sogar zerstörerisch und vielleicht der letzte sein wird, mit Verstandeskraft ausgebrütet, mit Ratschlägen angefeuert und mit Reden zum Entflammen gesteigert. Deshalb könnte man Dir, den ich für einen Vermittler des Friedens und Urheber der Ruhe betrachtet habe, nun mit gewichtigem Grund vorhalten, was einst einem Jeremia,15 ihm freilich zu Unrecht; es lautet: „Wirklich, dieser Mensch hier sucht für das Volk nicht Frieden sondern Verderben.“ 13. Ach Du, mir ein lieber Bruder in Christo! Wie sehr fürchte ich, auf Dich sei anzuwenden, was jener Weise16 in einer Parabel gesagt hat: „Der Gottlose gräbt nach Bosheit; auf seinen Lippen flackert ihr Feuer. Der Schlechte schürt Streit, und der Schwätzer verfeindet die Fürsten.“ Oder was ein anderer im Ecclesiasticus17 sagt: „Der Jähzornige stiftet Hader, und der Sünder wird Freunde verwirren. Feindschaft wird er säen mitten unter Friedliebende.“ 14. Denn wenn Du mit geneigtem Ohr und ruhigem Gemüt von einem Freund die Wahrheit hören kannst, so sage ich: „Da eben jetzt auf diesem herrlichsten und fruchtbarsten Gebiet Italiens (vielmehr dem herrlichsten des ganzen Erdkreises) viele tausend Einwohner in stillem und ersehntem Frieden leben könnten, wenn nur Du nicht wärst, – wo wäre da auch nur einer, der bezweifeln könnte, 15. dass alles, was immer an Waffen und Fahnen über die verwüsteten und verödeten Felder hinwegfegt, was immer an Feuersbrünsten über die Dächer verlassener Dörfer hin tobt, was immer an Schrecken und Bannstrahl die weiten und edlen Städte mit vielfachem Aufruhr erschüttert und was schliesslich in diesem Krieg auf beiden Seiten an Blutströmen vergossen wurde und weiterhin vergossen werden muss, dass eben dies alles ganz und gar in den Klüften Deines Tiefsinns und in der Quelle Deines sprudelnden Verstandes seinen Ursprung hat? 16. Oh glücklich bist Du, hast ja, ohne selbst Waffen zu handhaben, im Sitzen und Reden diesen militärischen Ruhm errungen, nämlich wie einer aus der Zahl jener, von denen der Psalmist18 gesagt hat: „Sie brüteten in ihrem Herzen Böses aus, und den ganzen Tag entwarfen sie Schlachtpläne.“ Und damit Du erkennst, dass, wiewohl Du nicht ins Heer einrückst, das sehr passend von Dir gesagt wird, folgt nicht etwa, was sich auf Krieger bezieht, also nicht: ‚Waffen legten sie an,

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Pferde bestiegen sie und ordneten ihre Scharen‘, nein, was liest man da?19 „Sie spitzten ihre Zungen wie die Schlangen; Natterngift versteckte sich hinter ihren Lippen.“ 17. Weh mir, Bruder, wie viel besser und Deiner Berufung auch würdiger wäre es gewesen, die gottgeweihte Zunge zur Verbreitung himmlischen Lobes statt zu greisenhaften Beschwichtigungen und nutzlosen Ermahnungen des Volkes zu gebrauchen! Denn nun besudelst Du Dich nicht wie andere bloss mit der oder jener Schändlichkeit, sondern mit den sämtlichen von jedermann. An der ganzen Zahl der Verbrechen, an denen der Krieg zu überborden pflegt, wirst Du Anteil haben, nein nicht bloss Anteil wirst Du haben, sondern ihr Lehrmeister sein. 18. Oder findest Du etwa – unbekümmert um Dein Gewissen – ein so grosses Genügen am Ruf eitler Redekunst, dass Du einzig seinetwegen als die Quelle, die Ursache und der Grund für alle diese Übel genannt sein willst? Wer wird denn zu irgendeiner Zeit diesen Krieg ins Gedächtnis rufen oder von ihm berichten, ohne an den Anfang der kläglichen Geschichte Deinen Namen zu setzen? Und wer wird die Geschichte malen, an deren Darstellung in den Hallen und Bogengängen der Magnaten schon gearbeitet wird, ohne auch Deine Gestalt unter die Ratgeber und selbst unter die Krieger hinzupinseln? 19. Eine erstaunliche und bisher nie gesehene Schaubühne ist das, steht doch ebenda unter Helmen, Schilden, glänzenden Schwertern und vibrierenden Pfeilen als ein Gift aushauchender und Seelen verpestender Kriegshetzer in schwarze und geschürzte Tracht gehüllt ein Ordensmännchen!20 20. Freue Dich also und juble, weil Du von drei Ruhmestiteln, die der ältere Cato und Scipio Aemilianus besassen,21 ihrer zwei erlangt hast, indem Du sowohl Imperator wie glänzender Rhetor bist, nämlich als einer, der ein Heer mit blossem Wink und ein Volk mit blossem Wort zu lenken vermag! Und wo wäre einer, der Dich daran hindern würde, auch ihren dritten Ruhmestitel zu fordern, damit Du in der Tat diesen grossartigsten Männern in keinerlei Hinsicht nachstündest, vielmehr auch ein tüchtiger Senator wärst, weil das Geschick der Vaterstadt und die Beschlüsse der führenden Bürgerschicht von Deinen Ratschlägen abhangen würde? „Drei der höchsten menschlichen Leistungen“22 soll ja jeder der Genannten vollbracht haben, „um bester Redner, bester Feldherr und bester Senator zu sein!“ 21. Doch bitte sieh Dich vor, dass die Ruhmgier Dich nicht etwa auf abschüssige Bahnen dränge. Denn wirklich ist man weder ein guter Senator noch ein guter Feldherr – um von einem besten gar nicht zu sprechen –, ausser man sieht zu Hause und im Krieg nach dem Rechten und tut, womit man nicht sich selber verherrlicht, sondern womit man dem Volk und dem Heer Vorteile einbringt! Wer würde nun aber verkennen, wie weit Du von solchem entfernt bist? Nachdem alle Süsse des Friedens verbannt war, hast Du ja einen höchst erbitterten und gefährlichen Krieg herbei gezerrt! 22. Folglich bliebe nur der Titel des Redners! Den aber kannst Du mit Deinen Lobsprüchen auf Böses schon gar nicht verdienen, denn nach der

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Ansicht der gewaltigsten Sprachtalente23 ist der wahre Redner „ein rechtschaffener Mann, der zu reden versteht“. Da siehst Du, in welche Enge ich Dich treibe, indem ich Dir von allen Titeln, die Du erhofftest, nicht einmal den letzten zubilligen könnte, es wäre denn zur Hälfte. Dass Du im Reden Erfahrung hast, leugne ich nicht, verweigere Dir aber trotzdem den Redner, denn Du bist kein rechtschaffener Mann und kannst es nicht sein, solange Du dem öffentlichen Wohl und der Sorge für den Frieden entgegenwirkst, wie Du jetzt tust. 23. Viel segensreicher wäre für Dich und Deine Vaterstadt wahrhaftig die Stummheit als diese verderbliche Redebegabung, die Du mit grossem Fleiss erstrebtest! Das heisst: Könntest Du nicht oder dürftest Du nicht sprechen, müsste Italien nicht leiden und nicht klagen. Und es heisst auch: Deine Zunge ist die Wurzel des öffentlichen Unheils, und Du würdest, wenn Du Gott, Deinen Nächsten, Dein Vaterland und Dich selber liebtest, sie längst mit den Zähnen zerbissen und ausgespuckt haben, denn besser wäre für sie, den Raben und Hunden ein Frass zu sein, als den Menschen ein Fluch. 24. Du aber tust eben das und begehrst eben das und hältst es für wunderbar, wenn Du nach Art eines Vogelfängers den Ohren schmeichelst, damit das gutgläubige Volk Deinen Netzen verfalle und Du Tag für Tag Deinen Ruhmestiteln einige unselige und verderbliche Neuerungen anfügen könntest, obwohl innerhalb der Grenzen Deiner beklagenswerten Vaterstadt kaum noch möglich ist, ihnen etwas anzufügen. Sie leidet nun ausserhalb ihrer Mauern an einer weit und breit verödeten Umgebung und unter einem – gleichsam von Deiner Hand herbeigezerrten – Kriegsvolk, im Innern dagegen unter dem Sturmbock Deiner Beredsamkeit und Deiner harten Befehlsgewalt. 25. Zu Ampheion von Theben24 bist Du eben das genaueste Gegenstück geworden; denn während jener mit seinen blossen Worten die Stadt Theben aufbaute, wirfst Du mit den Deinen das uralte – wie die Sage weiss – und hochedle Pavia zu Boden. Hätte diese Stadt Dich nicht als einzigen ihrer Bürger unter einem unheilvollen Stern geboren, wäre sie überaus glücklich; jetzt aber ist sie mit einem solchem Bürger elend, und weil er Feldherr ist, gar doppelt elend! Es wäre denn, Dich rechtfertige jene Tat, mit welcher Du zur Zeit ihrer Belagerung mit der Verbannung eines Grossteils der Bevölkerung und mit der Zerstörung vieler Häuser ihr zu grösserer Geräumigkeit verholfen und ihr, obwohl sie mit einem einzigen Platz zufrieden war, mit vielen Plätzen Sicherheit geschaffen hast. Hiermit hast Du ihr die entsetzlichen Tröstungen einer Belagerung, nämlich eine traurige Leere in der ganzen Stadt und die den vernünftigen Menschen ganz widerwärtigen Abwechslungen aufgedrängt. 26. Ist es das (oder was wäre es?), dessentwegen Du täglich Gott bittest, er möge Dir „die Lippen öffnen“?25 Schau bitte, was Du forderst und was Du versprichst! Du bittest, so meine ich, Dein Mund möge geöffnet werden, nicht damit er den Menschen Unglück, sondern damit er Gottes Lob verkündige. Bedenke aber, wie getreulich Du der Bitte nachkommst! Der Herr predigt Frieden, Du das Gegenteil,

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als dächtest Du an jenes Wort im Evangelium:26 „Ich kam nicht, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ 27. Warum kümmerst Du Dich nicht eher um das andere, mit dem die nackte Wahrheit ohne jede allegorische Verkleidung ausruft:27 „Das ist mein Gebot: Liebt einander,“ „liebt Eure Feinde;28 tut Gutes denen, die Euch hassen;“ „haltet Frieden untereinander!“29 Sooft der Herr einen Kranken geheilt hatte, entliess er ihn mit ungefähr diesem Mahnwort:30 „Geh in Frieden!“ Und trat er bei den Jüngern ein, pflegte er diese Art von Gruss: „Friede mit Euch!“31 Und er empfahl ihnen,32 sich des selben zu bedienen. Und schliesslich hat er jenen, die er sehr geliebt hatte und bis ans Ende liebte,33 schon nah dem Tode in der letzten Rede den Frieden gegeben und zurückgelassen. 28. Was aber Du dem Volk bei Deinem Tod hinterlassen wirst, weiss ich nicht. In Deinem Leben jedenfalls hast Du ihm Krieg, Beschwerden, Kosten und vielfältige Gefahren haufenweise bestellt. Wie scheinst Du doch so gänzlich all das vergessen zu haben, was zum Erlangen der Errettung dient! Vergessen hast Du vor allem jene Parabel des Erretters, welche Dir vielleicht deshalb verächtlich ist, weil einzig Lukas34 sie überliefert hat; nämlich man solle, bevor man einen Turm errichte oder zu einem Krieg ausziehe oder irgend ein Unternehmen beginne, den Aufwand dafür und die Grösse des Heeres berechnen. 29. Die Unbesonnenheit und Überstürzung, mit welchen Du nicht nach den Dingen des Friedens, sondern verwegen über Deine Kräfte hinaus zielst, werden Dich, so vermute ich, verderben, wie Du’ s verdienst. Gut so! Müsste nur der Untergang des einen Menschen nicht auch dem ganzen Volk, das solches nicht verdient, zum Schaden gereichen! Nicht geduldet hast Du, dass es das Wort des Apostels vernehme, dank dem es gut und schuldlos geblieben wäre; ich meine das den Hebräern35 gesagte: „Wahrt Frieden mit allen und ein frommes Gemüt, ohne das niemand Gott anschauen wird.“ Oh entsetzliche Überschätzung einer Nichtigkeit, wenn so viele Menschen ins Unglück stürzen, damit man Dich für beredsam halte, und wenn einer einzigen Zunge falscher Ruhm so viele Verwundete und Tote erfordert! 30. Doch nein: Weshalb untersuche nun ich mit so leichtsinnigen und leeren Vermutungen diese Ursache der gegenwärtigen unglücklichen Lage? Vermutete ich richtig, enthielte sie mehr an Eitelkeit als an Grosstat. Es gibt jedoch einen anderen wahreren und gewichtigeren Beweggrund, denn Du verlangst ja nach etwas Höherem als nach blossem Ruhm der Redekunst. Betrachte also die römischen Heerführer und die fremden. Bei den unsern gibt es kein Beispiel für ein ähnliches Unterfangen, keinen Feldherrn von ähnlicher Verwegenheit. 31. Wer denn hätte je im Vertrauen auf die waffenlose Sprache so Grosses angepackt? Es sei denn, Du hältst mir Cicero entgegen, der freilich, wie wir wissen, mit seiner allmächtigen Sprachgewalt Catilina in Schrecken versetzte36 und aus Rom vertrieb! Wobei allerdings sein Konsulat, der Senat und die Zustimmung der Bürgerschaft ihn wappneten und er übrigens nicht auf persönliche Macht, sondern auf die Freiheit der Republik

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bedacht war. 32. Doch entgegenhalten wirst Du mir Peisistratos,37 den Tyrann von Athen, dessen hervorragende Eloquenz mir gewiss nicht unbekannt ist. Er war aber nicht allein mit der Zunge, vielmehr auch mit dem Schwert bewaffnet, als er das Vaterland zwang, ihm zu dienen. Einzig Perikles, der später seine Nachfolge an sich riss,38 scheint zu einem guten Teil Dir ähnlich gewesen zu sein; denn er vermochte in der waffenlosen Redekunst so viel, wie jener frühere in der bewaffneten, und damit hat er wirklich die wunderbar blühende Stadt, die kostbarste Zierde Griechenlands, mit Reden zu Grunde gerichtet. 33. Doch unterscheidet auch ihn mancherlei von Dir. Er stammte von vornehmen Geschlechtern, und ihm fehlte die Bindung an die Fesseln mönchischer Vorschriften,39 während Du nicht bloss aus bescheidener Wurzel stammst, sondern auch Armut und Gehorsam gelobt hast und trotzdem als einstiger Diener der Armen, jetzt ein Gebieter der Reichen sein wolltest. Um Dir diesen verderblichen Wunsch zu erfüllen, kommt Dir weniger Dein gewinnendes Wesen – dass Du seinetwegen nur ja nicht gross von Dir denkst! – als vielmehr die sonderbare Einfalt Deiner Bürger zustatten. Sie verlockst Du mit den Angeln, die Deinem Mund entfallen, dahin zu gehen, woher Du, glaube mir, sie nicht mehr zurückholen wirst. 34. Was soll ich also noch sagen? Könnte ich Dich für Deine Treupflicht so glücklich preisen wie für Deine Begabung! Wirklich, wenn Du Deine Vaterstadt als Deine Mutter und Deine Ernährerin liebtest, Du würdest eher Dich ihr unterwerfen als umgekehrt sie Dir. Nun ist das Verkehrte zu wollen so verwerflich, wie das Grossartige zu können ganz wunderbar. Freue Dich also noch einmal! Als einziger aus allen Ländern und Jahrhunderten hast Du unbegleitet, nackt, arm und niedrig mit neuen und unerhörten Künsten Dir eine Tyrannis erobert. Und die Stadt, die einst Königssitz der langobardischen Könige war,40 ist nun Sitz Deiner Herrschaft! Robust ist das Volk, das einen solchen Herrn zu tragen vermag! 35. Deine kriegerischen Erfolge freuen mich; und nicht weniger freut mich, dass Deine vorausschauenden Bürger auf Deinen Rat hin jenen gigantischen Verbannten, welchen Triumphe und Siege verklären, bei sich aufnahmen, damit er nicht wie ein zweiter Alkeides41 bloss zwölf Arbeiten sondern ihrer Tausende vollbringe und mit Heldentaten die Ungeheuer aller Länder niederstrecke.42 Ja es freut mich schliesslich auch, dass beim Kastell Nazzano,43 wo jener feurige Mut und Deine erbitterte Anstrengung aufloderten, Fortuna wenigstens einmal handelte, wie sie sollte. 36. Achte also für sorgfältigste Überwachung jenes Kastells und schenke Deinen Gefangenen pflichtgetreue Obhut! Das schickt sich für Deinen Grossmut; er darf sich nicht zum Übermut versteigen, vielmehr gelte er unter Deinen Besiegten, die Du vor Deinem Triumphwagen hertreiben wirst, als ein schönstes und vorzüglichstes Zeichen Deiner Milde. 37. Doch um meinen Spott fahren zu lassen und das Begonnene zu beenden, bitte ich, Freund, und beschwöre Dich, zu Dir zurückzukehren und zu erforschen, nicht

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was Dir behagt, sondern was Dir obliegt, auch nicht, was Du sein möchtest, sondern was Du bist, was die Natur, was Fortuna, was Dein Ordensstand und was die Abfolge Deines früheren Lebens aus Dir gemacht haben. Du wirst einsehen, so meine ich, dass darin weder für Ehrgeiz, noch Überheblichkeit noch für eine verfehlte und unwürdige Tyrannis eine Stätte zu finden ist. 38. So oft diese Deine Herrschsucht entbrennt, dann, ich sage nicht: „Schau zum Himmel auf,“ denn das tun gut veranlagte und bescheidene Menschen ohnehin alle, wenn Versuchungen sie bedrängen; nein ich sage: „Richte Deine Augen auf Dich selber und beschaue gründlich bald Deine Schuhe, bald Deinen Gürtel und dann Deine ganze Ordenstracht! Du wirst an Dir keinen Purpur, jedoch all das entdecken, was einzig Deine dienende Pflicht gegen Christus bezeichnet, nicht aber Befehlsgewalt über Menschen. 39. Schliesslich jedoch, wenn Du weder mit Zank noch Zurechtweisung oder mit Bitten dazu bewegt werden kannst, das lächerliche Gelüst nach Tyrannis abzustreifen, dann bekleide Dich wenigstens mit der Liebe zum Frieden, um nicht von der Gemeinschaft der „Menschen guten Willens,“ denen ein Himmelsbote Frieden verkündet,44 ausgeschlossen zu sein, und um nicht im Neuen Testament, wo Christus den Seinen den Frieden hinterlässt, als Enterbter und Übergangener dazustehen. 40. Willst Du klug sein, dann sorge dafür, auf lange Zeit zu tun, was Du begierig tust. Drängt es Dich zu herrschen, so gebiete solchen, die gerne dienen. Herrsche, Bruder, über solche, die Deine Herrschaft wollen, doch tu es voll Frieden! Er allein ist fähig, sowohl Geringes zu vergrössern wie Verschleudertes zu sammeln und Blutloses zu erwärmen. Herrsche, jedoch in einer unversehrten Stadt! Oder, wenn das nicht mehr möglich ist, herrsche in ihren Ruinen um so nachsichtiger und denke nicht daran, die schwer zerstörte mit unversöhnlicher Härte noch weiter zu zerstören. 41. Und schleife Deine Zunge nicht ständig zur neuen Schneide!45 Schreite vielmehr dank Deiner Klugheit und Beredsamkeit glücklich voran; ja geh voran! Und wenn Du es willst und die Bürger Dich wollen, dann regiere, und beachte das Folgende:46 Der „Wahrheit, Milde und Gerechtigkeit“ wegen, dieser Schwestern des Friedens wegen, „leite Dich wunderbar Deine Rechte.“ Denke an Gedeon! Als er von Gott die Worte47 vernahm: „Friede sei mit Dir; fürchte Dich nicht!“ „errichtete er Gott einen Altar und gab ihm den Namen „göttlicher Frieden“. 42. Errichte also nicht wie einst Caesar48 angeblich am Ende seines Lebens plante, mit Deinen Kriegen einen Tempel für Mars, denn das schickt sich zwar für einen kriegerischen Princeps, nicht aber für einen friedliebenden Ordensmann. Freut Dich aber schliesslich das Beispiel Caesars und willst Du lieber ein Herr als ein Ordensbruder sein, was allerdings das grösste Monstrum aller Zeiten darstellen würde, und wollen die Sterne es begünstigen, nein Gott es gestatten, so sei ein Herr, doch ein gütiger und milder und ein Liebhaber des Friedens, denn dass auch der Genannte so gewesen ist, steht für alle fest, denen etwa seine Briefe aus der Zeit des Bürgerkrieges in die Hände gelangt sind.

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43. Noch dies Letzte vernimm wie ein göttliches Orakel. Bemühe Dich eher, dass es Dir gut ergehe als anderen schlecht.49 Verzichte darauf, ein Dir unterworfenes Volk mit Hass oder Neid aufzustacheln und damit ins Elend, dem es schon nah ist, und gar ins äusserste Verderben zu stürzen. Und Deinen ehrwürdigsten Orden, dem Du beigetreten bist und für den Du – wärst Du einsichtig gewesen – mit grösster Anstrengung hättest sorgen müssen, erschüttere und verunglimpfe nicht mit Deiner tyrannischen und städtischen Überheblichkeit.50 Denn er ist in der hingebungsvollen Demut frommer Menschen auf den glorreichen Namen Augustins und für die heiligen Freuden des Eremitenlebens gegründet worden.51 Erinnere Dich, dass unter dem selben Dach die ehrwürdigen Reliquien Augustins Dir nahe sind52 und dass er diesem Orden seine Aufmerksamkeit und Liebe wahrt. Nimm ihn Dir, wie man sagt, als einen Dir „erdachten Zeugen“,53 der Dir bei allem, was Du tust und sprichst oder auch nur denkst, zur Seite stehe, und Du wirst Dich scheuen, vor einem solchen Zeugen zu sündigen und etwas zu begehen, was diesen Deinen Herrn und Lehrer und den Lehrer und Herrn aller Lebenden, nämlich Christus, beleidigt. Lebe wohl! Mailand, am 25. März (1359).54

Anmerkungen 1 Im Codex γ, wo Fam. 19,18 zu finden ist, steht am Rand: Fratrem Iacobum Bussolarium. Überdies wird festgehalten, dass der Brief „im Auftrag von Bernabò Visconti geschrieben“ sei! 2 Der angesprochene Bussolari war aus Pavia gebürtig und Augustinereremit. Er versuchte nach 1355 die Einwohner von Pavia zu einer sittlichen Erneuerung zu bewegen und hielt es dabei für nötig, dem Volk alte Rechte zurückzugewinnen, vertrieb die Angehörigen der Regentenfamilie Beccaria, geriet dann aber in Streit mit andern um Pavia kämpfenden Mächten, besonders mit den Visconti und mit dem Markgrafen von Monferrat. Die Visconti erneuerten im Sommer 1358 ihre Angriffe auf die Stadt, die sich aber entschlossen widersetzte und sich erst am 13. November 1359 – völlig ausgehungert – unter Bussolari dem Feind ergeben musste. Herr der Stadt wurde Galeazzo Visconti. – Vgl. DBI, Bd. 15 und zu diesem Schreiben auch den „Überblick“; Vittorio Rossi, Studi sul Petrarca e sul Rinascimento, Florenz 1930,1–9; auch Ugo Mariani, Il Petrarca e gli agostiniani, Rom 1946,62–64; Dotti, Vita 333–334, und Wilkins, Eight years 184 mit Anm. 3 Ein zorniger Protest gegen harte Massnahmen zur Verteidigung der Stadt (Vertreibung armer Leute und Schlachtung von Hunden) steht in einem anderen Schreiben Petrarcas, das er ebenfalls im Auftrag von Bernabò Visconti schrieb; vgl. The miscellaneous letters of Petrarch, a cura di E. H. Wilkins e G. Billanovich, Nr. 7, in: Speculum, 1962,226–243. 4 De civ. 19,11–12. 5 Cic. De off. 1,11,35. 6 Ps. 33,15. Als Ordensmann war der Adressat verpflichtet, täglich Psalmen zu beten. 7 Ps. 121,6. 8 Ps. Ebenda. 9 Ps. 121,7.

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Ps. 71,7. Ps, 36,11. Ps. 4,9. Jer. 29,7. Bellona: eine Kriegsgottheit. Jer. 38,4. Prov. 16,27–28. Eccli. 28,11. Ps. 139,3. Ebenda; vgl. auch Ps. 13,3. Lateinisch: fraterculus. Vgl. Personenreg. Plin. Nat. 7,27,100. Geflügeltes Wort, auf Cato zurückgeführt, verwendet auch vom älteren Seneca, Controv. 1, praef. Ampheion (Amphion) König von Theben; seine Musik (oder Rede) bewog angeblich Steine, zum Mauerbau der Stadt herbeizukommen. Ps. 50,17. Mt. 10,34. Lc. 12,51. Jo. 15,12. Mt. 5,44. Lc. 6,27. Mc. 9,50. Lc.7,50; 8,48; Jo. 20,19 und 21. Mt.10, 12 und 13. Lc.10,5 f. Jo. 14,27; 16,33. Lc. 14,28–31. Hebr. 12,14. Catilina, * ca. 108, † 62, machte sich auf seiner Ämterlaufbahn vieler Vergehen schuldig. In der sog. „Catilinarischen Verschwörung“ verfolgte er einen Staatsstreich und den Plan, den Konsuln Cicero zu ermorden. Dieser deckte die Verschwörung auf und vertrieb den Schuldigen dank besonderen Machtbefugnissen. Catilina fiel im Kampf. Vgl. das Personenreg. Perikles galt einem Plutarch als der beste Redner seiner Zeit. Ein vernichtendes Urteil über die Folgen seiner Kriege lässt sich nicht aufrechterhalten. Vgl. oben Anm. 2. Die Langobarden errichteten ein Reich in Oberitalien in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Pavia (Ticinum) eroberten sie 572. Die Frankenkönige setzten dem Reich 774 ein Ende. Das ist Herkules, Nachkomme des Alkaios. Das ist ein Graf von Langosco aus einer alten Familie Pavias, die der Familie Beccaria gewichen war. Der Abschnitt ist ironisch gemeint. Die genannte Schlacht brachte der Stadt trotz einem Sieg schwerste Verluste; vgl. Anm 2. Lc. 2,14. Die folgenden Worte frei nach Ps. 44,4–5. Zum folgenden Text vgl. Richter 6,23–24. Ebenda. Suet. Caes. 44,1. Lateinisch: stude potius, ut tibi bene sit quam ut aliis male. Lateinisch: neve…(honestissimum ordinem)tua tyrannica et urbana superbia vel concutias vel infames.

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51 Bussolari wurde durch seine Ordensbrüder verurteilt und verbrachte vierzehn Jahre in harter Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung ging er nach Avignon, später zu seinem Bruder, dem Bischof von Ischia, bei dem er 1375 starb. 52 Der Langobardenkönig Liutprand soll im 8. Jahrhundert für die Translation der Reliquien aus Afrika gesorgt haben. Sie ruhen in Pavia in der Augustinerkirche, wo sich auch die Grabstätte des Boethius befindet. 53 Eine solche Zeugenschaft zur Sicherung des sittlichen Lebens empfiehlt Seneca mit einem Hinweis auf eine Ermahnung Epikurs. Vgl. Sen. Ad Lucil. 25,5. Vgl. auch den Brief Fam. 10,3,48 an Petrarcas Bruder, den Kartäuser. 54 Die Jahreszahl lässt sich von politischen Ereignissen ableiten. Vgl. Wilkins, Eight years 184 und Dotti, Vita 333 f.

Fam. 20,1, an Neri Morando von Forlì1 Verfluchung der gegenwärtigen und Voraussage der späteren Lage. Von der Macht des Goldes. 1. Die Zukunft wird schlechter sein, man tröste sich, dass man nicht später geboren wurde. 5. Das kurze Leben auf der Welt ist ein langer Tod. 6. Schlimmer als äussere Feinde sind eigene Laster. Man vermehrt sie mit zunehmendem Alter. 8. Ein Beispiel: Kaiser Tiberius. 10. Schlechter ist es, Verbrechen zu wollen, als Verbrecher zu sein. 10. Man lebt unter Sündern, und fliehen kann man nicht. 14. Wenn man die Hilfe des Himmels ausschlägt, erobern die Laster die Seele wie die Krieger einst Ilion. 17. Das eigentliche Thema: Dem Kaiser, der Italien fluchtartig verliess, hat der Dichter einen Tadel nachgeschickt. 20. Doch in Pisa hat sich der Kaiser richtig verhalten. 20. Mächtiger alles ist das Gold. (Juni 1355)

1. Einen mit Sorgen Überhäuften und von Geschäften Erdrückten,2 dem alles, was auf ihn zukommt, verhasst ist, einen, der – gleich dem erschöpften, durstigen und die schattige Quelle suchenden Hirsch – nach Einsamkeit und Ruhe schmachtet, weil das Gebell verfolgender Hunde ihn daraus verjagt hat, vermag Deine Epistel ein wenig zu zerstreuen. Und wäre sie nur lang genug, um mich nicht bloss für ein Weilchen, wie sie getan, sondern für alle Ewigkeit zu nötigen, die gegenwärtige Lage zu vergessen! Glaube mir, ich bin ein so grosser Bewunderer unseres Jahrhunderts, dass ich meine, es habe wohl zu keiner Zeit etwas Elenderes und Absurderes gegeben. 2. Eines tröstet mich. War es notwendig, geboren zu werden – und notwendig war es durchaus, dass die unbarmherzige Klotho3 uns zur harten Schwelle dieses Lebens dränge –, und war es verwehrt, zu früherer Zeit ans Licht hervorzubrechen, dann war es immerhin weniger schlimm, wenn es jetzt geschah und nicht erst später. So vermute ich mit Rücksicht auf die Zukunft. Möchte die beängstigende Voraussicht mich doch narren! Aber es ist unsere Jugend, die mir ihretwegen solche Hoffnung eingibt.4 Da sind ihre Anlagen, da ihre Sitten, die Art ihrer Wünsche und das Ziel ihrer Anstrengungen. Man wird alte Leute trotz ihrer Albernheit neben den jungen für beneidenswert vernünftig erklären, und glücklich wird man sie schätzen, weil sie früher geboren wurden. 3. Denn die Welt, die auf ihr Ende hin galoppiert, reisst tagtäglich alles mit sich ins grössere Elend! Ich übergehe mancherlei, was ein späteres Zeitalter mit sich bringen wird, denn (so soll auch Tiberius von dem des Sergius Galba gesagt haben) „uns geht es nichts an.“5 Und hüten muss ich mich vor einer Klage, welche die Vernunft übersteigt, sonst könnte mir Seneca erwidern, jedes Zeitalter habe über seine Sitten gejammert.6 4. Das glaube ich freilich, doch hat, wenn ich mich nicht täusche, keines je mit besserem Grund seine Sitten beklagt. Indessen soll nicht unbeachtet bleiben, was Liebende, die sich gegenseitig und all das ihre verherrlichen, mir entgegnen können. Auch weiss ich sehr wohl, was Italien jetzt wie schon früher an Schicksalsschlägen erduldet hat. Im Unglück hat es sich verhärtet und seine zahlreichen Narben mit dicker Haut überdeckt. Und das gilt nicht einzig für Italien, vielmehr hat der ganze Erdkreis seit seinem Anfang unzählige Schäden erlitten!

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5. Was anderes ist dieses kurze Leben als ein allzu langer Tod? Was anderes die irdische Wohnung als ein schmutziger Kerker drückender Knechtschaft und die finstere Stätte unablässiger Trauer? Ich weiss das. Doch besteht ein Unterschied, ob man von Feinden oder von Lastern belagert, bedrängt, bedrückt, versengt und verwüstet wird! Oft erlahmt ein äusserer Feind und erschlafft in der Schwächung eines andern auch selber.7 Schliesslich ist jeder Angriff der Menschen kurz, und kein Krieg der Sterblichen unsterblich. Mit seinen Urhebern muss er enden, an eigenen Kräften sich aufzehren. 6. Die Laster hingegen mehren sich mit der Dauer der Zeit und stärken sich in der Wiederholung, und je mehr sie geschadet haben, desto sicherer fahren sie fort, so zu tun. Niemand ist grausamer, als wer es seit langem war; und niemand verfällt so rasch der Ausschweifung, als wer ihr schon oft verfiel. Aus wiederholten Taten entstehen Gewohnheiten, und mit der Gewöhnung krümmen wir uns tiefer, um schliesslich unweigerlich kopfüber zur Erde zu fallen. So wächst mit dem Alter die Habgier, so ist die Ehrsucht der Greise besonders zäh, so haben auch die andern Seuchen ihren je eigenen Ablauf. Und dass die Krankheit nie sterben könne, dafür sorgt die Willensschwäche der Leidenden. 7. Mit solchen Feinden haben wir’s zu tun. Und wir unterlassen nicht bloss, ihnen zu widerstehen, sondern begünstigen sie und geben ihnen gleich auch das Schwert, es uns an die Kehle zu setzen; ja wir reizen sie auf – kaum ist es zu glauben –, wenn sie zu erlahmen beginnen, als hiesse, weniger elend zu werden, sei gleichsam der Gipfel des Elends. Das sehen wir heute denn auch weit und breit bei vielen Alten bis zu einem Grad entwickelt, dass es uns ekelt und die Sonne wahrhaftig auf nichts Schmutzigeres herabschaut. Von mehreren haben wir einiges gelesen, in erster Linie von jenem oben erwähnten Tiberius. 8. Ihn mögen seine Götter und Göttinnen in der Unterwelt foltern.8 Es dreht mir den Magen um und erregt mir die Galle, sooft ich lese, wie dieser Alte auf sonderbare und unaussprechliche Art, sogar (zu berichten grässlich) durch den Anblick „eines monströsen Geschlechtsverkehrs“ – um ein Wort des Tranquillus zu verwenden – „schwindende Leidenschaften reizte.“ 9. Eben daher stammt auch das lächerliche und schamlose Gejammer unserer Greise, weil ihre geschlechtliche Lust sie weniger zwackt als in ihren früheren Jahren und sie den lockenden Juckreiz und jugendlichen Kitzel vermissen, die Anreize von Gaumen, Bett und Bauch entbehren und schliesslich auch der Körperkräfte für Totschlag und Schlächtereien ermangeln. 10. Dabei ist es schlimmer, ein Blutgieriger sein zu wollen, als einer zu sein. Indem ja jeder, der schlecht zu sein wünscht, wahrhaftig schon schlecht genug ist, ja überaus schlecht.9 Und keiner ist schlechter, als wer eine Sünde plant und eines Frevels wegen sich brüstet. An Schlechtem sich zu freuen, gehört allerdings zum Wesen beinah jeder Art Schlechtigkeit, weshalb Cicero sagt10, „die Gewohnheit zu sündigen“ sei „ungemein lustvoll“. Wenn aber jemand beim Genuss niedriger Lüste etwas Lästiges spürt und etwas wie eine Hemmung der Leidenschaften empfindet,

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verrät das zwar immer noch schlechte Menschen, aber solche, die nach Besserung trachten und von denen wir oft erlebt haben, dass sie nach ihrer Errettung aus grossen Stürmen in den Hafen gelangten. 11. Sich hingegen in Bosheiten überbieten, sich an ihnen berauschen, nach ihnen gieren und ausstrecken und, was von allem am schlimmsten ist: mit ihnen grosstun, das sind deutliche Zeichen von äusserster und fast unausrottbarer Bosheit. Und von solchen Leuten ist die Erde nun voll, und unter ihnen müssen wir leben! Und sind wir bloss mitten unter ihnen und nicht gar einer von ihnen, mag es hingehen, obwohl ein Zusammenleben mit Übeltätern für niemanden lästiger ist als just für jene Anständigen, die sich von deren Lebensweise dank rühmlichem Anderssein absondern. 12. Wie dem sei: Unter ihnen leben wir seit langem, und wie der königliche Psalmist11 geklagt hat, „sind wir alt geworden unter unseren Feinden“ und müssen – was ich als das Jämmerlichste bezeichnen würde – unter ihnen auch sterben. Wo wäre ein Fluchtweg offen? Wohin könnten wir gehen, ohne dass uns eine Bande Verbrecher mit ihren Fahnen zuvorgekommen wäre? Und wo hätte diese mit schlechtesten Sitten nicht schon ihre Herrschaft errichtet und gesichert? Über den Ozean hätten wir schiffen müssen, wäre nicht zu vermuten, unsere Laster seien schon früher zu den Antipoden hinabgestiegen.12 13. Besser wäre für uns, zum Himmel aufzufliegen, würden wir nur nicht durch unser Gewicht auf die Erde hinabgedrückt. Eben dieses Gewicht hätten wir abzuwerfen, wollten wir gerettet werden, und leicht könnte es geschehen, lägen wir nicht unter schlechten Exempeln begraben, und wäre nicht nach unserem Zeitalter, an solchen Beispielen schon ungemein fruchtbar, eine noch fruchtbarere Zukunft zu erwarten. Gekämpft haben unsere Vorfahren gegen Punier, Kimbrer, Teutonen und Briten. Mühevoll haben sie Italien gegen Hannibal und das Kapitol gegen Senonen verteidigt; und schliesslich waren sie dank ihrer wahren und unbezwingbaren Tüchtigkeit siegreich. 14. Würden nun aber wir – durch einen Himmelsgeist13 zu unserer Verteidigung aufgerufen – die Feste unseres Kapitols, um die ein gewaltiges Heer barbarischer Laster wogt, verteidigen und würden wir den ringsum schreienden Irrtümern der Menge mit unbeweglicher Miene trotzen, dann wären wir tapferer als Manlius, Marius und selbst Caesar.14 Denn diese wurden ab und zu durch Mauerwerk oder Wehr vor den Feinden geschützt, ja sie haben oft des Nachts geschlafen und die kalte Jahreszeit dank der Wohltat eines Winterlagers überstanden; für uns dagegen gibt es keine Ruhe, keine gefahrlose Zeit, keinen Winter, keinen Waffenstillstand und keine Nacht.15 15. Nichts gibt es da je an Sicherheit und Befriedung; unablässig kämpfen wir ums Überleben, immerfort stehen wir an der Front, werden da angegriffen, umzingelt und in die Enge getrieben. Die Feinde sind schon innerhalb unserer Mauern, schon laufen sie gewappnet stracks auf die Burg unseres Verstandes zu,16 bemächtigen sich der Weinberge, richten Geschütze auf, legen Feuer, ersteigen Türme. Und nicht anders als einst

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bei Ilion lehnen sie Leitern an die Mauern. Und die Leitern sind Untaten, die Mauern sind Seelen.17 16. Was meinst Du, soll ich sonst noch sagen? Auf unsere Tische und Betten stürmen sie los und springen uns an die Gurgel, und was schon beinah den Untergang bedeutet: Mit Irrtümern gewappnet schwingt der ganze Pöbel das Schwert im Bund mit unseren Feinden. In einem so gefährlichen und gnadenlosen Streit kann man den Sieg nur vom Himmel erhoffen. Von dorther, Freund, wollen wir ihn erbitten. Doch einstweilen vermag ich angesichts meiner Lage mich nicht zu rühren, und öfters leide ich darunter so schwer, dass ich, unfähig mein Los zu ertragen, den beklemmenden Ängsten beinah erliege. 17. Es mag vielleicht scheinen, ich sei von meinem Vorhaben abgeirrt. Hingerissen hat mich mein Ungestüm; nun kehre ich zurück. Wie ich also heute in diese Sorgen verstrickt war, die mir das Getöse geräuschvoller Tagesereignisse und der Überdruss beschert hatten, bin ich beim Verlassen der Wohnung an ihrer Schwelle auf Dein Schreiben gestossen, das freilich knapp und seiner langen Wanderung wegen gleichsam kurz geschürzt war. 18. Es ist bei mir aber, ich weiss nicht, infolge welcher Hindernisse, reichlich verspätet angelangt, und so ist das, was es berichtet, mir alles schon vorher bekannt geworden. Denn in der Zwischenzeit und vor seiner Ankunft ist unser Cäsar, von dem es redet, nicht allein gekrönt worden, sondern auch wie ein Schatten und Traumbild uns wieder entschwunden. Das hat mich bewogen, hinter seinem Abzug mit einem scharfen und hitzigen Brief einherzujagen.18 Aber Dein Schreiben habe ich, beglückt durch seinen Wohlklang und die Liebe seines Absenders, so gelesen, als ob es mir lauter Neuigkeiten berichte. 19. Mancherlei hat es nach der Gewohnheit müder und eiliger Leute mit allzu knappen Worten erledigt, und doch: Mit welcher Anteilnahme, was meinst Du, habe ich alle Einzelheiten zur Kenntnis genommen, vor allem den Namen meines Lelio! Wolltest Du doch, ich bitte Dich inständig, so lange Du kannst, mit ihm verkehren und ihm von ganzem Herzen zugetan sein! Denn Ihr seid einer des andern würdig. 20. Was allerdings folgt, dass nämlich bei der Ankunft unserer Mannschaft das Volk von Pisa sich in heftigem Argwohn auflehnte, darf Dich nicht wundern.19 Denn einerseits ist kein anderes Volk so argwöhnisch wie dieses, und andrerseits kann diese schreckliche Viper, die den roten Mann zwischen die Zähne presst,20 sogar selbstsichere Leute erschrecken. In dieser Hinsicht lobe ich die Vorsichtsmassnahme des Cäsarn. Er ist damit dem Schrecken des Volkes zu Hilfe gekommen und der Scham der Soldaten zuvorgekommen.21 Was Du überdies von meiner Vaterstadt mitteilst, habe ich schon vorher sehr freudig vernommen, nun aber erst recht freudig gelesen, dass sie nämlich dem römischen Fürsten den Gehorsam nicht vorenthält22 und dass, wenn irgendwo auf Erden, dann eben in meiner Vaterstadt der sonst vergessenen Freiheit gedacht wird.

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Schliesslich wundert mich nicht im geringsten, was Du sehr witzig über die Macht des Geldes ausgeklügelt hast. Ich weiss ja, dass Flaccus völlig richtig formuliert hat:23 „Gold trennt alles entzwei; teilt auch den Freundeskreis, Ja, zerspaltet Gestein leicht und mit voller Kraft Wie mit Blitzesgewalt.“ Das hat Apuleius24 in sein Buch Metamorphosen übernommen. Er sagt: „Das weiss ich, wie zerbrechlich die menschliche Treue ist und dass dem Gold alle Art Schwierigkeiten weicht, ja dass regelmässig das Gold sogar diamantene Pforten zerspaltet.“ Wie eingängig und allbekannt muss dieser Ausspruch doch sein, wenn man ihn nicht bloss einem Philosophen, sondern auch einem philosophierenden Esel in den Mund legt!25 Du wirst im dritten Buch der Kosmographie von Pomponius Mela26 gelesen haben, dass das Volk von Äthiopien ausnehmend reich an Gold, jedoch arm an Erz ist, und dass deswegen entsprechend der Häufigkeit und Seltenheit der Metalle auch der Preis sich dort verkehre und Schmuckstücke aus Erz, dagegen Fesseln aus Gold verfertigt würden. Wir nun, Freund, machen schon alles aus Gold: Spiesse, Schilde, Fesseln und Kronen. Wir werden damit geschmückt und damit gefesselt; wir sind daran reich und sind daran arm, sind damit glücklich und damit elend. Freie bindet das Gold und Gebundene bindet es los; Strafbare spricht es frei und verurteilt Unschuldige. Es macht aus Stummen Beredte und selbst aus Beredtesten Stumme. Dem Gold zuliebe hat Metellus27 gegen Caesar gesprochen; des Goldes wegen hat der Redner Demosthenes28 zu reden verzichtet. Das Gold macht Fürsten aus Knechten und Knechte aus Fürsten, es flösst den Kühnen Furcht und den Ängstlichen Mut ein, den Unbeschwerten Sorgen und Trägheit den Geschäftigen. 24. Es bewaffnet die Wehrlosen und entblösst die Bewaffneten. Unbändige Anführer bändigt es, gewaltige Völker unterdrückt es; streckt kampferprobte Heere zu Boden und beendet langdauernde Kriege in wenigen Stunden. Es gibt und nimmt Frieden, lässt Flüsse vertrocknen, fliegt über Länder, wühlt Meere auf und ebnet Gebirge. Es öffnet den Zugang zu Pässen, tritt ein in die Städte,29 erstürmt die Burgen, verwüstet die Ortschaften, und es gibt überhaupt – wie wir bei Cicero30 lesen – „keinen ummauerten Ort, wo ein mit Gold beladener Esel den Eingang nicht fände.“ 15. Gold bringt glanzvolle Freundschaften, grosse Gefolgschaften, ehrenvolle Ehen, will heissen, dass es seine Besitzer edel und stark und gelehrt und schön und – was Dich wundern mag – sogar heilig macht. Gerade deshalb sind es in den Städten die Reichen, die man als „gute Männer“31 bezeichnet und denen allein Vertrauen geschenkt wird. Kein Vertrauen findet dagegen der Arme, denn er hat ja kein Geld. Und darum ist auch der satirische Ausspruch richtig:32 „Gleich wie die Summe an Geld, die einer im Kasten bereit hält, Gilt auch sein Wort.“

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26. Zum Schluss (ungern sage ich’s, doch die Wahrheit zwingt dazu): Das Geld ist nicht allein mächtig, nein es ist auch fast allmächtig. Alles, was es unter dem Himmel gibt, weicht dem Gold und dient dem Gold. Und Rechtssinn, Sittlichkeit, Treue, ja überhaupt jede Tugend und aller Ruhm hat hoch über sich das Gold. Ja über die Seelen, uns doch vom Himmel geschenkt, herrscht– oh Schande! – das schimmernde Metall als ein irdischer Unrat. Es bindet Könige und Bischöfe; es besänftigt Menschen und – wie es heisst – auch Götter; und nichts ist dem Gold unerreichbar und nichts uneinnehmbar. 27. Iupiter, der das wusste, hat im Verlangen nach einer keuschen, wohlbehüteten Frau33 eine eherne Pforte zu sprengen vermocht, nämlich als ein Regen von Gold, wie es dieses Gottes würdig war. Unser Gott jedoch liebt die Keuschheit, wie immer seine Nachfolger34 auch handeln, ja er verachtet das Gold und hasst die Habsucht. Dir wünsche ich unverminderte Gesundheit an Geist und Leib. (Juni 1355)35

Anmerkungen 1 Petrarca war mit dem Adressaten seit Jahren befreundet. Dieser war ab September 1350 für ein Jahr Podestà in Padua gewesen, wo Petrarca gerne weilte. Dann hielt er sich am Hof des Dogen Andrea Dandolo auf, und eben in Venedig, wo sich Petrarca mehrmals aufhielt, werden sich die beiden wiederum gesehen haben. Dann traf ihn Petrarca wohl 1354 in Mantua, als er den Kaiser dort aufsuchte. Neri befand sich im Gefolge Karls IV. auf dessen Romfahrt wahrscheinlich als Vertreter Venedigs. Er sandte Petrarca im März 1355, ein Schreiben bereits aus Pisa, kurz nach der Weiterreise des Kaisers in Richtung Rom, dann auch aus Rom selber. Eben auf Neris Brief vom März bezieht sich Fam. 20,1 und drückt Verwunderung über die späte Ankunft der Nachricht aus. Auf den späteren Brief Neris aus Rom hatte der Dichter schon früher, am 20. April (nicht 18. Februar), mit Var. 32 geantwortet. Vgl. im Personenreg. die andern Fam. an Neri, vgl. zudem Var. 32, Fracassetti Bd. 3,379 ff. und Sen. 3,7, übrigens Wilkins, Eight years 103–104. Vgl. Überblick. 2 Den lat. Text findet man gekürzt auch bei Piur, Briefwechsel, lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe. 3 Eine der drei Moiren, Schicksalsgöttinnen (Parzen), die den Lebensfaden der Menschen spinnen und abschneiden. 4 Lateinisch: Sed hanc mihi spem de se nostra tribuit iuventus: ea indoles, hi mores…Spes ist hier traurige Vorahnung. 5 Suet. Galba 4. Dass Galba einst Kaiser werde, sagte Augustus voraus; das Wort erfüllte sich 68 n. Chr., also lange nach dem Tod des Tiberius, der sich um die Prophezeiung nicht hatte kümmern wollen. Vgl. Personenreg. 6 Zitat vielleicht ungenau. Zu denken hat man an Sen. Benef. 1,10,1 und Ad Lucil. 97,1. 7 Von einem Nutzen äusserer Feinde spricht Petrarca gegenüber einer politischen Macht, die sich in inneren Kriegen zersetzt. Und einen Erzieher warnt er, dass an die Stelle äusserer Feinde die Zügellosigkeit als innerer Feind treten könnte. Vgl. z. B. Fam. 15,7,6 und 12,2,6. 8 Suet. Tib. 43. Sueton liebte es, Klatsch zu übermitteln, was Petrarca kaum berücksichtigte. Vgl. z. B. Der Kleine Pauly, Bd. 5 Artikel von Rudolf Hanslik, Wien 1975. Dessen Schlusssatz lautet: Die Anschuldigungen zeitgenössischer Historiker, die von Tacitus weitgehend benutzt wurden, hat er (Tiberius) nicht verdient.

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9 Lateinisch: Atqui peius est sanguinarium esse velle quam esse, quamquam qui malus esse cupit, utique iam malus ac pessimus est. 10 In Verr. 3,76,176. 11 Ps. 6,8. 12 Lateinisch: trans oceanum….ad antipodas descendisse. 13 Lateinisch: celesti alite excitati. 14 Vgl. das Personenreg. Über Marcus Manlius informierte die Historia Augusta, die Petrarca im Februar 1356 erwerben konnte. Hilfreich war ihm diese vor allem bei der Darstellung antiker Feldherren in Fam. 22,14. 15 Ähnliche Vorstellung in Fam. 12,2,6 f. 16 „Burg des Verstandes“, eine von Petrarca oft angewendete Formulierung gemäss der Seelenlehre Platons. Vgl. Fam. 12, 14,1–6; 19,10,5 und auch Secretum 2,13,4. 17 Das Thema der Psychomachie, schon früh von Prudentius behandelt, wurde oft illustriert. Es könnte schon zu Petrarcas Zeit Darstellungen von Lastern, die eine Stadt belagern und einnehmen, gegeben haben, etwa auf Miniaturen. Giotto erinnerte an die Psychomachie mit seiner Darstellung der Tugenden und Laster in der Capella degli Scrovegni in Padua, die Petrarca gekannt haben muss. Doch mag er anderswo eigentliche Kampfszenen genannter Art gesehen haben. 18 Vgl. Fam. 19,12. 19 Ebenda Anm. 2 und 4. 20 Hinweis auf das Wappen der Visconti. Mailändische Truppen begleiteten den Kaiser. Dieser hatte die Visconti für sich gewonnen, indem er sie gegen Bezahlung von 150 000 Florenen zu Reichsvikaren gemacht hatte. 21 Im Lateinischen hier eines der vielen von Petrarca geschätzten Wortspiele: pavori …succurrit – pudori occurrit. 22 Florenz liess sich vom Kaiser seine Unabhängigkeit bestätigen und zahlte dafür 100 000 Florenen. 23 Carm. 3,16,9–11. 24 Metam. 9,18. 25 Nämlich dem „Esel des Apuleius“ wurde das zugestanden, von dem eben Apuleius berichtete. 26 De chorogr. 3,85. 27 Gemeint ist Lucius Caecilius Metellus, der Volkstribun von 49 v. Chr.; er bekämpfte damals erfolglos die Rüstungsanleihen Caesars aus der Staatskasse. 28 Berühmt sind seine Reden gegen König Philippos II. und Alexander den Grossen von Makedonien; er wurde in Geldaffären verwickelt, gefangengesetzt und zur Flucht getrieben. 29 Petrarca denkt hier an ummauerte Städte. 30 Ad Att. 1,16,7. 31 Boni viri, schreibt Petrarca, boni homines wird man häufiger gesagt haben. Solche „vertrauenswürdigen Leute“ gab es schon lange, bevor ständige Korporationen entstanden; sie walteten als Exekutive bürgerlicher Anordnungen. In der Frühzeit gehörten sie oft zum Gefolge der Stadtherrn, der Bischöfe. 32 Iuv. Sat. 3,143–144. 33 Petrarca denkt an Danaë, der sich Zeus als Goldregen aufdrängen konnte, obwohl ihr Vater sie in einem Gefängnis behütete. 34 Von „Nachfolgern“, successores, kann Petrarca höchstens sprechen, wenn er hier unter Gott den menschgewordenen Gottessohn versteht. Eine solche Gleichsetzung ist bei ihm nicht selten. Eine gewisse Unachtsamkeit bleibt bestehen; die zeitgenössische hohe Geistlichkeit, die er meint, bezeichnet er sonst richtigerweise als Nachfolger der Apostel, nicht Christi. 35 Zum Datum vgl. Wilkins, Eight years 103–104; und wie zu allen Briefen auch Dotti, Vita, hier den Indice dei luoghi petrarcheschi. Dass der Brief schon im April geschrieben worden sei, wie Piur meinte, ist unwahrscheinlich.

Fam. 20,2, an Neri Morando1 Überall sei die römische Kaisergewalt glücklicher als unter dem Arktos. 1. Petrarca fügt dem beendeten Schreiben eine kürzere Antwort auf das neue Schreiben an. 2. Er meint aber, seinen Kummer selbst im Schweigen auszudrücken. 3. Das Kaisertum findet im Norden nicht die ihm nötige Wärme. 4. Des Cäsars unwürdig ist eine Unterwerfung seiner Macht unter einen Papst. 5. Dass das Pferd des päpstlichen Gesandten gegen den Kaiser ausschlug, bereitet ihm geringe Sorgen. 6. Er tadelt aber, dass der Papst dem Kaiser den Aufenthalt in Rom verbietet und dass dieser nur gekommen ist, um die Kaiserkrone zu holen. 8. Er lobt seinen Freund Lelio. (Juni 1355)

1. Noch hatte ich meiner vorangehenden Epistel mein Siegel nicht aufgedrückt, als mich – sieh da! – eine neue überraschte und nötigte, den Siegelring wegzulegen und die abgelegte Feder erneut zu ergreifen. Und obwohl Dein neues Schreiben länger ist als Dein voriges, wird es mit einer kürzeren Antwort zufrieden sein; denn weder ist die Klage über unsere Zeit zu wiederholen nötig – da ich sogar im Schweigen davon spreche und auch die Sache selber sie ausruft –, noch hindert Dich etwas daran, einfach das in meinem früheren Brief Gesagte auf Deinen neuen zu beziehen. Auch ist mein Schmerz heute nicht geringer als er gestern oder früher war, und das Trostwort in Deiner heutigen Epistel nicht weniger wirksam als das in Deiner gestrigen. 2. Kommt dazu, dass ich zu Deinen neuesten Nachrichten nicht klar auszudrücken wage, was ich denke, Du deswegen aber nicht minder gut verstehst, was ich denke und vorbringe. Oft ist das Schweigen zur Äusserung innerer Vorgänge besser geeignet gewesen als jede Art von Rede; wie denn Niobe mit Schweigen so gut wie Hekuba mit Bellen den Schmerz ihres Herzens bekanntmachte.2 Als daher gemäss der Sage die eine in einen Stein und die andere in eine Hündin verwandelt war, verkündete das stumme Steinbild der einen gewiss mindestens so laut wie die kläffende Wut der andern das eigene Elend. 3. Das aber will ich nicht verschweigen, dass ich das Schicksal der Cäsaren erkenne. Es ist im Westen und im Süden und schliesslich allerorts glücklicher gewesen als unter dem Bären.3 So eisig ist dort alles, so sehr fehlt dort jede edle Begeisterung, so sehr die dem Kaisertum lebenswichtige Wärme! Gib uns, Fortuna, sofern die Parzen4 uns Cäsaren von der Art der römischen verwehren, doch wenigstens wieder solche aus Spanien, wie Theodosius, oder solche wie Severus aus Afrika, wie Philippos aus Arabien oder wie Alexander aus Syrien!5 4. Weh, was würde nun jener gewaltige Baumeister der Einherrschaft6 dazu sagen, dass sein Nachfolger mit einem bescheidenen Priester7 um Bescheidenheit wetteifert? Erinnert sich Caesar ja gewiss jenes stolzesten Königs der Gallier, der gemäss dem Historiker Florus8 einst gedemütigt „in sein Lager gekommen war, seinen Kriegsschmuck und seine Waffen ihm vor die Füsse warf und sagte:9 ‚Nimm das! Einen tapferen Mann hast Du als

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tapferster überwunden‘.“ Viele ähnliche Beispiele bieten sich an; denn reichhaltig ist die Materie und wortreich die Entrüstung. Doch ich werde meine Heftigkeit zügeln, damit es nicht heisst, ich hätte mich bloss unter dem Zwang und Diktat des Zorns erleichtert. 5. Freilich, was Du über die Zusammenkunft des Cäsars mit dem päpstlichen Legaten in grösster Hellsicht voraussagst, nehme ich rückhaltlos an und meine beinahe, die Wirklichkeit vor mir zu sehen. Nicht dass mich das alles überraschte, habe ich doch schon selber oft mancherlei dagegen vorgebracht! Aber aus dem Vergangenen schliesse ich auf das Künftige. Somit bin ich auch weniger deshalb beunruhigt, weil das Reittier des Legaten10 gegen den Cäsar ausschlug, als darum, weil ich erkannt habe, dass die Gemüter ausschlagen und weil ich zudem weiss, dass „keine Gewalt eine ebenbürtige neben sich duldet.“11 6. Sollten zum Beleg dafür alte Beispiele nicht ausreichen, so würde ich fürchten, ein neuer Fall werde uns ein weiteres liefern. Es scheint ja, der Bischof von Rom habe längst dem Princeps Roms verboten, in Rom zu bleiben. Davon spricht ein Gerücht, und darauf deutet die Flucht des Cäsars. Er hat Italien nicht begieriger aufgesucht als wieder verlassen, weshalb mir überflüssig zu sein scheint, einen zu vertreiben, der ohnehin noch so gerne das Weite sucht und den man, selbst wenn man wollte, nur mit grosser Mühe zu halten vermöchte. 7. Wie ich nun nämlich begreife, ist er hierher in der alleinigen Absicht gekommen, die Kaiserkrone an seinem angestammten Sitz zu empfangen. So viel und nicht mehr ist an Ehrerbietung geblieben! Dagegen ist der Nachfolger Petri – weil besser gesichert als der Nachfolger Caesars12 – nicht einmal um derlei besorgt und wertet seine Krone am Tiber nicht höher als an der Rhone. Und dass einer mit Krone und Kaisertitel zufrieden sei und aus Rom sich entferne, das duldet er nicht bloss, nein, das befiehlt er auch! Und ihm, dem er den Kaisertitel gestattete, um ihm die Kaiserherrschaft niemals zu gestatten – oh absonderliche Ränke der Menschen –, öffnet er das innerste Heiligtum der Krone, um ihm die Feste und die Stadt, seinen kaiserlichen Wohnsitz, verschlossen zu halten! Doch genug davon! 8. Dass mein Lelio das grösste Vertrauen des Cäsars erworben hat, freut mich und wundert mich nicht;13 denn nichts ist gieriger beim Raffen als die Tugend, nichts zäher beim Festhalten. Sie reisst hin und sie fesselt, und was sie einmal gefesselt hat, hält sie gefesselt auf immer. Nicht den geringsten Zweifel habe ich je gehegt, dass ein solcher Mann nicht allein bei diesem menschlichsten der Fürsten, sondern auch bei jedem andern, sogar bei einem von eher rauher Denkart (wüsste der wenigstens die Tugend zu schätzen), Liebe verdienen könnte, sobald er auch nur Beachtung verdient hätte. 9. Wer wäre denn so ungeschlacht, dass er „Laelius“ nicht liebte, diesen Namen, der ein Preislied auf die Weisheit und eine Verheissung der Freundschaft ist!14 Wenn aber das blosse Gerede über Tugend bewirkt, dass wir einen verehren, dem wir niemals begegnet sind, ich meine jenen früheren Laelius, was muss dann die uns offen entgegentretende Tugend des unsern vermögen!

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10. Ich glaube,15 auf alle Einzelheiten geantwortet zu haben. Denn auf das Ende Deines Briefes, wo von häuslichen Sorgen die Rede ist, will ich in anderer Schreibweise und gesondert eingehen, wie ich es gewohnt bin.16 Dank sage ich Dir jedenfalls, weil Du, was ich gänzlich dem Vergessen anheimgab (so dass ich meinte, ich hätte Dir nicht einmal davon gesprochen), so gut im Gedächtnis aufbewahrst. Du bist offensichtlich um meine Lage weit mehr besorgt als ich selber, was wunderbar wäre und fast unglaublich, würde nicht dem Wunder Deiner Fürsorge meine weit und breit bekannte Sorglosigkeit Abbruch tun. Lebe glücklich, und denke an uns! (Juni 1355)17

Anmerkungen 1 Vgl. das vorangehende Schreiben an den selben Adressaten. Der Text steht auch bei Piur, Briefwechsel und in Petrarca, Aufrufe. 2 Hecuba oder griechisch Hekabe war die zweite Gemahlin des Priamos; sie erlebte im Troischen Krieg den Tod ihres Gatten und ihrer neunzehn Kinder und verwandelte sich in ihrer Wut in eine Hündin. Niobe, Tochter des kleinasiatischen Königs Tantalos, prahlte vor Leto, der Mutter des Apollon und der Artemis, mit der grossen Schar ihrer Kinder, worauf ihre Kinder durch die beiden genannten Götter erschossen wurden und sie selber die Verwandlung in Stein erduldete. 3 Gemeint ist das Gestirn. 4 Drei Schicksalsgöttinnen. 5 Vgl. Personenreg. 6 Das ist Iulius Caesar. 7 Karl IV. mit Papst Innozenz VI. sind gemeint. 8 Epit. 1,45,26. 9 Gemeint ist Vercingetorix, ein Averner; er gewann in allen gallischen Stämmen Anhang und leistete Caesar mit seinem kriegstüchtigen Heer bedeutenden Widerstand, bevor er sich 53 v. Chr. ergab. Er wurde jahrelang in Haft gehalten und 46 hingerichtet. Vgl. Caesar, Bellum Gallicum Buch 7. 10 Gemeint ist der päpstliche Legat Kardinal Pierre Bertrandi.Vgl. Fam. 19,11 und 19,12 mit Anmerkungen 11 Luc. Phars. 1,93–94. 12 Beim Eigennamen schreibe ich ae, nicht beim Titel, um Unsicherheiten zu verhindern. 13 Vgl. das Empfehlungsschreiben Fam. 19,4, das Petrarca für Lelio verfasst hat. 14 Hinweis auf die beiden Männer namens Laelius, die mit Scipionen befreundet waren und für ihre Freundschaftstreue berühmt wurden. Vgl. Fam. 19,3,3 und Personenreg. 15 Im MS γ folgt: „Das wundert mich eher (und damit füge ich hier an, was ich im früheren Schreiben überging), dass er dem Legaten, der zur Kaiserkrönung lange vor ihm verreiste, in so erheblichem Masse zuvorkam. Doch rührt das wohl einzig daher, dass – wie üblich – Fortuna den einen träge macht und die Tugend den andern eifrig. Und über das Folgende mich nicht zu wundern, ist mir unmöglich: Beide verliessen die Rhone, um an den Tiber zu reisen, weil der römische Fürst, ehrfürchtiger als der Papst, die höchste Krone noch immer da erbittet, während der Nachfolger Petri, besser gesichert als der Nachfolger Caesars, sich um solches nicht kümmert. Doch wie hätte der Kardinal, mit dem roten Hut auf dem Kopf und prangend im purpurnen Mantel, auch auffallend durch sein grosses Gefolge, den Luchsaugen unseres Landsmannes entgehen können, der bis nach

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Pisa gelangte, während der andere inzwischen kaum bis Genua kam, so dass er, um den andern zu treffen, zurückkehren musste? Ich vermute allerdings, der eine sei zu Land und der andere zur See hergekommen. Hierüber und über Eure allgemeine Lage möchte ich durch Deine und seine Briefe benachrichtigt werden.“ 16 Zur Gewohnheit vgl. Fam. 18,7,4. Stilo alio soll heissen: in italienischer Sprache. Für „Vulgäres“ hielt Petrarca eben die Vulgärsprache für passend, nicht das edle Latein. 17 Vgl. das Datum des vorangehenden Schreibens an Neri.

Fam. 20,3, an Galeotto Spinola1 Ermahnung, die Leitung der Republik Genua zu übernehmen. 1. Petrarca freut sich über politische Pläne des Angesprochenen. 2. Er dankt dem Schicksal, das den Verbannten nach Mailand verschlagen hat. 3. Auch ermahnt er ihn, auf eine leitende Stellung in Genua nicht wegen seines Alters zu verzichten. Mailand, am 18. Dezember (1357).

1. Nichts, grossherziger Mann,2 nichts Erfreulicheres, wahrhaftig, kann ich mir ausmalen als dieses erlauchte und der Befehlsgewalt so würdige Antlitz, auf dem die edlen Sorgen Deines unbesiegbaren Mutes leuchten. Nichts Angenehmeres überdenke ich immer von neuem als Deine wunderbaren Worte, die, ich weiss nicht was, doch nicht bloss etwas dem Plebejischen und Gewöhnlichen völlig Fremdes, sondern auch etwas dem bloss Menschlichen und Vergänglichen durchaus Fernes anklingen lassen. Nichts Lieberes denke ich mir, als dass ich eines so bedeutenden Menschen Gunst und Wohlwollen nun, wenn zwar spät, verdiene, nachdem ich immerhin deren Erstlingsgaben schon früher in Deinem hochedlen Bruder empfunden habe. 2. Und Deiner kurzen Verbannung wegen wünsche ich mir in aller Dankbarkeit Glück, weil sie Dich auf einige Zeit in diese Stadt verstossen hat und mich damit am Anblick der ersehnten Gegenwart eines schon früher geliebten und bekannten Freundes teilhaftig machte. Schliesslich erhoffe ich nichts Froheres als Deine Leitung der Republik, in welcher Dich Gott, Deine Tüchtigkeit und Deine edle Herkunft zur Führung bestimmen, damit sie, die jetzt durch feindselige, lächerliche Tumulte erschüttert wird, dank Deiner Weitsicht und Autorität wiederhergestellt werde. 3. Nun also zeige der Welt, wie Du schon oft getan, wer Du bist und wieviel Du vermagst, und dies nun in dem Mass, als Du, über Deine Person hinaus gewachsen, an Grösse, Bedeutung und Ansehen gewonnen hast. Wahre Tüchtigkeit spürt nichts vom Alter, sie ist unsterblich. Sie verringert sich nicht mit den Jahren, sondern vermehrt sich und gelangt zur höchsten Höhe. Hat sie in der Jugend geblüht, ist sie fruchtbar in der Spätzeit. Du also schuldest jetzt, nachdem Du nicht auf unfruchtbarem oder sumpfigem Boden, sondern neben sprudelnden Wassern auf festem Boden Wurzeln geschlagen hast, Deine überreiche Frucht und den reifen Ruhm Deines vergangenen Lebens eben Deiner Vaterstadt. 4. Sie ruft Dich, hofft auf Dich und fordert Deine Hilfe. Eile zu ihr! Dein Alter hindere Dich nicht. Älter war Aratus, als er Sikyon, älter war Trasibulus, als er Athen, älter war Camillus,3 als er Rom aus der Knechtschaft erlöste. Eine ehrenhafte Aufgabe zeigt sich an, und eben Deinem Alter obliegt am ehesten, die unter sich zerfallenen Glieder Deiner Stadt zu einem Ganzen so zusammen zu fügen, dass die besseren über die schlechteren regieren. Denn geschähe das Umgekehrte, müsste wie bei einem menschlichen

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Leib notwendigerweise das Gemeinwesens, sei es Stadt oder Königreich, unter ausbrechenden Krankheiten hinsiechen. 5. Zu wanken und zu kranken hat Deine Vaterstadt schon begonnen. Erweise Dich als ihr hervorragender Bürger, als Arzt und als Vater. Und um nicht mehr zu sagen, als die Sache erfordert (fast als würde ich Deiner Tüchtigkeit misstrauen), füge ich nichts Weiteres an. Nur schweigend, doch nicht etwa als einziger, will ich das Unternehmen Deiner bewährten Geschicklichkeit verfolgen. Handle, ich bitte Dich, gewaltiger Held, pflichtbewusst, wie Du sollst, kraftvoll, wie Du pflegst, mit Glück, wie wir hoffen! Und verfüge über mich als den Deinen nach Belieben, sofern einem so tüchtigen Mann in einer so geringfügigen Sache jemand von Nutzen sein kann Bleibe wohlauf und denke an uns, und lebe und wirke! Mailand, am 18. Dezember (1357)4

Anmerkungen 1 Die Spinola gehörten zu den alten Adelsgeschlechtern Genuas. Stimmt die Jahreszahl 1357, kann man vermuten, Galeotto sei – wie viele andere genuesische Adlige – im Herbst 1356 oder früher ausgewandert und habe in Mailand mit Petrarca Kontakt pflegen können. Vgl. die Angaben im Überblick, auch Wilkins, Eight years 155–156 und 132 mit dem Hinweis auf Giorgio Stella, Annales genuenses, in: Muratori RIS 17, 2, Mailand 1730. Vgl. auch oben das Schreiben Petrarcas Fam. 14,5,29 an die Genuesen und gemäss Personenreg. die anderen Stellen zu den Genuesen. 2 Im Lateinischen steht hier wie in Anreden oft: vir. Es wird richtig sein, das Wort nicht mit „Herr“ zu übersetzen. 3 Aratus (Aratos), aus Sikyon, * 271 – † 213; floh, nachdem 264 sein Vater in Parteikämpfen ermordet worden war, nach Argos, befreite dann 251, also noch jung, seine Vaterstadt vom Tyrannen. Petrarca hat möglicherweise den Vater mit dem Sohn desselben Namens verschmolzen. Dieser hatte ein ähnliches Schicksal und verstarb recht bald nach seinem Vater. – Trasibulus (Thrasybulos) bereitete 411 der Oligarchie in Athen ein Ende. – Bei Camillus, der 396 über Veii triumphierte, kennt man Lebensdaten so recht und schlecht wie von den voraus Erwähnten. 4 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 155–156 und Petr. corresp. 80 f.

Fam. 20,4, an den Genuesen Marco1 Ermahnung, bei begonnenen Studien auszuharren. Über antike Redner und Rechtsgelehrte und über moderne Advokaten. 1. Für Petrarca ist es gefährlich, über Jurisprudenz zu sprechen. 4. Ob er seine Rechtsstudien bedauern soll, bleibt ihm unklar. 6. Man muss das Studium wählen, für das man sich eignet. 8. Von der Wertschätzung der frühesten Rechtsprechung. Der Rechtsgelehrte Solon wandte sich im Alter der Dichtung zu. 11. Der Rechtsgelehrte war Redner. 12. Die Leistung Justinians. 13. Die Bewältigung der verschiedenen Teilgebiete der Jurisprudenz stellten ungeheure Anforderungen an die Juristen. 16. Von der höchsten Stufe ist die Rechtswissenschaft zu einer unteren und noch tieferen abgesunken. Vertreter der verschiedenen Stufen. 25. Gute Juristen sind jetzt selten; doch bleibt ihre Wissenschaft an sich gut. 30. Bei allen Taten kommt es auf die Gesinnung an, und über diese urteilt nur Gott. 34. Hindernisse im Studium sind zahlreich. 37. Wichtig ist vor allem, dauerndes Schwanken aufzugeben. Mailand, am 28. Mai (1355/1359).

1. Sehr viele Brieflein habe ich von Dir empfangen; und alle haben den selben Inhalt! Du forderst mich auf, Dich zum Ausharren beim kürzlich begonnenen Studium des Zivilrechts zu ermahnen, denn Du glaubst, mein Wort besitze wirklich eine gewisse Kraft, Deinen Mut zu stärken, der wegen der Neuheit der Aufgabe schwankend und wegen ihres grossen Umfangs von Zweifeln geplagt sei. Solches von mir zu erhoffen, rät Dir Deine Liebe zu mir und redet Dir Deine Bescheidenheit ein, diese schönste Gabe des Geistes und diese erste Stufe zur Tugend wie zur wahren Ehre. 2. Nicht unüberlegt, wahrhaftig, sondern mit aller Absicht habe ich Dir zu antworten aufgeschoben, um es schliesslich, wenn Du es zulassen solltest, mir aus dem Sinn zu schlagen.2 Schwierig nämlich ist die Sache, ja wohl schwieriger, als Du denkst, da mir Sprechen gefährlich und Schweigen abträglich ist. So nämlich steht es um mich, dass mir das Reden über dieses Studium Anklage, das Schweigen Verachtung, die Wahrheit Hass und das Scherzen Hohn einträgt. 3. Als ihren Abtrünnigen bezeichnen sie mich und tun, als hätte ich, kaum den heiligen Altären zugeführt, sie entweiht und im Stich gelassen, ja die „Geheimnisse der Ceres von Eleusis“3 der Menge ausgeplaudert. Dabei war ich, Freund, zu diesem Studium von meinem Vater bestimmt worden, als ich kaum das zwölfte Jahr überschritten hatte, war zuerst nach Montpellier, dann nach Bologna geschickt worden, brachte dann für die Studien ganze sieben Jahre auf und merkte mir davon die Anfangsgründe, soweit mein Alter und mein Verstand es gestatteten. 4. Wollte man mich fragen, ob ich diese Zeit heute bereute, würde ich zögern. Denn ich wollte eben gerne, ich hätte nach Möglichkeit alles kennengelernt, bedaure nun, einen so grossen Teil eines so kurzen Lebens vertan zu haben, und werde es so lange bedauern, als mir vom Leben etwas übrig bleibt. Ich hätte während dieser Jahre etwas anderes tun können, etwas Edleres oder etwas meinem Wesen besser Entsprechendes. Denn es wird bei der Wahl irgendeiner Sache nicht immer das Schönste vor-

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gezogen, sondern eher das für den Wählenden besonders Angemessene. 5. Sonst wären alle Menschen auf das eine und selbe Studium ausgerichtet, weil unter allen Dingen immer Eines alle anderen überragen muss. Und würden alle ihre Neigung auf dieses Eine ausrichten, was geschähe dann mit den anderen? Wenn alle nach Philosophie oder Dichtung ausschauten, wie stünde es dann um das Seewesen, wie um die Landwirtschaft und die anderen Tätigkeiten, dank denen man dem Leben der Sterblichen zu Hilfe kommt? 6. Lass jeden Platon oder Homer sein, mach jeden zu einem Cicero oder Vergil! Wer ist dann Landwirt, Händler, Baumeister, Schmied, Schneider oder Gastwirt, ohne welche die grossen Begabungen Hunger leiden und, weil sie Dach und Speise entbehren, von der Höhe ihrer edlen Studien abgedrängt werden? Glücklicherweise ist vorgesorgt und die Vielfalt an menschlichen Bemühungen und Handlungen unabsehbar gross4 und von einer Art, dass nicht allein die höheren den geringeren, sondern auch umgekehrt die geringeren den höheren zur Zierde und Unterstützung gereichen. 7. Ich weiss sehr wohl, Freund, dass einst manche vom Studium des Zivilrechts vielfachen und grossen Ruhm erwarteten, nämlich damals, als die Menschen die Gerechtigkeit aus freiem Antrieb pflegten und als bei ihnen, wie Sallust5 gesagt hat, „das Recht und das Gute ihre Geltung nicht so sehr dem Gesetz als vielmehr ihrer Natur verdankten“. Obwohl schon damals, nämlich wegen der unendlichen Verschiedenheit der Dinge und der Flüchtigkeit des Gedächtnisses, Gesetze notwendig waren! Heute haben sie als Mittel zur Bändigung des Übermuts und zur Bezähmung der Leidenschaften, vor allem also, weil das Menschengeschlecht ohne sie nicht bestehen könnte, aber nicht weil man die Tugend oder irgendein Gebot verehrte, einen gewissen Wert. 8. Viele Urheber und Ausdeuter und Lehrer dieser zivilen Rechte geniessen bei verschiedenen Völkern hohes Ansehen, und wollte ich von ihnen gründlicher berichten, wäre das sehr aufwendig. Am glanzvollsten unter allen Namen ist derjenige Solons, des Gesetzgebers von Athen. Er hat seine Vaterstadt, diese berühmte Quelle der Philosophie und Redekunst, mit gesunden Einrichtungen ausgestattet, doch lesen wir, er habe sich später als schon alter Mann der Poesie zugewandt.6 9. Und sollte er nach reiflicher Überlegung so gehandelt haben, was für ein richtungweisendes Urteil ergäbe sich doch aus dem Umstand, dass diese hohe Autorität sich wie ein Abtrünniger von den Studien abkehrte? Wer wollte sich da noch scheuen, das selbe vorzuziehen, was er unzweifelhaft damals vorzog, als ihm weder der volle Besitz seines Verstandes noch die Fülle seines Wissens oder seine langjährige Erfahrung fehlten? 10. Freilich könnte es sein und scheint der Wahrheit recht nah zu kommen, dass dieser wahrhaft grossartige Alte nicht etwa nach irgendeinem wertenden Vergleich der Studien, sondern einzig zum Vergnügen und zur Vermeidung von Arbeit sich selber einige Nachsicht gönnte und deshalb seine harte und drückende Beschäftigung gegen eine angenehme Musse vertauschte. In diesem Fall

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wäre er weniger brauchbar als Exempel für junge, zum Dienst am Gemeinwesen geborene Leute, und eher den wohlverdienten Greisen nützlich, die Ähnliches versuchen wollten. Denn ihnen könnte man eine ersehnte und höchst ehrenhafte Ruhe nicht versagen, wenn sie sich auf den vorzüglichen Mann beriefen. Doch wie es sich verhielt, bleibt umstritten, und mich zu entscheiden, fehlt mir alles. 11. Wer denn wagte, über den Beweggrund Solons Phantastereien vorzutragen? Hat man doch zu beachten, dass von ihm zwar manches, jedoch kein einziges Denkmal seines Geistes, das eine bestimmte Annahme erlauben würde, bekannt ist. Und bei einer so lang vergangenen und unsicheren Streitfrage eine blosse Vermutung zu äussern, die ich nicht einmal durch sichere Überlegungen stützen könnte, wäre geradezu lächerlich. Deswegen muss man sie zweifelnd stehen lassen, um sich an das zu halten, was feststeht, nämlich dass es einmal eine Zeit gab, in der die Rechtsgelehrten, die zugleich Redner waren, ungemein grosse Hochachtung genossen. 12. Diese Gattung von Gelehrten war gewiss zu jeder Zeit äusserst selten, ja noch seltener als die der hervorragenden Dichter, deren Seltenheit wahrlich bekannt ist. Denn von welch ungeheuerlichem Geistesvermögen zeugt nur schon das zivile Recht für sich allein! – Unendlich war es, bevor es in einen gewissen Rahmen zusammengefasst wurde! Iulius Caesar, der diese Tat zu erbringen plante, wurde durch seinen vorzeitigen Tod daran gehindert, und so hat denn Iustinianus7 diese Sammlung vorgelegt, jedoch erst viele Jahrhunderte später. Trotzdem ist bis heute das zivile Recht noch äusserst umfangreich und wegen seiner vielfachen stark verästelten, feinsten Unterscheidung der Fälle auch verworren, verwickelt und knifflig. – Und doch wird vom Juristen auch noch verlangt,8 dass er die umfassende Kenntnis fast aller Streitfragen, die vor Gericht und sonstwie zu behandeln sind, in der Rolle des Redners mit der ganzen Fülle von Sprachkünsten und im herrlichsten Wortlaut vortrage. 13. Ein höchstes und, wenn ich recht sehe, ganz einzigartiges Wunderwerk des Verstandes und Gedächtnisses sterblicher Menschen ist das, wenn ihnen nicht einmal genügt, sich die nötigen Kenntnisse verschafft zu haben, vielmehr auch für notwendig gilt, bei einem unerwarteten und plötzlichen Angriff des Gegners und bei einer Gefährdung eines Streitfalls „alles zur Hand“ zu haben, und gemäss einem Wort des Augustus9 „in bar auszuzahlen.“ 14. Ja selbst das reicht nicht aus, nein, all das mit Geisteskraft und Schulwissen Erworbene, das mit Fleiss und Gedächtnis Festgehaltene soll man auch noch „für die Überzeugungskunst zurichten,“ wie die Rhetoriker10 das nennen, damit es in einer der Sache angepassten, wirkungsvollen, schönen und den Menschenverstand mitreissenden Ausdrucksform vorgetragen werde. Da wird sich also niemand wundern, wenn an Vertretern einer solchen Kunst stets grosser Mangel geherrscht hat. Nicht in einer einzigen Disziplin, sondern in unzählig vielen zeichnen sie sich aus, und zwar nicht wie andere Menschen, sondern auf eine andere, einzigartige und ganz eigene Weise und vorab in ausnehmend treffsicherer Redegewandtheit.

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15. Nur schon diese Redekunst allein und für sich betrachtet „ist etwas ungemein Grossartiges und Vielgestaltiges“, weswegen sie, wenn wir Severus Cassius11 glauben, „noch keinem so ganz zugänglich war, dass er sie völlig hätte erfassen können.“ Die Männer, die sich in dieser sprachlichen, aus so vielen Einzeldingen bestehenden Meisterschaft hervortaten, hat man in hohen Ehren gehalten, und nicht zu Unrecht hiess es von ihnen, redend vermöchten sie einer Sache sich zu bemächtigen und die Herzen der Menschen in ihre Gewalt zu bringen.12 16. Von dieser Art waren bei den Griechen Demosthenes, Isokrates und Aischines,13 und bei uns waren es Cicero, Crassus und Antonius,14 übrigens noch einige andere mehr, doch behaupten die drei genannten leicht ihre Führerstellung, obwohl auch Iulius Caesar15 diesen höchsten Ehrenrang erreicht hätte –, was nicht einmal seine Feinde verneinen –, oder zweifellos zu erreichen vermocht hätte, wären ihm nicht die Beanspruchung durch viele Geschäfte, die Kriegslast und die Befehlsgewalt hinderlich gewesen. 17. Später ist man, da ja der Halt auf dem Gipfel oft kurz und der Abstieg immer leicht ist, niedersteigend zu jenen anderen Männern gelangt, die nach der Abkehr von der höchsten Beredsamkeit sich bloss die nackte Rechtskunde aneigneten, darin aber immerhin ausgezeichnete Früchte hervorbrachten. In dieser Gattung ist – wie bestens bekannt – Griechenland hinter Rom zurückgeblieben. 18. Hier nun befinden sich jene in Eurer Wissenschaft verehrungswürdigen Namen, die Ihr zu den ältesten zu rechnen pflegt, wo sie doch fast schon neu und jungen Datums sind, nämlich: Iulius Celsus,16 Salvius Iulianus, Neratius Priscus, Vindius Verus, Salvius Valens, Volusius Maetianus, Ulpius Marcellus, Iabolenus und Scaevola (gemeint ist der „Knappredner“17, denn andere des selben Namens hat es früher gegeben, berühmt durch ihren Mut, ihre Wahrsagung oder ihren Pontifikat18). 19. Unter dem letzten der verschiedenen Scaevola war dann Papinianus tätig, und diesen bezeichnen, so fern ich mich recht erinnere, die zivilen Gesetze selber19 als einen Mann von grösstem Scharfsinn, und der Historiker Aelius Spartianus20 nennt ihn „Hort und Schatzkammer der königlichen Wissenschaft“. Von den Erwähnten haben die ersten drei unter dem göttlichen Hadrian, die nächsten fünf unter Antoninus Pius, der neunte unter Marcus Antoninus, dem Philosophen und klügsten der Herrscher, Ansehen erworben,21 während der zehnte22 unter dem scheusslichsten Ungeheuer Antoninus Bassianus umgebracht wurde, weil er dessen Verwandtenmord nicht rechtfertigen wollte. 20. Nach den Aufgeführten haben Iulius Paulus und Domitius Ulpianus, äusserst erfahrene Rechtskundige, die übrigens Assessoren des Papinianus gewesen waren, unter Aurelius Alexander23 in grossen Ehren gelebt und so viel Lob und guten Ruf genossen, dass man ihrem Herrscher den Titel eines gewaltigsten Kaisers vor allem deshalb zulegte, weil er die Republik nach dem Rat solcher Männer regierte.24 Ich übergehe die andern. Sich auf Hervorragendstes zu beschränken, muss genügen.

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21. Das aber habe ich um so sorgfältiger dargestellt, als eine grosse Zahl der Gesetzeskundigen unserer eigenen Zeit sich um den Ursprung des Rechts und die Begründer der Rechtslehre gar nicht oder nur wenig kümmert. Man gibt sich gemeinhin mit der Kenntnis dessen, was über Kontrakte, Gerichtsurteile und Testamente juristisch gesichert ist, zufrieden, hat man doch zum Zweck der Studien den materiellen Erwerb gemacht. Allerdings würde gerade ein Überblick über die Anfänge der Wissenschaften und über ihre Urheber einer inneren Befriedigung nicht ermangeln und ausserdem zum Verständnis des einschlägigen Stoffes einiges beitragen, ganz abgesehen davon, dass der genannte Zweck mit dem Wesen der mechanischen Künste, aber durchaus nicht mit dem der freien und edlen Künste übereinstimmt. Denn diese verfolgen naturgemäss eben ein freieres und würdigeres Ziel. 22. Hast Du dem bisher Gesagten Deine Aufmerksamkeit geschenkt, dann zeigt sich Dir nun ein zweiter Niedergang Deiner Disziplin, ein noch viel grösserer als der erste. Und Du wirst Dich nicht wundern, wenn Du wiederum einem fast allumfassenden Naturgesetz begegnest, da nämlich das einmal ins Gleiten Geratene hinstürzt und seinen Sturz mit seinem Gewicht zunehmend beschleunigt. Rascher also wie auch schwerer ist daher der Fall von der Mitte zur Tiefe als vom Gipfel zur Mitte. 23. Wie der erste Schritt von der Hochburg der vielfältigen Wissenschaft und göttlichen Beredsamkeit hin zur einen Disziplin der Billigkeit und Rechtskunde führte, so der zweite Schritt von eben dieser Disziplin zur geschwätzigen Ignoranz. Und gegen einen noch tieferen Absturz ist, es sei denn ich täusche mich, schon volle Gefahrlosigkeit entstanden.25 Was denn liegt unterhalb? Die Gesetze, von den Vätern mit so viel sittlichem Ernst und geistiger Überlegenheit umschrieben, werden nicht mehr verstanden oder dann missdeutet; und die Gerechtigkeit, von jenen so ungemein gepflegt, wird von den Neuen mit Absicht entehrt. 24. Und welch käufliche Ware ist daraus geworden! 24. Zunge, Hand und Verstand, Seele, Schönheit und Ruf, Zeit, Treue und Freundschaft, ja überhaupt alles wird feil und dabei nichts höher geschätzt als die Bezahlung. 25. Wie sehr fehlt es doch überhaupt an einer Grundlage, die Epochen und Sitten miteinander zu vergleichen! Jene früheren wappneten die Gerechtigkeit mit sakralen Gesetzen; die unsern liefern die entwaffnete und entkleidete der Prostitution aus. Früher wurde die Wahrheit hochgeschätzt, heute der Betrug. Früher gab man den Völkern sicheren und unumwundenen Bescheid, heute zieht man die Streitereien mit Tücken und Lügengeweben in die Länge und wünscht gar, was mit dem Richterschwert zu erledigen man berufen ist, werde unendlich dauern. 26. Was aber verweile ich bei einem Vielerlei? Wer immer möglichst prompt ein widerborstiges, unbequemes Gesetz nach seinem Bedürfnis verdreht, ist der Aufgabe eines Juristen gerecht geworden und hat den Titel eines Gelehrten verdient. Betritt aber dann und wann ein Einzelner fern solcher Betrügereien den geraden Pfad der

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nackten Wahrheit, wird er von Gewinn und Begünstigung ausgeschlossen und muss damit rechnen, als ganz gewöhnlicher Schwachkopf verschrieen zu werden. 27. Für diesen Pfad, den Du spät betreten hast, forderst Du, als wären Dir Schwierigkeit und Zeitumstände bewusst, von mir Ermutigung und Ansporn. Ich weiss nicht, mit welchen Worten ich es tun soll, doch ich tue es trotzdem. Gesetze sind eben nicht schlecht, auch wenn sie, zwar zum öffentlichen Nutzen geschaffen, oft ins Verderben verkehrt werden. Ebenso ist auch das Gold darum nicht schlecht, weil es vielen ein Anlass zur Sünde, vielen ein Anlass zur Gefahr wird. Auch Eisen ist nicht deshalb schlecht, weil es – zwar zum praktischen Gebrauch der Menschen, zum Ackerbau, zur Verteidigung des Vaterlandes bestimmt – oft einen Anlass zur Tötung von Einzelpersonen oder zu einem Bürgerkrieg bietet. Wäre alles, was die Menschen missbrauchen, an sich schlecht, was in aller Welt wäre dann nicht schlecht? 28. Unsere leiblichen Sinne wären schlecht,26 unser Verstand wäre schlecht, auch unser Vermögen wäre so und unsere Nahrung, von der wir leben. Selbst Gottes Mitleid und Geduld wird von vielen missbraucht. Und oft sind es gerade Dinge der besten Wesensart, von denen wir infolge unserer Verderbtheit einen ungemein schlechten Gebrauch machen. Gut also sind die Gesetze und der Welt nicht allein nützlich, sondern auch notwendig. Doch wer sich mit der Anwendung der Gesetze beschäftigt, kann gut oder schlecht sein. Und je grösser die Zahl der Bösen, um so grösser ist der Ruhm der Guten. 29. Bei den menschlichen Tätigkeiten nimmt die Absicht des Handelnden den höchsten Rang ein. Viel hängt davon ab, mit welchem Vorhaben man an eine Sache herangeht. Denn nicht die Sache an sich, sondern eines Menschen Gesinnung verdient Lob oder Tadel. Sie ist es, die Gutes ins Böse und scheinbar Böses ins Gute verkehrt. Sie ist es, die das eine und Gleiche so verschiedenen Zielen zuwendet, dass man schliesslich nicht mehr eine einzige Sache, sondern gar zwei sich völlig widersprechende zu sehen meint. 30. Zum Tempel geht der Priester, um sich Heiligem zu widmen; dahin geht auch der Ehebrecher, um der Wollust zu frönen. So kann man vor den Altären Unzucht und umgekehrt im Hurenhaus Schamhaftigkeit pflegen. König Saul27 schonte den König der Amalekiter, und mit dieser Milde verdiente er Gottes unerbittlichen Zorn; Phinees aber durchbohrte mit seinem Schwert einen Israeliten28 und eine Ausländerin, und diese seine Härte war Gott genehm, dem Volk nützlich und für ihn selber ein Fundament zum dauernden Ruf der Gerechtigkeit. 31. Sieh, da wird nicht nach eines beliebigen Menschen Urteil, sondern nach einem göttlichem eine grausame Untat, nämlich der Mord, gelobt und Menschlichkeit verworfen. Tausend Fälle dieser Art könnte ich aufzählen, wäre es nötig; doch in dem einen hast Du den Geschmack aller übrigen. In die Rechtsschule lockt den einen das Verlangen nach Gewinn, den andern die Liebe zur Gerechtigkeit. Allgegenwärtig ist als Prüfer der Gesinnungen, Begutachter der Absichten, Verteiler der Talente Gott, und so wird denn der eine als Mietling29

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und Marktschreier, der andere als hervorragender Lehrer des Guten und Richtigen und als Beschützer der Gerechtigkeit abgehen. 32. Diesen Worten kannst Du schon entnehmen, wohin ich ziele. Wolltest Du umfassende Auskünfte erfragen und mir vollkommene Freiheit des Ratschlags erteilen, würde ich Dich heissen, vieles von allen Seiten zu betrachten, dabei Talent und Neigung gegeneinander abzuwägen, denn es gibt ja bei den Lehrstoffen wie bei den Erkenntnissen verschiedene Grade. Überdies ist je nach Talent dies oder jenes erforderlich. 33. Rücksicht auf das Alter würde ich empfehlen, denn wirklich, wo man eine Frucht zur rechten Zeit verlangt, muss dem Wachstum eine tüchtig treibende Kraft schon von Anfang an innewohnen. Kein Baum trägt Früchte im Herbst, wenn er im Frühling nicht geblüht hat. Obwohl also gewisse Leute der zarten Jugend Ferientage zubilligen, sind sehr erfahrene Menschen30 doch der Ansicht, eine zu grossem Fortschritt bestimmte Begabung müsse man nicht erst von jungen Jahren auf, sondern eher schon mit der Ammenmilch fördern. 34. Auch manche Schwierigkeiten würde ich Dir entgegenhalten; so in erster Linie das Ehejoch, besonders dann, wenn es nicht für einen Herkulesnacken bestimmt wäre, sondern für einen, dem mit keiner neuen Bürde, sondern eher mit einer Entlastung geholfen wäre. Gross müssen die Kräfte des Leibes wie des Geistes sein, sollen sie gleichzeitig dem Studium wie der Ehefrau genügen. 35. Sich über finanzielle und andere Anforderungen Rechenschaft zu geben, würde ich angelegentlich raten, denn aus fast keiner anderen Disziplin gewinnt man weniger Vergnügen und mehr Überdruss. Schliesslich würde ich behaupten, die Sorge für das eigene Ansehen sei nicht zu vernachlässigen. Beim gegenwärtigen Zustand der Jurisprudenz kann man vielleicht ein grosses, aber kaum eines von Dauer erlangen. Ich könnte Dir Advokaten unserer Zeit aufzählen, deren Namen vor kurzem noch heller klangen als alle anderen, heute aber heiserer tönen und unbekannter sind als alle. 36. Doch nun, da Du nicht Ratschläge für Dein Beginnen, sondern Hilfe zum Fortgang Deiner Tätigkeit erbittest und ich wohl nur ein einziges Vermögen, das des Wortes zu bieten habe, ermahne und ermuntere ich Dich so: Dem Studium, dem Dich entweder Deine Überlegung oder Dein Los zugeführt hat, solltest Du Dich mit Entschlossenheit widmen und Dich nicht täglich auf neue Beratungen für Dein Leben einlassen.31 Nichts wirkt an einem Reisenden verächtlicher, als wenn er nicht weiss, wohin er zielt; und nichts an einem Menschen so ärgerlich, als wenn er nicht weiss, was er will. 37. Hisse die Segel nicht, wenn Du das Steuer verloren hast; sonst gehst Du, wohin nicht die Vernunft, sondern Fortuna Dich treibt. Für uns muss zum vornherein feststehen, wo wir ankommen wollen, damit wir nicht wegen häufiger Änderung eines Vorhabens, wie es nachts beim Verfehlen des Weges geschieht, vorwärts zu gehen meinen, und in Tat und Wahrheit zurückkehren. Wo das geschieht, sehen wir altersschwache Leute von ganz kindischem Wesen wieder beim Ausgangspunkt ihres Lebens anlangen, nämlich genarrt durch finstere Nachtschatten und erschöpft von den sich kreuzenden Irrgängen ihrer Pläne.

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38. Viele Jahre lang habe ich Dich wahrhaftig im ständigen Wogen Deiner Überlegungen treiben und unter dem Wehen unsicherer Meinungen ermatten sehen. Mach Dich nun voll Zuversicht daran, so bitte ich, nur Eines zu wollen. Erst wenn Du Dein Schiff dem bestimmten Ufer zugewandt, auch Deine Segel dem bestimmten Wind überlassen und das Steuer fest in der Hand hast, erst dann wird Deine Fahrt gefahrlos sein. Dann wirst Du auch gewiss vorankommen, und wenn nicht so tüchtig, wie Du möchtest, dann doch zweifellos so, wie der Himmel es vorsieht. Du wirst vorankommen, sage ich, und nicht im Kreise herumgehen. Nichts ist der Ruhe so abträglich, nichts dem Schwindel so nah wie das Kreisen. 39. Schliesslich lautet meine Auffassung so: Wie unter den Ersten der Grösste zu sein, viel bedeutet, so gilt auch viel, unter den Zweiten hervorzuragen. Und vergleicht man die Zeiten, so ist unter Dritten sich auszuzeichnen, nicht übel. Und eines Lobes nicht unwürdig ist doch wohl, wenn ein Studierender so gesinnt und das Ende seiner Studien so beschaffen ist, dass der mit Titeln Geehrte nicht wie andere sich durch Heranzüchten von Unrecht, Säen von Lügen und Stapeln von Goldbarren hervortut, vielmehr ein Beschützer der Gerechtigkeit und Verteidiger der Republik, ein Schrecken für die Anmassung der Advokaten, ein Zügel für die Habsucht der Richter, schliesslich eine Zufluchtsstätte für Arme und ein Stolperstein für Übeltäter ist. Lebe wohl! Mailand, am 28. Mai (1355/1359).32

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe Petrarcas an diesen Adressaten mit dem Zunamen Portonario, Fam. 3,12 und 17,9. 2 Eine ähnliche Absicht verrät Fam. 23,9,1 an Karl IV. 3 Hor. Carm. 3,2,26–27. Sprichwörtliche Redensart; vgl. Suet. Aug. 93. 4 Über diese Vielfalt spricht Petrarca in einem Brief an seinen Bruder Fam. 10,5. 5 Catil. 9,1. 6 Zu Solons Verdiensten um die Poesie und insbesondere um Homer vgl. Fam. 24,12,9 mit Anm. 7 Er lebte von 483–565, wurde 527 zuerst Mitregent seines Onkels Iustin, dann im selben Jahr Kaiser. Seine Gesetzessammlung, der Codex Iustinianus erhielt mehrfache Redaktionen und Ergänzungen. 8 Was Petrarca hier in die Gegenwart setzt, hat er auf die Vergangenheit bezogen. 9 Das Wort bei Quint. Inst. 10,1,6 und Sen. Maior, Controv. 2,6,20. 10 Apposite ad persuadendum heisst es im Lateinischen. Vgl. Cic. De inv. 1,5,6. 11 Berühmter Prozessredner aus der Zeit des Augustus, schlagfertig, auch verletzend und böse, aus Rom verbannt und unter Tiberius mit Vermögenskonfiskation bestraft. Vgl. Sen. Maior Controv. 6,42. 12 Vgl. das Lob auf die Sprachgewalt des Königs Roberto Fam. 4,3,2. 13 Isokrates, 436–338, trat wegen seiner schwächlichen Konstitution nicht öffentlich auf, hatte aber nachhaltige Wirkung dank seinen Lehrschriften. Aischines, ca. 390–315, weitgehend im Dienst der

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makedonischen Politik, damit Feind des Demosthenes. Dieser, 384–322, Gegner der Makedonier, Verteidiger der athenischen Selbständigkeit, „Volksführer“. Das Wort „Redner“ ist gleichbedeutend mit „sprachgewandter Ausdeuter von Rechtsfragen.“ Vgl. aber Fam.19,18,22 das Zitat aus Sen. Maior, Contr. 1, praef.: vir bonus dicendi peritus. Zu den drei Namen vgl. Personenreg. Cicero, 106–43; Crassus Licinius, 140–91; Antonius, M. A., 143–87 (Grossvater des Triumvirn). Caesar, 100–44; er liess sich sprachlich ausbilden, schulte sich auf dem Forum und bei Studien in Rhodos. Ab 55 hielten ihn seine militärischen Aufgaben von solchen Bemühungen ab. Es folgen Namen sehr bedeutender Juristen der Hoch- bis Spätklassik, für die man im Allgemeinen aber nur wenige exakte Lebensdaten erbringen kann; sie sind auch nicht in jedem Fall klar von einander zu unterscheiden; die meisten sind Verfasser von Epistolae, Digesta, Quaestiones, Responsa, und manche vertreten die eine der beiden gegnerischen Juristenschulen des Proculus (ca. 10 – ca. 50/70) oder des Sabinus (1. Jh.). Die Gegensätze der Schulen sind unklar. Vgl. unten Anm. 21. Das war Cervidius Scaevola. Breviloquens hier wie ein Übername verwendet. Zu den Namen vgl. die folgenden Anmerkungen. Hinweise auf den Helden Mucius Scaevola, dann auf den Rechtsgelehrten Mucius Scaevola, den Augur, schliesslich auf den Rechtsgelehrten Mucius Scaevola, den Pontifex.; vgl. Personenreg. Cod. iur. civ. 6,42, de fideicomm. 30. Angeblich einer der Verfasser der Historia Augusta wohl von Anf. 5. Jh. Das Zitat steht ebenda Sev. (Septimius Severus) 21,8. Vgl. oben Anm. 13.- Iulius (Iuventius) Celsus, 129 n. Chr. Konsul; gehört zum kaiserlichen Rat Hadrians. Salvius Iulianus, 100-ca.170, Rechtsgelehrter unter Hadrian und Antoninus Pius. Neratius Priscus, 2. Jh., Haupt der Schule des Proculus, Kasuist. Iavolenus amtete unter Traian und Hadrian. Volusius Maetianus, geb. wohl vor 110, war vielleicht Lehrer des vorgenannten Iulianus, Lehrer von Kaiser Marc Aurel. Ulpius (Marcellus?), 2. Jh., gehörte zum kaiserlichen Rat des Antoninus Pius und Marc Aurel. Cervidius Scaevola war hauptsächlich unter Marcus Aurelius tätig. Der zehnte ist eben Papinianus Aemilianus, Schüler des Scaevola. Er durchlief seine Laufbahn unter Septimius Severus, wurde vom Sohn und Nachfolger des genannten Kaisers, das ist von Caracalla (Bassianus) im Zusammenhang mit dessen Mord am Bruder Geta 212 umgebracht. Iulius Paulus und Domitius Ulpianus gehörten zum kaiserlichen Rat des Marcus Aurelius Severus Alexander (222–235). Assessoren Papinians waren sie während dessen Tätigkeit als Praefectus praetorio. Historia Augusta am angegebenen Ort. Lateinisch: unde iam cadendi amplius plena, ni fallor, securitas parta est. Hier ergibt sich im Lateinischen eine doppelte Verneinung: quid omnino uspiam non malum? Non corporei sensus… Der Klarheit wegen wird sie in der Übersetzung vermieden. 1. Reg. 15,7 ff. bis 31. 1 Reg. 15,8 ff. Num. 25,7 und Ps. 105,30. Dieses Wort mercen(n)arius kennt Petrarca vor allem aus der Bibel, vgl. z. B. Lc.15,17; Jo. 10,12. Vgl. Quint. Inst. 1,1,8. Der Adressat war in öffentlichen Diensten gestanden, hatte dann an den Eintritt in einen Orden gedacht, bevor er das Jus-Studium begann; vgl. oben Anm. 1 und Wilkins, Eight years 237 f. Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, ebenda.

Fam. 20,5, an Barbato da Sulmona1 Bitte um grössere Vorsicht. 1. Verehrende Worte über Niccolò Acciaiuoli. 2. Von zwei Personen, die sich Barbato als Freunde Petrarcas vorstellten. 3. Die eine von ihnen hatte der Dichter mit Werken zu Barbato geschickt. 4. Unruhen in Ligurien haben Petrarca an einer Reise in den Süden gehindert. Am 27. August (Mailand 1358).

1. Nie, beim Herkules, nie kommen Deine Zeilen zu mir, ohne eine Fülle von Freuden oder einen Trost für Sorgen zu bringen. Was sie immer tun, das haben sie jetzt reichlicher als sonst getan und haben, was allen Liebenden vertraut ist, Furcht und Verdächtigung (durch Trennung und langes Schweigen verstärkt) von der Seele verjagt. Abgesehen von ihrer Freundlichkeit enthalten sie neben Deinem Namen auch den des vortrefflichen und hoch erwünschten Mannes,2 an dem ich mich in einzigartiger Weise freue und dank irgendwelchem angenehmen Gefühl erquicke, wiewohl ich ihn niemals sah, es sei denn, dass ich – so vermute ich – Dich sehend auch ihn sehe. So nämlich macht die Liebe aus zwei einen einzigen. 2. Von jenen andern, die sich, wie Du sagst, im vergangenen Jahr unter Hinweis auf ihr nahes Verhältnis zu mir an Dich heranschlichen, ist mir der eine – der aus Bologna – durchaus bekannt, der andere aber von jenseits der Alpen überhaupt nicht. Sei bitte künftig vorsichtiger und händige nicht einzelnen Individuen, die meinen Namen im Munde führen, von ungefähr Geldsummen aus. In viel zu weitem Umkreis ist unsere Freundschaft bekannt, und wolltest Du fortfahren, auf schmeichelnde Reden solcher Leute einzugehen, wärst Du verloren, denn dann könnten sie Dir nicht allein Dein Beutelchen, sondern auch Dein Kässelchen, ja auch Dein Haus vollkommen aufzehren. 3. Jener allerdings, den ich selber einen Bekannten hiess, hätte nach seiner Ankunft unsere Ohren zweifellos mit viel willkommenem Geplauder von Dir vollgestopft; doch ist er unterwegs – trage ihm nichts nach, sondern habe eher Mitleid – völlig unerwartet und von einem traurigen Ende überrascht gestorben. Just durch seine Hand hätte mein von mir eigenhändig kopierter Parthenias, den Du erbeten hast, zu Dir gelangen sollen, ebenso ein kurzes Gedicht,3 das als Einleitung zu den Dir gewidmeten Briefen gilt. 4. Und was schicke ich Dir vom Übrigen und was nicht? Ich hoffte, gezogen von einer unerfüllbaren Lust sowohl der Augen wie auch des Herzens, nach Rom zu reisen, um endlich meinen Wanderungen – um nicht von Irrwegen zu sprechen – ein Ende zu setzen.4 Das wäre schon vor zwei Jahren geschehen, hätten mich nicht die Unruhen im transpadanischen Ligurien5 gefesselt. 5. Ich werde dennoch reisen, wie ich hoffe, und etwas von unseren Spielereien mitbringen, nach denen Du, wie erinnerlich, immer sehr grossen Appetit gezeigt hast. Dann werde ich Dich gemäss meinem Recht nach Rom zitieren6 oder ich werde, was ich seit langem wünschte

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und sofern es sich gibt, bei den Pelignern7 eindringen. Inzwischen grüsse mir jenen angesehenen Mann, der mir durch gleichen Namen nicht weniger verbunden ist als durch gleiche Gesinnung.8 Und lebe wohl! Am 27. August (Mailand1358).9

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren im Personenreg. aufgeführten Familiares, die an Barbato gerichtet sind. Zwischen Fam. 12,7 vom 20. Februar 1352, dem bisher letzten der Reihe, und 20,5 sind, wenn die Datierungen stimmen, gut sechs Jahre vergangen. Wilkins führt in Studies, 9. Kapitel zur Korrespondenz zwischen Petrarca und Barbato für diese Zwischenzeit mehrere Metrica, auch Miscellanea und von den Varia Nr. 22 auf und verweist dabei auf verlorene Briefe Barbatos. Var. 22 vom 4. Oktober 1355 findet man bei Fracassetti Bd. 3, 353 ff. (Var. 49, ebenda 438 f., ist früher anzusetzen, auf 18. Januar 1347). In Misc.11, wohl vom selben Datum wie Var. 22, spricht Petrarca seinen Wunsch aus, sich an einem abgelegenen Ort in der Nähe Neapels niederzulassen, um dem Freund Barbato nahe zu sein. 2 Gemeint ist Niccolò Acciaiuoli der Gross-Seneschal von Neapel. Petrarca wird ihn zum ersten Mal erst am 17. August 1360 sehen; dann wird er ihn in seinem Haus in Mailand empfangen können, wie Fam. 22,6 schildert. Schriftlich hatte er sich schon früher mit ihm unterhalten; vgl. Personenreg. 3 Vgl. Wilkins, Studies 213 f. und 244–245. Parthenias lautet der Titel von Petrarcas erster Ekloge im Carm. Buc. Mit dem kurzen Gedicht ist Metr. 1 gemeint. Von den Eklogen schreibt Petrarca wieder an den selben Freund Fam. 22,2. 4 Das heisst: mich endlich auf Dauer in Rom niederzulassen; vgl. oben Anm. 1; Fam. 15,8,7 ff. und 15,9,26. 5 Das Wort Ligurien benützt Petrarca für die Gegend ungefähr der Lombardei. Von einem Reiseplan hatte Petrarca schon gegenüber Francesco Nelli, Fam. 19,7 (vom Februar/März 1356) gesprochen und dort den selben Verhinderungsgrund angegeben. 6 Zur grossen Enttäuschung hatte Barbato im Jubeljahr 1350 eine Begegnung mit Petrarca in Rom verpasst; vgl. Fam. 12,7,4. 7 Paeligni: Volk südlich des Tibers im Sabinergebiet. Im alten Rom fürchtete man seine Zauberei; Petrarca erinnert sich an Angaben in Hor. Carm. 3,19,8 und Epod. 17,60 und deutet wohl eine scherzhafte Drohung an. 8 Gemeint ist Francesco Sanità. Dieser wurde in vorangehenden Briefen Barbatos erwähnt. Vgl. Wilkins, Studies, 9. Kapitel 241–247. 247–248. 252–253. Barbato schickte Petrarca durch Sanità ein Paket mit Scheren wohl 1355; vgl. ebenda 240 f. 9 Zu Inhalt und Datierung vgl. Wilkins, Studies die in Anm. 3 angegebenen Stellen; auch Eight years 171–172.

Fam. 20,6, an Francesco Nelli, Vorsteher an der Apostelkirche1 Beschwerde wegen abgefangener Briefe. 1. Gründe für langes Schweigen: Forschungen und Schreibwut. 2. Freimütige Aussagen kann man nicht verschicken. 4. Häufig erreichen Briefe den Adressaten nicht. 6. Auf dem Rückweg von Padua hat Petrarca zwei Briefe Nellis entdeckt; einer wurde ihm überlassen. 7. Petrarca freut sich über den Besuch eines Freundes (Boccaccio). Auskunft über sein Leben kann dem Freund der Briefbote geben. (März 1359)

1. Für mein langjähriges Schweigen, dessentwegen ich in Deinem Brief – sag’ ich: recht heftig oder recht sanft, recht ehrerbietig oder recht freimütig? – getadelt wurde,2 nimm diese Begründung von wenigen Worten an. Viele Tage lang hielt mich zuerst ein ungestümer Drang zum Studium fest, denn ich wollte nicht, dass er irgendwie unterbrochen werde, sodann auch meine Schreibwut, die bei ihrer grössten Heftigkeit nur um so empfindlicher ist und bei den mindesten Störungen zu erlahmen pflegt. Kam dazu Deine Reise ins Ausland,3 die mich für einige Zeit im Unsicheren liess – und unsicher bin ich noch immer –, wo in aller Welt mein Brief Dich finden könne; schliesslich ein Mangel an Boten, ein wohlbekannter Übelstand selbst mitten in den Städten – so sonderbar es klingt – und da nicht weniger als für den Einsiedler in den Wäldern. 2. Dabei leugne ich nicht, dass ich Dir in dieser Zeit des Schweigens (über welche Du gemäss Deinem Recht Dich beklagst), zwar etwas geschrieben habe, das ich aber nachher beim Überlesen, nicht abzuschicken für richtig ansah. Und dies aus keinem anderen Grund, als weil es mir allzu wahr und allzu offenherzig vorkam.4 Nichts ist in unserem Jahrhundert so anstössig wie eben Wahrheit und Offenheit. 3. Ich zog also vor, Dich als eine einzelne Person, mit der ich mich jederzeit auf einfachste Art wieder versöhnen könne, mit Stillschweigen zu kränken, statt viele Tausende von Menschen, welche mir die lautere Wahrheit einst zu Feinden gemacht hat, mit dem Stachel aufreizender Rede aufs neue zu verwunden. Denn bei nicht wenigen von ihnen haben sich die blutigen Narben noch nicht geschlossen und hat sich der Schmerz der alten Wunden noch nicht gelegt. 4. Zudem möchte ich nicht übergehen, was wir schon oft beklagt haben, dass nämlich Deinen Episteln manches abträglich ist, so die Schönheit Deiner Darstellungsweise,5 die verhindert, dass sie unberührt und anders als nach langer Zeit zu mir gelangen; doch tut das nicht bloss die etwas seltene und ausserordentliche Form der Darstellungsweise, sondern auch die Deiner Schriftzüge, da nicht allein die Anmut in Thema und Wort oder die angeborene Originalität des Geistes, sondern auch die etwas fremdartige Ausschmückung Deiner Hand dem Verstand und Auge schmeicheln. 5. Was hingegen meinen eigenen Briefen, die zu Dir gehen wollen, hinderlich ist, weiss ich nicht, während ich immerhin weiss, dass mir viele ver-

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loren gingen,6 die mitten auf ihrem Weg, sozusagen als gestrenge Matronen stehenblieben, weil ihnen gegen ihren Willen wie von schändlichen Ehebrechern Gewalt angetan wurde. Unter all dem ist uns nicht bloss die Freiheit unserer Handlungen, sondern auch die unserer Neigungen beschnitten worden. 6. Da ich also kürzlich von Padua zurückkehrte – ich war wegen irgendeiner Verpflichtung dorthin gegangen,7 doch Venedig hatte ich zur Erholung aufgesucht –, habe ich mitten auf der Strecke zwei sehr schöne Zwillingsschwestern entdeckt, die Deine ungemein fruchtbare Brust kurz vorher in einem einzigen Akt zur Welt gebracht hatte. Sie befanden sich in den Händen einiger zwar nicht übler Leute, aber solcher, dass ihre Bewunderung für ähnliche Dinge mich mehr verblüfft, als wenn ein Maulwurf sich einen Spiegel oder ein Ochse Flügel, ein Esel eine Zitter, ein Affe ein Kettchen oder ein Rabe etwa Schminke verschaffen würde.8 Und was erwartest Du? Vergnügt bin ich weitergegangen, nachdem gemäss dem Entscheid jener „Erbengemeinschaft“9 der eine der Briefe ihr und der andere mir zufiel, obwohl nur ich allein in Deinem Lob schriftlich erwähnt bin! 7. Sieh, Freund, ich habe Dir einen Grund versprochen aber mehrere Gründe für das Schweigen bezahlt, wäre auch bereit, noch vieles andere aufzuzeichnen, würde ich nicht durch zeitliche Bedrängnis eingeengt. Die habe ich mir selber verschafft, nein es ist das wunderbare Beisammensein mit unserem gemeinsamen Freund!10 Und wäre seine Kürze zu verlängern, würde mir nichts fehlen als Du allein. Ich habe gar nicht bemerkt, wie die Tage mir – wohltuend und schweigend – entglitten. Doch was der Feder versagt ist, wird die mündliche Rede vollbringen. Diesen Boten da11 wirst Du mit vollem Vertrauen anhören; denn wirklich, was ich denke und was ich tue, wie mein Leben verläuft, ja schliesslich all meine Sächelchen und Frägelchen sind ihm bekannt. Lebe wohl und denke an mich! (März 1359)12

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Adressaten und Cochin, Un ami de Pétrarque, sowie Wilkins 8. Kapitel zur Korrespondenz zwischen Petrarca und Nelli in Studies 193–212 und Eight years 184–185; 254–257. 2 Petrarca meldet sich nach Erhalt von Nellis Epist. 20 vom 15. November 1358; vgl. Cochin 252–259. Beinahe zwei Jahre lang hatte Nelli von Petrarca nichts vernommen. 3 Nelli hatte sich im Frühjahr 1357 auf höheren Befehl nach Avignon begeben, um die Wahl eines Abtes für das Kloster S. Salvi bei Florenz durchzusetzen; vgl. Dotti, Vita 321, auch Nellis Epist. 18 vom 8. September 1357 mit Angaben über Zustände in Avignon und Begegnungen mit Freunden, auch mit Petrarcas Sohn Giovanni; vgl. überdies Epist. 19 vom 19. März 1358 und Epist. 21 vom 17. März 1359; auch. Wilkins, Eight years zu den genannten Daten.

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4 Gedacht ist wahrscheinlich an Sine nom. 17 und 18 über Zustände an der Kurie in Avignon; zu finden lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 296–327. 5 Petrarca unterscheidet im folgenden Satz zwischen decus stili, stili formam und apicum formam; auch unterscheidet er sogleich zwischen Qualität von Sache und Wort, Geist und Finger. All das bewirkt, dass die Briefe aufgefangen, angehalten, gar gestohlen werden. 6 Vgl. unten im Abschnitt 6 ein Beispiel für Entwendung von Briefen. Über Verluste abgesendeter Briefe äussert sich Petrarca im vorangehenden Schreiben Fam. 20,5; und auch sonst mehrfach. Es kam vor, dass Freunde des Dichters etwas Schriftliches direkt in dessen Haus entwendeten; vgl. Fam. 5,17,1. 7 Petrarca mag dort verschiedene Geschäfte erledigt haben, doch besass er in der Stadt ein Kanonikat, für das er einen Verwalter bestellen musste, wenn er nicht persönlich amtete. Von solchen Geschäften zeugt ein Dokument vom 24. Dezember 1358, unterzeichnet im Palast des Stadtherrn Francesco von Carrara; vgl. Wilkins, Studies 23. 8 Anspielungen an Tierfabeln; besonders der Esel, welcher die Leier spielt, obwohl er ihre Töne nicht hört, wurden gerne in Satiren erwähnt und auch bildlich dargestellt. 9 Hier ein juristischer Begriff: familia herciscunda, eine Erbengemeinschaft samt ganzem Vermögen an beweglichen und unbeweglichen Gütern. 10 Gemeint ist Giovanni Boccaccio; er befand sich, wie Nelli offenbar wusste, bei Petrarca in Mailand auf Besuch; das war vom 16. März bis nicht ganz 11. April 1359. Über gemeinsame Tätigkeiten und über Gesprächsthemen der beiden Freunde, sowie über andere Begegnungen berichten auch spätere Familiares wie auch Variae; vgl. Wilkins, Eight years 181 ff. 188–190 etc. 11 Der Bote ist Boccaccio selber, der nach Florenz zurück reist. 12 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 184–185.

Fam. 20,7, an Francesco Nelli1 1. Neue Klage über Zeitknappheit. 2. Nach kurzem Aufenthalt in Mailand ist Boccaccio bei schlechtem Wetter abgereist. 5. Nelli ist hinsichtlich der Briefzahl wahrscheinlich Petrarcas Schuldner. 6. Eben ist dieser damit beschäftigt, seine Briefe zu sammeln und erfreut sich der Hilfe eines gescheiten Freundes. Neue Feststellung, dass viele Schreiben abgefangen werden. Mailand, am 11. April (1359).

1. Nicht einen Deiner Briefe, sage ich, glaubte ich vor mir zu haben,2 sondern einen des Flaccus, dem gegenüber Caesar3 einst scherzte: „Du scheinst mir zu fürchten, Deine Schriftlein könnten länger sein als Du.“ Freilich was jenem gefehlt hat, das hast Du: eine mittlere, elegante Statur. Für ihn passte der Scherz, doch wie Du für die Kürze Deines Briefes eine gerechte Entschuldigung findest, das fragt sich! Ach was rede ich! Vorsorglich bist Du jedem unberechtigten Vorwurf mit dem Hinweis auf knappe Zeit begegnet. Ich glaube Dir, zum Kuckuck! Ich erleide ja häufig das selbe, möchte vieles schreiben und werde auf weniges beschränkt. 2. Übrigens, wenn Du nun fragst, ob Deine Briefe bei mir angelangt seien, so kannst Du in diesen neuen Zeilen die Antwort finden und übrigens auch im mündlichen Bericht des Freundes, den Du von mir grüssen sollst.4 Und zu seiner nun langen, mühevollen Unternehmung sage ich nichts anderes als dies: Es bedrückt, beschämt und bekümmert mich, dass ich einen solchen Mann bei so schlechtem Wetter von mir und meinen, vielmehr seinen Laren5 habe fortziehen lassen. 3. Aber sein Wille hat mich dazu gezwungen, hielt ich doch für ein Unrecht, mich ihm zu widersetzen. Dabei habe ich die bedrohlichen Winde, den schwarzen Himmel, die fegenden Wolken und übrigens das Fell des Widders6 (das sonst mit Gras und Blumen beglückte, jetzt mit Regen beschwerte) beschaut und ihn wiederholt darauf hingewiesen. Was willst Du? Weder hat in der Fabel Lykomedes7 den Neoptolemos noch Phoebos den Phaethon betrübter entlassen. Aber was hätte ich bei einem Freund ausgerichtet, wo doch der eine der Genannten nicht einmal bei seinem Enkel und der andere nicht einmal bei seinem Sohn sich durchsetzen konnte? 4. Also habe ich nachgegeben. Und nachdem mein besseres Ich gegangen war, verblieb ich in angstvoller Spannung, bis ich durch einen Brief von ihm vernommen hatte, er habe einen guten Teil der gefahrvollen Strecke überwunden und sei dem Po und dessen Begleitern, die an ihrer Mündung zu dieser Jahreszeit mit ungewöhnlicher Keckheit anschwellen,8 entronnen. Freilich wollte ich mich nicht früher beruhigen, als bis ich dank seiner oder Deiner Nachricht über seine Ankunft in seiner Vaterstadt9 Bescheid hätte. Nach der Überquerung des Königs der Flüsse hat er noch den Apennin, den Vater der Gebirge, vor sich, und dessen Joche für ihn zu ebnen, das bitte ich Jenen, von dem es heisst: „Er blickt zur Erde, und sie erzittert, er rührt an Berge, und sie rauchen.“10

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5. Bleibt mir noch zu gestehen, dass Du über mein Schweigen in diesen allerletzten Tagen mit gutem Recht geklagt hast;11 obwohl mir scheint, auf Deine Beschwerde habe mein früherer Brief zur Genüge geantwortet. Ziehst Du die ganze Zeit unserer Freundschaft in Rechnung, so bleibst Du mir, oder ich täusche mich, hinsichtlich der Briefzahl ohnehin noch immer ein Schuldner.12 6. Unter meinen Kleinigkeiten, die einige Leute Episteln heissen und die ich eben jetzt vorzüglich mit Hilfe der Finger eines geistreichen Mannes und Freundes zusammenhäufe,13 wird fast kein anderer Name öfter auftauchen als der Deine. Und dies ist so, wiewohl Dein oder mein oder unser beider Los, das heisst auch der unbändige und ungehörige Durst gewisser Scholastiker, der weit über den eigenen Becher hinaus nascht, viele unserer Briefe – eilen Deine her und meine hin –, beiseite geschafft hat. Lebe wohl! Mailand, am 11. April, in Eile (1359)14

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. 2 Petrarca antwortet hiermit auf Nellis Epist. 21 aus Avignon vom 17. März 1359. Er erhielt auf dieses Schreiben von Nelli Antwort in Epist. 23 vom 17. Mai 1359; Epist. 22, folgte erst im Juni (alle zu finden bei Cochin). Zu ihrer Datierung vgl. Wilkins, Eight years 27 f. 256. 3 Suet. Vita Hor. 4 Gemeint ist Boccaccio, der von Mailand nach Florenz zurückkehrte; vgl. Fam. 20,6,7. 5 Wie auch sonst oft will Petrarca mit seiner Formulierung sagen, er betrachte alles, was ihm gehöre, als Eigentum der Freunde. 6 Das Tierzeichen Widder steht für Frühling/April, und Petrarca schreibt im April. Das Fell des Widders nennt Petrarca im Gedanken an jenes, das Gedeon (Gideon) im Buch Richter 6,36 ff. sich von Gott als Zeichen erbat, weil er unsicher war, ob er die Israeliten in den Krieg gegen Madian führen solle. 7 Lykomedes, Grossvater von Neoptolemos, versuchte umsonst (vgl. Personenreg.), den jungen Mann von einer Beteiligung am Troerkrieg abzuhalten; Phoebos (Sonnengott, Apollon) konnte nicht verhindern, dass sein Sohn mit dem Sonnenwagen ausfuhr und einen Teil der Erde verbrannte. 8 Lateinisch: nunc ore ferventes. Boccaccio könnte den Tessin hinab zum Po und auf diesem ein gutes Stück weitergefahren sein, bevor er gezwungen war, die Strecke über den Apennin zurückzulegen. Nicht allein Petrarca hatte eine Vorliebe für Wasserwege. Dass die Flüsse zur genannten Jahreszeit alle über die Ufer traten und das Reisen zu Pferd sehr erschwerten, erfährt man schon in Fam. 9,10. 9 Das ist Florenz. 10 Ps. 103, 32 und 143,5. 11 Vgl. Fam. 20,6 mit Anmerkungen über Nellis Briefe. 12 Bei einer Nachzählung der Briefe müsste man eine gute Zahl der Variae und Metr. mit berücksichtigen. 13 An welchen Helfer Petrarca damals denkt, ist unsicher. Von einem zuverlässigen Lektor spricht er 1359 in Fam. 22,2; aber erst 1366 schreibt er an Boccaccio in Fam. 23,19,7 von einem jungen Kopisten sehr lobend, dieser werde die Arbeit an den Briefen zu Ende führen, vier Freunde aber hätten die Arbeit jeweils rasch aufgegeben. Über die Beschäftigung Petrarcas mit den Briefen in der

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vorausgehenden Zeit informiert neben Wilkins auch Dotti, Vita 213. 274 Anm. 185. Dottis Angaben über Briefe Petrarcas, zum guten Teil auf Wilkins fussend, findet man bei ihm leicht unter Indice dei luoghi petrarcheschi. 14 Vgl. oben Anm. 2.

Fam. 20,8, an Agapito Colonna den Jüngeren1 Eine Richtigstellung unter Verwunderung 1. Ratlosigkeit wegen eines Briefes. 3. Dank für die Aufzählung von Petrarcas früheren Bemühungen. 5. Staunen über die Klage, der reiche Petrarca verachte den Armen. 9. Einen „Baum der Eitelkeiten“ habe der Dichter nie geschrieben, den Namen des Adressaten nie in solchen eingefügt. 12. Mit der Vermehrung an Gut vermehrte sich der Aufwand. 14. Petrarca sei bedürfnislos. 16. Er preist das goldene Mittelmass, das ihm beschieden wurde. 18. Frage, wie er die Vorwürfe verdiente. 21. Er vermutet eine Strafe für sein langes Schweigen. Mailand, am 13. April (1359).

1. Den Anfang Deines Briefes habe ich vergnügt, die Fortsetzung betrübt, das Ende zweifelnd gelesen; über alles in einem Masse verblüfft, dass ich beinah glaubte, im Traum gelesen zu haben. Mit Deiner Feder hast Du mein atemloses Herz in so verschiedene Richtungen gehetzt, dass ich während der Lektüre nicht ahnen konnte, was Du unter dem Schreiben beabsichtigt hattest, noch wo Du den herumgejagten Leser schliesslich absetzen wolltest. 2. Was soll ich sagen? Noch scheint mir, ich sei nicht erwacht und träumte weiter. Und welchen Sinn ich Deinen Worten entnehmen soll, weiss ich nicht, denn allzusehr vermengst Du Bitteres mit Süssem, Trauriges mit Fröhlichem, Dunkles mit Heiterem, Fragwürdiges mit Gewissem, so dass ich fürchte, eine Mischung von Galle mit Honig oder dann Nektar mit Wermut, vielleicht aber irgendein ähnliches Gebräu von sonderbarem Nachgeschmack, wenn es solches gibt, geschlürft zu haben, Mit dieser Deiner Arznei hast Du ein Herz getränkt, das aus Deiner Quelle etwas recht Süsses erwartete, doch will ich sie, so ich kann, im Sprechen irgendwie verdauen. 3. Der erste Teil Deiner Epistel hat mir meine Jugend- und Deine Knaben- oder auch Jünglingsjahre in Erinnerung gebracht; und wie sehr ich zu jener Zeit Deine hervorragende Veranlagung zu wecken und zu fördern und mit allen Mitteln weiterzubilden bemüht war, ja mit welchem Eifer, mit welchen Kunstgriffen ich Dich „von flüssiger Milch zu fester Speise“2 geleitet, und wie ich Dich hierauf immer zu den Ersten gerechnet habe, dessen erinnerst Du Dich in gewissenhafter und getreuer Dankbarkeit. 4. Ich aber, so sage ich im Wunsch, niemandem an Liebe nachzustehen, rühme mich wahrhaftig keinerlei Verdienste an Deinem Fortschritt. Alles liegt an Dir, was immer es sei, und dass es eben im Verhältnis zur aufgewendeten Zeit bedeutend ist, beglückt mich. Nicht ich, ausser vielleicht in Freude und Bewunderung und Ehrung, die für edle Seelen ein kräftiger Ansporn zu sein pflegen, und so viel ich weiss, auch kein anderer Sterblicher, sondern einzig die göttliche Freigebigkeit und die unermüdliche Anstrengung Deiner glühenden Geisteskraft waren da wirksam. 5. Dabei freut mich allerdings, dass Du es anders siehst, und das mir – zwar aus einem ungültigen Vermächtnis – zugedachte Erbe eines grossen Ruhmes nehme ich

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nicht ungern entgegen. Und was immer an der Sache sei: Nichts könnte mir süsser schmecken und nichts erfreulicher sein als Dein oft erneuertes Vergegenwärtigen vergangener Erlebnisse und Dein schönes Zeugnis für mich. Aber wie grosse Bitterkeit sogleich über die angenehme Empfindung geträufelt wurde, das wollte ich nachdrücklicher sagen, wenn ich nicht Dich selber anspräche.3 Du hast mir ja in eben diesem Schreiben viel Stoff am einen wie am andern beschert! Ich nehme es dennoch in Angriff. 6. Du sagst also, freilich mit anderen Worten, aber durchaus gemäss diesem Sinn Folgendes – und zwar sagst Du es so, dass man meinen sollte, Du scherztest, während Du allerdings die Feder nur allzu hart und entschieden aufdrückst –, mich habe das alles Menschenwerk wandelnde und wechselnde Fatum zu grossem Reichtum erhoben, und so rühmte ich mich nun eines höheren Standes und der auserlesenen Schönheit meiner Häuser. 7. Dich aber habe die Härte des selben Fatums aus höherem Stand vertrieben, und den nun Mittellosen und Armen, der jedoch mit bescheidener Nahrung und schäbiger Kleidung unter einem kaum vor Regen schützenden Dach in kleiner Behausung zufrieden lebe, würde ich als einen ans Gestade der Schule von Bologna Verschlagenen, nämlich als einen den heftigen kurialen Stürmen (in denen wir langezeit herumtrieben) und dem Schiffbruch Entronnenen nun verachten, fliehen und vergessen. 8. Und damit nicht genug, fügst Du darüber hinaus noch an, was schlimmer ist – und wenigstens an diesem Punkt Deiner Anklage seien Deine Worte unverändert hingesetzt! – dass ich „das Los werfe über das Gewand des unschuldig Verurteilten.“4 Eben hierzu erkläre ich, eine solche Anklage könne ich bei aller Anstrengung nicht verstehen. 9. Auch jene andere Stelle nicht, wo Du sagst, ich hätte einen Baum der Eitelkeiten geschildert, und Du hättest gehört, darin sei Dein Name eingeschrieben! Ich dagegen weiss, dass ich keinen Baum der Eitelkeiten geschildert habe! Es sei denn, es gelte – wenn ein Kern Wahrheit anzuerkennen und zuzugeben nicht lästig fällt5 – überhaupt alles, was wir schreiben und lesen, was wir denken und sprechen, was wir handeln und wünschen, schliesslich dieses ganze Leben oder wenigstens ein grosser Teil davon für lauter Eitelkeit! Ist ja auch jener, der gesagt hat: „Eitelkeit der Eitelkeiten und alles ist Eitelkeit,“6 mit seiner ganzen Weisheit dem Schandmal allgemeiner Eitelkeit nicht entronnen! 10. Hierüber habe ich allerdings einmal ein kleines Werklein nach meiner Art und also weder in gehobenem noch in lässigem Stil zu verfassen begonnen, und ich hätte es vollendet, wäre mir nicht richtiger erschienen, die Sache hinauszuschieben, weil das Leben täglich an Eitlem etwas Neues hervorbringt und damit ein Büchlein immerzu anschwellen lässt. 11. Ausserdem habe ich bis heute weder darin noch sonst irgendwo Deinen Namen eingefügt; es fehlte mir dazu die Veranlassung, wenn auch nicht die Neigung. Doch wenn ich bis zu den berühmten Männern unserer eigenen Zeit vorgerückt wäre,7 hätte ich – von Dir spreche ich nicht, denn pflege ich friedlich

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gestimmt Dir nicht zu schmeicheln, soll auch nicht scheinen, ich täte es im Zorn – hätte ich also gewiss weder Deinen Onkel noch Deinen Vater mit Schweigen übergangen.8 Aber wegen bloss weniger klangvoller Namen wollte ich meine Feder nicht weit und breit durch eine grosse Finsternis lenken und habe deshalb meiner historischen Darstellung – teils Stoff, teils Mühe sparend – lange vor unserem Jahrhundert eine Grenze vorgegeben und an dieser festgehalten. 12. Da ich nun, wie ich sagte, das von Dir getadelte doppelte Unrecht hinsichtlich Kleid und Namen durchaus nicht begreife, gehe ich darüber hinweg und antworte nur auf das mir Verständliche folgendes: Was die behauptete Vermehrung meines Vermögens angeht, beachte doch bitte, ob nicht irgend jemand Dich – oder vielleicht Du mich – zum Narren hältst. Verneinen kann ich nicht, dass mein Jahreszins sich irgendwie vergrösserte und mir trotz meinem müssigen Stillsitzen einen Gewinn eintrug, der vielen betriebsam Suchenden verwehrt wird. Dass jedoch gleichzeitig der jährliche Aufwand zunahm,9 das veranschlagen jene nicht, die mit scheelen Augen an einem fremden Vermögen die Vermehrung messen, dagegen die Verluste nicht zählen, die ihnen stets gering vorkommen. 13. Solchen Leuten sage ich nichts anderes; sie werden durch ihren Neid schon genug gemartert. Dir aber, dem eine Rechtfertigung meines Lebens vorgelegt und glaubhaft gemacht werden soll, füge ich noch etwas bei. Ich habe etwas mehr an Einnahmen und etwas mehr an Ausgaben. Gegen Jahresende ist mein Geldbeutel schäbiger, schmutziger und leichter, nicht voller. Schon während einer längeren Zeit lebe ich im Reichtum und bin trotzdem an gar nichts reicher geworden, ausser an einer Reihe von Jahren und an einer kühneren Verachtung zeitlicher Dinge. 14. So sind meine Reichtümer beschaffen. Sie sind nicht das, was der Neid verkündet, sondern etwas viel Grösseres, und sie sind nach meinem wie gewiss auch nach Deinem Urteil etwas weit Zuverlässigeres. Das wirst Du nicht so verstehen, als wäre ich der Fortuna10 überdrüssig oder als wollte ich gegen sie, wie die Menschenmenge, die sie für etwas Grosses hält, nutzlose Beschwerden vorbringen. Vielmehr glaube ich in der Gefolgschaft der wahren Autoritäten, sie sei an sich selber ein Nichts.11 Und somit richtet sich meine Fortuna nach jenem Einen, den der Psalmist einst so angesprochen hat: „Mein Gott bist Du; in Deinen Händen liegen meine Geschicke.“12 Reichlich, grosszügig und gebefreudig sorgt Er, wenn nicht für meine Begehrlichkeiten, so doch wahrlich für meine Bedürfnisse. Dank also sei Gott, der in viel besserer Art als jener Vergilische Gott des Tityrus13 „uns diese Ruhe geschenkt hat“, und dies in so milder Weise und in beiderlei Schicksal so ebenmäßig, dass mein Herz weder quälende Not noch überbordende Fülle erleidet und ich mich doch wohl freuen darf, von den gegensätzlichen Extremen durch den selben Abstand entfernt zu sein. Bis heute reicht meine Habe für mich und fehlt nicht für darbende

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Freunde, und – was ebenfalls ein recht bedeutender Nutzen eines Vermögens ist – sie brennt eben die Neidischen und quält sie. 16. „Am besten ist das Mittelmass“, sagt Cicero, und Flaccus14 nennt es gar „golden“, um, wie ich meine, es denen als das Beste anzupreisen, die überzeugt sind, es gebe nichts Besseres als das Gold. Dieses Beste aller Dinge, dieses wahrhaftig goldene, ist mir dank Gottes Hilfe zuteil geworden,15 damit Du als Freund meiner Person und der Tüchtigkeit Dich über diesen Zustand wenigstens mit mir freuen, ihn nicht verhöhnen oder schlecht machen möchtest. Wonach sollte ich, genügte mir selbst dieses Los noch nicht, verlangen? Und wo sollte ich mein Ziel etwa festsetzen? Was bliebe mir denn noch vorenthalten, ausser etwa nach Völkerrecht eine Aufnahme unter die Arimaspen, damit ich mit einem einzigen Auge – oder richtiger mit keinem – Krieg gegen arktische Greife führte?16 17. Soviel zu meinen Vermögensverhältnissen, über die zu sprechen, ich – weiss Gott – nicht im geringsten gedacht hatte! Ist aber Deine Meinung beim Versuch, sie einzuschätzen, von der Wahrheit vielleicht abgeirrt, weil fehlgeleitet auf den Spuren eines Gerüchts, so wundert mich das nicht, konnten ja auch die Zeit, der Raum und die Natur der Sache einen Irrtum begünstigen. Erstens hat die Lage in Italien verursacht, dass unsere Abwesenheit so lange dauert, und zweitens pflegt selbst unter Anwesenden die Beurteilung privater Verhältnisse um so schwieriger zu sein, je leichtfertiger das Grosstun oder Jammern der Sterblichen ist. Denn da gibt es den Stolz, der unechte Schätze vorgaukelt, und da gibt es den Geiz, der seine erdichtete Armut beweint! 18. Wie Du hierauf einem Vergessen Deiner und auch meiner Person verfallen bist, darüber mich genug zu verwundern oder zu staunen, ist mir unmöglich. Du sagst ja – und würdest Du’s ohne ausdrückliche Begründung tun, so dass mir die Freiheit bliebe, Deine Rede zu entschuldigen, wie ich brennend gern tun wollte! –, infolge Deiner Armut, von der ich nicht weiss, wie sie trotz Deiner Herkunft und Tüchtigkeit sich bei Dir einnisten konnte, ja infolge Deiner Armut seist Du mir verächtlich geworden, also, bei Gott! infolge meines Besitzes! Wo ich doch dessentwegen, wie gesagt, weder bedürftig noch wohlhabend lebe und zukünftig an einem Zuviel oder Zuwenig wohl stets weniger werde vorweisen können! Meine Gleichgültigkeit gegenüber Materiellem wächst ja immer noch weiter, und mein restlicher Weg, für den man eine Wegzehrung benötigt, wird immerfort kürzer.17 19. Ach wie wahr sind doch die Sprichwörter! Das gilt besonders auch für dieses, man müsse manches Fässlein Salz gemeinsam verzehren, bis man dem Angebot einer Freundschaft genüge. Da verdiene ich nun also diese Deine beleidigende Meinung: Ich sei entweder infolge der mir zugeflossenen Schätze (wie gross oder klein) überheblich geworden, wobei ich jetzt mehrerer Leute Schuldner sei und die Missgunst gleichmütiger ertrüge und je höher ich gestiegen, desto tiefer fallen müsste; oder ich würde im Hinblick auf die Armut zwar nicht Dich (da ich unter allen Dei-

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nen Altersgenossen Dir besondere Verehrung bezeugte), aber doch jeden andern verachten. 20. Und dabei habe ich im Gegenteil auf viele, just weil sie reich geworden, von oben herab geschaut, nachdem ich vorher verehrend zu ihnen aufgeschaut hatte! Und zwar tat ich es nicht darum, weil Reichtum an sich verächtlich, dagegen Armut liebenswert wäre (denn von den Philosophen habe ich ja gelernt,18 beide seien zu den neutralen Werten zu rechnen), sondern weil eine lange Beobachtung mich gelehrt hat, dass für viele gerade die Entbehrung eine Schule der Tugenden gewesen sei, der Wohlstand aber eine Schule der Laster. 21. Wahrhaftig, nun bin ich des Schreibens schon müde und übrigens auch der Überlegung, was Dir denn eingefallen sei, als Du etwas ausdrücktest, was Deiner Feder und meinen Sitten völlig fremd ist. Könnte freilich sein, dass Du Dich für mein wirklich allzu langes Schweigen mit einer Zurechtweisung rächen wolltest, und mit wieviel Recht, untersuche ich nicht. Jede Zurechtweisung aus dem Munde eines so bedeutenden Mannes halte ich nicht allein für gerecht, sondern auch für willkommen, erfreulich und liebenswert. 22. Aber hättest Du Dich an mich erinnert, statt Dir eingeredet, ich hätte Dich vergessen, und hättest Du Dir nicht eingeredet, irgendwelcher Reichtum habe wie ein Becher der Kirke mich verwandelt, so wäre Dir nicht in den Sinn gekommen, mein Verhalten mit Verachtung statt mit natürlichen Verhältnissen zu erklären. Bekannt sind Dir längst meine Bedächtigkeit, auch meine Verpflichtungen und meine Sorgen; und diese pflegen, glaube mir, wenn der Tag sich neigt, dem Wanderer stets besonders heftig zuzusetzen.19 23. Kommt dazu die Schwierigkeit, Boten aufzutreiben. Denn obwohl Du mir zu meiner Verwunderung vorhältst, ich besässe Häuser von ganz wunderbarer und ungewöhnlicher Pracht, bin ich doch noch immer Gast bei Ambrosius20 in der äussersten Ecke der Stadt und oft auch versteckt auf einem Feld,21 ohne zu wissen, was in der Stadt vor sich geht. Nun aber lebe Du wohl! Und wenn Du kannst, so zwinge Dich zu glauben, dass ich weder reich noch bedürftig bin und dass ich, wer immer ich sei, wär’s nicht bloss schweigend, sondern gar stumm, jedenfalls der Deine bin. Mailand, am 13. April (1359).22

Anmerkungen 1 Der Adressat ist nicht zu verwechseln mit dem andern Agapito Colonna der Fam. 2,10 und Fam. 2,11. Es handelt sich um Agapito di Pietro di Sciarra, der zum weiteren Verwandtenkreis der Gross-Familie Colonna, damit zu ferneren Verwandten von Petrarcas verstorbenen Freunden Colonna di Stefano gehörte. Er war zur Zeit, da dieser Brief geschrieben wurde, Archidiakon in Bologna, später wurde er Bischof von Ascoli. 2 Vgl. Paulus 1Cor. 3,2 und Hebr. 5,12. 3 Lateinisch: dicerem expressius, nisi apud te ipsum loquerer.

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4 Hinweis auf die Soldaten, die bei der Kreuzigung Christi um dessen Tunika würfelten. Vgl. Mt. 27,35; Mc. 15,24; Lc. 23,34; Jo.19,23. 5 Ein allegorisch zu deutender Baum wird in Var. 50 beschrieben und erklärt. 6 Eccl. (Cohelet) 1,2; 12,8. 7 Petrarca denkt an sein Werk De viris illustribus. 8 Vgl. oben Anm. 1. 9 Ähnliche Angaben in Fam. 19,17,2 vom Sommer (1357). 10 Fortuna hier vor allem als Herrin über materielle Reichtümer gesehen. Zur Fortuna gibt es unzählige Stellen; vgl. z. B. Fam. 5,18,3 f.; 22,13,3 ff.; aber auch, besonders wichtig 8,1,15. 11 Auch hiermit wiederholt Petrarca oft Gesagtes; vgl. Fam. 22,13,7 und 8,1,37. 12 Ps. 30,15–16. 13 Ecl. 1,6. 14 Cic. De off. 1,36,130; 2,17,59; Hor. Carm. 2,10,5. 15 Vom Mittelmass an Gütern und seinen guten Wirkungen spricht z. B. auch Fam.19,16,12 f. 16 Ein mythisches, einäugiges Volk im Norden der Skythen; es kämpft gegen Greife, die Gold hüten. Vgl. Plin. Nat. 7,2,10; Pomp. De chorogr. 2,1,2; Gell. Noct. att. 9,4,6; Sol. Coll. 15,20,22–23. 17 Der selbe Gedanke von der Wegzehrung steht auch in Fam. 13,5,7; 14,4,17; 14,7,8 samt einem Hinweis auf Cic.Cato 18,66. 18 Sen. Ad Lucil. 82,10. 19 Von zunehmender Müdigkeit spricht gleich noch Fam. 20,11,4. 20 In einem Hause neben der Ambrosius-Kirche in Mailand. 21 Von Wanderungen über ein benachbartes Feld spricht Petrarca Fam. 21,14,3 ff. nach seinem Umzug zum Kloster des heiligen Simplicianus. 22 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 186–187.

Fam. 20,9, an drei Freunde1 Antwort auf ihren gemeinsamen Brief. 1. In der Zeitknappheit hätte Petrarca lieber gar nicht geschrieben. 2. Er beneidet die drei in Babylon gemeinsam lebenden Freunde. Am 12. Januar (1358 oder 1359).

1. Einen dreiteiligen Brief, mit drei grossen Schreibfedern verfasst und mit dreifacher Tinte geziert, habe ich dreimal, ja noch öfter mit Freuden betrachtet. Dazu bloss dies: Es gibt überhaupt nichts, was die listenreiche Redekunst nicht fertigbringt,2 und ich müsste, wollte ich ausführen, wie viel sie oft vermochte, weiter ausholen, als meine Zeit zum Schreiben jetzt gestattet. Sie ist so knapp, dass ich im Sinn hatte, lieber gar nicht zu schreiben als so wenig. 2. Die Kunst hat nun sogar das Eine vermocht,3 das ich nie für möglich gehalten hätte, nämlich dass ich Menschen, die in Babylon wohnen, beneide! Ja ich beneide Euch, die Ihr zwar in dieser schlechtesten aller Städte, aber in einem ehrenvollen Hause weilt, das von schlechten Begierden unberührt und den babylonischen Sitten unzugänglich ist, vergleichbar den elysischen Gefilden, die laut einer Sage inmitten der Qualen und Bedrängnisse des Avernus4 glücklich sind. 3. Soviel an Euch und an alle, denen ich oft vieles und oft einzeln in grosser Eile zwischen Schlaf und Arbeit und Furcht vor dem Morgen, unter Kälte und Husten, während Papier und Feder und Lampe rebellierten, wie’s möglich war, geschrieben habe. Am 12. Januar vor Tagesanbruch. Lebt glücklich, bleibt gesund und denkt an mich! (1358)5

Anmerkungen 1 Die angesprochenen Freunde sind ausser Sokrates wohl Lelio, der vom Sommer 1355 bis zum Winter 1359 in Avignon weilte, Stefano Colonna, Prior von Saint-Omer, der sich meist dort aufhielt, oder aber Guido Sette und Nelli, der bis im November 1358 in Avignon weilte. Vgl. Nellis Epist. 18,14–18 vom 8. September (1357), wo es heisst, er habe Guido Sette, Lelio, Stefano Colonna und Sokrates getroffen. Doch Fam. 20,9 bezieht sich nicht ausdrücklich auf diesen Brief; er ist nicht namentlich an Nelli gerichtet. 2 Lateinisch: nil aliud nisi nil esse quod…non possit. 3 Lateinisch: potuit ohne Nennung des Subjekts. Als solches kann man nur die Beredsamkeit einsetzen. Gemeint ist das kurze, aber beredte Schreiben der drei Freunde. 4 See der Unterwelt in der Campagna mit giftiger Ausdünstung, einst von Odysseus und Aeneas besucht. 5 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 159–160. Vgl. oben Anm. 1.

Fam. 20,10, an Giovanni Aretino1 Wünscht Glück zu dessen Lebensumständen und gibt Nachricht von sich selber. 1. Petrarca kann nur einen kurzen Brief abfassen. 2. Während der Freund sich aus Stürmen retten konnte, muss der Dichter noch darin ausharren. 3. Er darf sich aber vielleicht mit Cato vergleichen. Mailand, am 27. Januar (1358).

1. Erwarte kein überlanges Schreiben, wie es einen Leser zu erschrecken pflegt und einzig Dich ob Deinem Verlangen nach persönlicher Unterhaltung ergötzt. Soeben ist dafür gesorgt worden, dass ich nicht ausschweifen könne: Tageszeit, Kälte, Schlaf, Anstrengung und Verpflichtung straffen die Zügel.2 Auch habe ich mit Absicht ein kleines Blatt gewählt, damit es als eine enge Arena eine allzu muntere Feder zu militärischer Zucht anhalte. 2. Aus Deinem Schreiben ersehe ich, dass Du den Stürmen entronnen bist und nicht erst im Hafen einläufst, sondern schon am Ufer ruhst. Dazu wünsche ich Dir Glück; nichts Erfreulicheres hätte ich von Dir hören können. Von mir magst Du hingegen vernehmen, dass ich mitten unter Gefahren sicher und – oh eisernes Haupt!3 – unter Stürmen ganz in Ruhe bin und, nur weil ich andere um mich her auf dem wogenden Meer herumtreiben sehe und spüre, wie von allen Seiten das nautische Getöse gegen mich anprallt,4 daraus schliesse: Ich bin auf hoher See. 3. Ich sitze zu Füssen des Steuermanns5 und beobachte das schwankende Gefährt gewiss nicht ungerührt, jedoch unerschrocken; und das Ende der Fahrt erwarte ich in der Meinung, dass schon fast jeder Wind mir günstig und an jedem Ufer für mich ein Hafen sei. Denn auf meinen Überdruss an allen Menschendingen ist zuerst Gleichgültigkeit, dann Schlaffheit, darauf Sorglosigkeit und endlich Starre zugeschlichen. Und wäre es nicht anmassend, wenn ich mir zusprechen wollte, was man von Marcus Cato gesagt hat,6 so könnte mir oftmals scheinen, und vorab jetzt, wo ich Dir zu nächtlicher Stunde schreibe, ich sei in der selben Verfassung, die einst Brutus an seinem Onkel erkannt hat, er sei nämlich, „schlaflos und voller Angst für alle, aber unbesorgt für sich selber.“ 4. Doch das wird sich in der Erprobung erweisen, nein, vielmehr bitte ich, es möge sich nicht erweisen; denn das wäre ja toll, aus blosser Lust an Erprobung eine Gefahr herbeizuwünschen. Bleibt noch zu sagen, dass ich eher Dich um Dein Plebejergewand als Crassus um seine Reichtümer beneide und dass ich mich sehne nach Deinem ländlichen Dach, das zu besuchen mir verwehrt ist.7 Lebe wohl! Mailand, am 27. Januar, vor Tagesanbruch in Eile (1358).8

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Anmerkungen 1 Petrarcas Schreiben antwortet auf eine Einladung des Adressaten. Das ist Aghinolfi, Hofmann der Gonzaga in Mantua. An ihn hat Petrarca mehrere Fam. und Var. 24, Fracassetti, Bd. 3,362 f., gerichtet. Das letzte ihm gesandte und uns erhaltene Schreiben ist Fam. 17,10 vom Januar 1354; später im selben Jahr wird Petrarca ihn gesehen haben, als er in Mantua Karl IV. besuchte, doch hat er das in Fam. 19,3 nicht erwähnt. 2 Vgl. die ähnlichen Angaben in Fam. 20,9. 3 O ferreum caput: vielleicht eine Anspielung an ferreus cervix und frons tua aerea bei Is. 48,4. 4 Dass hier in Bildern gesprochen, nicht eine Wasserschlacht geschildert wird, dürfte klar sein. Vgl. unten Anm. 8. 5 Das ist der Stadtregent von Mailand, Bernabò Visconti. 6 Luc. Phars. 2, 239–241. Die Rede ist von Cato Uticensis, † 46 v. Chr., und von dessen Neffen Marcus Brutus, dem Caesarenmörder, † 42. Vgl. das Personenreg. 7 Aghinolfi hatte sich von Mantua, dem Hof der Gonzaga, fort aufs Land begeben; dorthin zu kommen war Petrarca eingeladen. 8 Zwei Jahreszahlen drängen sich für die Datierung auf. Für 1358 entscheidet sich Wilkins, Eight years 160, weil Petrarca den folgenden Winter 1358/1359 fast ganz in Padua verbrachte und nicht vor dem 9. Februar nach Mailand zurückkehrte, doch lässt sich das spätere Datum nicht sicher ausschliessen. Möglich ist, dass Petrarca mit seiner Darstellung der Lage auf neue Kämpfe der Visconti gegen die alte antimailändische Liga hinwies; ein Friede zwischen ihnen und ihren Gegnern, zu denen Mantua gehörte, kam erst am 8. Juni 1358 zustande. Neue Angriffe auf Pavia unternahm Mailand ab 9. April 1358 und erkämpfte sich die Stadt Ende 1359; vgl. Fam. 19,18 mit Anmerkungen. Gleichzeitig stritt Mailand auch um Bologna gegen Aufständische daselbst, dann ab 1359 gegen den Reformator des Kirchenstaates Kardinal Albornoz. Die Auseinandersetzungen mit dem Markgrafen von Monferrat hielten an. Vgl. Fam. 19,15 vom Mai 1357, auch 19,7,4 vom Frühling 1356.

Fam. 20,11, an Stefano Colonna, Prior von Saint-Omer1 Freundschaftsbrief. 1. Petrarca freut sich über gegenseitiges Vertrauen. Er erwähnt einen Cicero aus Bergamo. 2. Die auserwählten Väter in Avignon durchschaut er; und die ganze Welt erkennt deren Taten zunehmend genauer. 4. Der Dichter ist des Schreibens rascher müde als sonst. Mailand, am 1. Mai (1358).

1. Deine Zeilen habe ich mit grösstem, heiligem Vergnügen gelesen. Dass Du von meinem guten Willen überzeugt bist, freut mich; denn wenn er auch der Sachbeweise entbehrt, verrät er sich doch mit eigenen Anzeichen; er kündigt sich an, blinkt hervor und erscheint. Ich aber bin des Deinen nicht weniger sicher als des meinen. Vieles sagt mir über Dich Dein eigener Brief in seiner sentenzenhaften Straffheit, vieles auch dieser unser Cicero aus Bergamo,2 des andern aus Arpinum Gastgeber.3 Doch um mich von Dir zu überzeugen, ist niemand nicht redegewandt genug, aber niemand beredter als mein Herz, sogar wenn es schweigt. 2. Ich möchte Dich sehen; das weisst Du, ohne dass ich es sage. Mag sein, dass unsere erwählten Väter4 sich um unsere Trennung nicht im mindesten scheren; dennoch würde ich selbst gegen ihren Willen Dich dank meinen besseren Augen5 vor mir haben. Sogar sie selber, mögen sie meiner Abwesenheit auch froh sein (und einzig darin stimmen wir überein), auch sie, sage ich, sehe ich gegen ihren Willen. 3. Was sage ich da! Als sähe ich sie mit bloss allgemein üblicher Fähigkeit! Ich schaue ja, wo immer ich bin, in sie hinein! Und bin ich triefäugig gegenüber anderen Dingen, so bin ich doch scharfsichtig wie ein Luchs gerade in dieser Hinsicht. Ich sehe die Herzen, die versteckten Leidenschaften, und – was sie wohl nicht im mindesten ahnen – ich wohne in ihren Gedanken!6 Ihre Taten übrigens sehe nicht ich allein, sondern sieht auch der ganze Erdkreis, und tut er bis heute, als säh’er sie nicht, so sieht er sie dennoch von Tag zu Tag klarer. Und hat er sie einmal voll erkannt, glaube mir, wird er sie nicht ertragen. 4. Ich wollte mehreres anfügen, wo ich doch kaum das Wenige zustande gebracht habe. Ich weiss nicht, weshalb ich heute zum Schreiben träger bin als sonst,7 und dies schon vor dem Beginnen. Müde habe ich mich drangemacht. Lebe wohl, Du Vortrefflicher, und denke an uns! Mailand, am 1. Mai (1358).8

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 15,7 an den selben Adressaten und dort die Anm. 1; vgl. auch Fam. 20,9 Anm.1 2 Lateinisch: noster hic Cicero pergamensis, arpinatis illius hostis. Ich lese hospes. Mit diesem Cicero ist wohl Crot(t)o gemeint; vgl. Fam. 18,13 und 18,14.

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3 Der Arpinate ist der echte Cicero aus Arpinum. 4 Lateinisch: patres conscripti, Ausdruck für den römischen Senat, hier wie oft für das Kardinalskollegium verwendet. 5 Gemeint sind die geistigen Augen. 6 Lateinisch: cogitatibus intersum. Petrarca verfasst zur angegebenen Zeit Sine nom. 17 und 18. 7 Bemerkungen über Müdigkeit häufen sich; vgl. Fam. 20,8,21 und 20,9,3. 8 Vgl. Wilkins, Eight years 166.

Fam. 20,12, an Lelio1 Aufmunterung, Gleichmut zu wahren. 1. Der beste Trost besteht in der Vergänglichkeit alles Irdischen. 4. Nachricht vom Tod eines Mailänder Freundes. 5. Beschreibung des alten Mannes, seiner Streitlust und Verrücktheiten; Petrarca liess sich durch ihn erheitern. 11. Er kam weitgehend für seinen Lebensunterhalt auf. Mailand, am 1. Mai (1358).

1. Schon aus zweien Deiner Briefe habe ich herausgespürt, dass Du in höchstem Mass verwirrt bist. Mich wundernd, betrübend und bei mir vieles überdenkend finde ich am Ende gar nichts, was Dich so trübsinnig zu machen brauchte.2 Man dürfte ja erwarten, dass ein Mann, zumal in Deinem Alter, längst gegen jeden Ansturm Fortunas gefeit wäre. 2. Der beste Trost in den Widerwärtigkeiten dieses Lebens liegt in ihrer Unbeständigkeit, da ja alles Menschenwerk sich wandelt und verflüchtigt. Für einen scharfen Beobachter gibt es deshalb nichts Heiteres und nichts Schmerzliches von irgendwelcher Bedeutung, keinen Grund zu Furcht oder Hoffnung, da gerade unter den jeweiligen seelischen Erregungen das eben noch Wohltuende oder Bedrückende und das eben noch Drohende oder Schmeichelnde unversehens zerronnen und mitten unter seinem Auftrumpfen geschwunden ist. 3. All das, Bruder, ob heiter oder traurig, geht in einem Augenblick gleich einem Traum vorüber, so dass der Erwachte sich schämt, wegen eines Nichts geklagt oder gejubelt oder aus einem Nichts eitle Hoffnung oder eitle Furcht geschöpft zu haben. Aufhören sollte also der Schmerz, so sage ich; auch die Erregung, die Deiner Reife unwürdig ist, sollte sich legen. Und gäbe es dennoch einen Grund zum Trauern, dem mit meiner Hilfe begegnet werden könnte, was immer es wäre, befiehl! Man wird gehorchen! 4. Ich bin heute nicht in der Lage, Dir etwas anderes zu berichten, als dass unser Mailänder Freund – der mich seinen Vater und Dich seinen Bruder nannte, obwohl Du älter bist als ich und er unser beider Grossvater hätte sein können –, dass also dieser höchst ergötzliche Greis in die ewigen Freuden einging, nicht ohne einige Trauer für mich. Denn war er auch von sehr hohem Alter, so bedeutete er für mich und meine Sorgen doch eine willkommene häusliche Unterhaltung. Als ein guter Mensch, vornehm, doch nicht reich, entbehrte er nicht der letzten Ehre: Er ruht hier in der Vorhalle des Ambrosius3 im steinernen alten Sarg seiner Familie. 5. Dieser Mann war mir lieb; und dass er uns beide liebte, wusste ich. Sein Mund war voll des Lobes besonders auf Dich. Fast kindisch war er schon geworden, und seine Rede zwang selbst Betrübte zum Lachen. Häufig disputierte er mit mir und mit allen, die er bei mir antraf, über Fragen, welche die Philosophie oder den katholischen Glauben berühren. Die Fülle seiner Beweise war unermesslich, und nie liess er sich herab, einem andern beizupflichten, ausser etwa mir, und dann

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beugte er sich weniger dem Beweis oder dem Verstand als vielmehr der Freundschaft. 6. Gewaltig war sein Vertrauen auf sein Wissen. Alle Menschen, mit Vorliebe aber die Ordensleute, bedrängte er mit kniffligen Fragen, und war mit keinen Argumenten zu besiegen und keinem Geschrei zu ermüden. Wen immer er mit Reden herausforderte, fragte er zuerst, ob er Bücher lese,4 und wenn einer das verneinte, verglich er ihn verächtlich mit einem ungeschlachten Tier, schüttelte den Kopf und ging davon. Wenn aber einer bejahte, sagte er: „Das wird sich gleich weisen“, warf unverzüglich eine Frage auf, und was immer der andere antworten mochte: Er wurde in einem Redestrom und mit nie abreissender Belehrung verlacht. 7. Oft forschte ich ihn gleichsam bewundernd aus, wo denn seine Bücher seien oder woher er ein so grosses Wissen über so viele Dinge hernehme. Dann tippte er mit einem Finger an die Stirn und sagte: „Hier, hier habe ich mein Wissen und meine Bücher! Bücher sind nichts als ein erbettelter Behelf bei menschlichem Versagen, und nur wegen der Dürftigkeit des Gedächtnisses hat man sie erfunden.“ Wir alle lachten; denn er sagte nichts, was er nicht für wahr hielt, und war mit solchen Meinungen bei sich selber ich weiss nicht wie selig und unendlich vergnügt. 8. Dabei sprach er schliesslich von nichts anderem mehr als von Grammatikalischem, und so lang er sprach, war weder an Priscian noch an Aristarch5 je etwas sicher, mochten sie auch behelmt sein. Denn mit viel zu vielen Barbarismen und Soelecismen war er gewappnet, wenn er ins Feld zog. Kürzlich hat er gar ein Buch unter Deinem Namen zu schreiben begonnen, und hätte er solches nur vollendet, wäre es uns gleichsam als ein Kind seiner Geistesgrösse hinterlassen worden. Ob er jedoch sein unvollendetes Werk nach dem Beispiel Vergils zum Feuertod verurteilte6 oder ob er es in der Nachfolge des Numa Pompilius7 in der Erde vergrub oder was er sonst damit anfing, ist unbekannt. 9. Drei Tage vor seinem Tod kam er trauriger als sonst zu mir, und als ich nach dem Grund seiner veränderten Miene fragte, sagte er mit einem Seufzer: „Heute bin ich fünfundachtzig Jahre alt geworden. Was meinst Du, wie viele Jährlein mir noch bleiben? Fünfundzwanzig habe ich vielleicht noch zum Leben, eine kurze Zeit.“ Darauf antwortete ich scherzend: „Zweifle nicht, noch dreissig wirst Du hinter Dich bringen.“ Darauf er recht getröstet: „Gut, das genügt.“ 10. Mit diesen Worten ging er, und gesehen habe ich ihn nachher nicht mehr (er wirkte aber weder wie ein Sterbender noch wie einer, der an einem anderen Übel als an seinem Alter leidet), bis man ihn am dritten Tag unter meinen trauernden und staunenden Augen zur Kirche brachte, nämlich gemäss hiesigem Brauch gegen Abend, um Frühmorgens darauf begraben zu werden. 11. So weit ein scherzender Bericht über eine so betrübliche Geschichte, damit Du in Erinnerung an unseren Greis zugleich trauerst und lachst. Er war mir mit seinen Absonderlichkeiten, weil ich unter recht schwierigen Geschäften nach derlei Dingen höchst begierig bin, nicht mehr wie früher ein bloss häufiger, sondern gar

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ein fast ständiger Gast. Und schliesslich habe ich sein gebrechliches und zerrüttetes Alter mit aller mir möglichen Hilfe unterstützt;8 ja tat noch das Letzte, was ich konnte: Ich folgte dem Scheidenden mit feuchten Augen bis an sein Grab. Lebe wohl! Mailand, am 1. Mai (1358).9

Anmerkungen 1 Vgl. die übrigen Briefe an diesen Adressaten. Lelio, verwandt mit den Colonna, lange Zeit im Dienst des Kardinals Colonna in Avignon, später in Rom; mit verschiedenen Ämtern, auch mit verschiedenen Missionen betraut; um 1358 wieder in Avignon. Vgl. Überblick. 2 Vgl. den folgenden Brief Fam. 20,13. 3 Das ist in der Ambrosiuskirche, nahe bei Petrarcas Wohnung. 4 Lateinisch: interrogabat, an literas nosset. 5 Priscianus: tätig um 500 in Konstantinopel, Verfasser einer Grammatik in 18 Büchern, die im MA weite Verbreitung fand; Aristarchos: Grammatiker, ca. 217–145 in Alexandrien, Begründer einer bedeutenden Schule. 6 Vgl. die Vergilsviten von Sergius und Valerius Probus. 7 Der zweite König des alten Rom soll wichtige Vorschriften hinterlassen haben. 8 Petrarca untertützte verschiedene Personen in beträchtlichem Mass; vgl. Fam. 19,17, Anm. 14. 9 Vgl. Wilkins, Eight years 161 und 166.

Fam. 20,13, an Lelio1 Klagenreiche Ermunterung, sich mit dem Freund zu versöhnen. 1. Petrarca hat durch eine Drittperson von der Trennung seiner Freunde Lelio und Sokrates gehört. 5. Er tadelt Lelio, weil er einem Verleumder geglaubt habe. 6. Er zeigt, dass Sokrates den Freund Lelio niemals vor Petrarca schlecht machen konnte. 13. Über wahre Freundschaft, die alles Misstrauen ausschliesst. 17. Ein Beispiel für richtiges Verhalten gegenüber Verleumdern: Alexander der Grosse. 21. Petrarca kennt von Sokrates nur Briefe, die Lelio loben. 24. Er beschwört Lelio, den Freund sogleich aufzusuchen. Mailand, am 30. Juli (1358).

1. Als ich Deinen Seelenzustand aus Deinen Zeilen las, ohne eine Ursache für ihn zu kennen,2 mahnte ich Dich, Deine übliche Ruhe zu wahren und die vergänglichen Dinge geringzuachten, da sie vorübergehen und dem Nichtsein entgegenlaufen. Später jedoch ist mir zum schweren Kummer als Ursache Deiner Verstörtheit bekannt geworden, Du habest, aufgehetzt durch Einflüsterungen eines ich weiss nicht welches, aber gewiss bösen Maulwerks, in glühendem Zorn gegen Deinen und meinen Sokrates3 aufbegehrt (ich sage: Deinen, denn das war er, bevor er der meine war). Dass Du gewillt warst, mir dies zu verstecken, weil Du genau wusstest, wie gewaltig es mich schmerzen würde, das ist mir nun völlig klar, und zwar vor allem deshalb, weil ich die so wichtige und wahrhaft bestürzende Sache nicht durch Dich, sondern von anderswoher erfahren musste. 2. Ach, was sage ich und wo beginne ich? Nichts anderes vermag ich ja zu denken und auszusprechen als trostlose Klagen, so völlig hat die Trauer mich niedergeschlagen und meiner Stimme den gewohnten Weg versperrt. Und möge nur jenem Menschen niemals wieder etwas Frohes gegönnt sein, der Eure Zwietracht und meinen Schmerz verursacht hat! 3. Nun also, Bruder, bin ich Dir von so geringem, von so gar keinem Wert, dass Du bei Deiner grossen Sinnesänderung und bei Deiner Absage an einen so guten, einen so treuen, so alten und so erprobten Freund nicht für nötig hieltest, mich mit ein paar Zeilen zu unterrichten? Oder wenn ich dessen unwürdig war, mir wenigstens nach der Entzweiung in einem Brief davon zu melden? Wo ich doch, wie man sagt, des ganzen Unheils eigentlicher Grund bin? Ich höre ja, jene Viperzunge, welche Dir das grässliche Gift eingeflösst hat, werfe Sokrates nichts anderes vor, als er habe Dich schriftlich bei mir verklagt.4 4. Hätte Deine Klugheit, die Du von Jugend auf besessen hast und die mit der Zeit hat wachsen müssen, alles überlegen und umsichtig beurteilen wollen, wäre ihr klar geworden, dass alles falsch und völlig undenkbar ist. Wäre Dir doch eine Geschichte Platons eingefallen! Der hat auf die Mitteilung hin, sein Freund Xenokrates5 habe ihn schlecht gemacht (so wie angeblich Sokrates nun Dich), den Angeber von sich gestossen und verjagt, indem er sagte, es sei unmöglich, dass ein so geliebter und hochgeschätzter Freund seine

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Neigung nicht erwidere. 5. Du hingegen hast so leichtfertig glauben können, was einer, ich weiss nicht wer, aber vermutlich Euer beider, und gewiss der Wahrheit Feind, über Deinen Freund gesagt hat? Wie vorschnell und unbedacht ist doch die Leichtgläubigkeit! Tausend Freundschaften hat sie schon zerstört! Und ich wollte, ich hätte so viel Zeit zum Schreiben als Verlangen dazu! Denn dann würde ich Dir vieles sagen, was ich nun übergehen muss. Nur kurz fasse ich zusammen: Ein Gift für die Freundschaft ist die Verdächtigung, die allerdings in einem edlen Herzen keinen Wohnsitz hat. Und wie sie jetzt über Dein Inneres heranschleichen konnte, ist mir unbegreiflich! 6. Also hat Dein Sokrates schlecht über Dich gesprochen? Weshalb und aufgrund welcher Hoffnung? Was hast Du ihm angetan, und was hätte er gewonnen, wäre ihm gelungen, was weder er noch ein anderer je vermöchte, nämlich Dich mir verhasst zu machen? Ein solcher Wahnsinn bei einem so besonnenem Mann ist ja ganz unglaubwürdig! 7. Zwar ist er ausserhalb der Grenzen Italiens geboren worden, aber niemanden gibt es, der seiner Geistesart und seiner Neigung nach mehr Italiener wäre als er. Und dass er so ist, haben vor allen anderen Sterblichen wir beide erreicht. Trotzdem, welche Schande! Hat doch ein schamloser Verleumder, ohne zu erröten, behauptet, mir gegenüber habe Sokrates über Lelio schlecht gesprochen! Und Du? Schau doch, inwieweit diese Verleumdung, mit der ein dummdreister Lump den klügsten Mann beschuldigt, an Überzeugungskraft besitzen kann! 8. Hast Du Dich gefasst, hast Du die Erregung und Verwirrung Deines Zornes überwunden, hast Du Dir vor Augen geführt, wie Ihr das ganze Leben bis zum heutigen Tag nicht bloss einträchtig, sondern beinah wie „ein Herz und eine Seele“ hingebracht habt, dann wirst Du erkennen, dass in einem einzigen Wort6 drei grosse Lügen enthalten sind, die nicht einmal einen Anschein von Wahrheit besitzen. Und hast Du das eingesehen, wird gerade die Wahrheit selbst für die Unschuld eintreten! Und wenn ich schweige, wird Dich Dein eigenes Gewissen bestürmen, und dann wird der bei seinem Freund verklagte Freund einer Verteidigung durch den abwesenden Freund nicht bedürfen. 9. Glaube mir, mein Lelio, nein, glaube Dir selber, denn Du kennst ja das Herz und die Natur unser aller nicht anders als Deine eigenen, und vielleicht noch besser als die eigenen, weil wir alles Fremde tiefer und unverfälschter erfassen als das unsere. Ja Dir selber glaube, nicht einem anderen! Der Wahrheit glaube, die in Deinem Innern mit Dir redet, nicht aber der Hinterlist von Angebern, die Dir in den Ohren liegen! Glaube, sage ich – und ich hoffe, Du glaubst es schon! –, schlecht würde Sokrates über niemanden schreiben, und täte er’s über alle, so nicht über Dich, und täte er’s über Dich vor anderen, so nicht vor mir. 10. Begreifst Du, weshalb? Er weiss, ich würde nicht glauben und wäre eher gegen ihn aufgebracht als gegen Dich. Wirklich, das will ich festhalten: Euch bei-

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den könnte ich alles glauben, nur dies Besondere nicht, dass der eine den andern verklagte, gar eines Vergehens gegen mich, gegen meinen Ruf und meinen Stand. Diese meine Geisteshaltung konnte ihm, dem doch all das Meine vertraut ist, nicht verborgen sein. 11. In welch geistiger Blindheit also hätte dieser vorsichtige Mann, und wäre er voll Hass gewesen – obwohl er, wie ich zu sagen getraue, weder Dir noch einem andern gegenüber je auch nur geringsten Argwohn hegte –, wie also hätte er gewagt, einen Angeklagten von bestem Ruf vor ein ihm selber ungnädiges Tribunal zu ziehen? Einen gar, den die Wahrheit hätte entschuldigen und den der Richter,7 ohne Dokumente und Zeugen abzuwarten, hätte freisprechen müssen? Er selber hätte damit ja nichts anderes gewinnen können als den Ruf eines Angebers und Neiders! 12. Freilich können, mein Lelio, solche Anschuldigungen erhoben werden, denn der Mund des Menschen hat keinen Zaum, obwohl kein anderes Lebewesen dafür einen Zaum so nötig hätte wie er. Ja, alles kann man sagen, doch nicht alles darf man glauben, und um offen zu reden: Nicht alles darf man anhören. Wahre Freunde (für die stets der glanzvolle und bedeutende Name des Lelio8 einen Beweis erbrachte) haben für Angeber taube Ohren und weisen alles von sich, was echter Freundschaft entgegensteht. 13. Ja es genügt dabei nicht, Falsches abzuweisen, vielmehr ist in dieser einen Rücksicht schon ein blosses Nachforschen, was wahr und was falsch sei, ehrenrührig. Denn es muss, was immer gegen die Verlässlichkeit eines Freundes gesagt wird, zum vornherein für unglaubhaft gelten. Hat man einmal entschieden, einen Menschen sich zum Freund zu nehmen, darf an dieser Freundschaft nie mehr gerüttelt werden. Andernfalls müsste das Fundament der Freundschaft unablässig wanken. 14. Deshalb mag der von Valerius gelobte Ratschlag des Bias,9 man solle „so lieben, dass man ab und zu auch hassen kann“, bei fleischlicher Liebe angebracht sein, aber von der Freundschaft ist er fernzuhalten. Diese kann nämlich gemäss den Auffassungen aller edlen Autoritäten10 „einzig unter guten Menschen und sonst nicht bestehen“, weshalb alle trügerischen Machenschaften, alle entarteten und schmutzigen Intrigen von ihr auszuschliessen sind. 15. Nicht einmal Misstrauen, nicht Befürchtung darf aufkommen. Wenn zwei Menschen mit dem Klebestoff der Freundschaft aneinander haften und aus den beiden, wie man sagt, ein einziges Wesen wird, ergibt sich daraus, dass jeder aus dem Freund eben die Zuversicht wie aus sich selber schöpft. Sehr viel besser und sehr viel gerechter hat also jener Laelius im Werk des Tullius11 den Ratschlag des Bias mit Hilfe seines Verstandes und mit der Autorität seines Scipio widerlegt. Und wie Du Nachfahre seines Namens und seines Charakters und seiner Freundschaft bist, so hast Du auch seinen Grundsatz hochzuhalten und nicht unter dem Lieben an Hass zu denken, sondern so zu lieben, dass Du nicht hassen könntest, selbst wenn Du wolltest. 16. Etwas Grosses und Göttliches ist die Freundschaft, doch etwas Einfaches. Sie bedarf zum voraus einer hoch wichtigen aber einzigen Überlegung: Bevor man

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entscheidet, muss man unterscheiden,12 und hat man unterschieden, muss man entscheiden. Nach dem Entscheiden kommt das Unterscheiden zu spät. „Das Erledigte zu erledigen,“ verbietet uns ein altes Sprichwort.13 Somit bleibt kein Raum für Verdächtigungen und keiner für Feindseligkeit; nichts bleibt übrig als Liebe. Wie aber will man jemanden heute lieben, wenn man für möglich hält, ihn morgen zu hassen? 17. Mit Recht wird daher auch jene Antwort Platons gelobt, die ich oben erwähnte, übrigens auch eine Tat, deren ich mich, weil sie mir sehr einleuchtet, oft erinnere. Alexander von Makedonien nämlich, der mit überstürzter Tollheit zu handeln pflegte, bewies doch in einer bestimmten Lage beträchtliche Charakterstärke.14 Als er in einer Krankheit von einem befreundeten Arzt einen für ihn bereiteten Becher entgegenzunehmen im Begriff war, empfing er nicht etwa von irgendwem, sondern von einem anderen bedeuteten Freund einen Brief, welcher mahnte, sich vor dem Gift zu hüten, das der Arzt – vom Feind mit viel Gold bestochen – ihm zum Verderben heimtückisch reichen werde. 18. Der König las den Brief, liess sich nichts anmerken, bis der Verklagte in sein Schlafgemach gekommen war, um seinen Auftrag zu erfüllen; erhob sich dann, und den Brief in seiner Linken haltend ergriff er mit seiner Rechten unverzüglich den Becher, trank ihn furchtlos aus, gab das Schreiben dem schuldlosen, entsetzten Arzt sogleich zu lesen und wurde dank dieser einen Tat würdig, wie in jenem bestimmten Augenblick so auch für immer vor Nachstellungen durch die Seinen gesichert zu sein. 19. Daraus ziehe ich die Lehre, dass es schändlich ist, das Unrecht eines Freundes willig anzuhören und am schändlichsten, es gar zu glauben. Wer immer zu Lebzeiten seines Freundes die Zuverlässigkeit eines Anklägers untersucht, der hat sich selber einer Beleidigung der Freundschaft schuldig gemacht. Doch ich Armer! Wie mühsam sucht man in diesem Leben etwas Beglückendes, das man doch so leicht wieder verliert! Ausgerechnet in der Freundschaft hatte Sokrates Missgeschick; dabei hätten sein Eifer für die Freundschaft und sein unbescholtenes Leben verdient, dass er darin sehr glücklich werde. 20. Achtundzwanzig Jahre und länger hat er Dich geliebt (was niemand so gut weiss wie Du selber), damit nun ein einziger Windbeutel in einer einzigen Stunde mit nur wenigen falschen Worten Dich ihm entreisse, und nicht bloss entreisse, sondern Dich aus einem liebsten Freund und Bruder in einen harten Gegner verwandle! Verzeih, Bruder, zu meinen Lebzeiten hätte es niemals sein dürfen, dass – sei’s grundlos oder sei’s auch gewissermassen mit Grund – eine so gewaltige Trennung zweier Herzen stattfinden könne, wo ich doch von ihnen meinte, sie seien sowohl dank ihrer eigenen Liebe wie dank der Bindekraft meiner geistigen Anteilnahme vereint und daher voneinander nicht zu scheiden. 21. Was ich nun tun soll, Bruder, weiss ich nicht; und Gott ist mein Zeuge, dass ich zum Seufzen (um nicht zu sagen: zum Weinen) stärker neige als zum Sprechen,

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weil Eure Verwirrung auch mich sehr verwirrt15 und erschüttert. Dennoch spreche ich aus, was immer ich im Herzen habe. Ich könnte eine Seite mit Beschwörungen füllen; doch weil man einem Mann vieler Schwüre oft nur desto weniger glaubt, wirst Du, so ich das verdiene und Du es gelten lässt, meinen schlichten Worten vertrauen! 22. Niemals hat mir Sokrates etwas Schlechtes über Dich gesagt, Gutes dagegen vieles und sehr oft. In manchen eigenhändig geschriebenen Briefen, die ich bei sorgfältigem Nachforschen noch finden könnte, sagt er aufs deutlichste, dass ich an der Kurie keinen anderen Freund hätte ausser Dir; von den übrigen seien die einen aus dem Leben, die andern aus der Heimat, wieder andere aus ihrem Amt geschieden. Dich nennt er meinen Sachwalter, Dich meinen unablässigen Förderer in allen meinen Anliegen, nur Du allein hättest eine Zuverlässigkeit, welche die übliche, durch Zeit und räumliche Entfernung verursachte Beengung nicht erleide. 23. An Briefen solchen und ähnlichen Inhalts habe ich von ihm alte und neue. Dafür bin ich ihm Zeuge. Ob jener Schurke anders lautende Briefe gesehen hat, weiss ich nicht; das aber weiss ich, dass solche Briefe nicht zu mir gelangten! Wem Du nun mehr vertrauen willst, dem falschen und niederträchtigen Angeber oder dem getreuen und wahren Verteidiger, musst Du selber entscheiden. Ich hoffe, bei Dir, mein liebster Lelio, werde mein Klageruf nicht die letzte Stelle einnehmen. 24. Er bringt Dir über alle Lande und hoch über die Joche der Alpen innige Gefühle und diese ängstlichen, bekümmerten Worte zu. Du wirst mich anhören, mein Lelio, und mich, ausser ich täusche mich in Dir, auch erhören! Ich bitte daher, beschwöre, beteuere und flehe bei der Freundschaftstreue, bei der gegenseitigen Zuneigung, in der wir hinter niemandem zurückzubleiben schienen, und bei allem, was zwischen uns jemals gut und heilig, redlich, heiter, liebenswert gewesen ist oder sein könnte! Oder wenn das nicht genügt, dann erinnere Dich an unseren ruhmreichen Lehrer und Herrn, der ob seiner überragenden, ja caesarengleichen Seelengrösse von uns Iulius Caesar16 genannt zu werden verdiente und in seiner echten Vaterlandsliebe ein Camillus unserer Zeit oder ein Scipio war! 25. Dann an die ruhmvolle, doch ach allzu schwer erschütterte Familie und an ihre Nachkommen, die, solange es Gott gefiel, uns aufs herzlichst liebten und uns Pfande von herrlichstem Werte waren! Schliesslich vor allem auch an unseren Askanios,17 mir auf immer denkwürdig und beweinenswert! An diese wahrhaft heroische und hochgemute Seele, deren frühes Verscheiden nicht allein uns zum Schaden gereichte, sondern auch Rom und ganz Italien um eine grosse Hoffnung betrog und im bittersten Tod eine Blüte der wiedererwachenden Kriegskunst18 vorzeitig knickte. 26. Bei ihnen allen, so sage ich, wie bei mir und auch bei Dir, bitte ich Dich, mich von dieser Beschwerde, die mich drückt und brennt, peinigt und martert, so rasch als möglich zu befreien, und wenn Du mich liebst oder je geliebt hast, sogleich und bevor dieses Schreiben Deinen Händen entfällt, Sokrates, der über Deine sonderbare Veränderung bestürzt

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und über den Wandel seines Schicksals empört ist, aufzusuchen oder zu Dir zu rufen. 27. Das bitte ich; das ist genug! Kommt zusammen, schmiegt Eure getrennten Seelen und Gesichter erneut aneinander und schreckt nicht vor dem zurück, was Ihr beide sehr geliebt habt! Und wollt Ihr nicht, dass meine alten Tage unter Tränen und Schmerz hingehen, so kehrt zurück und zerfetzt nicht meine Eingeweide, um sie den Hunden19 zum Frass vorzuwerfen! Jetzt werde ich sehen, ob Ihr mich liebt, wie ein Gerede sagt. Schreibst Du irgend etwas anderes, jedoch nicht, dass meine Bitte erfüllt sei, so habe ich langezeit fälschlicherweise geglaubt, ich sei Dir lieb. Höre ich aber, Ihr hättet einander gesucht, so habe ich mein Ziel schon erreicht, dass nämlich meine Treue den Freund, den eine fremde Tücke Dir entrissen hat, Dir zurück bringt. 28. Dann brauche ich kein Gezischel der Ohrenbläser, keine Rückstände des Zorns mehr zu fürchten. Vieles wagt zwischen Getrennten das Flüstern des Neides; doch gross ist die Wirkung einer erneuerten Begegnung. Diese allein erbitte ich; nichts anderes bezwecke ich als sie! Wenn Ihr mir das gewährt, kümmert mich das Übrige wenig. Was Du tun und was Du sagen musst, werden Dir gerade die Freundschaftspflicht und die Erinnerung an die langen Jahre der Liebe und auch der Anblick des Freundes anzeigen. In seinen Augen wirst Du lesen, was weder ich noch Cicero auszudrücken vermöchten. Lebe wohl! Mailand, am 30. Juli, zur Zeit der ersten Fackel (1358).20

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten; auch Fam. 12,16, in dem Petrarca ebenfalls zwei Freunde unter sich zu versöhnen sucht, dann Fam. 18,8, wo Petrarca vor allem Freundschaftsbriefe (als Ausdruck wahrer Freundschaft) charakterisiert. 2 Vgl. Fam. 20,12. 3 Petrarcas Sokrates ist der in Avignon lebende Kuriale Ludwig van Kempen, vgl. Personenreg. 4 Nähere Angaben unten im Abschnitt 10 und 22 ff. 5 Xenokrates, * ca 396, ein Schüler Platons, nach dessen Tod Schulhaupt der Akademie; zur angeführten Anekdote vgl. Val. Max. 4,1, ext. 2. 6 Dieses Wort, diesen Satz des Verleumders hat Petrarca durch eine uns unbekannte Person vernommen. 7 Der Richter wäre Petrarca gewesen. 8 Hinweis auf die beiden Männer mit Namen Laelius, die in der Antike zu Vorbildern wahrer Freundschaftstreue hochstilisiert wurden; vgl. Personenreg. 9 Bias, einer der sieben Weisen der Antike, Staatsmann und Richter; das Lob sprach Valerius Maximus aus; vgl. 7,3,ext.3; auch Cic. De am.(Lael.) 16,59. 10 Vgl. zum Beispiel Cic. De am. 5,18. 11 De am. 16,59.

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12 Im Lateinischen heisst es: Antequam diligas, eligendum est. Da das Wort diligere sowohl prüfen wie auslesen, auserlesen wie auch lieben bedeutet, kann eine deutsche Übersetzung den Sinn nur beschränkt wiedergeben. Für „lieben“ steht nachher das Wort amare. 13 Im Lateinischen: Actum agere.; vgl. Cic. De am. 22,85. 14 Ein ähnliches Urteil über Alexander und die selbe Anekdote findet man in Fam. 12,2,17–18. 15 Lateinisch: perturbatio vestra perturbat. Solche Wortfolgen werden von Petrarca geschätzt oder nicht vermieden. 16 Die Rede ist zuerst von Kardinal Giovanni Colonna, dann von der ganzen römischen Adelsfamilie dieses Namens, mit der Lelio wie Petrarca sehr verbunden war; beide standen in Diensten des Kardinals; vgl. das Personenreg. 17 Askanios galt gemäss Sage als Sohn des Aeneas. Die Römer nannten ihn auch Ilus und hielten ihn für den Stammvater der Julier, denen Caesar zugehörte. Hier wird mit Askanios jener junge Stammhalter der Colonna bezeichnet, der 1347 im Kampf gegen Cola di Rienzo fiel. 18 Lateinisch: florem prisce militie renascentis. Hier der bei Petrarca selten ausgedrückte Gedanke an eine Renaissance. 19 Als Hunde bezeichnet Petrarca auch seine Neider z. B. in Fam. 14,4,4. 20 Wilkins, Eight years 170–171 und 177.

Fam. 20,14, an Lelio1 Freudiger Glückwunsch zur Annahme von Ratschlag und Bitten. 1. Petrarca ist mit seinen alten Studien beschäftigt. Einen guten Teil des Winters hat er in Padua und in Venezien verbracht. 3. Am Schreiben hindert ihn ausser seiner Arbeit auch die Kälte. 4. Noch nie ist so viel Schnee gefallen. 8. Dass Lelio sich täuschen liess, kann der Dichter begreifen. 9. Die Meinungen des Aristoteles über den Zorn lehnt er jedoch ab. 13. Glücklich macht ihn die Versöhnung zwischen Lelio und Sokrates. 15. Zur Übernahme hoher Ämter und Würden lässt er sich nicht überreden. 25. Dabei bedauert er Zanobi, der eine Stelle an der Kurie übernommen hat. Mailand, am 9. Februar (1359).

1. Die zunehmende Fülle an Beschäftigungen bei abnehmendem Lebensrest verlangt, dass ich das Briefeschreiben länger aufschiebe als früher. Aber denke nur ja nicht an eine neue Beschäftigung, denn es ist die alte, die mit meinen Studien, die immerfort Neues hervortreibt. Sie lässt mich nicht etwa greisenhaft erkalten, sondern versetzt mich in jugendliche Hitze. Wunderbar! Während mir fast alles lästig fällt, erzeugt mir diese – fern allem Überdruss – tagtäglich frische Vergnügungen. Mir kommt vor, erst heute hätte ich damit einen Anfang gemacht, und wörtlich erfüllt sich an mir das Wort jenes Weisen:2 „Hat der Mensch sich erschöpft, dann beginnt er; und ist er zur Ruhe gekommen, dann wird er tätig.“ 2. Übrigens war ich längere Zeit abwesend; denn einen grossen Teil dieses Winters habe ich in Padua und „im Winkel der Veneter“ zugebracht,3 um ein Wort des Livius4 zu verwenden. Erst heute und eben zu dieser Stunde bin ich nach Mailand zurückgekommen, müde und von Winden und Frösten versengt. 3. Mir fehlen zum Schreiben die Instrumente und auch der Schwung: Die Feder ist stumpf, die Tinte gefroren, das Papier runzlig, die Hand gefühllos, das Wetter unbezähmbar und so ohne Beispiel, dass es sich beinah in Aberglauben und Schrecken verwandelt5 und gerade damit diesem Jahr etwas Absonderliches verleiht. Seit Menschengedenken nämlich lag zwischen Alpen und Apennin nicht eine solche Masse Schnee. 4. Verheerend ist der Schaden an den Häusern in unseren Städten, verheerend an den Bäumen und auf den Äckern, und gewaltig sind überall der Menschen Klagen; und nichts wird sie zu beschwichtigen vermögen, weder der Frühling mit seinen Blüten, noch der Sommer mit seinen Früchten, noch der Herbst mit seinem Wein, bei all der Überfülle an Herrlichkeit der Natur. 5. Übrigens war es vier Jahre früher, das heisst Ende 1354 und Anfang des folgenden Jahres im sechsten Zeitalter,6 dass man meinte, nie könne es kälter werden und sozusagen auch nicht winterlicher,7 und dass unser Cäsar hier in der Basilika des Ambrosius die eiserne Krone empfing und dann aufbrach (und rede ich von Romreise oder eher von Eilmarsch?), um in Rom das goldene Diadem in Besitz zu nehmen, während Du, eben in Gallien weilend, ihm in erstaunlicher Raschheit nachfolgtest und dank Deiner Lebensart und Urteilskraft in den engsten Kreis seiner Vertrauten auf-

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genommen zu werden verdientest.8 Jenem Jahr also ist das heurige an Kälte gleichgekommen, übertrifft es aber an Massen von Schnee. 6. Was aber tue ich eben? Jage ich hinter Unnötigem her, wo ich doch sagte, ich käme meinen schriftlichen Verpflichtungen nicht nach? Nun, das Vergnügen hat eben so grosse Reize, dass es von Kälte und Hitze nichts verspürt, die Mühe gern erträgt und das Ermatten nicht wahrnimmt, schliesslich nichts ablehnt, was ein längeres Verweilen bei der angenehmen Tätigkeit gestattet. Schau also, während ich zu Dir spreche, habe ich meine Müdigkeit und den Winter und meinen guten Vorsatz vergessen! 7. Doch wie nach Hause, so zur Sache! Gegen alle Hoffnung habe ich einen zuverlässigen Boten gefunden, und war er auch sehr beeilt, so konnte ich doch keinesfalls dulden, dass er ohne einen Brief von mir an Dich abgehe. Und über seine Eile wie über meine Beschäftigung und das winterlich rauhe Klima hat die Liebe zu Dir gesiegt. 8. Sogleich habe ich, Bruder, die ganze Geschichte Deiner Verdächtigung9 in ihrem Verlauf begriffen. Und ich habe mich nicht gewundert, wie Du meinst, dass man sie Dir dank vielen Phantastereien beibringen konnte. Nichts ist für die Tücken der Verleumder unbegehbar, nichts bleibt einer sanft pochenden und schmeichelnden Stimme verschlossen. Dagegen bewundere ich eher und lobe ich, dass Du den Zorn – so langezeit auf dem Feuer gehegt und immer wiedergekäut – so rasch ausgespien hast, was für Dein Seelenheil allerdings das Beste war. 9. Warum aber fragst Du, mein Lelio, ob ich wohl wagte, gestützt auf Deinen Beifall gegen Aristoteles zu mucksen? Fast wie ein Sakrileg mag das vielen vorkommen, während es vielleicht eher ein Sakrileg ist, ihm in allen Dingen starrsinnig folgen zu wollen. Gewiss hat Cicero, der hoch bedeutende Gelehrte, in seiner ganz auserlesenen Höflichkeit ab und zu vorgezogen, sich eines Fehlers zu bezichtigen, statt einem Irrtum jenes Philosophen in aller Deutlichkeit zu widersprechen. Zum Beispiel erklärte Aristoteles, alle hochbegabten Denker seien Melancholiker, worauf Cicero, der diese Meinung nicht teilte, nur scherzend sagte,10 er wünsche sich Glück, dass er schwer von Begriff sei, womit er immerhin klar genug zu verstehen gab, was er denke. Lass uns also Cicero nachahmen! 10. Aristoteles11 sagt in seiner Rhetorik, gewisse Personen, ich weiss nicht welche, hätten behauptet, „der Zorn sei bei weitem süsser als Honig.“ Was erwidere ich nun, wenn nicht dies, es sei mir sehr angenehm, dass mein Geschmackssinn zu stumpf sei, um jene Süsse zu empfinden, und müsse dabei fragen, ob der aristotelische Geschmackssinn so empfinde oder eher der jener Personen, auf die der Philosoph sich berufe? 11. Wenn die Biene, wie man sagt, den süssesten Honig aus bestimmten recht bitteren Kräutern saugt, so habe dennoch ich selber, wie gesagt, die Süsse des Zornes nie geschmeckt. Und für wen immer er sogar süsser als Honig sei, ist er für mich doch widerlicher als Galle. Das sage ich, wenn von meinem eigenen Geschmack die Rede sein soll.

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12. Selbst wenn man auf des Aristoteles „Worte schwören“12 und wenn man, was immer er gesagt hat, wie ein himmlisches Orakel zu Herzen nehmen müsste, so dass der Zorn nicht bloss süss, sondern gar süsser als Honig wäre, hättest Du dennoch vorzüglich gehandelt, als Du die wilde, grausame und dem Magen abträgliche Süsse ausspucktest und Deine Seele von einem in der Untätigkeit erworbenen Rostbelag befreitest. Und wie grossen Dank ich Dir dafür schulde und um wie viel meine frühere Liebe zu Dir und meine Achtung vor Deinem sittlichen Ernst zunahmen, kannst Du viel rascher in Gedanken als ich in Worten festhalten. 13. Als Hauptsache nimm zur Kenntnis: Du hast mir zwar im ganzen Leben sehr viel Liebes getan und gesagt, mir aber doch niemals etwas Lieberes geschenkt als jetzt, wo Du Deine Leidenschaften gezügelt und mit der Wurzel ausgerottet und meinem Rat, der bei all seiner Treue Deinem Denken und Fühlen widersprach, mit so grosser geistiger Leichtigkeit und Bereitwilligkeit so unverzüglich gehorcht hast. Weil Dein liebendes Fühlen Dich drängte, hat Dein liebendes Sorgen13 keine Verzögerung geduldet. Und kaum war mein Brief gelesen, bist Du – ihn vorstreckend – in die Arme und Küsse unseres Sokrates gestürzt – dabei auch mich umfangend und küssend –, und unter Euren und vieler Anwesender Tränen, die meinem Innern entquellend reichlich aus Euren Augen strömten,14 habt ihr zur brüderlichen Herzlichkeit zurückgefunden. 14. Nun weiss ich, was ich bei Dir vermag; und gewiss konnte ich es schon früher nicht übersehen, doch ist mir nun in den neuen Erfahrungen die alte Kenntnis erhärtet worden. Ich erkenne ihn, meinen Lelio; er ist so, wie ich es hoffte. Stets wird er Verleumder hassen, und oft wird er diese verlorene Zeit beklagen. Denn von unserem Sokrates weiss ich längst, dass er unter Stöhnen und Seufzen verging und Deine schroffe Ablehnung zu den schweren Leiden des Lebens und zu Fortunas bitteren Beleidigungen rechnete. 15. Was alles in Deiner Epistel folgt, übergehe ich absichtlich. Ich glaube alles! Nein richtiger: Ich weiss alles. Ich kenne Deine Treue und kenne auch die Gebräuche an der Kurie. Aber eines glaube Du umgekehrt mir! Das fordere ich ernsthaft, und dass Du es mir nicht versagst, befiehlt Dir Deine hilfsbereite Liebe. Hiesse man mich, die bestimmte grosse und unaufhörliche, ruhmlose und zermürbende Arbeit und dazu jene Knechtschaft gewisser Menschen anzunehmen, die ich eben durchaus nicht leiden mag, dann würde das kurz gesagt bedeuten, dass ich die Nachfolge jenes Calvo aus Neapel anzutreten hätte,15 eines freilich guten und zuverlässigen Menschen – eines Freundes, wie er zu sagen pflegte, eines zwar ungebildeten und wenig beachteten –,16. und überdies, dass ich den mir nicht erstrebenswerten, jedoch mir sogar angetragenen roten Kardinalshut annehmen müsste!16 Dann aber, sage ich, wollte ich bei den herrschenden Verhältnissen und Sitten jenes Standes weit lieber meinen Kopf verlieren, abgeschlagen mit dem Schwert und triefend von Blut! Glaube mir, wenn es auf Erden Wahrheit gibt, so ist dies wahr, ja um emphatisch zu sprechen: es ist die Wahrheit selbst.

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17. Das habe ich in so hitziger Erregung gesagt, damit von nun an für die selbe oder für eine ähnliche Sache weder Du noch ein anderer Freund sich je wieder unnütze Mühe auferlege und sich auch niemand meinen Absagen widersetze, da ich alle Aufdringlichkeit zurückweisen würde, wie ich ja, woran man sich erinnern wird, vor zwölf Jahren ein solches Angebot trotz dem Unwillen meiner Freunde abgelehnt habe, obwohl ich jünger und arbeitsfähiger und mit der Zeit freigebiger, auch der Zustand der Kurie mitsamt der Gunst der Bischöfe uns gegenüber anders war.17 18. In welcher Gesinnung und Selbstverleugnung sollte ich denn jetzt als alter Mann die Nachfolge in einer mir fremden Obliegenheit antreten wollen? Wie sollte ich jetzt nach etwas ausschauen, das ich vor langer Zeit anständiger und rascher hätte erreichen können und das dem anderen18 nie zugefallen wäre, hätte ich’s ihm nicht überlassen? Wohl gibt es junge in stiller Musse lebende Leute und neben ihnen vielbeschäftigte alte Männer; und wir haben ihrer manche gekannt, die in der Jugend äusserst enthaltsam waren und im Alter wollüstig und ausschweifend lebten. 19. Vom Geiz ist bekannt, dass fast alle Alten an dieser Krankheit leiden, die Jungen aber weniger; weil sie, wie Aristoteles19 bemerkt, nach Geld nicht gierig sind, haben sie doch – das die Begründung des Gelehrten! – „noch keine Entbehrung erlitten.“ 20. Wollt Ihr nun nach solchen Vorbildern mich, einen einst äusserst ruhig lebenden jungen Mann, in einen höchst betriebsamen Alten verwandeln oder in einen von jenen, die gesund sind im Liegen und krank im Gehen? Oder in einen von jenen, die alle Tag hindurch schnarchen und alle Nächte hindurch schwatzen? Ich bin nicht einer aus dieser Herde, Lelio; denn „überall habe ich Ruhe gesucht“, wie geschrieben steht,20 und sie von frühester Kindheit an bis fast zum Verdacht der Faulenzerei geliebt. 21. Nun suche ich überhaupt nichts anderes mehr und liebe nichts anderes! Und ohne sie wäre mir keine Lebensbedingung anders als lästig! Trotzdem werde ich jetzt, wo ich schon meine, sie mit den Händen ergriffen und meine Segel an festen Seilen eingezogen zu haben, erneut auf die hohe See hinaus gerufen! Nein, solches will ich von Euch nicht hören, Freunde, vielmehr bitte ich Euch, Eure Hand dem zu reichen, der sich abmüht, sein Schiff ans Land zu ziehen. 22. Bekannt ist jedermann dies mein Verlangen, vor andern auch Dir. Eine ehrbare Armut habe ich immer begehrt, denn es gibt keine bessere, keine ruhigere, auch keine ungestörtere Lebensart. Sie wurde mir freilich bis heute durch das unantastbare Urteil der erwählten Väter21 versagt, die mir umgekehrt den Reichtum oft nicht versagt hätten. Den Grund kenne ich; und darum verwundert es mich nicht. Dass ich reich würde, wollen sie zwar nicht, aber dass mein Wunsch sich nicht erfülle, das wollen sie. 23. Ich werde gehorchen, und heiter werde ich mein Los ertragen, denn welcher Mensch wüsste, was ihm förderlich ist? Eines wird mich trösten: Was immer ich bin, das bin ich gewiss nicht durch sie, und darum will ich Gott danken, weil er mir den Wunsch und die Macht gibt, ohne sie zu leben. Wegfallen mögen endlich,

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ich bitte, die Ursachen meiner Mühen, und wegfallen die meiner Weigerung! Du weisst, wo ich, und Du weisst, wie ich zu sterben wünschte. 24. Was willst Du? Vermag ich nicht arm zu sein, werde ich reich sein. Doch selbst bei grossem Wohlstand hindert ja nichts, „arm im Geiste“22 zu leben und zu sterben. Und dies ist die einzige Armut, die leicht zu haben und Gott wohlgefällig ist. Und soviel von mir. 25. Von der Beförderung unseres Zanobi23 habe ich mit Freuden gehört. Ich liebe den Mann und bin seiner Liebe sicher. Glück erhoffe ich für ihn, nein nicht für ihn, sondern für sein Geschick, oder richtiger für das unsere, weil wir mitten unter vielen, die weder Gottes noch der Menschen Freunde sind, wenigstens an ihm einen Freund haben.24 Ihn hingegen bedaure ich, übrigens auch die Musen, weil sie nun eine grosse Begabung – ich sage nicht „verlieren“, aber – mit ungleichen Genossinnen teilen.25 Allerdings hat er für seinen Beutel gesorgt, wenn auch nicht für sein Ansehen und nicht für sein Leben, wie ich fürchte, und nicht für seine Ruhe. 26. Und wie sonderbar gehen die Dinge! Nicht lange ist’s her, dass er mir brüderliches Mitleid schenkte und mit sehr sanfter Stichelei zusetzte, weil Mailand, „die ruhelose Stadt, mein Helikon geworden“ sei.26 Und dies sagte er überaus freundschaftlich, aber, wie ich meine, in Unkenntnis dessen, was Mailand bedeutet, und zweifellos ohne zu wissen, in welcher Weise, nämlich wie beschaulich, wie unabhängig, wie einsam und ruhig ich hier lebe.27 Übrigens wollte er früher auch meinen Aufenthalt jenseits der Alpen durchaus nicht loben, als ich an der Quelle der Sorgue zwar als ein Sünder aber in der Ruhe des Herzens beinahe wie ein Engel lebte.28 Er fragte damals „verwundert, was für ein Vergnügen man so fern der italischen Erde denn finde.“29 27. Das sind seine Worte; und die Spitze ist deutlich. 27. Denn er sagte das, wie ich meine, ohne zu ahnen, dass er bald aus eigenem Antrieb das Vaterland verlassen und dass für ihn ein „babylonischer“ Helikon bereitstehen werde. Über diesen Helikon hege nun gerade ich keine haltlosen Vermutungen, vielmehr weiss ich über ihn dank Erfahrungen Bescheid, und sobald ich davon höre, muss ich sogleich sprechen, und das nimmt dann kein Ende. 28. Dass ich mir in jener Hölle schon genug und übergenug an Hass zusammengebraut habe, ist schon offenkundige Wahrheit. Und auch Zanobi wird mit der Zeit dank Erfahrung und Einsicht begreifen, was ich ihm jetzt über seinen Helikon verschweige. Und er wird, wie ich ihn kenne, sich oft dieser Worte30 erinnern und sich, vielleicht reicher, aber gewiss bedrückter und betrübter, nach dem geruhsamen Leben Neapels und nach Italien zurücksehnen,. Oh wie sehr wird er mich nun beneiden, wenn er genau so, wie ich von hier aus seine Stürme betrachte, von dort her auf mein ruhiges Dasein herüber blickt und merkt, wie zwischen uns so gar nichts mehr vergleichbar ist ausser unserer Gesinnung! Richte ihm gute Wünsche aus, und lebe wohl! Mailand, am 9. Februar, gegen Abend (1359).31

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Fam. 20,14

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. 2 Eccli.18,6. 3 Vgl. die selbe Angabe in Fam. 20,6,6. Petrarca hat in Padua wegen des Kanonikats, das er dort seit 1349 besitzt, die Administration von Prokuratoren zu prüfen. 4 Liv. 5,33,10; das selbe Zitat in Fam.19,9,10. 5 Dieses Zitat aus Liv. 26,11,4 findet man bei Petrarca mehrmals, so auch in Fam. 15,2,9 und ausgedeutet in Fam. 15,3,5. 6 Eine selten genaue Zeitangabe wie z. B. in Fam. 8,7,11. 7 Lateinisch: nihil hiemantius. Zur Aussage vgl. Fam. 19,3,8 ff. 8 Vgl. Petrarcas Empfehlungsschreiben Fam. 19,4, auch den Hinweis auf Lelios Raschheit in Fam. 20,1,20. 9 Vgl. Fam. 20,13. 10 Tusc. 1,33,80. 11 Rhetor. 1378 b 6–7. 12 Hor. Epist. 1,1,14. 13 Im Lateinischen folgt auf amor jetzt caritas, und so wieder in Abschnitt 15 im Sinn von Freundesliebe und tätiger Fürsorge. 14 Lateinisch: lacrimis, que ubertim per vestros oculos de meis precordiis erumpebant. 15 Vgl. Petrarcas Schreiben an ihn, Fam. 13,4. Der päpstliche Protonotar Calvo war eben gestorben. 16 Vgl. die folgende Anm.17. 17 Der genannte Calvo hatte seine Stelle einem Verzicht Petrarcas verdankt; das war 1347 gewesen. Vgl. Wilkins, Studies 16 f. 128 zu den kirchlichen Würden, die Petrarca angeboten wurden, dazu verschiedene Fam. wie 12,11,8; 13,5,5. Eine Anspielung auf eine höchste Würde findet man vor allem auch im Schreiben an Bischof Rossi von Parma Fam. 9,5,29 f. 18 Das ist der erwähnte Calvo. 19 Rhetor. 1389 a 14–16. 20 Eccl. 24,11. 21 Das heisst: durch das Kardinalskollegium. 22 Mt. 5,3. Lc. 6,20. 23 Der folgende Teil des Briefes machte ursprünglich einen besonderen Brief aus. Petrarca hatte im vorangehenden September vernommen, dass Zanobi Neapel verlassen habe, um an der Kurie in Avignon die Stelle eines päpstlichen Sekretärs anzunehmen, die er selber einst ausgeschlagen hatte. Er tadelte den Freund deshalb in einem Schreiben, das als Sen. 6,6 im späteren Briefband steht; vgl. Überblick 24 Petrarca denkt an bestimmte Kuriale in Avignon, die ihm abgeneigt sind, und meint, unter eben diesen in Zukunft einen Freund zu haben. 25 Die Arbeit eines päpstlichen Sekretärs, das weiss Petrarca, hat mit den wahren Musen wenig zu tun; vgl. Fam. 13,5,11 und 14,2,3 ff. 26 Dies ein Zitat aus einem verlorenen Brief Zanobis. 27 So günstig beurteilt Petrarca seine Stellung in Mailand sonst selten. 28 Hier vielleicht eine Erinnerung an die alte Vorstellung, dass der Einsiedler eine vita angelica führe; vgl. Fam. 17,5,7 und Suso Frank, Angelikos bios, Münster Westf. 1964. 29 Weiteres Zitat aus jenem früheren Brief des Freundes Zanobi. 30 Welcher Worte bleibt unklar, da Petrarca Zanobi gegenüber ja schweigt. 31 Zur Jahreszahl vgl. Wilkins, Eight years 178–179. Vgl. auch Fam. 20,15.

Fam. 20,15, an seinen Sokrates1 Über das selbe Thema wie im vorangehenden Schreiben. 1. Der Briefwechsel mit Sokrates unterbleibt seit langem. Die Freunde haben sich nichts mehr zu sagen. Einziges Thema dieses Briefes: die wiederhergestellte Freundschaft zwischen Sokrates und Lelio.4. Petrarcas Ermahnung war schlecht geschrieben, nur seine Absicht war gut. Der Erfolg war Gottes Werk. Mailand, am 10. Februar (1359).

1. Seit langem schon, mein Sokrates, unterbleibt zwischen uns der Briefwechsel, dieses grosse Trostmittel bei räumlicher Entfernung. Schuld daran sind unser beider Arbeitslast, doch wahrscheinlich noch manches andere, ja, wenn ich recht sehe, besteht der Hauptgrund darin, dass uns der Schreibstoff allmählich ausgeht. Und verwunderlich ist es nicht, wenn uns das selbe zustösst, was einst einem Tullius und Atticus.2 Kein Haufe ist so gewaltig, dass er unter fortwährender Beschneidung nicht einsinken und ins Nichts zerfallen könnte. 2. Was immer wir wussten, haben wir in unablässigem Briefwechsel schon ausgeschlürft. Heute bietet sich als einziges Thema an, dass eine Erneuerung der Freundschaft zwischen Dir und Lelio und eine Rückkehr zum früheren gegenseitigen Wohlwollen auf meine Ermahnung hin zustande kam. Davon höre ich in Deinen und seinen und in Briefen vieler anderer Freunde, und wahrhaftig bin ich über nichts anderes so glücklich wie über diese Versöhnung. Gut ist der Streit ausgegangen dank Gott und dank Euch. Er hat Euch die richtige Gesinnung eingeflösst, und Ihr habt seinem Geist den Zugang nicht verweigert. 3. Beide lobt Ihr wetteifernd meine Feder; doch dass sie, die auch sonst nicht gepflegt ist, besonders überstürzt und aufgeregt war, das haben die Jahreszeit, die Tagesstunde und die Eile des Boten erzwungen. Doch war sie so voll inniger Neigungen und so sehr entzündet von den Fackeln des Mitgefühls, dass ich – daran erinnere ich mich, und Gott ist mein Zeuge – unter dem Schreiben die Tränen nicht zurückhalten konnte. 4. Vor meinen Augen wart Ihr beide, waren auch alle Freunde, erschüttert ob Eurem Zerwürfnis, waren alle triumphierenden Neider, waren die in so grosser Eintracht vergangenen Jahre! Von daher also die erregte, zwanglose Redensart, von daher der Tränenstrom! Nicht Scharfsinn, der dem Schreiber mangelte, nicht meine Feder, sondern meine Absicht und mein von Gott gefördertes Mitgefühl waren hilfreich. 5. Ihr mögt denken, was Ihr wollt, ich aber lobe nichts als die Gotteskraft, von der alles kommt, was gut ist, sowie Eure Menschlichkeit, die für gute Ratschläge offen ist, ja sie an sich reisst. Grossmütige und mir liebevoll zugeneigte Herzen erkenne ich. Gesegnet seid Ihr vom Herrn; Ihr habt Euch selber sehr Ehrenvolles, mir aber eine Freude geschenkt, die mir von nirgendwo sonst hätte zukommen können! Mein Sokrates, lebe wohl und denke an uns! Mailand, am 10. Februar, vor Tagesanbruch (1359).3

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Fam. 20,15

Anmerkungen 1 Vgl. die andern Briefe des Dichters an diesen Adressaten, vor allem auch die vorangehenden Fam. 20,13 und 20,14. 2 Hinweis auf den Briefwechsel zwischen Cicero und seinem Freund T. Pomponius Atticus. 3 Wilkins, Eight years 171. 179.

Fam. 21,1, an Erzbischof Ernst von Prag1 Weshalb die Wahrheit so viele Feinde habe. 1. Ein Bote übernimmt es, mündlich mitzuteilen, was Petrarca nicht dem Papier anvertrauen will. 2. Für Wahrheit einzustehen, ist gefährlich. 3. Dankbar denkt der Dichter an den guten Empfang am Kaiserhof in Prag. Mailand, am 29. Februar oder April (1357).

1. Vieles habe ich in Gedanken erzeugt und mit der Feder ans Licht gebracht, und weshalb ich’s Dir jetzt vorenthalte, wird Dir der Bote2 erklären, der es übernommen hat, das wenige, das Du vor Augen hast, und auch mehreres, das Du hören sollst, Dir mündlich vorzutragen. Niemand ist Dir ergebener, niemand mir vertrauter als er. Heilig ist die Wahrheit und achtbar gewiss jederzeit, doch nicht immer gefahrlos. Viele Feinde hat sie in allen Jahrhunderten gehabt, aber zu keiner Zeit so viele wie heute.3 Das kommt davon, dass die Tugend niemals so wenige Freunde hatte. Niemand hasst ja die Wahrheit, ausser, wer ein schlechtes Leben führt, und die Furcht vor ihr wird einen tapferen Menschen, wenn auch nicht zum Lügen, so doch wohl etwa zum Schweigen zwingen. 2. Das habe ich – vom Eifer für die Wahrheit getrieben – eben jetzt wie sonst häufig nicht anders als im nachhinein bedacht, als unmöglich war, meine Reden ungeschehen zu machen. Selbst im wechselseitigen Gespräch lässt sich kein Laut vollständig zurücknehmen; wogegen es bei etwas zu freimütiger Niederschrift Hilfsmittel gibt, das Festgehaltene durchzustreichen oder auszumerzen. Ersteres habe ich getan, und vieles habe ich gemässigt, was ich vielleicht später vernichten werde, vielleicht aber bestehen lasse, damit es, wenn ich verschieden bin, aus seinem Hinterhalt hervorbreche und mich für einen Jünger der Wahrheit erkläre, zwar für einen geheimen „aus Furcht vor den Juden.“4 3. Wer weiss denn, ob nicht gerade ich in der Gegenwart – da der Verstand sich ja entrüstet und Gespenster nicht fürchtet5 – all dem einen Weg bereite, was einst ans Licht zu kommen gewillt ist? Doch ich übergehe, worüber meine Meinung noch nicht feststeht. Von mir selber sollst Du soviel wissen: Nichts kann mehr der Deine werden, als ich es bin. 4. In Erinnerung ist mir, wie Du im vergangenen Jahr, als ich die mir auferlegte Gesandtschaft zu unserem Kaiser übernahm,6 mich, einen Dir kaum dem Namen nach bekannten Fremdling,6 verpflichtet hast – oh mit welcher Miene, mit welcher Freundlichkeit, mit welchen Worten und mit wie grosser Menschlichkeit! – Ich weiss noch, wie liebevoll Du mir immer wieder das Selbe einprägen wolltest: „Du tust mir leid, mein Freund, weil Du zu Barbaren gekommen bist.“ Ich erkläre aber, dass ich nie etwas gesehen habe, was weniger barbarisch und was noch menschlicher wäre als der Cäsar und einige hochbedeutende Männer seiner Umgebung. Ihre Namen verschweige ich jetzt mit Absicht. Bedeutendste Männer sind’s, wie ich

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Fam. 21,1

sage, und ausgezeichnete, würdig eines längeren Gedenkens! Und was dazu gehört: überaus freundliche und umgängliche, ganz als wären sie im „attischen Athen“7 geboren worden. Lebe wohl! Mailand, am 29. Februar oder April (1357).8

Anmerkungen 1 Ernst von Pardubitz wurde 1343 Bischof von Prag; sein Bistum wurde 1344 zum Erzbistum erhoben. Unter den Ratgebern Karls IV. nahm er eine hervorragende Stellung ein. Die ihm angebotene Kardinalswürde lehnte er ab. Er starb 1364. Vgl. Personenreg. und Überblick. 2 Damit ist Sagremor de Pommiers gemeint; vgl. Fam. 21,5–21,7. 3 Der ganze Abschnitt enthält Wendungen, wie sie in der Vorrede zum Buch Sine nomine stehen, das um die gleiche Zeit zusammengestellt wurde. Die Schrift findet man lat.und dt. in Petrarca, Aufrufe 224 ff. und im Brief Fam. 21,1 ebenda 247 ff. Hingewiesen sei auf Piur, Briefwechsel 56 ff. 4 Jo. 7,13. 5 Erinnert an eine Aussage des Redners Asinius Pollio, dass „mit den Toten nur Gespenster streiten“. Zitiert wird der Genannte – gemäss Plin. Nat. Prolog – eben im Vorwort zum Buch Sine nomine. 6 Petrarca reiste 1356 im Auftrag der Visconti nach Prag; vgl. Fam. 19,13 und 14. 7 Plaut. Epid. 3,4,66; Miles 2,1,22. 8 Die Jahreszahl ergibt sich aus dem Hinweis auf Petrarcas Gesandtschaft nach Prag. Vgl. Wilkins, Eight years 133 und 137; zu allen Briefen immer auch Dotti, Vita, gemäss dem Indice dei nomi e dei luoghi.

Fam. 21,2, an Bischof Johann von Olmütz1 Dem kaiserlichen Kanzler vielfache Danksagung. 1. Petrarca erkennt die ihm geschenkte Gunst des Kaisers und des Adressaten. 2. Die Hochschätzung, die er empfängt, ist Ausdruck der Liebe. 5. Sie stärkt sein Selbstgefühl. Er dankt für die Ehren, die ihm mit einer goldenen Bulle verliehen werden. Das Gold überbringt sein Bote dem Adressaten. Mailand, am 29. Februar oder April (1357).

1. Verstehe und sehe ich nicht sonnenklar, was Du von mir denkst und wie sehr Du mir gewogen bist, dann bin ich nicht bloss ganz taub, sondern auch blind. Denn nicht allein mit Worten, vielmehr auch durch die Sache, von der es heisst, sie könne nicht lügen, offenbarst Du mir Dein Inneres. Wäre denn, so frage ich bei allen Himmelsbewohnern, etwas gewinnender als diese Deine Epistel, dank welcher Du in einer gewissen ungewöhnlichen und überaus wohlgefälligen Wortkunst mich, den in unsteten Sorgen zerrissenen und gleichsam zerlegten, auf Dich hin gesammelt hast, dass ich denkend und verehrend einzig bei Dir verweilen muss? 2. Was wäre menschenfreundlicher – um anderes zu übergehen, das ich rascher im Geist als in Worten ermesse –, was also wäre menschenfreundlicher, was gütiger als das am Briefende angefügte Wort, es werde der Name Deines Francesco dem Gedächtnis Johanns niemals entfallen? Einen weiten und herrlichen Raum, wahrhaftig, der jedem noch so hervorragenden Mann genügen könnte, hast Du in Deinem Gedächtnis für meinen geringen und glanzlosen Namen bestimmt, und er wohnt darin schon viel zu sicher, als dass er von den Gegenden nördlich der Alpen noch Abweisendes und Ungastliches zu befürchten vermöchte. 3. Denn wirklich wäre Dir niemals einfallen, Dergleichen zu sagen, hättest Du es nicht vorher in Deinem Innern empfunden. Wie viel aber diese Aussage Dir von Deiner Güte, wie viel mir von meinem Ansehen verrät, wer würde das nicht erkennen? Der Natur widerspricht es jedenfalls, dass ein bedeutender Mensch ein geringes Etwas so zäh im Gedächtnis festhält. Damit bekundest Du Deine eigene Grösse und erhöhst mit der Wertschätzung meiner Verhältnisse gleichzeitig mich. Und für Deine Liebe empfinde ich so grossen Dank, als menschliche Gefühle nur fassen können, denn es ist eben die Liebe,2 die mir oftmals dadurch hilfreich war, dass sie Überzeugungen selbst grösster Gelehrter zu meinem Vorteil entkräftete. 4. Ich aber, der mein ganzes Herz vor Dir offen legen und keinen Winkel darin verbergen möchte, weiss nicht, wie ich solches verdiente. Ich stehe da wie ein Tölpel, der eine kostbare Perle entdeckte,3 seine vom Erfolg übertroffene Hoffnung anstaunt und, durch den Gewinn gleichsam betäubt, Vorübergehende anspricht und in der Unkenntnis des echten Wertes vom fremden Urteil abhängig ist. 5. Vor allem Dein häufiges Lob, doch auch gewisse Würdigungen durch andere ausgewiesene Kenner haben erreicht, dass ich seit geraumer Zeit umherstolziere und – was

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Fam. 21,2

lachst Du? – mir irgendwie teurer bin als gewöhnlich. Ich scherze, Du meine Zier, und zweifle nicht, dass das alles von Deiner Liebe kommt, nicht von meinem Verdienst. Selbst wenn der ganze Erdkreis einstimmig mich lobte, könnte er mir das Bewusstsein meiner Kleinheit nicht entreissen. 6. Was soll ich nun von den sehr gegenständlichen Zeugen Deiner Gesinnung, von Deinen stets getreuen Aufmerksamkeiten erklären? Wie sehr hast Du neulich – denn das Vorherige übergehe, aber vergesse ich nicht! – ja wie sehr hast Du mich mit einem höchst seltenen Vorrecht geehrt! Zwar hast Du solches schon früher getan, doch hast Du nun das geheime imperiale Siegel und eine mächtige goldene Bulle grosszügig hinzugefügt.4 Nur schon ihr Anblick übermittelt den Betrachtenden etwas von unendlicher Majestät und Herrlichkeit und zwingt sie, in grosser Ehrfurcht der höchsten Kaisergewalt, der alten Roma und „des goldenen Zeitalters“5 zu gedenken. 7. Auf der einen Seite sitzt unser Cäsar, mit Diadem und Zepter geschmückt, zwischen dem römischem Adler und dem angestammten Löwen6 auf seinem hohen Thron; auf der andern Seite sieht man Roma, prachtvoll mit Tempeln und Mauern; und „mitten im gleissenden Gold,“ um ein Wort Davids7 zu verwenden, erhebt sich – unsere Augen betörend – ungemein liebreich das heilige und verehrungswürdige Bildnis der mütterlichen Stadt. Um auf eine so grosse Gabe zu antworten, habe ich nichts als nackte Dankbarkeit! 8. Dank sage ich dem Cäsar, Dank auch Dir! Nie habe ich von Euch etwas auch nur im Geheimsten erwartet. Nun hat er mich unter die Zahl seiner Pfalzgrafen eingereiht und sonst noch vieles zugefügt, wie nur wenigen andern.8 Du aber hast die Erhabenheit des Cäsarengeschenks mit grösster Hingabe geschmückt und damit zum gar Erhabensten9 erhöht. Wenn ich übrigens bekenne, der Gnade des Erwähnten und der Gunst Deiner Person immerfort bedürftig zu sein, dann gilt das nicht für das Gold. 9. Und so wie ich nun alles, ausser das Gold, als ein ganz überragendes Geschenk entgegennehme, nämlich insbesondere auch Deine Bemühung, die Du für mich, wie die Schriftzüge verraten, in diesem Brief mit grösster Sorgfalt aufgewendet hast, so empfange Du von mir, so bitte ich, das Gold der Bulle.10 Gebracht wird es Dir durch diesen ausgezeichneten Ritter, unseren Sagremor,11 der ein gewaltiger Lobredner Deiner Taten, ein Mitwisser all meiner Geheimnisse ist, um was immer diesem Brieflein fehlt, mit seiner ergötzlichen12 Beredsamkeit zu ergänzen! Lebe glücklich und bleibe gesund! Mailand, am 29. April (1357)13

Fam. 21,2

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Anmerkungen 1 Bischof Johann von Olmütz ist identisch mit Johann von Neumarkt, an welchen Petrarca schon Fam. 10,6 gerichtet hatte. Kaiserlicher Kanzler war Johann seit 1353, damals Bischof von Naumburg (Leitomischl). Die Überschrift des Briefes ist, da dieser 1357 geschrieben wurde, nicht korrekt, denn Bischof von Olmütz wurde Johann erst 1364. Johanns Briefe an Petrarca stehen bei Piur, Briefwechsel und lat. und dt. teilweise in Petrarca, Aufrufe. Vgl. Personenreg. 2 Gemeint ist hier die Liebe an sich, obwohl Petrarca an „Deine Liebe“ anknüpft. 3 Vgl. Mt. 13,45 (auch Mt. 7,6). 4 Das ist die Bulle mit dem Pfalzgrafendiplom; vgl. Anm. 8. 5 Die antike Vorstellung von einem goldenen Zeitalter findet man z. B. bei Ovid, Metam. 1,89–150; Verg. Ecl. 4; Lucrez. Rer. nat. 5,925. 6 Im Lateinischen; leone patrio. 7 Ps. 67,14. 8 Den Text des betreffenden kaiserlichen Diploms, wohl vom Jahr 1357, findet man samt Anmerkungen bei Piur, Briefwechsel Anhang Nr. 8, 221–224. Petrarca erhielt damit gewisse genau umschriebene Rechte, zum Beispiel das, im ganzen Reich Notare zu bestellen, Diplome zu redigieren, Bastarde zu legitimieren. Doch hatten diese für ihn praktisch keinen Wert. 9 Die Worte „erhaben“ und „erhabenst“ stehen für lateinisch augustum, augustissimum, und sollen an den Titel der Cäsaren erinnern. 10 Die Bullen pflegte man in einer metallenen Hülle aufzubewahren 11 Vgl. die folgenden Schreiben Fam. 21,5; 21,6 und 21,7 mit Empfehlungen für Sagremor. 12 Lateinisch: iocundissimo. 13 Das Datum stimmt mit dem des vorangehenden Briefes überein. Zum Inhalt des Briefes vgl. Piur, s. oben, und auch Wilkins, Eight years 133–137 sowie Überblick.

Fam. 21,3, an Checco von Forlì1 Entschuldigung wegen unterlassener Hilfe, Trostworte und heimlicher Ratschlag. 1. Petrarca antwortet spät auf Checcos Brief. 3. Da er unmöglich mit Taten helfen kann, erinnert er an Ratschläge alter Autoren. Am 26. Oktober (1357).

1. Dein ausgezeichnetes Gedicht, so durchaus würdig nicht allein einer Antwort sondern auch der erbetenen militärischen Hilfe, habe ich erst lange Zeit, nachdem es gemeisselt wurde, gelesen. Doch ich habe zum Antworten nicht die nötige Ruhepause, und das jugendlich musische Feuer unterlässt es, mir mit den üblichen Fackeln meinen Erfindergeist zu entzünden. Denn nun hat er schon genug, wenn er Zusammengehäuftes verzettelt, und ist selbst darin recht träge geworden, während mir jede Gelegenheit fehlt, meinen Kräften aufzuhelfen. 2. Ich fühle Mitleid, bedenke aber zugleich das Schriftwort: „Warum zeigst Du lieber Mitleid, statt tätige Hilfe zu bieten?“2 Über diese zu entscheiden, steht keineswegs mir zu. Und wäre es jetzt oder früher mir zugestanden, hätte ich auf Deine Bitten, derweil sie von allen,3 die ich hörte oder las, die weitaus gerechtesten sind, nicht bis heute gewartet. So sehr hat mich Eure Liebe, so sehr das mir angeborene Rechtsgefühl, so auch die unwürdige Lage und Eure daraus erwachsende Bedrängnis erregt, dass ich in dieser Sache eher der Zügel bedurfte als der Sporen. 3. Dass ich die Wahrheit sage, das bezeuge ich bei Gott, der alles sieht, auch bei meinem Gewissen und bei der Erinnerung an den bestimmten höchst vertrauenswürdigen Mann.4 Wird mir also, was ich wünsche, verwehrt, dann bleibt mir, was keine Befehlsgewalt verwehren kann, nämlich dies, in meinem nackten und ungehinderten Verlangen trotz untersagten Mitteln zu kämpfen und als einer der Euren den Ausgang des Geschicks angstvoll und in innerer Spannung zu erwarten. 4. Eben deshalb habe ich nichts weiter zu hoffen und zu sagen, ausser das gewichtige Wort Philons5 anzuführen, das dem Scharfsinn des Gelehrten ebenso entspricht wie Deiner gegenwärtigen Lage: „Guten Mutes hat man zu sein, denn notwendigerweise muss Gottes Hilfe wirksam werden, wenn die menschliche wegfällt;“6 oder auch die Rede des greisen Mannes bei Terenz7 in der Komödie „Adelphoe“: „Du gleichst in Deinem Leben dem Mann, der mit Würfeln spielt. Wenn das, was er dringend benötigt, durchaus nicht dem Wurf entfällt, Dann biegt er den Zufall zurecht und erlangt, was er will, durch Kunst.“ Daraus ziehe, bitte, für Dein Gemeinwesen so viel Trost, als Du vermagst, daraus auch Ratschlag. Und lebe wohl im Gedanken an uns! Hastig, bei schon anbrechendem Tag, am 26. Oktober (1357).8

Fam. 21,3

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Anmerkungen 1 Checco (auch Cecco) di Meleto dei Rossi ist in den Briefen Petrarcas nur durch diesen einen vertreten. Er war Kanzler von Francesco Ordelaffi in Forlì. Er schrieb Gedichte, von denen einige erhalten geblieben sind, und verkehrte mit verschiedenen Humanisten, so auch mit Boccaccio. Sein Brief an Petrarca, den dieser mit Fam. 21,3 beantwortete, hat sich nicht erhalten. Vgl. Wilkins, Eight years 64 mit einem Hinweis auf Roberto Weiss, Il primo secolo dell’umanesimo, in: Studi e Testi 27, Rom 1949, 89; auch Massèra, Studi boccacceschi 3. Eine kurze Notiz über Checco, „den hervorragenden Mann und Freund“, steht in Var. 18 an Pandolfo Malatesta. Petrarca sagt, er habe für jenen ein Epitaph geschrieben, und wer dieses gelesen habe, dem rate er, nichts weiteres zu erbitten: …non possum amplius. Auf Beziehungen zu Forlì verweisen die Familiares an Neri Morando; vgl. Personenreg. 2 Der Sinn dieser Frage entspricht Lehren des Jacobusbriefes 2,13 ff. 3 Im Lateinischen: quamvis omnium quas audierim aut legerim longe iustissimas. 4 Forlì litt unter Geschlechterkämpfen und wurde auch von äusseren Mächten bedrängt. Kardinal Albornoz bekämpfte die Ordelaffi und eroberte die Stadt wie auch Bologna nach seiner Rückkehr nach Italien 1358. Petrarca war offenbar gebeten worden, bei den Visconti zu Gunsten einer Partei um Truppen zu bitten. Um welchen „zuverlässigen Mann“ es sich im Text handelt, kann ich nicht angeben. Vgl. Überblick 5 Neuplatoniker aus Alexandreia, * ca. 15/10 v. Chr. 6 Die zitierte Stelle konnte ich nicht finden. 7 Adelphoe 4,7,21–23 (=740–742). 8 Vgl. Wilkins, Eight years 152 f.

Fam. 21,4, an Bartolommeo von Genua1 Gewohnheiten und Bemühungen der Alten unterscheiden sich von denen der Jungen. 1. Petrarca nennt den jungen Mann seinen Freund, schildert aber die Folgen der Altersunterschiede. 3. Er bittet um Verständnis, dass er bei seinem hohen Alter auf das Briefeschreiben weitgehend verzichten muss. (Mailand 1357/1359)

1. Den nach seinem Äussern mir unbekannten Freund erkenne ich in seinen Zeilen: Blühend und unbeschadet ist sein Leben, feurig, unbeschwert und lebhaft sein Verstand, heiter sein Gemüt, unbegrenzt seine Freizeit und voller Kraft seine Freundschaft. Von all dem habe ich nichts ausser das Letztgenannte. Mein Leben krümmt sich hinab, wie jeder erfährt, der nach mühsamer Überwindung eines steinigen Gipfels sich zum Absteigen wendet und nach einem strebsamen Aufstieg sich vornüber gebückt einem Lebensrest zukehrt. 2. Der Verstand ist matt und schon fast am Erlahmen, von grosser Last so bedrückt wie ermüdet, sein Gemüt in der Abkehr von der Welt und in der Einschätzung der eigenen Lage recht bekümmert, allerdings nicht im Hinblick auf das nahende Greisenalter – dieses verspricht ja Stoff zur Freude: nämlich baldige Auflösung, Befreiung aus dem finsteren Kerker und das Ende drückender Verbannung –, sondern in der Einsicht, dass ich nur langsam und später, als ich wollte, mich aus den Verstrickungen der Jugend befreit habe. 3. Sieh, Freund, auf welch verschiedenen Pfaden wir auf das eine Ziel zugehen! Richtiger: Wir schreiten fast auf dem selben Weg, doch eben in immer anderen Abständen. Wo Du bist, bin ich gewesen, und wo ich bin, wirst Du sein.2 Das eine Ziel hat uns zu Freunden gemacht, doch der Abstand zwischen uns Schreitenden bewirkt Verschiedenheit unserer Neigungen in einem Masse, dass mein Schweigen, das bei Dir Staunen weckt und – wie unter Liebenden üblich – tiefsinnig entschuldigt wird, bei mir nicht allein entschuldbar, sondern gar nötig ist. Und erstaunlich ist eher, dass unter dem Lärmen so vieler mich drückender Sorgen nebenher noch etwas Zeit zum Sprechen übrigbleibt. 4. Hart tönt das in Deinen Ohren, so fürchte ich. Geh jedoch glücklich voran und lebe! Bist Du dahin gekommen, wo ich angelangt bin, wirst Du mit eigenen Augen erkennen, dass es so ist, wie ich sage. Und hast Du Mühe mir zu glauben, wirst Du einst dem Sachverhalt glauben und Dir selber. Immerhin, wenn Du etwas benötigst, gebrauche Dein Recht und reihe mich vertrauensvoll unter Deine Freunde ein! Mein Schweigen aber schone und erwarte von mir nicht lange und häufige Briefe. Vieles, was mir eben noch ein Trost war, gilt mir jetzt – wie ist alles Menschliche doch hinfällig! – schon als Strafe. Lebe wohl! (Mailand 1357–1359).3

Fam. 21,4

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Anmerkungen 1 Der Adressat war wohl Student in Bologna. 2 Lateinisch: ubi es fui, ubi sum eris. Das erinnert an die Legende „Von den drei Lebenden und den drei Toten“ und an die darin geschilderte Begegnung mit der Rede der Toten: Quod fuimus estis, quod sumus eritis. Illustrationen dazu gab es besonders in Italien in beträchtlicher Zahl (so eine auf dem Camposanto in Pisa). 3 Vgl. Wilkins, Eight years 239 vermutet, dass der Brief am ehesten gegen Ende 1357 oder zu Anfang 1358 verfasst wurde, nimmt aber als grösseren Zeitrahmen die Spanne 1353–1359 an.

Fam. 21,5, an Bischof Johann von Olmütz1 Empfehlung eines gemeinsamen Freundes. 1. Sagremor ist, wie sein Name verrät, ein Mann der heiligen Liebe. 2. Er kommt als Bote an den Hof in Prag. 4. Mit seiner liebevollen Hingabe verdient er Gegenliebe. 5. Dass der Bischof über den Stil eines andern verblüfft sei, glaubt Petrarca nicht. 6. Er wiederholt, dass er kein Gold benötige. Mailand, am 25. März (1358)

1. Zum Cäsar kommt Saceramor,2 der beste Mann der Welt; und wie ich zu sagen pflege, verdient er, sofern nicht Liebe mich täuscht, diesen seinen Namen und alles Lob für wahre Freundschaft im höchsten Masse. Er ist eben nicht nur ein Liebender und Freund, sondern, um Dein Wort „emphatisch“ zu gebrauchen, wie ich begierig tue, die Liebe selber.3 Ganz Liebe ist er, so sage ich, und nicht irgendeine Liebe sondern heilige Liebe. 2. Er kommt also zum Cäsar und er kommt zu Dir. Und meine Liebe zu ihm hat mich bewogen – beachte mein feuriges Vertrauen! –, über diesen Mann dem Cäsar das zu schreiben, was mir richtig zu sein schien. Und was ich schrieb, wiederhole ich hier nicht, denn es ist gar nicht nötig, weil ja Du selber, wie gewöhnlich, allein Lektor und Interpret des anderen Schreibens sein wirst. 3. Dir nur dies eine zu sagen genügt: Wenn Du auch nur einmal mir geglaubt hast oder glauben wirst, so glaube, dass er aus ganzem Gemüt, ganzem Herzen und aus allen Kräften Dich liebt,4 hegt, hochschätzt, verehrt und Dich seinen höchsten Gütern und Ehren zuzählt. Entweder täusche ich mich oder ich habe – wurde ich doch oft nach dem Recht der Freundschaft in die innersten Winkel seines Herzens eingelassen – hier stets als Ersten oder als den auf den Ersten (das heisst auf den Cäsar) unmittelbar Folgenden Dich erkannt. 4. Im übrigen zeigt sich auch in seinen Äusserungen klar, dass unter meinen Bekannten gewiss keiner und auch sonstwo keiner von Deinem Namen und Deinen Taten rühmlichere und heller klingende Kunde gäbe als er. Richtig und Deiner würdig wäre es daher, wenn Du in Beantwortung seiner Liebe ihm entgegenkommen und ihm zeigen wolltest, dass Du wie an Verstand, an Redekunst und Tugend des Herzens so auch an Wohlwollen und Liebe durch niemanden zu übertreffen bist. Mehr würde ich anfügen, spräche ich zu einem andern; nun aber richte ich meine Worte an einen, der, wie ich hoffe, mich sogar in meiner Redeknappheit, ja Schweigsamkeit versteht. Mit dem jüngeren Scipio Africanus5 will ich schliessen:„Sieh, dieser Mann ist Deiner würdig.“ 5. Darauf gehe ich bewusst nicht ein, dass Du in Deinen Briefen meinem Stil ungleich zu sein glaubst, und dies so sehr, dass Du bestürzt bist oder Bestürzung wenigstens vorgibst. Sollte es nämlich wahre Bestürzung sein – was ich jedoch nicht vermuten kann –, dann wäre es nicht eine auf Grund meines Stils, sondern eine Deiner väterlichen Gütigkeit. Solltest gerade Du bei irgend jemandes Stil, selbst Ciceros Stil bestürzt werden? Suche Dir einen andern, um ihm das aufzubinden!

Fam. 21,5

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Wie der Stolz sich über wirkliche Gegebenheit hinauf hebt, so stellt die Bescheidenheit sich darunter; und mag sie anderen auch gross erscheinen, ist sie vor sich selber doch immer geringfügig.6 6. Was übrigens Dein Geschenk angeht, so nehm’ ich es an, weil Du mich zwingst, und nicht allein dankbar, sondern auch vergnügt, obwohl ich, um die Wahrheit zu sagen, Gold von Dir nicht wünsche und Gold auch nicht entbehre, wie ich Dir schon früher geschrieben habe,7 und zufrieden bin mit Deinem goldenen Willen. Lebe glücklich und sieh zu, dass Dein Versprechen wahrhaftig sei und folglich weder Zeit noch Ort mich je aus Deiner Erinnerung ausschliesse.8 Mailand, am 25. März (1358).9

Anmerkungen 1 Das ist wiederum Johann von Neumarkt; vgl. Fam. 21,2 mit den Anmerkungen. 2 Sacer amor: heilige Liebe, so nennt Petrarca den Ritter Sagremor de Pommiers fast regelmässig, aber besonders dann, wenn er ihn dem Hof von Prag empfiehlt. Johann von Neumarkt verwendet die selbe Namensform; vgl. Piur, Briefwechsel Nr. 15,64. Der Ritter aus Frankreich diente den Visconti als Vertrauensmann, Kurier und politischer Agent, er diente jedoch auch dem Hof in Prag. An ihn wurde schon in Fam. 19,3,8 und 28 ohne Namengebung erinnert, dann wieder 21,1,1 etc. Vgl. Personenreg., auch Piur und Roberto Weiss, Il primo secolo dell’umanesimo 82–84; 134 f.; Wilkins, Eight years 79 und weitere Stellen gemäss Index ebenda. Vgl. zudem Fam. 21,7 mit Anm. Auf Erfolg und Misserfolg von Johanns Fürbitten beim Kaiser deutet Fam. 23,16. 3 Piur suchte den Brief Johanns, aus dem Petrarca ein emphatisch verwendetes Wort habe zitieren wollen, und hielt ihn für verloren. Petrarca kann jedoch gerade das Wort „emphatisch“ von Johann übernommen haben. Man findet es in Johanns Brief 15, Piur, Briefwechsel 63: splendorem emphaticum aspirare. 4 Die Nennung von drei Liebeskräften erinnert an das jüdisch-christliche Liebesgebot, so wie es in Dt. 6,5 und dann bei Mt. 22,35, Mc.12,28 und Lc.10,27 präzisiert wird. 5 Vgl. das Personenreg. Das Zitat stammt aus Sall. Iug. 9,2. Rossi verweist auf Piur, Briefwechsel 74. 6 Dem lateinischen Wortlaut nach macht der Stolz selber sich gross, die Bescheidenheit selber sich klein, wie denn Petrarca oft die Eigenschaften handeln lässt. Hier ergibt sich daraus ein harter Widerspruch zum Gemeinten 7 Vgl. Fam. 21,2,8. Petrarca hatte das Gold der ihm verliehenen kaiserlichen Bulle an den Bischof gesandt und erhielt es nachher offenbar zurück. 8 Vgl. Fam. 21,2,2 und das Schreiben des Kanzlers bei Piur, Briefwechsel Nr. 21 mit dem Versprechen, Petrarca nie zu vergessen. 9 Vgl. Wilkins, Eight years 133.163–164. 166.

Fam. 21,6, an Erzbischof Ernst von Prag1 Empfehlung eines Freundes. 1. Petrarca empfiehlt einen Freund, der im Dienst zweier Herrschaften stand, doch mit ganzem Herzen dem Hof in Prag dienen wollte. 3. Der Hof handelt gut daran, sich diesen Mann zu verpflichten. Mailand, am 25 März (1358).

1. Vieles zu sagen verbieten mir die Engpässe der Zeit; doch die Liebe zu einem mir sehr teuren Menschen wie auch zur Wahrheit zwingt mich, wenigstens etwas zu sagen. Sieh, da ist ein hervorragender Dir sehr ergebener Mann, den wir so zu teilen pflegten, dass er dem Leibe nach abwechselnd bald der Eure, bald der unsere war,2 dem Geiste nach jedoch stets beiden gehörte, bis er nun endlich sich ganz und gar Euch ergibt.3 Darüber mögen andere urteilen; ich jedenfalls erkenne schon jetzt, wie sehr mir eben deshalb ein Trost des Lebens entschwindet, freue mich deshalb Eures Erwerbs, aber betrübe mich über mein Nachsehen. 2. Ist meine Ansicht richtig, so gibt es keinen grösseren Gewinn als den eines guten Menschen und keinen grösseren Verlust als eben solchen. Was soll ich dem noch beifügen? Vieles könnte man noch sagen, entspräche nur meinem gedrängt vollen Kopf ein so durchaus leerer Zeitraum. Eines aber wage ich Dir zu sagen, was ich auch dem Cäsar zu sagen wagte:4 Wenn gegenüber Liebe und Treue die Verpflichtung beträchtlich ist, dann schuldet auch Ihr, nämlich Du, Vater, und so viele Ihr seid, diesem Manne vieles. 3. Nichts auf Erden liebt er wie den Cäsar und Euch; und hätte er um Euch kein Verdienst, so wäre es dennoch ein Werk Deiner Menschlichkeit und Deiner Seelengrösse wie auch aller Vertrauten an des Cäsars Seite, Euch dieses Mannes anzunehmen, damit er gemäss seinem Verdienst ganz ein Mann des Cäsars und der Eure wäre. Mehr sage ich nicht, indem ich „für nützlicher halte,“ wie Cicero5 sagt, „wenn Du mit Dir selber sprichst, als wenn ich oder ein anderer es tun,“ zumal es um Dir sehr vertraute Dinge geht, die man nicht einzuhämmern braucht. Lebe glücklich, und ist mir möglich, mit nichts anderem als mit Liebe etwas zu verdienen, so zähle mich zu den Deinen! Mailand, am 25. März (Anfang 1358).6

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten Fam. 21,1. Vgl. Piur, Briefwechsel 70 f. 2 Sagremor de Pommiers reiste einmal im Dienst der Visconti, einmal in dem des Pragerhofs zwischen den Mächten hin und her. 3 Lateinisch: cedit. 4 Vgl. Fam. 21,7. 5 Pro Lig. 12,38. 6 Gleiche Datierung wie bei Fam. 21,5 und 21,7.

Fam. 21,7, an den Kaiser Karl1 Empfehlung eines Freundes, der sich um den Kaiser und das Reich sehr verdient gemacht hat. 1. Die Liebe gibt Petrarca die Kühnheit, Bitten vorzutragen. 3. Er weiss und kann belegen, wie sehr der von ihm empfohlene Freund dem Kaiser ergeben ist. 5. Grösste Strapazen erachtet er für nichts, um dem Kaiser zu dienen. 10. Dieser sollte sich tüchtige Männer verpflichten. Mailand, am 25. März (1358).

1. Kühn und furchtsam macht die Liebe. Häufig – so meine ich – habe ich das gesagt, und häufig werde ich’s – wie ich vermute – auch weiterhin sagen. So nämlich ist es: Aus Erfahrung spreche ich. Unermessliches wagt und Geringstes befürchtet wahre Liebe. Doch nun lasse ich die Furcht der Liebenden beiseite, spreche einzig von ihrer Kühnheit, übergehe auch das, wozu krankhafte Liebe die Menschen verleitet, um im Mass, als das heutige Anliegen es erfordert, an Hand des einzigen, sich bietenden Beispiels der Lockmittel ehrenhafter Liebe zu gedenken. Doch wie dürfte ich anders als in glühender Liebe wagen, zum römischen Kaiser so zu sprechen? 2. Der Mann, der diesen Brief Deiner Majestät übergibt,2 hat sich um Dich verdient gemacht und ist Deiner Güte und Deines Wohlwollens würdig. Vieles hast nicht allein Du, sondern in Deinem Namen auch das ganze Kaiserreich ihm zu verdanken. Wie sehr er Dich aber liebt, das vorrechnen zu wollen, scheint überflüssig zu sein, da ich zu Dir spreche, dem es geziemt, Gefühle und Gesinnungen unmittelbar von einer Stirne abzulesen. Du weisst, wie oft dieser Mann, sei’s unter Regengüssen, sei’s bei lästiger Hitze zu Dir gekommen ist und wie unermüdlich und rührig er die Joche der Alpen überstiegen und – jede Schwierigkeit des Wetters und der Wege überwindend –, um Dir dienstbar zu sein, sich selber vergessen hat. 3. Bei Deiner Ankunft in Italien, welche unseren Gebieten zugleich mit Dir die eisige Kälte des Nordens brachte3 (vielleicht, wie ich Dir damals sagte, um den deutschen Kriegern den Schrecken vor dem wärmeren Klima zu ersparen), da haben wir alle gesehen, wie oft er mitten in der Nacht und in der Rauheit des Winters, wachend für Dich und Deine Ehre hin- und herging, gewillt, gleichsam die Kälte des Himmels und die Härte der Erde mit dem Feuer seiner Liebe und Treue zu mildern und – ohne im glühenden Herzen wahrzunehmen, was ausserhalb vorgehe – seinen Namen herrlich mit Taten zu rechtfertigten. 4. Und gewiss ist ihm nicht bloss durch Zufall gerade bei der Taufe sein Name, der auf „Sacer amor“ lautet, gegeben worden, sondern zur bestimmten Vorbedeutung für die Zukunft. Denn obwohl jede geordnete Liebe zum Nächsten heilig ist, so hat doch wirklich jene Liebe ein höheres Recht auf dieses Beiwort, mit welcher der römische Kaiser geliebt wird, der wahrhaft Gesalbte des Herrn,4 der wahrhaft heilige. Da jener also dazu geboren wurde, seine ganze Liebe und seine ganze Seele für Dich zu ver-

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schwenden, war es nur billig, dass ihm bei der Wiedergeburt5 ein Name zuteil wurde, der seinem zukünftigen (im Vorwissen Gottes schon gegenwärtigen) Auftrag entspreche. 5. Sehr vieles wäre über diesen Mann noch zu berichten, doch würde ich meinen, es sei niemandem besser bekannt als Dir, Cäsar. Nur etwas aus Tausenderlei will ich kurz zusammenfassen. In jenem Jahre Deiner Ankunft, als Du mich mit seinen Worten zu Dir nach Mantua bestelltest und ich wenige Tage danach unterwegs war, geschah es, dass ich am Ufer der Adda spät abends Halt machte und früh – mich selber tüchtig anspornend, um rasch bei Dir zu sein – vor Tagesanbruch aus dem Hause ging. Nicht allein meine Begleiter, sondern sämtliche Diener murrten darüber, dass ich bei grimmiger, ganz ungewöhnlicher Kälte, die kaum tagsüber in den Betten am Feuer erträglich war, meinen keineswegs stählernen Körper sogar bei Nacht dem heftigen Schneegestöber, der schlüpfrigen Eisglätte und einem bedrohlichen Wetter aussetzen wollte. 6. Und sieh, kaum hatten wir das Stadttor durchschritten, kam dieser uns entgegen. Er hatte Cremona in der Stille einer unheimlichen Nacht verlassen und bereits zwölftausend Doppelschritte zurückgelegt, um an jenem allerkürzesten Tag des Jahres bis nach Mailand zu gelangen. Und waren seine Diener und Begleiter ob der Kälte fast erfroren und ob der Anstrengung fast erstorben: Er selber schritt aus, als hätte er bei der Morgenröte einer Sommernacht einen kurzen, üppig begrünten Weg eingeschlagen und könnte sich immer wieder an Deinem Titel erquicken und sich im Gedanken an Dich erwärmen. 7. Ich erkannte seine Stimme, da die Finsternis seine Gestalt verhüllte. Ich rief ihn an; er näherte sich begierig, und Du guter Gott! Was für Gerüchte um Deine Person, was für Erwartungen und Geheimnisse hat er mir zur Freude vergnügt in die Ohren geflüstert! Er ging, Cäsar, um Dir einen beschwerlichen Weg zu ebnen, damit gemäss jenem Wort des Isaia „jeder Berg und jeder Hügel sich erniedrige und die krummen Wege gerade und die rauhen geebnet würden“,6 was sich bald mit himmlischer, Deine Pläne begünstigender Hilfe über Erwarten glücklich erfüllt hat. 8. Ein Jahr später sind wir beide gemeinsam zu Dir in Dein Königreich Böhmen gesandt worden und haben auf der langen Wegstrecke kaum von anderem als von Dir, von Deinen und Deines Imperiums Angelegenheiten gesprochen. Kurz gesagt: Entweder ist er äusserst verschlagen und bin ich äusserst unerfahren oder dann liegen ihm Dein Ruhm und Dein Heil weit mehr am Herzen als alle seine anderen Bedürfnisse. Er ist Dir so völlig ergeben, wie kein anderer, da für ihn feststeht, dass in Deinem Amt sein eigenes Ämtchen völlig aufgehoben ist, und da es der Inbegriff seiner Wünsche ist, unter Dir zu leben und unter Dir zu sterben. Doch ich verweile allzu lange bei dieser durchaus feststehenden Sache. Verzeih mir bitte! Von ihm zu sprechen und Dich anzusprechen, ist mir innige Freude.

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9. Nun aber möchte ich Bitten hinzufügen, und einzig darum, weil er manches hat, dessentwegen er über seine Lebensverhältnisse klagen könnte. Sofern ihm bei Dir meine Bitten oder die eines andern überhaupt nötig sind, bezeuge ich vor Deiner Majestät, Cäsar, die mir als etwas Göttliches gilt, dieser Mann sei der kaiserlichen Gunst im höchsten Masse würdig. 10. Du kennst ihn, mein Kaiser, und wäre er Dir immer unbekannt geblieben, wagte ich doch zu beteuern, es sei nicht unrichtig, wenn Du Dich der Ergebenheit eines so tüchtigen Ritters bedienen wolltest, ja es gezieme sich sogar vornehmlich für Deinen unsterblichen Ruhm. Denn während andere Fürsten und beinahe alle Sterblichen nach Gold hungern und sich Wollüsten hingeben, wird doch ein römischer Fürst, der unter den Menschen den ersten Rang einnimmt, solches Handeln aus der Höhe verachten, sich dabei um andere Freuden bemühen und sich andersartige Schätze, das heisst Rat und Tugend, und vor allem eine gewaltige Schar hervorragender Männer verschaffen.6 Sieh nun also, Du unsere Zierde, es ist, wie ich gesagt habe: Die Liebe hat kühn gemacht.7 Lebe wohl, Cäsar, wirke und denke an Dich, an uns und an das Imperium! Mailand, am 25. März (1358).8

Anmerkungen 1 Vgl. den lat. Text Piur, Briefwechsel 65 ff. mit vielen Anmerkungen und lat./dt. Ausgabe in Petrarca, Aufrufe 478 ff. 2 Das ist Sagremor; vgl. die vorangehenden Briefe, besonders Fam. 21,5 Anm. 1. 3 Vgl. die Schilderung in Fam. 19,3,8 ff. 4 1 Reg,24,11und oft. Vgl. Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland, Würzburg 1942 im Register zum Stichwort ‚Gesalbter des Herrn‘. 5 Das heisst: bei der Taufe. 6 Is. 40,4; vgl. Anm. 4. 7 Vgl. oben Anm. 2. Petrarcas Bitte erreichte wenig. Sagremor kehrte nach Frankreich zurück und trat dort später in den Zisterzienserorden ein. Davon berichtete er an Petrarca wohl im März 1367 und bat ihn um seine Busspsalmen. Der Dichter antwortete ihm in Sen. 10,1 8 Vgl. die Datierung der vorangehenden Schreiben, dazu auch Wilkins, Eight years 79 f. 133. 163 f.

Fam. 21,8, an die Kaiserin Anna1 Antwort mit Glückwünschen zur Geburt eines Mädchens und grosses Lob auf die Frauen. 1. Dank für die persönliche Nachricht der Kaiserin. 3. Die Geburt eines Mädchens bedeutet einen guten Anfang. 4. Gott hat mit seiner Geburt das weibliche Geschlecht geehrt; er will, dass man es ehre. 5. Antike Beispiele tüchtiger Frauen. 15. Tüchtig war später die Markgräfin Mathilde. 16. Weibliche Beispiele für Pietät. 21. Der Erdkreis zeugt mit vielen Namen für die Bedeutung der Frauen. 24. Überragend sind die Römerinnen. Mailand, am 23. Mai (1358).

1. Das Schreiben Deiner Erlauchtheit, ruhmreiche Augusta, habe ich voll Freude und Ehrerbietung empfangen. Was soll ich darin vor allem bewundern? Etwa die Klugheit bei so jugendlichem Alter oder die bei Deinem glänzenden hohen Rang ganz ungewöhnliche und seltene Menschlichkeit?2 Ihretwegen hast Du Dich gewürdigt, aus der Schar der so ganz geringen Dir ergebenen Diener gerade mir, der ich durch fast den ganzen Erdkreis von Dir getrennt bin, mit einer sehr sprachgewandten Botschaft3 in einem sehr offenherzigen Schreiben an Deinem Glück Anteil geben zu wollen! 2. Nun danke ich nach all meinem Vermögen und vereint mit Dir nicht etwa einer Lucina,4 wie einst die des wahren Lichts unkundigen Heiden, sondern Christus, dem Urheber des Lichts, des Lebens und alles Guten, ihm, der Dich „von Jugend auf erfreut“,5 und der eben jetzt vor allem mit Deiner erbeteten Fruchtbarkeit nicht allein Dich, sondern auch das ganze Kaiserreich beglückt. Und Dir danke ich für Deinen Gunsterweis, indem ich in diesem Brieflein, weil ich nichts Besseres habe, um es Dir als echte Gegengabe anzubieten, vor Dir mich ehrfurchtsvoll erhebe. 3. Und wirklich, dass die Frucht Deiner ersten Geburt ein Mädchen ist, vermindert Deine und meine und die allgemeine Freude nicht. Denn die Weisen lieben zu sagen, oft folge einem schwachen Anfang ein schöneres Gedeihen. Wer Grosses ins Werk setzt, pflegt mit Geringem zu beginnen, und glauben darf man, gerade so habe jetzt die Natur an Dir gehandelt, und mit dieser ersten frohen Geburt verspreche sie Dir viele noch viel frohere.6 Uns, die wir innig nach guten Nachrichten von Dir und Deinem ruhmreichen Gemahl begehren, genügt es, zu wissen, dass Du für das erhabenste Kaiserreich schon Gebärerin bist. Dabei wird es nicht bleiben; vielmehr wirst Du das glücklich Begonnene aufs glücklichste vollenden. 4. Unmöglich kann man das Geschlecht verachten, aus dem der Himmelskaiser seinen irdischen Ursprung nahm; denn obwohl er ein Mann wurde, ist er aus einer Frau geboren worden, damit niemand denke, wie der hervorragende Lehrer der Wahrheit Augustinus7 gesagt hat, dem Schöpfer sei das weibliche Geschlecht gar verächtlich. Auch gehen aus diesem Geschlecht die weltlichen Könige, die vornehmsten der Menschen, und die über alle Könige erhabenen Kaiser, die göttlichen Cäsaren, hervor. Füge hinzu, dass nicht allein durch die Geburt, sondern

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auch durch Verstand, vielfache Begabung, ja durch Taten und durch königliche Ehre Dein Geschlecht geadelt ist. 5. Um unter Weglassung vieler Belege nur wenige anzuführen, so hat bei den ältesten Griechen Minerva,8 die Schöpferin verschiedenartiger Künste, alle Männer an Erfindungsgabe übertroffen und gilt deshalb als Göttin der Weisheit. Isis, die Tochter des Inachos,9 hat den Ägyptern früher als sonst jemand Buchstaben gegeben. Bei uns hingegen soll Carmentis, die Mutter des Königs Euandros,10 die von uns verwendeten Buchstaben erfunden haben. 6. Die mädchenhafte Griechin Sappho11 hat Bücher geschrieben, deren Gehalt man mit den Werken grösster Dichter vergleicht. Und eine gewisse Proba,12 Gattin eines Adelphos, die beider Sprachen kundig war, hat bei den Griechen homerische und bei uns vergilische Verse für ihren Gebrauch umgeschmiedet und darin die Schöpfung der Welt, das Geschick der Väter, die Ankunft sowie die Geschichte Christi sehr kurz und nach ihrer Anordnung in fremdem Wortlaut zusammengefasst. 7. Nur kurz nenne ich die Sibyllen, die gottbegeisterten Frauen, sehr genaue Mitwisserinnen des Zukünftigen und des göttlichen Rates, von denen es heisst, eben dank dieser Gabe sei allen, nämlich ihrer zehn, der eine und selbe Name gegeben worden, obwohl sie nach Herkunft und Zeitalter voneinander getrennt seien, wie wir dank dem Zeugnis des Marcus Varro wissen.13 Von ihnen haben wir so vieles vernommen, was im Verlauf der Zeit bis zum Ende der Welt insbesondere über Christus vorausgesagt und erfüllt wurde, dass unsere Lehrer den einzigen ihnen gemeinsam verliehenen Namen sogar den heiligen Namen unserer Propheten angefügt haben.14 8. Noch eine andere Art von Frauenlob muss angeführt werden. Oreithyia,15 die Königin der Amazonen, um andere zu übergehen, soll über so grosse Kenntnis der Kriegskunst und so grosse Manneskraft verfügt haben, dass zu den zwölf hochberühmten Arbeiten, die der Griechenkönig Eurystheus16 dem unbesiegbaren Herkules auferlegt hatte, auch die unausführbare Aufgabe gehörte, er solle ihm dieser Königin Waffen bringen. Eine Tüchtigkeit der selben Art rühmte man in Troia an Penthesileia17 und in Italien an Camilla.18 9. Und wer hätte nicht von der ehelichen Liebe und unbesiegbaren Seelenstärke einer Hypsikrateia19 gehört? Sie begleitete ihren König Mithradates von Pontos20 in jenem schweren und lang andauernden Krieg mit den Römern nicht bloss zur Zeit grosser Gefahren, sondern auch nach seiner Niederlage und hielt ihm, dem von den Seinen verlassenen, als einzige durch alle Schicksalsschläge unermüdliche Treue. Obwohl von hervorragender Schönheit, vernachlässigte sie die Körperpflege, änderte ihre Kleidung, gewöhnte ihren Leib, den einst durch königlichen Luxus verzärtelten, an Pferde, Waffen und alle Art Strapazen. Und so bot denn dem schwer geschlagenen König in seinem äussersten Elend einen wahrhaft lindernden und einzigen Trost einzig seine Gattin. 10. Bei den Puniern, bei den Lakedaimoniern, den Teutonen und Kimbrern, diesen äusserst kriegstüchtigen Völkern, sollen

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in gewissen Schlachten die Frauen tapferer gekämpft haben als die Männer, wie berühmteste Geschichtsbücher verbürgen. 11. Grossartig waren die einen Taten, noch grossartiger die andern. Semiramis21 herrschte nicht bloss über die Assyrer, vielmehr weitete sie in erstaunlichem Masse die Grenzen aus und stärkte ihr Reich durch kriegerische Belästigung der Inder und Äthiopier. Das erste Babylon22 wurde, wie manche behaupten, von ihr gegründet; und jedenfalls hat sie, wie niemand bezweifelt, die Stadt mit einem ungemein weiten Mauerring umgürtet. 12. Von einem überraschenden Aufstand in dieser Stadt erhielt sie einmal in eben dem Augenblick Nachricht, als sie nach Frauenart mit der Pflege ihres Haares beschäftigt war, und gleich wurde diese Weiberseele von so ungestümer Kampfwut ergriffen, dass sie mit teils aufgebundenem, teils wehendem Haar, wie es eben war, nach den Waffen griff und zur Rückeroberung Babylons stürmte. Fortuna aber begünstigte ihre Tapferkeit so sehr, dass sie die ganze Stadt, noch bevor ihr Haar geordnet war, zum Gehorsam gezwungen hatte. Für diese Tat zeugte die Statue einer eilenden Königin mit besagter Haartracht; sie blieb dort während Jahrhunderten stehen. 13. Bei den Skythen war die Königin Tamiris23 von so feurigem Mut, dass sie den gefürchteten und berühmten König Kyros in Asien mit zweihunderttausend Persern in einer einzigen Schlacht niederstreckte24 und zur Ahndung ihres Sohnes wie zu ihrem eigenen Trost seinen zarten Manen25 sehr viele Totenopfer weihte,26 dem König überdies den Kopf abschlug und ihn in einen Schlauch voll Blut versenkte, um ihn für seine Grausamkeit zu strafen, da er nach dem Blut der Menschen gelechzt und dabei unersättlich gewesen war.27 14. Bei den Ägyptern regierte Kleopatra, bei den Persern Zenobia,28 die sich sogar Königin des Morgenlandes nannte. Sie war eine Frau von ungeheurer Zuversicht und grossartigem Starkmut, unter anderem – was Kleopatra fehlte – von ungewöhnlicher sittlicher Reinheit, doppelt rühmlich bei ihrer seltenen Schönheit. Beide Genannten haben das römische Reich mit so gewaltiger Macht angegriffen, dass die eine die Siegesgewissheit des Augustus29 ins Wanken brachte und die andere dem Kaiser Aurelianus als Kämpfende eine Bedrohung und als Gebändigte einen Grund zum Triumphieren bedeutete.30 15. Doch es soll nicht das Altertum sich jede Grosstat zuschreiben. Bei uns hat vor einigen Zeiten die Gräfin Mathilde31 einen nicht geringen Teil Italiens an sich gebracht. Sie war eine recht energische Rivalin des römischen Kaisertums und führte Kriege mit männlichem Mut, war befehlshaberisch gegen die Ihren und von letzter Härte gegen ihre Feinde, dabei sehr freigebig gegen ihre Freunde. Für ihre überbordende und mehr als weibliche Freigebigkeit legt vor allem die römische Kirche Zeugnis ab. 16. Vielleicht kaum der Erzählung wert, und doch wahren Lobes ebenso würdig, wenn nicht gar würdiger, sind andere Taten. Als eine arme zum gewaltsamen Tod

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verurteilte Frau eine sehr lange Zeit im Kerker sass, weil man sie aus Mitleid lieber wollte verhungern lassen, fand öfter ihre Tochter dank der Nachsicht eines Wärters Einlass zu ihr. Da diese jedoch sorgfältig untersucht wurde, ob sie nichts Essbares mit sich bringe, ernährte sie ihre Mutter heimlich mit ihren Brüsten. Eine andere sorgte mit ebenbürtiger Hingabe für ihren Vater, da er sich in der selben Lage befand. 17. Das könnte in Athen so gut wie in Rom geschehen sein. Denn für beide habe ich Vermutungen, die sich auf schriftliche Aussagen stützen, und zudem ist die Sache weder mit den Sitten der einen noch der andern Stadt unverträglich. Überdies verbietet nichts, sie beiden zuzuschreiben, weil einige Historiker die Tochter eines Heerführers der Athener mit Namen Kimon,32 andere dagegen eine bescheidene und unbekannte Frau ihrem Text einfügten. 18. Um jedoch nicht bei Zweifelhaftem zu verweilen, will ich Sicheres festhalten. Zuerst kam Verwunderung auf, weil ein Leben trotz Nahrungsentzug über das natürliche Mass hinaus erhalten blieb; dann verschärfte man im Kerker die Aufsicht, und damit erkannten die Wärter die angewandte List; diese wurde dem Triumvirn als dem Vorstand der Strafbehörde, von da dem Praetor als dem Urteilsverkünder, sodann den Konsuln mitgeteilt, und in einem Ablauf, wie er attischer Menschlichkeit und auch römischer Erhabenheit entspricht, wurden die schuldigen Personen ihren Kindern geschenkt und den Gesetzen entrissen, während die Elternliebe der beiden Töchter eine Lossprechung erlangte. 19. Wahrhaftig, wessen Herz würden diese Szenen nicht rühren! Da ist die alte hungernde Mutter, die an den Brüsten der jungen Tochter saugt, – und völlig ergreifend ist da der vom Fasten und vom Alter aufgezehrte, saugende Vater! Wir lesen auch, dass der Kerker nachher in einen kleinen Tempel umgewandelt und der Ort zum Andenken an die pietätvolle Tat der Pietas geweiht wurde. 20. Und endlich, wer hätte denn nicht von den Taten bei den Lakedaimoniern gehört? Wie ihre Frauen als getreueste Gattinnen vorgaben, sie wollten die zum Tod verurteilten Männer ein letztes Mal besuchen, und wie sie mit Erlaubnis der Wärter den Kerker zur Nacht betraten, weil nach der Volkssitte eben zu der Zeit die Hinrichtung stattfinden sollte, wie sie hierauf die Gewänder tauschten, die Häupter wie zum Zeichen der Trauer verhüllten und ihre Männer in der Finsternis (die ihre Absicht begünstigte) hinausschickten, um die Gefahr auf sich selber zu laden? Oder wie in der selben Stadt die jungfräuliche Schwester des Königs Leonidas,33 während die Männer im Rat hin und her überlegten, den für das Vaterland gefährlichen Krieg als erste ankündigte? 21. Wem wäre nicht bekannt, dass in Asien Ephesus und andere Städte von Frauen gegründet und ein grosser Teil Asiens wie Europas von Frauen unterworfen wurden? Wer wüsste nicht, dass in Afrika das Imperium von Karthago seine Entstehung einer Witwe34 verdankte? Wer hätte nicht gelesen, dass das israelitische Volk der Fruchtbarkeit zweier Gattinnen eines einzigen Mannes und zweier ihm verlobter Dienerin-

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nen entstammte?35 Und dass es gerettet wurde dank der Standhaftigkeit einer Witwe, die das Haupt des feindlichen Heerführers in ihrem gerafften Kleid davontrug?36 22. Europa aber, der beste und vornehmste Teil der Welt, wenn nicht Liebe mich täuscht, erinnert mit ihrem Namen einzig an eine königliche Jungfrau.37 Und ihre Grossmutter mütterlicherseits, die Mutter Agenors, gab ihren Namen an Libyen!38 Ebenso hat Asien, der dritte Erdteil und dem Umfang nach die Hälfte der Erde, einen weiblichen Namen. 23. Somit geht die dreifache Benennung des dreigeteilten Erdkreises – es ist zu sagen wunderbar und für das weibliche Geschlecht bedeutungsvoll – ausschliesslich auf drei Frauennamen zurück und hat sich bis heute erhalten. Und ich sehe keinen Grund, warum das nicht so lange andauern sollte wie unsere Erdenzeit. Die italienischen Städte Mantua,39 Parthenope, Gaeta, Lavinia und die griechische Stadt Athen, um nicht alle Orte aufzuzählen, was sind auch sie denn anderes als Frauennamen? 24. Was soll ich noch von römischen Matronen sagen, die den ehrwürdigsten und herrlichsten Besitz des Erdkreises ausmachen?40 In der Tat, habe ich einmal zu rühmen angefangen, höre ich kaum wieder auf. „Bei einer solchen Rede,“ wie Cicero zum Lob des Magnus Pompeius sagt,41 „ist es schwieriger, das Ende zu finden als den Anfang.“ Denn wer, so frage ich, könnte Lucretia42 mit Worten gerecht werden, diesem strengsten Exempel der Schamhaftigkeit? Selbst wenn ich ihre Tat nicht durchaus gutheisse, da sie eine fremde Untat am eigenen Körper allzu grausam rächte, so kann ich doch ihren hochgemuten Zorn und ihre Unduldsamkeit gegenüber jeder Schandtat unmöglich nicht bewundern. 25. Wer aber könnte die jugendliche Cloelia43 würdig schildern, welche die Wache des feindlichen Heeres täuschte und schwimmend die Strudel des Tibers überwand, darauf die Schar der jungfräulichen Geiseln zur Vaterstadt brachte? Eine Heldentat, die ihr Feind wie ihr Mitbürger gleichermassen bewunderten und der Ehre und Belohnung für würdig erklärten. 26. Wer würde Cornelia44 nicht kennen, die Tochter des Scipio Africanus, die Mutter der Gracchen? Zwölf Kinder verlor sie45 teils durch Krankheit, teils durch das Schwert, und als sie mit eigenen Augen zusehen musste, wie die tapfersten unter ihnen46 vom Volk getötet, einer Beerdigung beraubt und in den Tiber geworfen wurden, da ertrug sie diesen grausamen Verlust, der selbst Männerherzen erschüttert hätte, so unbesiegbar, dass alle Tränenströme wehklagender Matronen ihr kein Selbstmitleid aufdrängen konnten. Glücklich nannte sie sich, solche Söhne geboren zu haben, weshalb sie, wie ich meine, verdiente, solche Söhne zu besitzen, und nicht verdiente, solche zu verlieren. 27. Und wer schildert Catos Marcia,47 welche das Altertum „heilig“ nannte, wer ihre Tochter Porcia? Als diese vom Tod ihres Gatten hörte, schluckte sie, um ihn nicht zu überleben und weil sie kein Schwert zur Hand hatte, glühende Kohlen und hauchte voll Liebe zu ihm und voll Entschlossenheit, ihm zu folgen, ihren Geist aus.

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28. Viele Frauen übergehe ich wissentlich und willentlich, vornehmlich jene Dir unter unseren Jungfrauen vor allem vertrauten,48 die nicht für irdische Leidenschaften, sondern für Frömmigkeit, für Wahrheit, für Keuschheit, für Treue und aus Sehnsucht nach dem ewigen Leben trotz ihrem zarten Leibe mit starker Seele harte Folter und harte Todesart erduldeten. Und ich betone, dass ich bei der Schilderung der vorgenannten Beispiele mit Absicht lange verweilt bin! Denn dieses Geschlecht, das gewisse Schreiber herabzusetzen bemüht sind, soll mit meiner Feder, die bei allerlei Schwächen doch gewiss ehrlich ist, durch handfeste Zeugnisse verklärt werden, damit es seines ihm gebührenden Lobes nicht entbehre. 29. Auf dass ich aber in höchster Höhe Fuss fasse und Dich, ruhmreichste Augusta, in der Gesellschaft der erhabensten aller Frauen und insbesondere Deines Standes entlasse, sieh, welche sittlichen Vorzüge doch Livia,49 welche Majestät und welchen Ruhm sie besass! Sie nahm bei Caesar Augustus die selbe Stelle ein wie heute Du an der Seite seines Nachfolgers, unseres Cäsars. Teilhaft nicht allein seines Ehebettes, sondern auch seiner Ratschläge und seines Lebens, war sie so redegewandt und auch umgänglich wie keine andere, und verdiente mit ihrer Treue und Klugheit die volle und dauerhafte Liebe des mächtigen Fürsten, die vor ihr keine andere Gattin verdient hatte. 30. Dass Du solches mit ähnlichen Fähigkeiten erreicht hast und erreichen wirst, das vertraue ich. Doch sollen Dir nicht übermässig lange Ausführungen Langeweile bereiten. Die Dir vom Himmel geschenkte Tochter umfange freudig als ein Unterpfand für eine noch edlere Geburt und eine noch grössere Freude! Und wie es Deiner und ihrer würdig ist, flösse ihr Deine eigenen Sitten ein! Bewirke, dass sie Dich bewundere! Und zweifle nicht, dass die vom Cäsar durch Dich Geborene den Eltern ähnlich und der kaiserlichen Ehe würdig werde! Mailand, am 23. Mai (1358).50

Anmerkungen 1 Das ist Anna von Schweidnitz, die dritte Gattin Karls IV.; sie hatte den Dichter auf der Romfahrt kennengelernt. Dass sie statt dem erhofften Thronfolger ein Mädchen gebar, bedeutete für den Pragerhof eine grosse Enttäuschung. Von der Geburt hatte Petrarca durch ein – wohl von ihr selber geschriebenes oder diktiertes Schreiben – erfahren; überbracht hatte es der früher genannte Sagremor de Pommiers. 2 Die Kaiserin war siebzehnjährig. Vgl. Fam. 17,6,3 zum Lob der humanitas, das Petrarca in Variationen manchen anderen hohen Persönlichkeiten spendete. 3 Lateinisch: nuntio. Das Wort kann sowohl eine Botschaft wie einen Botschafter meinen. Sollte ein Bote die Nachricht der Kaiserin in Worte gefasst haben, hätte er Sagremor geheissen. 4 Antike Geburtsgöttin, oft mit Iuno gleichgesetzt. 5 Ps. 42,4: der Psalm Introibo wurde früher als Stufengebet in der Messe verwendet. Anna wird ihn gekannt haben.

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6 Kaiserin Anna gebar am 26. Februar 1361 ihren Sohn Wenzel. Sie starb im Juli 1362. 7 Sermo in natali domini 190 cap.2,2. Die Zitatangaben stammen zu einem Teil nicht aus der Ausgabe Rossi, sondern aus Piur, Briefwechsel 81 ff. 8 Name für eine in Italien verehrte Göttin, die weitgehend der griechischen Athena entspricht. 9 Isis: Muttergottheit und Schutzgottheit der Ägypter; Inachos: der Sage nach erster König von Argos. 10 Carmentis (oder Carmenta), in Rom mit dem Fest Carmentalia gefeiert und mit dem Wort carmina verbunden, darum zur Göttin der Poesie erklärt. Nach gewisser Überlieferung soll nicht sie, wie Petrarca angibt, sondern Euandros, ein Dämon, der aus Arkadien ausgewandert war, die Buchstabenschrift gebracht haben. Vgl. Liv. 1,7,8. 11 Sappho aus Mytilene, * ca. 630 v. Chr., von ca. 603 bis 595 in Sizilien, ist berühmt für ihre Dichtungen, vornehmlich Lieder. 12 Proba verfasste um 360 n. Chr. eines jener „Flickgedichte“, die man Cento nannte und die aus Versen alter Dichter zusammengesetzt waren. Es wurde im Mittelalter zitiert. 13 Zitiert wird der Gelehrte bei Lact. Div. Inst. 1,6,7. 14 Vgl. im Dies irae den Vers: teste David cum Sibylla. 15 Den Namen Oreithyia trug eine Tochter des Königs Erechtheus. Doch die im nächsten Satz erwähnte neunte Arbeit des Herkules betraf Hippolyte, und zu fordern war ihr Gürtel. 16 Eurystheus (Eurysthenes, Aristodemos), Enkel des Perseus, König in Tiryns, Dienstherr von Herkules, auferlegte diesem zwölf kaum erfüllbare Arbeiten und musste hinnehmen, dass der selbe alle Schwierigkeiten überwand. 17 Die Amazone Penthesileia zog mit einer Heerschar von Gefährtinnen nach Troia, um den Helden Hektor zu rächen, und fiel im Kampf gegen Achille(u)s. Vgl. Iust. Epit. 2,4,31. 18 Camilla, Tochter des Volskerkönigs Metabus, Jägerin und Diana geweiht, fiel im Kampf gegen Aeneas (oder Latinus). 19 Vgl. Val. Max. 4,6,ext. 2. 20 Der König nahm sich 63 v. Chr. das Leben. Sein erbitterter Kampf gegen die Römer dauerte ungefähr fünfzig Jahre lang. Zu Hypsikrateia vgl. Val. Max. 4,6. 21 Semiramis, legendär, wäre wohl ins 8./7. Jahrhundert anzusetzen; vgl. Personenreg. 22 Das erste Babylon, sagt Petrarca, weil er Rom gemäss Augustinus De civ 18,2 und 22 als zweites betrachtete; zu ihnen fügte er Avignon als drittes Babylon, so in Fam. 15,9,4 und Sine nom. 10. 23 Der Name lautet richtig Tomyris. Die Genannte war im 6. Jahrhundert Königin der Massageten im asiatischen Skythien; vgl. Val. Max. 9,10, ext. 1. 24 Das war im Jahr 529 v. Chr. 25 Manen sind Totengeister, hier sind die des jung verstorbenen Sohnes der Tomyris gemeint. 26 Genauer berichtet von dieser Heldentat Fam. 17,3,40. 27 Die antike wie die moderne Geschichtsschreibung beurteilt Kyros so günstig wie nur wenige Könige der Antike. 28 Mit Kleopatra ist die letzte Ptolemäerin dieses Namens gemeint, die sich 31 im Krieg gegen die Römer vergiftete. Zenobia war Herrscherin in Palmyra 267–271/272. Über sie berichtet in der Historia Augusta Trebellius Pollio 15,8. 29 Entscheidender Sieg vom 2. September 31 bei Actium. 30 Unterwerfung 272 und 273 n. Chr.; vgl. Personenreg. 31 Markgräfin von Tuszien, *1046–1115, in zweiter Ehe verbunden mit Welf von Bayern, war nach der Trennung von diesem Gatten eine entschiedene Vertreterin der Päpste im Streit mit den Kaisern Heinrich IV. und Heinrich V. Die „Mathildischen Güter“, welche sie den Päpsten vermachte, blieben umstritten, bis Friedrich II., sie den Päpsten überliess. 32 Vgl. Val. Max. 5,4,7 und ext. 1. Hier wird die Geschichte unter dem Namen eines athenischen Staatsmanns und Strategen Kimon erzählt. Es gab deren mehrere. Vgl. auch Sen. Controv. 24. und Plin. Nat. 5,4,7.

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33 Das ist der Held der Schlacht bei den Thermopylen 480 v. Chr. 34 Diese Witwe war Dido, welche Aeneas umsonst bei sich zurückzuhalten versuchte. Vgl. das Personenreg. 35 Gemeint sind Jakob und seine beiden Ehefrauen Lea und Rachel sowie deren Dienerinnen Silpa, bez. Bilha. Vgl. Gen. 29. 36 Judith mit dem Haupt des Holophernes gemäss dem nach ihr benannten Buch der Bibel 8 ff.-13. 37 Europe (Europa) galt als Tochter des phönizischen Königs Agenor; Zeus, in einen Stier verwandelt, entführte sie auf seinem Rücken in den Erdteil, der ihren Namen erhielt. 38 Vgl. Isidor, Orig. 14,4,1. Libyen wurde von gewissen Geographen mit Afrika gleichgesetzt; vgl. Strabo 17,824. 39 Petrarca leitet gemäss Vergil den Namen Mantua von einer Prophetin Manto ab; Parthenope meint Neapel, das diesen Zunamen einer dort begrabenen Sibylle verdanken soll. Gaeta soll den Namen von Caieta, der Amme des Aeneas, und Lavinia den ihren von der Tochter des Königs Latinus übernommen haben; Athen ehrt mit seinem Namen die Göttin Athene. 40 Vgl. Fam. 16,8,1–9. 41 Cic. Manil. 1,3. Der Genannte war zeitweilig Hauptrivale Caesars; vgl. Personenreg. 42 Hinweis auf ihre Entehrung durch Tarquinius Sextus. 43 Cloelia, selber Geisel bei Porsenna, floh, musste aber zu ihm zurückkehren und wurde darauf mit andern Geiseln freigegeben. 44 Mehrmals genannt bei Val. Max., z. B. 4,4 prol. 45 Drei ihrer Kinder überlebten sie. Gerühmt wurde Cornelia z. B. von Sen. Ad Marciam 6,16,3. 46 Gemeint sind in erster Linie die beiden Brüder und Volkstribune Gaius Sempronius und Tiberius Sempronius von 153 ff., bez. 133 f. Vgl. Personenreg. 47 Luc. Phars. 2,327. Gemeint ist die Gattin des Cato Uticensis, die ihm drei Kinder gebar. Sie heiratete mit seiner Zustimmung den berühmten Redner Hortensius, kehrte aber nach dessen Tod zu Cato zurück. Heilig nennt sie Luc. Phars. 2,326 ff. Ihre Tochter Porcia war die Gattin von Domitius Ahenobarbus, der 48 unter Pompeius kämpfte, aber niedergemacht wurde. Sie überlebte den Gatten – entgegen der angeführten Legende – um drei Jahre. Sehr gelobt wurde sie nicht zuletzt von Cicero, Ad Att. 13,37,3 und 48,2. Vgl. auch Val. Max. 4,6,5. 48 „Unsere“ heisst die christlichen. 49 Livia, * 58 v. Chr.; 38 zweite Ehe mit Octavian/Augustus, der sich von Scribonia getrennt hatte; Tod 29 n. Chr. – Ihr Sohn, der spätere Kaiser Tiberius, stammte aus erster Ehe. Vgl. Plin. Nat. 14,60; Sen. Dial. 6,33; 6,4,3. 50 Vgl. Wilkins, Eight years 133 und 166.

Fam. 21,9, an seinen Sokrates1 Trost und Ratschlag. 1. Petrarca zeigt Mitleid mit dem klagenden Freund. 3. Diesem droht das Schicksal eines Vertriebenen. 5. Ohne Gottes Hilfe wird er die nötige Seelenstärke nicht aufbringen. 7. Doch jedes Menschenleben ist Kriegsdienst, und am meisten leidet der Tüchtigste 14. Geduld kennt keine Verbannung. 17. Sokrates duldet Feindschaft wegen Petrarca. 21. Dieser hat schon jemanden um Hilfe ersucht. 23. Doch er ruft den Freund nach Mailand. Mailand, am 23. Juni (1359).

1. Gerührt hast Du mein Herz, wahrhaftig, und wäre für Seufzer der Weg zu meiner Vernunft nicht schon verschlossen und bestünde nicht schon der feste Wille, mich gegenüber Fortuna zu behaupten, hättest Du mir gar Tränen entlockt. Dein Brief lässt mich erkennen, dass wahr ist, was die Redner behaupten: Mitleid hervorzurufen vermöge eine männliche Klage eher als ein weibliches Wehgeschrei.2 2. Wenn Du die Härte Deines Zustandes wehleidig beklagt und die Gewaltsamkeit Fortunas wie ein grosser Teil der Menschen weibisch bejammert hättest, wäre ich zwar unglücklich geworden (oder hat je ein Freund des Freundes Ungemach ungerührt vernommen?), aber da ich Dich unter den Stürmen des menschlichen Lebens über die Winde zwar erbost, aber aufrecht stehen sehe, empfinde ich für Dich um so innigere Zuneigung, je klarer ich begreife, nicht das üble Geschick, das Dich traf, habest Du verdient, sondern, wenn meine Liebe nicht täuscht, ein sehr heiteres. 3. Vor allem bewegt und tief betrübt mich jene Briefstelle, wo Du sagst, Du seist von eher schwacher Gesundheit und in vorgerücktem Alter, und trotzdem müsstest Du fürchten, dass man Dich nach der Auswanderung aus dem Vaterland, wo Du hättest sterben wollen, schliesslich dazu zwinge, durch fremde Provinzen wie auf einer verspäteten und mühseligen Pilgerreise zu wandern, und etwas Traurigeres als das könne Dir nicht auferlegt werden. 4. Was soll ich dazu sagen? Leugne ich, etwas sei schwierig, wo doch mein inneres Gefühl es für äusserst schwierig erklärt? Heisse ich Dich eisern sein, obwohl Du Fleisch bist?3 Ermahne ich Dich, zu übersehen, was in die Augen fällt? Ermuntere ich Dich, Deine Wunden zu vergessen, wo sie doch unter neuen Schlägen stets wieder aufbrechen? Leichter wird das gesagt, als geleistet. Doch es gelingt, sofern der Geist – mit ungeheurer Anstrengung sich aufrichtend – die Bande zerbeisst, sich über sich selber erhebt und mit seinem Fuss die menschliche Schwachheit niedertritt. 5. Und auch das, ich gebe es zu, kann ohne Gottes unmittelbarstes Eingreifen nicht geschehen. Das ist das Eine, das Erste und Letzte, was die alles durchforschenden Philosophen nicht erkannt haben und was wir in allen unseren Widrigkeiten auf den Knien erflehen müssen. 6. Das Übrige ist allgemein bekannt geworden: Fortuna treibe ihre Spiele, die schmeichelnde sei zu fürchten, die donnernde zu verhöhnen und die blitzende zu

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verachten. Je Froheres sie verspreche, desto geringer sei ihre Treue; je Grösseres sie gewähre, desto geringer sei ihre Beständigkeit; je mehr Geschosse sie verschickt habe, desto weniger blieben ihr übrig. Leichter falle, sie zu unterjochen, als sie für dauerhafte Freundschaft zu gewinnen. 7. Sie pflege vor Spottenden zu weichen und Weichende zu beschimpfen, Wankende zu stossen und Fallende zu erdrücken. Mit keinen Waffen besiege man sie leichter als mit Geduld. Grossen Übeln sei mit grossem Mut zu begegnen. In dieser Arena der Kämpfe wachse keine Hoffnung auf Ruhe. Nicht bloss „Kriegshandwerk,“ nein Feldschlacht „sei das Leben des Menschen.“4 In ein Treffen gerate, wer immer zur Welt komme. Weder Wall noch Lager noch Waffenruhe könnten da nützen;5 immer drohe unmittelbare Entscheidung. 8. Niemals ausser zur Nacht, das heisst im Tod, entwirre sich das Gefecht. Gegen den Ansturm Fortunas diene als Schild die Stärke; Schreckhafte seien gleichsam waffenlos. Im Mass als einer fürchte, vermehrten sich seine Gefahren; bedrängt würden die Fliehenden und übermannt die Gefallenen. 9. Stehende aber könne man nicht zertreten. Der Leib werde unterworfen, selbst gegen seinen Willen, niemals die Seele ohne ihre Zustimmung. Nichts sei für Willige schwierig, und nichts unerträglich für Weise. Nichts sei bedrückend, was nicht für bedrückend erklärt werde. Rein nach Belieben bestimme man, was bitter und was süss sei. Alles hange von blossen Meinungen ab. Einem starken Geist gelte nichts für hart; einem schwachen dagegen alles. 10. Glücklichen könne es übel und Unglücklichen gut ergehen, wenn sie nur wollten. Nicht weichen dürfe man vor Schwierigem. Ein Ende nehme jeder Schrecken. Durch die Mühen des Lebens gelange man zur Ruhe des Todes; sie seien am Schwinden, noch während sie quälten. Hart seien die Kämpfe des Lebens, doch kurz. Geringster Arbeit folge gewaltiger Lohn. In der Höhe sei der Ruhm angesiedelt, in der Tiefe die Schande. Im Trockenen stehe die Lust und auf steinigem Grund die Tugend. 11. Es verfaule die Seele unter Genüssen, und unter Beschwerden strahle sie auf. In der Bequemlichkeit pflege sich Rost anzusetzen, und in der Widrigkeit reibe man sich blank. Nichts sei dem Mann so eigen wie „Arbeit; denn dazu sei er geboren, wie der Vogel zum Flug“6 und zum Schwimmen der Fisch. Die verächtliche Hure ruhe am Mittag im schmutzigen Schoss ihres Liebhabers; dagegen erhebe sich die geweihte Jungfrau, starrend vor Kälte, einsam um Mitternacht. Es liege der Kranke auf seinem Lager; es sitze der Schmarotzer beim Gastmahl, und es stehe der Krieger in der Schlacht. 12. Mitten in den Wogen erkenne man den Schiffer, unter Bechern den Trinker, unter Geschossen den Soldaten. Unter seiner Decke schwitze Thersites7 und unter seinem Harnisch der Aiakides.8 Ruhmlos sei Sardanapal9 im Schlaf und in der Ausschweifung, ruhmvoll Herkules bei seinen Verrichtungen. Marketender und Zuhälter schnarchten, während der Heerführer wache. Der harte Athlet stähle sich in stets schwierigerer Übung. Wen der König besonders liebe, dem auferlege er besonders harte Proben; träges Nichtstun gestatte er jenen, die keine Hoffnung auf

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ruhmvolle Taten weckten. Im Wohlergehen werde unser Friede gefährdet; doch ehrenvoll sei der Streit gegen Widrigkeiten. 13. Ein einziges Gut habe das Leben10 und ein einziges Übel; alles Übrige sei weder das eine noch das andere, und eben das pflege den Sinn des Besitzenden zu begleiten. Eine prunkende, aber drückende Last sei der Reichtum, und für schätzenswert gelte er eher dem Irrtum der Menge als dem Urteil der Gelehrten. Glänzend aber schwer sei die Kette aus Gold. Die oberste Stufe des Glücks sei dem Absturz am nächsten. Menschliche Macht sei nichts als ein glänzendes erwünschtes Elend; der Lebenslauf eines Erhabenen nichts als ein dröhnendes, grell funkelndes Gewitter und sein Ende ein einziger Zusammenbruch.11 14. Ein Schwert, dessen Griff mit einem Jaspis geziert sei, schlage deshalb nicht besser, und eine Schlinge, deren Knoten aus teurer Seide bestehe, würge nicht schlechter. Einem Mann sei jeder Winkel auf Erden sein Vaterland; Exil gebe es nirgends ausser da, wo die Ungeduld es schaffe.12 Beginne der Menschengeist nach dem Himmlischem zu trachten, müsse er überall im Exil sein, bis er dort ankomme, wohin er sich sehne. 15. Der Weise nehme all sein Gut mit sich, wohin er auch gehe.13 Nichts schade ihm der Schiffbruch, nichts die Feuersbrunst, nichts der Räuber. Was man Armut nenne, sei eine Erleichterung von Sorgen und Gefahren; was Exil genannt werde, sei ein Schutzort vor unzähligen Bedürfnissen. Der Tod sei für die Guten das Ende der Mühen und der Anfang glückseligster Ruhe. 16. Es gebe noch tausend Wahrheiten dieser Art, und zum Grossteil schienen sie der Menge unglaubhaft zu sein, hätten aber bei Gebildeten und Erfahrenen den Wert des Wahrsten und Sichersten. Weil aber, wie ich glaube, ganz überflüssig ist, dieses alles Deinen Ohren einzuhämmern, wende ich meine Feder eilig anderem zu. 17. Ich höre, dass Du meinetwegen verfolgt wirst. Das Virus ihres Neides giessen sie über Dich aus, weil sie es bei mir nicht wagen. Dafür will ich aber besorgt sein, dass sie Dir nicht schaden. Doch zur Eigenheit der Neider gehört, mit dem eigenen Übel sich selber zu quälen, sind sie doch um so elender, je deutlicher sie spüren. dass es uns gut geht. Ertragen will ich nicht, dass es heisse, unsere Freundschaft habe Dir mehr Böses als Gutes gebracht. Gewalt kann man Dir nicht antun; sei Du also besorgt, durch blosse Drohungen verächtlichster Leute Dich nicht vertreiben zu lassen. 18. Tröste Deine betrübte Seele! Keiner ist trostlos und keiner muss es werden, ausser er selber bewirkt es. Willst Du sehen, wie Du so gar nicht elend bist? Dann beachte, bei wie vielen Du Neid erweckst! Niemand ist gleichzeitig beneidenswert und des Mitleids bedürftig. Derweil man Dich drängt, steh fest! Derweil man Dir droht, vertraue! Steh auf, wenn man Dich presst! Erinnere Deinen Geist und erinnere Deinen Leib an das viel zitierte Wort Vergils:14 „Wartet getrost und macht Euch bereit für glückliche Tage!“ oder an das andere vom selben Dichter:15

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„Hört, ihr Gefährten, wir wissen bestimmt, dass Schlimmes bevorsteht! Nie hat uns Unglück besiegt; auch diesem setzt Gott bald ein Ende.“ Jener, sage ich, ist unser Gott, der vielen anderen und verschiedenen Dingen ein Ende gesetzt hat. 19. Nun beschwöre ich Dich, Du möchtest Deinen Feinden, die zugleich öffentliche Feinde aller Guten sind, nicht einen Stoff zum Frohlocken anbieten und ja nicht glauben, Du müsstest einen von Dir geräumten Platz ihnen überlassen und aus dem Vaterland ausziehen. Es gehört sich nicht für einen starken und fest stehenden Mann, beim Wehen eines leichten Lüftchens zu wanken. Nach der Schlacht von Cannae haben auf Veranlassung eines Caecilius Metellus mutlose Schwächlinge den Rat erteilt, Italien zu verlassen; diesen Rat hat damals der junge Africanus in seiner Tapferkeit zerschlagen und hat, sein Schwert über die Häupter der Räte zückend, unter Schwüren ihnen auferlegt,16 weder selber das Vaterland zu verlassen, noch es anderen zu erlauben. 20. Behaupte Dich bei diesem ersten Grollen Fortunas als ein Mann, wie jener Jüngling bei ihrem letzten Hieb es getan hat. Behaupte Dich gegen Dich, wie jener sich gegen andere. Behaupte Dich gegen einen einzigen, wie jener sich gegen viele. Deinen verworrenen Gefühlen strecke das Schwert der Vernunft entgegen. Zwinge jene Leute, ihren Rat zu überdenken, sofern sie zum Weggang geraten haben. Andernfalls bringe die eigene schwankende Seele zur Ruhe und zwinge sie, auf eine bessere Meinung zu schwören. Vieles fegt ein Tag hinweg. Kein Schicksal dauert ewig. Oft tritt eine Rettung gegen alle Erwartung ein. Nie kam die Verzweiflung zu spät. Vielleicht kommt Dir Hilfe, woher Du es nicht erwartest. 21. Was mich angeht, so hege ich den Vorsatz, mit Dir alles zu teilen und zuerst meine Freundschaften. Darin werde ich niemals hinter irgend einem anderen meines Standes zurückbleiben, weder an Edelmut noch an Wohlwollen oder Treue und Zahl. Bereits habe ich jenem hochstehenden Freund17 über Deine Lage berichtet, wie Du gebeten hast. Nun lass Dich überzeugen, dass seine Hilfe Dir gewiss nicht fehlen wird. Indessen werde vielleicht ich selber bei Dir sein. Glaube fest, dass Psyllos schon auf dem Weg ist, das Giftkraut in der Hand.18 Ich hoffe, schon bei seinem Anhauch werde das Zischen der Schlangen verstummen. 22. Bist Du entschlossen, Deinen Kopf für einige Zeit der Missgunst zu entziehen, steht für Dich in diesem Unwetter der nachbarliche Hafen bereit.19 Ich weiss, es drückt Dich grosses Verlangen nach mir, und mögen Herzen in der Tugend noch sosehr miteinander verbunden sein, dass nach einem Wort des Hieronymus20 „die mit Christi Bindestoff vereinten“ kein Ding mehr zu trennen vermag – nämlich weder Raum noch Zeit, weder Vergessen noch Überdruss, nicht Hoffnung, nicht Furcht, nicht Neid, nicht Zorn, nicht Hass, nicht Geschick, nicht Kerker, nicht Fessel, weder Reichtum noch Armut, weder Krankheit noch Tod, auch nicht Grab, nicht Auflösung des Leibes in Asche, weil echte Freundschaft unsterblich ist –, so bleibt doch

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wahr, dass die leibliche Gegenwart eine gewisse, nicht geringe Freude weckt. 23. Diese hat uns seit unserer ersten Trennung nie während so langer Zeit gefehlt wie eben jetzt. Schon sind es ja sieben Jahre, dass ich hier in dieser Herrscherresidenz21 ohne Dich lebe. Komm also!22 Was zögerst Du? Komm! Da Du erwartet, erwünscht, erbittet bist! Komm aber so, dass jedermann denkt, nicht Furcht vor dem Feind habe Dich vertrieben, sondern Sehnsucht nach dem Freund Dich gezogen, da es ja wahr ist! Zaudere nicht länger, eile! Damit wirst Du mir und Dir einen Gefallen tun, zudem auch andern, denen Du schon teuer, wenn auch noch unbekannt bist und denen Du zum voraus eine Hochachtung eingeflösst hast, die in Deiner Anwesenheit nicht vermindert wird.23 24. Mach Dich auf! Das Ungewohnte darf Dich nicht schwerfällig machen! Nichts soll Dich schrecken, nichts Dich zurückhalten. Mach Dich auf, der Weg ist kurz. Zweierlei kann geschehen: Entweder werde ich Dich hier festbinden oder Du wirst mich, sobald ich frei bin, mit Dir zurücknehmen. Was Du wählst, wird geschehen. Nutzlos wird Deine Ankunft in keinem Fall sein; denn Du wirst mich wiedersehen, wirst auch Italien besehen und Dich dabei ein bisschen erholen, während die Missgunst fruchtlos in die Winde hinaus tobt. Die Alpen werden Dich von den Schlangen trennen, nachdem sie Dich vom Freund getrennt hatten. Und waren sie für Dich bisher ein Hindernis, werden sie jetzt Schutz und Deckung sein, bis der Quell und Ursprung des Gifts vertrocknet sind, was ich mir für die nächste Zukunft verspreche. 25. Du, bitte, zweifle nicht! Und ob Du das Bleiben oder das Reisen wählst, so geschehe doch alles, was geschieht, mit grossem Mut. Die beste Hoffnung besteht darin, dass Gott, der Feind der Stolzen, der Führer der Bescheidenen, Gott selber, so sage ich, Dir beistehen und auch ich – ob abwesend oder anwesend – nach meinen Kräften helfen werde. Und weil mir schliesslich Dein beweglicher und grosser Verstand sehr wohl bekannt ist, spreche ich nicht länger. Denn was Sache der Freundschaft ist, soll nicht wie Befürchtung wirken. Dies Eine erbitte ich noch: Denke an mich und vergiss mich nicht! Und um ein Cäsarenwort zu verwenden:24 „Ich heisse Dich, Gutes hoffen“. Lebe wohl und bleibe gesund. Mailand, am 23. Juni (1359).25

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Freund Petrarcas, besonders auch Fam. 20,15, wo man meinen könnte, die Korrespondenz mit ihm nähere sich dem Ende. 2 Vgl. Cic. Tusc. 2 passim, besonders 21,48–50 und 23,55. 3 Vgl. Gen. 6,3; 6,12; 2 Reg. 5,1 und oft. 4 Hiob 7,1; schon zitiert in Fam. 1,1,26; 16,6,2.

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5 Von den folgenden Sentenzen findet man so gut wie alle in früheren Familiares. Petrarca zitiert andauernd sich selber. 6 Hiob 5,7. 7 Ein fauler und feiger Lästerer vor Troia; er steht hier für seine Artgenossen. 8 Eacide (Aeacides) steht für Aiakides, ein Patronym. Achilles wird so genannt (wie Alkeides für Herakles steht) als Nachkomme des Aiakos, durch den er auf Zeus zurückgeführt wird. 9 Sardanapal ist ein legendärer König der Assyrer, der sich der Wollust und verschiedenen sittlichen Exzessen hingab. 10 Das einzige Gut ist das „honestum“, die Tugend; vgl. Fam. 3,6,6 und andere Stellen; das einzige Übel ist das Laster. Zweifel zur Frage über das einzige Gut und das einzige Übel äussert der Dichter z. B. Fam. 23,12,5 ff. 11 Ein eigener Brief über das Elend der Hochgestellten ist Fam. 13,4, und ausgiebig wird auch in Fam. 14,1,23 darüber gesprochen. 12 Zwei Schreiben zum Thema der Verbannung sind Fam. 2,3 und 2,4. 13 Das Wort von Bias wird mehrfach zitiert, so Fam. 2,4,9; 6,8.1; 22,12,5. 14 Aen. 1,207. Schon zitiert in Fam. 9,1,8 und 16,6,27. 15 Aen. 1,198–199. 16 Im zweiten Punischen Krieg 216; vgl. Liv. 22,53,5 ff. und Personenreg. 17 Petrarca wollte offensichtlich den Namen, den Sokrates ihm genannt hatte, hier nicht angeben. Es könnte sich um einen Kardinal (Talleyrand oder Guy de Boulogne) gehandelt haben. 18 Die Psylloi waren ein libyscher Volksstamm, berühmt für ein Gebräu, das sie gegen Schlangen einsetzten. Vgl. Luc. Phars. 9,891 ff. 19 Damit ist gewiss Petrarcas Haus in Vaucluse gemeint. 20 Epist. 53,1. 21 Im Lateinischen heisst es in hac regia urbe. Petrarca hatte die Neigung, den Visconti königliche Würde zuzumessen; vgl. Fam. 3,7,2 und 6; 7,15.16; 16,11,9. 22 Frühere Rufe, mit denen Petrarca seinen Freund Sokrates nach Italien locken wollte, fallen in die Jahre nach der Pest; vgl. Fam. 8,3,2 vom 18. Mai (1349); Fam. 10,2, vom 25. September (1349); Fam. 9,2 vom 12. März (1350); doch wurde der Dichter nachher nach Avignon zurückgerufen; vgl. Fam. 11,7,11 vom 11. Juni (1351). 23 Hier wie häufig der Gedanke, dass persönliches Auftreten und die Vergegenwärtigung eines Objekts dessen guten Ruf vermindern können; vgl. z. B. Fam. 1,2,27; 2,14,2; 22,6,4 etc. 24 Cic. Pro Deiot. 14,38. 25 Vgl. zur Jahreszahl Wilkins, Eight years 190.

Fam. 21,10, an Neri Morando von Forlì1 Glückwunsch zur Genesung und eine Mahnung, gefährliche Mühen zu meiden. Bericht über den eigenen Zustand. 1. Hinweise auf Undankbarkeit gegen Gott. 5. Das Waffenhandwerk soll der Freund aufgeben, um wieder ausschliesslich literarische Studien zu treiben. 8. Über Cicero, der den rechten Glauben nicht hindert. 14. Gründe für den Willen Christi, seine Weisheit nicht durch grosse Gelehrte und Redner zu verkünden. 16. Von Briefen Ciceros, die Petrarca selber kopierte. 18. Seine schwere Verletzung durch den Briefband. 22. Sogar jedes Körperglied hat sein besonderes Los. 25. Ein Streit unter Auguren. Am 15. Oktober (Pagazzano 1359).

1. Lieb war mir, wie bei allem Übel, dass die Nachricht Deiner Genesung mich früher erreichte als die Deiner Krankheit. Gott sei gedankt, der häufiger droht als zuschlägt, öfter donnert als blitzt und uns oft schüttelt, aber nicht umstösst, nämlich um uns zu festigen und an unsere Grenzen zu erinnern. 2. Nie wäre eines Vaters Güte so gross, dass sie neben der Milde des ewigen Vaters nicht als Strenge, ja Grausamkeit erschiene. Seine Milde handelt an uns immer gleich und dies oft, ohne dass wir es spüren. Würde sie jedoch einmal nachlassen, wären wir verloren. Um so sichtbarer ragt sie jedesmal dann heraus, wenn wir einer schweren, uns bedrängenden Gefahr entrissen werden 3. Und wo, so frage ich, bestünde für die Sterblichen nicht unablässig eine schwere und bedrängende Gefahr? Niemals, wahrhaftig, und nirgends leben wir gefahrlos. Würden wir bisweilen irgendwo frei von Bangigkeit leben, bestünde doch immer die selbe Gefahr, nur nicht die selbe Furcht. Daraus ergibt sich, dass wir nach einer Befreiung aus der Not uns nicht immer dankbar erzeigen und wie Maro2 gesagt hat, „… der Lage nicht bewusst, für Rettung nicht danken.“ Recht besehen könnten Verstand und Zunge zu danken nie aufhören, da ja Gottes Mitleid nie aufhört. 4. Nur wenn eine ungewöhnliche Angst überwunden ist, zeigen wir uns dankbar und lösen wir Gelöbnisse ein. Aus eben diesem Grund sind nun wir beide, Du für Deine Rettung und ich für die meines Freundes, zu einem Gelöbnis verpflichtet. Nicht mit profanen, äusserlichen Opfergaben, sondern indem wir mit einem Lobopfer den Altar unseres Herzens für Deinen Befreier, den Bewahrer aller Dinge, in Wohlgeruch hüllen. 5. Was Dich betrifft, habe ich nur weniges anzufügen. Oft habe ich Dich ermahnt, Du möchtest Deinen Leib, von unabwendbaren Mühen schon reichlich erschöpft und für weitere Mühen bestimmt, nicht mit überflüssigen belasten. Auch solltest Du, weil für literarische Studien geboren, Dich nicht den Waffen zukehren, wo mehr an Gefahr und weniger an Freude und Ruhm zu erlangen ist. Allerdings weiss ich wahrhaftig nicht – denn ein passendes Lob will ich Dir nicht vorenthalten –, auf wen in unserer Zeit jenes Wort besser zuträfe, das Titus Livius3 auf den

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alten Cato anwandte, nämlich dieses: „Sein sehr rühriger Verstand war für alles gleichermassen begabt, so dass man stets behauptet hätte, er sei gerade für das, was er just in Angriff nahm, geboren worden“. 6. Dennoch wirst Du mir nicht leugnen, dass Dein Verstand, trotz seiner Begabung für alles, zur Literatur zurückkehren würde, wenn Du ihm seine Freiheit schenken und ihm die Zügel lockern wolltest. Aber in der Geringschätzung meines Rates und Deines Leibes und unter Preisgabe Deines Verstandes treibst Du Dich fortwährend in Hitze und Eis, in Regen und Staub, in Gestrüpp und Schlamm herum und beachtest dabei weder die unsicheren Zufälle noch die rings auflauernden Gefahren. 7. Ich bitte Dich, den sehr schlechten und falschen Meinungen der Menschen entgegenzutreten und Deiner Natur zu folgen, die Dich zu Deinem Endziel geleiten wird. Jetzt läufst Du einer Dir fremden Sache nach, nicht weil es Dir gefiele, denn Dir gefällt einzig das Ehrenwerte, sondern um anderen zu gefallen, denen zu missfallen doch wohl nützlicher wäre! Und damit genug über Dich. Ich kehre mich mir selber zu. 8. Ich lebe auf dem Lande nicht fern vom Ufer der Adda.4 Und weil ich weiss, dass Du um mich nicht weniger besorgt bist als ich um Dich, wirst Du beim Anhören meiner gegenwärtigen Lage Dich wahrscheinlich wundern. Du weisst, dass ich unter allen Schriftstellern irgendwelcher Völker aus irgendwelcher Zeit – darin mit Dir wie in vielem einig – in ausnehmender Weise Cicero5 bewundere und liebe. 9. Und dabei habe ich keine Bedenken, ich könnte weniger Christ sein, wenn ich Ciceronianer bin.6 Denn gegen Christus hat Cicero nichts ausgesagt, sofern ich mich eben erinnere. Und gäbe es vielleicht eine Aussage, die der Lehre Christi widerspricht, so würde gelten, dass ich sie weder Cicero, noch Aristoteles oder Platon glauben wollte. Denn wollte ich einem Menschen glauben, was ich nicht einmal einem Engel zu glauben bereit wäre, wie hielte ich mich da an die Drohung des Apostels,7 der im Brief an die Galater gesagt hat: „Wenn wir oder ein Engel etwas verkünden, das anders lautet, als was wir Euch verkündeten, so sei er verflucht.“ 10. Doch ich brauche von Cicero nicht abzuweichen; denn er spricht zwar gemäss dem damals Üblichen von Göttern, aber in seiner Schrift, die ganz dem Thema „Vom Wesen der Götter“ gewidmet ist, kann man bei genauerem Zusehen bemerken, dass er die Schar der Götter und ihre hohlen Namen weniger feiert als verlacht und bloss stellt. Und wahrhaftig, wo er von seiner Grundfrage ausgeht, bezeichnet er8 Gott als den Einen und diesen als den Fürsten und Lenker der Welt. 11. Und obwohl er eine auf alle Wahrheit lauernde Gefahr vielleicht fürchtete (wie ich oft schon bemerkte und schrieb),9 bekannte er dennoch bei Gelegenheit unbefangen, es schicke sich für einen Philosophen nicht, von „Göttern“ zu sprechen.10 Wer also setzt mir da Cicero als Schranke vor den wahren Glauben hin? Oder wer braut da neidische Gefühle gegen einen uns „fremden“ Namen oder (was noch grössere Unkenntnis verrät) gegen einen uns „feindlichen“ zusammen? 12. Christus ist wahrhaftig unser Gott,11 Cicero jedoch ist unser Fürst der Beredsamkeit.12 Ver-

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schiedenheit gebe ich zu; einen Gegensatz bestreite ich. Christus ist das Wort, ist Geisteskraft und Weisheit des Vaters. Und Cicero hat manches über die Wortkunst, über geistige Fähigkeiten und über menschliche Weisheit gesagt, nämlich Wahres, und daher ist es ohne jeden Zweifel der Wahrheit Gottes im höchsten Mass genehm. Da Gott nämlich die lebendige Wahrheit ist und – wie der Vater Augustinus13 erklärt –, „alles Wahre von der Wahrheit her wahr ist,“ muss jedenfalls alle von irgend jemand ausgedrückte Wahrheit von Gott stammen. 13. Christus freilich konnte er nicht kennen, da er kurz bevor Christus-Gott als Mensch erschien, aus der Welt der Menschen entlassen wurde. Beweinen muss man das Los dieses Mannes.14 Denn weil er einen sehr erhabenen und gleichsam göttlichen Geist besass, hätte er, nach meiner Meinung, Christus nur sehen oder dem Namen nach kennen müssen, um nicht allein an ihn zu glauben, sondern ihm auch mit seiner unvergleichlichen Redekunst der grossartigste Herold zu sein. Dergleichen soll denn auch der Apostel Paulus über den andern Fürsten der lateinischen Sprachgewandtheit, über den Dichter Vergil beim Besuch seines Grabes weinend gesagt haben.15 14. Weshalb aber Christus gerade solches nicht wollte, dafür darf man einen Vernunftgrund nicht von Jenem verlangen, dessen Wille der letzte Vernunftgrund ist.16 Insoweit aber der menschliche Verstand zur Höhe des göttlichen Ratschlags vorzudringen imstande ist, lässt sich vermuten, dass Er nicht mit Macht auftreten wollte, wie er gekonnt hätte, auch nicht mit menschlicher Weisheit oder Sprachkunst. Er lehnte ja ab, mit einer Ausdrucksweise gemäss der Lehre der Rhetoren zu überzeugen; er begehrte vielmehr, den Blinden und Irrenden das Licht der nackten Wahrheit einzuflössen, „und das Schwache der Welt zu erwählen,“ wie geschrieben steht,17 um „das Starke zu beschämen. Er wollte die Weisheit der Weisen vernichten und die Klugheit der Klugen zurückweisen,“ ja schliesslich „die Weisheit dieser Welt zur Torheit machen und durch die Torheit der Verkündigung die Gläubigen erretten.“18 Denn es sollte nicht infolge eines anderen Vorgehens der Anschein entstehen, was er lehre, sei nicht himmlische und göttlicher Wahrheit, sondern irdische Kraft und menschliche Wissenschaft; ja es sollte auch nicht, wie der Apostel sagt,19„durch Wortverstand das Kreuz Christi entleert werden.“ 16. Wie dieser Mann, von dem ich zu sprechen begonnen und den ich von Jugend auf im höchsten Mass geschätzt und verehrt habe, ja wie Cicero mir gerade jetzt einen Streich gespielt hat, das höre nun. Ich besitze einen mächtigen Band seiner Episteln, den ich einst mit eigener Hand geschrieben habe, weil ein mir vorliegendes Exemplar für Abschreiber unlesbar war.20 Meine Gesundheit war damals schlecht, aber meine Liebe zu diesem Werk, meine Freude daran und meine Begierde nach seinem Besitz haben das körperliche Unbehagen und die Anstrengung überwunden.21 17. Dieses Werk, das üblicherweise an der Türe zu meiner Bibliothek und an den Pfosten angelehnt steht, damit es mir immer zur Hand sei, hast Du selber gesehen. Da ich nun oft in anderen Gedanken den Raum betrete,

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kam es dazu, dass ich mit dem Rocksaum unachtsam diesen Band streifte, so dass er umfiel und meinem linken Bein nur wenig über der Ferse einen kleinen Hieb versetzte. Ich richtete ihn auf und sagte scherzend: „Was soll das, mein Cicero, warum schlägst Du mich?“ 18. Und er antwortete nichts. Doch wie ich andern Tags dahin zurückgehe, schlägt er wiederum zu und wird wiederum unter Scherzen an seinem Platz aufgestellt. Wozu halte ich Dich auf? Mehrmals verletzt und immer wieder, besinne ich mich, und versetze ihn, als wäre er ungehalten, weil er auf dem Boden stehe, höher hinauf. Doch obwohl infolge des häufigen Stosses gegen die selbe Stelle die Haut auseinander klaffte und ein nicht unbedeutendes Geschwür entstanden war, beachtete ich die Wunde nicht, da ich mehr ihre Ursache als sie selber erwog. Ich scheute also das Wasser nicht, auch nicht das Reiten und mässigte auch nicht den Fussmarsch. 19. Und Du erwartest das Ende? Gleichsam über Vernachlässigung grollend, schwoll die Wunde an, worauf ich weiss nicht was für ein Fleisch, missfarbig und stinkend nachwuchs. Und als endlich der Schmerz nicht mehr bloss meine Scherzreden, sondern auch Schlaf und Ruhe bespöttelte, dünkte mich, ihn geringzuschätzen habe schon nichts mehr mit tapferer Überlegenheit sondern mit Unverstand zu tun, und suchte gezwungenermassen Ärzte auf, die nun schon seit vielen Tagen sich der Wunde annehmen, jedoch nicht mehr zu meiner Belustigung, sondern unter einiger Qual und, wie sie betonen, mit einiger Gefahr für das verletzte Glied.22 Wie grosses Vertrauen ich ihren Voraussagen in der einen und andern Richtung schenke, das wirst Du wissen.23 Häufig werde ich mit Umschlägen belästigt, von üblichen Speisen abgehalten und zu ungewohnter Körperruhe gedrängt. Das alles ist mir verhasst, vor allem aber dies, zum Genuss von Gerichten der Feinschmecker gezwungen zu werden. Immerhin wendet sich schon alles zum Guten, weshalb nun auch Du von meiner Genesung früher als von meiner Krankheit erfährst. 21. Etwas lässt mich oftmals stutzen; dass nämlich bis heute fast jeder meiner schmerzvollen Zusammenstösse auf den immer gleichen Körperteil in der beschriebenen Weise traf.24 Deshalb pflegt ein Diener25 nicht unpassend unter der Verrichtung bescheidenerer Dienste mit mir scherzend „vom Unglücksbein“26 zu sprechen. In meinem ganzen Leben hat mich dieses Schienbein immer wieder zu strenger Zucht angehalten; es hat mich von Kindheit auf gezwungen, viel Zeit mit Liegen zu verbringen, und nichts ist mir schrecklicher als das. 22. Was soll ich sagen? Wenig fehlt, und ich gestatte zwar nicht, aber verwerfe zögernder den Ausdruck Fatum. Hat doch nicht allein jeder Mensch, nein auch jeder Teil seines Leibes und jeder Teil seiner Seele sein besonderes Los! Und wirklich darf man wohl sagen, dass eher die Bezeichnung, weil von böswilligen und verdrehten Köpfen in einem unchristlichen Sinn gedeutet, verdächtig ist, als dass die Sache an sich falsch wäre. 23. Wenn nämlich von „fando“27 das „Fatum abgeleitet wird“, und gemäss einer Aussage Davids28 der Herr „ein für allemal gesprochen hat,“29 dann ist das von Ihm Gesprochene das Fatum.30 Angefügt sei dem prophetischen Ernst eine dichterische Aussage,

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„…unvermindert erhält sich der heilgen Worte schweres Gewicht, und es folgt ihrer Weisung das Schicksal“, wie Statius Pampinius31 geschrieben hat. Somit sind denn das Fatum und die göttliche Vorsehung das Eine und Selbe. Wer das einsieht, geht nicht fehl, doch sollte man immerhin wegen einer Misstrauen erregenden Bezeichnung, indem man am Sinn festhält, die Rede verbessern, wie Augustinus es anrät.32 24. Wir wenden uns vom Streit über Worte ab und wollen in besonnener, aber keineswegs hartnäckiger Art an der Sache festhalten, um in allen Fällen nach der Wahrheit und nicht nach dem Sieg zu haschen, stets aus den Worten einen Behelf für die unerschrockene Seele herausschlagen, um damit nicht bloss zu dem einen oder andern Unglück, sondern zu jedem bereit zu sein. Kein Unglück gibt es, das über dem Menschenhaupt nicht ein Leben lang drohte. Von all diesen Übeln und Lebensgefahren befreit einzig der Tod. 25. Was meinen eigenen Unfall angeht, von dem ich schon mehr, als recht ist, gesprochen habe, so erfüllt sich in ihm vielleicht die ihm zugelegte Wortdeutung. Im Volk wird ja, was Unglück bringt, als „gegenüber“ oder „links“ bezeichnet.33 Dabei ist mir freilich nicht verborgen, dass umgekehrt bei der Wahrsagerei das Wort „links gegenüber“ gleich viel heisst wie glückbringend. Deshalb steht denn bei einem Dichter:34 „Es donnert von links.“ Heiteres liegt im Donner, wenn er von „gegenüber“, das heisst von links kommt, und zwar deshalb, weil das dem Menschen zur Linken Stehende den Göttern zur Rechten steht und wir eben von diesen all unser Gedeihen erhoffen. Darüber gibt es zwischen uns und den Griechen sowie den Barbaren einen vielfachen Streit, weil, wie ich sagte, bei uns die linke Seite, bei jenen (und selbst in ihrer Weissagung) die rechte Seite das Glück verheisst.35 26. Diese gegensätzliche Deutung hat mit unserem Thema nichts zu tun, und darum behalte blosse die Hauptsache: Dies mein unseliges und linkes Schienbein hat kürzlich erlitten, was es gewohnt ist, jetzt aber von einem unerwarteten Feind. So hat mir denn mein teurer Cicero wie einst das Herz, so jetzt das Schienbein verwundet! Du aber lebe wohl, unversehrt und unbeschadet! Am 15. Oktober, um Mitternacht (Pagazzano 1359).36

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. Fam. 20,1 Anm. 1 und die andern Petrarca-Briefe an den selben Adressaten. Aen. 10,666. Liv. 39,40,5. Ebenda hält sich Petrarca auch später auf; vgl. Fam. 22,2; 24,12 (Datum).

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5 Vorliebe für Cicero und Verteidigung derselben mit Hinweis auf Augustinus schon in Fam. 2,9,10–11. 6 Vgl. Hier. Epist. 22,30,4. 7 Der Apostel schlechthin ist bei Petrarca stets Paulus; vgl. Ad Gal. 1,8. 8 De nat. deor. 2,35,90. Vgl. auch Somn. Scip. 8,19 in De rep. 6,24,26. 9 Über Ciceros vorsichtige Stellungnahmen spricht Fam. 20,14,9 f. 10 De inv. 1,29,46. 11 Diese Gleichsetzung findet man bei Petrarca mehrfach, auch wenn er Christus oft Gottes Sohn nennt. 12 Über die beiden Fürsten der lateinischen Beredsamkeit spricht vor allem das Schreiben an Cicero, Fam. 24, 4, dann auch das an Homer Fam. 24,12,3 ff. 13 Sol. 1,15,27. Auch in Fam. 3,15,1 zitiert. 14 Ähnliche Trauer unter Hinweis auf Gottes unanfechtbaren Willen drückt z. B. Fam. 6,2,2 f. aus, und auch in den Briefen, die sich in Buch 24 an die antiken Schriftsteller direkt wenden, wird das selbe Bedauern wenigstens angedeutet; vgl. Fam. 24,3 mit der Datierung und 24,4 Ende. 15 Vgl. G. Comparetti, Virgilio nel medio evo, Florenz 1943, 2. 32 und 94. 16 Dies ist wohl ein Zitat. 17 1Cor. 1,19–27. 18 Ähnliche Gedanken verfolgt Petrarca in Fam. 7,2,17 ff. 19 1Cor. 1,17. 20 Im Lateinischen: impervius, nicht begehbar, nicht zugänglich. Vgl. Fam. 18,12 über eigene Kopierarbeit und das Unvermögen von Schreibern. 21 Entdeckt und abgeschrieben hatte Petrarca besagte Briefe in Verona nach seinem Unfall auf der Flucht aus Parma 1345; vgl. Fam. 5,10. 22 Das selbe Missgeschick erwähnt Petrarca in Var. 25 an Boccaccio, Fracassetti 3,367 f. 23 Zum grossen Misstrauen Petrarcas gegenüber den Ärzten vgl. Fam. 5,19 und seine Invektiven gegen die Mediziner. 24 Vgl. Fam. 5,10,5 ff.; und 11,1,7 ff. zu Reiterunfällen. 25 Petrarca, der häufig seinem Ärger über die Diener Luft verschafft, weist doch gelegentlich wie hier auf ein recht gutes Einvernehmen mit ihnen hin; vgl. Fam. 15,2,9 f. (er kann es wagen, einen Teil der Diener nach Italien vorauszuschicken); 15,3,8 (er hört auf die Reden eines Dieners, als wäre der ein Philosoph). Voll des Lobes ist er auf Wirtschafterin und Wirtschafter in Fam. 13,8,4 ff. 26 Im Lateinischen genauer: fortunarum tibiam. Das Schienbein der Schicksalsschläge wurde verletzt. 27 Fando, Gerundium von fari, „sprechen“. 28 Ps. 61,12. 29 Fari hat den selben Sinn wie loqui. 30 Aug. De civ. 5,9. 31 Theb. 1,212–213. 32 Vgl. oben Anm. 30. 33 Im Lateinischen stehen die Worte laevum und sinistrum; beide sind mehrdeutig. 34 Verg. Aen. 2,693 und 9,631. 35 Die lateinischen Auguren wandten sich gegen Süden und hatten also zu ihrer Linken Osten, den sie günstig deuteten; die griechischen, die gegen Norden schauten, hatten zu ihrer Linken den Westen und verbanden ihn mit der Vorstellung des Ungünstigen. Zum Wort sinister macht sich Petrarca Gedanken bei einem Unfall, den er in Fam.11,1,7 beschreibt. Dort handelt es sich um eine alltägliche Auslegung, nicht um eine von Auguren. 36 Vgl. Wilkins, Eight years 196–197. Der Aufenthaltsort Petrarcas liegt nahe der Adda. Vgl. Fam.22,2.

Fam. 21,11, an Neri Morando1 Von einem seiner sehr treuen Freunde, einem wunderlichen Menschen. 1. Schilderung eines Goldschmieds und seiner Bewunderung für Petrarca. 3. Er erzwingt einen Besuch beim Dichter. 6. Seinen Beruf gibt er auf und besucht Schulen. 8. Er heisst Capra und ist diesem Tier vergleichbar. 10. Auf drängende Bitten hin besucht ihn Petrarca und wird königlich geehrt. Am 15. Oktober vor Tagesanbruch (1359).

1. Schon genug an Kleinkram meines Alltags hast Du gelesen; mehr als genug hat auch die Geschichte meiner ciceronianischen Verwundung2 sich gedehnt. Damit Du aber nicht meinst, Cicero allein werde von unbekannten Leuten geliebt, will ich etwas der selben Art anfügen.3 Und ist es Dir schon altbekannt, soll es Dich mit neuer Bewunderung erfüllen. 2. Hier hat man stets Bergamo vor Augen, ich meine die Bergstadt in Italien. Denn wie Du weisst, gibt es auch eine andere Stadt dieses Namens in Asien, den alten Königssitz des Attalos,4 später Erbgut der Römer. In der unsern hier lebt ein bestimmter Mann von zwar geringer literarischer Bildung, aber von scharfem Verstand. Und zu wünschen wäre bloss, er hätte sich rechtzeitig der Literatur gewidmet! Von Beruf ist er Goldschmied und versteht sich auf sein Handwerk ganz vorzüglich. Und das Beste, was die Natur dem Menschen verleiht: Er ist ein Bewunderer und Liebhaber alles Auserlesenen und verachtet dabei das Gold, das er täglich bearbeitet, und allen trügerischen Reichtum gerade soweit als nötig. 3. Er war schon von vorgerücktem Alter, als er durch Zufall meinen Namen hörte, und durch meinen Ruf verleitet sogleich von leidenschaftlicher Begierde nach meiner Freundschaft entbrannte. Zu weit müsste ich ausholen, wollte ich schildern, auf was für Schleichwegen er die Erfüllung seines bescheidensten Wunsches zu erreichen versuchte oder was er an Versprechen und ehrbaren Schmeicheleien an mich und die Meinen verschwendete, um bis zu mir, dem weit entfernten, vertraulich und feurig vorzustossen. Von Angesicht war er noch unbekannt, als er nach Vorhaben und Namen längst bekannt war. Und dabei lässt sich alles, was in seinem Herzen vorgeht, ihm von Stirn und Augen ablesen.5 4. Was meinst Du? Hätte ich ihm verwehren sollen, was keine Barbarei und kein wildes Tier verweigert hätte? Durch gewinnendes Liebeswerben und durch getreue und unablässige Huldigungen bewogen, nehme ich den Mann von ganzem Herzen an und meine, nicht menschlich genug zu sein, wenn ich dem ehrlichen Liebhaber eher widerwillig begegnen würde. 5. Er aber jubelt sogleich, wünscht sich Glück und verrät seine Herzensfreude in Miene, Stimme und Gebärde, und gleich schaut er, als hätte er sein erhabenstes Ziel nun vor sich, nach Höherem aus und verwandelt sich unversehens in einen völlig anderen Mann. Sofort will er einen beträchtlichen Teil seiner Habe für meine Ehre ausgeben, nämlich Zeichen, Namen, Bild

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seines neuen Freundes an allen Ecken und Enden seines Hauses anbringen, aber auch tief in seine Brust einmeisseln und einen anderen Teil für die Niederschrift all dessen, was mir je in die Feder floss, aufwenden. Ich hingegen überlasse ihm kampflos sogar solche Schriften, die ich Grösseren verweigert habe, belustigt über seinen glühenden Eifer und seinen unerhörten Vorschlag. Und weiter? 6. Allmählich hat er sein früheres Leben aufgegeben und seine alten Tätigkeiten, Bemühungen und Sitten verlernt, ja, alles, was er einmal gewesen, so völlig abgelegt,6 dass alle die Seinen staunten und sich wunderten. Am Ende hat er sich an meine Ermahnung und noch häufigere Warnung, er möge über einem späten Literaturstudium die Sorge um seine häuslichen Verhältnisse nicht vergessen – in diesem einen Punkt unbelehrbar –, nicht gekehrt, hat taub und ungläubig sein Handwerk aufgegeben und ein Gymnasium und auch Lehrer der freien Künste aufgesucht, dies mit unendlicher Freude und wunderbarer Zuversicht. Ich weiss nicht, mit welchem Gewinn, doch, wie ich meine, als einer, der des erwünschten Erfolges würdig ist, da er eine so edle Sache mit so mächtiger Begeisterung und unter so entschiedenem Verzicht auf alles andere begehrt.7 7. Er selber hat Verstand und glühenden Eifer, und in jener Stadt gibt es seit jeher eine grössere Zahl von Lehrern, so dass ihm einzig sein Alter hinderlich zu sein scheint. Dabei ist aber von Platon und Cato, diesen bedeutenden Männern, bekannt, dass der eine sich erst im vorgerückte Alter der Philosophie8 und der andere erst als Greis der griechischen Literatur zuwandte, und dies nicht ohne Erfolg. Mag sein, dass auch der Meine gerade deshalb mit gutem Recht irgendwo in meinem Werk einen Platz erlangen wird. 8. Der Name also dieses Mannes lautet Enrico, sein Zuname Capra, wie das behende, muntere, laubfressende Tier, das aus angeborener Neigung immerfort aufwärts klettert. Varro meint, es heisse so, weil es Sträucher „carpat“,9 da durch Verschiebung eines Buchstabens capra zu carpa wird. Das könnte man gewiss, wenn auf irgendwen, dann zweifellos auf den Unsern anwenden. Denn wäre er schon morgens früh zu einer Waldung gekommen, hätte er bestimmt einen strotzenden Euter und vollen Bauch zurückgebracht. 9. Das alles war Dir schon vor Zeiten bestens bekannt, aber es soll auch andern bekannt gemacht werden. Und was jetzt folgt, weisst auch Du noch nicht. Dieser Mann nämlich hat bei einem solchen Verhalten gegen sich und gegen mich schon lange Zeit bittend darauf bestanden, dass ich ihn und sein Haus mit einem Besuch beehren möchte, um ihn wenigstens während einer einzigen Tageslänge, wie er sich ausdrückte, für alle Jahrhunderte stolz und glücklich zu machen. Die Erfüllung dieses Wunsches habe ich nicht ohne einige Mühen über manche Jahre hinweg verzögert; doch eben jetzt hat er mich dank der Nähe seiner Stadt10 mit Bitten, ja Beschwörungen und Tränen, besiegt. Ich habe also nachgegeben, obwohl einige etwas überhebliche Freunde mir Vorwürfe machten, meinend, sein geringer Stand sei solcher Ehre nicht würdig.

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10. Am 13. Oktober also gegen Abend befand ich mich auf dem Weg nach Bergamo, und der Wegweiser war mit dem alten Bittsteller identisch und zitterte sogleich, ich könnte meinen Vorsatz inzwischen bereut haben, weshalb er sich in eigener Person wie auch mit Hilfe anderer auf jede Art darum kümmerte, mich mit Geplauder von der Richtung des Weges abzulenken. Somit brachten wir eine ebene und kurze Strecke hinter uns, ohne sie zu beachten. Gewisse Personen von Stand und Namen waren mir gefolgt, hauptsächlich um das häusliche Leben11 des begeisterten Mannes kennen zu lernen. 11. Wie man dann in Bergamo eintraf, wurde ich von den vorausgeeilten Freunden jubelnd begrüsst, gleichzeitig vom Vorsteher der Provinz, vom Truppenführer und von den Angesehensten des Volkes – die wetteifernd je für sich selber warben – in den städtischen Palast und in die Häuser der Adligen eingeladen, während sich der andere zum Verwundern ängstigte und in Furcht geriet, ich könnte durch die verschiedenen eindringlichen Bitten besiegt werden. Ich tat, was ich in meiner Lage für anständig hielt, und ging mit meinen Begleitern zum Haus meines einfacheren Freundes hinab. 12. Da gab es einen ungeheuren Aufwand, ein Abendessen nicht für Gewerbetreibende und nicht für Philosophen, sondern für Könige, ein mit Gold geschmücktes Schlafgemach, ein Bett mit Purpurzeug, von dem er bei allem Heiligen schwor, kein anderer habe es je benützt und keiner werde es je benützen, eine bedeutende Menge Bücher nicht für Handwerker, sondern für eifrige Forscher und grösste Liebhaber der Literatur. Hier haben wir wirklich jene Nacht zugebracht, und ich glaube, niemals sei für einen Gastgeber eine Nacht fröhlicher vergangen. Denn er gebärdete sich dermassen vergnügt, dass die Seinen fürchteten, er könnte einer physischen Krankheit und dem Wahnsinn verfallen, ja vor Freude gar sterben, wie das schon manchem geschehen ist. 13. Tags darauf reiste ich ab, von Ehrenbezeugungen und Menschengedränge geschoben; und nachdem der Vorsteher in eigener Person mit vielen anderen mich auf einer längeren Strecke, als mir lieb war, begleitet und ich meinen besten Freund und Gastgeber erst spät und mit knapper Not abgeschüttelt hatte, kam ich Abends zu diesem Landgut zurück. 14. Damit weisst Du, mein Neri, was ich Dir nicht vorenthalten wollte. Jetzt sei dem nächtlichen Briefeschreiben ein Ende gesetzt. Denn inzwischen hat mich das Schreibbedürfnis bis zum Tagesanbruch gejagt; und somit mahnt den Erschöpften der einschläfernde Teil der Nacht zur morgendlichen Ruhe. Lebe wohl, sei glücklich und denke an uns! Geschrieben mit bäurischem Schreibrohr, am 15. Oktober vor Tag (1359).12

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Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. 2 Lateinisch: ciceroniani vulneris …historia. 3 Lateinisch: Ne autem solum Ciceronem diligi ab ignotis credas, unum illis adiciam. Im folgenden Text zeigt Petrarca, dass auch er selber von Unbekannten, auch von Leuten, die ihn kaum kennen, geliebt wird. 4 Petrarca denkt an den dritten König des Namens Attalos, der 153 dem römischen Senat vorgestellt wurde und sein Reich später den Römern vermachte. 5 Unerwarteter Zeitwechsel im Lateinischen aus ersichtlichem Grund. 6 Das Worte exuere und der ganze Satz erinnert an Paulus, Col. 3,9 ff. 7 Vgl. Fam. 22,11, wo Capra dem Lehrer Guglielmo da Pastrengo empfohlen wird. 8 Zu Platon vgl. Serv. Ad Aen. 668. 9 Vgl. Varro, In lingua latina 5,97; auch De re rustica 2,3,7. Carpere ist soviel wie rupfen, verzehren, carpat eine Konjunktiv-Form. 10 Petrarcas Adressat weiss, dass sich der Dichter soeben an der Adda in Pagazzano aufhält. 11 Lateinisch: secreta. 12 Vgl. Wilkins, Eight years 196 f.

Fam. 21,12, an Francesco Nelli, Vorsteher an der Apostelkirche in Florenz1 Über die Kunst, knappe Zeit zu strecken und die Flucht der Zeit zu hemmen. 1. Es gibt eine einzige Geschwindigkeit der Zeit; sie ist für alle Menschen gleich. 5. Um sie zu dehnen, muss man sich mit dem Sterben anfreunden. 6. Damit erreicht man ein vollendetes Leben. 6. Begehrlichkeit verhindert diese Vollendung. 10. Das Dehnen der Zeit gelingt nicht ohne strikte Einteilung der Zeit; spät macht Petrarca damit Ernst. 21. Seine Tageseinteilung schildert und verteidigt er. 25. Er folgt dem Beispiel des Augustus und fügt Besonderheiten hinzu. 30. Wie der Winter so kann auch das hohe Alter angenehm und nützlich sein. Mailand, am 13. November um Mitternacht (1359).

1. Die kurze Lebensbahn zu strecken, das habe ich mir vorgenommen. Mit welchen Listen das gelinge, wirst Du fragen. Äusserst flüchtig ist ja die Zeit, und bremsen lässt sie sich durch keinen Geniestreich. Ob einer schläft, ob einer wacht: Die Stunden, die Tage, die Monate, Jahre, Jahrhunderte gleiten dahin; alle Dinge unter dem Himmel beginnen, kaum sind sie entstanden, zu rennen und stürzen mit sonderbarer Schnelle dem Ende zu.2 2. Da gibt es kein Unterbrechen, kein Ruhen, und die Flucht ist am Tag so eilig wie zur Nacht. Mit der selben Raschheit kommen Rührige wie Säumige voran, ja sogar das scheinbar Stehende läuft; und anders als auf dem Meer, wo mit den wechselnden Winden die Raschheit der Schiffahrt sich ändert, gibt es im Leben nur ein eines stets gleiches Laufen, und zwar ein stets überstürztes. Nie darf man umkehren, nie verweilen. Jede Art Unwetter und alle Art Sturm treibt uns vorwärts. Der hat einen weicheren, der einen härteren Weg, der einen längeren und jener einen kürzeren, doch alle haben die eine und gleiche Geschwindigkeit.3 3. Nicht auf dem selben Pfad, doch mit den selben Schritten kommen wir vorwärts; und mögen wir auf verschiedenen Bahnen laufen, so drängen wir doch zum einen und selben Ausgang. Hat einer diesen später als der andere erreicht, ist er nicht langsamer gegangen, nein, seine Strecke war etwas länger und etwas ferner sein Ziel. Und schiene dieses sehr fern zu sein, es stünde doch ohne Zweifel hart neben uns. 4. Auf dieses laufen wir ungestüm zu, jeder Augenblick stösst uns weiter und drängt uns Widerstrebende vom Meer in den Hafen, ob wir auch in verkehrter Gesinnung den Reiseweg lieben und das Reiseziel fürchten. Vergeblich schauen wir nach hinten. Vorangehen müssen wir, ja wirklich auch ankommen. Der Weg liegt in unserem Rücken, das Ende vor unseren Augen. 5. Was also kann ich tun, oder worin besteht mein Vorsatz, dieses Leben zu dehnen? Ich will es Dir sagen. Zuerst muss ich, so sage ich, mein Herz dazu bereiten, das Ende zu lieben. Denn was wäre heilsamer als zu lernen, etwas gerne zu tun, was man ohnehin und selbst gezwungen zu tun hätte? Hat das Herz gelernt, die Leere nicht zu fürchten,

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das Natürliche zu lieben, das Unausweichliche sogar zu wünschen, dann kann einer ruhig und zuversichtlich ins Auge fassen, was das Menschengeschlecht so bedrückt und so zitternd erwartet. 6. Dass einer diese Haltung vollkommen erlange, ist unmöglich, solange er nicht das vollbracht hat, wofür er vor allem sein Leben einzusetzen verlangte. Möglich wird das, so meine ich, einzig jener seltenen Menschengattung, die nichts anderes kennt als das Streben nach Tugend. Denn eben dieses bedeutet, „ein vollendetes Leben zu leben“, woran Seneca4 erinnert. Und etwas Schöneres gibt es kaum als diese Lebensweise; denn da ist nichts, was erschreckt, nichts, was bekümmert, nichts, was beengt, auch nichts, was zu wünschen wäre, ausser dem, was ganz bestimmt eintrifft, weil kein Hindernis es vereiteln kann. Das gegenwärtige Glück vermehrt sich dabei um vieles dank der Erinnerung an das Vergangene und dank der Hoffnung auf das Zukünftige. 7. Zu diesem Ziel gelangt keiner, der hinter seinen Begierden herjagt; denn niemals kann einer etwas zu Ende bringen, der immer erst anfängt. Zum Füllen ist ein durchlöchertes Geschirr ganz unbrauchbar. Was endlos ist, findet kein Ende. Immer neu ist eben, immer anfänglich, immer haltlos und endlos die Begierde. 8. Wer ihr anhängt, betritt einen endlosen Pfad; er kann niemals ruhen und das Ruhen nicht lernen, weil seine Anführerin, die Begierde, niemals zur Ruhe kommt. Das Leben solcher Menschen endet nicht; es reisst ab, und schon unter dem Anfangen wird es beschnitten, wogegen bei den anderen Menschen der Rest des Lebens, wenn die Pflichten5 erfüllt sind, glücklich und ruhevoll ausläuft. Das Leben der einen hört demnach unvollendet auf, das vollendete Leben der andern dauert hingegen fort, und wenn es einmal froh geworden ist, beginnt es erst, wahres Leben zu sein, und dann eben ist es vollkommen. 9. Mir insbesondere aus der ganzen Herde jener Menschen, die einen mittleren Platz zwischen Anfang und Ende einnehmen, mir, dessen Leben zwar noch nicht abgelaufen ist, aber nicht unter der Herrschaft der Begehrlichkeit in die Länge gezogen werden darf, ja unter solcher Herrschaft auch niemals zu vollenden wäre, mir, dem noch einiges, ja vieles, jedoch nicht Unendliches fehlt, ist für übrig gebliebene Aufgaben6 nicht eine Reihe von Jahrhunderten nötig, aber eben doch Zeit nötig; und weil nun einzig die Beengtheit der Zeit zu fürchten ist, meine ich, wie gesagt, dass mir die Kunst der Zeitdehnung nötig sei.7 10. Und wiederum wirst Du fragen, wie das geschehen kann. Alles hängt von einer genauen Zeiteinteilung ab. Den Wein vergiessen die Betrunkenen; doch Belagerte sparen sogar das Wasser. Verschwendung ergibt sich aus der Fülle; Sparsamkeit aus dem Mangel. Oft zeigt sich in äusserster Not, wie man von Anfang an hätte vorgehen sollen; nein richtiger ist, dass spärliche Verwendung und reichliche Fülle sich kaum je miteinander verbinden. 11. Die Umsicht schwindet, wenn das Vermögen wächst, und sie erstarkt, wenn das andere schwindet. Andernfalls wären die Geschäfte der Menschen glücklicher und hätte ihr Beginnen ein schöneres Gedei-

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hen. Nun aber fängt das Wissen an, wo das Können ein Ende nimmt. Ich möchte, ich hätte früher begonnen! Doch den Wert der Zeit zu erwägen, ist nicht Sache des jungen Verstandes. 12. Ungenau rechnet, wer übergenug hat. Und dabei ist sogar gleichgültig, ob einer Überfluss hat oder Überfluss zu haben nur glaubt, da eben jeder Irrtum nicht auf der Sache, sondern auf der Meinung beruht. Kein einziger Mensch hat Überfluss an Zeit, doch nicht alle erkennen ihren Mangel im gleichen Mass. 13. Ein und der selbe Nebel verhüllt einer jeden Lebenszeit die Zukunft, und der sich reckende Jüngling hat trotz blühendster Kraft keine grössere Sicherheit als der gebückte, zum Grab hinsinkende Alte, hofft jedoch immer auf mehr und wird daher auch öfter und schwerer enttäuscht. Häufig aber ist einer um so sicherer, je weniger er erwartet. Tausend Dinge gibt es und tausend verschiedene Arten von Menschen; aber alle umgarnt betrügerisch nichts so sehr wie die eine und einzige Hoffnung. 14. Um von ihr nicht bis ans Ende umgarnt zu bleiben, mühe ich mich, die Augen offen zu halten. Besser ist, spät vernünftig zu sein als niemals. Zuerst teilte ich verschwenderisch aus, hierauf war ich freigebig, später sparsam, dann geizig und nun möchte ich gar knauserig werden.8 Die Stunde mahnt, und die Notwendigkeit zwingt. Für Zeitvertreib fehlt alles. Wir werden überholt und werden, glaube mir, mitten in unserem Beginnen übermannt werden, falls wir uns nicht ermuntern und uns nicht dagegen sperren. Bieten wir nicht alle unsere Kräfte auf, werden wir erdrückt sein. 15. Daher können endlich meine allgemeine Lage und die Erkenntnis der Grösse der Gefahr mich ebenso tüchtig aus dem Schlaf aufrütteln, als einst die Trophäen des Miltiades den Themistokles.9 Oft schreckt mich wahrhaftig aus einem Halbschlaf die immer regsame Sorge so brüsk vom Lager auf, dass ich – weil das Auge noch geschlossen und der Geist nur eben am Erwachen ist – das in der Nacht bei mir brennende Licht noch gar nicht beachte und dann, als herrsche noch Finsternis, mit ausgestreckter Hand mich vorwärts taste, um den nächsten Diener zu wecken. 16. Bisweilen kommt auch vor, worüber Du lachen magst, dass ich gleich nachher mit offenen Augen das Licht, habe ich’s wahrgenommen, rasch lösche, damit nicht etwa der Diener, wenn er kommt und sieht, er werde unnötig gestört, in sich hinein – zwar schweigend – über meine Albernheiten spotte und in Unkenntnis der Sache, ich weiss nicht was alles überlege. 17. So bin ich. Und wenn die frühere Verzögerung mich reut, so beschämt mich doch nicht mein jetziges Vorhaben. Hätte ich nur in früher Jugend schon die nötige Einsicht besessen! Nur das eine ist mir Trost: Der Alte wird sie haben! Nützlich wäre sie früher gewesen und grossen Anfängen förderlich; aber auch später ist sie nicht unnütz und nicht zu verachten. Und müsste man in der einen der beiden Möglichkeiten fehlgehen, so wäre mir lieber, morgens geschlafen zu haben als abends.

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18. Bedenklicher ist, was das Ende betrifft. Der gefährlichste Irrtum ist der letzte. Von allen Stunden des Lebens kündigt die eine den Tod an. Sich auf diese vorzubereiten, bedarf man einzigartiger und klarster Voraussicht. Auf sie müsste man all seine Zeit und all seine Anstrengung ausrichten. Wenn wir das nutzlos Verschleuderte bedauern, haben wir wenigstens das Restliche behutsam zu sammeln, um das durch Leichtsinn Verlorene mit Sorgfalt zu ersetzen. 19. Damit mühe ich mich ab, und ich befürchte nicht, es werde mir als Vergehen gedeutet, wenn ich einen unersetzbaren Überrest besonders sparsam verwende. Wenn beim Geld die peinliche Genauigkeit für schäbig gilt, ist sie bei anderen Dingen rühmlich. Wer würde nicht die genaue Beachtung der Zeremonien beim Ordensmann, nicht die peinlichste Schamhaftigkeit bei der Frau und nicht die geizige Einsparung der Zeit beim Studierenden loben? 20. Eben solche auferlege ich mir, an ihr halte ich fest. Mit ihr werde ich den Schaden des Zeitverlusts beheben. Daran denke ich, danach eifere ich. Dahin werde ich vielleicht unter Gottes Führung und mit einer kräftigen Anspannung meiner Seele gelangen. Ich werde darum besorgt sein, dass gar nichts verloren gehe; oder dann wenigstens nur das Geringste. 21. Mit Schlaf und mit Erholung will ich die Zeit teilen. Nicht dulden werde ich, dass diese beiden mir etwas von meinem eigenen, rechtmässigen Anteil besetzen. Da gibt es eine richterliche Instanz, an die ich mich wende, sobald ich eingeschränkt werde; das ist die Tugend, die unverfälschte Quelle der Rechtsprechung und unbezwingliche und unbesiegbare Hochburg des Verstandes.10 Wenn ein Grenzstreit auftaucht, muss die Frage ihr vorgelegt werden, und von ihr ist ein Urteil zu fordern. Ich wünschte, ohne Kompetitoren zu handeln, doch das ist nicht erlaubt. Solche Mitbewerber hat mir der Leib verschafft, und so will ich ihnen gemeinsam in einem Richterspruch eine Zuteilung vorlegen. 22. Zwingen will ich sie, so es möglich ist, mit dem dritten Teil der Zeit zufrieden zu sein. Sieben Stunden schlief Augustus11 aufs angenehmste im goldenen Bett, jedoch nicht die vollen, denn häufig unterbrach er den Schlaf, weil seine Aufgaben12 es forderten. Ich nun werde mit meinen Augen vertraglich festlegen, dass ihnen sechs Stunden genügen; zwei weitere Stunden sollen anderen notwendigen Gewohnheiten zustehen, und der Rest falle mir zu. 23. „Das wirst Du nicht aushalten,“ so willst Du sagen. Ich kann es gemäss Abmachung und Erfahrung. Denn „Nichts ist Sterblichen schwierig,“ wie Flaccus13 sagt. Und so ist es. Gewiss hat unsere Stumpfheit uns einiges unmöglich gemacht, doch nichts ist der Tugend ganz unerreichbar. Manches können wir, sofern wir nicht, bevor wir es versuchen, verzweifeln. 24. Es gab laut einem Gerede einmal einen Mann, der mit Flügeln gegen den Himmel aufstrebte, und einen, der sich seinen Atem selbst unter den Fluten wahrte.14 Solches ist selten. Doch es

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imponiert, und überhaupt bringt das Übliche Langeweile und nur das Seltene Annehmlichkeit. 25. Damit kennst Du einen guten Teil meines Vorhabens. Dem ist anzufügen, dass ich beim Zeitsparen, indem ich Augustus nachahme,15 unter dem Haarschneiden und Rasieren zu lesen und zu schreiben oder einem Lesenden zuzuhören und einem Schreibenden zu diktieren pflege; ja dass ich – und das meine ich weder vom Genannten noch von einem andern gelesen zu haben16 – auch beim Reiten und Speisen das selbe zu tun mir angewöhnt habe. 26. Somit habe ich oft, worüber Du Dich wundern wirst, zu Pferde sitzend mit meinem Reiseweg zugleich ein Gedicht beendet. Und wenn ich von der Menschenmenge entfernt in dem einen oder andern Helikon weile, dann pflegt – sofern nicht Rücksicht auf einen fremden Tischgenossen es hindert – über die bäurischen Speisen eine Schreibfeder aufzuragen. Auch wird mir kein Tisch ohne Beigabe von Schreibtafeln zugerüstet. Und schon oft, wenn ich mitten in der Nacht erwacht bin, habe ich bei erstorbenem Licht17 gleich nach der Feder, die am Polster hängt, gegriffen und Einfälle, um sie ja nicht zu vergessen, in der Finsternis aufgezeichnet. Freilich vermochte ich sie beim kommenden Tag kaum zu lesen. So also sehen meine Bemühungen aus! 27. Als Prahlhans erscheine ich wohl anderen; Du aber wirst in diesen Angaben meinen Alltag und mein Herz erkennen und einsehen, dass ich aus all dem eher Scham als Ruhm gewinne, weil ich ja in meinem Alter um anderes als um meine Seele besorgt bin. Und dennoch bin ich so! Und ich rede mir ein, was ich mir auferlege, werde auch meiner Seele nützlich sein.18 28. Und ich schreite je sicherer desto vergnügter voran, entsprechend dem Wort: „Noch lerne ich bei zunehmendem Alter täglich etwas Neues“.19 „Und was,“ fragst Du „willst Du noch lernen?“ Natürlich vieles. Ich lerne, wie ich nach Gefallen schon aufhöre, jung zu sein, und zudem – was ich immerfort begierig gelernt habe und was nie zu gründlich gelernt wird – lerne ich altern und lerne ich sterben. 29. Wie weit ich im einen dieser beiden Studiengänge vorankomme, wird sich erst am letzten Tag erweisen, denn die Ungewissheit gehört ja zum Charakter jener Experimente, die im ganzen Leben nur ein einziges Mal durchzuführen erlaubt sind. Im anderen Studiengang bin ich dazu gelangt, dem entgegenkommenden Greisenalter von Tag zu Tag immer gründlicher zu danken, weil es mich aus harten Ketten erlöst und schwerer Lasten entledigt. Und das tue ich mit gutem Grund, denn ich vermute, dieses Lebensalter werde übel verlästert. 30. In der Tat bewirkt nicht etwa das Alter an sich, vielmehr die menschliche Trägheit eben das, was das Volk mit einem Vorwurf gegen die Natur und mit einer Entschuldigung seiner selbst den Jahren zur Last legt. Jedes Lebensalter ist vom Augenblick an, da man zu begreifen und den Verstand zu gebrauchen beginnt, einerseits der Tugend wie anderseits dem Laster und der Unehre zugänglich. Und wirklich, wie der Winter durch sich selber für den menschlichen Lebensunterhalt

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zwar nicht aufkommt, aber nach einem Sommer, der für ihn vorgesorgt hat, einen recht angenehmen Teil des Jahres ausmacht, so ist das Greisenalter, wenn es auf lange Untätigkeit folgt, ein bedürftiger, trauriger, unfruchtbarer und unnützer Zeitabschnitt, wenn es sich hingegen auf jugendliche sorgfältige Studien stützen kann, reich an guten und fruchttragenden Kenntnissen und sogar nützlich und erfreulich. 31. Würde der Winter übrigens zu nichts anderem taugen, als dazu, die Hitzewellen aller vorangehenden Jahreszeiten zu mildern, wäre das wohl Grund genug, ihn zu ersehnen und zu lieben. Wer ausser ein Undankbarer würde einer Alterszeit nicht danken, die besseren Rat gibt und das vollendet, was ein fauler Verstand bis dahin vertrödelt hat? Ja die darüber hinaus gar das Schlimmste im Menschen ausrottet und das Beste hinein sät? 32. Doch ich kehre zu meinem Thema zurück und in erster Linie zur Pflege meiner Studien, die ich jetzt so hingebend betreibe, Freund, als hätte ich damit eben erst begonnen. Und würde daneben alles übrige fehlen, so genügte mir schon, dass ich dank ihnen von vielen andern und schweren Sorgen abgezogen werde, die Zeit vergesse, mich vergnüge und das Leben geniesse, und von all dem andern, womit die Menschen sich am tüchtigsten herumschlagen, kaum etwas spüre. Es mögen daher die einen nach Reichtum, die anderen nach Ehre oder nach Belustigung haschen, ich jedenfalls habe mich mit diesen meinen eigenen Reichtümern, mit diesen meinen eigenen Ehren und Belustigungen zur Ruhe gesetzt. 33. Der Wille, so zu leben, hat schon dem Kind nicht gefehlt, aber es ist gemächlich und behaglich wie zu einer Morgenstunde gewandert. Jetzt aber verdopple ich, als würde ich vorwärts gestossen, meinen Schritt beim sinkenden Tag, und während ich nachsinne, zu wie vielen grossen Dingen ich einst Fundamente gelegt hatte, eile ich voran, der Arbeiten gewiss und zweifelnd an den Erfolgen. Spät ist der Vorsatz, das leugne ich nicht. Doch je später gefasst, desto forscher in Tat umzusetzen! Dazu gibt es Beispiele ruhmvoller Männer, die uns den Mund wässrig machen,20 unsere Starre überwinden und uns aufjagen, da uns ohnehin alle Schlafenszeit schon lästig ist. Denke nur ja nicht, es gebe einen einzigen Themistokles oder einen einzigen Miltiades!21 Es gibt ihrer viele! 34. Auch bleibt manches zu tun, was noch aussteht und was – wie ich hoffe – im Mass als es bedeutender ist, auch sicherer sein wird. Bereits aber vermagst Du meinen gegenwärtigen Seelenzustand, von dem ich wusste, dass Du ihn kennen wolltest, zu überschauen. Mit den genannten Listen versuche ich, soweit es möglich ist, die Flucht der rasenden Zeit zu bremsen, um die paar kurzen Tage mit Lesen, Schreiben, Denken und Wachen heimlich dem Tode zu entreissen. Wenn nämlich, wie bedeutende Männer erklärten, der Tod ein Schlaf ist,22 dann ist das Leben eine Wache. Eben deshalb will ich wenigstens noch mehrere Stunden weiterleben. Bleibe gesund! Mailand, am 13. November, um Mitternacht (1359)23

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Anmerkungen 1 Vgl. die andern Briefe an diesen Adressaten. Eine wichtige Ergänzung zu diesem Brief bietet gleich Fam. 21,14. 2 Ganz ähnliche Formulierungen findet man in Fam. 16,11, Andeutungen auch sonst, so in 15,1; 24,1. 3 Ein von Petrarca oft berührtes Thema. Die jederzeit für alle gleich rasche Geschwindigkeit der Zeit betont er schon Fam. 1,3,2 mit Zitaten aus Cic. und Aug. 4 Ad Lucil. 32,5. 5 Lateinisch: peractis officiis. Hier geht es nicht um blosse occupationes (Beschäftigungen) sondern um Pflichten. Das fällt auf. 6 Lateinisch: peragenda (was zu tun ist). Umgeht Petrarca hier für seine eigene Beschäftigung das Wort officia (vgl. Anm. 5) und wo verwendet er es sonst? Wo für sein eigenes Wirken? 7 Das lateinische Satzgefüge ist offenbar missraten. 8 Eine ähnliche Steigerung beim häufig wiederkehrenden Thema formuliert Fam. 15,1,3 f. 9 Von der aufmunternden Nachwirkung des Miltiades auf Themistokles (vgl. Personenreg.) spricht schon Fam. 6,4,10. Vgl. bei Val. Max. 8,14, ext.1 das Wort des Themistokles: me tropaea Miltiadis de somno excitant. Vgl. auch Cic. Tusc. 4,19,44. 10 Rationis arx; wie schon in Fam. 7,12,16; 12,14,1–6; 19,10,5 und oft. 11 Suet. Aug. 78. 12 Lateinisch: interpellantibus …curis. Vgl. oben Anm. 5 und 6 13 Hor. Carm. 1,3,37. 14 Der Meerdämon Glaukos; vgl. Ov. Metam. 13,904 ff. 15 Vgl. Anm. 10. 16 Beim Troubadour Guillaume IX de Poitou hätte Petrarca einen Hinweis auf das Dichten zu Pferd finden können. Eine schöne Übersetzung bietet Wolfram von den Steinen, Ein Dichterbuch des Mittelalters, Bern/München 1974, 150. 17 Lateinisch sopito lumine kann sich auf das kleine Nachtlicht beziehen, von dem weiter oben allerdings gesagt wurde, dass es nicht gelöscht wurde, sondern immer brennen sollte. 18 Eine gleiche Hoffnung spricht z. B. auch Fam. 14,8,3 f. aus. 19 Das Wort soll Solon gesagt haben und von Cato übernommen worden sein. Vgl. Cic. De sen. 8,26 und 14,50. Den selben Gedanken findet man variiert auch Fam. 12,7,6; 23,5,17. 20 Lateinisch: que salivam excitant. 21 Vgl. oben Abschnitt 15. 22 Cic. Tusc. 1,38,92. 23 Vgl. Wilkins, Eight years 199–201.

Fam. 21,13, an Francesco Nelli1 Fortsetzung zum vorangehenden Brief. Mehreres zur Lebensführung. 1. Petrarca unterscheidet ein Verlangen des Freundes von dem der Menge. 2. Dieser wünschte weitere Auskünfte über seine Lebensführung. 3. Sie könnte sich am neuen Aufenthaltsort geändert haben. 4. Seine Abneigung gegen das Wohlleben bleibt, beruht aber kaum auf Tugend, ist vielmehr angeboren. 7. Gewisse Fragen löst ihm ein Blick in den Spiegel. 8. Einiges hat er in Mailand wirklich geändert. 9. Der Verzicht auf teure Kleider fällt ihm noch schwer. Mailand, am 7. Dezember (1359).

1. Weder dass Du öfters den Weg der wenigen, noch dass Du bisweilen den der vielen gehst, wundert mich. Das eine tust Du als Philosoph, das andere als Mensch. Niemand ist so ganz der Weisheit ergeben, dass er nicht hier und da zur allgemeinen Menschenweise zurückkehrt und den üblichen Gebräuchen sich anbequemt.2 Und doch, um die Wahrheit zu sagen, ist es nicht ein gemeinhin üblicher, sondern wirklich ein philosophischer Brauch, den ich heute an Dir zu betrachten entschlossen bin, und deshalb bedaure ich auch bereits meinen Briefanfang, bist Du mir ja immer der Selbe, immer der Eine unter wenigen. 2. Je mehr die unwissende Menge sich bereichert hat, desto mehr entbehrt sie, und je mehr die kleine Schar, nämlich die der Gebildeten, erlernt hat, nach um so mehr lechzt sie.3 Somit ist wie das Begehren nach Habe so auch das nach Wissen niemals befriedigt. Hättest Du den vorangehenden Brief nicht umsonst4 erhalten, wärst Du nicht darauf gekommen, so vermute ich, eben diesen zu fordern. 3. Jener erste Schluck aber hat Dir diesen Durst geweckt; das heisst, weil Du einen Teil meiner Lebensführung vernommen hast, willst Du noch das Übrige wissen, nämlich worin meine Nahrung bestehe und worin meine Kleidung. Über beides bist Du in einem früheren Brief unterrichtet worden,5 doch wirst Du wohl besorgen, meine Veränderung von Wohnsitz und Alter könnten den Wahrheitsgehalt jener einstigen Beschreibung vermindert haben. An diese knüpfe ich an und sage, welche Lebensgewohnheit ich in genannten Dingen beobachte und welche Art Menschen mir als Vorbild dient. 4. Es gibt Leute, die Wände mit Elfenbeinschmuck und weiche Federn und knospende Rosen benötigen, sonst können sie ihre Glieder nicht betten; auch behaupten sie, nur aus goldenen, mit Gemmen besetzten Bechern lasse der Durst sich stillen. Was also? Soll ich etwa einer von ihnen werden? Gewiss wollte ich solche Dinge weit lieber nicht ertragen können, als nicht entbehren können. 5. Es gibt dagegen auch Leute, denen der Prunk die Galle erregt und ein fortwährendes Vergnügen Ekel schafft. Darf ich vor Dir mich rühmen, so gehöre ich zur zweiten Art, und zwar nicht weniger dank meiner Natur als meinem Bemühen. Schon von frühester Jugend auf haben mir ausgesuchte Speisen – mit seltensten Ausnahmen – und durchaus immer die reichen Tafeln und die bis in die Nacht andauernden

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Mähler grosses Entsetzen verursacht. Und immer galt für mich, was Flaccus6 etwas spät auf sich selber bezogen hat: „Gut ist ein kurzes Mahl und ein Schlaf am Bach auf der Wiese.“ Immer, sage ich, damit Du Dich wunderst, immer habe ich Vergnügen und Belustigungen der Reichen weniger im Verlangen nach Tugend (der ich ein besserer Freund sein wollte) und mehr aus Verachtung und Hass auf solche Dinge und aus Furcht vor Überdruss, den sie mit sich bringen, wie auch aus Ekel vor dem, was beim Volk ein glückliches Leben genannt wird, verworfen. Und dennoch trotzt bisweilen das Herz, und es trotzen auch die Augen, und das Herz überfällt etwas wie ein Eifern7 und die Augen ein Ermatten. Auf sie habe ich mir früher als Dummkopf oft etwas eingebildet, und wenn ich jetzt die durch Nachtwachen gereizten und entfärbten im Spiegel betrachte, wundere ich mich und frage mich schweigend: „Das also wäre ich?“ Doch sie trotzen so, dass man sie rasch bezwingt. 8. Von meiner Kleidung und übrigen Ausstattung hast Du von mir gehört, als ich noch im Helikon jenseits der Alpen lebte.8 Doch bilde Dir keine falsche Meinung von einer strikten Genügsamkeit, sondern bedenke, dass ich damals auf dem Lande wohnte und die ländliche Einschränkung schätzte, als ich das schrieb. Dem gegenüber – das muss gesagt sein – können neue Umgebungen zwar nicht wahrhaft felsenfeste, aber immerhin recht harte und zähe Willensentschlüsse brechen oder mildern. Einen Alexander hat Persien und einen Hannibal hat Capua gebrochen, ihn, den Rom nicht gebrochen hatte! Von diesem erbittertsten Feind wurde ja sehr gewandt und völlig richtig gesagt: „In Capua hat Hannibal sein Cannae gefunden.“9 Und oft ist die Moral nicht bloss eines einzelnen Mannes, sondern die Kraft eines ganzen Volkes aufgrund einer Veränderung des Aufenthaltsortes erlahmt. Babylon zerstörte die Kraft des makedonischen Volkes; Asien zähmte die Angriffslust der Gallier,10 Spanien zersetzte die römische Tüchtigkeit, ja es tat dies auch Afrika. Und es geschah nicht etwa durch das feindliche Schwert, sondern infolge der Feigheit in den Heeren und im Verlust an militärischer Zucht.1110. Und das Volk hier,12 erstaunlich gross und reich, dem ich schon fast angehöre, stammt zweifellos von Barbaren ab, und doch ist es jetzt – sieh nur, was Ortsveränderung doch alles vermag! – ein Geschlecht der humansten Sitten, das mildeste von allen! Verpflanztes Gewächs verändert seinen Saft; Gehölz des Waldes wirft, kaum versetzt, die alte Natur von sich und nimmt eine neue an. 11. Was ich damit sagen will, verstehst Du. Denn auch ich – wie sollte ich Dir meinen Zustand verheimlichen, was ich ja nicht gewohnt bin! – erkenne, dass ich auf dem Land ein anderer bin als in der Stadt. Am einen Ort folge ich der Natur, am andern dem Beispiel. Gleichzeitig wird mir vor allem klar, wie weit ich vom Ziel noch entfernt bin, das ich längst hätte erreicht sollen, ich meine das der stetigen Gleichförmigkeit und Beständigkeit meiner Begehren. Wer diese erlangt hat, steht am Ziel und befindet sich dort, wo-

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hin die Schiffsreise der Toren nicht gelangt: im sicheren und ruhevollen Hafen. 12. Ob ich in anderen Dingen Sieger oder Unbesiegter sei: Jedenfalls stocke ich bei diesem Stadium des Kampfes. Und nachdem ich der Essgier und Schlaflust Zügel angelegt und geschlechtliche Leidenschaft nicht gebändigt, sondern dank einem göttlichen Tau erstickt habe, bändige ich jetzt recht mühsam das weniger Schwierige und benötige dafür nur um so grössere Anstrengung. Und mich an eine übliche und bescheidene, um nicht zu sagen „philosophische“ Kleidung13 zu gewöhnen, habe ich noch kaum begonnen. 13. Gekräftigt hat sich bei mir das harte Joch alter Gewohnheit, das abzuschütteln ich, wie Du weisst, dennoch sehr bemüht bin, und deshalb in kurzer Zeit auch vieles erreicht habe, selbst wenn noch immer viel übrigbleibt. Aber schon habe ich meine Miene und meine Seele eher gegen die Scham über ein veraltetes Kleid als gegen das leere Prahlen mit einem teuren zu wappnen. Und vielleicht erlange ich am Ende, dass sie weder im einen noch im andern Falle der Waffen bedürftig sind. Du aber lebe wohl und denke an uns! Und ich beschwöre Dich, bete, dass ich so lebe, wie ich gelebt haben wollte, wenn ich sterbe. Mailand, vor den Mauern,14 am 7. Dezember (1359).

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief. 2 Nellis Brief, in dem er Auskunft erbittet, ist verloren. Offenbar hat er seinen Wunsch nach einem Zusatz als ein allgemein übliches Begehren erklärt. Petrarca korrigiert sich im nächsten Satz. 3 Für beide Menschengattungen gilt: quo plura…pluribus. 4 Petrarca schrieb im allgemeinen Briefe nur zur Antwort; vgl. 9,12,4. 5 Vgl. Fam. 13,8 an Nelli. Auch in anderen Freundesbriefen hat Petrarca von seinen Gewohnheiten im Alltagsleben gesprochen, vor allem gegenüber Guido Sette in Fam. 5,18; 19,16 und 19,17. 6 Hor. Epist. 1,14,35. 7 Im Lateinischen: aemulatio; das ist Nacheifern im guten wie im üblen Sinn; vgl. Fam. 21,15,20. 8 Vgl. oben Anm. 5. 9 Der Makedonier Alexander der Grosse fand 323 in Babylon den Tod. Hannibal, der die Römer bei Cannae 216 vernichtend geschlagen hatte, erlebte während seines Aufenthalts in Capua eine Verminderung der Kriegszucht im Heer und die Wende des Kriegsglücks; 211 misslang sein Angriff auf Rom. Vgl. Liv. 23,45,3. 10 Petrarca scheint an die Gallier zu denken, die nach Griechenland, Thrakien Thessalien eindrangen und weiter nach Asien vorrückten, wo ihnen Halt geboten wurde. 11 Zum Gedanken, dass Völker sich selber zerstören vgl. z. B. Fam. 14,5,19; besonders 17,3,47 ff. und 22,14,69 ff. 12 Hier: heisst in Mailand. 13 Petrarca äussert sich über den Wert bescheidener Kleidung öfters, so z. B. Fam. 6,9,1; 9,3,5; 10,3,15 ff. und vor allem gegenüber Nelli 13,8,10. 14 Zur Angabe „vor den Mauern“ vgl. den folgenden Brief, und vgl. Wilkins, Eight years 201.

Fam. 21,14, an Francesco Nelli1 Umzug von Ambrosius zu Simplicianus. Einige Angaben über dessen Leben. 1. Erklärung der Ortsangabe im vorangehenden Brief. 2. Gründe für den Umzug: Grössere Freiheit und Ruhe. 3. Vorzüge der neuen Wohnung und Wohnlage. 5. Simplicianus war „Vater“ des Ambrosius. 6. Petrarca liest seine Vita, die ein Scholastiker verfasste. 8. Ein ketzerisches Wort über die Glorie der Heiligen. Der Dichter korrigiert es. 10. Er notiert, was er über den Bischof weiss. 13. Er tut es unter Schmerzen in der Nacht. (Mailand, 13. November oder bald darauf 1359)

1. In Verwunderung hat Dich vielleicht im letzten Brief das Datum versetzt. Wie soll ich bei anhaltendem heftigem Kriegsdröhnen2 „vor die Mauern“ hinausgegangen sein? Obwohl es hätte sein können, dass ich, zwar in der Stadt wohnend, dennoch ausserhalb der Mauern geschrieben hätte, weil ich aus irgend einem Zufall und aus Überdruss an der Stadt für eine Weile hinaus gegangen wäre. Doch das trifft nicht zu. 2. Damit Du über die Sache informiert seist, vernimm, dass ich am 3. November aus dem Haus des Ambrosius3 und seiner Umgebung, wo ich bereits sieben Jahre lang gelebt habe, ausgezogen und ausserhalb der alten Ummauerung vom Westen in den Norden, nämlich zum Kloster des Simplicianus übersiedelt bin. So gross ist meine Liebe zur Freiheit, Einsamkeit und Ruhe!4 3. Denn wenn die gegenwärtige Lage kaum erlaubt, im neuen Haus die erhoffte Einsamkeit zu finden, bietet es doch den Vorzug, dass man dank einer verborgenen „Hintertüre“ die lästige Schar von Besuchern „recht leicht hintergehen“5 kann, ein Vorteil, der bei der anderen Wohnung gefehlt hat. Auf eine Länge von tausend Doppelschritten und mehr habe ich eine höchst angenehme abgeschiedene Ebene direkt vor mir. Wollte ich in den äussersten Stadtbezirken umhergehen, fände ich zwar innerhalb der Wälle auch viele Meilen, wo eine erstaunliche Einsamkeit herrscht, während das Volk fast immer den Geschäften und dem Markplatz zuströmt. Aber wichtig ist, dass die genannten tausend Doppelschritte so ganz und gar mir zustehen, weil6 einen Teil davon ein steiler Damm und eine dichte Hecke einfassen und den anderen offenen Teil ein von Natur aus versteckter und kaum begangener Seitenweg mit üppigem Gras durchschneidet. Hier gehe ich oft allein oder mit einem einzigen Begleiter, ohne jemandem zu begegnen und ohne von der eingeschlagenen Richtung irgendwo bedeutend abzuweichen, über trockene und schattige Strecken hinund zurück, und würden mich nicht der Anblick und der Lärm an die nahe Stadt erinnern, käme mir vor, ich befände mich mitten in einer Waldung. 5. Das günstige Angebot also und der Wunsch nach einer Entfernung von den Menschen haben mich aus der Stadt hinaus gelockt. Und dabei hatte ich keine Bedenken, Ambrosius nehme mir das übel, denn in Gedanken wende ich mich nicht ab von ihm, wenn ich mich seinem „Vater“ zuwende. So nämlich nennt Augustinus den Simplicianus: „Vater des Bischofs Ambrosius beim Empfang der

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Taufgnade.“7 Auch fürchtete ich nicht, es sei für mich ungehörig, im Wunsch nach einem stilleren Leben zu seinem Haus zu ziehen, denn Augustinus erinnert sich selber,8 dass er zu ihm gegangen sei, um Rat für sein Leben zu finden. 6. Kaum war ich dort angelangt, hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als inständig die Geschichte dieses Heiligen zu erbitten, denn ich dachte, es werde mir ein rechtes Vergnügen sein, eines solchen Gastgebers Leben kennen zu lernen. Vorgelegt wurde mir von den Mönchen jedoch ein neues Büchlein, eines, ich weiss nicht welches Scholastikers, das allen tieferen Ernst, Geschmack und ordentlichen Aufbau vermissen lässt, obwohl es ganz offensichtlich von den Bekenntnissen des Augustinus abhängt, nämlich von all den Stellen, wo der Verfasser auf die Erwähnung des Mannes gestossen war. Alles Übrige war nicht wie dort, sondern nach dem Gutdünken des neuen Schriftstellers gemacht, nicht bloss schmucklos, sondern auch entstellt und völlig verworren. 7. Betroffen und verärgert legte ich das Buch beiseite. Was anderes blieb mir übrig? Die Sache ist erledigt. Schon ist das Leben des Simplicianus in der Meinung des Volkes auf die Weise verlaufen, wie der geniale Schriftsteller es beschrieben hat.9 Doch bei Ihm, der alles sieht, ist es völlig anders. Daher kam mir unter dem Lesen das Wort eines gebildeten, jedoch nicht eben so redlichen Mannes in den Sinn, der sagte, das Verdienst der Heiligen sei so gross wie die Wortgewalt der Schriftsteller.10 Eine wahrhaft giftige Rede, wenn auch übereinstimmend mit den Aussagen eines Dichters und eines Historikers! Flaccus11 sagt nämlich: „Es steht nicht fern dem Grabe des Müssigangs Verkannte Tatkraft.“ Und Crispus12 sagt: „Die mannhafte Tat der Männer, die sie vollbrachten, gilt so viel, als glänzende Talente sie mit Worten verherrlichen konnten.“ Die Aussagen dieser beiden sind freilich einleuchtend und wahr, während die jenes vorher erwähnten nach verkappter Ketzerei riecht. Diese handeln von Menschen, die den Ruhm in der Tüchtigkeit suchen und für die gemäss dem Rat des grösseren Dichters13 das herrlichste Tugendwerk darin besteht, „den Ruhm in Taten zu mehren“. Dieser Ruhm wäre ja wirklich ohne schriftliches Zeugnis null und nichtig oder dann von kurzer Dauer. Anders aber ist es bei den Heiligen, denn sie rühmen sich nicht einer geräuschvollen Volksgunst sondern im Herrn, und ihre Namen werden mit Gottes Finger ins „Buch des Lebens geschrieben,“14 weshalb sie einer Förderung durch irdische Schreiber nicht bedürfen. Denn sogar wenn jede Feder versagt, jede Zunge verstummt, jede Menschengunst und Erinnerung schwinden, wird der Gerechte im Gedächtnis des Ewigen leben, und über die Unzulänglichkeit einer kreischenden15 Rede wird die Macht der himmlischen Herrlichkeit spotten. 10. Aber wirklich, Simplicianus, mein Gastgeber, der bei Gott sehr gross, bei diesem seinem Historiker hingegen allzu bieder und unordentlich dasteht, verdiente ein Werk überlegener Sprachkunst. Daraus würde er persönlich allerdings

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nichts gewinnen, hingegen würden die Leser zur eifrigen Nachahmung und glühenden Verehrung ermuntert. Doch es sei! Es fehle eben ein geeigneter Schriftsteller! Wo aber soll man die Wahrheit über seine Taten suchen, wenn man sie in seinem eigenen Hause16 nicht kennt? 11. Es gibt das Zeugnis eben des Augustinus,17 der sagt, Simplicianus sei „ein guter Knecht Gottes“ gewesen; in ihm habe „die göttliche Gnade geleuchtet“; und „von Jugend auf“ bis ins hohe Alter habe er „in der grössten Hingabe an Gott gelebt“ als ein Mann, der in einem „langen Studium den Weg des Herrn erforscht“ und dabei „vieles gelernt und erlebt“ habe. Er war dem Victorinus,18 einem zuerst berühmten Redner in Rom, der ein frommer Zeuge Christi wurde,19 ein sehr vertrauter Freund und ein starker, erfolgreicher Mahner auf dem Weg zum rechten Glauben. Und später erzog er Augustinus, der ratsuchend zu ihm kam, wie ich sagte, zur Demut Christi und zur Hoffnung auf ein besseres Leben – was ebenfalls auf die Hochschätzung seiner besonderen Vorzüge deutet –, und schliesslich wurde er im höchsten Alter auf einen Vorschlag des sterbenden Ambrosius über alle anderen Kandidaten, deren es viele und hervorragende gab, zum Bischofsamt der damals schon grossen Stadt erhoben. Und um die Empfehlung seines so bedeutenden Förderers zu ehren, hat er das Hirtenamt angenommen und mit der Hingabe seiner ganzen Person und mit ausserordentlicher Heiligkeit geleitet. 13. Das ist es, was ich bis jetzt von meinem neuen Gastgeber weiss. Das übrige weiss sein Gastgeber im Himmel. Und soviel habe ich Dir in der Stille der finsteren Nacht, während der körperliche Schmerz mit dem Geist sich stritt, liegend und in einer äusserst schwierigen Körperhaltung geschrieben. Was soll man sagen? Alles mit Mühe! Selbst das Ruhen! Lebe wohl! (Mailand,13. November, oder bald darauf 1359)20

Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Briefe an den selben Autor. 2 Die Datierung des Briefes auf den 13. November ist nicht zwingend. Doch an diesem Jahrestag ergab sich 1359 nach einer langen Belagerung die ausgehungerte Stadt Pavia; vgl. Petrarcas Brief an Bussolari Fam. 19,18. 3 Petrarca wohnte in Mailand zuerst in einem Haus nahe der Kirche Sant’Ambrogio; vgl. Fam. 16,11,8. 4 Zur Veranlassung eines Umzugs vgl. Fam. 22,12,6. Petrarca fühlte sich in dem sehr geräumigen Haus bei Sant’Ambrogio vor seinen eigenen Dienern nicht sicher. 5 Hor. Epist. 1,5,31. 6 Lateinisch steht die Konstruktion ita- ut; die Logik ist schwer ersichtlich. 7 Conf. 8,2,3. Ambrosius wurde unerwartet und kurz vor Empfang der Taufe zum Bischof erwählt; er erhielt eben deshalb von Papst Damasus in Simplicianus einen Beistand.

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8 Conf. 8,1,1 und 2,3. 9 Simplicianus war als Priester in Rom mit dem Redner Marius Victorinus – von ihm ist gleich noch die Rede – befreundet, ebenso mit Paulinus von Nola, dann Ratgeber des Bischofs Ambrosius; er veranlasste Augustinus zur Abfassung von zwei Büchern „Über verschiedene Fragen“ und gehörte zu den bedeutendsten Männern der Kirche seiner Zeit. Bischof von Mailand war er 397 bis 400/401. 10 Tantam esse gloriam sanctorum, quanta esset eloquentia scriptorum. Wer das gesagt hat, bleibt unbekannt. 11 Carm. 4,9,29–30. 12 Sall. Cat. 8,4. 13 Verg. Aen. 10,468–469. 14 Apoc. 1,11; 3,5; 21,27. 15 Aug. Conf. 8,2,3. Das Wort terricrepus (analog zu terriloquus, schrecklich redend?), von Augustinus verwendet, betraf eine Verteidigung der Götter durch den römischen Redner Marius Victorinus aus der Zeit vor dessen Bekehrung zum Christentum. 16 Im Kloster seines Namens. 17 Conf. 8,1,1. 18 Der folgende Text lehnt sich vage an die selbe Stelle der Confessiones an. 19 Im Lateinischen: pio Cristi martyri; Martyr kann hier bloss Zeuge heissen. Denn den Märtyrertod hat dieser berühmte Redner Marius Victorinus (mit dem Beinamen Afer), der 355 zum Erstaunen der Römer Christ wurde, nicht erlitten. 20 Vgl Wilkins, Eight years 198–199 und 201.

Fam. 21,15, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio)1 Reinigung von einer Anklage, die Neider erheben. 1. Auf zwei Stellen in Boccaccios Brief geht Petrarca ein. 2. Der Angesprochene meint, seine Lobreden auf sein Vorbild bei Petrarca entschuldigen zu müssen. 6. Petrarca aber beneidet und verleumdet jenen Belobten nicht und kann das beweisen. 7. Er hat ihn als Kind einmal kurz gesehen. 10. Dass er dessen Buch nicht gekauft hat, geschah aus andern Motiven. Er fürchtete, Nachahmer zu werden. 13. Er reicht jenem für volkssprachliche Dichtung die Palme dar. 14. Er kann ihn besser beurteilen als die Schar anderer Lobredner. 21. Dass er gegen Neid nicht ganz gefeit ist, merkt er im Alter. 22. In einer einzigen Literaturgattung Höchstes zu leisten, genügt. 26. Erinnerung an die erste Begegnung mit Boccaccio. (April/Mai 1359)

1. Vieles steht in Deinem Brief, was einer Beantwortung nicht im mindesten bedarf, da wir es kürzlich2 Punkt für Punkt mündlich besprochen haben. Zwei Deiner Fragen habe ich hingegen, um sie nicht zu übergehen, ausgesondert. Diese will ich, wie sie vorliegen, kurz beantworten. Erstens entschuldigst Du Dich bei mir, und zwar mit einigem Aufwand, weil man denken könnte, Du seist mit Deinen Lobreden auf einen Landsmann, einen der Sprache nach volkstümlichen, aber nach Form und Inhalt zweifellos hochstehenden Dichter recht weit gegangen. Und Du rechtfertigst Dich so, als würde gerade ich das Lob auf jenen oder auf irgend einen andern für eine Verminderung meines eigenen Lobes empfinden. 2. Du sagst, bei näherem Hinsehen gereiche jede rühmliche Aussage über jenen Dichter zu meinem Lobe. Ausdrücklich fügst Du als Entschuldigung für Deine Verpflichtung ihm gegenüber an, er sei Dir in früher Jugend der erste Lehrmeister und die erste Fackel Deiner Studien gewesen. Und wirklich handelst Du damit nur richtig, dankbar, getreu und im wahrsten Sinn des Wortes auch pflichtgemäss. Denn wenn wir den Eltern unseres Leibes alles und den Urhebern materiellen Glückes vieles schulden, was werden wir dann den Vätern und Bildnern unserer geistigen Anlagen nicht schulden? 3. In der Tat, um wie viel grösser das Verdienst jener Menschen ist, die unseren Geist heranbildeten, als das der andern, die für unseren Leib besorgt waren, wird jeder einsehen, der beiden den richtigen Wert zuspricht, und er wird erklären, dass die eine Gabe unvergänglich, die andere hinfällig und vergänglich ist. Gut denn! Nicht bloss mit meiner Duldung, nein mit meiner Gutheissung sollst Du diese Fackel Deiner Begabung feiern und ehren, denn sie hat Dir auf dem Pfad, wo Du mit Riesenschritten Deinem herrlichsten Ziel entgegengehst, Begeisterung und Licht geschenkt, und Du sollst diese Deine Leuchte, schon allzu lange im windigen Beifall des Volkes herumgeschwenkt und – ich möchte sagen – sogar gedämpft, endlich in einer echten und ihrer würdigen Verherrlichung zum Himmel erheben.3 4. Ein solches Verhalten hat unsere volle Zustimmung, ist ja jener Dichter solcher Verkündigung würdig und bist Du selber, wie Du sagst, zu solchem Dienste verpflichtet. Darum

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halte ich Dein Preislied4 hoch in Ehren und falle ins Lob auf den Seher auch selber ein; ja, es stört mich an Deinem Entschuldigungsbrief überhaupt nichts ausser dies eine, dass Du mich noch immer sehr wenig kennst, wo ich doch meinte, Dir bestens bekannt zu sein. Gerade ich würde also über ein Lob auf ruhmreiche Menschen nicht froh sein? Würde nicht gar frohlocken? 5. Glaube mir, nichts steht mir ferner, und keine Pest ist mir fremder als der Neid. Eher will ich – beachte, wie wenig ich mit diesem zu tun habe! – Gott, der die Herzen durchforscht,5 zum Zeugen anrufen, dass mich im Leben kaum etwas anderes so schwer bedrückt, als wenn ich sehe, wie Hochverdiente an aller Anerkennung und Belohnung darben. Und dies nicht, weil ich einen Schaden für mich beklagte oder umgekehrt einen Gewinn erhoffte. Nein, ich beklage es als ein öffentliches Verhängnis, wenn ich sehe, dass die Wertschätzung edler Künste auf unflätige Scheinkünste übertragen wurde. Dabei weiss ich natürlich recht gut, dass es einerseits der verdienstvolle Ruhm ist, der die Herzen zu Verdiensten anspornt, dass aber andrerseits die echte Tüchtigkeit – wie den Philosophen zu sagen beliebt – sich selber Antrieb ist, sich selber Lohn, sich selber Wettlauf und sich selber Siegespreis.6 6. Und nun möchte ich, weil Du mir einen Schreibstoff geboten hast, den ich von mir aus zu suchen nicht verlangt hätte, auf die Sache näher eingehen. Die nicht bloss „fälschlich“ (wie das Quintilian7 im Bezug auf sich und auf Seneca sagt) sondern auch hinterlistig und ganz boshaft unter vielen ausgestreute Behauptung über mich, nämlich hinsichtlich meiner Beurteilung jenes Mannes,8 will ich einzig vor Dir, aber durch Dich auch gegenüber andern zurückweisen. Da erklären nämlich meine Feinde, ich würde jenen hassen und verachten, und sie sagen es in der Absicht, mir im gewöhnlichen Volk, wo jener ungemein beliebt ist, Gehässigkeiten zu entfachen. Eine neue Art von Niedertracht und eine erstaunliche Tücke zu schaden! Ihnen soll für mich die Wahrheit selber9 antworten. 7. Erstens gibt es für mich überhaupt keinen Grund, den Menschen zu hassen, der mir bloss ein einziges Mal, und zwar in meiner frühesten Kindheit gezeigt wurde. Er lebte zur selben Zeit wie mein Grossvater und Vater, war jünger als der eine und älter als der andere und mit meinem Vater am einen und selben Tag während des einen und selben politischen Umschwungs aus dem Gebiet seiner Vaterstadt vertrieben worden.10 Da unter solchen Umständen zwischen Schicksalsgenossen oft enge Freundschaften entstehen, ereignete sich solches eben auch unter den Genannten, und zwar in besonderem Masse, weil sie ausser dem selben Los auch grosse Ähnlichkeit in ihren Neigungen und Veranlagungen besassen. Doch mein Vater, anderen Geschäften zugewandt und um seine Familie besorgt, ergab sich dem Exil, während jener sich widersetzte, sich nur um so verbissener auf sein altes Beginnen verlegte, um – alles andere vergessend – nichts weiter zu begehren ausser Ruhm. 8. Dessentwegen kann ich ihn kaum genügend bewundern und loben, denn weder das ihm von den Bürgern angetane Unrecht, noch das Exil und die

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Armut und die ständig aufreizenden Streitereien, weder die Liebe zur Gattin, noch die Verpflichtung gegenüber den Kindern haben ihn von seinem einmal beschrittenen Pfad zurückgezogen. Dabei sind doch viele bedeutende Geister im Mass ihrer Grösse auch besonders reizbar, so dass schon ein leichtes Geräusch sie von einer geistigen Ausrichtung abzieht, was in erster Linie bei jenen Dichtern geschieht, die ihre Sprache in Zahlenverhältnisse zwingen. Denn abgesehen von Sätzen und abgesehen von Wörtern, beachten sie auch noch deren Verbindung und bedürfen eben deswegen mehr an Ruhe und Schweigen als andere.11 9. Abscheulich also und ebenso lächerlich ist es, wie Du begreifst, wenn irgendwelche Leute – ich kenne sie nicht – mir Hass gegen den Betreffenden andichten. Du siehst ja, dass mich gar nichts veranlasst, ihn zu hassen, dagegen manches, ihn zu schätzen, so die gemeinsame Vaterstadt, seine Freundschaft mit meinem Vater, seine Geistesrichtung und seine auf dem besonderen Gebiet hervorragende Feder, die ihn weit und breit gegen alle Verachtung gefeit hat.12 10. Doch dies machte in der mir hingeworfenen Verleumdung den zweiten Teil aus, dass man zum Beweis anführt, ich hätte mich von früher Jugend auf in heissem Verlangen, wie es diesem Alter entspricht, an aller Art Büchersuche ergötzt, aber gerade sein Buch nie angeschafft. Während ich andere Werke, die zu erwerben beinah aussichtslos war, brennend begehrte, hätte ich mich just diesem einen, ganz leicht erreichbaren gegenüber auf eine andere, mir ungewohnte Art ganz kühl verhalten. Dass ich so handelte, bestreite ich nicht; dagegen bestreite ich, mit jener mir vorgeworfenen Absicht gehandelt zu haben. 11. Damals war ich mit der selben Literaturgattung beschäftigt wie er. Ich übte meine Fähigkeit in der Vulgärsprache. Nichts achtete ich für ebenso auserlesen, nichts Höheres hatte ich zu erstreben gelernt, und dabei plagte mich die Furcht, ich könnte (da die Jugend sehr beweglich ist und voll Bewunderung für alles) an seinen oder an anderen Dichtungen mich so vollsaugen, dass ich dabei – selbst gegen mein Wollen und Wissen – zum Nachahmer würde. Mit einem Mut, der sich weit über meine Jahre hinaus erkühnte, lehnte ich das ab und war so voll Selbstvertrauen oder Selbstüberhebung, dass ich mir einbildete, ich könne mit meinem Talent, ohne auf die Hilfe irgend eines Menschen angewiesen zu sein, mir in der genannten Dichtungsart einen eigenen Stil beschaffen. Und inwiefern ich richtig vermutete, mögen andere entscheiden.1312. Dies allerdings sage ich ohne Umschweif: Wenn sich in jener meiner Dichtung ein Ausspruch fände, der einem seiner Aussprüche oder dem eines andern ähnlich oder gleich wäre, so würde das nicht auf Diebstahl oder vorsätzlicher Nachahmung beruhen; denn beides habe ich stets und insbesondere in den volkssprachlichen Werken wie Klippen gemieden. Vielmehr läge dann ein Zufall oder eine Ähnlichkeit der Geistesrichtungen vor,14 weil gemäss der Meinung des Tullius15 das Gehen auf den selben Spuren ganz unvermerkt zu einem Zusammentreffen führen kann.

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13. Wenn Du mir irgendeinmal etwas glauben wolltest, so glaube eben das. Nichts ist wahrer! Könnten mir aber weder Scham noch Bescheidenheit zur Glaubwürdigkeit verhelfen, müsste es dem früheren Hochmut meiner Jugend gelingen. Heute nämlich bin ich solchen Bedenken fern, und da ich jene Art Dichtung ganz aufgegeben habe, ist auch die mich damals beengende Furcht von mir gewichen. Sämtliche Dichter und diesen bestimmten mehr als die andern, ehre ich von ganzem Herzen. Und bin ich anderen ein Gegenstand der Beurteilung gewesen, so urteile ich nun selber, zwar schweigend, über die andern, nämlich verschieden über die vielen, doch über den bestimmten so, dass ich ohne Besinnen ihm für die Vulgärsprache die Palme überreiche. 14. Sie lügen also, wenn sie sagen, dass ich seinen Ruhm zerpflücke, während doch gerade ich wohl besser als viele dieser faden und unmässigen Lobhudler wissen kann, wie das ihnen Unbekannte zu benennen ist, was ihren Ohren wohl schmeichelt, aber wegen der verstopften Gehirngänge nicht bis zu ihrem Verstand vordringt. Sie gehören zu der Herde, von der Cicero16 in seinem Werk zur Rhetorik sagt: „Sie lesen gute Reden und Gedichte, schätzen die Redner und Dichter hoch, verstehen jedoch nicht, weshalb sie etwas begeistert hochschätzen, da sie gar nicht verstehen können, wo das, was sie besonders entzückt, etwa stecke, noch was es sei und wie es gemacht sei.“ 15. Wenn das bei Werken des Demosthenes, Tullius, Homer und Vergil unter Gebildeten und in den Schulen geschieht, was wird da wohl im Kreis der Ungebildeten in den Gaststuben und auf dem Marktplatz mit dem Unseren geschehen? Was mich angeht, bewundere und liebe ich ihn und verachte ihn nicht. Und vielleicht darf ich mit gutem Recht behaupten: Wäre ihm bestimmt worden, bis zum heutigen Tagen zu leben, hätte er wenige gehabt, mit denen er enger befreundet gewesen wäre als mit mir – und das meine ich, wenn er im gleichen Mass, als er mit seinem Talent erfreut, auch mit seinem Charakter erfreut hätte. 16. Und umgekehrt wäre gerade er niemandem feindseliger begegnet als diesen läppischen Lobrednern, die das, was sie loben oder tadeln, gleichermassen verkennen und mit einem Unrecht, das für einen Dichter schwerer wiegt als jedes andere, seine Schriften im lauten Vortrag zerreissen und verderben. Eben diese wollte ich wahrhaftig bei Gelegenheit mit allen Kräften gegen solchen Schimpf verteidigen, wenn nur die Sorge für meine eigenen Werke mich nicht davon abhielte. 17. Weil also nichts anderes übrigbleibt, beklage und ärgere ich mich, dass das strahlende Angesicht seiner Dichtung von den kunstlosen Zungen jener Leute bespuckt und besudelt wird. Und etwas werde ich, weil der Zusammenhang es gestattet, nicht verschweigen: Darin bestand für mich nicht der letzte Grund, seiner literarischen Gattung zu entsagen, mit der ich in früher Jugend mich beschäftigt hatte: Ich fürchtete für meine Schriften genau das, was ich bei anderen, und vor allem bei denen des Besprochenen feststellte. Dass nämlich die Zungen der Menge

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für meine Sachen beweglicher und ihre Stimmen für sie weicher wären als für jene Werke, die man dank ihrem hohen Alter und einer gesetzlichen Bevorzugung in den Theatern und auf den Plätzen der Städte feierte, das hoffte ich nicht. 18. Meine Furcht war nicht unbegründet, wie die Erfahrung zeigt, denn in jenen paar Sachen, die mir damals, so jung ich war, entglitten, werde ich mit der Zunge des Volkes oft zerfetzt. Und darum kam es so weit, dass ich mich jetzt entrüste und das hasse, was mir einst lieb war. Täglich treibe ich mich sozusagen widerwillig und im Zorn auf mein Schaffen „unter Heerscharen von Ungebildeten auf den Plätzen herum,“ und da pflegt auch mein eigener Damoetas „an den Kreuzungen“17 „Schnarrend auf rissigem Stroh das arme Lied zu zerstören“. 19. Doch soviel genügt für eine Sache von bescheidenem Wert. Ich hätte sie zu so später Zeit nie so wichtig nehmen sollen, da ich eben diese Stunde, die niemals wiederkehrt, anderen Aufgaben geschuldet hätte, wenn Deine Entschuldigung in genannter Frage nicht irgend etwas wie Anschuldigung hätte mitklingen lassen. Es pflegen mir ja wirklich, wie gesagt, einige Leute Hass, andere Verachtung für diesen Mann vorzuwerfen, dessen Namen anzugeben ich heute absichtlich unterlasse, um zu verhindern, dass das Volk, wenn es alles hört und nichts versteht, mit dem Geschrei, er werde beleidigt, nicht alles verderbe. Andere werfen mir Neid vor, und es sind genau dieselben, die auf mich und meinen Titel neidisch sind. 20. Wenn ich aber selber nicht sonderlich neidisch bin, so bin ich doch, was ich früher nie geglaubt hätte und was ich spät erst bemerkte, nicht ganz ohne solche Anwandlung.18 Dabei habe ich vor manchen Jahren, als meine Leidenschaften über mich noch mehr vermochten (zwar in keinerlei Spruch noch Prosatext, aber immerhin), in einem Gedicht19 für einen ausgezeichneten Mann und im Vertrauen auf mein Gewissen zu behaupten gewagt, ich beneidete keinen Menschen um irgend etwas. 21. Doch es sei! Unwürdig sei ich des Vertrauens! Wieviel Anschein von Wahrheit hat aber die Annahme, dass ich eben jenen Bestimmten beneide, der sein ganzes Leben für etwas einsetzte, wofür ich meinerseits kaum die Blüte meiner Jugend und meine Erstlingsgaben verwendete? Ihm überdies die gewisse Beschäftigung wenn nicht das Einzige, so doch das Höchste bedeutete, wogegen mir nur ein Spiel und Trost und erster Versuch in geistiger Tätigkeit war! Wo, bitte, gäbe es da einen Platz für Neid? Wo einen für Verdächtigung? 22. Denn wenn Du unter Lobsprüche die Bemerkung eingefügt hast, jener hätte bei einigem Willen eine andere Schreibweise wählen können, so glaube ich, beim Pollux – denn ich habe ja von seiner Fähigkeit eine hohe Meinung! –, dass er sogar alles, wonach er immer zielte, gekonnt hätte. Wirklich, wohin er zielte, ist nun klar. Und nochmals: Es sei. Er habe erstrebt, er habe gekonnt, er habe vollendet. Was folgt daraus? Wo gäbe es da für mich einen Stoff für Neid und nicht eher für Freude? Und wen sollte einer beneiden, der auch Vergil nicht beneidet? Es wäre denn, dass ich ihm den Beifall

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und kreischenden Lärm von Walkern, Wirten, Fechtmeistern und anderen Leuten dieser Art missgönnte, welche einen, den sie loben wollen, beschimpfen!20 Dabei beglückwünsche ich mich gemeinsam mit Vergil und Homer, weil ich solches entbehre, wissend, was die Gebildeten vom Lob der Ungebildeten halten! 23. Es wäre denn, man müsste glauben, ein Mantuaner21 sei mir lieber als ein Florentiner Bürger! Wo doch die Herkunft für sich allein und ohne Zugabe überhaupt kein Verdienst hat! Wobei ich freilich nicht bestreite, dass der Neid am ehesten über Nachbarn zu herrschen vermag. Doch eine solche Verdächtigung neben vielem, was wir angeführt haben, lässt der Abstand zwischen den Lebenszeiten nicht zu, wie denn jener zutreffend gesagt hat, der nie etwas unzutreffend sagte:22 Die Toten „kennen nicht Hass und nicht Neid.“ 24. Da ich geschworen habe, wirst Du mir das glauben: Ich freue mich am Talent und an der Sprache jenes Mannes, und nie pflege ich anders als in hohen Tönen darüber zu sprechen. Doch bleibt noch das Eine, das ich einst besonders grüblerisch Fragenden zur Antwort gab: Er sei in sich ungleich gewesen, denn in der Vulgärsprache habe er sich zu Höherem und Herrlicherem aufgeschwungen als in lateinischen Gedichten und in lateinischer Prosa. Das wirst auch Du zugeben, und es bedeutet in den Ohren sachlicher Beurteiler nichts als ein rühmliches Lob. 25. Wer wäre denn – ich sage nicht heute, wo die Redekunst schon längst erstickt und begraben ist, sondern früher, als sie aufs schönste blühte – in all ihren Teilen der Tüchtigste gewesen? Lies Senecas23 Bücher über die Deklamationen: Weder von Cicero, noch von Vergil, Sallust oder Platon kann das gesagt werden. Wer aber würde nach einem Lob verlangen, das solchen Geistern versagt blieb? Auf einem einzigen Gebiet geglänzt zu haben, genügt!24 Da es sich so verhält, mögen jene verstummen, die eine Verleumdung zusammenschustern! Und andere, die vielleicht den Verleumdern Glauben schenkten, mögen hier, wenn’s beliebt, meine Rechtfertigung lesen! 26. Nachdem ich die mich bedrückende Last bei Dir niedergelegt habe, komme ich zum zweiten Punkt.25 Du dankst mir, weil ich um Deine Gesundheit so sehr besorgt war, und Du handelst damit recht höflich und nach allgemeinem Brauch, tust aber, als wüsstest Du nicht, dass dies überflüssig ist. Denn wem ist je für die Sorge um sich selber und für eine gute Leistung in eigener Sache gedankt worden? In Dir, Freund, „geht’s um das Meine!“26 Obwohl in menschlichen Dingen auf die Tugend gleich die Freundschaft folgt, weil sie heiliger, gottähnlicher und himmlischer ist als alles übrige, ist doch wohl richtig, wenn man unterscheidet, ob man zu lieben oder ob man geliebt zu werden beginne. Denn es ist wohl einigermassen edler, jene Freundschaften zu pflegen, in denen wir Liebe einander zurückgeben, als die andern, in denen wir beim Annehmen bleiben. 27. Um von vielen Gelegenheiten zu schweigen, bei denen Du mich durch Deine Liebesdienste und Gaben der Freundschaft besiegt hast, nenne ich bloss die

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eine, die ich niemals vergessen könnte. Damals, als ich meine Reise mitten durch Italien bei schon grimmiger Winterkälte beschleunigte, bist Du – im erstaunlichen Verlangen nach einem nie gesehenen Menschen – mir nicht allein mit liebenden Gefühlen, die so etwas wie der Seele Schritte sind, sondern auch in körperlicher Behendigkeit zuvorgekommen.27 Vorausgeschickt hattest Du mir ein sehr schönes Gedicht, so dass Du mir, den zu lieben Du entschlossen warst, zuerst Deine geistige Gestalt und erst darauf Dein leibliches Aussehen zeigtest. 28. Es war aber spät am Tag, und das Licht begann zu schwinden, als Du mich, den aus langer Verbannung Heimgekehrten und endlich in den Mauern seiner Vaterstadt Geborgenen, zur Begrüssung in hingebender und alles Verdienst übersteigender Ehrfurcht umarmtest und gleichsam jene dichterisch verklärte Begegnung mit Anchises, dem König von Arkadien, erneuertest:28 „…mein Herz entbrannte jugendlich liebend, Hinzutreten zu ihm, meine Hand in die seine zu legen.“ Obwohl ich nicht einer war, der „höher als alle stieg“, sondern unter ihnen blieb, fühltest Du doch ein ebenso brennendes Herz wie jener. Auch hast Du mich nicht „vor die Stadt Pheneos“29geführt, jedoch in die heiligen Kammern Deiner Freundschaft. Ich habe Dir nicht einen „kunstvollen Köcher und lykische Pfeile“, sondern meine ewige und aufrichtige Zuneigung geschenkt, war in vieler Hinsicht geringer als Nisos oder Phintias oder auch Laelius30und hätte ihnen doch in dieser einen Sache niemals willig den Vorrang gelassen. Lebe wohl! (April/Mai 1359)31

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Adressaten. 2 Boccaccio hatte sich vom 16. März bis 11. April 1359 bei Petrarca in Mailand aufgehalten; vgl. Fam. 20,6,7. Von gemeinsamen Studien während dieses Aufenthalts sprechen Var. 25 und Fam. 22,2. 3 Boccaccio hat zum Ruhm Dantes manches beigetragen; er hielt in Florenz Vorlesungen über die Divina commedia und edierte Kommentare zu diesem Werk. 4 Carmen laudatorium meint wohl ein Gedicht in Versen, beginnend mit Ytalie iam certus honos, das Petrarca schon früher, jetzt in Überarbeitung erhalten hatte. 5 Sap.1,6. 6 Petrarca benützt das von Paulus 1Cor. 9,24 verwendete und von christlichen Autoren aufgegriffene Wort bravium. 7 Inst.10,1,125. 8 Gemeint ist Dante, wie aus dem folgenden Text klar hervorgeht. 9 Gemeint ist hier der Sachverhalt.

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10 Dante floh aus Florenz am 27. Januar 1302 während der Streitigkeiten zwischen verschiedenen Geschlechtern (mehr guelfischer oder mehr ghibellinischer Neigung). Kurz vorher war der Franzose Charles von Valois im Auftrag des Papstes Bonifaz VIII. in Florenz eingezogen, nämlich am 1. November 1301. 11 Vgl. den lateinischen Text. Die Passage ist vielleicht bei einer Überarbeitung verdorben worden. 12 Petrarca hat Dantes Sohn Pietro, geb. um 1300, persönlich gekannt, ist ihm während seiner Studien in Bologna begegnet, später in Verona, wo Pietro als Jurist tätig war, und hat ihm einmal auf ein Schreiben mit Metr. 3,7 – vgl. Schönberger 246 f. – geantwortet. Vgl. Wilkins, Studies Kapitel 2,33–47. 13 Petrarca deutet den Erfolg seiner volkssprachlichen Dichtung in den Familiares mehrmals an, so Fam. 1,1,6; 8,3,13; 12,6,5. 14 Vgl. zu dieser Frage der Imitation andere Schreiben wie z. B. Fam. 8,8,11 oder – wiederum an Boccaccio – Fam. 22,2,24. 15 Rossi erklärt, die Stelle nicht gefunden zu haben. Vgl. aber Fam. 18,8,14. 16 Gemeint ist die Rhetorica ad Herennium, und zitiert wird daraus 4,2,3. 17 Verg. Ecl. 3,26–27. Hier der Name, der einen Hirten bezeichnet. Zu Petrarcas Vortragskunst vgl. Nellis Epist. 13. 18 Vgl. Fam. 21,13,7. 19 Metr. 1,6,15. Das Gedicht richtete sich an Petrarcas besten Jugendfreund Giacomo Colonna, den Bischof von Lombez; vgl. Schönberger 70 f. und Personenreg. im Bd. 1. 20 Ähnlich in Fam. 14,2,7 mit einem Hinweis auf Cic. Tusc. 4,3,7. 21 Das ist Vergil. 22 Ps. Cic. In Sall. 2,5 (Stellennachweis von Nachod und Stern, Briefe des F. Petrarca, Berlin 1931, 374). 23 Seneca Maior, Controv. 3,8. 24 Vgl. hierzu Fam. 24, 4. 25 Vgl. den Briefanfang; Petrarca hat beschlossen, zwei Fragen zu beantworten. 26 Hor. Epist. 1,18,84. 27 Petrarca sagte seinen Freunden gerne, dass er die erste Begegnung mit ihnen nicht vergesse; vgl. z. B. Fam. 18,6,6 an Forese Donati. 28 Verg. Aen. 8,162–166. Es spricht Euandros zu Aeneas von seiner früheren Begegnung mit Anchises, dem Vater des Aeneas. 29 Zu diesem und dem folgenden Zitat vgl. Verg. Aen. 8,165 f. Pheneos ist eine Stadt in Arkadien, die im Schiffskatalog bei Homer Ilias 2,605 genannt wird. 30 Nisos, Gefährte des Aeneas, treuer Freund des Euryalos; Phintias, Freund des Damon; Laelius, berühmt für Freundestreue gegenüber Scipio. Vgl. Personenreg. 31 Vgl. Wilkins, Eight years 183 und 188–190. Der Autor verweist auf A. S. Bernardo, Petrarch’s attitude toward Dante, in: Publications of the modern language association of America (PMLA), 77, 1955, 488–517. Dotti, Vita 331 erwähnt Michele Feo, Petrarca e Dante, in: Enciclopedia Dantesca IV,451.

Fam. 22,1, an Pandolfo Malatesta den Jüngeren, den Herrn von Rimini1 Frage, ob man eine Gattin nehmen solle und welche. 1. Petrarca fehlt die Erfahrung, die zur Lösung der Frage nötig wäre. 2. Er verweist auf Bücher und zitiert Sokrates. 4. Mühen und Gefahren gibt es bei jeder Lebensweise. 5. In aller Unsicherheit kann einzig die Tugend raten. 7. Pandolfos Stellung fordert die Ehe. 9. Wichtig ist eine gute Wahl. 9. Petrarca rät zur Heirat einer Frau ferner Herkunft. 12. Er nennt die Eigenschaften einer guten Ehefrau. Venedig, am 11. September (1362).

1. Ob es dienlicher sei, eine Gattin zu nehmen oder ledig zu bleiben, das möchtest Du wissen. Habe Dank für Deine Meinung, ich könnte in so wichtiger Sache ein geeigneter Ratgeber sein. Freilich, ist es die Erfahrung, die das Können schafft, um wie viel sicherer als ich kannst Du selber raten, da Du in beidem schon erfahren bist,2 ich hingegen nur im einen, während ich mir für das andere mit den Schriften der Alten und mit Auskünften moderner Eheleute oder mit eigenen Überlegungen helfen muss, um eine Vermutung zu äussern. Eben deswegen habe ich meine Antwort hinausgezögert, fürchte ich doch, auf eine so schwierige Frage vor einem so tüchtigen Richter Bescheid zu geben. 2. Nach allseitiger Erwägung will ich schliesslich aber lieber für ungeeignet als für ungefällig gelten oder gar als einer dastehen, der Dein Anliegen nicht ernst nimmt. Geschichtswerke und theoretische Abhandlungen habe ich weggelegt; sonst würde es nötig, ein Buch, nicht einen Brief zu schreiben. Und eben weil gewisse Schriftsteller genau über diesen Gegenstand Bücher verfasst haben, wirst Du von mir nichts als ein kurzes und nacktes Ergebnis meiner Überlegungen hören, und solltest Du meine Denkart dann vielleicht tadeln, müsstest Du doch meine Ergebenheit loben. 3. In erster Linie wird nützlich sein, sich an ein Wort des Sokrates zu erinnern, das er zu einem Jüngling sagte. Als dieser so unsicher wie Du, und eine Antwort vom Philosophen wie Du von mir erbat, sagte ihm jener: „Gleichgültig, was Du wählst, Du wirst dafür büssen“. Und dann fügte er Gründe an, die ich übergehe; weil sie bekannt sind.3 Mit diesem Wort machte er klar, was er genau in der von uns besprochenen Sache dachte. Doch könnte man das selbe auf einen grossen Teil anderer menschlicher Fragen ebenso antworten; denn man mag wählen, was man will: Überall gibt es Beschwerden, Überdruss und Gefahr. 4. Und wundern wirst Du Dich nicht. Du brauchst nur unser Leben zu bedenken, an dem wir so ungemein hangen. Wohin man sich wendet, ist eben nichts anderes als Gefahr, Überdruss und Beschwerde. Was sonst will man erhoffen, als was zu finden ist? Wer sucht im brennenden Ofen kühlen Tau, wer mitten im Meer Süsswasser oder unter Schneemassen glühende Kohle? Jedes Ding ist an seiner besonderen Stätte zu suchen, und tut man es anderswo, ist selbst gründlichste Nachforschung nutzlos.

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5. Kann es also auf diesem nebligen, steinigen und schlüpfrigen Lebenspfad weder wahre Ruhe, noch reine Annehmlichkeit, noch auch gewisse Sicherheit geben, wird jedesmal, wenn sich Unsicherheit einstellt (wie jetzt bei Dir und oft bei anderen), nach der Unterdrückung jeder falschen Hoffnung nichts übrig bleiben als Mannhaftigkeit. Diese wird Dir mit Zeichen andeuten, wohin Du Deine Aufmerksamkeit richten und wenden sollst, und wenn Du solche beachtest, wirst Du nicht fehlgehen. Würde aber Deinem Entschluss ein Erfolg versagt, bliebe Dir dennoch der Ruhm, eine Wahl getroffen zu haben. 6. Fragt man nun während eben der Wahl des Nützlichen, was denn zu fördern sei,4 wird die Untersuchung oft äusserst schwierig. Das eine dient Dir, etwas anderes Deinem Haus, Deinem Vaterland und Deinen Freunden, und ebenso fördert etwas Dein Erbgut, etwas anderes Deinen Ruf, wieder anderes Dein Vergnügen, nochmals anderes Gesundheit und Gedeihen. An diesem Scheideweg hat man, wie ich meine, dafür zu sorgen, dass das öffentliche Wohl dem privaten und alles Edle dem Unedlen übergeordnet werde. Und um Dich mit allgemeinen Andeutungen nicht länger in Spannung zu halten, lege ich die Schlussfolgerung vor. 7. Ganz bestimmt vertrete ich nämlich die Meinung, dass für Dich, Deinen Alltag und Deine Ruhe besser wäre, ehelos zu leben. Doch Dein Haus, Dein Vaterland, Deine Freunde erwarten von Dir etwas anderes. Und Dir können weder Kinder noch Lebensalter als Ausrede dienen, denn Kinder hast Du nicht, und Du selber stehst in blühenden Jahren. Was also? Da Du mich unter die Ratgeber rufst, pflichte ich bei: Nimm eine Frau! 8. Während ich persönlich nichts für so erfreulich und geruhsam halte wie Ehelosigkeit, gönnen Dir Dein eigener Rang und der Deiner Angehörigen diese Annehmlichkeit und Ruhe nicht. Hohem Rang ist Ruhe nicht länger beschieden als dem aufragenden Berg oder wogenden Meer; er ist seinen besonderen Winden preisgegeben. Und sagen darfst Du nicht: „Ich nehme Rücksicht einzig auf mich; ich sorge für mich,“5 denn Du bist, wie Platon sagt6, „für Dein Vaterland, Deine Verwandten und Freunde geboren worden“. 9. Handle also unter Christi Leitung und nimm Dir eine Gattin! Und bei ihrer Wahl sei Dein Urteil ungetrübt und allen niedrigen Wünschen fern, so dass Du weniger auf Mitgift und Reichtum als auf Herkunft und Erziehung, weniger auf prächtige Aufmachung als auf Pflichtgefühl und weit weniger auf die Schönheit des Körpers als auf die der Seele achtest. 10. Soll sie eher aus benachbarter oder eher aus entfernter Gegend stammen? So lautete der zweite Punkt Deiner Anfrage. Ich werde der Auffassung fast aller Leute widersprechen. Denn fast alle erklären sich zu Gunsten einer Gattin aus der Nachbarschaft, während ich, ohne im übrigen abzuweichen, einer aus der Fremde den Vorzug gebe. Jene veranschlagen Begünstigungen durch Verwandte, obwohl sie doch selten zu haben sind, teuer zu stehen kommen und Du sie dank Deinen Verhältnissen übrigens recht gut entbehren kannst. Ich hingegen lege Wert auf geistige

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Unabhängigkeit wie auf das Vermeiden von Verdruss, ja von Gehässigkeit; doch die Anwesenheit von Verwandten pflegt solche zu fördern. 11. Schliesslich halte ich nicht für unwichtig, ob eine erfahrene Frau Deine Schwelle betrete – wem nämlich sollte schlecht anstehen, was einem König David und Magnus Pompeius sehr wohl anstand und einem Caesar Augustus nicht übel?7 – oder ob vielleicht ein ganz unerfahrenes Jungfräulein mit Dir eine erste Ehe eingehe. Das zu überlegen halte ich für nützlich, vornehmlich wenn Deiner Ehe Glück beschieden wäre.8 12. Wird Dir ein edles Mädchen schon in früher Jugend angetraut und dem Verhätscheln durch die Seinen und dem Geschwätz alter Weiber entzogen, kann es keuscher, bescheidener, willfähriger und anhänglicher werden, den kindischen Leichtsinn früher ablegen, um den würdigen Ernst der Frauen anzunehmen. Ob aber ein jungfräuliches Mädchen oder eine Witwe mit Dir eine Ehe eingeht: Vom Augenblick an, da das Ehelager Euch verbunden hat, soll sie einzig auf Dich hören, einzig auf Dich sehen, allein an Dich denken und allein nach Dir und Deinen Sitten geformt werden, Gefährten und Amme vergessen und allein in der liebenden Hingebung ihrer Ehe ruhen. 13. Dies, Du Hochansehnlicher, ist meine Meinung, hoffentlich so segensreich wie getreu. Was immer Du wählen wirst, möge der Allmächtige begünstigen! Lebe glücklich, und denke an mich! Venedig, am 11. September (1362).9

Anmerkungen 1 Der Adressat verehrte Petrarca seit langem; vgl. Angaben im Überblick. An ihn schrieb der Dichter auch Sen. 13,9–13,11 und Var. 18. Vgl. zu seiner Person Francesco Cognasso in: Storia di Milano Bd. 5, Mailand 1955, 382 ff. und Wilkins, Eight years, vor allem auch Roberto Weiss, Il primo secolo dell’umanesimo 72–102. 82–84. 86–87. 134–135. 2 Pandolfo hatte bereits eine Frau gehabt. 3 Val. Max. 7,2,ext 1. Gemäss Sokrates bringt Ehelosigkeit: Einsamkeit, Verlust von Verwandtschaft, Untergang des eigenen Stammes, fremde Erben. Ehe hingegen bringt ständige Aufregung, unaufhörliche Beschwerden (von seiten der Ehefrau), vorwurfsvollen Hinweis auf Mitgift, finster überhebliche Mienen von Anverwandten, geschwätzige Schwiegermutter, ständiges Aushorchen von seiten anderer Eheleute, unsicheres Schicksal der Kinder. 4 Lateinisch: dum quid expediat queritur. 5 Rossi hat consule in den Text aufgenommen; ich wähle die in den Handschriften seltener vorkommende Lesart: consulo. 6 Vgl. Cic. De off. 1,7,22 und De fin. 2,14,45. 7 Die drei Genannten ehelichten Witwen oder Geschiedene; so war die zweite Gattin Davids Abigail, Witwe eines Grundbesitzers Nabal: Pompeius heiratete Iulia, die Tochter Caesars, nachdem ihre Verlobung mit Q. Servilius Caepio aufgelöst war. Augustus nahm Livia zur Frau, die vorher Gattin des Ti. Claudius Nero gewesen war.

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8 Die Wendung: si coniugii tibi secunda sors fuerit, heisst hier wohl, dass mit Kindersegen zu rechnen sei. 9 Vgl. zur Datierung Wilkins, Petr. corresp. 84; R.Weiss, Il primo secolo 86–87; zu Pandolfo allgemein oben Anm. 1.

Fam. 22,2, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio)1 Oft täuscht sich ein Schreiber besonders leicht in den ihm vertrauten Dingen. Gesetzmässigkeit bei der Nachahmung. 1. Petrarca korrigiert an der Adda Fehler in seinem Hirtengedicht. Ein Lektor hat Fehler aufgedeckt. 8. Genaue Kenntnis alter Werke kann ein Gedächtnis irreführen. 10. Petrarca erläutert das mit Beispielen. 14. Er hält oft für etwas Eigenes, was er übernommen hat. 15. Rauben will er nie; er ahmt die Arbeitsweise der Bienen nach. 19. Ein grosser Neuerer ist er nicht. 20. Vorbilder, die Zwang ausüben, lehnt er ab. 22. Wendungen in seinen Werken, die an fremde erinnern, ändert er. 27. Lateinische Dichter, die Anleihen bei griechischen Autoren machten, hatten ihre eigenen Grundsätze. (Pagazzano, um den 8. Oktober 1359)

1. Sogleich nach Deinem Weggang machte Deine Reise mir Sorgen;2 doch weil ich unfähig bin, nichts zu tun – obwohl man, um die Wahrheit zu sagen, beinah alles, was ich tue, als ein Nichts oder ein fast Nichts bezeichnen könnte –, habe ich für die Fortführung der mit Dir begonnenen Arbeit unseren gemeinsamen Freund nach einem gewissen Recht zurückgehalten. Er sollte mit mir Exemplare des Hirtengedichts, das Du mit Dir genommen hast, überprüfen.3 Indem ich mit ihm, einem wirklich guten Menschen von herkömmlichen Sitten, einem zwar etwas langsamen Leser, aber sehr hilfsbereiten Freund,4 die Eklogen durchging, bemerkte ich, dass einige Wörtchen häufiger wiederkehrten, als ich wollte, und dass, ich weiss nicht was alles, noch immer der Feile bedürfe. 2. Deshalb möchte ich Dich ermahnen, mit der Abschrift Dich nicht zu beeilen und unserem Freund Francesco5 keine Kopie auszuhändigen, denn ich kenne ja Euer heisses Begehren nach all dem Meinen und insbesondere nach meinen Briefen, obwohl sie bloss dank Eurer Liebe, die alle Einsicht abwehrt, Euren Fingern und Augen genügen können.6 In der Meinung also, das Nötige lasse sich in wenigen Stunden bequem erledigen, sobald ich aufs Land übersiedelt wäre, bereitete ich mich vor, am ersten Juli dorthin7 zu reisen, doch wurde daraus nichts. 3. Die allzu häufigen und jetzt gar ganzjährigen Tumulte in Ligurien8 hielten mich, den entschlossenen Liebhaber des Landes und Verächter der Städte, just in der Stadt so lange fest, bis ich schliesslich, als die Furcht grösser zu sein schien als die Gefahr, Anfangs Oktober recht spät, aber in einer Zuversicht, die alles ängstliche Zögern überwand, am Ufer der Adda anlangte. In dieser Gegend habe ich zu dieser Jahreszeit meine Einsiedelei, und hier verbringe ich nun schon eine Woche. Aber ein Dauerregen und ein plötzlicher Herbsteinfall oder eher ein vorzeitiger Winter verheissen mir eine bloss kurze Erholung. 4. In dieser knappen vom Wolkenhimmel und schlechten Wetter verhangenen Mussezeit habe ich mich zur Überarbeitung jener Dichtung gesammelt und dabei festgestellt, dass ein schnell arbeitender Verstand für eine Korrekturarbeit zu seinem Vorteil die Bedächtigkeit eines Lektors nützt. In der Tat, wie ein heiterer, behender und intelligenter Vorleser den Text erfreulich macht, so sorgt ein strenger, zaudern-

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der und schwerfälliger dafür, das Gelesene klar zu machen und Fehler aufzudecken. Und das geschieht, beim Herkules, hier nicht anders als bei anderen Tätigkeiten. 5. Man lasse auf ein schlechtes Pferd einen gewandten und erfahrenen Reiter aufsitzen: Alle Mängel des Tieres werden verdeckt bleiben. Man nehme einen unerfahrenen Reiter: Sie werden sich zeigen. Vertraue eine ungerechte Sache einem ausgezeichneten Anwalt an: Er wird das Unrecht mit Redekunst vertuschen. Schicke einen unbeholfenen Advokaten aufs Rednerpult: Seine dürftige Sprache wird das Unrecht der Sache offenbaren. 6. Du hast wohl kaum vergessen, dass Marcus Cato Censorius9 empfahl, Karneades von der Akademie, den Anführer einer Philosophengesandtschaft, die von Athen nach Rom gekommen war, „möglichst rasch zurückzuschicken“. Und das begründete er so: ‚Lasse man einen solchen Mann sprechen, könne man kaum dahinterkommen, was an der Sache wahr und was falsch sei.‘ 7. So verhält es sich wirklich: Verdeckt werden Mängel durch die Gewandtheit der Künstler und aufgedeckt durch Unbeholfenheit. Dank der Lektüre des Erwähnten hörte ich, was ich unter Deiner Lektüre überhört hatte; und erst daraus lernte ich dies: Hoffst Du auf Freude an Deinen Werken, suche einen lebhaften, musischen Vorleser, doch geht’s um Korrektur, einen langsamen und tapsigen. Was ich nun an diesem Gedicht noch ändern möchte, kannst Du auf einem Beiblatt lesen; ich möchte diesen Text nicht mit Häklein verunstalten. 8. Etwas meinte ich weder Dir noch der Epistel vorenthalten zu sollen; es blieb mir bis heute nämlich verborgen und ist mir jetzt erstaunlich und unbegreiflich. Jeden von uns, die wir neue Erkenntnisse mitteilen, täuscht allzu oft das, was wir besonders gründlich gelernt haben; es spielt uns in eben dem Akt des Schreibens, weil allzu vertraut,10 einen üblen Streich. Zuverlässiger ist unser Wissen in Dingen, die wir dem Gedächtnis etwas nachlässig zugeführt haben. 9. Doch nun fragst Du: „Was soll das heissen? Erkennst Du nicht den Widerspruch in Deiner Rede? Unmöglich können zwei gegensätzliche Aussagen zur selben Zeit wahr sein. Wie bringt man es fertig, dass unser vermehrtes Wissen geringeres Wissen ist und recht nachlässig Geschlucktes zuverlässig haften bleibt? Eine sonderbare Sphinx ist das,11 und welch ein Rätsel!“ 10. Ich will es erklären. Wieder gilt, dass das selbe auch anderswo vorkommt. Ein Familienvater hat oft gerade das, was er besonders sorgfältig versorgt hat, weniger rasch zur Hand. Was tiefer vergraben liegt, wird mühsamer hervorgeholt. Doch das trifft für körperliche Dinge zu, und deswegen gehen meine Gedanken nicht in diese Richtung. Und damit ich Dich nicht mit Sonderbarkeiten hinhalte, höre ein Beispiel. 11. Ich las einmal bei Ennius, einmal bei Plautus, Felix Capella und Apuleius,12 und ich las mit grösster Eile und erlaubte mir kein Zögern, es sei denn wie auf fremdem Gelände. So kam es, dass ich manches im Vorbeigehen sah, wenig aufgriff und noch weniger ablegte, dieses wenige aber wie etwas Alltägliches ins Freie, ja sozusa-

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gen in den Vorhof des Gedächtnisses. So oft nun etwas davon zu hören oder vorzubringen ist, wird mir sogleich bewusst, dass es nicht zum Meinigen gehört; und ich täusche mich nicht über seine Herkunft, sondern weiss: ‚Das Ding da kommt wie es ist von einem Fremden und gehört mir als etwas bloss Fremdes.‘ 12. Ich las bei Vergil und bei Flaccus, bei Severinus und Tullius;13 und ich las es nicht bloss einmal, sondern tausendmal, und dabei lief ich nicht, sondern legte mich nieder und verweilte dabei unter mancher geistigen Anstrengung; und ich speiste des Morgens, was ich spät am Tag verdaute, und schluckte als Kind, was ich als alter Mann wiederkäute. 13. Diese Dinge aber sind so heimlich in mich eingedrungen und nicht bloss in meinem Gedächtnis sondern auch in meinen Eingeweiden haften geblieben und sind jetzt so sehr eins mit meinem geistigen Vermögen, dass sie darin auch dann noch länger verbleiben würden, wenn ich sie in meinem ganzen Leben nicht noch einmal läse, denn sie haben im Innersten meiner Seele Wurzeln geschlagen. Doch vergass ich bisweilen ihren Autor, nämlich infolge ihres langen Gebrauchs und fortwährenden Besitzes in der Meinung, ich hätte sie früher einmal selber geschrieben und immer schon als das Meine angesehen – weil von der Fülle solcher Dinge überwältigt –, so dass ich mich nicht erinnerte, woher sie stammten noch dass sie mir fremd seien. 14. Das ist der Grund, weshalb ich behaupte, was uns besonders bekannt sei, täusche uns eher. Taucht es gelegentlich und infolge einer Gewöhnung wieder auf, so dass man sich seiner erinnert, kann es dem sehr Beschäftigten, der streng über etwas Bestimmtes nachdenkt, nicht bloss als etwas Eigenes, sondern – Du magst Dich wundern – sogar als etwas Neues vorkommen. Doch nein, wie sollte es Dich wundern! Du wirst im Gegenteil erklären, es verhalte sich so, weil Du, wie ich vermute, bei Dir selber notwendigerweise Ähnliches erlebt hast. 15. Das eine vom andern zu unterscheiden, kostet mich eine recht erhebliche Anstrengung. Unseren Apollon,14 den einzigen Sohn des göttlichen Zeus, nehme ich zum Zeugen (ich meine den wahren Gott der Weisheit Christus), dass ich nie nach einer Beute begierig war und Raub geistiger Erzeugnisse so völlig vermied wie irgendeines Eigentums. Sollte man etwas anderes entdecken, würde ich, wo es nie gelesene Werke betrifft, sagen: ‚Eine Ähnlichkeit der Geistesrichtungen bewirkt solches,‘ wie ich das schon im früheren Schreiben an Dich angedeutet habe;15 und wo es gelesene Werke betrifft, würde ich sagen: ‚Ein Irrtum oder ein Vergessen liegt vor‘. Und eben das ist hier geschehen. 16. Mein Leben, ja, das möchte ich mit fremden Worten und Weisungen schmücken, jedoch nicht meinen Stil, ausser ich würde den Autor angeben und eine bezeichnende Änderung in der Weise vornehmen, dass in der Nachahmung der Bienen aus vielen und verschiedenen Dingen ein Ganzes entstünde.16 Sonst wollte ich meinen eigenen Stil haben und sogar einen ungepflegten und rauhen, aber immerhin einen von der Art eines bequemen Kleides und einen nach dem Mass meines eigenen Geistes verfertigten einem mir fremden vorziehen. Denn

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wäre dieser fremde noch so gepflegt und in seinem Ornat noch so beeindruckend, würde er, ringsum herabwallend, weil von einem grösseren Geist geschaffen, zur Statur meines bescheidenen Geistes nicht passen. 17. Jede Art Gewandt schickt sich für einen Komödianten, aber nicht jeder Stil für einen Literaten. Jeder muss sich den eigenen bilden und bewahren, sonst werden wir durch die Hülle fremder Kleider verunstaltet. Käme dann gar die „Schar Vögel, um ihre Federn zurückzufordern“, würden wir ihrer „beraubt“ dastehen und von einer „kleinen Krähe verspottet werden“.17 Zu eines jeden Menschen Natur gehört, dass er mit einer besonderen Gestalt und Gebärde auch eine eigene Stimme und Rede habe, und diese zu pflegen und zu verbessern, ist allemal um so viel leichter, als es auch rascher und glücklicher gelingen kann. 18. ‚Und wofür hältst Du Dich,‘ wird einer fragen, wohl aber nicht Du, Freund, der Du mich gründlich kennst, sondern einer von jenen Stummen, die – eben weil sie schweigen – vor Kritikern geschützt und sicher sind, deshalb andere beobachten und uns aus allen einzelnen Wörtern ebenso viele Pfeile zu schmieden verstehen. Hören also sollen sie, wenn sie bloss als Zuhörer aufbegehren: Ich mache mich nicht zu einem, wie Iuvenal18 ihn geschildert hat, nicht zum „Ruhmvollen Sänger, der nie mit dem Volk das Geringste gemein hat, Der auch nie eines anderen Wort zu benützen versucht ist, Ja auch kein plattes Gedicht verfertigt in billiger Prägung“, das heisst, ich mache aus mir nicht einen, den selbst der Dichter,19 wie er ja zugibt, „nicht vorzuzeigen, sondern bloss auszudenken“ vermag. Auch nicht zu einem wie Horaz war,20 der von sich sagte: „Setzte den freien Fuss als Erster auf weites Gelände“ oder „… war’s doch ich, der zuerst die doppelten Jamben Latien zeigte.“ auch nicht zu einem, der wie Lukrez gesagt hat:21 „Einsam durchwandere ich der Musen Pfad, den bis heute Niemand betrat;“ und nicht wie Vergil:22 „Schön ist’s zu gehn auf der Musen Bahn, wo keiner der Alten Seitwärts bog über sanfte Höhn zu Kastaliens Quelle.“ 20. Was also? Ich bin einer, der sich freut, auf dem Pfad der Alten zu gehen, jedoch nicht wünscht, immer fremden Spuren zu folgen. Ich bin einer, der anderer Leute

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Schriften nicht wie ein Dieb, sondern zur guten Zeit als Leihgabe benützt, doch lieber, wenn immer möglich, die eigenen verwendet. Ich bin einer, der Ähnlichkeit, jedoch nicht Gleichheit, und Ähnlichkeit nicht im Übermass schätzt, denn es soll in ihr das Licht der späteren Begabung, nicht aber deren Stumpfheit und nicht deren Armut sichtbar sein. Ich bin einer, der meint, besser sei es, einen Führer zu vermissen, als einem Führer in allem zwanghaft zu folgen. 21. Ich will keinen Führer, der mich bindet, sondern einen, der vorausgeht. Der Führer lasse mir Augen, er lasse mir Urteil, er lasse mir Freiheit; er gestatte, die Füsse aufzusetzen, wo ich will, und ihn etwa gar zu überholen und auf niemals Begangenes einzubiegen. Auch soll mir erlaubt sein, den kürzeren oder bequemeren Weg einzuschlagen, wenn mein Sinn danach steht, und auch zu eilen, still zu stehen, abzuschwenken und umzukehren. 22. Doch ich schweife allzu sehr ab und halte Dich allzu sehr hin. Die heutige Arbeit betraf die zehnte Ekloge des Hirtengedichts. Da habe ich an einer Stelle geschrieben:23 solio sublimis acerno, dann aber bei wiederholter Lektüre bemerkt, dass es einem Vers Vergils24 allzu ähnlich ist, denn er sagt im siebten Buch seines göttlichen Werks: solioque invitat acerno. Ändere das und setze an diese Stelle: e sede verendus acerna. 23. Denn allerdings will ich, dass der Thron des römischen Imperiums aus Ahorn bestehe, weil bei Vergil auch das Troische Pferd aus Ahorn bestand. Wenn nämlich auf theologischem Gebiet das Holz zuerst der Grund für das Verderben des Menschengeschlechts, hierauf aber der Grund für sein Heil war,25 dann ist in der Dichtkunst das Holz der selben Art und sogar der Baum der selben Gattung zuerst einmal Stoff zum Ruin des Imperiums, später Stoff zu seiner Neubelebung. Damit kennst Du das Wichtigste meiner Argumentation, und mehr ist nicht nötig. 24. In der selben Ekloge fand ich noch etwas anderes,26 das ich – schau wie sonderbar! – eben weil es mir gut bekannt war, nicht erkannte und mich deshalb täuschte. Hätte ich’s aber weniger gekannt, hätte ich mich nicht getäuscht. Und es war dem Fremden nicht durchaus ähnlich, vielmehr war es ganz und gar das Fremde. Doch geschah mir wie einem, der mit offenen Augen den vor ihm stehenden Freund nicht sieht. Und es tönte so: Quid enim non carmina possunt?27 Nach einigem Nachdenken sah ich endlich ein, das Versende stamme nicht von mir; wer aber sein Autor sei, blieb mir zweifelhaft, und zwar aus dem alleinigen Grund, weil ich, wie schon gesagt, das Zitierte meinem eigenen Verstand übermittelt hatte. Schliesslich entdeckte ich, dass es bei Naso im siebten Buch Metamorphoseos stehe.28 26. Du sollst also auch diese Stelle ändern und für sie einsetzen: Quid enim vim carminis equet? 29 Und ich meine, weder in Wort noch Sinn sei dieser Vers weniger gut, auch stamme er von uns, sofern er sich selber und somit auch der unsere ist. Der andere gehe zu seinem Herrn zurück und gehöre Naso. Ihm könnte ich ihn, selbst wenn ich wollte, nicht entreissen, aber ich wollte es auch nicht, selbst wenn ich es könnte.

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27. Freilich weiss ich genau, dass wie mehrere von den Alten so besonders auch Vergil nicht allein unzählige Verse aus dem Griechischen ins Lateinische übertrug – sich brüstend, „einem Herkules die Keule entrissen“ zu haben30 –, sondern auch Verse aus fremden Werken, wie sie lauteten, ins eigene Werk übernahm, und dies nicht etwa in irgendwelcher Unkenntnis, die sich übrigens bei der Fülle so vieler bedeutender Raubstücke gar nicht vortäuschen liess. Er tat es jedoch, soweit man erkennen kann, nicht um zu stehlen, vielmehr um zu wetteifern, und besass dabei wohl eine grössere Freiheit oder eine andere Denkart als wir. Ich für meine Person will dulden, sofern die Sache es fordert, dass man mit Fremdem sich wissentlich behelfe, aber nicht, dass man sich damit schmücke. Wenn ich aus Unwissenheit gegen diesen Grundsatz verstosse, lass es mich wissen. Ich würde willig Deine gute Absicht anerkennen und Geraubtes zurückgeben. 28. Jedenfalls sind die zwei hier vorliegenden Stellen von jener bestimmten Art; und hast Du ihrer mehrere gefunden, so korrigiere sie nach Deinem Recht oder weise mich freundschaftlich auf sie hin. Mir ist nämlich nichts lieber (ob Du selber es kannst oder ob irgend ein anderer Freund), als in tadelnden Worten einen echten Helfer und einen freimütigen und furchtlosen Geist zu finden. 29. Wirklich kann mir nichts ebenso willkommen sein, ausser etwa ein Tadel meiner Sitten. In grösstem Gleichmut bin ich bereit, sowohl meinen Schreibstil wie auch mein Leben auf die Mahnung von Freunden hin zu ändern, ja sogar auf ein Gekläff von Neidern hin solches zu tun, sofern ich in der Finsternis ihrer Missgunst wenigstens einen Funken von Wahrheit erkenne. Lebe Du glücklich, denke an uns und sei gegrüsst! (Pagazzano, um den 8. Oktober 1359)31

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 21,15 über Petrarcas Verhältnis zu Dante und die andern an Boccaccio gerichteten Familiares, nicht zuletzt 23,19,9 ff. über Originalität und Nachahmung. Eben dieser Brief wird auf den 28. Oktober 1366 datiert; und das bedeutet, dass die beiden Familiares an Boccaccio, nämlich 21,15 und 23,19 sieben Jahre auseinander liegen. Das spricht jedoch nicht für eine lange Unterbrechung der Korrespondenz. Aus uns unbekannten Gründen hat Petrarca zwar das Schreiben von 1366 in die erste Briefsammlung aufgenommen, aber die Schreiben an Boccaccio aus der erwähnten Zwischenzeit unter die zweite Sammlung der Altersbriefe verwiesen; sie stehen da unter 1,5 (1362); 2,1(1363); 3,1–2 (1363); 3,5–6 (1365); 5,1–3 (1365). Andere sind schlechter zu datieren. 2 Vom Aufenthalt Boccaccios in Mailand und von Petrarcas Unruhe nach seiner Abreise sprechen schon Fam. 20,6,7 und 20,7,2 f. 3 Bucolicum Carmen, texte latin, traduction et commentaire par Marcel François et Paul Bachmann, Paris 2001. Vgl. ebenda das Namenregister unter Boccaccio. 4 Wilkins, Eight years 187 Anm. widerlegt mit guten Gründen die Vermutung, Petrarca spreche hier von Moggio dei Moggi. Vgl. zu Helfern Petrarcas Fam. 20,7, Anm. 13. 5 Gemeint ist Francesco Nelli in Florenz.

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Das heisst: Nicht Eurer Kopierarbeit, ja nicht einmal Eurer Lektüre würdig Petrarcas Reiseziel war Pagazzano, wo er sich schon früher aufgehalten hatte; vgl. Fam.21,10. Von diesen Unruhen in „Ligurien“ (Petrarca meint die Lombardei) spricht auch Fam. 19,7,4. Karneades, ca. 214.-129, Philosoph der Mittleren Akademie, sprach ca. 155 während einer Gesandtschaft in Rom an einem Tag für Gerechtigkeit, am nächsten dagegen. Vgl. Cic. De or. 155; Plin. Nat. 7,30,112. Lateinisch: familiarius, und entsprechend im Abschnitt 13: familiariter. Petrarca erinnert an die Sphinx, die Theben bedrohte und deren Rätsel Oedipus löste, wodurch er Theben rettete. Neben den oft schon zitierten Dichtern Ennius und Plautus (vgl. Personenreg.) erwähnt Petrarca auch Martianus Minneus Felix Capella, der wohl 1. Hälfte 5. Jh. n. Chr. lebte und im ganzen Mittelalter berühmt war für sein Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii, eine Art Enzyklopädie der 7 freien Künste; zudem den Dichter von platonischer Prägung Ap(p)uleius von Madaura, * 125 n. Chr., bekannt vor allem dank seinen Metamorphoseon libri. Ausser den drei oft genannten Autoren erwähnt Petrarca den Staatsmann und Philosophen Boethius Anicius Manlius Severinus, den Theoderich der Grosse 524/25 aus politischen Gründen hinrichten liess; vgl. Personenreg. Unser Apollon, also der christliche Apollon, dem gegenüber der heidnische Apollon (als Gott der Sänger und Wissenschaft) ein blosses Gleichnis ist. Vgl. Fam. 21,15,12. Auch gegenüber Lapo da Castiglionchio deutet er das an in Fam. 18,12,8. Das „Bienengleichnis“ verwendet Petrarca bei der Behandlung der Frage nach Originalität in Fam. 1,8,2. Vgl. Hor. Epist. 1,3,19. Es handelt sich um eine Anspielung an eine Fabel von Aesop, in welcher eine Dohle sich mit den Federn aller Vögel schmückt. Sat. 7,53–55. Freies Zitat nach Sat. 7,56. Epist. 1,19,21. 23–24. De rer. nat. 1,923–927; bei Macr. Saturn. 6,2,3. Georg. 3,292 f. Buc. carm. 10,288. Das heisst: Erhaben auf dem Thron aus Ahorn. Petrarca ändert so: Verehrungswürdig vom Thron aus Ahorn herab. Er sagt im achten Buch, nämlich in Aen. 8,176: Er lädt ein auf dem Thron aus Ahorn. Gemeint sind der Baum der Erkenntnis im Paradies und der Kreuzesstamm der Passion Christi. Die angedeutete Idee vom Unheil und Heil des Holzes, die im Kreuzkult des Mittelalters verschiedentlich auftaucht, findet man zum Beispiel in der Praefatio de sancta cruce aus der Messliturgie der Fastenzeit: denn der Böse qui in ligno vincebat, in ligno quoque vinceretur per Christum. Dass in diesen beiden Fällen das Holz sogar von gleicher Art gewesen sei, kann Petrarca nicht behaupten. Vom Kreuzholz, das Kult genoss, glaubte man, nachweisen zu können, dass es vom Nussbaum stamme. Buc. carm. 10,128. „Was gäb’s, das die Lieder nicht könnten“. Ovid. Metam. 7,167. Das heisst nun: „Was vergleicht sich der Kraft eines Verses ?“ In der Antike sprach man davon, dass Homer gegen Vergil Beschwerden erhob. Zudem wurde Vergil von Neidern der Vorwurf gemacht, er wolle Homer besiegen. Davon berichten Hieron. Quaest. in Gen. praef., bez. Macr. Saturn. 5,3,16. In Fam. 24,12,19 verteidigt Petrarca seinen Vergil gegenüber Homer, indem er sich auf die selbe Stelle bezieht. Vgl. Wilkins, Eight years 194–195.

Fam. 22,3, an Barbato da Sulmona1 Mit einem ihm gewidmeten Gedicht in Briefform. 1. Zweifel, ob die vor langer Zeit verfassten metrischen Briefe zu veröffentlichen seien. 2. Die Erinnerung an jene Zeit hat gewaltige Kraft. 3. Entschluss, die seither überarbeiteten Gedichte zur Korrektur der früher herum gebotenen Fassungen vorzulegen. (Januar/März 1360)

1. Langezeit war ich im Zweifel, liebster Barbato, ob ich die einst Dir gewidmeten Briefe in Versen einmal abschicke oder ob ich sie zurückbehalte und gänzlich beseitige.2 Das eine schien Deinem Wunsch, das andere meinem Ruf zu genügen. Denn Dein glühendes Begehren habe ich doch gewiss erkannt, da Du bei solchen Dingen einzig zu fragen pflegst, ob ich der Verfasser sei. Ist Dir der Name einmal bekannt, nimmt der Autor, wie bei den Pythagoräern3 üblich, den Platz des Verstandes ein, dann wird der Schleier grosser Liebe hinzugefügt und somit die Schärfe des Urteils gemildert. 2. Wirklich habe ich die Verse in einem Alter und mit einer Lässigkeit verfasst, dass sie unter den Augen fremder Richter nicht leicht bestehen könnten. Nehme ich sie jedoch zu meiner eigenen Lektüre vor, versinke ich so sehr in die Erinnerung an jene frühere Zeit, dass mir bisweilen vorkommt, ich würde, was ich doch keineswegs wollte, erneut ein Kind und jener selbe, der ich einst gewesen bin, obwohl ich mich doch schon lange einzig darum bemühe, ein anderer zu werden! Das Gedächtnis aber ist eine so ungemein heftige Seelenkraft und kann sich oft aus geringem Anlass zu einem solchen Übermass steigern, dass es uns gefangennimmt und uns dahin zu gehen zwingt, wohin wir nicht wollen, und uns dort trotz unserem Widerstreben festhält. 3. Nach gründlicher Überlegung aller Umstände kam ich am Ende zum Entschluss, und zwar aus grösserer Liebe zu meinem Ruf und auch zu mir selber als zu Dir – verzeih das bitte! – diese Gedichte zu verbergen. Und ich hätte es getan, wäre nicht, was ich zu einem ersten Teil des Werkes4 zusammengefügt hatte, schon fast insgesamt in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Nun freilich fordert die Wahrung meines Rufes geradezu unumgänglich, sie nicht länger bei mir zu behalten. Viele liegen verstreut bei Freunden und sind vermutlich fehlerhaft, weshalb sie, soweit als möglich, nach der Norm dieser Vorlage hier abzuändern wären. 4. Was weiter? Ich übergebe Dir, was ich Dir lieber verwehrt hätte. Dabei wollte ich nicht, etwas vom Meinen wäre nicht Dein; aber dass die Gedichte durch Deine Hände zu andern gelangt sind, das ist mir ärgerlich; und nur weil diese Sache nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, gebe ich sie heraus, aber nicht weil ich etwas versprochen hätte, sondern einfach, weil es nun sein muss. Jetzt gehorche ich nicht Treu und Glauben, sondern der Notwendigkeit. Und die Gefahr für mein Ansehen, welcher durch Verstecken oder Verschweigen auszuweichen schon nicht

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mehr möglich ist, nehme ich, um nicht gezwungen zu werden, bereitwillig auf mich. Nur ein einziges Hilfsmittel gibt es in aller Notwendigkeit: die Zustimmung. Lebe wohl! (Januar/März 1360)5

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Adressaten, so den letzten Fam. 20,5, zudem das Personenreg. 2 Aus dem letzten Briefabschnitt geht klar hervor, dass Barbato erste Fassungen schon erhalten hatte und Petrarca jetzt an die Zusendung der überarbeiteten Verse dachte. Vgl. die metrischen Briefe in der Ausgabe Schönberger und vgl. Überblick. 3 Vgl. Cic. De nat. deor. 1 (5),10. 4 Vgl. die Anmerkung von Rossi zu Fam. 22,3. Der erste Teil der Gedichte in Versen wäre das erste Buch der Epistulae Metricae oder ein Teil davon. Im Prooemium, das Petrarca 1357 an Barbato schickte (vgl. Fam. 20,5), verweist Vers 70 ff. ebenfalls auf die bereits grosse Bekanntheit der Gedichte. Und dass Petrarca diese Sammlung für Barbato bestimmte, erfährt man schon in Fam. 1,1,11. 5 Vgl. Wilkins, Eight years 204; auch Wilkins, Studies 213–253 über die Korrespondenz der Freunde, zur Datierung besonders 244–251.

Fam. 22,4, an Barbato da Sulmona1 Betrübliche Trennung kann durch fingierte Präsenz verringert werden. 1. Petrarca klagt über die Trennung vom Freund, den König Roberto ihm geschenkt habe. 2. Seine leibliche Gegenwart wäre ihm eine Freude. 4. Da das Los eine Verbindung im Geiste nicht verhindern kann, soll man bei aller Tätigkeit das geistige Beisammensein pflegen. 6. Ausblick auf eine Vereinigung im Himmel. Venedig, am 20. April (1360 oder 1363).

1. Ach wie oft, Barbato, pflege ich zu klagen, zwar über viele Beschwerden dieses sterblichen Lebens, aber am meisten über das eine, dass wir, im Geist so eng verbunden, dem Leibe nach und im ganzen Tun und Treiben so sehr von einander getrennt sind. Weder kannst Du mich noch kann ich Dich beim zunehmenden Altern sehen, und ebenso wenig ist uns gestattet, wenigstens einmal, bevor wir aus diesem Leben – oder vielmehr aus diesem Sterben – verscheiden, mit „lebendiger Stimme uns anzusprechen“.2 2. Dabei werden wir freilich, da der Geist immer, und insbesondere bei ehrlich liebenden Menschen frei ist, durch keinerlei Schranken gehindert,3 in fingierter Weise zusammenzukommen, und weil unter guten Menschen die Freundschaft immerdar jung bleibt,4 wird keiner von uns jemals vermuten – weder ich von Dir, noch Du von mir –, er sei dem andern heute weniger teuer als an jenem Tag, da wir im königlichen Neapel durch jenen wahren, bald in den Himmel gerufenen König zur Freundschaft verbunden wurden. Er muss an uns eine gewisse herausragende Ähnlichkeit bemerkt haben, denn bei seiner göttlichen Hellsicht wäre ihm unmöglich gewesen, zwei ungleiche Nacken unter ein einziges Joch zusammenzufügen. Selbst wenn Du der reinere warst, was niemand leugnen wird ausser Du, verbanden uns doch die selben Studien, das selbe Alter, der selbe Charakter, die selbe Geistesrichtung. 3. Doch obwohl sich alles so verhält und obwohl weder Raum noch Zeit uns etwas anhaben können, wäre mir doch, wenn das Los es zuliesse, überaus lieb – und ich glaube, es gehe Dir ebenso –, bisweilen „Dein Angesicht zu sehen“, und wie es bei Maro5 noch weiter heisst: „… vertrauten Laut zu hören und zu erwidern,“ und wir könnten uns für den Rest und bis ans Ende des Lebens mit gutem Rat gegenseitig noch beistehen. Wenn aber das Fatum eben das versagt, sollten wir wenigstens, was es nicht versagen kann, in Geist und Gedanken erreichen: Mit liebevoller Zuneigung wirst Du mich umfangen wie ich Dich mit der meinen. 4. Kein Tag und keine Nacht, keine Reise und keine Nachtarbeit, keine Plauderstunde, kein Vergnügen, keine Arbeit und keine Ruhe wird der eine ohne den andern durchleben. 4. Das Buch, das der eine ergreift, wird der andere öffnen. Was der eine ins Auge fasst, wird der andere lesen. Wo einer einen Rasenplatz sucht, wird

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sich der andere neben ihn setzen. So oft er mit sich oder mit andern zu sprechen beginnt, wird er den fernen Freund mit aufmerksamem Ohr anwesend sehen. Und schliesslich wird, was immer der eine tut und wo immer er steht, wohin er sich immer begibt, der andre zur Rechten sein. 5. Und weil man die letzten Dinge des Menschen verleugnen, doch nicht vermeiden, ja auch nicht verzögern kann, wird der eine, wenn der andere stirbt, ihn in Gedanken begleiten und so tun, als lebe der andere noch immer. Darin wird er sich eben nicht täuschen, denn der andere wird wirklich dank Jenem, bei dem der Quell des Lebens ist, noch immer leben, und er wird auf den Zurückgebliebenen, der noch nicht zu leben begonnen hat,6 mitleidig warten. Und ist schliesslich dieser ihm nachgefolgt, dann endlich, wenn es früher nicht möglich ist, werden wir ohne Angst vor erneuter Trennung beisammen sein. 6. Uns beide wird ergötzen, auf Dein Parthenope7 und auf mein Rom hinunter zu schauen, und von unserem Italien werden wir erkennen, wie klein es ist, obwohl jetzt gross genug, um uns das Zusammenleben zu verwehren und den voneinander Abgekehrten ein Wiederkehren zu versagen, ja nicht bloss den Augen, sondern auch den Briefen einen Weg zu versperren und überhaupt auf so kurzer Erdenstrecke uns dermassen zu scheiden, als befände sich der eine am Indus, der andere am Ebro beim Ozean. 7. Die Seele kann als der edelste Teil in allen Dingen, weil sie alles Walten der Natur übersteigt, weder gebunden noch gehalten werden. Sie überfliegt Berge und Meere, öffnet Kerker, sprengt Riegel, spaltet Pflöcke; und wann und wo sie will, ist sie da. Klein ist für sie der Sprung von den Alpen zum Apennin oder vom Oberen zum Unteren Meer;8 womit die Schranken genannt sind, die uns trennen. Gering sind die Strecken; doch was hilft uns ihre Kürze, wenn sie unüberwindbar sind? 8. Es hoffte sehr oft die „Liebe den harten Weg zu bezwingen,“9 um mit Aeneas, wie schon gesagt, zu Deinem Angesicht zu gelangen und Deine vertraute Stimme zu vernehmen. Mehr als einmal habe ich versucht, das träge Verweilen zu überwinden, um der Sehnsucht so vieler Jahre ein Ende zu setzen. Denn beinah nichts wünsche ich auf Erden so sehr, wie noch einmal Rom und Dich und wenige andere noch lebende Freunde zu sehen. 9. Das einst Versprochene zu tun, das haben bisher nicht vor allem der mühsame Reiseweg und drückende Verpflichtungen, sondern seit vielen Jahren die Gefahren eines mit fast jedem Frühling erneuerten Krieges hinausgezögert. Dennoch habe ich meine Hoffnung nicht aufgegeben, und so werde ich vielleicht just dann, wenn man aufgehört hat, mich zu erwarten, vor Dir stehen. Wie ja jedes Übel im Mass als unerwartet auch härter ist, so ist auch alles Gute im Mass als unverhofft auch beglückender. Inzwischen lass uns tapfer unsere Trennung ertragen; sie scheidet ja nichts als das Sterbliche. Und mit der bestimmten Kunst, von der ich manches gesagt habe, lass uns die grimmige Fortuna bezähmen. Lebe wohl und denke an uns!10 Venedig, am 20. April (1360 oder 1963).11

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

11

Vgl. den vorangehenden Brief an Barbato und Fam. 20,5, Anm. 1. Verg. Aen. 4,304; 6,499 und oft. Hier eine mehrfach betonte Ansicht; vgl. z. B. Fam. 6,3,64–66 Zur immer jungen Freundschaft vgl. z. B. Fam. 15,1,1. Verg. Aen. 6,688–689. Hier der sehr oft wiederholte Gedanke: Das Leben beginne mit dem Tod; vgl. z. B. Fam. 20,1,5; 21,9,15. Das ist Neapel, wo Barbato heimisch war. Mein Rom, sagt Petrarca, weil er dank Privilegien bei seiner Dichterkrönung das römische Bürgerrecht besass. Das Obere und das Untere Meer, also das Adriatische, bez. das Tyrrhenische. Verg. Aen. 6,688. Vgl. die Anmerkung bei Rossi mit dem Nachsatz: „Jenen hervorragenden Mann, unsern gemeinsamen Freund und meinen Namensvetter, grüsse von mir.“ Gemeint ist Francesco Sanità, ein Verehrer des Dichters, diesem jedoch nur vom Hörensagen bekannt. Vgl. Wilkins, Eight years 204–206 und Wilkins, Studies 245–247 über den Briefwechsel Petrarcas mit Barbato aus jenen Jahren.

Fam. 22,5, an Bischof Philippe von Cavaillon1 Ermahnung, Ruhe zu suchen und Schwierigkeiten zu vermeiden. 1. Petrarca freut sich über die Rückkehr des Freundes in seine Diözese. 2. Reisetätigkeit bringt grosse Gefahren auch den Fähigsten. 4. Als verwegen wird der Bischof getadelt. 5. Ein Befehl des Papstes kann ihn nicht entschuldigen. 7. Entschlossene Abwehr gegen höhere Befehle kann nötig sein; Irreführungen und Notlügen sind erlaubt. 10. Der Bischof trägt die alleinige Verantwortung für seine Herde, die er zu oft verlässt. 15. Abgaben eintreiben schickt sich für andere besser. 19 Nach einem Besuch in Vaucluse, wo sich Sokrates aufhält, sehnt sich der Dichter. Mailand, am 9. August (1360).

1. Aus so grossen Anstrengungen und so grossen Gefahren hat Dich der allmächtige Gott gerettet und zu uns zurückgeführt, dass ihm für diese gütige Tat würdigen Dank zu sagen, ein schwächliches Gemüt unfähig ist, doch ein frommes Gemüt ihm so viel dankt, als es immer vermag. Wie habe ich doch gefürchtet, Rhein, Maas und Mosel, die es wagten, unseren Flüssen Rhone, Sorgue und Durance einen Schimpf anzutun und ihnen einen hervorragenden Anwohner zu entreissen, könnten am Ende Dich widerrechtlich auf immer behalten. 2. Gewiss ist ein Entzug auf lange Dauer fast so viel wie ein Raub, und dennoch wurdest Du, obwohl lange Zeit in der Fremde, dem Vaterland nicht entfremdet. Dieses beschwört Dich nun mit meinen Worten, nicht noch einmal fortzugehen, als wärst Du dazu verpflichtet. Des Hingehens, Zurückgehens und Herumgehens ist nun genug! Ich habe einst gesagt, und von Tag zu Tag kommt mir richtiger vor, das zu wiederholen:2 „Es wird Abend, man muss an die Unterkunft denken.“ Ja, oft habe ich das gesagt, und oft habe ich das geschrieben, aber niemals passender als jetzt. Denn der Gedanke an Ruhe ist jungen Leuten nützlich, alten aber sogar unentbehrlich. 3. Oh hätte ich an Musse so viel, als die Sache an Redestoff bietet! Doch Du verstehst mich ja, wenn ich rede, nicht besser, als wenn ich schweige. Und nichts vermöchte ich – um also vom Sprechen abzusehen – auch bloss auszudenken, was Dir jetzt neu wäre, obwohl in dieser bestimmten Frage nicht allein ich, vielmehr auch Cicero Dich nutzlos ermahnen würde. In allen guten Dingen bist Du aufs beste bewandert und hast dennoch in dieser besonderen Hinsicht Deine bisherige Fähigkeit übertroffen und auf dem Ambos Deiner Erfahrung mit dem Hammer steter Übung Dir eine durchaus sichere Fertigkeit geschmiedet.3 Allerdings zeigt sich, wie kostbar eine Sicherheit ist, nie besser als in der Gefahr, auch wie angenehm die Ruhe ist, nie besser als bei der Arbeit. 4. Wenn das stimmt, fragt sich immerhin noch dies, was es helfe, mehrmals das selbe zu erfahren, wenn es zur Gefahr zwar noch immer einiges, aber zur Erkenntnis schon gar nichts mehr hinzufügt. Ohne Not zweifelhafte Geschäfte immer neu anzugehen, ist Verwegenheit! Und nichts schickt sich weniger für Deine Gelehrsamkeit, Deinen Beruf, Dein Alter, Deinen

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Stand, Deine Natur und Deine Sitten als sie. Wenn Dir die Verwegenheit früher stets vollkommen fremd war, dann sorge dafür, ja nicht aus Leichtsinn den Verdacht eines Fehlers, von dem Du in der Jugend frei warst, Dir in einem Alter anzueignen, wo der äussere Zwang geringer und das Erkenntnisvermögen grösser ist. Wer sich freiwillig Gefahren und Beschwerden aussetzt, kann dem genannten Verdacht unmöglich entgehen. 5. Und die Autorität eines Vorgesetzten entledigt Dich nicht Deiner Schuld. Sie müsste zwingend sein, um Dich freizusprechen. Doch der römische Bischof hat, selbst wenn er Dich langezeit als den zuverlässigsten und erfolgreichsten Mann zu Hilfe zog, für diesen besonderen Auftrag jetzt viele geeignete Leute zur Hand. Ja hätte er ihrer doch nicht gar so viele! Es ist der Stachel der Habgier und der Sog der Ruhmsucht, der sie in alle Art Verhängnis treibt und bewirkt, dass keine Reise, kein Erdenwinkel sie schreckt, sofern sie dort irgendwelche hohlen Ehrentitel und flüchtigen Reichtümer entdecken. 6. Tritt also hinter die Neulinge zurück, Du edler Veteran! Dann werden sie Dir umgekehrt den Vortritt lassen! Hast Du einen gesehen, der vom Sitzen und einen andern, der vom Herumgehen müde ist? Dann verlange einen Tausch der Aufgaben! Jeder wird sich freuen, und die Sache wird beiden zum Guten gereichen! Die einen gieren nach Taten, Du nach Ruhe. Im einen und gleichen Akt wird beiden geholfen sein. 7. Sollte ein Befehl des Papstes Dich drängen (gebieterisch ist die Befehlsart jener Herren, die einzig an sich und ihre Bequemlichkeiten denken), so werden Dir Sprachgewandtheit und Scharfsinn nützen. Entschuldige Dich mit Deiner Gesundheit und Deinem Alter! Ich halte Dich nicht zum Lügen an, jedoch zum Ausweichen, wenn ich rate: Lass Dich etwas älter erscheinen, als Du bist! Wie in mancher Hinsicht so wird insbesondere beim Alter nach beiden Seiten hin vieles ersonnen: Zeugen der Wahrheit sind abwesend; Hebammen und Ammen und auch die Eltern sind tot; was Gesicht und Haare aussagen, täuscht viele; und was einer von sich sagt, glaubt man vor allem, wenn er sein Alter erhöht. 8. Gib vor, die Schwäche Deines eher zarten Körpers sei der Anstrengung nicht gewachsen, und denke Dir verborgene Mängel aus; denn die Beanspruchung durch Deine Pflicht ist echt; sie bedarf nicht der kunstvollen Dichtung. Keiner unter allen Prälaten hat einen so betrübten und so verwaisten Bischofssitz wie Du zurückgelassen. Sosehr hast Du Deine Schafe an Dich gewöhnt, dass sie ohne Dich auf ihren Weideplätzen, so fruchtbar sie sein mögen, nicht grasen. Deine Augen und Deine Zunge sind’s, die Deiner Kirche den Frieden schenken. Klein, aber ergeben und sanft ist die Herde, sie hört einzig auf das Wort ihres Hirten, und eine andere Stimme kennt sie nicht. Einem anderen zu glauben, gälte ihr als Verrat und Verderben. 9. Und wirklich, nicht von den Händen dessen, der Dich wegzieht, sondern von Deinen eigenen ist Rechenschaft zu fordern. Jener andere hat keine grössere Verantwortung, sondern eine für mehrere Personen und für Höhergestellte.4 Du also und

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kein anderer hast für Deine Herde Red und Antwort zu stehen. Jener könnte Dich zwingen, so sage ich, denn Du gehörst zu seiner Herde; aber glaube mir, Du brauchst Dich nur in guten Treuen zu weigern, und er wird Dir nie einen Zwang auferlegen. Dein Stücklein Verantwortung unter die eigenen Verantwortungen einzureihen und an Deiner Stelle ein Schuldner zu werden, das wird er nicht wünschen. 10. Deine Gefahr und die Deiner Herde, die schildere ihm, und zwar scharf umrissen und ausführlich! Nichts darfst Du übergehen. Und bewirkt das Wahre zu wenig, so füge Erdichtetes an. Der Lüge darf man nicht zurechnen, was zwar Entstellung, aber Unterstützung der Wahrheit ist.5 Um frei, um Dein eigener Herr, um unversehrt, um gut zu sein, darfst Du Dich mit jedem guten Einfall herausreden. 11. Bei einigen Schriftstellern wird Odysseus dafür getadelt,6 weil er Wahnsinn vorgetäuscht und damit den Kriegsdienst verweigert habe. Und wirklich, war seine Verstellung echt, dann war auch die Anklage berechtigt, er habe Griechenland, das seiner Waffen und Ratschläge bedurfte, mitten unter gewaltigen Rüstungen zum gerechtesten Krieg, als ein kriegstüchtiger Mann im Stich gelassen. Nicht getadelt hat man dagegen Thamiris,7 die Königin der Skythen, für geheuchelte Angst, auch nicht Caesar für verleugnete Angst, nicht Ventidius8 für erlogene Begierde und Bangigkeit, nicht Themistokles für erdichtete Krankheit, nicht Claudius Nero und manch andere für heimliche Abfahrt. Denn mit solchen Behelfsmitteln suchten sie Ansehen für sich selber, Rettung für ihr Heer und Freiheit für ihr Vaterland. 12. Deine Täuschung also wird niemandem ein Ärgernis sein, Dir aber Seelenfrieden und Befreiung von Gefahren, Deiner Vaterstadt Ruhe und Freude bescheren. Mit Deinen so lang schon dauernden und vielfältigen Bemühungen tust Du dagegen nichts für Dein und Deiner Herde Gedeihen und nichts für Deine und der allgemeinen Kirche Freiheit, wo doch gerechte und tapfere Männer für sie sich zu opfern und zu sterben entschlossen sind. Gestatte mir, im gewohnten Vertrauen die Wahrheit hochzuhalten, vor Dir einem Menschen, dem ich nie etwas sagte, was nicht aus dem Herzen kam, und nie etwas verheimlichte, was darin war. 13. Ja gestatte mir, mit so viel Vertrauen als Kühnheit Dein Inneres, wenn nötig, zu verwunden! Ich weiss nicht, welch ein Dienst an fremder Habsucht und welch ein Geschäft im Dienst eines unersättlichen Schlundes verrichtet wird. 14. Willst Du, bisher von aller Geldgier und Ehrsucht vollkommen frei, jetzt ein Sklave fremder Begierde sein? Und willst Du fremden Leidenschaften frönen, während Du Deine eigenen im Zaume hältst? Das entspringt, wie ich glaube, gewiss nicht Deinem Gutdünken und auch nicht dem meinen. Für höhere Aufgaben bist Du geboren, als zu Gunsten irgendeines anderen Geld einzutreiben! Meinen offenherzigen Freimut wirst Du, das bitte ich, entschuldigen! Du wirst mir ein wahrer Bischof, ein wahrer Hirte sein, wenn Du aufhörst, Eintreiber zu sein.9 15. Deiner Gesinnung entspricht eine so niedrige Tätigkeit nicht, und gibst Du diese auf, wird sie ein anderer übernehmen, gar einer, dem man sie schicklicher anvertraut als Dir.

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Zeige dem Papst, dass Du nicht tun kannst, was er fordert. Zeige ihm, dass andere können und wünschen, was Du ablehnst. Bitte ihn, er möge jenen den erwünschten „Militärdienst“,10 Dir aber Urlaub verordnen. Schliesslich weigere Dich hartnäckig! Höher wird er Dich schätzen! Denn wenn ihm Deine Weigerung missfällt, wird er doch Deine Rechtlichkeit ehren, an Deiner Standhaftigkeit sich erbauen und seine Forderung aufgeben. Richtig ist nämlich, was Seneca11 in seiner „Vortragskunst“ ausführt: „Niemand hat je einen entschlossenen Neinsager von neuem mit Bitten belästigt.“ 16. Dir, einem so vorzüglichen Mann, Du mein teuerster und trefflichster Vater, solches zu sagen, könnte ich nicht wagen, würden nicht auf der einen Seite Deine Bescheidenheit und Menschlichkeit und auf der andern meine Liebe und meine Treue, wie auch Eifer und Angst mir Mut einflössen. Deine Auslandreisen, so häufig, so schwierig und dabei so weit und andauernd, wie sie sind, fürchte ich, und Deine Gefahr, die auch mich gefährdet – schlimmer als der Tod –, hasse ich. Halte ein! Es ist höchste Zeit! 17. Doch wie sehr mich jetzt das Verlangen drängt, Dich zu besuchen, wird Dir zu denken rascher gelingen, als mir es zu sagen. Als einer, der von frühester Jugend auf sowohl innen wie aussen Dir bekannt ist,12 will ich Dir ausdrücken, was ich seit meiner Trennung von Dir in diesen sieben Jahren erreicht habe. Wohl hat mein Lebensalter mir fast jeden Gegenstand für eine eitle Liebe entzogen, doch hat es mir statt dessen unendlich vieles an echter Liebe geschenkt. Ich pflegte einst vieles zu bewundern, was ich heute verachte, und einiges zu lieben, wofür ich mich heute begeistere. So kommt es, dass ich bei zunehmendem Alter täglich in einer Sache kälter und in der anderen feuriger werde. 18. Und vielleicht wird mir Gott meinen schönsten Wunsch erfüllen, bevor ich sterbe, und dann werde ich, wenn es am wenigsten zu erwarten ist, bei Dir sein. Oh könnte ich unter Deinen Büchern ganz unversehens auftauchen! Oh könnte ich’s tun am üppig grünen Ufer des klaren Flusses! Könnte ich’s tun an jenem hohen Felsen, wo unter gewaltigem Rauschen die Königin aller Quellen hervorbricht! 19. Inzwischen ist mein Sokrates dort, nein es ist Dein Sokrates.13 Ich bitte Dich, schliesse ihn, wie Du ja tust, und in ihm eben mich in die Arme Deiner väterlichen Güte! Und alles, was Du meinetwegen und für mich immer tun würdest, übertrage auf ihn! Und lebe wohl! Und denke an mich, wie gewohnt! Und an Dich selber mehr als gewohnt! Mailand, am 9. August (1360).14

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Anmerkungen 1 Vgl. das Personenreg. und die dort angegebenen früheren Briefe an den Bischof Philippe von Cavaillon. 2 Vgl. Fam. 11,15,4 ff.; 15,8,10. 3 Der Bischof war, wie er Petrarca mitgeteilt hatte, nach einem zweijährigen Aufenthalt in Deutschland in seine Diözese zurückgekehrt. Er hatte als päpstlicher Nuntius um kirchliche Steuern und andere Abgaben werben müssen. Vgl. Überblick und Wilkins, Eight years 208. 4 Wirklich ist der Papst als Bischof von Rom primus inter pares. Die Päpste, die in Avignon residierten, empfanden das Bedürfnis, das zugehörige Bistum Avignon an sich zu bringen. Dabei unterstand jedoch Avignon wie eben auch Cavaillon auf gleicher Ebene der Metropole Arles. 5 Lateinisch: si vera destituunt, simulata iungantur; non est mendacio imputanda simulatio veri adiutrix. 6 Vgl. Cic. De off. 3,26, 97. 7 Richtig hiesse es: Tomyris; vgl. Personenreg. 8 P. Ventidius Bassus, Emporkömmling, schlug sich nach Caesars Tod auf die Seite des Antonius, kämpfte als dessen Legat gegen die Parther und erlangte 38 v. Chr. einen vernichtenden Sieg dank List und Waffengewalt. Er starb vor 2.9.31 vor der Schlacht von Actium. Zu Claudius Nero vgl. Liv. 27,43–51 über dessen List im Kampf von 207 gegen Hasdrubal am Fluss Metaurus. 9 Man beachte das Datum des Briefes. 1359 war es unter der hohen Geistlichkeit und beim hohen Adel im deutschen Reich zu lauten Protesten gegen die Geldforderungen der römischen Kurie in Avignon gekommen, so besonders auch auf einem Reichstag von Mainz im März. 10 Vgl. oben Abschnitt 6 zum Vergleich mit einem Heeresdienst. 11 Bei Seneca dem Älteren, Controv. 2,7,5. 12 Vgl. Fam. 24,1,22. 13 Vgl. Fam. 21,9,22 vom 23. Juni (1359). Dort ermuntert Petrarca seinen Freund Sokrates, in einer Notlage die Vaucluse als einen stillen Hafen aufzusuchen. Andere Briefe an den selben Adressaten, wie Fam. 16,6,19 und 17,5,4, verraten, dass Sokrates sich öfters dort aufhielt und eine gewisse Aufsicht übte. 14 Vgl. Wilkins, Eight years 208–209.

Fam. 22,6, an den Florentiner Zanobi da Strada1 Über die Ankunft des Gross-Seneschals von Sizilien. 1. Niccolò Acciaiuoli besucht Mailand und besonders auch den Dichter. 3. Er zeigt grosses Interesse an Petrarcas Büchern. 4. Dessen Verehrung für den Florentiner wächst. Mailand, am 17. August (1360).

1. Dein Maecenas hat meinen Augustus2 und – gutgläubig füge ich an – auch mich aufgesucht. Meine Bibliothek hat er, bedeutende Schätze kühn verschmähend, zwei Mal beehrt. Weder ein Auflauf der Menge, noch eine Fülle Obliegenheiten, selbst nicht der anstrengende Weg haben ihn abgehalten, obwohl ich, einst im äussersten Winkel der Stadt angesiedelt, jetzt sogar ausserhalb der Stadt wohne, übrigens an einem Ort, der gesund, aber recht einsam und abseitig liegt.3 2. Hier also ist dieser grosse Mann angekommen und seinen hohen Rang verleugnend4 hat er – ähnlich wie einst Pompeius der Grosse beim kleinen Haus des Poseidonios5 – sich der bescheidenen Schwelle ehrerbietig mit entblösstem Haupt, ja beinah mit einem Kniefall genähert, grad wie etwa ein Anwohner am Parnass, der zum Heiligtum Apolls und der Pieriden6 geht; jedoch so, dass mich und die hier anwesenden hochgestellten Männer vor so hingebender, grossmütiger Einfachheit wahrer Schrecken befiel, ja dass diese so grosse Hingebung uns fast Tränen entlockte. So viel Erhabenheit lag auf seinem Gesicht wie Gefälligkeit in seinem Benehmen und zuerst so viel ernste Würde in seinem Schweigen wie später in seiner Rede. 3. Meinen lieben Büchern, meinen Ernährern und Begleitern in der Mussezeit, schenkte er bald in ihrer Gesamtheit und bald im Einzelnen so innige Aufmerksamkeit, dass nichts gewinnender sein konnte. Von vielem handelte seine Rede, insbesondere auch von Dir. Und sein Aufenthalt war nicht knapp bemessen, wie bei Reisenden üblich ist, sondern so lang, dass man sagen könnte, er habe sich zum Gehen recht gezwungen. Kurz gesagt: Er hat diesem Ort eine hohe Bedeutung verliehen, weshalb ihn alle Jahrhunderte aufsuchen werden und auf alle Zeiten nicht allein Gäste aus Rom oder Florenz, sondern überhaupt alle Bewunderer herrlicher Verdienste, wenn sie hier vorbei kommen, sich ehrfurchtsvoll verneigen werden. Und was noch? 4. Die ganze königliche Stadt hat er mit seiner Ankunft froh gemacht und mit seinem gestirnten Antlitz erhellt. Auf wunderbare Art war er sowohl den edlen Herren wie dem Volke hoch willkommen, mir aber am allermeisten. Und was ich schon für völlig unmöglich hielt, hat er zustande gebracht, indem er das alte Wohlwollen des ihm längst geschenkten Herzens noch mehrte. Denn bewirkt hat er, was unter sterblichen Menschen so wunderbar wie selten ist: Sein Ansehen, das ihm als einem lang schon Bekannten, jedoch noch nie Gesehenen vorausging, hat sich hier bei dieser seiner Ankunft nicht etwa vermindert, sondern im Gegenteil vermehrt. Das habe ich bei fast niemandem erlebt und von nur wenigen gelesen.7

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Du aber lebe glücklich im Besitz eines solchen Freundes! Bleibe gesund und denke an uns! Mailand, am 17. August (1360).8

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Schreiben an Zanobi, so das letzte an ihn, Fam. 19,2. 2 Petrarca meint mit Maecenas den Gross-Seneschal von Sizilien Niccolò Acciaiuoli und mit dem Augustus seinen Herrn Bernabò Visconti. 3 Vgl. Fam. 21,14,1 ff. 4 Wörtlich: mit gesenkten Ehrenzeichen, submissis fascibus. 5 Poseidonios von Apameia, ca. 135–50 v. Chr., vielseitiger Gelehrter, Philosoph der stoischen Richtung, Schüler von Panaitios, Anhänger der Politik von Pompeius Magnus; vgl. Personenreg. 6 Das heisst: der Musen. 7 Zu den Personen, deren Erscheinen Petrarca nicht enttäuschte, gehörten Stefano Colonna der Alte (Fam. 5,3,6), König Roberto von Neapel/Sizilien (Fam. 12,2,35) und Boccaccio (Fam. 21,15,27 ff.). Von der Stadt Rom erklärte Petrarca ausdrücklich, dass ihr Anblick seine Erwartungen nicht enttäuschte (Fam. 2,14,2). Was Acciaiuoli betrifft, so hat Petrarca ihn noch im Juni 1362 in Fam. 23,18 über alles Mass gefeiert. Dann allerdings kam er wohl infolge der Erfahrungen, die Boccaccio und Nelli in Neapel gemacht hatten, zu einer recht nüchternen Beurteilung; vgl. Sen. 3,3 wohl vom Juni 1364. Vgl. auch Leopoldo Talfani, Niccolò Acciaiuoli, Florenz 1863, auch DBI Bd. 1. 8 Vgl. Wilkins, Eight years 209.

Fam. 22,7, an einen Unbelehrbaren1 Heftiger Tadel und Ablehnung der erbetenen Rückkehr. 1. Frage, wer sich nicht liebt oder wer sich zu sehr liebt. 2. Wer Gott hasst, liebt sich selber nicht. 5. Er wird auch von Petrarca gehasst. 6. Durch nichts und niemand empfing Petrarca grösseren Schmerz. 7. Seine Kraft ist aufgebraucht. 8. Er fordert vollständige Änderung in Gehaben und Lebensweise. 8. Verächtliches Benehmen ist dem Angeschuldigten besonders verderblich. 11. Grosse Liebe hat Petrarca zu falschem Urteil verführt.12. Nur einem Reuigen wird er verzeihen. 21. Den Verstockten wird er nur schweigend begleiten. 23. Die Schuld Petrarcas besteht in Gutmütigkeit. Mailand, am 30. August (1359).

1. Ich wahrhaftig könnte Dich lieben, wenn auch Du selber Dich lieben könntest und Dich nicht gar hasstest. „Und wo wäre einer“, so fragst Du, „der sich hasste, ja wo wäre einer, der sich selber nicht auf ’s höchste liebte?“ Ich weiss, so lautet die allgemeine Überzeugung, auch ist mir weder ein Wort von Paulus,2 noch ein Ausspruch Ciceros3 unbekannt. Leugnen kann man schwerlich, dass die Quelle fast aller Übel in einer übergrossen Liebe zu uns selber bestehe. 2. Denn aus ihr fliessen Betrügereien, aus ihr Ehebruch, aus ihr Raub und wie das alles heissen mag, worein die vorschnelle und übermässige Eigenliebe uns treibt, weil wir nicht ertragen, dass wir etwas von allem uns Angenehmen entbehren sollten. Eben deshalb behaupte ich öfters, viele liebten sich allzu sehr und nur wenige massvoll. „Wie aber“, frage ich, „liebt einer sich massvoll, das heisst nüchtern, der gewillt ist, den ewigen Tod zu suchen? Und wie liebt sich einer, der unsühnbare Schandtaten auf sich lädt? Und schliesslich, wie liebt sich einer, der seinen Schöpfer hasst? Wirklich, wer sich selber liebte, müsste notwendig auch Jenen lieben, der ihn geschaffen hat, denn wenn er diesen hasst, liebt er wahrhaftig sich selber nicht. 3. Und das gilt nicht allein in der Beziehung zu sich selber, die einem Denkenden am nächsten liegt, vielmehr drängt sich auf, das Gesagte möglichst rasch auch auf andere Dinge zu übertragen. Wer würde sich am Schatten der Bäume oder an der Harmonie des Saitenspiels erquicken, aber gleichzeitig die Wurzeln oder die Leier geringschätzen? Wer würde den Bach lieben, aber seine Quelle beschimpfen? Wenn aber ein Mann, der seine Gattin liebt, mit grosser Zuneigung seinen Schwiegervater ehrt, obwohl dieser mit seiner Tochter nichts gemein hat ausser Namen und Sünde,4 was schulden wir dann Gott, der für uns alles geschaffen hat, unsere Gattin, unsere Kinder und alles uns Liebenswerte, ja uns selber und auch unsere Seelenkraft, mit der wir uns selber und alles uns Angenehme lieben?5 4. Unbesorgt und bedenkenlos wiederhole ich: Notwendigerweise hasst sich selber, wer Gott hasst, denn es gilt, was ich schon sagte: allzu sehr lieben, ist soviel wie hassen.6 Denn es richtet sich ja gegen das Glück des Geliebten, wo doch wahre Liebe dieses Glück7 als ihr Ziel betrachtet. Falsche Liebe aber kehrt sich ins Gegenteil, und das ist Besonderheit und Eigenheit des Hasses.

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5. Ich wahrhaftig könnte Dich nicht hassen, wenn Du selber Gott und die Menschen und Deine Seele nicht hasstest. Ich könnte Dich dulden, wenn Du meine Duldsamkeit nicht seit langem und gar sehr missbrauchtest. Ich könnte mit Dir sanfter verfahren, wenn Du Dich nicht erfrechtest, meine Sanftmut – soll ich eher von Gutmütigkeit oder Schwäche sprechen? – dumm und hartherzig niederzutreten, wenn Du nicht meine täglichen und nächtlichen Tätigkeiten mit Deiner täglichen und nächtlichen – ich sage nicht Trägheit sondern – Faulenzerei, und wenn Du nicht meine Dir bestens bekannten Nachtwachen mit Deiner anhaltend stumpfen und todesähnlichen Schläfrigkeit, auch nicht meine und meiner Freunde Geistesbildung8 und unsere treue, anhaltende Pflege der Freundschaft mit läppischem Gelächter und mit Verachtung für die Menschen (die zu sehen und zu hören Du nicht würdig bist), ja wenn Du nicht schliesslich mein Wesen, mein Leben, meine Sitten und Studien und überhaupt all das Meine mit gegensätzlichen Sitten und Tücken verunstalten würdest. 6. Denn wie manche Freude mir mein Verstand auch schenkte – nicht etwa weil er sich reiner Schuldlosigkeit oder grosser Tugend, sondern, beim Herkules! des besten Willens bewusst ist –, so bereiteten mir doch auch manchen und reichlichen Schmerz Deine Gesinnung und Deine Absicht, welche zu verheimlichen Du weder vermochtest noch verstandest und, ich glaube, nicht einmal verheimlichen wolltest (denn Du bist ja, ich weiss nicht weshalb, ein vollkommener Verächter meiner Lebensweise und meiner Meinungen geworden), und es bereiteten mir Schmerz die unbegreiflich grosse Verschiedenheit unseres Wesens (das fast das selbe sein müsste, wenn eine Vermutung der Menschen richtig wäre) und die erschütternde Ungleichheit aller unserer Wünsche. 7. Das alles habe ich, so lange ich konnte, ertragen, jedoch mit solcher Anstrengung, dass mir von allen Bürden, welche die Welt und das Menschenleben mit sich bringen, keine drückender und schmählicher ist oder war. Denn er, von dem zu hoffen war, er werde dem hinfälligen Alten ein Stab sein,9 hat sich in eine schwere Fracht und Fallgrube verwandelt. Ausgehalten habe ich das in kummervollem Zorn so viele Jahre hindurch, dass ich jetzt darüber staune. Aber Kräfte zum Durchhalten schenkte mir die Zuneigung; und dem Abscheu widersetzte sich die Hoffnung auf eine wenigstens kleine Besserung Deines Lebens. Als sie jedoch schwand, habe ich, durch all die Martern nicht bloss krank, sondern auch gebrochen und überwältigt, Dich ausgespien10 und als unselige Last aus dem Hause vertrieben. 8. Und wenn Du ein Ende Deiner Verbannung begehrst, so ist dieses, das merke Dir, eins mit dem Ende Deines sündigen Betragens. Besiegt ist die Liebe, erschöpft die Hoffnung, aufgezehrt meine Geduld. Nicht ertragen kann Dich meine Schwelle, nicht fassen die Mauer, nicht decken das Dach, nicht hören das Ohr, nicht sehen das Auge. Bist Du also noch immer der selbe, der von hier wegzog, dann beschäme es Dich, eine Rückkehr zu wünschen und zu erhoffen. Willst Du aufgenommen werden, komm als ein anderer heim, mit anderer Haltung, mit anderen Regungen

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des Gemüts, mit anderem Schreiten, anderem Händeschütteln, anderer Körperund Kopfbewegung, anderer Stimme, anderem Stirnerunzeln, anderem Nicken. 9. Bringe nur ja nichts von dem zurück, was Dich selbst jenen unerträglich gemacht hat, welchen Du einst dank Deiner Wesensart sehr lieb warst. Vor allem bringe nicht das zurück, was Dich in widerlichster Weise aufbläht, nämlich Hochmut und Überheblichkeit. Denn es ist an Deiner Haltung das Unwürdigste und Hässlichste. Und bliebe es unvermindert so, wie es gewesen ist, besässe die weite Erde nichts Schmählicheres und Abscheulicheres als dieses. Oder meinst Du etwa, Du könntest Deinen Schöpfer und Gott, den Vater aller Menschen, und die Menschen selber, Deine Brüder (eben auch die uns wohlgesinnten), Deine Seele und Dein Heil für nichts erachten und eben dadurch grösser und rühmlicher werden? 10. Nur noch aufgeblähter wirst Du sein! Und was wird, ich frage, aus Deiner Aufgeblasenheit „geboren werden, wenn nicht eine lächerliche Maus“?11 Zu wenig sage ich. Denn das Lächerliche mildert die Gegensätze, erschüttert die Lenden, ruft Spässe hervor. Aber mag für andere Dein aufgeblasenes Wesen vielleicht zum Lachen sein: Dir aber verspricht es tiefste Trauer und das Zeug zum ewigen Tod. Denn mit einer erbärmlichen Schlange gehst Du schwanger, nicht mit einer lächerlichen Maus. Und trotzdem prahlst Du, so wie Du bist, seist Du glücklich! 11. Schau nur, Du täuschst Dich! Schau nur, Du irrst Dich über Deinen ganzen Weg! Schau, sage ich, Du verkennst den Pfad der wahren Ehre! Und was das Schlimmste ist: Du freust Dich an Deinem Unglück, Du Armer, rühmst Dich Deiner Schande und begreifst nicht, wohin dieser Irrtum Dich führt, hast vielleicht geglaubt, mit Deinem Betragen verborgen zu bleiben oder sogar zu gefallen. Und wie ich zugebe, hast Du diese törichteste Hoffnung von mir empfangen, weil Du weisst, niemand liebe etwas inniger als die Seinen und fast immer treffe zu, „dass das Urteil der Liebenden blind sei“,12 und dass kaum einmal etwas anderes noch richtiger sei, dass nämlich „niemand strenger urteile als der Liebende.“ Dabei fordern gerade die Liebenden von den Ihren eine so vollkommene Leistung, dass ihre empfindsamsten Sinne oft durch das Geringste gekränkt werden. 12. Und hättest Du – von Vollkommenem schweige ich – wenigstens Übliches geleistet und als Vorbild, wenn nicht einen Mann, so doch einen Menschen oder, wenn Du auch das nicht wolltest, wenigstens nicht ein Tier Dir in den Kopf gesetzt! Doch „in Deinen Gedanken bist Du hingeschwunden“13 bis in ein unheilvolles Vergessen Deiner selbst und in eine tödliche Betäubung gefallen, aus der man Dich zu Deiner Befreiung nicht bloss herausrufen und herausrupfen, sondern herausbrennen und herausschneiden müsste. Nun aber, Du Wahnwitziger, richte Dich auf, und schau Dir an, wo Du eben liegst! Dann werden Deine Augen niemals aufhören, Deine verlorene Zeit zu beweinen, niemals Deine Hände aufhören, an Deine geschwellte Brust zu schlagen, niemals Deine Zunge und Dein Geist aufhören, Verzeihung zu erbitten. Denn

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13. „Irgend ein Gott ist Bekennenden gnädig“, sagt Naso.14 Und was vermöchte irgend jemand richtiger, was frömmer zu sagen, könnte man sich bloss über die Gottheit einigen? Gewiss ist ein Gott den Bekennenden und Zerknirschten gnädig, nämlich jener, von dem die Juden, als er Sünden vergab, betroffen fragten: „Was redet der?“ Denn weil „Sünden vergeben“ Gott allein zusteht,15 entsetzten sie sich über den Menschen, der solches tat, nicht wissend, dass dieser Sprechende eben Gott war und dass er die Sünden der Menschen nicht allein „auf seinen Rücken“16, sondern auch „in die Tiefe des Meeres“17 warf und „unsere Vergehen so weit von uns rückte, als „der Aufgang der Sonne vom Untergang fern ist,“ ja dass er „allen ihn Anrufenden nahe ist, sofern sie in der Wahrheit rufen.“18 Er wird Dir nahe sein, sofern Du aufrichtig rufst, ja sofern Du Deiner Aufgeblasenheit absagst, das Vergangene bereust und für das Zukünftige fürchtest, Dir selber misstraust und auf Jenen einen hoffst. Obwohl Er viele Sünder oft unverzüglich in Gerechte verwandelte und zum Handeln keiner Zeit bedarf, musst Du doch wissen, dass Dir eine lange Reinigung nötig ist, weil man lang bestehenden und verkrusteten Schmutz nicht leichthin abspült. 16. Glaube nur, dass man gnädig mit Dir verfährt, wenn man Dir eine eben solche Zeitspanne, wie Du zum Sündigen verwendet hast, für Deine Rückkehr zugesteht. Es pflegt ein Irrtum überstürzt zu geschehen, eine Rückkehr jedoch anders. Abmessen musst Du Schritt für Schritt den Abstand, auf welchem Du so weit vom „Pfad der Gerechtigkeit“19 gewichen bist. Neu beschreiten musst Du alle Krümmungen; nachgehen musst Du Deinen Spuren, um alles ins Gegenteil umzukehren. 17. Statt zügellose Leidenschaft musst Du Mässigkeit pflegen, statt Gott und Mensch gering zu schätzen, musst Du, was vernünftiger ist, die Welt und Dich selber und das zu bösen Taten aufreizende Fleisch verschmähen. Gerade dieses Fleisch ist unter allem, was Du hast, Dir am feindlichsten gesinnt, und eben auf seinen Ratschlag hast Du Dich gegen mich und – was das weitaus Schlimmste und Beklagenswerteste ist – frevelhaft gegen Gott empört. 18. Mit mir geschehe, wie sich zeigen wird; mit Ihm musst Du Dich vorher versöhnen, denn nie bin ich bereit, den Feind meines Herrn unter meinem Dach zu ertragen. Hast Du Ihn in gehöriger Weise gnädig gestimmt – er ist ja über allen Glauben hinaus mild und versöhnlich –, werde auch ich die mir angetanen Beleidigungen leicht vergessen, selbst wenn sie zahlreich sind. Wem der Herr Schonung gewährt, dem will ich als ein „Mitknecht“ Verzeihung nicht verweigern,20 und nicht werde ich vergessen können, was der Ecclesiasticus21 sagt: „Verschmähe nicht den Menschen, der von der Sünde sich abkehrt, und tadle ihn nicht. Bedenke, dass wir alle dem Verderben verfallen sind.“ 19. Doch genug davon. Ich habe mehr geschrieben, als ich beabsichtigte. Das Mitleid hat heute den Zorn besiegt. Hier aber habe ich, Du unglücklichster junger Mensch, zwar umsonst – aber immer war es mir das Wichtigste, Dir den oft gezeig-

Fam. 22,7

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ten Weg wieder und wieder zu zeigen, damit es nicht aussehe, als habe Dein Unrecht mir so etwas wie eine Mitschuld auferlegt,22 weil ich nach Deinem Abgleiten in alles Böse dem Schweigen verfallen wäre und Dir bei Deinem Absturz stumm zugeschaut hätte – ich habe Dir eben auch jetzt zum Rückgewinn und Aufbau eines verlorenen Lebens und einer verworfenen Hoffnung eine Anweisung vorlegen wollen. Sie ist im Vergleich zu Deinem verzweifelten und vernachlässigten alten Schmutz bloss kurz, aber, wenn Du sie annimmst, vielleicht noch immer nützlich. 20. Selbst wenn mir sogar bei scharfem Hinsehen keinerlei Anzeichen von Besserung sichtbar wird, gibt doch Dein Lebensalter mir etwas Hoffnung. Freilich tut das weit mehr die Milde des gekränkten Herrn, die oft aus Feinden Freunde gemacht hat und die auch Dir gegenüber so viel wie bei andern vermag, sofern Du ihr einen Zugang zu Dir gewährst und Deinen Riegel wegschiebst. Dafür aber musst Du selber besorgt sein; das Meine habe ich doch wohl tausend Mal mit Worten und jetzt mit dieser Schrift getan. Mit welchem Erfolg, so wiederhole ich, steht bei Dir. 21. In Zukunft will ich nämlich stumm bleiben und den Ausgang der Sache schweigend abwarten. Wenn Du Deiner Rettung entläufst, wenn Du Dich zugrunde richtest, will ich wenigstens meiner Treue froh sein, weil sie Dich, verstockt und undankbar wie Du bist, doch häufig mit lauten Rufen und schliesslich mit unausgesprochenen Wünschen bis zum Grabe begleitet habe.23 Ihretwegen wirst Du, wenn meine Meinung mich nicht täuscht (und viele andere, ja alle teilen sie mit Ausnahme vielleicht jener Deiner Komplizen), im Leben und Tod niemals einen Grund haben, Dich über mich zu beklagen. 22. Da ich übrigens höre, Du seist nach einer Rückkehr begierig, so wird das weder Liebe zu mir oder Anstand, aber vielleicht ein Unbehagen im Exil bewirkt haben, und so könnte zu Dir wahrhaftig das selbe gesagt werden, was einst einem Tiberius geantwortet wurde,24 als er inständig darum bat, „von Rhodos zurückkehren zu dürfen, um dringende Geschäfte zu erledigen.“ Augustus nämlich sagte zu ihm: „Gib doch lieber die ganze Sorge um die Deinen auf, welche Du so eilfertig verlassen hast.“ Ich werde Dir dennoch anders antworten. 23. Wenn Du nicht nur glaubst, sondern auch weisst, dass Du vernünftig und überhaupt so bist, wie ich es wünsche, und wenn Du auf den vorliegenden Seiten wie in einem Spiegel die sauber gefegte Gestalt Deiner Seele erkennen kannst, dann erst hoffe, und mit meinem Willen nicht früher, das Gesicht, das Du verachtet hast, als es gegen Dich heiter und gnädig gesinnt war, vor Dir zu sehen, allerdings jetzt nicht mehr so, wie bisher, sondern wie Dir nützlich und mir angemessen ist. Ich weiss, was Dich verdorben hat: Meine Gutmütigkeit. Ich werde dafür sorgen, dass ich nicht mehr als einer gelte, der mit seiner Treue Dich treulos gemacht und mit seiner Liebe Dich verdorben hat. Halte das nicht für ein „Orakel der Pythia Apollons“, wie Cicero25 sagt, sondern für ein Wort Christi. Nichts ist sicherer, nichts wahrer! Mailand, am 30. August (1359).26

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Fam. 22,7

Anmerkungen 1 Der Adressat ist Giovanni, Sohn des Dichters. Nach seiner Flucht aus Verona hatte er einige Zeit beim Vater in Mailand gelebt, war dann im Sommer 1357 vom Vater fortgeschickt und nach Avignon verbannt worden. Eine wichtige Ergänzung zu diesem Brief bietet Fam. 22,9. Vgl. jedoch auch frühere Briefe an Lehrer des Sohnes Fam. 7,17; 13,2; 13,3; 19,5,1; 19,17,9–12 und den Brief an ihn selber Fam. 17,2; weiter die verschieden Briefe des Freundes Nelli an Petrarca zur Verteidigung Giovannis: Epist. 19. 29 und 30. Von Hoffnungen, die der Dichter auf seinen Sohn gesetzt hatte, spricht z. B. Fam. 23,12,15 ff. Vgl. auch Arnaldo Foresti, Il figlio di Francesco Petrarca, in: Archivio storico per le province parmensi, N. S. 24, 1934,363–390. 2 Eph. 5,29. 3 De fin. 5,10,28–30. 4 Lateinisch: preter nomen ac peccatum nichil habet. Hier ein Hinweis auf die „Erbsünde“, die bei der Zeugung mit dem Leben weitervermittelt werde. 5 Zu dieser Formulierung vgl. Fam. 12,4,2. 6 Lateinisch: necesse est se se oderit qui Deum odit, quia id ipsum, quod dicebam, nimis amare odisse est. 7 Das letzte Ziel und Heil ist aber Gott. Die Logik der Gedankenfolge ist hier kaum genügend klar ersichtlich. 8 Lateinisch: meum et amicorum cultum et amicitiarum fidum ac perenne studium. 9 Vgl. Tob. 5,23 und 10,4. 10 Petrarca mag das starke Wort in Erinnerung an Bibelstellen verwendet haben, wo Gott mit dem Wort evomere die Verwerfung von Menschen androht; vgl. z. B. Levit. 18,25 und 28; besonders Apoc. 3,16. Zur Vertreibung des Sohnes vgl. oben Anm. 1 und Wilkins, Eight years 147. 192 f. 11 Hor. Ars 139. 12 Das Zitat kehrt bei Petrarca häufig wieder: Fam. 7,14,1–2; 11,11,1; 17,9,1; 19,11,1. Vgl. die ausführliche Anmerkung bei Rossi und Bosco zu diesem Brief Fam. 22,7,11. Die Suche nach dem Zitat ergab, dass das Wort von Platon stammt (Leg. 5,4,731) und dass Cicero es zitiert hat; doch wo, bleibt ungewiss. Angeführt wird aber das Zitat aus Cicero, das bei Hieronymus im Prolog zum Comment. in Osee steht und überdies in der Schrift Contra Io. Hierosol. 3. 13 Vgl. Paulus, Ad Rom. 1,21. 14 Ov. Metam. 10,488. 15 Marc. 2,7. 16 Is. 38,17. 17 Mich. 7,19. 18 Ps. 102,11–12 und Ps. 144,18. 19 Ps. 22,3. 20 Anspielung an die Parabel bei Mt. 18,28. 21 Ecli. (Sirach) 8,6 (nach anderer Zählung 8,5). 22 Lateinisch: ne tuum crimen aliquam mihi culpe suspitionem affricuisse videretur. 23 Lateinisch: fidei mee gratuler, que te…in finem tacitis votis usque ad tumulum prosecuta sit.. Bis zum Grabe, sagt Petrarca; so als rechnete er damit, dass er den Sohn überlebe. Vielleicht ist auch dieser Satz ein Nachtrag. Giovanni Petrarca starb mit fünfundzwanzig Jahren in Mailand in der Nacht 9./10. Juli 1361an der Pest, während sein Vater in Padua weilte. 24 Suet. Tib. 11; vgl. ebenda 10 über die Gründe für des Tiberius Verhalten. 25 Ad Br. 1,2,6. Pythia war die Orakel verkündende Priesterin Apolls in Delphi. 26 Vgl. Wilkins, Eight years 192–193 mit einem Hinweis auf Briefe Nellis.

Fam. 22,8, an seinen Sokrates1 Über den Unterschied zwischen Gast und Gast. 1. Ein schwer erträglicher Gast trifft mit Gefolge ein. 2. Dass er weitergeht, ist für Petrarca ein Glück. 4. Umgekehrt ist die Sache, wenn ein Freund kommt und geht. (Januar/März 1360)

1. Unser Bolanus2 traf gegen Abend bei uns ein, und zwar unter gewaltigem Regenguss, doch mit weit grösserem Wortschwall. Was willst Du? Seine Ankunft verwandelte unsere Einsamkeit in einen dröhnenden Marktplatz. Du weisst, was ich meine. Nichts ist gewichtiger als dieser Mann, aber nicht dank einem Gewicht, das einen Weisen auszeichnet, sondern dank einer Fracht unangenehmer Gewohnheiten. Doch wem beschreibe ich diesen Menschen? Du weisst alles. Wirklich, ich habe weder den Rücken eines Elefanten noch den eines Kamels; und bei seinem blossen Anblick sinke ich müde in die Knie und mache es, wie Flaccus gesagt hat:3 „Senke die Ohren herab wie ein widerspenstiger Esel“ und beginne zu schwitzen, obwohl ich friere. 2. Was sollte ich tun, wohin mich wenden? Die Stunde, der Ort, der Regen und die Höflichkeit verlangten, dass ich ihn zurückhalte, wo ich doch sein Weggehen oder noch eher sein Fernbleiben hätte wünschen mögen. Mir kam einzig seine gewisse Scheu zustatten, die vielen Menschen gut ansteht und auch diesem Monstrum. Allzu gross schien ihm nämlich seine Begleitung zu sein, und das war sie auch. Deshalb begann er zu fürchten, einen solchen Haufen Gäste vermöge das Dach eines Einsiedlers nicht zu fassen. Dennoch blieb mein Schicksal eine Zeitlang in der Schwebe, und über das Durchwachen der folgenden Nacht und über das Schlafen herrschte Unsicherheit, bis ein einziger Begleiter aus seinem Gefolge mit seinem Anstand mich davon befreite, indem er den andern, der zum Übernachten neigte, zupfte und zur Abreise drängte. Sobald ich das bemerkte, war für mich das Zureden schon weniger gefährlich, weshalb ich – im Verlangen, für besonders grosszügig zu gelten – jetzt begann, zum Übernachten geradezu aufzumuntern. Oh diese Tücken und Listen der Menschen, dass man das Gegenteil dessen anrät, was man erreichen will! Doch so ist es Brauch. Jener lehnte ab, zählte seine Verpflichtungen auf oder erdichtete solche. Was weiter? Wenn Du meinst, ich hätte ihm das Kleid abgerissen, irrst Du Dich. Nein, ich liess ihn gehen, fröhlicher als Leute, die von Fieber befreit werden! 4. Gewiss warst Du in Sorge während ich erzählte, und hast Dich zweifelnd gefragt, wie es enden werde. Doch nachdem Dir die Last genommen ist, sage ich, um Dich mit Fröhlichkeit und Neid zu erfüllen, dass nur wenig später, zur Stunde, welche die Alten als „erste Fackel“ bezeichneten,4 jener unser heiterster Freund auftauchte.5 Und welch gewaltige Verschiedenheit! In keiner Tiergattung gibt es so

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Fam. 22,8

grosse Unterschiede wie beim Menschen: Der eine hat keinen Wert, der andere unendlichen.6 5. Verwandelt war plötzlich das Aussehen des ganzen Hauses, und man begann zu fürchten, was man vorher herbeigewünscht hatte, dass er nämlich irgend eine Notwendigkeit oder gute Gelegenheit zum Weiterreisen fände. Ja man dankte dem Abend und den Wolken, die einen solchen Gast zum Übernachten bewegten! Es bedurfte keiner Ketten: Ich war nicht begieriger, den Mann zu halten, als er zu bleiben. Daher hat er uns nicht bloss jene Nacht, sondern noch einige wenige Tage dazu geschenkt. 6. Doch das gehört zur Eigenart unserer Freude: Plötzlich hört sie auf, und hat sie aufgehört, ist sie rein nichts. Und noch könnte man das ertragen, wenn nicht an die Stelle der Fröhlichkeit die Wehmut träte. Jener ging fort, und ich blieb zurück; und war weit stärker bedrückt, als wenn ich ihn nicht gesehen hätte. Sonderbar ist das zu sagen: Was ich beim einen fürchtete, erhoffte ich beim andern, aber was mich beim einen erheiterte, machte mich beim andern unglücklich. Lebe wohl! (Januar/März 1360)7

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. im Personenreg. die anderen Schreiben an den selben Adressaten. „Unser Bolanus“ ist ein Abbild einer geschwätzigen Gestalt bei Horaz. Vgl. die folgende Anm. Hor. Serm. 1,9,11 und 20. Vgl. zum Beispiel Macr. Saturn. 1,3,15. Die Dauer der Stunde wechselte mit Wetter und Jahreszeit. Gemeint ist Lelio, der von Avignon kam, um nach Rom zurückzukehren. Vgl. Fam. 18,6. Was Petrarca verschweigt, erfährt man dank Foresti, Arnaldo, Aneddoti della vita di F. Petrarca, Padua 1977, 305–18 und 422–425. Vgl. auch die Notiz im Überblick und Wilkins, Eight years 203–204.

Fam. 22,9, an seinen Sokrates1 Petrarca wolle lieber Bösen Gutes tun als Guten Böses. 1. Petrarca antwortet auf die Frage, wie er sich seinem Sohn gegenüber verhalte. (Januar/März 1360)

1. Ein Mensch, schmeichlerisch und trügerisch2 und bei Gelegenheit aufbrausend und drohend –, welchen Ausgang der Konflikt mit mir gefunden hat, das möchtest Du wissen. Warum soll ich die Wahrheit leugnen und nicht eher mit Cicero3 offen bekennen, „wie weichherzig ich im Grunde bin und wie nachgiebig“? Niemals hätte ich seinen Tränen und Bitten widerstanden! So ist es, das gestehe ich. Solange er sprach, fühlte ich irgend etwas Zärtliches und Weibisches in mir aufsteigen, und es fehlte wenig, dass ich mit dem vor mir Flehenden Tränen vergossen und in die Person meines Beleidigers und Beschwörers geschlüpft wäre. 2. Doch dann kam mir in den Sinn: „Wer ist er denn, der mit Dir redet? Was hat er getan, was hat er gewollt und was gewünscht? Was hat er ins Werk gesetzt und was hätte er ausgeführt, wäre man seinen verfluchten Plänen4 nicht entgegengetreten? Unter wie viele Übeltäter hat er sich gemischt? Wie gibt es doch so nichts, was er bereut oder was ihn beschämt? Wie so gar nichts ausser sein blankes Unvermögen steht auch jetzt seinen gewissenlosen Plänen entgegen? Wie falsch sind doch diese Tränen? Wie geheuchelt seine Liebkosungen? Wie erzwungen seine Bitten? Welcher Geist, welche Gesinnung, welcher Wolf verbirgt sich in diesem Lamm? Und all das Stück für Stück überdenkend, verhärtete ich mich allmählich und verwandelte mich in Kiesel und Diamant. 3. Was glaubst Du? Ich konnte mir selber als ein anderer Mensch und schon als ein mir völlig fremder erscheinen! Mein Verstand befahl, diesem schlechtesten Menschen Verzeihung zu verweigern, da ja entgegenkommende Nachsicht zwar gute Menschen milde stimmt, aber bösartige aufreizt. Und meinen gerechtesten Zorn unterstützte die unmittelbar gegenwärtige Möglichkeit einer Rache. 4. Dann aber siegte meine sanftere Natur! Unter der Bedingung, dass er uns künftig weder Freund noch Feind sei, fand er Verzeihung. Das erste wird er zweifellos einhalten, und wegen des anderen wird er sich vorsehen. Denn ein zweites Mal Verzeihung so einfach zu finden, kann er niemals hoffen. So also verhält sich die Sache. Ich möchte am liebsten die Mitte halten. Aber ist es unumgänglich, auf die eine oder andere Seite zu wechseln, wähle ich lieber, gnädig gegen Böse zu sein als unerbittlich gegen Gute.5 Du aber wirst gebeten: Schenke Nachsicht meiner Nachsicht und lebe wohl! (Januar/März 1360)6

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Fam. 22,9

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. Petrarcas Brief an seinen Sohn Fam. 22,7 und vgl. auch Notizen im Überblick. Gemeint ist Giovanni Petrarca. Pro Sulla 6,18. Im Lateinischen: consiliis sceleratis. Was konkret gemeint ist, bleibt unbekannt. Dass Petrarca eine Teilnahme an jenem Aufruhr in Verona in Betracht zog, der Moggio und Azzo zur Flucht zwang, ist kaum möglich. 5 Unter Petrarcas Freunden war vor allem Nelli geneigt, für Giovanni einzutreten; mehrmals hatte er sich in Briefen an Petrarca für ihn verwendet; vgl. Epist. 18 aus Avignon vom 18. September 1357 und Epist.19 aus Avignon vom 19. März 1358, hier die Stelle: quod non velis oro ipsum ab ipsa pueritia natum senem… Nelli fand denn auch die grosse Gegenliebe des jungen Mannes; vgl. Sen. 1,3 und Wilkins, Life 177. In Fam. 17,2 wird von einem Fürsprecher Giovannis gesprochen, in 19,5 von einem guten Verhältnis zwischen Giovanni und seinem Lehrer Moggio dei Moggi. 6 Vgl. Wilkins, Eight years 203–204 und die Stellen zu Fam. 22, 7.

Fam. 22,10, an Francesco Nelli, Vorsteher an der Apostelkirche1 Über die Stilmischung aus heiliger Schrift und weltlicher Literatur. 1. Vorzüge dieser Mischung. 2. Von den Musen Petrarcas wird sie gebilligt. 3. Nicht mehr zum eigenen Ruhm, sondern zum Gotteslob kürzt Petrarca seinen Schlaf. 6. Er nennt seine heidnischen Vorbilder und fügt seine christlichen an. 11. Er nennt sein wichtigstes Vorbild unter den sakralen Dichtern. Mailand, am 18. September (1360).

1. In einem Deiner Briefe habe ich bemerkt,2 Dir gefalle, dass ich mit Profanem Sakrales vermische. Und Du meinst, das würde auch Hieronymus gefallen haben; gleich sei die Gefälligkeit im Wechsel, gleich die Schönheit der Zuordnung und – wie Du betonst – gleich die Kraft der Verknüpfung. Was soll ich sagen? Über anderes urteile nach dem Schein, gewiss bist Du nicht der Mann, leicht getäuscht zu werden und zu täuschen, nur bleibt wahr, dass Liebhaber sich meist nicht bloss leicht sondern auch gierig täuschen lassen. Ohne darauf einzugehen, will ich von mir, ja von meiner neuen, jedoch schon kräftigen Vorliebe sagen, weshalb sich meine Feder und mein Herz zu den heiligen Schriften hingezogen fühlen. 2. Sollen die Überheblichen doch spotten, weil die herbe Strenge der göttlichen Rede sie abstösst, und soll doch die eher bescheidene Aufmachung einer anständigen Matrone jene Augen beleidigen, die an aufgeputzte Dirnen gewöhnt sind! Ich jedenfalls meine,3 es geschehe nicht bloss mit der Erlaubnis, sondern gar mit dem Beifall der Musen und mit der Gunst Apolls, wenn ich nach den jugendlichen Studien meiner Jünglingsjahre mein reiferes Alter besseren Beschäftigungen widme. 3. Auch denke ich, es gereiche mir nicht zur Schande, wenn ich, der so häufig als Herold eines eitlen Ruhmes und für hochgeschraubte Lobreden auf Menschen mich zu erheben pflegte, von jetzt an um Mitternacht zu Lobgesängen auf den Schöpfer aufstehe und meine Ruhezeit und meinen Schlaf für Jenen verkürze,4 „der wachend für Israel nicht schlummert und nicht schläft,“ ja der, nicht zufrieden mit einer allgemeinen Wache für alle, noch über mich im besonderen wacht und für mich besorgt ist. Was ich an mir deutlich erkenne, verspüren alle Menschen, die nicht undankbar sind, dass er nämlich jeden Einzelnen so behütet, als vergesse er die Gesamtheit, aber auch die Gesamtheit so lenkt, als vernachlässige er die Einzelnen. Überhaupt habe ich’s fest beschlossen und in mein Herz eingegraben, dass ich, sofern es von oben gegeben wird, unter solchen Studien und Bemühungen meine Seele aushauchen will. 4. Denn wann könnte ich besser und unter welcher Tätigkeit könnte ich sicherer von hier scheiden, als indem ich fortwährend Ihn liebe, Ihn mir ins Gedächtnis rufe und lobe? Denn hätte Er nicht schon immer mich geliebt, wäre ich überhaupt nichts oder – was noch weniger ist als nichts! – völlig elend; und es würde, wenn Seine Liebe zu mir ein Ende hätte, mein Elend kein Ende finden.5 5. Geliebt habe ich ja Cicero, so sage ich, und Vergil habe ich geliebt und war so beglückt von ihrer beider Sprechweise und Geistesgrösse wie sonst von nichts, auch

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Fam. 22,10

liebte ich sehr viele andere aus dem Trupp6 der berühmten Gestalten, doch die beiden genannten so, als wäre mir der eine Vater und der andere Bruder. In solche Liebe versetzte mich meine Verehrung für die beiden und meine Vertrautheit mit ihrer Denkart, denn im langen Umgang mit ihrer Geistesgrösse habe ich sie erworben, und nun ist sie so gross, dass sich denken liesse, mit lebenden Menschen wäre sie kaum zu erreichen. 6. Ich liebte unter den Griechen in ähnlicher Weise Platon und Homer, und wenn ich ihre Erzeugnisse mit den unseren verglich, weckten sie mir Zweifel an der richtigen Beurteilung.7 Doch schon treibt eine wichtigere Beschäftigung mich um, schon achte ich stärker auf mein Heil als auf die Redekunst. Ich las, was mich ergötzte, jetzt lese ich, was mir wohl bekommt. Denn so ist nun meine Gesinnung. Nein, sie war schon früher nicht anders. Denn weder beginne ich erst jetzt mich zu wandeln, noch beweist mir mein ergrauendes Haar, dass ich allzu früh handle. 7. Als meine Redner sollen mir jetzt Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregorius gelten,8 als mein Philosoph Paulus9 und als mein Dichter David,10 den ich vor vielen Jahren in der ersten Ekloge des Hirtengedichts mit Homer und Vergil auf eine Art vereinte,11 dass dort unsicher blieb, wem der Sieg gehöre. Und obwohl vielleicht die alte Kraft einer eingewurzelten Gewohnheit sich noch auflehnt, dulden dennoch weder die siegreiche Erfahrung noch die ins Auge strömende glanzvolle Wahrheit einen Zweifel an der Sache. 8. Und obwohl ich die einen nun vorziehe, lehne ich die andern nicht ab. Und dass Hieronymus solches tat,12 scheint er mir eher schriftlich behauptet als durch spätere Werke bewiesen zu haben. Ich jedenfalls meine, ich könne die einen wie die anderen lieben, solange ich nicht verkenne, welche ich der Sprache und welche der Sachkenntnis wegen vorziehe. 9. Denn was verbietet denn, ich bitte, nach Art eines klugen Familienvaters den einen Teil des Geschirrs zum Gebrauch und den andern zur Zierde zu bestimmen oder einige Knechte für die Obhut seines Kindes und andere für seine Vergnügen zu ernähren? Darüber hinaus darf man sich sowohl an Silber wie an Gold bereichern, wenn man deren Preis so gut erkannt hat, dass man sich in beiden nicht täuschen kann. Ich aber darf es vor allem deshalb, weil jene Alten von mir bloss noch verlangen, ich solle sie nicht in Vergessenheit begraben, und weil sie – mit meinen frühesten Studien zufrieden – heute meine ganze Zeit den besseren überlassen. 10. Nachdem ich also ganz unabhängig beschlossen habe, so zu tun, werde ich mit Deiner Zustimmung und Gutheissung zukünftig so noch zuversichtlicher handeln. Für Reden werde ich, wenn der Umstand es erfordert, Maro und Tullius heranziehen; und schämen werde ich mich nicht, mir etwas aus Griechenland zu leihen,13 wenn es in Latien zu fehlen scheint. Für das Leben jedoch halte ich mich, selbst wenn ich bei jenen viel Nützliches gelernt habe, an die Ratgeber und Wegweiser zum ewigen Heil, deren Treue und Lehrgehalt nicht dem geringsten Verdacht eines Irrtums unterliegen. 11. Unter ihnen galt mir David stets als der Mann

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der grössten Verdienste, der um so herrlicher ist, je weniger gepflegt, um so gelehrter und beredter, je weniger verfälscht.14 Ich möchte daher, dass seine Psalmen mir im Wachen stets zur Hand und vor Augen seien, jedoch im Schlafen und Sterben „unter dem Haupte“ ruhen.15 Sie dienen mir zu nicht geringerem Ruhm als dem grössten der Philosophen die „Mimen eines Sophron“. Du aber vergiss uns nicht und lebe wohl! Mailand, am 18. September (1360).16

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

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Vgl. die anderen Briefe an den selben Adressaten. Dieser Brief Nellis gilt als verloren. Die Wendung fieri rear wird im deutschen Text wiederholt. Ps. 120,4. Petrarca denkt an die Hölle. Lateinisch: catherva. Verschiedene Urteile Petrarcas über Platon und Homer findet man mit Hilfe des Personenreg. Das sind die vier abendländischen Kirchenlehrer aus der Spätantike. Das ist der Völkerapostel; er ist für Petrarca der Apostel schlechthin. Das Psalterium des römischen Breviers, den sog. „Davidspsalter“, hielt Petrarca insgesamt für das Werk eben Davids. Beigelegt hat Petrarca diese erste Ekloge seinem Brief Fam. 10,4 an seinen Bruder, den Kartäuser Gherardo, nachdem er sie kurz zusammengefasst und gedeutet hatte. Hier. Epist. 22,30,4. Vgl. Fam. 2,9,9 ff. Hieronymus gelobte strengen Verzicht auf die nicht-christlichen Autoren; hielt sich jedoch nicht an den Vorsatz. Anleihen aus dem Griechischen verschmähten die gestrengen Attizisten, nicht aber Cicero. Lateinisch: purius. Zu diesem Urteil vgl. wieder Fam. 10,4,14 ff. aber auch Fam. 18,7. Val. Max. 8,7,ext. 3 (6) über Sophron, der im 5. Jh. v. Chr. in Syrakus lebte und da sogenannte Mimen verfasste. Platon soll sie dort gerne gelesen und nach Athen gebracht haben; ja nach seinem Tod habe man sie unter seinem Kopfkissen gefunden. Vgl. Wilkins, Eight years 211–212.

Fam. 22,11, an Guglielmo da Pastrengo in Verona1 Empfehlung eines alten, doch ungemein feurigen Studienbeflissenen. (Padua, am 17. April 1360)

1. Diesen Mann2 wirst Du, sobald Du ihn kennenlernst, auch zu lieben und zu bewundern lernen. Seine Geschichte ist lang. Doch die Hauptsache ist die: Er ist aus edelsten Gründen mein sehr vertrauter und sehr lieber Freund geworden. Ihn hat, wenn auch spät, eine so ausserordentliche Lernbegier ergriffen, dass er seine Familienangelegenheiten vernachlässigt und sein Kunsthandwerk, obwohl er darin ein hervorragender Meister ist, aufgegeben hat, um sich einzig literarischen Studien zu widmen. Daher denkt er schon an nichts anderes als an Schulen, Bücher und Lehrer und verlebt einzig deswegen schlaflose Nächte und sorgenvolle Tage. 2. Nimm ihn auf, ich bitte Dich, und sei seinem Vorhaben ein Förderer! Nichts erinnert so sehr an Gott wie die Hilfe für ein rechtschaffenes Begehren. Und was meinst Du, was er anstrebt? Weder Reichtum noch Macht oder Ehren, auch nicht Vergnügen (die üblichen Fesseln und Gifte für den Geist), sondern einzig Hilfsmittel für seine geistige Beschäftigung und Trost für sein Leben, nämlich Bücher. Doch ohne Deine Anleitung und Beratung will er nichts wagen. Du wirst aufseufzen, wenn Du vernimmst, wonach er lechzt, und insgeheim sagen: ‚Oh hättest Du rechtzeitig begonnen!‘ Lebe wohl! (Padua, am 17. April 1360)3

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an den selben Freund Fam. 9,15; 9,16; 13,3. Hinzuweisen ist auch auf Var. 13.30.35, diese sind zu finden bei Fracassetti Bd. 3. 2 Gemeint ist Enrico Capra; vgl. Fam. 21,11. 3 Vgl. Wilkins, Eight years 205–206 und Anm. bei Rossi/Bosco zu diesem Brief. Es wird da auf eine längere Fassung hingewiesen. In eben dieser findet man die Angaben zum Datum.

Fam. 22,12, an den Arzt Albertino in Cannobio1 Gute Menschen seien gutgläubig. Bericht von der Vernachlässigung häuslicher Geschäfte und von der Bosheit der Diener. Gegen den unausweichlichen Tod hilft nichts als Gleichmut. 1. Dank für ein Schreiben und für Gutgläubigkeit. 4. Petrarca sei als Ökonom so schlecht wie als Politiker. 4. Diener hintergehen und rauben ihn aus. 6. Die Grösse und Einsamkeit des Hauses bedeuten Gefahr. 10. Der Freund mahnt zum Verlassen des von der Pest bedrohten Gebietes. 12. Doch niemand kann seiner vorbestimmten Todesstunde entgehen. 16. Beispiele aus der Antike. 25. Petrarca würde den Rufenden als einen Freund nicht als Arzt aufsuchen. Er ist jedoch verhindert. Mailand, am 26. Oktober (1360).

1. Nichts anderes als sehr Angenehmes habe ich in Deinem Schreiben gelesen, denn obwohl mir scheint, es sei darin etwas von nutzloser Angst, strömt doch alles aus Quellen reiner Liebe, von welcher ihr Lehrmeister2 geschrieben hat: „Liebe ist eben ein Ding

voll der Bedenken und Qual“.

Wirklich, siehst Du einen Sorgenfreien, so wisse: Ein Liebender ist er nicht. Denn die Tugend, zwar nicht um sich besorgt, fürchtet für andere, wie wir das von Marcus Cato in der Zeit jener Wirren des Bürgerkrieges lesen.3 Doch soll nicht, was Du am Ende behandelst, bei mir am Anfang stehen. Deshalb folge ich Deiner Anordnung und kehre erst nachher zu dieser Sache zurück. 2. Mit Vergnügen höre ich, dass die Entschuldigung, die der grossen Menge vielleicht unwahrscheinlich vorkommt, obwohl sie wahr ist, bei Dir offene Ohren und ein gläubiges Herz gefunden hat. Es zeugt für einen guten Charakter, wenn einer gutgläubig ist. Denn es pflegen die nichts zu glauben, die selber oft lügen; die aber nicht lügen, glauben alles. Beinah nämlich trifft zu, dass jeder, was er von sich weiss, von anderen denkt, ausser wenn Unerwartetes auftritt, das eine Meinung zu ändern zwingt. 3. Das ist zu unserer Zeit dermassen alltäglich, dass jenes vom Psalmisten geäusserte4 Wort der Bestürzung: „Jeder Mensch ist ein Lügner“ sich nie sonst so sicher und offensichtlich bewahrheitet hat und dass unter einem solchen Haufen von Lügnern recht schwierig ist zu erraten, was man bei so wenigen Aufrichtigen glauben dürfe. Du hast also sehr unbefangen gehandelt, wenn Du einem Freund geglaubt hast, der freilich nicht täuschte. Denn ich wurde ja in Wahrheit durch nichtswürdige Hände so ausgeplündert,5 dass ich für die würdigen schon so gut wie „wüst und leer“6 bin. Hart, sage ich; doch so ist es, und man hat zu ertragen, was man nicht ändern kann. 4. Durch Umstände belehrt, sehe ich ein: Zum Ökonomen tauge ich nicht besser als zum Politiker. Alles hat mir einzig meine Liebe zur Einsamkeit und Literatur entrissen, und eine Hoffnung, meine Geisteshaltung werde sich nun wandeln, gibt es nicht. Zwar bemühe ich mich, noch Tag für Tag etwas zu lernen,7 doch an eine völlig fremde Kunst mich heranzumachen, ist es zu spät. Es gehe also das Hauswe-

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sen,8 wie es will oder kann, sofern ich nur selber heil, und wäre es nackt, davonkomme. Als Anaxagoras9 aus der Fremde zurückkam und sein Haus und seine Besitztümer verwüstet fand, liess er sich durch den Schaden nicht erschüttern, sondern sagte: „Heil mir, dass das alles zugrunde ging.“ Philosophisch ist das, würdevoll und grossartig. 5. Was tut es zur Sache, wie nah oder wie fern ich bin, wenn meine Habe zerstört und verdorben wird? Nein, unpassend und schon gar nicht wie ein Bias10 habe ich eben gesprochen, das sehe ich ein; denn das Meine kann mir ja gar nicht zerstört und verdorben werden. Und habe ich vom Meinen gesprochen und damit Güter Fortunas gemeint, bin ich eher einem Unsinn der Menge als unbeirrt meinem eigenen Verständnis gefolgt. Ein Fehler, der beim Reden häufig unterläuft! Was, so sage ich, tut es zur Sache, wo in aller Welt ich bin, während dieses Zeug zugrunde geht? Bin ich doch im eigenen Schlafzimmer von einer Überwachung vergänglicher Dinge so weit entfernt, als wenn ich jenseits von Indien und jenseits vom äussersten Taprobane wohnte.11 6. Die günstige Gelegenheit haben diejenigen genutzt, welche Diener heissen und erbittertste Feinde sind. Und ihre Verschlagenheit nutzend und meiner Gutmütigkeit höhnend, haben sie mich, der nichts bemerkte, ruchlos und schändlich so völlig ausgeplündert, dass ich aufschreckend und meine Gefahr erkennend, selbst das engste Winkelchen hätte aufsuchen wollen, bloss um ihnen zu entkommen;12 denn ausser meiner Wenigkeit und meinen Büchern war von dem, was gierige, heisshungrige Schlächter hätten verwüsten können, fast nichts mehr vorhanden. Solange ich ein so weitläufiges und abgeschiedenes Haus bewohnte,13 musste für mich entweder die schon übliche Gefahr, die ich angedeutet habe, weiterbestehen, oder wenn ich die Übeltäter verjagte, musste beim herrschenden Zustand gerade auch die Verlassenheit des Hauses eine Bedrohung bedeuten. 7. Doch wenn eine kleine Menge, die in einem weitläufigen Haus so viel wie Einsamkeit bewirkt, in ein enges Haus übergeht, ist sie da wie ein Haufen. Somit sah ich mich gezwungen, meine Unterkunft und zu einem guten Teil auch meine Lebensweise für einige Zeit zu ändern, und ich tat es nicht ohne beträchtlichen Nachteil für eben jene, die mich dazu zwangen. Denn als ihr Wahnwitz, verstärkt durch die Anreize ihrer Habsucht und ihres rasenden Neides, so weit gediehen war, dass sie sogar in meiner Gegenwart, völlig kalt gegen meine Mienen, Drohungen und Bitten, sich mit Schwertern bis auf den Tod verwundeten, verlor ich meine Langmut und gab ihnen den Abschied. Ich wählte väterliche Worte und sagte, ich sei ihnen in Wahrheit ein Vater gewesen, sie aber hätten sich nicht als Söhne, sondern als Späher, Banditen und hauseigene Räuber aufgeführt.14 8. Und nun hätten sie eben die Folgen ihrer Verbrechen zu tragen. In der Meinung, ich würde nicht bloss schlafen, sondern überhaupt nichts bemerken, haben sie sich ewige Freiheit für Raubzüge und für ungeheure Beutestücke versprochen,15 doch haben sie aus all ihrer Bosheit gar nichts gewonnen als eine besinnungslose Geschäftigkeit zur Befriedigung ihrer Essgier

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und ihres Lotterlebens. Nun also geschieht ihnen recht. In kurzem, wie ich vermute, wird sie der Hunger plagen. Schon haben sie ihre dreiste Anmassung abgelegt. Niedergeschlagen und unterwürfig bitten sie um Rückkehr. Und sollten sie diese erreichen, würden sie gewiss für alle vergangene und zukünftige Verschlagenheit sowohl Verzeihung wie Freiheit erhalten! Und danach würde allerdings gerade ich selber nicht bloss wie bisher Schädigungen, Beschimpfungen und Anmassungen erdulden, sondern mich sogar um einen Trost für alle sinnlosen Scherereien betrügen. 9. Viel eher könnte ich mich zwingen, irgendwelchen anderen Feinden mich zu ergeben als solchen, die ich für ihre Faulheit und Frechheit zu bezahlen gezwungen wäre.16 Denn dass ein Feind einen schädige, ist ein gewöhnliches und verbreitetes Missgeschick; dass man aber seinen eigenen Feind ernährt, das ist wahrhaftig ein ganz ungewöhnlicher und erbärmlicher Zustand. Und was, ich bitte, meinst Du nun, Freund? Wie gerne wollte ich diese Sorte Räuber mit einer unsterblichen Satire brandmarken! Aber es ist heute wie schon früher viel zu viel von solch niederträchtigsten und boshaftesten, ganz abgefeimten Schurken gesagt worden!17 Allzu lange beschäftigen sie die Feder, die doch für Besseres bestimmt ist! 10. Nun zur anderen Angelegenheit! Dass Du mich aus dieser bisher immer gelobten, jetzt ich weiss nicht weshalb verrufenen Gegend18 in ängstlicher Besorgnis in Deine Heimat und zum herrlich gesunden Talboden der Alpen rufst,19 zeugt wie immer von Deiner Treue. Deshalb leuchtet mir aus Deinen drängenden Bitten strahlender als die Mittagssonne Deine Liebe hervor. Doch schau bitte, wie das wäre, wenn ein Mensch, zwar ein ungelehrter, der aber an Büchern der Gelehrten von Jugend auf seine Freude hatte, im vorgerückten Alter sich vornähme, den Tod zu vermeiden oder aufzuschieben! 11. Längst sind ja für uns und alle, die wir sind und später kommen werden, unsere Todesstunden festgesetzt, und so wenig sie übergangen werden konnten, so wenig liessen sie sich, wären sie vergangen, wiederherstellen oder, wenn sie noch ausstünden, voraussehen.20 Und damit man nicht meine, das sei bloss unsere alleinige Überzeugung oder sei einzig in den heiligen Schriften zu lesen, so höre man, was die besten Vertreter der weltlichen Literatur und römischen Beredsamkeit darüber schreiben. 12. Der eine sagt:21„Dass man sterben muss, ist gewiss; doch ungewiss, ob am heutigen Tag. Und keiner ist so töricht, dass er, vielleicht mit Rücksicht auf seine Jugend, für ausgemacht hielte, er werde den Abend erleben.“ Der andere22 sagt: „Jeder hat seinen Tag; und kurz und unwiederbringlich Läuft unsre Lebenszeit.“ Ich könnte für diese Wahrheit viele Gewährsmänner anführen; doch die Sache ist ja bekannt und bedarf keiner Zeugen. Ausserdem ist es nicht die Zahl sondern die Autorität, die Zeugnissen Glauben verschafft. 13. Wenn ich das also weiss, was soll ich da tun ausser zuwarten, sei’s dass ich freudig und sicher, sei’s dass ich unerschro-

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cken vorwärtsgehe? Heiter zu sterben, ist eine allzu erhabene Seligkeit, aber zitternd zu sterben, ist eine allzu armselige Schwäche. Unerschrocken unter Schreckhaftem auszuharren und ohne mit den Augen zu zucken, den Tod anzuschauen, das ist zwischen beidem die Mitte und wahrhaftig die wahre Leistung eines Mannes. Die Flucht vor dem Tod, die beim jungen Mann dumm und beim alten gar lächerlich ist, erweist sich in jedem Fall als zwecklos.14. Ob wir also auf den Tod zugehen, wie manche behaupten, oder ob er uns entgegenkommt, wie andere erklären:23 Es kann geschehen und geschieht oft, dass wir ihm, vor ihm fliehend, begegnen. Denn nicht immer sondern höchst selten geschieht, dass der Tod, wie und wo er vermutet wird, auch wirklich ist; vielmehr ist er anders und anderswo, weshalb der grösste Teil der Menschen an anderer Stelle, zu anderer Zeit und an anderer Todesart, als er befürchtet, hingerafft wird und Flaccus24 sehr richtig sagt: „… Tod kam unerwartet. Raubte sich Völker und raubt noch immer.“ 15. Wie soll ich der Pest entfliehen, die bisher „diese Stadt mehr schreckte“ als eroberte?25 Sehr gross ist die Zahl der verschiedenen tödlichen Geschosse, mit denen sie die Fliehenden verfolgt, weshalb ich meinen Kopf, kaum wäre er der Grosszahl entgangen, vielleicht einem einzigen aussetzen würde? Einer ist ob seiner Furcht vor dem Schwert in einem Schiffbruch untergegangen. Ein anderer hat zwar einen Sturm auf dem Meer vermieden, doch dem Feind am Ufer seinen Nacken geboten. Einen andern hat auf der Flucht aus der Schlacht ein Sturz seines Pferdes getötet. Einen, der sich grosse Mühen ersparte, haben Schlaf und Ruhe bezwungen. 16. Du weisst, wie Alexander von Makedonien, zwar unbesiegt im Kampf, sich vom Trinken besiegen liess.26 Pompeius Magnus, der Thessalien überlebte, fiel in Ägypten ein, in das von ihm verschenkte,27 und das Haus seines Klienten war ihm gefährlicher als zuvor das feindliche Heer. Iulius Caesar, siegreich über alle Feinde, wurde von seinen Genossen umzingelt.28 Augustus hütete sich vor Blitzen,29 erlag aber dem hohem Alter und der Krankheit; und einen Domitian, der Schwämme zu essen vermied, überwältigten Schwerter,30 während Claudius, der vor Schwertern zurückwich, durch den vergifteten Pilz Boletus31 beseitigt wurde. 17. Der jüngere Africanus, den kein Heer, kein Feind, weder Karthago noch Numantia niederstreckten, fand seinen Tod im Ehegemach,32 wie das ein griechischer König, der Überwinder und Zerstörer Troias, schon früher erlebt hatte. Doch wohin bin ich geraten! Wozu häufe ich Beispiele für unverhofft Sterbende auf ? Ich müsste mich eher um das Gegenteil bemühen und statt einer Fülle von Exempeln eher das Seltene zeigen. 18. Nämlich der wievielte unter den Sterblichen so stirbt, wie er gemeint hatte, nicht aber (wie gezeigt wurde), dass man sich über Zeit, Ort und Todesart täuschen lässt und dass bisweilen die Flucht vor unechten Gefahren in einer wirklichen endet. Die Flucht vor der einen Gefahr ist der Grund für andere.

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Viele wurden in der Furcht vor Unglück ins Unglück gestossen, wie das Wort des Propheten Isaia33 gesagt hat: „Wer vor der Stimme des Grauens flieht, fällt in die Grube, und wer sich aus der Grube herauswühlt, verfängt sich im Netz.“ Wie der Tod das sicherste aller Dinge ist, so ist rings um ihn her alles höchst unsicher, und nichts geschieht auf so unsichere Art wie das, wovon man mit Sicherheit annimmt, es könne nicht sein, dass es nicht geschehe.34 19. Wie aber steht es mit der Sorge um die Zeit, den Ort oder das Mittel, wodurch ich sterben soll, ob es Feuer sei oder Schlinge, ob Fieber, ob Schwert, ob Pfahl, ob Stein, ob Durst, ob Meer, ob Fluss, ob Gift? Ich frage nicht auch ob Hunger oder Völlerei, ehrbare Arbeit oder verächtliche Trägheit, denn hier handelt es sich um etwas völlig anderes. 20. Absehen muss man vom Virus der Schuld, vom verwundeten Gewissen, vom Fieber der Leidenschaften, von der Blähung des Stolzes, der Missfarbe der Unehre! Tut man das, ist jeder Tod an sich ein und der selbe, für alle unvermeidbar, über alle gleicherweise verhängt, über den reichen König wie den armen Landmann, den hinfälligen Greis wie den kraftvollen Mann, den blühenden Jüngling, das zarte Kind und den Säugling. 21. Sterben müssen alle und alles; einzig darin sind alle völlig gleich, während sie in allem anderen völlig verschieden sind. Kein Vorrecht gibt es für ein Alter, keines für einen Ort, keines für Würde und Ruhm. Den Tod an sich selber wollen wir betrachten. Was willst Du Äusserlichkeiten messen, Du, ein zum Sterben bestimmtes und sterbliches Wesen? Was zagst Du? Was suchst Du bei Zufälligkeiten? Bei echter Einschätzung ist der äussere Zustand ohne Bedeutung; man muss die nackte Sache bewerten, wenn nach dem wahren Preis der Sache gefragt wird. 22. Wenn also der Tod immer der selbe ist, für alle Geborenen der Ort des Todes vorherbestimmt, auch festgesetzt der Todestag, was rätseln wir da um Ort und Zeit? Beides ist schon entschieden. Ich könnte auf Jeremia35 hören, der sagte: „Wer immer in dieser Stadt verbleibt, wird durch Schwert, Hunger und Pest umkommen, wer aber zu den Chaldäern flieht, wird leben, und sein Herz wird Ruhe finden,“ und dann würde ich nicht zögern, bis zu den Chaldäern zu flüchten. 23. Würde aber auf Gottes Geheiss ein Moses36 reden und warnen: „Besteigt nur ja nicht den Berg und berührt nicht seine Umgebung; denn wer den Berg berührt, wird des Todes sterben,“ dann würde ich wagen, Dich zu ermahnen, so rasch wie möglich vom Berg herunterzusteigen. Nun höre ich keines von beidem, sondern jene Frau aus Tecua,37 die zu König David sagte: „Wir alle sterben, und wie Wasser zerrinnen wir über die Erde.“ 24. Wenn es sich so verhält und keine Ausnahme besteht, was würde mir durch eine Flucht beschieden sein ausser eine nutzlose Mühe und – schlechter als der Tod – die Todesfurcht? Rasch ist die Furcht, aber rascher der Tod, rascher Fortuna. Anständiger ist, er finde uns stehend, als er überhole uns auf der Flucht. Erwarten wir also gleichmütig auf Erden, was der Himmel uns bestimmt hat, damit wir nicht

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wie Vögelchen, gefangen auf Leimruten oder Netzen, mit Flattern und Schlagen uns immerzu enger verfangen. 25. Wenn Du nun ausserdem versprichst, als beständiger Begleiter an meiner Seite zu sein, handelst Du wiederum auf das liebenswürdigste und gemäss Deinem doppelten Recht, nämlich dem Deines Berufes und dem unserer Freundschaft. Aber selbst wenn, beim Herkules, die Kunst der Medizin zur Erhaltung der Gesundheit und bei geringeren Krankheiten etwas auszurichten vermag, versagt sie doch sogleich, wenn man ans äusserste Ende gelangt ist. 26. Das eben ist ja der Grund, dass Ärzte fliehen und ob dem Schicksal der Kranken in Verzweiflung geraten, und es zeugt entweder von menschlicher Unwissenheit oder von Schwäche. Es mahnt uns, einzig jenem Arzt zu vertrauen, der seine Kranken in der äussersten Gefahr nicht verlässt und von dem geschrieben steht:38 „Selbst unter Todesschatten wandernd, fürchte ich kein Unheil; denn Du bist bei mir.“ 27. Oh dieser machtvolle Arzt, der die Todesschatten mit der alleinigen Sonne seiner heiligen Gegenwart zerstreut und seinen Schützling daran hindert, etwas zu fürchten! Der mit Worten heilt, nicht mit Kräutern, und nicht bloss heilt, sondern auch auferweckt! Er ist nicht einer von den vielen, an welche die Frage sich richtet:39 „Wirst etwa Du für Tote Wunder vollbringen oder werden die Ärzte sie erwecken?“ Nein, er ist der Eine und Überragende, der aus Irdischem diese Heilkunst zum Nutzen der Menschen geschaffen hat, sich aber eine andere vorbehielt, die ungeschaffen und mit seiner göttlichen Natur gleich ewig ist, fähig, einen, „vier Tage lang Toten und stinkenden“40 aus der Unterwelt heraufzurufen und das Menschengeschlecht vor dem ewigen Tod zu bewahren. 28. Dass aber die Freundschaft ein ungemein grosser Trost im Leben und Tod ist, das leugne ich nicht. Und diesen Trost, ob er nah oder fern ist, weise ich nicht zurück, sondern ziehe ihn an mich. Denn obwohl Du mir ganz und gar gefällst, ist mir doch lieber, Dich als einen Freund zu geniessen denn als einen Arzt. 29. Und weil ich weniger um meine Gefahr als um Dein Verlangen besorgt, und weniger mit dem Arzt als mit dem Freund beschäftigt bin, würde ich nun aufs begierigste dem Rufenden folgen, wenn nicht körperliche und tausend andere Behinderungen mich abhielten.41 Und ich käme, um Dich und Deine Einsiedelei zu besuchen, die mir stets ein erwünschter und gepriesener Hort des Lebens war, aber nicht um den Tod zu fliehen. Ich erinnere mich ja heute wie vor kurzem und noch früher, dass beim Dichter42 zu lesen ist: „die luftigen Alpen und Noricums Hütten“ hat die wütende Pest verseucht. Andernfalls, wenn nämlich die Alpen dem Tod nicht zugänglich wären, würdest Du, glaube mir, weil Lebenslust den Sterblichen angeboren ist, allzu eingeengt wohnen, während wir allzu geräumig.43 Lebe wohl! Mailand, am 26. Oktober (1360)44

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Anmerkungen 1 Einziges uns erhaltenes Schreiben Petrarcas an diesen Adressaten. Es besteht aus zwei Teilen, doch der Nachdruck liegt auf dem zweiten über die Pestgefahr. Vgl. Überblick. 2 Ovid, Her. 1,12; vgl. Fam. 16,7,5. 3 Luc. Phars. 2,239–242. Vgl. Fam. 20,10,3. Gemeint ist Cato Uticensis; Freitod in Utica 46. 4 Ps. 115.11 (Ps. 116, Teil 2). 5 Vgl. unten Abschnitt 5 ff. 6 Gen. 1,2. 7 Dies eine von Petrarca oft wiederholte Beteuerung; vgl. z. B. Fam. 6,3,14; 17,8,5; 21,12,30 ff. 8 Zum Hauswesen vgl. Fam. 18,7,4. 9 Val. Max. 8,7, ext. 6. Vgl. Fam. 9,3,3 und Personenreg. 10 Von diesem stammt der Ausspruch omnia mea mecum porto, „ich trage all das Meine mit mir“ (nämlich meinen ganzen menschlichen Wert); vgl. Fam. 6,8,1 und Personenreg. 11 Taprobane (bei Petrarca: Thoprobane) ist Ceylon/Sri Lanca; vgl. Plin, Nat. 6,22. Vgl Fam. 3,1,2 und Fam. 9,13,8. 12 Lateinisch: dum illos fugio. Um einen Lauf hat es sich nicht gehandelt. Auch das vorausgehende experrectus ist kaum im eigentlichen Sinn zu verstehen. Denn es scheint, Petrarca habe in seiner schwierigen Lage vorerst gute Miene zum bösen Spiel gewahrt. Vgl. unten Abschnitt 7 ff. 13 Vgl. die Beschreibung in Fam. 21,14. 14 Hier scheint Petrarcas Rede an die Diener zu enden. 15 Lateinisch: sibi perpetuam grassandi licentiam promittentes et furtorum prodigi (bei Fracassetti: pro! Dii). Ich übersetze: furtorum prodigia. 16 Wie so oft achtet Petrarca bei der Wortwahl auf Alliteration und sagt also segnitiem sevitiamque wie er oben z. B. von fraudibus et facilitate gesprochen hatte. Das verlockt jeweils zu einer etwas freien Übersetzung. 17 Ähnliche Klagen über Diener in Fam. 4,14; 5,14; 9,3,3; 10,3,30 ff.; 13,8,12; etc. 18 Mailand war 1347/48 von der Pest kaum berührt worden, wurde jetzt aber schwer von ihr betroffen. 19 Cannobio, wo der Arzt wohnte, liegt am Westufer des Langensees. 20 Die Frage nach der Todesstunde und die Wortwahl im lateinischen Text erinnern an den Bericht über Voraussagen des Todes von Iulius Caesar gemäss Sueton, Caes. 81, wo es am Ende heisst: …arguens, quod sine ulla sua noxa Idus Martiae adessent, quanquam is venisse quidem eas diceret, sed non praeterisse. 21 Cic. De sen. 20,74; 19,67. Vgl. Fam. 1,3,10. 22 Verg. Aen. 10,467–468. 23 Vgl. Sen. Ad Lucil. 26,8. 24 Carm. 2,13,19–20. 25 Hor. Carm 1,2,4. Vgl. oben Anm. 17. 26 Zur folgenden Aufzählung vgl. das Personenreg. und die ähnliche Aufzählung in Fam. 3,3,10 ff. und 3,10,10 ff. Über Alexanders Tod 323 in Babylon wurde in der Antike viel spekuliert; genannt wurde dabei unter anderem sein Hang zur Trunksucht. 27 Pompeius floh 48 aus der Schlacht bei Pharsalos, entkam nach Ägypten, wohin er früher den vertriebenen Ptolemaios XII. zurückgeführt hatte, und wurde dort auf Befehl von Ptolemaios XIII. ermordet. 28 Das geschah 44 in einer Senatssitzung. 29 Vgl. Suet. Aug. 90. 30 Suet. Domit. 14 und 17.

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31 Vgl. Suet. Claud. 35 ff. und 44. Der Pilz mit dem Namen Boletus entspricht wohl dem Champignon, und angeboten wurde er 54 dem Kaiser und seinen Tischgenossen von seiner Gattin Agrippina II., die hierauf ihren Sohn aus früherer Ehe, nämlich Nero auf den Kaiserthron brachte. 32 Der plötzliche Tod von Scipio Numantinus 129 veranlasste verschiedene Gerücht; Sicheres weiss man dazu nicht. Der griechische König ist Agamemnon, der nach der Sage von seiner Gattin Klytaim(n)estra ermordet wurde. 33 Is. 24,18; vgl. Jer. 48,45–44. 34 Im Lateinischen: nichilque tam ambigue fit quam quod non fieri non posse non ambigitur. 35 Jer. 38,2. 36 Exod. 19,12. 37 2 Reg. (2 Samuel),14,14. 38 Ps. 22,4. 39 Ps. 87,11. 40 Das ist Lazarus von Bethanien, Freund Jesu; vgl. Jo. 11,39. 41 Petrarca ist im Sommer 1361, nachdem die Pest in Mailand noch bedrohlichere Ausmasse angenommen hatte, von dort abgereist; er hielt sich nachher in Padua auf. Dass er aber vor der Pest geflohen sei, sollte man nicht behaupten; denn in Padua hielt er sich häufig auf, weil er da für ein Kanonikat verantwortlich war und mit dem Stadtherrn verkehrte; vgl. Fam. 23,14,3. 42 Frei nach Verg. Georg. 3,474–475 und ff. 43 „Wir“ ist hier wie bei Petrarca häufig so viel wie „ich“. Der Freund würde recht eng wohnen, wenn Petrarca bei ihm auf Besuch wäre: das scheint der erste Satzteil zu sagen. Der zweite Teil erinnert an die zu grosse Wohnung, wie in Abschnitt 6–8 beschrieben. 44 Vgl. Wilkins, Eight years 16.198. 218. 243 Anm.

Fam. 22,13, an Pierre von Poitiers, den Prior von Saint-Eloi zu Paris1 1. Eine Rede Petrarcas am französischen Königshof macht tiefen Eindruck. 3. Der König und der Dauphin staunen vor allem über die Schilderung Fortunas. 6. Der Dichter soll später ausführen, was er unter Fortuna versteht. 8. Die Gelegenheit dazu wird vertan. 10. Für eine Abhandlung über die Frage, geschrieben auf der Heimreise, findet Petrarca erst viel später einen Boten. Padua, am 6. September (1361).

1. Als ich im Vorjahr eine Gesandtschaft zum erlauchtesten und mildesten König aller Franken2 – wiewohl so bedeutender Aufgabe unwürdig – anführte,3 erquickte ich mich an Deinem Gespräch (woran ich unersättlich bin) täglich um so begieriger, als ich es allzu lange Zeit hatte entbehren müssen. 2. Dabei vernahm ich durch Dich, der König persönlich und sein ältester Sohn, der hochansehnliche Herzog der Normannen,4 ein junger Mann von äusserst lebhaftem Geist, seien durch meine, in ihrer Gegenwart gehaltene Rede5 tief bewegt worden, zumal durch das, was mir bei der Erwähnung Fortunas einfiel. Ich hatte es, während ich sprach, selber ihrer gespannten Aufmerksamkeit angemerkt; so aufrecht und mit so fest auf mich gerichtetem Auge und angehaltenem Atem sah ich sie vor mir, als ich Fortuna nannte. 3. Sie wundern sich, so verstehe ich, und sind über die grossen Veränderungen Fortunas wie über gewaltige Ungeheuerlichkeiten bestürzt. Denn sie hat ja früher oft eine kleine und oft eine grosse Herrschaft, nun aber die mächtigste von allen so sehr zerrüttet, dass das einst glücklichste Königreich, das viel Neid zu ertragen hatte, nun Mitleid verdient. 4. Dazu sagte ich Dir damals, es brauche sich niemand zu wundern; denn ob Fortuna oder ob eine andere Macht Verleiherin eines Reiches sei, so habe sie6 das Recht, das verliehene nicht nur zu verheeren, sondern auch zu entziehen. Man solle aber auf Jenen vertrauen, „dank welchem die Könige regieren“.7 Er töte die Seinen nicht, sondern strafe und ertüchtige uns, dies bei unseren Schwächen oft vielleicht etwas gestreng, doch nie anders als gütig und heilbringend. 5. Übrigens nahm der Prinz einen bestimmten Vorteil wahr. Als man auf einen Festtag hin mich mit meinen Mitgesandten zu einem Gastmahl des Königs geladen hatte, wurdest Du mit einigen sehr angesehenen und sehr gelehrten, zum besonderen Zweck ausgewählten Männern beauftragt, mich nach Beendigung des Essens aufzufordern, über eben diese Fortuna zu sagen, was ich dächte. 6. Das wurde mir erst spät in der Nacht durch jemand gemeldet, der um meinen Ruf ängstlich besorgt war. Auf eine solche Erörterung war ich auch wirklich nicht vorbereitet, dabei in ganz andere Fragen verwickelt, aber weil der Fragende nicht einer war, dem man leicht etwas verweigern kann, sammelte ich mich, soweit es unter sehr vielen Besorgungen und ohne irgendwelche Bücher möglich war, um mich nicht durch eine unvorhergesehene Sache verwirren zu lassen, 7. und versuchte mit

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einem einzigen Wort meine Meinung loszuwerden, sagend, ich glaubte stets denen, welche behaupten, Fortuna sei nichts anderes als ein nackter und leerer Name, und dennoch sei ich gewohnt, in der alltäglichen Sprache das Volk nachzuahmen und oft Fortuna zu nennen, um in einer etwas farbigeren Redeweise die Leute, welche sie8„für eine Göttin oder Herrin aller menschlichen Verhältnisse hielten,“ nicht allzu schroff herauszufordern. 8. Als am folgenden Tag der König, wie Du weisst, sehr mit unseren, vielmehr mit seinen eigenen Ehrensachen beschäftigt war, während der Herzog völlig auf sein Vorhaben ausgerichtet blieb und jenen bald mit einem Wort und bald mit einem Wink an solches erinnerte, benötigte man schliesslich die Stunde, die für unser Gespräch anberaumt war, zu anderen Zwecken. Und ich, zwar erleichtert, weil nicht gezwungen, in der Öffentlichkeit gegen eine öffentliche Meinung aufzutreten, bedauerte doch sehr, dass ich die Meinungen so bedeutender Gelehrter über die bestimmte Frage nicht zu hören bekam –, denn ich war viel begieriger zu lernen, als zu lehren. Immerhin diente ja der restliche Teil jenes Tages von der sechsten Stunde bis zum Abend9 dazu, mit Dir und eben jenen drei Magistern in meinem Schlafzimmer, wo Ihr Euch in Eurer Höflichkeit zusammenfandet, ein Gespräch zu diesem und zu anderen Themen zu führen. 10. Nachdem ich aber von da und von der königlichen Stadt fortgezogen war und bei der Überquerung der Alpen mitten im Eis eines fürchterlichen Winters10 über Dich und Deine Angelegenheiten oft hitzig bei mir nachdachte, diktierte ich Dir in unerfreulichen, schlecht bestellten Zimmern der Hospize eine sehr lange Epistel, die ich bloss darum nicht abschickte, weil ein zuverlässiger Bote nicht leicht zu haben war. 11. Nun endlich, wo mir dieser Mönch da begegnet ist, dieser ausgezeichnete Mann, der uns beiden sehr zugetan ist, habe ich den schon weggelegten und halb vergessenen Brief nicht ohne Mühe abgeschrieben. Darin ist allerdings von Fortuna selber nicht die Rede, hingegen wird manches von bestimmten Übeln gesagt,11 die meines Erachtens Euer Reich in Gallien und das unsre in Italien in den gegenwärtigen Zustand gestürzt haben. Was ich darüber sage, ist weder grossartig noch kunstvoll, das gebe ich zu, aber richtig. Und weil Du meine Belanglosigkeiten schätzen kannst, wird es Dir vielleicht gefallen. Lebe wohl und denke an uns! Padua, am 8. September, in Eile (1361).12

Anmerkungen 1 Der Adressat, ein bekannter Humanist, wird in zeitgenössischen Quellen auch Bersuire und Berchorius genannt. Die einzigen uns bekannten beiden Briefe Petrarcas an diesen Adressaten folgen hier aufeinander (vgl. Fam. 22,14). Sie datieren aus der Zeit nach des Dichters politischer Mission an

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den Königshof in Frankreich vom Dezember 1360 und Januar 1361. Vorausgegangen war der Friede von Brétigny 1360 zwischen den Königen von England und Frankreich, in welchem der französische König auf weite Gebiete Frankreichs zu Gunsten der englischen Krone verzichtete und Riesensummen zu zahlen bereit war, Eduard III. seinerseits auf die französische Krone verzichtete. Wilkins Eight years 217 ff. gibt einige Auskünfte zu den Verhandlungen zwischen den Höfen von Mailand und Paris; die Visconti waren bereit, Jean le Bon mit Geldsummen zu unterstützen; auch wurde über eine Eheschliessung und Morgengabe verhandelt. Petrarca verfasste im Auftrag von Galeazzo Visconti zwei Briefe, einen an den Dauphin Charles (Var. 63) und einen an den ihm wohl bekannten Kardinal Guy de Boulogne (Var. 6), einen Onkel der Königin Bonne von Luxemburg (Schwester des Kaisers Karl IV.). Lateinisch: omniumque mittissimum Francorum regem. Petrarca folgt einem Brauch aus der Zeit, als die Könige über Völker, nicht über geschlossene Territorien regierten. Schon im 13. Jahrhundert war Rex Franciae gebräuchlich. Vgl. Fam. 17,6,3 über eine geplante Reise über die Alpen nach Avignon, die nicht zustande kam, und Fam. 18,16 über Petrarcas missglückte Verhandlungen mit dem Dogen von Venedig. Herzog der Normandie oder der Normannen, wie Petrarca zu sagen vorzieht, war der Dauphin, der Nachfolger von Jean le Bon, also der spätere König Charles le Sage, 1364–1380. Die von Petrarca vor dem König gehaltene Rede findet man bei A. Barbeu du Rocher, Ambassade de Pétrarque auprès du roi Jean le Bon, in Mémoires présentés par divers savants … 2e série, t. 3, Paris 1854, 214–228; auch Carlo Godi, L’orazione del Petrarca per Giovanni il Buono, in: IMU 1965,45–67. Lateinisch: licitum sibi bezieht sich wohl einzig auf Fortuna. Prov. 8,15. Cic. Pro Marc. 2,7; Tusc. 5,9,25. Vgl. Fam. 1,2,24; 16,16,7. In Fam. 8,1,15 nennt Petrarca die selbe Fortuna „eine Dienerin Gottes, die eifrigst die Beschlüsse Gottes ausführt.“ Im Januar waren die Stunden entsprechen dem Tag sehr kurz. Eine solche Alpenüberquerung im Winter nach Avignon drohte Petrarca 1353/1354; vgl. Fam. 17,6,3. Vgl. Fam. 22,14. und Fam. 23,2. Dass König Jean le Bon den Dichter gerne am Hof zurückbehalten hätte, sagt dieser in seinem Brief Fam. 23,2,7 an Karl IV. Zum Datum vgl. Wilkins, Eight years 223–225.

Fam. 22,14, an Pierre von Poitiers1 Über den Wandel Fortunas gemäss ihrem Brauch und besonders über den Wandel der Kriegführung. 1. Aufstieg der Engländer zur Kriegsmacht. 2. Ihre Verwüstung Frankreichs. 5. Der Erfolg der Bogenschützen. 6. Translation der Macht gemäss dem Wandel der Gesittung. 11. Verweichlichung als erster Grund für den Niedergang eines Volkes. 14. Wohlleben moderner Soldaten bei Absenz jeder militärischen Leistung. 20. Strapazen im alten römischen Heer. 22. Soldatische Vorbilder im alten Heerwesen. 24. Damalige Auszeichnungen für Soldaten zur Steigerung des Kampfwillens. 27. Vorbilder für eiserne Strenge zur Förderung der Kriegszucht. Piscenius Niger. 32. Cassius Avidius. 38. Maximinus und andere. 40. Erziehung durch exemplarische Strafen: bei Manlius Torquatus, Fabius Maximus, den Scipionen und anderen. 59. Die Unterwerfung der Erde durch das unbesiegbare römische Heer. 69. Der Verlust aller Tüchtigkeit im modernen Heer führt zu unablässigen Kriegen. 73. Zwangsläufig folgt der Untergang der bestehenden Ordnung. Auf der Reise, am 27. Februar (1361).

1. Verwunderung zeugt von Unerfahrenheit. Uns verwundert das Aussergewöhnliche; das Allgemeine weckt kein Staunen. Gib also endlich das Staunen auf. Denn abgedroschen und allgemein üblich ist, was Dich wundert. Fortwährend wandeln sich die menschlichen Verhältnisse, und wie alles Übrige geht auch unser Kriegsruhm verloren. Er verlegt seinen Sitz von Volk zu Volk. Schliesslich hat alles, was wir sehen, die eine und gleiche Beständigkeit: das Nicht-Stehen; damit auch eine einzige Verlässlichkeit: den Verrat; eine einzige Ruhelage: den Umsturz. Ich heisse Dich nicht, weit herum zu schauen, sondern Dein Vaterland und Deine Zeit zu betrachten. 2. Als ich heranwuchs, hielt man die Briten, die man Angeln oder Engländer nennt, für die furchtsamsten aller Ausländer.2 Heute sind sie das kriegstüchtigste Volk. Es hat die Gallier, die langezeit im Kriegsruhm strahlten, in häufigen und unerwartet erfolgreichen Unternehmungen niedergestreckt, und es hat, obwohl vor kurzem nicht einmal den unfähigen Schotten gewachsen,3 eben jetzt (ausser dass es den unwürdigen Sturz des mächtigsten Königs herbeiführte,4 an den ich nie ohne Seufzer denken kann) das ganze Reich mit Feuer und Schwert dermassen verwüstet, dass ich kürzlich auf meiner diplomatischen Reise eben dort kaum davon überzeugt werden konnte, es sei das selbe Land, das ich früher gekannt hatte.5 3. Überall gab es nichts als trostlose Öde, Trauer und Verheerung, überall sind völlig ungepflegte und verwahrloste Felder, zerstörte und verlassene Häuser (mit Ausnahme jener, die sich dank Befestigungen und Stadtmauern hatten retten können), schliesslich an allen Orten entsetzliche Spuren der Engländer und frische, hässliche Narben von Schwertern! Was noch? 4. Sogar Paris, das Haupt des Reiches – bis unter sein Tor durch Ruinen und Brände entstellt – schien zu beben und vor seiner äussersten Zerstörung zu erschauern, ja auch die innerhalb der Mauern hin gleitende Seine schien nicht ohne Spürsinn gleichsam das eigene Elend und das Schicksal der Stadt zu beweinen und zu fürchten.

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5. Schau Dir hingegen den würdelosen Landstrich Illyrien an,6 der von Tag zu Tag sein Haupt allmählich höher gereckt hat, um dem kriegerischen Germanien gleich zu werden. Siehst Du etwa nicht – was niemand geahnt hätte –, wie sehr nämlich flüchtige Bogenschützen aus Istrien nach dem einen und andern erwünschten Erfolg, den freilich weniger die eigene Tüchtigkeit als der Kleinmut eines trägen Feindes bescherte, sich zu solchem Übermut aufschwangen, dass sie jetzt die Deutschen7 herauszufordern wagen und in der Lage sind, ihnen Angst einzujagen? Nun kann man dank eigener Erfahrung lernen, dass unwahr ist, was Lucan8 gesagt hat: „Eisen verfügt über Kraft, und jeder beliebige Volksstamm Führt seinen Krieg mit dem Schwert…,“ dass hingegen wahr ist, was Iulius Capitolinus9 erklärte. 6. Er sagte nämlich „gegen die Germanen sei keine Hilfe so nützlich wie kampfbereite Bogenschützen.“ 6. Übrigens zeigt sich da just die Beständigkeit Fortunas; so nämlich wandeln sich die Verhältnisse der Sterblichen: Nichts besitzt einer zu eigen und auf ewig. Und wünscht man sich hierfür einen knapperen Lehrsatz oder eine ältere Autorität, so höre man Crispus.10 Er sagt: „Fortuna wandelt sich zusammen mit den Sitten, und die Herrschaft geht immer vom weniger Guten zu irgendwelchem Besten.“ So ist es wahrhaftig. Und was immer man darüber weitschweifig sagen kann, steht zusammengefasst in dieser Kürze. 7. Weitergegeben werden gleich wie materielle Schätze der Menschen auch Kräfte, Geisteserzeugnisse, Leistungen und Titel. Und was dem einen gehört hat, fällt einem anderen zu. Wenn sogar das, was am schwersten wiegt, das Gold, etwas Unbeständiges ist, was meinst Du, gilt da vom flüchtigen, haltlosen Ruf? Wie die Luft ist er leer und dünn. Beweglich und unstet wie er ist, wahrt er sich nur die eine Besonderheit sicher und fest: Er folgt der Tüchtigkeit und flieht die Trägheit. 8. Deshalb ergab sich, wie Iustinus11 sagt, dass „unter den Lastern der Griechen der einst verächtliche und unbekannte Name Makedoniens zu Ansehen kam.“ Deshalb entwickelte sich auch Karthago, angesiedelt im Land der Verbannung auf schmalen, mit Geld erworbenen Sitzen, zu einem Schrecken für alle Küsten weit und breit. Und deshalb erreichte Rom, eine Hirtenhütte,12 die Hoheit über die Welt und die Regentschaft über alle Völker. 9. Und worin besteht der Grund für solche Verwandlungen, wenn nicht darin, dass beim einen Volk aus dem Wohlergehen Trägheit erwächst und in das Bewusstsein eines erworbenen Ruhmes sich Ausschweifung einnistet, um heimlich die ältere Wesensart zu durchdringen, wogegen bei einem anderen Volk ein wacher Arbeitseifer und eine unter Schwierigkeiten erstarkende Tapferkeit Leiden erträgt, Ruhm erstrebt, niedrige Triebe unterdrückt und, im Sieg über sich selbst, leicht alles andere besiegt? Erlahmt hinwiederum auch dieses Volk oder beginnt es, richtiger gesagt, sich selbst zu verraten, wird es sogleich von allen andern besiegt und sich dann in Ausschweifung und Mutlosigkeit zersetzen.

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10. Was ich anhand der drei soeben genannten Reiche und Völker und was ich anhand der vier vorher genannten erörtert habe, könnte ich unverzüglich auch noch an vielen anderen darstellen. Doch ist es zeitraubend, ja auch so sehr bekannt, wie unter Menschen nichts anderes. 11. Und gemeint ist ja nichts weiter als die von mir angeführte „Translation“ des Sallust,13 nämlich die „von der weniger guten Herrschaft zur beliebigen besten“ und „die Veränderung Fortunas mitsamt den Sitten.“ Da ist zuerst Heere bezwingend und Kräfte zerrüttend die Genusssucht und ihr gegenüber einzig die unüberwindliche Virtus. Wer mit dieser sich wappnet, besiegt die andere, wird keinem seiner Feind erliegen und unsterbliche Ruhmestitel an edle Trophäen heften. 12. Du weisst, was Scipio bei Numantia verfügt hat.14 Ruhmvoll und allgemein bekannt ist sein Edikt, mit dem er Huren, Händler und was sonst zum Tross gehört, aus dem Lager verscheuchte, und um es kurz zu sagen: Vergnügungssucht verjagte, Manneszucht zu Hilfe rief und mit ihr auch ihren Gefährten herbeizog, das ist der Sieg. 13. Diesen Scipio hat später Metellus15 in Numidien nachgeahmt. Mit der selben Klugheit und zum selben Ziel hat er die Genusssucht verbannt und die Kraft des Heeres erneuert, womit er dem langezeit verbannten Sieg den ungewohnten Weg zu den römischen Feldzeichen anbahnte. 14. Wie es um Sitte und Ordnung in unserem heutigen Heerwesen bestellt sei, das von mir zu hören erwartest Du nicht, auch nicht, wie die Gebräuche, wie die Kriegslager, die Vorsorge der Anführer, die Körperstärke und Selbstzucht der Soldaten beschaffen sind. Du würdest meinen, nicht ein Männerlager, sondern ein Hurenhaus und eine Kneipe von Zechern und Saufbrüdern zu betreten. Und beim Herkules, es ist nicht anders. Und die barbarische Besoffenheit betrinkt sich nicht etwa gleichmütig an einem beliebigen Wein. Berauscht sie sich nicht an fremdländischen Bechern, schreit sie von Ungenügen, von Mangel und von unerträglichem Durst, der alle Flucht und Kapitulation zur Genüge entschuldige. 15. Darin besteht der Fortschritt im Kriegswesen; und so ist der militärische Ehrgeiz von den Waffen auf die Krüge übergegangen: Nicht wie man kämpft, nein wie man trinkt und sich besäuft, ist die Frage; und in dieser fühlt man sich mit den Feinden verbündet und wetteifert mit seinen Kampfgenossen alle Tage und Nächte. Und der meist gefeierte Sieger ist unter ihnen, wer das grösste Mass Wein verträgt und am meisten davon verschwendet. Auf diesen Menschenschlag trifft zu – und hoffentlich auf ihn allein –, was Seneca16 einst für die Zukunft prophezeit hat. Er sagte: „Man wird einmal die Trunkenheit in Ehren halten, und dann wird es eine Tugend sein, das grösste Mass Wein genossen zu haben.“ Willst Du Dir von solchen Einrichtungen und Leistungen Grosses erhoffen? Richtigerweise ist der Erfolg solcher Unternehmen gleich dem, was Betrunkenen zusteht. 16. Dabei aber – was die unglücklichen Italer entweder vor sich verbergen oder gar nicht sehen –, halten sich solche Heerscharen von Räubern nicht zum Kämpfen sondern zum Beutemachen und Sichbetrinken auf unserem Boden auf: Ein altes

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Übel ist das! Wir lesen,17 jene Barbaren seien einst der süssen Früchte und vor allem des süssen Weines wegen nach Italien herüber gekommen. Und würden sie das nur heute nicht ebenso begierig tun! Und würden sie uns an der Grenze als Wächter finden, nicht aber als Nachahmer ihres Wahnsinns.17. Denn nun entartet allmählich alles: die Vätersitte, die Sprache, die Kleidung, das Gehaben, die Lebensart zu Hause und im Krieg. Und somit wird mit unserer Zustimmung, was ich erfolglos zu beklagen gewohnt bin, dieses Italien, das Du zwar nie gesehen hast, aber doch kennst (es ist kaum glaubhaft und erfordert Mitleid selbst von Feinden), in eine entsetzliche Barbarei verwandelt. Und wie wir für eine solche Ungeheuerlichkeit – sonderbar dieses krankhafte Ergötzen daran! – vor unseren Vätern Rechenschaft ablegen sollen, begreife ich nicht. Doch darüber habe ich schon viele und doch nie genügend viele Reden geführt. Nun kehre ich zum Thema zurück. 18. Weshalb sollten wir uns wundern, dass bei uns das Imperium ins Grab gesunken und die Freiheit unterdrückt ist? Oder dass auf unserem Erdteil weder ein Friede andauert, noch die Kriege aufhören? Wir vermögen ja selber weder zur Ruhe zu kommen noch mit solchem Dienstvolk den Sieg zu erkämpfen. 19. Wann, ich bitte, werden jene siegen, die gesiegt zu haben gar nicht mehr wünschten? Ja für welche das Siegen ein Besiegt-Werden ist? Ihnen graut ja vor einer Rückkehr in die Heimat, und nicht zu Unrecht! Sie haben Gefallen und Geschmack an Italien gefunden, sie hassen und fürchten ein Ende des Krieges, das ihrer Trunkenheit und Ausschreitung ein Ziel setzen müsste. Sogar wenn sie sehr wünschten, den Feind zu besiegen, vermöchten sie es nicht; denn besiegt wurden sie durch ihre lasterhaften Sitten, durch diese sind sie gefangen, unterdrückt und entwaffnet! Sie sind entartete Knechte ihrer Gelüste! 20. Wie würde sich nun jenes alte römische Kriegswesen mannhafter Kämpfer dazu verhalten? Sie waren gewohnt, ausser ihren Waffen auch Nahrung für mehrere Tage – doch nicht unser weiches kunstvoll verfertigtes Brot, sondern sehr hartes –, und eine Palisade auf dem Rücken zu tragen, was ihnen gestattete, den Hunger des einen Tages erst spät zu stillen, heimliche Angriffe der Feinde des Nachts abzuwehren und sich zu verschanzen. Gewohnt waren sie, wenn sie unter schwerer Last allzu langsam vorankamen, von ihren Anführern zu hören:18 „Soldat, verstehst Du Dich mit dem Schwert zu verschanzen, brauchst Du eine Schanze nicht länger zu tragen!“ Oder schleppte sich einer unter einem mächtigen Schild nur mühsam vorwärts, vernahm er den Tadel: „Du schleppst einen übergrossen Schild, und ich beanstande es nicht, solange Du einen Schild eben besser gebrauchst als das Schwert.“ 21. Da wurden weder Gelage, noch Wein erwähnt. Jeder Bach, selbst der trübe, bot den Durstigen Trank, als wäre er Nektar. Eine Gelegenheit für Vergnügen fand sich nicht, denn alles hatte zum voraus der Heldenmut besetzt, nicht ohne Verlangen nach Ruhm und Furcht vor Beschämung. Man diente unter strengen Anführern, welche die Weichlichkeit weder an sich

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noch an anderen duldeten. Man hatte keine Lehrmeister der Ausschweifung, sondern Exempel der Nüchternheit, und den Feldherrn darin nicht nachzuahmen, war für Soldaten eine Schande. 22. Dass Iulius Caesar19 den Wein, wie übrigens auch jede beliebige Nahrung „höchst spärlich genoss“, erfuhren die Soldaten sogar im Gerede der Feinde. Jeder beliebigen Lebensführung und auch dem Gaumen begegnete er, so gut wie seinen Feinden, als ein überlegener Bezwinger, und deshalb hat er sogar im Frieden nicht bloss einfachste Nahrung des Volkes, sondern auch unangenehme, ungesalzene nicht verschmäht. Augustus20 begnügte sich „mit dem geringsten Mass an Speise, und übrigens mit einer fast gewöhnlichen.“ Er bevorzugte bei weitem altbackenes Brot, sehr kleine Fischchen, von Hand gepressten Käse aus Kuhmilch und grüne, zweigeteilte Feigen.“ Hadrian,21 der enthaltsam und militärisch lebte, schätzte es, im Freien die Kost des Lagers zu geniessen“, das heisst Speck, Käse und Posca22 nach dem Vorbild des Scipio Aemilianus, des Metellus und seines Adoptivvaters Traian.23 23. Dies alles entnehme ich, um von Geringeren zu schweigen, den Schriften ausgezeichneter Autoren. Wer würde sich da nicht schämen, ein Sklave so schimpflicher Tyrannen wie Gaumen und Bauch zu sein, wenn er hörte und sähe, dass so bedeutende Befehlshaber so einfach lebten? 24. Übrigens waren die Soldaten daran gewöhnt, gemäss der Art einer begangenen Tat Bestrafung oder Belohnung zu erwarten. Denn dank der Überwachung durch ausgezeichnete Richter konnte nichts verheimlicht oder vernachlässigt werden. 25. Die Soldaten bekamen Statuen hervorragendster Kämpfer zu sehen. Man zeigte ihnen Ehrenzeichen, wie zum Beispiel Kränze mit besonderen Beiwörtern wie zivil, mural und obsidional.24 Man sprach ihnen von Caesius Scaeva,25 denn dieser hatte in einem unerhört verblüffenden Kampf ganz allein den Ansturm eines britannischen Heeres mit seiner Brust und seinem Schild siegreich zurückgestossen und war dann von seiner einzigartigen Aufsichtsperson,26 unter deren Augen die Tat geschehen war, für die so hervorragende kriegerische Leistung mit den Insignien eines Hauptmanns geehrt worden. Sie hörten weiter von einem Lucius Dentatus,27 der aufgrund seiner unzähligen und unglaublichen Siege nicht bloss mit der Rüstung eines einzelnen Kriegers, sondern mit denen einer ganzen Legion überhäuft wurde. 26. Umgekehrt wurden Legionen wegen Feigheit der Schande preisgegeben, wurden Pferde und Waffen konfisziert, wurde die Heimkehr untersagt, die Teilnahme an Treffen verweigert.28 Und wirklich ist rasch zum Empfang einer Auszeichnung bereit, wer bedenkt, was der Auszeichnung würdig ist, ebenso verschlossen gegen die Nachsicht, wer nichts getan hat, was der Nachsicht bedarf oder wer zwar gefehlt hat, aber sich zu schonen nicht gewohnt ist. Immer waren da Rücken für Beutestücke der Feinde oder für wohlverdiente Schläge, wie die Umstände es forderten; immer gab es auch Ohren, um ehrenvolle Lobreden oder gerechte Schelten zu hören.

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27. Bekannt war, dass Pescennius Niger29 den Soldaten, die in Ägypten nach Wein verlangten, antwortete: „Ihr habt den Nil, was wollt Ihr da Wein?“, und dass der Genannte gewisse von Sarazenen besiegte Soldaten, die in einem Tumult nach Wein verlangten und sagten, sie könnten ohne solchen nicht kämpfen, mit den Worten verhöhnte:30 „Schämt Euch! Unsere Sieger trinken Wasser!“ 28. Pescennius hatte nämlich Marius31 vor Augen, ihn vor allen ahmte er nach und verehrte ihn aufs höchste. Der aber hatte einem Heer, das nicht einmal um Wein, sondern um Wasser bat, erklärt:32 „Ihr seid Männer; seht dort“ – und er zeigte auf das Lager der Feinde, die das Ufer eines Flusses besetzt hielten – „dort sollt ihr es bekommen!“ Auf seine Rede hin trieb dann die entflammte Kühnheit den Kämpfer dahin, wo er für seinen Durst allerdings keinen Wein, ja auch kein klares Wasser bekam; denn wirklich fügt Florus hinzu: „Mit solchem Feuer wurde gekämpft, dass der römische Sieger aus dem geröteten Fluss an Wasser nicht mehr zu trinken bekam als an Blut.“ 29. Was hätten nun schonungslose Kommandanten ihren Soldaten im Heer antworten sollen, wenn sogar der zu Hause und im Frieden stets mildeste Princeps Augustus „das über Mangel und Teuerung klagende Volk,“ wie Tranquillus33 berichtet, mit ungemein strenger Rede zurechtwies, reichlich sei durch seinen Schwiegersohn Agrippa vorgesorgt, ja „sehr viel Wasser hergeleitet worden, damit die Menschen nicht Durst leiden müssten.“34 30. Vom eben genannten Niger wusste man überdies zu melden,35 er habe alles Vergnügen mit solcher Härte bekämpft, dass er nicht allein die Verwendung von Geld im Heer verbot (dies nämlich in der Furcht, es würde leicht aus den Soldatensäcken in die Hand der Feinde geraten, so dass Barbaren mit unserem Raubgut hätten triumphieren können), sondern auch den Bäckern untersagte, ins Lager zu kommen, und zudem das Weintrinken verhinderte, indem er anordnete, es sollten sich alle mit Essig und Zwieback begnügen. 31. Über ihn hat Aelius Spartianus geschrieben:36 „Niemals hat unter ihm ein Soldat dem Bewohner einer Provinz sei’s Holz oder Öl oder Hilfeleistungen abgepresst. Persönlich hat er zur Zeit seines Tribunats von einem Soldaten nie etwas angenommen und nicht geduldet, dass etwas angenommen werde. Und noch als Kaiser liess er zwei Tribune, von denen er feststellte, dass sie Abzüge angenommen hatten, durch ihre Hilfstruppen mit Steinen überschütten.“ 32. Auch den anderen Bewunderer des Marius, nämlich Cassius Avidius,37 haben damals die Soldaten nicht vergessen. Dieser hat, wie Volcatius Gallicanus38 in den Historien sagt, „die Waffen der Soldaten jeden siebten Tag inspiziert, ebenso die Kleider, Schuhe und Beinschienen. Alle Vergnügungsobjekte entfernte er aus dem Lager; auch befahl er, den Winter in pelzbesetzten Zelten39 zu verbringen“ und gar nichts „ausser Speck, Zwieback und Essig auf die Expeditionen mitzunehmen.“ 33. Wenn er ausser dem Genannten etwas Überflüssiges entdeckte, strafte er mit ganz erheblicher Busse. Und gerade dieses besonderen Verdienstes wegen hat ein Präfekt40 an seinen Princeps, der ihm ein Gutachten über Cassius geschrieben

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und ihm gleichzeitig die Sorge für die Nahrungszufuhr auferlegt hatte, geantwortet: „Gut hast Du entschieden, mein Gebieter, den Legionen Syriens Cassius vorzusetzen; nichts ist so wünschenswert wie ein recht gestrenger Mann für diese Griechlein von Soldaten. Er freilich wird alle Wärmespender und Zierden41 von Kopf, Hals und Schoss des Soldaten herunterschütteln. Der ganze Militärproviant steht bereit; nichts fehlt bei einem guten Anführer; gefordert wird nicht viel, und nicht viel aufgewendet.“ 34. Dies die Worte des Präfekten im Schreiben an den Fürsten über Cassius. Unter seiner Führung fand an jedem siebten Tag eine militärische Übung für alle Soldaten statt,42 „die im Bogenschiessen und Waffenspiel“ bestand. Er sagte nämlich, „es sei erbärmlich, wenn Athleten, Jäger und Gladiatoren sich ertüchtigten, während die Soldaten es nicht täten, wo ihnen ihr Handwerk doch in Zukunft leichter fallen müsste, wenn es ihnen recht vertraut wäre.“ 35. Als er ein andermal, wie der selbe Historiker43 mitteilt, „ein Heer anführte, geschah es, dass ein Hilfstrupp ohne sein Wissen, aber auf Veranlassung von Centurionen, dreitausend Sarmaten niedermachte, da sich diese unvorsichtig am Donauufer aufhielten. Wie sie mit ungeheurer Beute zu ihm zurückkehrten (wobei die Centurionen auf Belohnung hofften), befahl Cassius sie zu fassen, ans Kreuz zu schleppen und mit dieser Sklavenstrafe hinzurichten. Denn, so sagte er, es hätten Nachstellungen folgen und der gute Rufe der Römer zerstört werden können. 36. Und als es im Heer zu einem wütenden Aufstand kam, schritt er unbewaffnet in die Mitte vor und sagte: „Durchbohrt mich, wenn Ihr es wagt! Habt Ihr die Kriegszucht zerstört, so fügt die Ermordung des Führers hinzu!“ Diese Tat trug so entscheidend zum Gehorsam unter den Römern bei, und die Barbaren überfiel ein so mächtiger Schrecken (denn sie erkannten, dass durch den Richterspruch des römischen Anführers auch jene verurteilt wurden, die gegen alles Recht gesiegt hatten), dass sie von Antoninus, der abwesend war, einen hundertjährigen Frieden“ begehrten, das heisst: vom damaligen römischen Kaiser. 37. Schliesslich ist eben er der selbe Mann,44 den Marcus Aurelius Antoninus,45 der weiseste der Fürsten, aufgrund eines gesunden und reiflichen Beschlusses als einzigen dafür ausersah, die zersetzte und zerstörte Kriegszucht der Legionen zu reformieren, und dem er in einem Brief eine verdiente und hervorragende Anerkennung für seine äusserste Strenge aussprach. Und für beides hat sich der Kaiser Lob verdient. 38. Vieles habe ich von Cassius berichtet, denn vieles habe ich über ihn gelesen, und in so vielem unterscheidet sich seine Kriegführung von unserer modernen, dass er sich eben deshalb für eine Schmährede auf die Laster unserer Zeit anzubieten schien. Ihm ist in dieser Hinsicht Maximinus, obwohl im übrigen ein grausamer Barbar, recht ähnlich.46 Er befahl den Soldaten „an jedem fünften Tag“, wie man in seiner Vita liest,47 Manöver abzuhalten, gegeneinander Scheingefechte zu führen, täglich Schwerter, Panzer, Helme, Schilde, Tuniken und alle Waffen zu

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inspizieren, nicht ohne auch persönlich Musterungen vorzunehmen, weshalb er sich den Soldaten als ein wahrhafter Vater erwies. 39. Auch Probus48 hatten die Soldaten vor Augen, der gemäss den Worten des Flavius Vopiscus „niemals duldete, dass ein Soldat untätig sei. Daher liess er viele Werke durch Soldatenhand verfertigen, denn er sagte, der Soldat solle sein Brot nicht unverdient essen.“ 40. Und um nicht Unerhebliches unter Bedeutendes einzufügen, erwähne ich von Quinctius Cincinnatus49 nur kurz, dass er als Diktator einem Minucius das Konsulat entzog, denn dieser hatte am Algidus zugelassen, dass der Feind ihn und das römische Heer belagerte. Und nur kurz sage ich von Calpurnius Piso,50 dass er als Konsul einem Präfekten der Reiterei, weil er den Feinden Waffen „überlassen hatte“, vielfachen Schimpf antat, „ihm die Enden seiner Toga abriss“ und „ihm befahl, ungegürtet und mit nackten Füssen“ von morgens bis abends bei der ersten Schlachtreihe und „während der ganzen Dienstzeit anwesend zu sein.“ Weit höher als jedes Recht des Blutes, durch das der Präfekt mit ihm verbunden war, schätzte er die Republik und die militärische Verpflichtung. 41. Nun darf ich aber nach den eben Genannten die fürchterliche Härte eines Manlius Torquatus51 nicht übergehen; hat er doch seinen eigenen Sohn, einen Mann von seltener Begabung, niedergemacht, weil er ohne Befehl den Feind bekämpft, ja hervorragend und glücklich bekämpft hatte. Ebenbürtig war die Strenge des Postumius Tiburtus,52 der aus einem gleichen Grund gegen seinen Sohn eine allzu strenge Befehlsgewalt ausübte, was aber weniger sicher belegt ist. 42. Und nicht viel geringer war die Strenge des Papirius Cursor,53 doch wandte sie sich nicht gegen den eigenen Sohn, sondern gegen Quintus Fabius, den Befehlshaber einer Reiterei. Weil dieser, zwar tüchtig und erfolgreich, doch ohne Befehl gestritten hatte, wollte ihn der Diktator mit einem Beil niederhauen, und er hätte es getan, wäre nicht das öffentliche Erbarmen seinem aufwallenden Zorn entgegengetreten. Doch nicht die ausserordentliche Grösse und Würde der Tat, auch nicht der Schrecken vor dem revoltierenden Heer, nicht die Tränen des alten Vaters, nicht die Autorität des Senats, sondern einzig die vom römischen Volk schliesslich vorgebrachten mitleidigen Bitten vermochten den sehr edlen und sehr tapferen jungen Mann vor dem Untergang zu retten. 43. Natürlich wusste man, wie ungemein schwierig und erschreckend der Kriegsdienst unter einem solchen Anführer war und dass er mit ununterbrochener Strapaze und mit Terror Leib und Seele der Soldaten aufrieb. Ebenfalls wusste man, dass er, wie bei Livius54 steht, einmal die Reiter, welche die Bitte an ihn wagten, er möge ihnen nach einer gut verrichteten Aufgabe eine Anstrengung ersparen, mit der Antwort verhöhnte: „Damit Ihr nicht behauptet, ich hätte Euch nichts erspart, genehmige ich, beim Absteigen das Tätscheln der Pferderücken zu unterlassen.“ Und weil der Prätor von Preneste, „seine Leute in einiger Furcht etwas langsam in die vorderste Reihe geführt hatte,“ rief er den Liktoren mit dem Beil

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herbei, um damit spielend jenen zur Strafe nicht anders zu entlassen, als indem er ihn mit Todesangst peinigte. 44. Übrigens kam mir auch Quintus Messius in den Sinn, und ich wundere mich, dass er von Livius übergangen wird. Er schickte im zweiten Punischen Krieg aus jener Schlacht, die an der Trebbia geschlagen wurde,55 fünf Kohorten zu einem Posten zurück, aus dem sie, obwohl sie ihn hätten bewachen sollen, einer feindlichen Macht gewichen waren. Und er befahl ihnen den Posten sogleich zurückzuerobern, nicht etwa weil er vertraute, dass solches möglich sei, sondern weil er wollte, dass die Kriegsschuld mit eiserner Strenge bestraft und an eben der von ihnen verlassenen Stätte mit dem Tod gesühnt werde. 45. Dem Befehl wurde überdies die Drohung angefügt, wer aus ihrer Reihe ins Lager zurück fliehe, werde niedergestreckt wie ein Feind. Doch gerade dies, wie ein schärfster Stachel in äusserster Not in ihre Herzen getrieben, vermochte die Ermüdung des Leibes, die Verzweiflung an den Umständen, die Schwierigkeit örtlicher Verhältnisse und die Überzahl der Feinde zu bewältigen, und was einem unbesiegten Heerführer für unausführbar gegolten hatte, gereichte den besiegten Soldaten zur Errettung. 46. Im Geiste konnte man Iulius Caesar beobachten, von dem Tranquillus56 berichtet, „er habe ein wankendes Heer oft ganz allein wieder aufgerichtet, habe Flüchtigen den Weg versperrt, einen um den andern (darunter oft völlig verängstigte) zurückgehalten und deren Gurgel gewaltsam dem Feind wieder zugekehrt, weshalb es vorkam, dass er einen zaudernden Fahnenträger mit der Speerspitze bedrohte,57 oder dass ihm ein anderer sein Heereszeichen, weil er es festhielt, zurückliess.“ 47. Unter solchen Feldherren Soldat zu sein, war gewiss hart, doch milderte den rauhen Dienst der Ruhm. Und was die Lebensgefahr und die Anstrengung entsetzlich gemacht hatte, das machte die alleinige Tapferkeit begehrenswert. Selten gab es da Überläufer, selten Fahnenflüchtige. Sichere Versprechen und Schrecken waren leichtfertigen Herzen ein Zügel. 48. Zum Exempel diente auch Fabius Maximus,58 der alle aufgefangenen Überläufer mit abgehackten Händen wegschickte und dadurch den zur Flucht Bereiten eine Warnung erteilte. Ein Exempel war auch Africanus Maior.59 Sein von Natur aus mildes und wohlmeinendes Wesen wappnete er aus Notwendigkeit – wenn auch ungern – mit solcher Strenge, dass er in der schwersten Gefahr eines Krieges, mit dessen Erfolg er sich Ruhm erwerben wollte, die Urheber des Misserfolges an Pfähle band und mit Ruten schlug, dann mit dem Beil niedermachte. Später, nach der Unterwerfung Karthagos und der Beendigung des Krieges, befahl er, die Überläufer, die man einfing, sofern sie latinische Namen hatten, ebenfalls mit dem Beil zu erschlagen, aber die mit römischen Namen, weil sie sich schwerer vergangen hätten, zu kreuzigen. 49. Auch Africanus Minor, der Karthago nicht nur eroberte, sondern auch zerstörte, liess bei den Spielen zur Siegesfeier die Überläufer vor den Augen des Volkes wilden Tieren zum Zerfleischen und zum Frass vorwerfen. Und

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Aemilius Paullus,60 der Sieger im Makedonischen Krieg, liess die einer ähnlichen Schuld Bezichtigten Elefanten zum Zerstampfen ausliefern. Und das alles diente zur heilsamen und unvergesslichen Warnung! Man sollte aber die Verfügungen jener Anführer und erlauchten Männer nicht anders verstehen als so, wie ihre Mannhaftigkeit und Würde es verdienten. Es soll ja nicht die Missgunst, die übelste Deuterin, stets darum bemüht, eine gerechte Strenge als Grausamkeit des Hochmuts zu bezeichnen, alles auf die schlechteste Seite ziehen. 50. Deshalb hat man an dieser Stelle ein gewichtiges Wort des Valerius Maximus61 anzuführen, das er solchen Exempeln beigegeben hat. Er sagte: „Eine harte und ganz besondere Art von Strafe ist im Kriegswesen notwendig. Denn seine Kräfte beruhen auf Waffen; sie aber neigen bei einer Abweichung vom richtigen Gebrauch zur Unterdrückung, sobald sie nicht selber unterdrückt werden.“ 51. Und nicht bloss gegenüber seinen Anführern und seinem Heer, sondern auch gegen seine Verbündeten wahrte man unerschütterliche Treue. Denn wer wagte zu täuschen, zu rauben oder Dergleichen zu tun, solange man sich daran erinnerte, was mit den Soldaten geschah, die nach Reggio62 gesandt waren, um Schutz zu bieten, aber nach der schurkischen Ermordung der städtischen Grossen die Stadt auf grausame Art usurpierten? „Es waren viertausend Mann,“ wie Livius63 berichtet, und der Senat befahl, sie „bis auf den letzten mit Ruten zu schlagen, mit Beilen zu durchhauen“ und unbestattet zu beseitigen, wobei er verbot, sie zu beweinen. 52. Oder solange man sich ins Gedächtnis rief, dass der schon genannte Pescennius Niger64, wie sein Lebensbericht sagt, „nachdem ein einziger Mann ein Huhn geraubt hatte, zehn Angehörige der selben Einheit,65 weil sie davon gegessen hatten, mit dem Beil niederzuhauen befahl,“ dann allerdings, eine drohende Meuterei befürchtend und durch Bitten des ganzen Heeres besiegt, den starren Richterspruch änderte. Anders handelte Cassius,66 von dem es heisst, „er habe Soldaten, welche den Einwohnern einer Provinz etwas gewaltsam entrissen hatten, am Ort des Vergehens ans Kreuz ausgeliefert.“ 53. Doch lassen wir Strafen und Strenge hinter uns: Wen, bitte, ausser einen Verächter aller Tugend und Ehre würde ein bestimmtes, ausserordentliches Lob auf die Selbstzucht nicht berühren und nicht zum Verzicht auf Unrecht gegen Genossen bewegen? Zu lesen ist das Lob in Ciceros Rede zu Ehren des Pompeius.67 54. „Seine Legionen,“ so sagt er, „sind in einer Weise nach Asien vorgerückt, dass vom gewaltigen Heer nicht bloss keine Hand, sondern auch keine Fussspur irgend ein Abkommen verletzt haben soll. Schon werden täglich Angaben und Briefe darüber herum geboten, wie die Soldaten überwintern. Nicht nur wird niemand mit Gewalt gedrängt, den Aufwand für einen Soldaten zu bestreiten; vielmehr wird solches nicht einmal dann gestattet, wenn einer es von sich aus tun will. Denn als eine Zufluchtsstätte vor dem Winter aber nicht für die Habsucht wollten unsere Vorfahren die Häuser der Verbündeten und Freunde betrachten.“ So weit Cicero. Und

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wie die Satzungen der andern so haben die Worte dieses Mannes eine verehrungswürdige Gewichtigkeit. 55. Sie wollten sich nicht allein gegen Verbündete untadelig, sondern auch gegen Feinde zuverlässig verhalten, nämlich in strengster Einhaltung der Bündnisse und Verträge. Deswegen haben die Konsuln Veturius und Postumius,68 weil sie ohne Befehl des Senats und des römischen Volkes mit den Samniten Frieden schlossen, sich willig ihrem Feind ergeben und auf diese Weise mit einer persönlichen Gefährdung die öffentliche Zusicherung ausser Kraft gesetzt,69 und dies obwohl vom Feind ihre Übergabe beanstandet wurde. 56. Aus gleichem Grund haben jene zehn Römer, die in der Schlacht von Cannae70 aufgegriffen und durch Hannibal wegen eines Loskaufes oder Austausches von Gefangenen an den Senat zurückgeschickt wurden, versprochen, sie würden zurückkehren, wenn sie keine Zusage erhielten, worauf sie dann (je nach Bericht waren es alle oder nur einer) nach Erledigung ihrer Aufträge schweigend in Rom verharrten, bis der Senat sie zurück zu Hannibal sandte.71 57. Wird ihre oder ähnlicher Leute Täuschung billigerweise getadelt, ist doch des Atilius Regulus72 überragende Treue bis zum grausamsten Tod durch alle Zeiten hindurch gepriesen worden. Wenn es herrlich ist, einen Feind mit Waffen zu besiegen, geschieht es doch herrlicher mit Güte. Täuschung aber ist – ausser in der Kriegskunst – verwerflich. 58. Nun könnte ich noch Exempel aus fremden Nationen anfügen, doch habe ich zu Beginn meiner Abhandlung keine andere Kriegskunst als die römische erwähnt, und übrigens ist mir auch kein anderes Volk begegnet – doch niemanden möchte ich beleidigen –, das in besagter Hinsicht ähnlich grossen Ruhm besässe. 59. Wie hätte nun ein Soldat, der in einem Lager der beschriebenen Art geschult, und wie hätte ein Heer, das an solche Befehle gewöhnt wurde, etwas Schwieriges entdecken können, das nicht zu überwinden, etwas Hartes, das nicht zu zerbrechen, etwas Hohes, das nicht zu ersteigen war? Wer alles erfahren hat, dem begegnet nichts Neues und nichts Erschreckendes. Die Erfahrung ist die Mutter der Künste, und die Gewöhnung an Gefahren bezwingt die Furcht. 60. Keine Schar, die sich aus solchen Männern rekrutierte, war je klein. Denn was an Zahl etwa fehlte, das ergänzten der Gehorsam der Soldaten, das hohe Ansehen der Anführer, die Geistesstärke der einen wie der andern, auch die Schulung, ein höherer Lebenswert und stets irgendwelche Gottheit und die Lagerdisziplin. 61. Gab die Tuba das Zeichen zum Angriff oder zum Rückzug, war niemand so taub, sie nicht zu vernehmen, auch niemand so stumpf, sie nicht zu verstehen, und niemand zu träge und furchtsam, um nicht sogleich den Befehl zu befolgen. Gemeinsam stürzten alle auf die Feinde; gemeinsam blieben sie stehen; gemeinsam stachen sie zu; gemeinsam verliessen sie die Schlachtreihe. Gewaltig ist die Tatkraft der Tüchtigkeit, und beinah nichts ist unüberwindbar für eine Vielzahl von Kämpfern, wenn alle nach dem Willen eines einzigen streiten und kraftvolle Tat und Kriegserfahrung zum gemeinsamen Ziel sich vereint haben.

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62. Eine solche Heerschar besiegte den schrecklichen Hannibal, stürzte den hochgemuten Pyrrhos,73 bereitete einem Syphax den Kerker, einem Perseus die Fesseln und einem Mithradates den Tod, beraubte Antiochos seines Reiches, Zypern74 seiner Schätze, vertrieb die Piraten vom Meer, ertränkte in seinen Fluten die punische Flotte, diese Herrscherin über das ganze Meer,75 und zwang Iugurtha, für Verwandtenmorde und Treulosigkeit zu bezahlen. Sie trennte Britannien durch eine Mauer in zwei Teile,76 verband die Ufer des Rheins durch eine Brücke77 und bändigte die Strudel und Schnellen der Donau.78 Kaum war solcher Heerschar ein Durchmarsch durch den kiminischen Wald79 wie eine Grosstat geglückt, öffnete sie gleich die Joche der Alpen,80 die Waldungen der Ardennen und Pyrenäen,81 durchdrang die Verstecke des herkynischen Waldes,82 durchquerte den schneereichen Kaukasus und den felsigen Atlas, marschierte durch das glühende Libyen,83 überwand den brausenden Euripos, die Brandung des Schwarzen Meeres,84 die gefährlichen Syrten85 und befuhr den hochwogenden Ozean. An einem einzigen Tag eroberte sie das spanische Karthago,86 nachdem beim älteren Karthago87 die Anstrengung grösser, doch das Ergebnis das selbe gewesen war. Eine solche Heerschar zerstörte Numantia, Jerusalem und Korinth.88 Sie eroberte Syrakus, Capua und Tarent;89 ebenso Spanien, Gallien, Germanien,90 ja Europa, Afrika und Asien! Doch worauf stürze ich mich? Diese Heeresmacht hat Italien, Europa und den ganzen Erdkreis mit ihren Waffen gebändigt und hat mit ihren Heldentaten die Unterworfenen dazu gebracht, sich mit einem einzigen Haupt zu begnügen. Stets war sie siegreich, stets ungebändigt. Und hätte ihr bloss die Überheblichkeit, die Begleiterin des Sieges, nicht geschadet und hätte, wie ich schon sagte, das Wohlergehen nicht immerfort Luxus und verhängnisvolle Sitten hervorgebracht! So aber hat sie das Eisen schliesslich gegen ihr eigenes Innere gekehrt, um die am unterworfenen Erdkreis begangenen Gewalttätigkeiten an sich selber zu rächen.91 66. Und so viel von jener früheren Kriegsmacht! Dagegen sind unsere Heere voll von Dieben und Räubern und gehen häufiger bei Verbündeten als bei Feinden auf Beute aus, vertrauen eher auf Flucht als auf Heldentum, auf Sporen, als auf Schwerter. Sie betrügen rascher als sie kämpfen, verletzen öfter einen Vertrag als dass sie den Feind verwunden. 67. Zu Hause ist niemand, der Untaten straft, kein Senat, der Feigheit büsst. In den Lagern ist kein Fabius, kein Africanus, kein Aemilius Paullus, kein Magnus Pompeius, kein Iulius Caesar, schliesslich auch kein Niger und kein Cassius; vielmehr sind da Leute, die jede Schandtat mit ihrem Beispiel unterstützen und entschuldigen. So kommt es, dass alles straflos bleibt und ein Verdienst, je geringer es ist, desto mehr Selbstbestimmung, ja desto mehr Lohn empfängt. 68. Schuldlosigkeit gilt für lächerlich, Zurückhaltung für Angst, Treue für Dummheit, Betrug für Klugheit und Verstand. Bescheidenheit gilt für schmutzig, Einfachheit ist so viel wie Geiz, und Keuschheit ist Roheit. Mehr Gegner findet heute die Tugend als früher der Treubruch, weshalb sie nicht allein der Ehrung ent-

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behrt, sondern auch kaum geschützt wird. Und kann sie etwa dem Hass entgehen, verfällt sie gewiss der Verachtung, womit also die Urheberin all dessen, was gut und verehrungswürdig ist, entweder unterdrückt oder verhöhnt wird. 69. Wie aber vermöchten unsere Heerführer, die sich selber nicht zügeln, einer solchen Kriegsschar zu gebieten? Und mit welcher Stirn könnten sie andere züchtigen, wenn ihnen selber nichts so sehr fehlt wie ein Zuchtmeister? Das lässt die Natur nicht zu, dass einer etwas verleiht, was er selber nicht hat. Es kann, wie Cicero92 sagt, „der Befehlshaber, der sich nicht selber bezähmt, kein Heer bezähmen, und es kann keiner ein strenges Urteil fällen, der nicht will, dass andere Richter gegen ihn streng sind.“ 70. Was sollen, wenn die Führer berauscht sind, unsere Soldaten in ihrer Trunkenheit tun, als was ihr Zustand zwangsläufig erfordert? Sie schnarchen, sie schwitzen nicht einen männlichen, sondern einen fiebrigen Schweiss aus, und dies nicht nach Soldatenart, sondern weibisch und absonderlich. Alternd unter ihren Zelten, verlangen sie nach Spielen, gieren nach Speisen, ergeben sich den Würfeln, versinken in Leidenschaften und tragen in ihrem schmutzigen Heereszug die Säcke ihrer liederlichen Weiber vor sich her, vernachlässigen die Anordnungen, schwärmen umher wie Bienen nach der Zerstörung ihrer Stöcke, und jeder ist dabei sich selber der Führer. 71. Sie lieben den Schatten, das Nichtstun, die Bezeichnung Krieg, wissend, dass sie ihm ihren Sold verdanken, und hassen ihn an sich, sprechen über ihn dennoch, ohne zu erröten, wie über ihre besondere Kunst. Faul sind sie, unwissend, furchtsam und grosstuerisch. Waffen und Pferde gebrauchen sie nicht zum Dienst an ihren Kriegsherren, nicht zum Schutz für ihr Vaterland, nicht zum eigenen Ruhm, sondern für ihren Erwerb, für ein flotte Erscheinung und für eigene Vergnügen. Sie gehen beschwert mit Gold und sind deshalb ihrer Freundin ein so erfreuliches Schaustück als dem Feind eine kostbare Beute. 72. Mit ihren Anführern wetteifern sie nie um Heldengrösse, jedoch mit Ihresgleichen, sofern sie solche finden, um Schlaf und Rausch. Und sehen sie, dass jene ihres Unterrichts würdig sind, werden sie rasch zu Lehrern für solche lernwillige Talente. Sind da aber Andersgeartete, strafen sie diese mit Verachtung, Neid und Anschuldigung. Und kaum ein paar wenigen Klugen ist es möglich, unter so vielen Dummköpfen ungestraft nicht zu verdummen. Und nicht erst heute gilt als Verbrechen, unter Schlechten sich gut zu benehmen. 73. Unter solchen Umständen hast Du Dich nicht zu wundern, dass, ich sage nicht: das eine Volk sich erhebt und das andere niedersinkt, darauf umgekehrt dieses stürzt und das andere hochkommt (denn das erreicht ja, wie schon gesagt, die blosse Verschiedenheit der Sitten), sondern wundere Dich, dass wir, die eine entsetzliche Gleichartigkeit besitzen, von Tag zu Tag stärkerem Druck erliegen und wanken, weshalb unsere öffentliche Ordnung in den Abgrund gesunken ist, sich nicht auf ein Fundament der Tüchtigkeit, sondern auf die eigene Schwere stützt und den Ruin eines mächtigen Gebäudes mit klaffenden Rissen ankündigt. 74. Sonderbar wäre eher, wenn die Ursachen nicht ihre Wirkungen zeitigten. Das kann

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nun keineswegs ausbleiben, jedoch wird bei solchen Heerführern, bei solchen Soldaten und solchen Sitten der Ruin, der uns zwar nahe ist, sich masslos verzögern. Inzwischen wird unser Krieg unaufhörlich sein, unser Friede erstickt, unsere Tüchtigkeit verbannt, hier mit eigenen, dort mit fremden Händen zerrissen werden, und unsere Republik andauernd geknechtet und immerfort elend bleiben. Lebe wohl! Auf der Reise, am 27. Februar (1361).93

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. 2 Barbarorum timidissimi habebantur. Für die abschätzige Bezeichnung fremder, nicht-römischer Völker lässt sich im Deutschen kein zutreffendes Wort finden. 3 Frankreich war in den dreissiger Jahren des 14. Jhs., weil durch die Engländer bedrängt, mit Schottland verbündet. Aber König David, Parteigänger der Franzosen, geriet 1346 in englische Gefangenschaft, aus der er sich erst 1356 loskaufen konnte. Papst Benedikt XII. unterstützte den Kampf der Franzosen gegen England mit Kreuzzugsgeldern, nachdem er vergeblich versucht hatte, zwischen den Mächten zu vermitteln; Clemens VI. half in ähnlicher Weise; Kardinal Guy de Boulogne, Onkel von Bonne de Luxembourg, der Gattin des Königs, bemühte sich ebenfalls um Vermittlung, wie übrigens auch andere Kardinäle taten. 4 Von französischen Niederlagen und von der Gefangennahme des Königs Jean le Bon spricht schon Fam. 15,7,17. Es muss sich dort um einen späteren Zusatz handeln. 5 Petrarca hatte Frankreich von Avignon aus mehrmals bereist; von seinem ersten Besuch in Paris wohl 1333 berichtet Fam. 1,4,4. 6 Unter Illyrien verstand man in der Spätantike ein Gebiet, das sich wie ein breites Band vom Balkan zur Donau erstreckte, also Slovenien, Kroatien, Krain einschloss. Söldner aus diesen Gegenden galten jedoch langezeit einfach als Ungarn. Von „Donauvölkern“ dachte Petrarca sehr gering, wie auch in Fam. 17,7,4 zu lesen ist. Doch – wie er gleich verraten wird – nahm er Ärgernis vor allem an Istrien, von wo Söldnerscharen in Italien eindrangen. Istrien gehörte nach 1209 zu Aquileia, stand aber wie das genannte Patriarchat im 14. Jh. unter dem starken Druck der venezianischen Terra-Ferma-Politik, doch auch der österreichischen Macht. – Bogenschiessen wurde im 14. Jh. zuerst von den Engländern zum Nationalsport gemacht. Aber auch in Italien begann man das Bogenschiessen zu üben. Die Armbrust verlor an Bedeutung. 7 Hier das Wort teutoni (nicht germani), das sind Deutsche im engeren Sinn. 8 Phars. 8,385–386. 9 Petrarca hatte im Februar 1356 die Historia Augusta erwerben können. Ohne diese hätte er seine folgende Ausführung nicht verfassen können. Einen Teil davon hatte Iulius Capitolinus verfasst; vgl. Maximinus 11,8. 10 Sall. Cat. 2. Zum folgenden Text vgl. Fam. 17,3,44 ff. 11 Epit. 6,9,6. 12 Im Lateinischen e pastorali culmo mundi culmen. Das Wort culmus übernahm Petrarca von Verg. Aen. 8,654. 13 Vgl. oben Abschnitt 6. 14 Mit Scipio ist der jüngere Africanus gemeint, der Numantinus; das Bellum Numantinum dauerte Jahrzehnte lang. Zwischen 143–134 wurde der Krieg von Metellus (Macedonicus) und Pompeius geleitet, dann von Scipio 133 mit der Zerstörung von Numantia beendet. Vgl. Val. Max. 2,7,1–2.

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15 Gemeint ist Metellus Numidicus, der gegen Iugurtha kämpfte und 106 triumphierte. Zu den Lastern im römischen Heer und den Gegenmassnahmen des Metellus vgl. Sall. Iug. 43 ff. und Cic. Balb 11. 16 De ben. 1,10,2. 17 Liv. 5,33,2. 18 Liv. Per. 57. 19 Suet. Caes. 53. Zum Text vgl. die Anm. bei Rossi. 20 Suet. Aug. 76. 21 Hist. Aug. (Teil des Aelius Spartianus), Hadr. 10,2. 22 Mischgetränk aus Essig, Eiern und Wasser. 23 Vgl. Personenreg. 24 Man empfing sie für Errettung eines Bürgers, für Besteigung einer Mauer, für Befreiung einer Stadtgmeinde. 25 Val. Max. 3,2,23. 26 Gemeint ist Caesar. 27 Val. Max. 3,2,24. Vgl. auch Gell. Noct. Att. 2,11,1 mit Aufzählung seiner Kränze und anderen Auszeichnungen. Der Dentatus galt als römischer Achilles. 28 Lateinisch: propter ignaviam notatas infamia legiones, ademptos equos, arma, patrie conspectum, pugne copiam. Der Sinn der Worte ist eher zu erraten als zu übersetzen. 29 Er liess sich im April 193 in Syrien zum Kaiser wählen und widersetzte sich dem gleichzeitig gewählten Kaiser Septimius Severus bis im Oktober 194. Vgl. Hist. Aug. (Ael. Spart.), Pesc. Nig. 7,7–8. 30 Ebenda 11,3. 31 Vgl. Personenreg. 32 Flor. Epit. 1,38,9. 33 Suet. Aug. 42. 34 Agrippa begann mit dem Bau von Wasserleitungen nach Rom im Jahr 33. 35 Hist. Aug. (Ael. Spart.), Pesc. Nig. 10,1–4. 36 Hist. Aug. (Ael. Spart.), Pesc. Nig. 3,6–8. 37 Avidius war Syrer; er kämpfte zur Zeit des Kaisers Mark Aurel gegen die Parther und erlangte einen entscheidenden Sieg 164, war dann Statthalter in Asien, riss 175 die Macht über Asien und Ägypten an sich, wurde aber schon nach drei Monaten von seinen Soldaten umgebracht. 38 Hist. Aug. (Teil des Volcatius Gallicanus), Av. Cass. 6,2. 39 Das heisst im Lateinischen: sub pellibus. Im pelzbedeckten Zelt sollten sie überwintern, nicht im Winterquartier; vgl. ebenda 5,3. 40 Ebenda 5,9–12. 41 Lateinisch: Ille sane omnes excaldationes, omnes flores de capite, collo et sinu militi excutiet. Excaldatio meine ein warmes Bad, sagen die Wörterbücher. 42 Ebenda 6,3–4. 43 Ebenda 4,6–9. 44 Ebenda 5,4–8. 45 Vgl. Anm. 37. Mark Aurel regierte bereits mit Hadrian ab 161, dann als Alleinherrscher von 169–180. 46 Mit Maximinus ist der in der Historia Augusta beschriebene Maximinus Thrax gemeint, ein Bauernsohn, der 235 von Soldaten als Kaiser ausgerufen, aber schon 238 vom Senat zum Staatsfeind erklärt und dann von Soldaten erschlagen wurde. Er kämpfte gegen Germanen, vor allem aber gegen Sarmaten und Daker an der Donau. 47 Hist. Aug. (Teil des Iul.Cap.), Maxim. 6,2–4. 48 Aurelius Probus, aus Sirmium, * 232. Er war Heerführer in Afrika und im Orient, herrschte 276–282 als Kaiser, kämpfte im Westen gegen vordringende Barbarenvölker, feierte seinen Tri-

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umph in Rom 281 und wurde 282 von Soldaten umgebracht. Über ihn berichtet wiederum die Hist. Aug.; vgl. ebenda (Teil des Flav. Vopiscus) 20,2 und 9,2–4. Die Schlacht gegen die Aequer im Albanergebirge wird auf 458 datiert. Zu Cincinnatus vgl. Personenreg. Die folgenden Berichte bis zur Erwähnung von Livius im Abschnitt 43 stammen alle aus Val. Max. 2,7,6–9. Val. Max. 2,7,6–9. Calpurnius Piso, Lucius, kämpfte133 v. Chr. unter seinem Vater, dem gleichnamigen Konsul eben dieses Jahres, und wurde mit goldenen Stirnreifen ausgezeichnet. Er fiel 112. Berühmt ist sein grosser Erfolg im Latinerkrieg 340 mit der Hinrichtung seines Sohnes; vgl. Personenreg. Er bewährte sich im Kampf gegen die Aequer; Diktator war er 432; vgl. Liv. 4,29,5 f. und Val. Max. (wie in Anm. 49). Papirius war während der Samniterkriege 326–313 mehrmals Konsul; vieles, was von ihm erzählt wird, ist nicht historisch. Von ihm und von der Begnadigung des Quintus Fabius Maximus Rullianus, die das römische Volk erzwang, berichtet Liv. 8,29,10 ff., aber auch Val. Max. (wie in Anm. 49). Liv. 9,16,16–17. Petrarca hält sich an den Bericht bei Val. Max. 2,7,10. Doch wie Rossi feststellte, ist bei Val. Max. von Metellus die Rede, nicht von Messius, zudem von Contrebia in Spanien, nicht von Trebbia. Anzunehmen ist, dass der Dichter eine Ausgabe nach dem Ms. B (Bernense) benutzte, welches tatsächlich die von ihm genannten Namen bietet. – Am Fluss Treb(b)ia besiegte Hannibal die Römer 218. Der berühmteste der Metelli, der Macedonicus, eroberte das keltiberische Contrebia 142. Suet. Caes. 62. Petrarca beachtet die Lesart aquilifero; andere Handschriften haben aquilifer, was bedeuten würde, dass der Fahnenträger Caesar bedrohte. Das ist der Cunctator; vgl. Personenreg. und Val. Max 2,7,11–14. Das ist der ältere Scipio; vgl. Val. Max. 2,7,12–14. Aemilius Paullus Macedonicus; vgl. Personenreg. Val. Max. 2,7,14. Reggio in Kalabrien war mit Rom während des Krieges gegen Pyrrhos 280 verbündet. Liv. 28,28,2 und 31,31,6; Per.12 und 15. Vgl. die Anm. zu dieser Stelle bei Rossi. Hist. Aug. (Ael. Spart.), Pesc. Niger 10,5. Gemeint ist eine bestimmte Einheit einer Legion, Manipel. Hist. Aug. (Vulc. Gall.), Av. Cass. 4,2. Manil. 13,39. Veturius und Postumius Spurius (nicht zu verwechseln mit dem oben – Abschnitt 41 – genannten Postumius Tiburtus) waren 321 miteinander Konsuln. Von ihrer Niederlage bei Caudium und ihrem Frieden mit den Samniten berichten neben andern Liv. 9,7 ff. und Cic. De off. 3,30,109. Lateinisch: volentes hosti dediti, privato periculo fidem publicam exolverunt. Verheerende Niederlage der Römer im Kampf mit Hannibal 216. Vgl. die folgende Anm. Petrarca stützt sich wohl auf Cic. De off. 3,32,113 und Liv. 22,58–61; vgl. Anm. 69. Val. Max. 1,1,14; Cic. De off. 13,39 etc. At(t)lius Regulus soll im Kampf gegen die Karthager eine Niederlage erlitten haben und 255 in Gefangenschaft geraten, aber nach Rom unter der Bedingung zurückgesandt worden sein, dass er dort die Auslösung karthaginiensischer Gefangener erwirke. Seine Täuschung lag darin, dass er die Auslieferung der Gefangenen nicht förderte, sondern verhinderte. Ähnlich werden die vorher genannten, späteren Römer (s. Anm. 68) gehandelt haben; doch sind die beiden Berichte Petrarcas unklar, wie es übrigens die ganze Überlieferung ist. Zu den schon oft erwähnten, berühmten Königen vgl. das Personenreg. Kypern, das nach dem Tod Alexanders des Grossen an die Ptolemäer übergegangen war, gelangte 58 v. Chr. an Rom. Dafür sorgte vor allem Pompeius der Grosse in einer Grossaktion 67.

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76 Petrarca denkt an die Hadriansmauer, die 122–128 erstellt wurde. 77 Schon während des Gallischen Krieges 58–51 erstellte Caesar Pionier- und Pontonbrücken. 78 Um die selbe Zeit wurde die Donau schiffbar gemacht; auch wurde für den Strom eine Kriegsflotte zum Schutz gegen die Barbaren gebaut. 79 Den Ciminius mons im Süden von Etrurien, als besonders rauh geschildert, überschritt 310 Quintus Fabius Maximus Rullianus (s. oben Abschn. 42) auf dem Siegeszug gegen die Etrusker. Er war fünfmal Konsul, auch siegreich gegen die Samniter. 80 Alpenpässe fand bereits Hannibal vor. Er stieg wohl über den Col du Clapier und den Mont Cenis. Zu den Übergängen aus der Römerzeit gehören Mont Genèvre, Gr. und Kl. St. Bernhard, Splügen, Maloja, Julier, Septimer, Reschenscheidegg, Brenner. 81 Durch die Pyrenäen zog Cato (Censorius) 195. 82 Das sind die Waldungen nördlich der Donau. 83 So in den Punischen Kriegen, in Kämpfen gegen Mas(s)nissa und später gegen Iugurtha. 84 So in den Kämpfen mit dem Seleukiden Antiochos III. und mit Mithradates. Die Meerenge Euripos zwischen Euböa und Böotien war berüchtigt wegen häufiger starker und – je nach Mondständen – die Richtung wechselnder Strömungen. Das Schwarze Meer hiess Pontos Euxeinos. 85 Die Grosse Syrte entspricht dem Golf von Bengasi, die Kleine Syrte dem Golf von Gabes. 86 Dies geschah durch Scipio Africanus Maior 209. 87 Bekämpft wurde die Stadt in drei Punischen Kriegen zwischen 264–146 und wurde unter dem jüngeren Scipio Africanus zerstört. 88 Zerstörung von Numantia durch Scipio den jüngeren 133 v. Chr.; von Jerusalem 70 n. Chr. durch Titus; von Korinth 146 v.Chr durch L. Mummius. 89 Einnahme von Syrakus 212 v. Chr.; von Capua 210 v. Chr.; von Tarent 209 v. Chr. 90 Unterwerfung von Spanien unter Augustus; von Gallien unter Caesar. Zu Germanien rechneten die Römer das Gebiet bis an die Weichsel; doch eine römische Provinz wurde nur das linksrheinische Gebiet. Der grösste Teil der Eroberungen rechts des Rheins ging durch die Niederlage des Varus im Jahr 9 im Teutoburgerwald wieder verloren. 91 Ähnliche Klage in Fam. 2,5–7; 12,2,33. 92 Manil. 13,38. 93 Vgl. Wilkins, Eight years 222 und 225.

Fam. 23,1, an Unbekannt1 Entrüstung und Klagen vor einem, wer immer er sei, weil er jene sogenannten Räuberbanden zerschlagen müsste, die eben Italien durchstreifen. 1. Anrufungen an Feldherren der Antike. 10. Frage an Christus. 14. Anrufung Gottes. 1. September (1360 oder 1361/62).

1. Ich spreche; dazu bin ich gezwungen. Mich drängt das Pflichtgefühl und bohrt mir ins angstvolle Innere feurige Stacheln, die mir zu schweigen verwehren. Und ich weiss, ich spreche vergeblich, und wenig hilft mir der Trost Ovids,2 der da sagt: „Worte verschwenden ist leicht.“ Im Gegenteil! Nichts ist schwieriger für einen Menschen, der das Schweigen liebt. Ich spreche dennoch, aber gezwungen, wie ich sagte. Und ich spreche zu Euch! Doch zu wem? Wehe, ich weiss es nicht! 2. Oh Brutus, der Freiheit und Züchtigkeit gewaltiger Rächer!3 Du hast die stolzen Urheber der schmutzigen Knechtschaft vom Thron gestossen und bist den Lehrern der Unzucht mit dem rächenden Schwert bis in die Unterwelt nachgejagt. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.4 Oh Camillus, Du ruhmreicher, Du hast die von unserem Blut überschäumende Raserei von jenseits der Alpen in eben dem Aschenhaufen des noch rauchenden Vaterlandes erstickt. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.5 3. Oh Scipio, Du grösster der Helden, Du hast Hannibal, als er schon siebzehn Jahre lang Italien bedrängt hatte, von hier mit Gewalt zurückgedrängt und dank wetteifernder Hilfe von Tüchtigkeit und Glück in seiner Heimat auf wunderbare Weise zerschmettert. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.6 Oh Aemilius Paullus, Du hast die Könige Makedoniens, die sich im Stolz auf ihre alte Herrschaft gegen Italien empörten, in Ketten vor den Siegeswagen gespannt, auf das Kapitol getrieben und das Joch des römischen Imperiums tragen gelehrt. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.7 4. Oh Marius, „Du Bauersmann, doch wahrhaft ein Mann“, wie Dein Mitbürger Cicero8 gesagt hat, Du hast die Barbaren, die in Italien einbrachen, in ihren eigenen Grenzen mit solchem Ansturm überwunden, dass, wie Florus9 sagt, aus den geröteten Fluten das durstige Heer „weniger Wasser als Blut trank“; darauf hast Du Dich mit wunderbarer Raschheit zu einem anderen Erdteil gewendet und das Wüten der Kimbrer so tüchtig gebändigt, dass die allseits besiegte Barbarei kaum die Haufen ihrer Leichen und die siegreiche Roma kaum die Scharen ihrer Gefangenen bewältigten. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.10 5. Oh Magnus Pompeius, Du hast die schändlichen Räuberbanden, welche die römischen Flotten und die Küsten Italiens unsicher machten und bereits auf dem

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ganzen Meer ihr Unwesen trieben, in kürzester Zeit bezwungen und in Ketten zusammengeschlossen. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen und Dich bitten, Du möchtest so, wie Du alle verseuchten Meere gesäubert hast, jetzt – ich sage nicht: alle Lande, aber – wenigstens Dein Italien, das durch eine neue Schar von Räubern elendiglich besudelt wird, mit Deiner gewohnten Tapferkeit reinfegen.11 6. Oh Iulius Caesar, Du hast feindliche Einfälle nicht abgewartet, sondern hast eiligst die Alpen überwunden, Rhein, Rhone und Garonne entschlossen überquert und (ob Glück oder Mut überwog) mit Deinem siegreichen Heer Germanien, Gallien, Britannien und Spanien durchzogen. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.12 Oh Caesar Augustus, von Deinem höchsten Thron hast Du auf die Könige der Erde und die Gesandten aller Völker herabgeschaut, die hingestreckt zu Deinen Füssen lagen, ja, um es richtiger zu sagen, herabgeschaut auf den ganzen Erdkreis, der flehend vor Dir hingegossen lag. Du hast Frieden hergestellt zu Wasser und zu Land und den Kriegstempel des Janus aufs segensreichste geschlossen. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen.13 7. Oh Vespasianus und Titus, hervorragendes Menschenpaar! Und einer des andern würdig, der Sohn des Vaters und der Vater des Sohnes! Ihr habt in einem einzigen Anlauf, was nie vorher geschehen war, für Christus glorreiche Rache und auch herrlichen Triumph über Jerusalem heimgebracht. Dass Ihr lebtet! Zu Euch wollte ich sprechen, und Euch wollte ich ermahnen, das Unrecht wider Christus aufs neue zu rächen.14 8. Oh Traian, Du tapferster Held, Du hast, als das Imperium vor Altersschwäche erkaltete, seine Glieder mit dem starken Feuer der Begeisterung wieder erwärmt und entgegen aller Hoffnung zur Verjüngung gezwungen. Und gewiss war niemals sonst das Imperium so eiskalt und hinfällig und niemals Dein Feuer notwendiger. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen und Dich bitten, dem sterbenden Vaterland zu Hilfe zu kommen und nicht darum, weil Du in Spanien geboren wurdest, Deines italischen Ursprungs zu vergessen.15 9. Oh guter Theodosius, Du hast mit einer kleinen Kriegsschar, doch unterstützt durch göttliche Hilfe, mit den Elementen, die für Dich kämpften, und mit den Winden, die sich mit Dir verschworen, die barbarischen Geschosse, die aus furchtbaren Köchern gegen uns gerichtet waren, in wunderbarer und unglaublicher Weise zum Verderben der Barbaren auf deren eigene Reihen zurückgedreht. Dass Du lebtest! Zu Dir wollte ich sprechen!16 10. Doch was kann ich tun? Sprechen tut not, und keiner ist da, den ich ansprechen könnte. Ausschicken17 will ich meine Reden in die Wolken; vielleicht wird ein freundlicherer Geist, der das Gute begünstigt, sie mir von den Lippen heben und irgend einem erhabenen Ohr überbringen, wo sie ertragreich sein werden. Doch wünsche ich das eher, als dass ich es hoffte. Denn was bleibt mir an Hoffnung? Was wird getan?

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Oh Jesus, Du Erhabenster, wo hast Du Deine Augen, mit denen Du einst aus der Höhe zu uns hernieder schautest? Du machtest uns nicht allein ruhmreich vor aller Welt, sondern auch beneidenswert. Doch diesen mächtigen Umsturz des Glücks, diesen so plötzlichen Gewaltakt des Schicksals – oder wie immer ich das, was mein bekümmertes Herz bedrängt, in Worten ausdrücken sollte –, hast Du gewiss gesehen. 11. Und Du warst auch dabei, als die geringe Schar unserer Väter18 bald unter dem Bären, bald im Süden, bald im fernsten Sonnenaufgang und fernsten Sonnenuntergang zum Erstaunen und Erschrecken der Völker und Könige ihre siegreichen Fahnen umhertrug, hier die Habgier zügelnd, dort den aufgeblähten Übermut zähmend, hier die furchtbaren Wallungen des Zornes besänftigend, dort der heftigen Leidenschaft ein Joch auferlegend und schliesslich überall immer etwas wirkend, damit von ihrem herrlichen Durchzug grossartige Spuren zurückbleiben würden und der ganze Erdkreis, wiewohl gebändigt, entweder das schon empfangene Haupt verehre oder das noch vorenthaltene schweigend ersehne. 12. Wie viele Werke unserer Ahnen strahlen in allen Ländern gleich den am Himmel ausgesäten Gestirnen! Wie viele wunderbare Taten! Wie viele Beispiele der Tugenden! Welch grosser Name! Welch grosse Denkwürdigkeiten! Wie viele Städte ringsum! Wie viele Kolonien! Wie viele hochragende Trophäen auf erschrecklichem Marmor als Drohung in unterworfenen Gebieten! Wer könnte das alles herzählen, was die ganze Welt, zwar widerwillig, wahrnimmt und, wenn auch entrüstet, in der Erinnerung festhält? 13. Wie also steht es jetzt? Was soll ich beklagen? Was soll ich beweinen? Was soll ich beschuldigen? Sieh da, eine geringe Räuberhorde, aus tausend Kellerlöchern herbeigeholt, durchstreift das über alle Länder herrschende und siegreiche Italien und fordert vor allen andern Provinzen sie, die Königin aller Provinzen, für sich zu eigen! Weh, wer nimmt sich unserer Schande an, wenn an Rettung zu denken schon zu spät ist? Wer wird unseren Häuptern den Schleier des Selbstbetrugs oder des Nichtwissens leihen, wenn da keiner ist, der unseren Plagen Abhilfe schafft? Gestattet sei, wenigstens zu verkennen, was wir leiden, oder die grässlichen Narben unserer Wunden nicht zu sehen! 14. Ich wollte Dich flehentlich bitten, Du Grossmächtiger,19 den ich zu nennen nicht wage, Du möchtest uns Deine Rechte reichen, denn es schien, es sei Dir möglich und darum eine höchste Pflicht. Doch, wie ich sehe, bist Du nun völlig taub geworden. Und da nun zu irgendeinem Menschen zu sprechen, schon nicht mehr hilft, wende ich meine Bitten an Dich, Du letzte und grösste Hoffnung der Sterblichen. Wenn Du meinst, oh Schöpfer des Alls, dass wir Deine Wohltaten allzu gedankenlos nutzten und den Kopf vielleicht höher trugen, als es sich bei so grosser und beständiger Gunst Deiner Göttlichkeit gebührte, und wenn Du uns durch das Gegenteil strafen wolltest, dann verwandle das Antlitz der Erde! Dein ist Fortuna,

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Dein sind die Schicksale,20 Dein die Wechsel der menschlichen Erfolge. Anmassend haben wir geherrscht; bescheiden wollen wir dienen. Nimm weg das Joch dieser Räuber, wenn wir nie nach der Art von Räubern gekämpft haben. Wenn wir Dich beleidigten und wenn Dir unsere Freiheit nicht gefällt, so mögen Dir wenigstens auch die Morde, Sakrilegien, Räubereien, Diebstähle, Ehebrüche und Schändungen jener anderen missfallen! Widersetze Dich so vielen Plagen und erweise Dich jenen gegenüber als Herrn, die in ihrem Herzen gesagt haben: „Es gibt keinen Gott.“21 Den Deinen aber, Vater, hilf! Sie verdienen es zweifellos nicht, doch sie hoffen auf Dich, rufen unter Tränen Deinen Namen an und bekennen freimütig, dass „kein anderer ist, der für uns kämpft“,22 wenn nicht Du, unser Gott. Am 1. September (1360/1361/1362).23

Anmerkungen 1 Thematisch schliesst sich dieses Schreiben insofern an Fam. 22,14 an, als sich die Klagen Petrarcas schon dort auf die Verwahrlosung von Söldnerheeren und deren grossen Schaden für Italien bezogen. Petrarca denkt übrigens in erster Linie an eine ganz bestimmte Bande, die unter Hanneken von Baumgarten, cum Anichino de Mongarda das Land verheerte; vgl. die Anm. bei Rossi zu diesem Schreiben. Es steht lateinisch auch bei Piur, Briefwechsel 228 ff. und lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 562 ff. An beiden Orten sind alle Briefe Petrarcas an Karl IV. zu finden. 2 Her. 7,6. 3 Lucius Iunius Brutus ist gemeint, der Lucretia an ihrem Schänder Tarquinius Sextus gerächt, den letzten römischen König Tarquinius Superbus vertrieben und um 509 die Republik begründet haben soll. Petrarca nennt ihn auch Fam. 10,1,16 und erwähnt dort seinen Zweikampf mit einem Tarquinier, in dem beide fielen. Von diesem Zweikampf, an den Petrarca auch hier wenigstens erinnert (Verfolgung bis in die Unterwelt), heisst es bei Liv. 2,6,6, Brutus habe ihn mit Ar(r)uns Tarquinius ausgefochten. Zu den folgenden, schon oft erwähnten Namen vgl. das Personenreg. 4 Die Anrufungen folgen sich hier nach der Art einer Litanei, was durch die Textgestaltung verdeutlicht wird. Petrarca hat allerdings davon abgesehen. 5 Marcus Furius Camillus, erfolgreich im Kampf gegen Volsker, Aequer und vor allem und mehrfach gegen Gallier nach deren Zerstörung Roms 390 (?) v. Chr. 6 Scipio Africanus der Ältere ist der Held in Petrarcas Africa. Er bekämpfte Hannibal in Spanien und Sizilien, bevor er nach Afrika übersetzte und ihn bei Zama 202 entscheidend schlug. 7 Die entscheidende Schlacht gegen Perseus fand bei Pydna 168 v. Chr. statt. Perseus wurde im Triumphzug vorgeführt und starb in der Haft. 8 Tusc. 2,22,53; vgl. Fam. 7,15,9. 9 Das selbe Zitat aus Flor. Epit. 1,38,9 in Fam. 22,14,28 f. Vgl. die folgende Anm. 10 Marius kämpfte in Numidien gegen Iugurtha ab 107 v. Chr. und triumphierte über ihn 104; dann wandte er sich gegen Kimbrer und war 101 bei Vercelli siegreich. 11 Die Vertreibung der Piraten gelang Pompeius 67 innerhalb von drei Monaten. Aufgerufen wird er durch Petrarca, gegen die Söldnerbanden vorzugehen, die ganz Italien verheerten 12 Caesar war 62–61 in Spanien; es folgten 58–51 seine Kriege in Gallien, 55 und 54 in Britannien; mehrmals überquerte er den Rhein. 13 Die Friedenszeit unter Augustus, 30 v. Chr. bis 14 n. Chr., wurde mehrfach unterbrochen; der Tempel des Ianus wurde in Abständen dreimal neu geöffnet und geschlossen.

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14 Die Zerstörung Jerusalems fällt ins Jahr 70 n. Chr. Petrarca dachte an die Notwendigkeit eines neuen Kreuzzuges. Konstantinopel wurde von den Türken hart bedrängt und ersuchte Papst Innozenz VI. 1355 in Avignon um Hilfe. 15 Traianus, * 53 in Italica (bei Sevilla) in Spanien, regierte 98–117 und erhielt vom Senat den Titel optimus princeps. 16 Petrarca denkt an die Schlacht von Theodosius dem Grossen gegen den mit heidnischen Senatoren verbündeten Usurpator Eugenios 394 n. Chr. die er schon Fam. 3,3,5 erwähnte. Vgl. Aug. De civ. 5,26. 17 Lateinisch: effundere, genauer übersetzt: ausgiessen; doch es fehlt hier dafür das Gefälle. 18 Vgl. Fam. 22,14,60 ff. 19 Es ist Karl IV. gemeint. 20 Mit der Klage über das allgemeine Verderben war in Fam. 22,14 die Frage nach dem Wesen der Fortuna erneut gestellt worden, die schon in Fam. 22,13,7 aufgeworfen worden war. 21 Ps. 13,1 und 52,1. 22 Deut. 1,30 und 3,22. 23 Vgl. Wilkins, Eight years 242 und Petr. corresp. 85. Zu allen Briefen vgl. man auch Dotti, Vita die Angaben gemäss seinem Indice dei luoghi.

Fam. 23,2, an unseren Cäsar1 Zuerst liebevoller Dank für geschenkte Vertraulichkeit, dann wegen Vernachlässigung der Republik und der Kaiserherrschaft scharfer Tadel und eindringlichste Ermahnung. 1. Das Wohlwollen des Kaisers macht Petrarca glücklich. 6. Die Seltenheit der Begegnungen kommt zum Teil von des Dichters Unfähigkeit, sich von Italien zu trennen. 9. Zum andern Teil ist sie Folge von Karls Vernachlässigung seiner kaiserlichen Pflichten. 10. Erneute Ermahnungen, sie unverzüglich wahrzunehmen. Zitate aus alten Dichtern. 14. Der heutige Tag ist zum Handeln stets der beste. 23. Beim Romzug von 1355 war Furcht nicht angebracht. 27. Die Gefahren waren unerheblich. 28. Liebe zur Heimat darf Karl nicht geltend machen. 31. Seine hohe Stellung verbietet ihm diese Freiheit. 34. Frühere Gründe zum Aufschub sind weggefallen. 35. Der Papst darf den Kaiser an der Besitznahme Roms nicht hindern. 40. Zu den Aufgaben des Kaisers gehört die Hilfe für Jerusalem. 43. Auf ein geheimes Anliegen Karls antwortet Petrarca in einem besonderen Schreiben. Mailand, am 21. März (1361).

1. Froh gemacht hat mich Dein Brief, Cäsar, und wie sollte er nicht, da ja die blosse Erinnerung an Dich zu erfreuen pflegt, zumal mir dabei der Gedanke kommt, dass ich der kaiserlichen Majestät teuer sei, und dies ohne dass ich wüsste weshalb, wenn nicht dank Deiner Menschlichkeit und meinem Schicksal. Oder, um hierüber vernünftiger zu sprechen, verdanke ich es gewiss nicht einem bestimmten Einfluss der Sonne, unter dem ich geboren wurde, auch wenn mir schon in der Kindheit irgendein berühmter Astrologe prophezeit hat, auf Grund der gewissen Konstellation würde ich bei fast allen Fürsten und ausgezeichneten Männern, die meine Zeit hervorgebracht habe oder noch hervorbringen werde, ungewöhnliche Vertrautheit und ausnehmende Gunst geniessen; nein ich danke es vielmehr der Gabe dessen, der Sonne und Gestirne erschaffen hat, also der des allmächtigen Gottes. 2. Für Dein Wohlwollen habe ich neben vielen anderen Beweisen auch diesen, dass Du, erhabener Kaiser, selbst bei so grosser Distanz der Zeit und des Raumes das Andenken an mich so frisch bewahrst und dabei als der höchste der Menschen dem niedrigsten einen Austausch der Liebe beinahe wie einem des selben Ranges zu gewähren für richtig hältst. Das ist zu unserer Zeit eine Ungeheuerlichkeit, da jetzt, wie Du weisst, ein jeder, und wäre es nur wegen geringer Erhöhung, schon hochmütiger zu sein pflegt und die tiefer Gestellten mit drückender Verachtung kränkt sund erniedrigt. 3. Indem ich solches schweigend bei mir überdenke, empfinde ich, welch grossen Wert bei mir eben Deine Herablassung habe. Denn hättest Du auf dem höchsten Gipfel Fortunas,2 wie es Sitte ist, Dir Überheblichkeit zugelegt, dann würdest Du Dir nicht gestatten, mich auch bloss zu kennen. Doch gewiss, einen hochgesinnten und wahrhaft kaiserlichen Geist bläht Fortuna nicht auf; sie engt ihn nicht ein, sie hebt ihn nicht hoch und wirft ihn nicht nieder. Daher würdigst Du mich nicht allein der freundlichen Bekanntschaft, sondern auch liebenswerter Briefe,3 was unter meinen Ruhmestiteln, sofern es solche gibt oder geben wird, nicht

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den letzten Platz einnimmt oder einnehmen wird. 4. Wenn einem Vergil oder Flaccus zur Ehre gereichte, des Kaisers Augustus Bekanntschaft, Umgang und Briefe zu verdienen,4 wie sollte da ich als ihr Nachfolger – zwar nicht in der Begabung, aber doch in der Zeit und vielleicht auch in der Meinung der Menschen – mich nicht ebenso rühmen, wenn ich vom Nachfolger jenes Fürsten Ähnliches verdiente? 5. Wahrhaftig habe ich für mich allein an Freundlichkeit und an Briefen keine geringere Menge von Dir erhalten als jene beiden zusammen von ihrem Kaiser. Und werde ich hinsichtlich der Begegnungen5 von ihnen übertroffen, so liegt das nicht vor allem an der Hoheit Deines Kaisertums (denn Du pflegst diese Hoheit, obwohl sie das Mass menschlicher Verhältnisse weit überragt, zur Erhöhung verdienstvoller Männer oder solcher, die Deinen Ruhm verklären, gern und freudig vor ihnen zu senken), sondern es liegt vielmehr an mir selber, an meiner eigenen Zurückhaltung und an meiner Liebe zu meinem Vaterland. Lachen wirst Du vielleicht über meine Schwäche und erkennen, wie viel mir auch jetzt zur wahren Lebensweisheit noch mangelt. 6. Was ich bisweilen vermochte, das vermag ich jetzt, wie ich gestehe, nicht mehr, nämlich gleichmütig auf längere Zeit von Italien fern zu sein, sei’s dass die Vertrautheit der Heimaterde oder sei’s dass meine Einschätzung ihrer Vorzüge es hindere. Ob diese richtig sei oder nicht, bleibt ungewiss, aber dauerhaft und unerschütterlich ist seit meiner frühesten Jugend in meinem Herzen die Meinung verankert, durchaus nichts sei auf der ganzen Welt und unter dem Himmel mit Italien vergleichbar, ob man nun die Vorzüge der Natur oder die der Menschen betrachte. 7. Hätte ich mich davon nicht zutiefst überzeugt, wäre ich zweifellos weniger schwerfällig gewesen, weder Dir gegenüber, als ich einst fühlte, dass Du – so wenig ich es verdiene – meine Gegenwart wünschtest,6 noch kürzlich gegenüber Deinem Verwandten, dem König der Franken,7 dem wahrhaft erlauchtesten und mildesten aller Könige. Dieser hat mich nicht allein mit Bitten bestürmt, sondern hat auch freundschaftlich beinahe Hand an mich gelegt, um mich am Fortgehen zu hindern, und hat mich schliesslich mit einem feurigen Schreiben bis zu diesen Statthaltern, Deinen Getreuen,8 verfolgt, meinend, sie sollten mit freundlicher Überredung mich erweichen und zur Rückkehr bewegen; ja, er hat schliesslich durchaus nichts von all dem unterlassen, was den Anschein erweckte, es habe der oben erwähnte Astrologe mir nichts vorgelogen, der vieles zu lügen gewohnt war. 8. Dabei war mir keineswegs verborgen, dass ich ohne einen Anstrich von Verwegenheit den Wunsch eines so bedeutenden Königs nicht ausschlagen dürfe! Hätte nur nicht jener kräftigere Haken mich festgehalten, eben die Liebe zur Heimat und zudem, um nichts zu verschweigen, eine seelische Bürde, die eine Wende zu dem bereits zunehmenden Alter hin verstärkt,9 so dass ich nicht leicht mit all meiner Habe den Wohnsitz vertausche. 9. Kommt dazu jene Meinung, an die ich weiter oben erinnert habe, nämlich die über den Prinzipat Italiens. Sie allein hat mir den Mut eingegeben, mich bis

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heute immer wieder mit Worten an Dich zu wenden, nicht bloss um eine Ermahnung sondern auch einen Tadel zu wagen, weil Du an den letzten Platz zu verweisen scheinst, was Mutter Natur, nach meiner Überzeugung, an den ersten gestellt hat. Und wenn Du so fortfährst (und dass Du nur ja nicht klagst, Du seist nicht gewarnt worden!), so werde ich auch wagen, Dich der Nachwelt mit einer Anklageschrift zu überantworten! Was denn tust Du, ich bitte Dich, Cäsar? Was tust Du Dich schwer? Was zauderst Du? Woher, wenn nicht von eigener Anstrengung erwartest Du Ehre? Sonderbar, wenn die Kraft eines solchen Geistes und wenn solcher Scharfsinn – ich sage nicht stumpf geworden ist (fern sei, dass ich es wagte), aber – im allzu langen Nichtgebrauch sich mit einer Kruste bedeckt hat. 10. Elf Jahre, sofern ich nicht irre, sind es her,10 seit ich zum ersten Mal Deine Aufschiebungen tadelte, Dir damals noch unbekannt, doch voll Verlangen, bekannt zu werden und voll Liebe zum Kaisertum. Wenn Du meinen Freimut damals nicht nur geduldet, nein auch gelobt hast,11 gebührt mir jetzt, da wir älter sind, noch etwas mehr an Freimut, Dir aber an Entschuldigung etwas weniger. Überlies, was ich damals geschrieben, und Du wirst sehen, mit wie viel grösserem Recht Dir jetzt alles Einzelne wiederholt werden kann, weil eine ungemein günstige Gelegenheit versäumt wird und vom Leben noch mehr vergangen und weniger übrig ist. 11. Siehst Du nicht, wie die Zeit verfliegt und die Jahre sich fliehend überstürzen? Begreifst Du nicht, mit wie viel Eifer Du Dich zuerst um mannhafte Gesinnung und gutes Gewissen, danach um Deinen Ruhm und das Urteil der Nachwelt zu kümmern hast? Bedenkst Du nicht, dass, wenn Du hingehst und vom Thronsitz herabsteigst (was Du zweifellos einmal tun musst), Dir keine Hoffnung auf Rückkehr bleibt und „die Tüchtigkeit Deines Nachfolgers“ (wie zu Traian eine unglückliche Alte gesagt haben soll12) Dir über Deine Schmach nicht hinweghelfen wird? „Wenn Du einstens vergehst und Minos die allseits berühmten Urteile spricht über Dich, Dann, Torquatus, hilft der Adel Dir nicht, noch die Sprachkunst, Ja selbst die Frömmigkeit nicht.“ So sagt Flaccus.13 12. Und hörst Du nicht Vergil?14 „Eben der beste Tag entflieht den unseligen Menschen Immer als erster“. Und denselben:15 „Keiner entgeht seinem Tag; kurz ist und unwiederbringlich Jedermanns Lebensfrist; aber Ruhm zu vermehren durch Taten, Dies ist der Tüchtigkeit Werk.“

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Hörst Du nicht nochmals Flaccus?16 „Niederdrückt der Tag den Tag, Und neue Monde steigen, um zu sinken; Du hast Marmor Dir bestellt Und bist schon nah dem Grabe; doch, des Todes Unbewusst, baust Du ein Haus.“ Hörst Du nicht Lucan?17 „…es erscheint die Stunde, die alle Feldherren eint: Nun voran in den Tod!…“ Und denselben:18 „…nicht macht mich die Weissagung sicher, Nein, der sichere Tod; es muss fallen der Feige und Tapfre; Iupiter sagt’s; drum sei’s Dir genug…“. 13. Hörst Du nicht Statius? Er sagt:19 „Nütze den Tag, um auf ewig in Ruhm Dich zu kleiden!…“ Und nochmals ihn:20 “…Spulen ja nie die grausamen Parzen den Faden Rückwärts…“ Hörst Du nicht Iuvenal?21 „…in hurtigem Lauf beeilt sich zu fliehen Jugend, die kürzeste Frist eines traurigen, allzu beengten Lebens; und uns, die wir trinken und Kranz und Salben und Mädchen Fordern, beschleicht – selbst wenn wir es nicht beachten – das Alter.“ Und hast Du Dir vielleicht – wie viele tun – ein langes und spät eintretendes Alter versprochen, weshalb Du den Zeitverlust leicht nimmst, hörst Du dann nicht denselben noch sagen:22 „… Einstmals Galt’s als Wunderding, in höherer Würde zu altern. „ 14. Wenn das für „einstmals“ galt, was vermuten wir für heute? Und wenn „in höherer Würde“, wie dann in Kaisermacht? Überfliege die Annalen! Viele sind im Alter zum Kaisertum gelangt; nur wenige haben als Kaiser ein hohes Alter erreicht. Ist das Leben aller Sterblichen kurz, so ist das der Fürsten am kürzesten23 und vom inneren Widerstreit der Sorgen zermürbt wie von äusseren Tücken umzingelt. Ist daher für jeden das tatenlose Zögern verderblich, so ist es für den Kaiser am weitaus

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verderblichsten, denn er hat mehr Pflichten und weniger Zeit und – wie man zu sagen pflegt – einen längeren Weg an einem kürzeren Tag. 15. Sieh nun, Cäsar (ich erkenne nämlich von hier aus, was bei Dir vorgeht, denn die Liebe ist eine grosse Späherin und eine tüchtige Wächterin), mit Beratungen bringst Du Dein Leben hin. Doch Beratungen sind, werden sie nicht zur Tat, leeres Gedankenspiel und nutzlose Grübeleien. „Morgen fange ich an und übermorgen ziehe ich aus.“ – Warum denn, so frage ich, nicht heute? Ist nicht immer der morgige Tag klarer und der heutige trüber? 16. Und wird nicht vom grössten der Sänger, wie Du gehört hast, „der beste Tag“ als „der erste“ bezeichnet? Der erste, das ist der von heute; denn wir haben von den vergangenen Tagen nichts als die Erinnerung. Für das, was unmöglich ist, gibt es keine Beratung,24 und für die Zukunft gibt es nichts ausser die Ahnung und die Verlockungen falscher Erwartungen. Und wollte etwa einer, weil dieser Tag und der morgige einander gleich sind, verneinen, dass dieser hier näher und damit auch sicherer ist? Denn ob der andere, sollte er sich einfinden, uns auch noch vorfinde, ist zweifelhaft. Dieser hier wird jedenfalls, wenn er gegangen ist, nicht wieder kommen. 17. Was suchen wir stets das Abwesende? Das Anwesende müssen wir fassen und darauf dringen, dass es uns nicht ungenützt entweiche. Das ist allen dienlich, Dir aber dermassen notwendig, Cäsar, dass Du ohne solches Bemühen bei noch so grosser Anstrengung und Tüchtigkeit für Deine Regierung keine Rechenschaft wirst ablegen können.25 „Und wem“, so wirst Du fragen, „schulde ich für meine Regierung Rechenschaft?‘“ 18. Dir selber, Cäsar. Und ich will nicht bezweifeln, dass Du sie oftmals von Dir forderst. Aber nicht sonderlich hart erscheint Dir dieses Erfordernis? Kein Tadel ist so beissend wie der gegen sich selber und keiner ist heilsamer. Ausserdem schuldest Du sie diesem Zeitalter, das zu Dir aufschaut und auf Dich allein seine Augen gerichtet hält, wie auch den kommenden Jahrhunderten, deren Urteile länger dauern und freimütiger sein werden. Schliesslich jenem ewigen Herrscher, der Dich über diese zeitliche Herrschaft gesetzt hat, nicht damit Du Thron und Zepter, und nicht damit Du den leeren Titel der Herrschaft besitzest, sondern damit Du regierest, damit Du herrschest und damit Du den traurigen Zuständen Abhilfe schaffest. 19. Warum entziehst Du Dich? Warum verschwendest Du, vorgebeugt zum Morgen, das Heute? Kein Platz ist da in der heutigen Not für das Morgen. Wirke Du heute, was sich aufdrängt! Wenn morgen etwas vorfällt, wirst entweder Du handeln oder ein anderer. Den kommenden Zeiten wird es an eigenen Führern nicht fehlen, und sollten sie fehlen, wirst immerhin Du nie wegen der Schlaffheit eines andern verklagt werden. Sei besorgt, Deiner eigenen Zeit nicht zu fehlen! Übrigens ist dieses Morgen, das uns in der Schwebe hält und Trägheit bewirkt, ja das in der Zukunft erwartet wird, schon vergangen! Kein Tag nämlich ausser dem ersten ist nicht eines anderen Tages Morgen gewesen. 20. Willst Du hören, was dazu ein gewisser jugendlicher Dichter26 sagt?

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„Morgen geschieht’s, ja morgen geschieht’s! Wie? Meinst Du, man schenke Je einen vollen Tag? Aber nein; denn folgt nun der nächste, Haben wir schon verzehrt das gestrige Morgen; ein andres Morgen treibt diese Jahre voran und wahrt seinen Vorsprung. Denn, wie nah es Dir sei, bei Dir an dem gleichen Gefährte, Reckst Du Dich ohne Erfolg nach dem ständig sich drehenden Reifen, Läufst als das hintere Rad und bleibst an der hinteren Achse“. Wie nun? Hat Persius etwa in einem Alter der Unerfahrenheit und Unreife die allgemeine Blindheit gründlich durchschaut, während wir im Alter grösserer Reife eben diese nicht sehen wollen? Es gilt, seine Augen zu öffnen und seinen Sinn festzuheften, auf dass wir uns nicht täuschen und uns nicht in unverbesserlichen Irrtum verwickeln. 21. Warum aber gehe ich jetzt von Tür zu Tür den Stätten der Dichter nach? Doch bloss in der Hoffnung, Du werdest, weil Dich vielleicht meine Stimme wegen mangelnder Autorität nicht bewogen hat, durch das Zeugnis so grosser Geister bewogen. Nie hat es einen Dichter oder Philosophen gegeben, der nicht das selbe gesagt und empfunden hätte. Sie widersprechen sich in manchem, doch hierin gehen sie einig. Und wenn sie alle schwiegen oder verneinten, würde gewiss, wie man zu sagen pflegt, die Sache selbst sich bezeugen. Und wenn einer sie verhehlen wollte, würde er sie – ob auch ungern – erleben. Denn just bei der Türe steht die Erfahrung, und mag einer die Augen verschliessen: Die Wahrheit dringt ein. 22. Weiter, um manches zu übergehen, was freilich von solcher Einsicht und so unbestechlichem Urteil nicht übergangen werden kann: Hast Du nicht in eben dem Brief, den Du mir geschrieben hast,27 angemerkt, man stehe im sechsten Jahr Deiner Regierung? Was folgt daraus? Wartest Du vielleicht das sechsundfünfzigste ab? Dem Kaiser Augustus wurde es beschieden,28 doch weiss ich nicht, ob man es wünschen darf, erhoffen nicht im geringsten. 23. Gekommen bist Du hierher nach Italien, Cäsar, nach jenen meinen Ermahnungen, und ich glaubte, an Deiner Ruhmestat Anteil zu haben, weil ein Sporn selbst ein hitziges Pferd noch vorantreibt. Gekommen bist Du, sage ich, und wie ich Dir im Vertrauen auf himmlische Hilfe versprochen, hast Du alles zugänglich und lenkbar gefunden, was verschlossen und abweisend erschienen war. Mailand hast Du betreten, darauf Rom und hast in diesen Städten die doppelte Krone erworben;29 und kaum dass die Menschen und Städte grosse Hoffnung geschöpft hatten, bist Du plötzlich nach Germanien zurückgekehrt. 24. Und weshalb? Welche Irrung oder welche Wirrung hat Dich erschüttert? Hast Du Dich etwa vor Tumültchen gewisser Empörer gefürchtet?30 Doch das muss jeder sich einprägen, dass man vor einer Schiffahrt mit stürmischem Wetter zu rechnen hat. Wusstest Du also nicht, dass kein Meer ohne Wogen ist, kein Berg ohne Winde, keine Herr-

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schaft ohne Sorgen? 25. Ich spreche nicht von den Scipionen, die von ihren Heeren verlassen, die Treulosigkeit der Soldaten zuerst mit dem Tod der Verräter, dann, als die Lage es forderte, mit dem eigenen Tod überwanden.31 Ich verweile nicht bei Alexander, der die Revolten seiner Leute, ihre heimlichen Ränke und Machenschaften niederschlug. Mit grösserer Freude wirst Du die Beispiele der Deinen vernehmen.32 Iulius Caesar,33 als einzelner von einem ganzen Heer umzingelt, blieb nicht bloss unerschrocken, sondern vermochte auch Schrecken zu verbreiten, dies dank überragender Geistesgegenwart und unbezähmbarer Manneskraft, und war durch die Hinrichtung weniger Leute und durch die Beschämung einer einzigen Legion für das Wohl der Gesamtheit wie für seine eigene Ehre besorgt. 26. Nachgeahmt hat ihn der römische Princeps Alexander,34 und man liest von ihm, er habe häufig schuldige Soldaten hinrichten lassen und „ganzen meuternden Legionen den Abschied gegeben“, dies in erstaunlicher Zuversicht und bisweilen mit beachtlichem Wagemut, so dass er einstmals den Tobenden und den mit Schwertern ihm Drohenden sagte: „Herunter mit den Händen! Auf Feinde müsst Ihr sie richten, wenn Ihr Mut habt! Mich nämlich schreckt solches nicht. Wolltet Ihr mich, einen Einzelnen, umbringen, Ihr würdet das Gemeinwesen, den Senat und das römische Volk zu spüren bekommen; es würde mich an Euch rächen.“35 Kaiser Augustus, so vielen Anschlägen ausgeliefert, hat teils mit gerechter Strenge, teils mit sanfter Milde schliesslich ihnen allen ein Ende gesetzt.36 Ich übergehe die andern, um nicht einen vielbeschäftigten Geist in lange Geschichten zu verwickeln. Ich kehre zu Dir zurück. 27. Was hast Du, obwohl so vielen Gefahren nicht bloss heil, sondern auch ruhmvoll entronnen, gesehen oder vernommen, dass es Dich, einen so bedeutenden Mann, einen Spross aus so bedeutendem Haus, der an so bedeutende Dinge gewöhnt ist und aus so beträchtlicher Höhe auf menschliche Dinge herabschaut, aus der sicheren Hochburg kaiserlicher Gelassenheit verdrängte? Nichts darf jenem Geist zu gross, nichts darf jenem schwierig erscheinen, der das gewaltige Gewicht des Imperiums auf seine Schultern zu laden sich nicht gescheut hat. Das grösste aller Güter hast Du an jenem Tag übernommen, als Du den Namen und Titel eines Kaisers empfangen hast. Wen das Höchste nicht schreckte, wie soll den ein Geringes erschüttern? 28. Doch Du wirst vielleicht sagen, nicht Schrecken habe Dich von hier vertrieben, sondern Liebe habe Dich dorthin gezogen; weshalb Dir etwa nicht erlaubt sei, wie mir, die Heimat zu lieben. Dem widerspreche ich nicht, Cäsar; im Gegenteil empfehle ich Dir, Deine Heimat zu lieben. Aber in der Tat: Wenn „virtus“ von „vir“ kommt, wie Cicero meint,37 oder „vir“ von „virtus“, kann einem Mann nichts teurer sein als diese Mannhaftigkeit und nichts liebenswerter als sie, weshalb er nach ihrem Verlust nicht bloss sein Bestes vermissen wird, sondern sogar aufhören muss zu sein, was er gewesen war. 29. Mag nun also die Heimat an Dir zupfen, die

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unbezwingliche Manneszucht zieht Dich dennoch nach hier und fordert, Deiner Pflicht, nämlich des Kaisertums, zu gedenken. Da also Laelius bei Cicero,38 indem er von Geringerem redet, erklärt, dass ein zuverlässiger Mann in keinem Fall die Möglichkeit habe, die Ausübung seiner Pflicht zu unterbrechen, was sollen wir dann von der höchsten und grössten aller Pflichten erklären? Durchaus nichts kann sich ereignen, was bei Dir die Zurücksetzung des Kaisertums entschuldigen würde. Andere Sorgen zieren Dich, doch diese vollendet, vielmehr schafft erst den Kaiser. 30. Somit taugt für diese Pflicht und für jene andern nicht die eine und gleiche Überlegung. Jene anderen kannst Du vielleicht verschieben und aufgeben; diese dagegen muss, solange Du Deiner bewusst bleibst, in Deinem Mark und Gebein verhaftet sein. Bei jenen ist Schmuck, hier Schuldigkeit, und dieser sich zu entziehen, verbietet – neben der Sorge um Ruhm – auch die Rücksicht auf Verlässlichkeit. Denn wenn Du sagst, das Gleiche sei Dir erlaubt, was mir, so ist das nicht wahr. Vieles ist mir erlaubt, nicht aber Dir, wie auch vieles meinen Dienern erlaubt ist, was mir verboten ist. Im Mass als die Ehre sich mehrt, wird die Freiheit vermindert, und je höher Du auf den einen Stufen hinaufsteigst, desto tiefer – so wirst Du erkennen – steigst Du auf den andern herunter. Weisst Du, mein Kaiser, was der Gründer der Kaisergewalt gesagt hat? „Auf dem höchsten Rang39 ist die Freiheit am kleinsten.“40 31. Und wie, wenn Du eben Deine eigene Heimat auf keine Weise besser liebtest, mit keiner Mühe besser ziertest, als wenn Du ihren Namen möglichst weit herum bekannt machen würdest? Hätte Alexander sich mit den Grenzen Makedoniens begnügt, wäre der Name dieses Reiches nicht ebenso bekannt geworden. Was meinst Du, wer seine Gattin mehr liebe, jener, der alles vergessend, sich Tag und Nacht ihren Umarmungen hingibt, oder jener, der in der Absicht, sie würdig und reichlich zu umsorgen, keine Reise unterlässt und keine Anstrengung ablehnt? 32. Öfters kommt vor, dass grosse Liebe wie Hass ist. Nie wurde Rom vom Africanus mehr geliebt als zur Zeit, da er es verliess, um nach Karthago zu gehen.41 Weichliche Gefühle und gedankenlose Ratschläge von Gattinnen, Kindern und gewöhnlichen Freunden sind erhabenen Plänen stets abträglich. Zustopfen muss man sein Ohr nach der Art des Odysseus,42 um zwischen den Klippen der Sirenen sich zum Hafen des Ruhmes zu retten. Und wie, wenn sie, die Du als Heimat bezeichnest,43 dies wohl einmal war, nun aber nicht mehr ist, seit Du zur Kaisergewalt gelangt bist? Die eine Heimat hast Du durch Geburt, die andere durch Wiedergeburt erworben.44 33. Du hast gehört, wie der genannte Alexander, kaum im Besitz des Königreichs Makedonien, befahl, man solle ihn nicht als Herrn Makedoniens, vielmehr als Herrn der Welt bezeichnen.45 Und hat er auch oft übereilt gehandelt, will ich doch nicht bestreiten, dass er dieses eine mit hohem Mut getan hat. Dieses selbe zu tun, hat Dich einst die Witwenschaft des väterlichen Reiches gehindert, weil es durch Deinen Wegzug in Gefahr kam, verlassen zu werden und für den Fall, dass

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Dir etwas Menschliches zustosse,46 in fremde Hände zu gelangen.47 Diese berechtigte oder nicht berechtigte Entschuldigung siehst Du durch göttliche Güte weggeräumt, denn sie hat Dir und dem Kaiserreich durch Deine erhabene Gemahlin den mit Gelübden erbetenen Knaben geschenkt.48 34. Bereits hat Böhmen seinen König. Du aber, König Italiens und der Welt, sollst unbesorgt um das Land, das Du verlassen musst, Dein Vaterland und Deinen Thronsitz aufsuchen. Denn selbst wenn Du gemäss dem Ausspruch des Apostels49 „hier keine bleibende Stätte“ haben sollst, steht Dir dennoch (sofern überhaupt irgendwo auf Erden Dein Vaterland ist) das Haus der Cäsaren und als wahres Vaterland eben Rom zu. Ja, dieses ist sogar das allen gemeinsame Vaterland, das Haupt der Welt, die Königin der Erde und Städte, so fruchtbar an rühmlichen Vorbildern, dass ihr blosser Anblick leicht die Herzen begeistert und deren Kruste verschwinden macht.50 35. Welche Gründe wirst Du für Dein Zaudern noch erjagen? Welche andern, Dich hemmenden Fussfesseln wirst Du noch vorweisen? Ich weiss nicht, was Du unter Eidesleistung dem römischen Bischof geschworen hast, so dass Du wie durch einen kräftigen Wall oder einen unbegehbaren Berg am Marsch auf Rom gehindert wirst.51 Jedenfalls wird damit dem höchsten Herrscher die Kaisergewalt und umgekehrt der höchsten Kaisergewalt der Herrscher und – was den grössten aller Verluste bedeutet – Dir Deine Freiheit entrissen! Doch Du hast einen Eid geschworen! Oh hättest Du es nicht getan! Du hast es aber getan! Eine Dispens ist Dir nötig! 36. Was stockst Du auf ebener Strasse? Wen der eine gebunden hat, den hat oft der selbe losgelöst und oft ein anderer. Was liegt daran, woher die Freiheit kommt, sofern sie nur kommt? Der verwehrt hat, wird gewähren. Will er nicht, kommt ein anderer, der will. Auf welche Art, tut nichts zur Sache, mag er nur wollen, sei’s dass Deine Tüchtigkeit Liebe, sei’s dass Deine Ruhmestat Staunen oder sei’s dass ein Glückssegen Furcht hervorbringe. Da ist kein Mensch, der einen gerechten, ruhmvollen, glückhaften Fürsten nicht liebte oder bestaunte oder fürchtete. Beginne! Alt ist das Sprichwort: „Viele Wege führen nach Rom.“ 37. Verharrst Du in der Starre, ist kein Strick nicht kräftig genug, Dich zu fesseln. Rührst Du Dich, wird das dünne Netzwerk ringsum nutzlos sein und zerfallen, und Du selber wirst aus ihm nicht allein frei, sondern – wie billig ist – als der Herr der Welt und Lenker der Menschen hervorbrechen und nicht nur Dir, nein auch dem Menschengeschlecht die Freiheit verschaffen. Den kranken Eber fesselt eben die Krankheit. Den gesunden und schnaubenden zu halten, bedarf es gewaltiger Mühe. Verscheuche die Starre, und gleich wirst Du sehen, dass alles leicht ist. Andernfalls wird die Starre Dir die Fesseln ersetzen. Niemand hat je einen Löwen gesehen, den man mit Spinngeweben, oder einen Adler, den man mit Leimruten festhielt. Warum bleiben Deine Adler nun sitzen? Warum wagen Deine Löwen nicht einmal zu mucksen? 38. Leicht ergibt sich der Knechtschaft, wer sich der Freiheit für unwert hält. Doch wenn einer weiss, dass er frei ist, wird er nicht eher der Freiheit

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beraubt als des Lebens, ja nicht einmal dann; denn des Lebens beraubt zu werden, beruht auf Natur, aber der Freiheit, auf Stumpfsinn. Wie gross ist nun gar diese Anmassung, dem römischen König, dem Bürgen der öffentlichen Freiheit, die Freiheit zu nehmen, so dass er, der alles besitzen soll, sich selbst nicht besitzt? Wie könnte frei und sein eigener Herr sein, wem verwehrt wird zu gehen, wohin ihm beliebt? Ja ich sage zu wenig: wem die Türe des eigenen Hauses verrammt wird, während er selber, um es richtig zu sagen, in grösstmögliche Ferne verbannt ist? 39. Du verstehst, Cäsar, nicht nur, was ich sagte, sondern was ich überdies sagen wollte. Denn noch vieles fällt mir ein, nur dass ich fürchte, überflüssig sei für Dich meine Darlegung, und für mich sei sie gefährlich. Hass genug habe ich vorlängst der Wahrheit wegen eingeheimst;52 sich aber Feinde gar mit Fleiss zu verschaffen, ist mehr als schlichter Wahnsinn. Darum habe ich heute genugsam geredet, mit welchem Erfolg, das liegt an Dir! Vermag ich nichts weiter, genügt mir, für meine eigene Zeit wie für die Zukunft getreulich meine Pflicht erfüllt zu haben, was ich oft schon früher getan zu haben vermeine. Und wenn etwas bisher gefehlt hat, wird der heutige Tag den Mangel beheben. 40. Doch habe ich jene Sorge noch nicht angedeutet, die Dein Gemüt beständig in ernste, gottgefällige Beschäftigung versetzen und Deinen Augen oft Tränen entlocken sollte. Ist Dir im Wachen und Träumen nicht die Witwe Jerusalem hilflos, gebunden, geknechtet und elend erschienen,53 sie, die bereits von niemand mehr Hilfe verlangt und erwartet ausser von Dir? Und inzwischen gönnst Du Schlaf Deinen Augen, Entspannung Deinen Lidern und Ruhe Deinem Haupte? Erwache, mein Kaiser, die Stunde ist da, ja vielmehr schon verflossen. Beeile Dich! Gib Deiner Tatkraft einen doppelten Ansporn, um Deine Trägheit durch Schnelligkeit wett zu machen! Erhebe Dich, sage ich, erhebe Dich endlich, Kaiser! Erhebe Dich, und das Geschrei der Stadt und des nach Dir rufenden Landes erhöre! Reibe die Augen und schau in die Runde, Kaiser!54 Du wirst manches erblicken, was Änderung fordert, und erkennen, dass Du diesen Titel nicht trägst, um zu ruhen. 42. Alle meine Briefe, die ich Dir schickte, haben die gleiche Redeweise und ein einziges Thema, nämlich Ermahnung und Tadel, Anreize mit Klagen und Denksprüchen. Wage etwas, ich bitte, damit Du nicht immer dastehst als einer, den man anflehen und drängen, sondern endlich als einer, den man zähmen muss, und der bisweilen des Zügels, nicht immer der Sporen bedarf. Eine Lebensregel des Aristoteles ist, wenn ich richtig sehe, recht nützlich; sie besagt, wer immer in einem von zwei Extremen zu sündigen pflege, der möge sich „zum entgegengesetzten hinziehen“, wie jene tun, die – um sein eigenes Wort55 zu gebrauchen – „krumme Hölzer gerade richten“. Denn so könne man leicht zur Mitte und zum Richtigen gelangen. 43. Doch genug von all dem, was mir einfiel. Noch bleibt mir, Deinem Brief zu genügen. Doch weil Du willst, dass jene gewisse Sache geheim bleibe, während ich selber möchte, dass die hier besprochenen Dinge allgemein bekannt würden,

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trenne ich die verschiedenen, und somit wirst Du das, was Du von mir zu hören forderst, abgesondert lesen.56 Lebe wohl, Du unbesiegbarster Cäsar, und bedenke oft, so bitte ich, was einem Mann geziemt und was einem Princeps. Mailand, den 21. März (1361).57

Anmerkungen 1 Vgl. Piur, Briefwechsel 98 ff. und lat./dt. auch in Petrarca, Aufrufe 484 ff. – Wenn das Wort Cäsar den Berufstitel meint, nicht Eigenname ist, wird er im Deutschen zur Vermeidung von Unsicherheit mit ä geschrieben. Petrarcas letzter Brief an Karl IV. ist Fam. 21,7 vom Jahr 1358. 2 Ähnliche Formulierungen findet man in den Familiares oft, so in Fam. 16,12,10; 17,6,3 und Fam. 3,11,2 ff.; 5,2,2. Humanitas: bewundernswert besonders an Fürsten. 3 Die zwei Briefe Karls an Petrarca findet man bei Piur, Briefwechsel 12 ff. (vom Frühling 1351) und 134 ff. (von Ende 1361 oder Anfang 1362), übrigens lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 384 ff. und 532 f. 4 Von der Freundschaft zwischen Augustus und den genannten Dichtern sprechen die von Sueton verfassten Viten der Dichter und die Vergilsvita des Donatus. 5 Von Petrarcas Kontakt mit Karl IV. auf dessen Romreise berichtet vor allem Fam. 19,3 und von Petrarcas Besuch in Prag Fam. 19,13. 6 Hinweis auf die Einladung Karls nach Prag, der Petrarca 1356 nur zögernd gefolgt ist. Vgl. Fam. 19,13. 7 Petrarca benützt den alten Titel Feldherr, imperator. 8 Petrarca war als Gesandter der Visconti nach Paris gereist und soeben von dort zurückgekehrt. Von dieser Gesandtschaft berichten auch Fam. 22,13 und Sen. 16,2. 9 Petrarca war, wenn die Briefdatierung stimmt, siebenundfünfzig Jahre alt. 10 Vgl. Fam. 10,1 vom Jahr 1351. 11 Vgl. Karls Brief, Piur, Briefwechsel 12–16 letzte Briefzeile; lat. und dt. auch in Petrarca, Aufrufe 384 ff. 12 Legende, gemäss welcher eine Witwe dem Kaiser bei seinem Auszug in den Krieg den Weg vertrat, um von ihm Sühne für ihren erschlagenen schuldlosen Sohn zu fordern. 13 Hor. Carm. 4,7,21–24. 14 Georg. 3,66–67. 15 Aen. 10,467–469. 16 Hor. Carm. 2,18,15–19. 17 Phars. 6,806–807. 18 Phars. 9,583–585. 19 Theb. 7,772. 20 Theb. 7,774–775. 21 Sat. 9,126–129. 22 Sat. 4,96–97. 23 Mag einer auch lange leben, wird er doch, weil nicht schon in früher Jugend zu hoher Würde gekommen, als Fürst nicht lange leben. 24 Lateinisch: neque impossibilium consultatio ulla est. 25 Suet. Aug. 28. 26 Pers. Sat. 5,66–72. 27 Dieser Brief hat sich nicht erhalten.

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28 Augustus lebte von 63 v. Chr. bis 14 n. Chr.; der Anfang seiner Regierungszeit ist auf 31 v. Chr. (Sieg bei Actium) zu setzen, nicht schon auf 44, das Todesjahr Caesars. 29 Die eiserne Krone des Langobardenreiches in Mailand und die Kaiserkrone in Rom; vgl. Fam.19,3,22 f. mit Anmerkungen. 30 Tatsächlich hatte Karl IV. nach einem Tumult in Pisa am 20. Mai 1355 seine Rückkehr über die Alpen beschleunigt. 31 Vgl. Liv. 25, 33 ff. über Kämpfe und Tumulte in Spanien und Numidien. 32 Vgl. Curtius Rufus, Geschichte Alexanders 10,2 ff. Römischen Beispielen gab Petrarca vor griechischen und andern ausländischen stets bei weitem den Vorzug. 33 Vgl. Suet. Caes. 69. 34 Das ist Marcus Aurelius Severus Alexander, der von 222–235 herrschte. Vgl. Eutr. Brev. 8,23 und Historia Augusta (Teil des Lampridius), Alex. Sev. 12,5 35 Vgl. Ebenda 49.54.59. 36 Suet. Aug. 14.19.24 ff. 27.51. 37 Tusc. 2,18,43. 38 De am. 2,8. 39 Im Lateinischen: fortuna, Inhaberin und Austeilerin aller Glücksgüter, auch der Ränge. 40 Sall. Catil. 51,13. 41 Vgl. Liv. 29,27. 42 Odyssee 12,39 ff. und 158 ff. 43 Als Heimat galt dem Luxemburger Karl das Königreich Böhmen, und dass er mehr für Böhmen als für das Reich sorgte, erkannten schon die Zeitgenossen an seinen territorialen Erwerbungen wie an seiner Politik in kirchlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Belangen. 44 Wiedergeburt, üblicherweise für die Taufe verwendet, bezieht sich hier auf die Kaiserkrönung. 45 Iust. Epit. 12,16,9. Ähnlich in Fam. 19,12,4. 46 Cic. Phil. 1,10. 47 Karls Vater, Johann von Luxemburg, König von Böhmen, hatte 1346 im französischen Heer an der Schlacht von Crécy teilgenommen und war dort gefallen. Karl wurde ein Thronerbe erst kurz vor der Abfassung dieses Petrarca-Briefes, am 26. Februar 1361, geboren. Zur Geburt einer Tochter hatte Petrarca einen Glückwunsch für die Kaiserin Anna im Mai 1359 nach Prag geschickt. Vgl. Fam. 21,8. 48 Vgl. Anm. 45. 49 Der Apostel ohne Namen ist bei Petrarca stets Paulus. Vgl. Hebr. 13,14. 50 Vgl. oben Abschnitt 9. 51 Karl IV. hatte sowohl Clemens VI. wie Innozenz VI. versprochen, schon am Tag seiner Kaiserkrönung Rom wieder zu verlassen und im Kirchenstaat keine Rechte geltend zu machen. Vgl. Petrarcas Schrift Vita sol.; Auszug in Petrarcas Briefwechsel S. 204 f.; lat. und dt. auch in Petrarca, Aufrufe 464 f. 52 Hass verschaffte sich Petrarca vor allem an der Kurie in Avignon durch seine Kritik an der Moral der Geistlichkeit und an deren Kirchenpolitik. Vgl. sein Buch Sine nomine (in Aufrufe) und verschiedene knappe Hinweise in Familiares wie z. B. Fam. 15,6,7; 21,1,2; 21,9,17. 53 An die Pflicht, einen Kreuzzug zu unternehmen, mahnte Petrarca den Kaiser schon in Fam. 12,1,5. 54 Hier zwei Mal das Wort Feldherr: imperator. 55 Eth. Nic. 2,9,1109 b 4–7; zitiert schon in Fam. 11,16,35. 56 Vgl. Sen. 16 (15), 5. Das Schreiben steht lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 508–519. Karl IV. hatte Petrarca um Beurteilung eines Dokuments aus der Kanzlei des Herzogs Rudolf IV. von Österreich gebeten. Es handelte sich um eine berühmt gewordene Fälschung, die erstmals am 18. Juli 1359 auftauchte, um das sog. Privilegium maius, welches das ältere Privilegium minus verfälschte und den Herzog von Österreich den Kurfürsten gleichstellen sollte, deren Rang durch Privilegien der Goldenen Bulle von 1356 gestärkt worden war. 57 Vgl. Wilkins, Eight years 116 und Petr. Corresp. 86.

Fam. 23,3, an unseren Cäsar1 Dringendere Empfehlung eines Freundes. 1. Petrarca ist zu einer Bitte verpflichtet. 2. Es gehört sich für Karl, getreuen Dienst zu belohnen. (Zwischen Frühling 1361 und Frühling 1363)

1. Schweigend weiterzugehen hatte ich beschlossen, doch zwingt mich zum Sprechen nicht weniger die Ehrfurcht vor Dir als die Liebe zu ihm, für welchen ich spreche. Diesen Deinen Ritter, meinen Freund,2 habe ich Dir einst in einem meiner Briefe voll Vertrauen empfohlen, nicht etwa, weil Du oder er oder ich selber mir unbekannt wären, sondern weil ich meinte, meine Niedrigkeit entbehre bei Deiner Majestät nicht der Huld, und es sei deshalb richtig, nicht zu schweigen, wenn ich wisse, dass etwas Deine Ehre berühre. Ich habe es früher gesagt, Cäsar, und ich wiederhole es: Sehr vieles bist Du ihm schuldig, und nicht allein Du, nein auch das Kaisertum. Über die Gründe schweige ich. Du kennst seine Besorgtheit, seine Treue und Rührigkeit. Auf keinen Menschen hofft er ausser auf Dich. 2. Dieser Mann, der sich um Dich so verdient gemacht hat, geht unter vielen Gefahren und unter aufreibender Mühe täglich hin und her, ohne etwas anderes zu gewinnen als eine Vermehrung an Jahren, und wird dabei täglich älter. Warum nicht täglich auch reicher? Willfahre, ich beschwöre Dich, meinem Freimut und meiner Zuversicht! Niemals würde, wenn die Zuversicht nicht gross wäre, mein Freimut solches erbitten. Dir obliegt, Cäsar, wie die Schlechten zu unterdrücken, so auch die Guten zu fördern. Tu etwas, damit dieser getreue und edle Mann, der seine Jugend unter vielen Anstrengungen für Deine Ehre verzehrt hat, dank Deiner Anweisung und Deiner Vorsorge im Alter zur Ruhe gelange.3 (Zwischen Frühling 1361 und Frühling 1363)4

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an Karl IV. Fam. 23,3 findet man bei Piur, Briefwechsel 125 f.; auch lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 524. 2 Dieser Freund ist Sagremor de Pommiers, für den sich Petrarca schon früher beim Kaiser verwendet hatte, übrigens auch beim Erzbischof Ernst von Prag und beim Kanzler Bischof Johann von Naumburg, später Olmütz; vgl. Fam. 21,5–21,7. Zur Gewährung oder Verweigerung des Erbetenen vgl. Fam. 23,16 an den Kanzler. 3 Sagremor trat im Alter in den Orden der Zisterzienser ein. Vgl. die Anmerkungen zu den oben genannten Briefen. 4 Vgl. Wilkins, Eight years 230.

Fam. 23,4, an Bonincontro1 Glückwunsch zu seiner zwar späten Errettung aus den Stürmen der Kurie ins Privatleben. Mailand, am 27. Januar (1362).

1. Nun fängst Du, wenn auch spät, zu leben an. Freue Dich! Denn es genügt, eben noch anzufangen, bevor man aufhört. „Einige nämlich“, wie Annaeus2 sagt, „hören auf, bevor sie beginnen.“ Nun kannst Du fern von schmetternden Trompeten und verzehrenden Sorgen langen und ruhigen und erquickenden Schlaf geniessen. Nun kannst Du heitere Tage und ungestörte Nächte verbringen. Nun lenkst Du Dein Schiff durch den Hafen, und schaust Du hinter Dich, siehst Du auf heftige und gefährliche Stürme, ohne zu erschrecken. 2. Zu Deinem neuen Zustand wünsche ich Dir Glück; beklagt habe ich den jetzt überwundenen; mochte er bei der grossen Menge auch für glücklicher gelten. Du hättest in den Stürmen und im Krieg zugrunde gehen können; jetzt aber wirst Du in Frieden sterben und in Frieden leben.3 Als ein heimliches Geschenk der göttlichen Vorsehung sollst Du das würdigen. Dich, einen von der Leimrute der Gewohnheit Befreiten, hat vielleicht entgegen Deinem Willen – da der Menschensinn seine Lage oft verkennt und seine Gefahren sogar bevorzugt – ein günstiger Wind zum Vaterland heimgebracht, damit Dir zu jenem ewigen Vaterland, dem wir als Fremdlinge noch fern sind, der Rückweg geebnet werde. 3. Wie viel besser ist Dir geschehen, als Du gehofft hast! An den Ungeheuren des Meeres und am Gesang der Sirenen bist Du mit taubem Ohr gefahrlos vorbei gesegelt,4 hast Deinen Kahn vor Skylla und Charybdis gerettet und bist mit grosser Ehre den Fluten und Riffen der Höfe entkommen. Schon bist Du in Deinem Vaterland! Schon wanderst Du zum Vaterland! Schon gehörst Du Dir selber! Wie bist Du beneidenswert und wie selig, wenn Du weisst, was Du gewesen und was Du jetzt bist. Lebe wohl! Mailand, am 27. Januar (1362)5

Anmerkungen 1 Vgl. die Anmerkung bei Rossi zu diesem Schreiben. Aus Handschriften ergibt sich, dass es sich beim Adressaten um einen Bonincontro de Sancto Miniate (so bei Rossi) handelt. 2 Seneca, Ad Lucil. 23,11. 3 Dies entspricht der Wortfolge im Lateinischen: iam in pace morieris, in pace vives. Das Spätere, so scheint es, wird zuerst genannt. Ähnlich steht weiter unten: in patria tua degis, iam ad patriam pergis, in Deinem Vaterland weilst Du, zu Deinem Vaterland gehst Du. Hier ist die Reihenfolge eindeutig richtig, weil gemäss Petrarca das wahre Vaterland erst nach dem Leben im Jenseits gefunden wird. Möglicherweise wird dieser Gedanke schon in der vorangehenden Formulierung angedeutet. 4 Hinweis auf die Odyssee Buch 12 und speziell 12,35 ff. und 175 ff. 5 Vgl. Wilkins, Later years 22 und Petr. corresp. 86.

Fam. 23,5, an Bonincontro1 Dem hohen Alter und Tod soll man mutig, ja heiter entgegengehen. 1. Im Alter hat man den Nebel der Leidenschaften überstiegen. 3. Cicero hat ausführlich über das Alter gesprochen. 4. Der Weise fürchtet den Tod nicht. 6. Aus Erbarmen hat Gott den Menschen sterblich gemacht. Ein Zitat Plotins. Mailand, am 23. Februar (1362).

1. Wie ich höre, steigst Du sehr gegen das Alter hinab. Was rede ich! Du steigst vielmehr hinauf. Hoch gelegen und weithin sichtbar und – worin sich alle einig sind – verehrungswürdig ist das Alter. Willst Du seine wahre Höhe kennen? Der Jugend schlüpfrigen Pfad und die Nebelschwaden der Leidenschaften und Zornausbrüche hat es hinter sich, ist dem Himmel näher, hat, was eine frühere Lebenszeit von unten betrachtete, schon zu seinen Füssen und beschaut es von oben. Wohl krümmt es die Rücken, hebt aber edle Seelen empor. Und obwohl jene Menschen, die einzig an den Körper denken, nach einem falschen Urteil ihrer Augen von einem gebeugten und erniedrigten Alter sprechen, ist es doch hochragend und aufrecht. 2. Alt geworden zu sein, beklagt, wer alle Hoffnung und den Inbegriff seiner Seligkeit auf den Leib gesetzt hat. Du aber freue Dich, die Jahre erreicht zu haben, die mehr um die Seele als um den Leib besorgt sind. Was Du in der Jugend wie ein gegen Wellen steuernder Schiffer mit grösster Anstrengung und unter grossem Kraftaufwand getan, schau, das tust Du nun als älterer Mann ohne Mühe auf sacht hingleitendem Fluss und getragen von den Fluten, mit denen Du früher gekämpft hast. 3. Ich würde auf all das sorgfältiger eingehen, um alle scheinbaren Ängste und Bedrängnisse des Alters zu vertreiben, ja ich trüge auch keine Bedenken, Dir diese Feder für alle Stündlein eines Tages zu leihen (wo Du mir ja sehr viele Tage geliehen hast), wäre nicht von Cato das Greisenalter2 in Ciceros Werk sowohl verteidigt, wie darüber hinaus auch gelobt worden, und meinte ich nicht überdies, man könne Dich, der seinen Lebensabend so tapfer hinbringt, kaum zu noch stärkerer Tapferkeit ermuntern. Über der höchsten Höhe gibt es ja nichts, wohin ein Aufstreben zielen könnte. Indem ich also hierauf verzichte, wende ich mich dem Folgendem zu. 4. Und was denkst Du, mit wie viel Freude ich auf jene Stelle Deines Briefes gestossen bin, wo Du sagst, unablässig sei Dein Auge furchtlos dem Tode zugewandt? Oh wie ist dieses Wort eines gelehrten Mannes und Deiner doch wahrhaft würdig! Zu sterben fürchtet, wer zu leben nicht verstanden hat. Wie könntest aber Du vor dem Tod erschrecken, da Du gelebt hast, um nicht nutzlos geboren worden zu sein, nämlich weder für Dich, noch für das Vaterland, noch für Deine Freunde?3 Er wird Dir ja nichts anderes nehmen als ein erschöpftes Körperlein und mit diesem viel an Mühe und Überdruss, während er Deiner Seele und Deinem Ruf nichts wird anhaben können? Der Tod, zwar für alle schlechten Menschen der Anfang der Strafen und das Ende der Lustbarkeiten, ist für alle guten – und in ihre Reihen füge ich Dich

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vertrauensvoll ein – das Ende der Mühen und der Anfang eines besseren Lebens. 5. Geh also sicher voran, wie Du ja tust, Du brauchst Dich um nichts zu ängstigen. Das Alter und der Tod sind zwei befreiende Kräfte des Menschengeschlechts. Die Krankheiten der Seele, deren es unzählige und fast unheilbare gibt, vermag das Alter zu mildern und der Tod sie zu vernichten. Jenes zieht uns weg von Beschwerden, dieser erfüllt uns mit wahren Gütern und ewiger Ruhe. 6. Insbesondere vom Tod, der von vielen geschmäht wird, dürfte ich etwas auszusprechen vielleicht nicht wagen, hätten nicht Plotin,4 der führende Kopf der Platoniker (um von andern zu schweigen) und in seinem Gefolge auch manche unserer Lehrer, so Cyprianus5 und Augustinus,6 allesamt das selbe gesagt, nämlich dies, Gott habe aus väterlichem Erbarmen den Menschen sterblich gemacht. Und um die Worte Plotins genau anzuführen: „Der Vater hat uns aus Mitleid Fesseln gemacht, die sterblich sind.“7 7. Gut also ist das Greisenalter, das Dir schon nahe, ja schon gegenwärtig ist. Und besser ist der Tod als erwartet. Denn wie „der Tod der Sünder der übelste ist“8 – und ich meine den Tod jener Sünder, die ihre Sünden nicht bereuen, sondern auskosten, denn wollte man diesem Wort vorschnell zustimmen, würde es alle Menschen umfassen9 – so ist der Tod der Gerechten der beste. Er zweifellos nähert sich bereits. Und während kein Lebensalter etwas Sicheres aussagt über die Länge des Lebens, kann dieser letzte Abschnitt nicht im Unsicheren sein über die Nähe des Todes. 8. Ein ungemein grosses Gut, der Menge freilich unbekannt, kommt auf Dich zu. Erfülle glücklich, was Dein Name andeutet:10 Geh „dem Guten entgegen“, nicht allein unerschrocken, sondern auch jubelnd. Hast Du es gefunden, sei nicht betrübt wie die Grosszahl der Menschen, für die das Sterben, das heisst für die Annahme des Natürlichen, eine Strafe ist, sei vielmehr heiter wie die wenigen andern, die es wie ein bedeutendes Geschenk Gottes umfangen. Und glaube, dass Du aus vielen Stürmen des Lebens mit Hilfe segensreicher Winde in den Hafen, und nicht zu Felsenriffen fährst. Entsetze Dich nicht vor dem, was auch dann unvermeidlich wäre, wenn es ein Übel bedeutete. 9. Gehen werden wir, ja gehen werden wir alle. Und zu gehen, ist für alle notwendig. Doch furchtlos werden wir gehen. Die Furcht ist nicht in der Natur der Sache begründet, sondern auf einer Meinung des Verstandes; sie ist nicht eine allen auferlegte Bitterkeit, sondern eine Schwächlichkeit der Einzelnen.11 Andernfalls würden sämtliche Menschen furchtsam sterben. Und nicht ohne Begleitung werden wir gehen. Aus allen Ländern und aus allen Jahrhunderten ist vor und hinter und um uns eine zahllose Schar, und die schon Geborenen und die erst später Erstehenden suchen auf verschiedenen Stufen12 das eine und selbe Ziel. 10. Kaum aus dem Mutterschoss hervorgegangen, werden wir für diesen selben Weg bestimmt. Auch gerade jene, die – auf ihr Alter oder auf ihr Königreich bauend und ihre Sterblichkeit vergessend – aus ihren lächerlichen Irrtümern Hoffnung auf Unsterblichkeit geschöpft haben, müssen

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entweder nachfolgen oder vorangehen, und dies um so betrübter, je tiefer sie hier in der Erde Wurzeln getrieben und je weniger sie für eine Anpflanzung im Jenseits vorgesorgt haben. Ist nun aber das Lebensende jedes Menschen durch eine dichte Wolke verhüllt und steht jedem eine unbezweifelbare Notwendigkeit bevor, darüber hinaus aber das, was keiner erkannt und erforscht hätte, muss man die Seele so zurechtmachen, dass sie an jenem bestimmten Tag und in jener gewissen Stunde ruhig erwarte, was ihr während all der Jahre bevorstand. 11. Denn ich bitte Dich, was bedeutet es, ob heute oder morgen oder jetzt gleich oder etwas später geschehe, was jedenfalls sehr bald geschehen muss, ja so unverzüglich, dass es unmöglich einen Aufschub duldet? Fluchtwege und Verzögerungen kann die menschliche Faulheit keinesfalls einfangen. Sie ist zwar zu leben begierig, aber gelebt zu haben, erachtet sie für nichts, so wie Undankbare gewohnt sind, etwas ungestüm zu verlangen, aber des Empfangenen überdrüssig zu sein. 12. So ist es. Ein langes Leben wünscht sich jeder, obwohl in dieser kurzen Spanne hier durchaus nichts lang ist. Doch es sei! Man habe die heiss begehrte Lebenskraft erreicht. Was aber hat, wenn die letzte Stunde anbricht und die Todeshand kommt, um langjährige Fesseln zu lösen, ja, was hat dann der Hundertjährige vor dem anderen voraus, der unmittelbar vom Mutterschoss weg ins Grab gerissen wird? Für beide ist das Ende da und die Zeit für beide vergangen. 13. Wir haben oft sterbende alte Leute sagen hören, ihnen komme vor, sie hätten kaum einen ganzen Tag gelebt. Freilich besteht zwischen einem kurzen Wintertag und der ungemein langen Lebenszeit eines Nestor13 ein gewisser Unterschied in der Ausdehnung, jedoch nicht in ihrem Abschluss, wo der beiden Ziel oder sozusagen der Abend erreicht ist. Und dass es sich so verhält, wie ich gesagt habe, und dass die Zuversicht den Menschen mehr bedeutet als die Einsicht, erkennt man leicht an den Beschwörungen und Wehklagen der Dummköpfe. Die Weisen hegen weder ungerechte Anklagen noch leere Wünsche, vielmehr sind sie überzeugt, man werde glücklich nicht durch die Dauer des Lebens, sondern durch seine Verdienste, nicht dank einer Begünstigung durch Fortuna, sondern dank mannhafter Gesinnung. 14. Ist es so, dann ergibt sich als Hauptsache dies: Nichts Froheres werde ich von Dir vernehmen als die Nachricht, so eben sei Dein Verhalten. Was wenn ich hörte, Du hättest Dich mit einem gewaltigen Gewinn bereichert (oder sollte ich sagen: eingeengt und erdrückt?) oder Du seist König von Italien geworden? Wie kurz ist die Freude und wie hinfällig! Königreiche und Schätze und überhaupt alles, was Fortuna geschenkt hat, versteht sie zu entreissen. 15. Man kann sich eine besonders grossherzige Fortuna ausdenken und eine, die – was aber höchst selten vorkommt – bis ans Lebensende wohlwollend bleibe, denn ihr flüchtiges Rad werde dank den Klammern irgendeiner unerhörten Gunst festgehalten. Doch im Tod, dem man eine ähnliche Grossherzigkeit nicht andichten kann, hätte man alle Gewalten aufzugeben, Reichtümer abzulegen und mit nackten Füssen dahin

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zurückzukehren, woher man nackt gekommen ist.14 Auf Dich allerdings hat Fortuna kein Anrecht, ja nicht einmal der Tod. Dein Geist wird Dich bis ans Ende und über das Ende hinaus begleiten und Dich in den Himmel, wo er seinen Ursprung hat, auf Flügeln der Tugenden heben. 16. Ich nun, Du Hochgemuter, bemühe mich, damit auch Du eine Freude habest, unter grosser Anstrengung einen eben solchen Geist mir anzuziehen,15 und fast scheint es mir geglückt zu sein. Inzwischen lebe ich und bin gesund, soweit hier die Gesundheit je vollkommen und das Leben der Sterblichen wahr ist. 17. Darf ich jedoch mit dem Gesetzgeber der Griechen mich rühmen, dann altere ich nicht anders, als indem ich noch täglich etwas lerne,16 und mir täglich vor dem nutzlos gefürchteten unausweichlichen Tag etwas weniger bangt. So bin ich wohl selber bereit, Dir ins hohe Alter und in den Tod zu folgen oder auch – weil im Sterben kein Lebensalter berücksichtigt wird – gemäss einer Verfügung des Himmels Dir ohne Furcht und Zögern in den Tod voranzugehen. Übrigens nutze, solange wir hier sind, meine Person als Dein Eigen, und wenn Du vielleicht etwas von mir wünschtest, sei zu befehlen Dein Bemühen und zu gehorchen mein Vergnügen. Lebewohl und denke an uns! Mailand, am 23. Februar (1362).17

Anmerkungen 1 2 3 4 5

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Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. Cic. De sen. Cic. De off. 1,7,22; De fin. 2,14,45; vgl. auch Fam. 22,1,8. Plotinos, ca. 205–270, Begründer des Neuplatonismus; vgl. Personenreg. Cyprianus aus Karthago; wurde 248, zwei Jahre nach seiner Taufe, Bischof, schrieb zahlreiche Werke über aktuelle Fragen; doch sind ihm manche Schriften fälschlicherweise zugeschrieben worden. Er erlitt den Märtyrertod 258. Aug. De civ. 9,10. Hier hat Petrarca das folgende Zitat aus Plotin gefunden, nämlich Enneades 4,3,12. Vgl. Anm. 6. Ps. 33,22. Petrarca erinnert sich, dass jeder Mensch sündigt; vgl. Eccl.7,21; 3 Reg. 8,46; Rom. 5,12 f. Hinweis auf den Eigennamen: Bon-in-contro. Vgl. Fam. 2,2,6. Dieser Gedanke wird breit ausgeführt in Fam. 14,1,5 ff. Nestor, nach der Sage Herr von Pylos, der mit mehr als siebzig Jahren nach Troia fuhr, soll drei Lebensalter erreicht haben. Wie viele Jahre sie umschlossen, bleibt strittig; vgl. Fam. 6,3,13. Job 1,21. Das lateinische Wort induere wird hier ähnlich auf Geistiges bezogen wie an zahlreichen Bibelstellen, vorab auch bei Paulus, wie z. B. Colos. 3,10; Galat. 3,27; Ephes. 4,24. Gemeint ist Solon. Vgl. Cic. De sen. 14,50. Zum Lernen bis ans Lebensende äussert sich Petrarca Fam. 6,3,14; 21,12,30 und an manchen anderen Stellen. Vgl. Wilkins, Later years 22 und Petr. corresp. 86.

Fam. 23,6, an den Bischof Johann von Olmütz, den kaiserlichen Kanzler1 Einem Lobredner kann man um so weniger glauben, je grösser seine Liebe ist. 1. Der Bischof pflege seine Freunde über sich selber zu erhöhen. 3. Petrarca gibt sich dem Bischof zu eigen. 4. Er bittet um Nachsicht wegen seines Freimuts. 5. Mit dem Brief schickt er durch Sagremor sein Hirtengedicht. Mailand, am 21. März (1361).

1. Wie kommt mir zu, dass mein Herr2 und Lehrer mich seinen Magister und Herrn nennt, ausser weil grosse Liebe – sich selber vergessend – einzig um ihren Erwählten besorgt ist? Sie denkt sich diesen so, wie sie ihn haben will, ist bemüht, ihn zu erheben, und vermag sie das nicht, steigt sie selber herab und ist schliesslich auf jede Weise bestrebt, ihn sich anzugleichen. 2. Dir allein will scheinen, solange Du die Deinen – kaum aus dem Staub gewühlt – nicht über Deine Höhe hinaus erhebst, sei nichts getan. Ich aber werde, im Mass als Du mich höher empor ziehst, nur immer geringer, und niemals wird die Gunst eines so bedeutenden Mannes bewirken, dass ich meinen Stand vergesse. Einst habe ich Dich zum Herrn erwählt; zum Lehrer aber hat Dich nicht meine eigene Wahl gemacht, sondern die Kraft und Beharrlichkeit Deines geistigen Vermögens. 3. Fortan mache aus mir, was immer Du willst. Dein Eigentum in die Höhe oder in die Tiefe zu stellen, ist Deine Sache. Meine Sache aber ist es, mich selbst und das Meine zu kennen und nicht leichthin einem fremden Urteil über mich eher zu vertrauen als dem meinen, zugleich den Lobsprüchen um so weniger zu glauben, je mehr mich der Lobredner lieb hat. Dankbar bin ich Dir gleichwohl für Deine so grosse Anhänglichkeit und freundliche Hochschätzung. Dich halte ich für glücklich dank solcher Gesinnung, mich selber für begünstigt durch ein solches Urteil. 4. Vieles plane ich nun; doch meine Beanspruchung ist gewaltig, die Zeit aber kurz. Und überdies scheint mir, dass ich mit vielen und langen Briefen an den Cäsar Deine Augen übermässig beschäftigen werde, und nicht weniger Deine Zunge. Wenn diese, wie ich vermute, meine Episteln dem heiligen Ohr übermitteln wird, möge sie dieser heftigen und um vieles besorgten Feder, wenn sie etwas allzu mutwillig ins Zeug fuhr, verzeihen, das bitte ich.3 5. Beigefügt ist auch ein Hirtengedicht.4 Dieses vollständig zu besitzen, habe ich vor Dir noch keinem gestattet, doch es zu sehen, schon vielen. Dass Du zugleich auch einen Kommentar oder besser einen Kommentator5 hättest, wäre mir lieb. Doch daran auch nur zu denken, ist mir nicht früher möglich, als bis ich höre, unser Cäsar sei auf meine und aller Welt fortwährende Rufe hin aufgewacht. Das übrige wirst Du vom Boten, welcher Dir diesen Brief aushändigt, erfahren.6 Er kommt zu Dir in der Kenntnis aller Verhältnisse, insbesondere auch der meinen.

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Und über ihn nichts weiter, denn Dir ist alles bekannt, ausser dies, dass unter den Herolden Deines Namens, deren Du viele hast, kaum ein anderer eine heller schallende Tuba ist. Bleibe gesund und glücklich, Du unsere Zierde! Mailand, am 21. März (1361).7

Anmerkungen 1 Die von Johann von Neumarkt (dem späteren Bischof von Olmütz) an Petrarca gesandten Briefe findet man zusammen mit den Antworten Petrarcas bei Piur, Briefwechsel, teils auch lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe. Petrarcas Fam. 23,6 bezieht sich offensichtlich auf Johanns Brief Stili magistralis, der bei Piur unter der Nummer 21 steht. 2 Im Lateinischen steht: Unde hoc mihi, ut dominus ac preceptor… Das erinnert auffällig an den Gruss, mit dem gemäss Lc.1,43 Elisabeth die Base Maria empfing: Unde hoc mihi, ut veniat mater domini…Die Begegnung der beiden Frauen wurde am Fest Mariä Heimsuchung gefeiert, und der Text war den beiden Klerikern bestens vertraut. 3 Die Bitte richtet sich an den Kanzler und seine Zunge. Wahrscheinlich hofft aber Petrarca, der Kanzler möge beim Kaiser um Nachsicht gegenüber seiner freimütigen Sprache anhalten. 4 1359 hatte Petrarca sein Hirtengedicht überarbeitet; vgl. Fam. 20,5,3;22,2.1 und 22. Aber auch nach dem Jahr 1361 führte Petrarca seine Überarbeitungen fort, vgl. Fam. 23,19,15, dazu die Kommentare von M. François et P. Bachmann. 5 Als Kommentator denkt Petrarca sich selber. Johann von Neumarkt bittet in einem späteren Brief, der auf 1362/63 datiert wird, den Dichter seinerseits um einen Kommentator. 6 Das ist der Ritter Sagremor de Pommiers, von dem in den Schreiben Petrarcas an den Hof in Prag mehrfach die Rede ist. Vgl. Personenreg. 7 Vgl. Wilkins, Eight years 230–231.

Fam. 23,7, an den Bischof Johann von Olmütz1 Empfehlung eines Freundes. 1. Der junge Mann, der sich dem Kanzler vorstellt, gehört einer Familie an, die von Karl IV. geschätzt wird. 2. Wer anderen Menschen hilft, ist Gott nahe. 3. Gott am nächsten steht der Kaiser, dem Kaiser am nächsten steht der Kanzler. Der junge Mann wird ihm empfohlen. (Frühling 1361-Frühling 1363)

1. Wie Du aus vielen meiner Briefe hast ersehen können, ist hier Deine Liebe zu mir so weit herum bekannt, dass alle, die Deiner Gunsterweise bedürfen, gleich auch meiner Fürsprache zu bedürfen meinen. Dieser junge Edle, der vor Dir steht, mir überaus teuer dank seinen Vorzügen, übrigens von feurigem Geist und gewandter Beredsamkeit, kommt im Auftrag seines Onkels zu den Füssen des Cäsars.2 Ich möchte ihn Dir und durch Dich dem Fürsten in der Sache empfohlen haben, die er nach Billigkeit erbitten wird. 2. Jedenfalls pflegt der Cäsar, ausser ich täusche mich, seiner ganzen Familie Liebe zu schenken. Du aber bist immer ein Helfer, Vater und Beschützer aller Guten gewesen, und dieser hier bittet nichts weiter, als einer der Deinen zu sein und ein solcher zu heissen. Die Menschen können Gott nicht dank Schöpferkraft ähnlich werden, doch sie können es als Liebende, Helfende, Beschützende, Erbarmende und Fördernde. Sehr schön sagt Cicero:3 „Die Menschen reichen nie näher an Gott heran, als wenn sie Menschen zu Hilfe kommen.“ 3. Welcher Sterbliche müsste Gott näher sein als der Cäsar, der höchste der Menschen? Wenn einer an der Spitze der menschlichen Natur steht, folgt daraus, dass er der göttlichen am nächsten ist. Darauf aber ist dem Cäsar gewiss niemand näher als Du. Und dieser, für den ich bitte, ist ein sehr tätiger Mann, der mit einiger Förderung leicht aufsteigen könnte und dem, sofern Fortuna ihm beistehen wollte, Talent nicht fehlen würde. Freilich ist er noch jung und damit noch nicht, was er später werden kann. Doch was sage ich da und zu wem sage ich’s? Sobald Du den Mann vor Dir siehst, hast Du ihn durchschaut und erkennst, ob meine Liebe mich täusche.4 Lebe wohl! (Frühling 1361/Frühling 1363)5

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Vgl. den vorangehenden Brief an den selben Adressaten. Im Lateinischen steht patruus, also Onkel väterlicherseits. Pro Lig. 12,38. Zu Erfolgen und Misserfolgen solcher Fürbitten vgl. Fam. 23,16,4. Vgl. Wilkins, Eight years 230.

Fam. 23,8, an den Kaiser Karl1 Dank für die grosse Güte des Kaisers und für einen ihm gesandte Becher. Es bleibe die Hoffnung, die Einladung anzunehmen. 1. Der Becher ist von hohem Wert. 2. Petrarca will ihn nur für besondere Feste verwenden. 4. Dass der Kaiser Petrarca zu kommen bittet und nicht zu kommen heisst, hat besondere Wirkung. 5. Richtiger wäre, wenn Karl nach Italien käme. 6. Der Dichter möchte erst bei verminderter Hitze reisen. 8. Er macht sich auch Sorgen um den Büchertransport. Padua, 18. Juli (1361–1363).

1. Viel zu liebreich ist in Anbetracht unseres verschiedenen Standes Dein Schreiben2 Cäsar! Es ist einige Monate nach seiner Absendung – das sei Dir mitgeteilt – bei mir angelangt, und zwar zusammen mit dem kostbaren Becher, den Du „in gediegenem Gold“ und „geziert mit erhobener Arbeit“ (um Vergil3 zu zitieren) mir als ausserordentliches Geschenk, das nicht meinem, sondern Deinem Rang gebührt, hast zukommen lassen. 2. Oh wie ist nicht allein die Rangordnung der Menschen, nein auch die aller Dinge bestaunenswert! Ein Gefäss, ausgezeichnet durch sein Material und ausgezeichnet durch die Leistung des Künstlers, und insbesondere geheiligt durch den Mund des Kaisers, wird von Deinem Gebrauch dem meinen übergeben! Doch werde ich es weniger zum heute üblichen Gebrauch sondern eher für ein Trankopfer verwenden; ich möchte sagen „vor den Altären“, wenn wir noch immer die Sitten der Alten pflegten. Nun aber will ich es für ausnehmend reiche Tafeln und zum seltenen Anblick bereit halten, um damit Feste zu schmücken und um es als Gegenstand meiner Freude zu geniessen und den bewundernden und jubelnden Freunden zu zeigen. Nicht weniger geziemend werde ich Dein goldenes Schriftstück zum sicheren Beweis für Deine Menschlichkeit und für meine, zwar unverdiente Ehrung mein Leben lang sorgfältig hüten. Und jedesmal, wenn ich mir bestätigen möchte, wie gut Du bist und wie glücklich ich selber, soll es zum Richterspruch aufgerufen werden. 3. Überdies will ich mich immer dieser zweifachen Gabe rühmen und würde auch versuchen, meinen Dank für sie auszusprechen, hätte ich nur genügende Fähigkeit, so heftige Erregungen meiner Seele zu äussern, und bedürftest Du, um die Liebe der Deinen zu beachten, der Worte. 4. Was aber sage ich nun zum Inhalt Deines Briefes? Du, der Gebieter der Könige und Du, der Herrscher der Völker, „ersuchst“ mich, Cäsar? Ich aber werde durch Bitten leichter bewogen als durch Befehle, weil ja Deine Manneswürde grösser ist als die Befehlsgewalt. Doch was soll nun geschehen? Gross ist hier die Bereitschaft meines Geistes, und gross ist dort die Verworrenheit der Umstände. Soll also, ich bitte, das vergebliche Geschrei meiner zahlreichen Briefe dazu geführt haben, dass Du – so oft gerufen und so angstvoll von vielen erwartet – den Dich Rufenden

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endlich zu Dir rufst und, wie Deine Milde in Deinem Brief zu bekunden sich würdigte, ihn „entbehrst und herbeisehnst“? 5. Was wird daraus werden, Cäsar? Du rufst mich nach Germanien; ich rufe Dich nach Italien! Du bist mir durch Autorität überlegen, ich Dir in der Sache. Du rufst mich – was ich nicht leugne – zu würdiger und erfreulicher Annehmlichkeit, ich Dich zur mannhaften Tat und Amtspflicht. Diese aber ist so notwendig und von Dir so sehr geschuldet, dass man sagen könnte, allein ihretwegen seist Du geboren worden und ihre Erfüllung sei dazu angetan, Dich glücklich dem Himmel und ruhmvoll der Nachwelt zu übermitteln. 6. Dennoch habe ich die Absicht zu gehorchen, und bin ich auch Sieger in der Sache, will ich doch durch Deine Befehlsgewalt besiegt sein. Doch vieles widersetzt sich. Erstens ist der Sommer meinem Befinden so abträglich, dass ich in dieser Jahreszeit nicht zu leben, sondern unter Martern gewissermassen hinzusiechen meine.4 Und wenn sie mir immer sehr lästig war, was sagst Du dann, wenn ich immerhin die Hitze vielleicht weniger fürchte,5 aber stärker die Anstrengung einer Reise? Niemals bin ich zu jung gewesen, um nicht zu wissen, dass ich fortwährend altere. Doch ich wusste es, ohne es zu fühlen, so jedenfalls war es bis heute; denn wie einer, der zu Schiffe fährt und schlafend auf ruhigen Wellen hinuntergleitet, so gelangte ich nichts spürend vorwärts. Aber sieh, Cäsar, schon fange ich allmählich an, das Alter zu spüren und täglich gebrechlicher und langsamer zu werden. 7. Kommt dazu, dass Du zwar über allen stehst und dass Dein Diener,6 bei dem ich seit langem weile, vermutlich bereit wäre, mir Urlaub zu geben, ja – wie ich ihn kenne – auf Dein Verlangen hin auch selber zu reisen, dass ich aber dennoch, solange ich unter seinem Schutz bin, eben diesen Urlaub von ihm benötige. Freilich schlage ich das nicht hoch an, weil er – wie ich sagte – nach meinem Dafürhalten seinem Herrn nichts wird verweigern wollen. 8. Was aber machen wir mit meinen lieben Büchern,7 von denen ich zwar nicht allzu viele habe, die aber doch meiner mässigen Fähigkeit und meiner bescheidenen Wissenschaft genügen? Auch wenn sie mich vielleicht eher bedrücken als schmücken, bin ich infolge langer Gewöhnung dennoch so sehr an sie gebunden, dass ich ohne sie zu leben nicht verstünde. Ihrer Beförderung sind aber, wie Du einsiehst, Cäsar, nicht bloss die steile Höhe der Alpen und die Beschwernisse der überaus langen Strecke hinderlich, sondern auch die Furcht vor Räubern und überhaupt die tausend Gefahren auf den Wegen. Wenn ich das betrachte, fühle ich mich immer wieder gezwungen, an das Wort eines jüdischen Weisen zu denken, der in eindrücklicher Kürze beteuert: „Alle Dinge sind schwierig.“8 Gewiss, so ist es; und wer daran zweifelt, der möge nur leben, und er wird es, bevor er alt ist, begreifen. 9. Denn wirklich, wird er alt, so hat er es begriffen, sonst ist er nicht gealtert, glaube mir, sondern bloss hingewelkt und hat die lange Strecke mit geschlossenen Augen zurückgelegt. Dennoch will ich unter so schwierigen und verworrenen

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Umständen aussprechen, was ich denke. Wenn die Sommerhitze abnimmt und wenn ich das Einverständnis meines Vorgesetzten, Deines Dieners, und einen Weggefährten finde, werde ich kommen und bei Dir, so lange es Dir beliebt, verweilen. Und über das Fehlen der Bücher, der Gefährten und der Heimat wird mich einzig und allein die sehr begehrte Gegenwart des kaiserlichen Angesichts hinwegtrösten.9 Lebe glücklich und lebe lang, Cäsar, und gedenke unser! Padua, am 18. Juli (1361–1363).10

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an Karl IV. 2 Das Schreiben Karls hat sich nicht erhalten. Eine weitere Einladung nach Prag folgte bald, und diese findet man bei Piur, Briefwechsel 134 ff., auch lat.und dt. in Petrarca, Aufrufe 532 f. 3 Aen. 2,765; 5,267. 4 Wie und wann man, um einem Befehl zu entgehen, sich mit Übertreibungen helfen dürfe, steht in Fam. 22,5,7 f. 5 Petrarca hat häufig angedeutet, dass er Hitze schlecht ertrage, so Fam. 7,4,5; 8,9,25; 15,8,5. 6 Der Diener ist Bernabò Visconti. 7 Piur, Briefwechsel 131 nimmt an, dass Petrarca einzig die von ihm verfassten Werke meine, die er ständig neu bearbeitete, weshalb er sich von ihnen nicht einmal für kurze Zeit habe trennen wollen. Diese Einschränkung zu machen, ist kaum richtig. Petrarca benötigt zur Überarbeitung und Erweiterung eigener Schriften Bücher anderer Autoren. 8 Vgl. Eccl. 1,8. 9 Zur Verhinderung der Reise vgl. Fam. 23,16; Sen. 1,5 (4); Var. 12. 10 Vgl. Wilkins, Eight years 230–231.

Fam. 23,9, an den Kaiser Karl1 Dem erneuten Ruf antwortet grössere Bereitschaft zu gehorchen. 1. Der Kaiser habe gesiegt. 2. Petrarca hatte gehofft, der Kaiser werde sein Aufgebot vergessen. 3. Er beteuert seine Liebe zum Kaiserreich. 4. Sein Bedürfnis, ein ruhiges Leben zu führen, ist jedoch gross. 5. Er nimmt die Einladung nach Prag an. Doch hätte er den Kaiser lieber in Italien, wo man noch immer auf ihn hofft, getroffen. Mailand, am 21. März (1362).

1. Gesiegt hast Du, Cäsar, und die Mühseligkeit eines langen Weges und die Trägheit meines alternden Geistes hat Deine Menschlichkeit bezwungen.2 Ich wartete, ich zögerte, und ich redete schweigen zu mir selber: „Seine Verfügung und mein Versprechen wird er vielleicht vergessen; gewiss kann ich mittlerweile ruhig bleiben und ein Weilchen um meine Gesundheit, mein Alter, meine Mattigkeit besorgt sein.“ Müde nämlich bin ich aller Dinge, müde meines Geistes, Cäsar, müde der Menschen, müde der Geschäfte, müde bis zum Äussersten meiner selbst, wie jener schwergeprüfte Alte gesagt hat: „Nun bin ich mir selber zur Last.“3 2. Ich hoffte, von den vielen gewaltigen, abgründigen Sorgen, die sich täglich aus aller Welt (wie Flüsse von überall in ein mächtiges Meer) in Dein Inneres ergiessen, könnte leicht der Gedanke an meine geringe Person erdrückt werden. 3. Ich nämlich habe ausser dem Kaisertum, dem ich alles verdanke, kein älteres Bedürfnis als die Ruhe; sie aber, die ich von frühester Jugend auf überall und immer ängstlich gesucht habe, finde ich nirgends; und was schwerer wiegt: Niemals hoffe ich, sie zu erlangen, solange ich sie in den Unwettern dieses Lebens suchen muss. Dass sie mir aber alsbald zuteil wird, wenn ich sie dort zu suchen beginne, wo sie zu Hause ist, vertraue ich fest. Freilich, sie in der Höhe, wo sie wohnt, zu suchen, ist einer rastlosen und hin und her gezerrten Seele, die überdies durch ihre eigenen Gewichte bedrückt und zur Erde geneigt ist, einigermassen schwierig. 4. Ich stemme mich freilich auf und ermuntere mich dank dieser Hoffnung mit den Worten Davids: „Wende Dich hin, meine Seele, zu Deiner Ruhe, denn Gott hat Dir Gutes erwiesen.“4 Und nicht auf mich selber vertrauend, vielmehr nach der ewigen Hilfe ausschauend, sage ich mit dem selben König5 seufzend: „Wer gibt mir Taubenflügel, um zu fliegen und zu ruhen?“ Inzwischen gebe ich mich dieser bloss mühevollen Ruhe hin, wo immer sie gegeben wird, und gedenke seufzend jener andern. 5. Da ich möchte, wie mein Äusseres sei Dir auch mein Inneres bekannt, gestehe ich Dir offenherzig mein Unrecht. Gewiss gibt es nichts, was ich lieber sähe als Dich (vor allem, wenn der Himmel es fügte, dass es an Deinem angestammten Herrschersitz geschähe6), und gewiss gibt es niemanden, dem ich hingebender gehorchte als Dir (vor allem, wenn Du meine Nähe nicht an den äussersten Enden der Erde, sondern innerhalb der Grenzen Deines Dich ersehnenden Italien verlang-

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test); und dennoch kam mir gelegentlich, wenn ich Einzelnes überlegte und auch alles gesamthaft erwog, der Gedanke, Dich mit meinem Schweigen und Deinem Vergessen zu hintergehen. 6. Oh was habe ich gesagt! Oh wen wollte ich hintergehen? Meinen und aller Welt Herrn! Aber nützlich schien mir die Hinterlist zu sein,7 der ich nicht wusste, wozu Du mich brauchen kannst, und der ich, wie gesagt, nichts inniger liebe als Ruhe. Doch es ist, wie ich sehe, vergeblich. So überaus scharf nämlich Dein Verstand und so gross auch Deine Einsicht, so zäh ist Dein Gedächtnis, Cäsar, und Du stehst damit, wie mit vielem, in der Nachfolge jenes ersten Cäsar, zu dem Cicero8 dessen Gedächtnis beschwörend gesagt hat, dass er nichts zu vergessen pflege ausser Kränkungen. 7. Da es sich so verhält, bleibt kein Platz für Verstellung. Unmöglich kann ich den dritten Ruf des höchsten römischen Herrn überhören. Genug und übergenug zwar nicht des Mutwillens – Gott ist mein Zeuge –, aber der Mattigkeit, derentwegen ich nicht schon dem ersten Aufruf gehorchte. Sieh, Du rufst mich aufs neue, Cäsar! Ich komme!9 Und dürfte ich doch an Dir die Bereitschaft erkennen, jene zu besuchen, die nicht bloss einmal oder zweimal, sondern ohne Unterlass Tag für Tag und Nacht für Nacht zu Dir rufen! Lebe wohl, Cäsar, und gedenke Deines Ruhmes, Deines Italien und Deines Kaisertums! Mailand, am 21. März (1362).10

Anmerkungen 1 Vgl. das vorangehende Schreiben an den Kaiser Karl. Wie alle Schreiben Petrarcas an Karl IV. findet man auch dieses bei Piur und lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 534 f. Vgl. auch Überblick. 2 Unmittelbar vorangegangen war ein Schreiben des Kaisers mit einer neuen Einladung; vgl. Piur, Briefwechsel 134–136. Der Kanzler Johann hatte in einem besonderen Schreiben Petrarca ermahnt, dem Wunsch des Kaisers zu entsprechen; vgl. Piur, ebenda 137 ff. 3 Job 7,20. Vgl. Anm. 7. 4 Ps. 114 (=116),7. 5 Ps. 54,7. 6 Das heisst in Rom. 7 Zur nützlichen und erlaubten Hinterlist vgl. Fam. 21,5,10 f. 8 Pro Lig. 12,35. 9 Um dem Wunsch des Kaisers zu entsprechen, machte sich Petrarca von Mailand auf, doch waren wegen Kriegswirren in Norditalien die Wege versperrt; auch eine Begleitung liess sich nicht finden. Dass dem Dichter die Hindernisse sehr gelegen kamen, hat er Freunden (wie Nelli und Boccaccio) gegenüber nicht verschwiegen; vgl. den früheren Brief Sen. 1,5 (nach anderer Zählung 4) und den späteren Sen. 1,3 mit den Datierungen: Padua 28. Mai 1362 und 8. Juni 1362, zudem Var. 12 an Modio aus Parma, wo man erfährt, dass Petrarca auf neuen Bescheid des Kaisers vergebens wartete und vom Herrn von Padua kein sicheres Geleit erhalten konnte, dagegen den Rat, von einer Weiterreise abzusehen. 10 Vgl. Wilkins, Eight years 230 und Petr. corresp. 86.

Fam. 23,10, an den Bischof Johann von Olmütz, den Kanzler1 Ein Mensch, der seiner Kleinheit bewusst sei, dürfe nicht durch fremdes Lob vom Sitz seiner Bescheidenheit weggezogen werden. 1. Verwunderung über die Bescheidenheit eines Hochgestellten. 2. Er hat ein Verlangen, andere über sich hinaus zu erheben. 3. Petrarca lässt sich durch fremdes Urteil nicht unsicher machen. 5. Er wird dem Ruf nach Prag Folge leisten. 6. Doch hofft er auf baldige Entlassung. Mailand, am 21. März (1362).

1. Zu bewundern bist Du, mein Herr, sehr zu bewundern! Denn was ist bewunderungswürdiger als die bei Deiner alles überragenden Stellung gewahrte einzigartige, einmalige Bescheidenheit? In jeder Rede erniedrigst Du Dich auf alle Weise, dabei hat Dich die Natur, hat Dich das Glück und hat Dich Christus, der Herr über beide, hoch erhoben, während der Cäsar, der erhabenste der Menschen, Dich liebt, die Vornehmsten Dich preisen, die Völker Dich verehren, das römische Imperium Dich hegt und sich fragt, welchem Chor von Weisen oder Rednern es Dich am ehesten zuordnen oder vorziehen solle. 2. Dagegen zerrst Du mich, der ich kaum in meiner Umgebung bekannt und nicht mit eigenen Verdiensten bedeckt bin,2 ans Licht und hebst mich mit Worten bis zu den Sternen empor.3 Was willst Du? Ich weiss, dass der Beredte über die Herzen der Zuhörer allmächtig ist, dass jedoch dort, wo die Wahrheit regiert, die Sprachgewalt nichts zu suchen hat. Schmücken kannst Du mich mit den Blüten Deiner Beredsamkeit; verändern kannst Du mich nicht; das vermöchte nicht einmal Cicero, wenn er mich lobte, auch Demosthenes nicht, auch Maro4 nicht. Und wäre es, dass sie fremde Urteile zwingen könnten, vermöchten sie etwa, mich meiner Augen zu berauben, dass ich mich selber nicht sähe? 3. An Dir ist es, so meine ich Dir einst geschrieben zu haben, an Dir ist es, Deinem Eigentum einen Wert nach Deinem Wunsch zu bestimmten,5 doch an mir ist es, mich zu kennen, niemandem ein Wort über mich zu glauben, und schon gar nicht einem, dem ich lieb bin wie Dir. Fest im Boden verhaftet, werde ich von dergleichen Lüften nicht leicht erschüttert, und werde ich erschüttert, so dennoch nicht umgestürzt. Meiner Kleinheit bewusst, schenke ich niemandem so viel Vertrauen wie jenen, die ohne Hass und ohne Neid mein Leben und meinen Ruf zerpflücken. Und überhaupt würde ich, wärst Du mir nicht genau bekannt oder würde das, was Du sagst, von einem andern gesagt, mich für verhöhnt ansehen. 4. Aber das sei mir fern, dass ich von einem so vorzüglichen Menschen, der mir so wohlgesinnt ist und der so ausserordentliche Verlässlichkeit und so allbekannte Seelenstärke besitzt, etwas anderes vermutete, als was richtig, rein und ehrlich ist. Beim Pollux, ich glaube, Du sagst, was aus Deinem Herzen kommt und in Deinem Herzen ist, in meinem Herzen aber nicht ist. Ich bin wahrhaftig in allem ein Bewunderer Deines Scharfsinns; aber Du hast diesen einen Irrtum, und zu diesem

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Irrtum wünsche ich mir Glück. Er wurde nicht durch einen Mangel an Verstand, sondern durch Liebe, Zuneigung, Höflichkeit, diese edelsten Wurzeln, hervorgebracht. 5. Doch um zu schliessen: Schau, ich komme, da es vom Cäsar und Dir so durchaus gewünscht wird.6 Und ich komme nicht, wie Du sagst, um zu lehren, sondern um zu lernen und von Deinen Unterweisungen wie von Deinem Beispiel Nutzen zu ziehen. Wirklich ist von Platon, Aristoteles und Xenophon7 und von jener ganzen alten und edlen Sippe der Philosophen anzunehmen, sie seien durch die Belehrungen eines Sokrates nicht tüchtiger gefördert worden als durch seine Sitten. Lebendiger regt sich in der Seele, was durch die Augen als was durch die Ohren in sie einging. 6. Die Länge meines Aufenthalts zu bestimmen, wird dem Gutdünken der Rufenden zukommen. Ich nehme freilich an, unser Kaiser werde mir bald Urlaub geben, wenn er zu beachten geruht, welchen Nutzen es mir bringen wird, in Gedanken an mich und mein anderes Leben in den Solddienst des ewigen Kaisers zu wechseln. Und dass Du über meine Langsamkeit nicht etwa erstaunst bist! Du kennst meine Gewohnheit! Denke mich also nicht als fliegende Schwalbe am Himmel, nicht als flüchtigen Hirsch in den Bergen, sondern als mühsam kriechende Schildkröte! Lebe wohl! Mailand, am 21. März (1362).8

Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Briefe an den selben Adressaten. Der Kanzler hatte Petrarca schriftlich aufgefordert, der Einladung des Kaisers zu entsprechen; sein Brief steht bei Piur, Briefwechsel 137 ff. Gegen allzu grosses Lob hatte sich Petrarca schon in Fam. 23,6,3 gewehrt. 2 Man wird sich an die vielen Stellen erinnern, an denen Petrarca seines grossen ihm lästigen Rufes gedenkt; vgl. z. B. Fam.11,12,4; 15,8,11; 18,2,14; 23,2,7. 3 Eine solch überschwengliche Lobpreisung findet man in Johanns Brief Stili magistralis; vgl. Piur, Briefwechsel 94–97. 4 Also Vergil. 5 Vgl. Fam. 23,6,3. 6 Vgl. zu den Schwierigkeiten, Italien zu verlassen, Fam. 23,14 an den selben Adressaten. 7 Vgl. das Personenreg. 8 Gleiche Jahreszahl wie im vorangehenden Schreiben.

Fam. 23,11, an den Advokaten Giovanni von Bergamo1 Der Advokat, bereit zur Fahrt übers Meer, um am Grab Christi die Ritterwürde zu empfangen, wird ermahnt, von diesem Vorhaben abzustehen. 1. Petrarca schreibt, um lieber zu raten als zu tadeln. 2. Zum Grab Christi zu pilgern, kann eine Pflicht der Dankbarkeit sein. 3. Dort aber kostbare Abzeichen der Ritterwürde zu holen, ist falsch. 6. Vorbild für richtiges Verhalten ist der Herzog Gottfried. 10. Höher zu schätzen als die geplante Reise wäre ein kriegerischer Einsatz für die Gerechtigkeit. (Kein Datierungsvorschlag)

1. Lieber gebe ich Dir einen Ratschlag als eine Satire zu lesen. Denn das eine ist voll aufrichtiger Liebe, aber das andere in Anbetracht der Sitten und Gesinnungen der Menschen nicht frei von Abneigung. Wirklich, was ich abrate zu tun, würde ich tadeln, wäre es schon getan. Dass es nicht geschehe, dafür haben wir schon jetzt vorzusorgen. Lieber wünsche ich Dir tausendmal ein Lob als einmal eine Rüge und zweifle nicht, dass auch Du solches vorziehst. Es pflegt wie „der Ruhm“ so auch das Verlangen nach Ruhm „einer edlen Tat zu folgen.“2 Wer sich danach ausstreckt, bedarf einer wachen Aufmerksamkeit bei jedem einzelnen Schritt seines Lebens, damit nicht gleichsam sein geistiger Fuss irgendwo strauchle oder fehlgehe. 2. Da höre ich, Du wolltest nach Jerusalem reisen und das Grab des Herrn besuchen; ich höre das, sage ich, und billige es und lobe es, und da Du mir schon immer sehr lieb warst, zwingt mich Dein frommes Vorhaben, Dich noch herzlicher zu lieben. Was wäre dem Menschen nötiger als Frömmigkeit, was natürlicher? Oder wo gäbe es eine gerechtere Frömmigkeit, als wenn Du Ihm, der für Dich aus reiner Gnade sein Blut vergoss, für Dich seine Seele einsetzte und sein Leben hingab, für diese grosse Hingabe nach allen Kräften danktest? Und wenn Du, weil eine bessere Unternehmung Dir fehlt, wenigstens in trauerndem Gedenken und mit dankbaren Tränen jene Orte benetztest, an denen er aus Liebe zu Dir sich selbstlos geopfert hat? 3. Was allerdings das Gerücht darüber hinaus noch berichtet, lobe ich nicht. Du hättest nämlich beschlossen, eben dort sogenannte goldene Sporen und die Abzeichen des Ritterstandes und dessen Titel zu erwerben. Eingenistet hat sich dieser Brauch, wahrhaftig, und ich weiss nicht, woher er stammt. Beim Dichter3 ist von eisernen Sporen die Rede, von vergoldeten aber, so weit ich mich erinnere, nirgends. 4. Doch nehmen wir an, die wahre Mannhaftigkeit eines Mannes liege nicht in der geistigen Haltung sondern in der äusseren Aufmachung, und seine Kräfte lägen nicht im Schwert sondern in den Sporen, und wenn diese nicht herrlich erstrahlten, vermöge ein Mann nicht stark zu sein. Solches wird jedoch, wie ich meine, weniger durch authentische Schriften als durch einen minderwertigen und neumodischen Brauch verbürgt. Gewiss, wenn Dich zu dieser Ritterschaft, von der

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ich spreche, jetzt Brauchtum, Meinung, Geschlecht, Alter und Aussehen hinziehen, so wundert mich das nicht. 5. Doch mahne ich, bevor Du den Plan ausführst, zu bedenken, was sich geziemt. Am Ort, wo Dein Schöpfer und Herr in unsagbarer und bestürzender Erniedrigung für Deine Vergehen und die Deines Geschlechts4 eine Dornenkrone trug, sein Kreuz auf sich nahm und den Tod erlitt, würdest Du mit vergoldetem Stachel und auf glänzendem Pferd Dich selber zur Schau stellen! Und wo das heiligste Haupt – auf dessen Wink die Himmel kreisen, die Winde verstummen und die Wogen sich glätten,5 während die seligen Engel sein Zeichen6 ersehnen und die unseligen es fürchten –: ja wo es sich rötete im strömenden Blut, da würden Deine Fersen erstrahlen in feurigem Gold! 6. Im übrigen wie Du willst! Ich allerdings möchte, nachdem ich dafür sorgte, dass die Sache eines freundschaftlichen Rates nicht entbehre, auch noch darum bemüht sein, dass es Dir an einem Exempel nicht fehle. Da ist Herzog Gottfried,7 ein Held von so grossem Ruhm, dass er wie im Gerede der Menge so auch an den Höfen von fast ganz Gallien unter drei Heerscharen der Christen (ganz hervorragenden, wie es heisst) in Schrift und Bild den dritten Platz einnimmt.8 Er ist ins Heilige Land gereist, hat es erobert, gebändigt und zum Kult des wahren Glaubens zurückgeführt. Dabei hat er unser Erbe der Hand eines ungemein tüchtigen Feindes mit sehr viel grösserem Erfolg entrissen, als seine späteren Nachfolger das selbe Erbe vor allerfeigsten Gegnern zu behüten vermochten. Doch darüber gehe ich jetzt hinweg; denn weder ist mir die Klage neu, noch sind meine Kräfte ihr gewachsen. 7. Wende also Dein Herz dem Folgenden zu. Mit keinerlei Überlegungen konnte man jenen Herzog und Sieger von sehr königlicher Gesinnung dazu bewegen, den Königstitel und den Purpur zu übernehmen. Er lehnte es ab, eine goldene Krone zu tragen, wo Christus eine aus Dornen getragen hatte. 8. Wunderbar ist diese Bescheidenheit. Dieser Mann war allein schon dank seinem Verzicht würdiger als andere, die Schmach Christi zu rächen. Wenn nun er, der Sieger, der bewaffnete, im Gedanken an jene Dornen sich weigerte, seiner siegreichen und verdienstvollen Stirn einen Goldreif aufzudrücken, wie anmassend würde da die Gesinnung eines modernen Christen sein, wenn er, obwohl nicht etwa Sieger über jene Länder, sondern einfacher und ängstlicher Pilger, mit nassen oder staubigen Fersen seine Goldsporen drückte? 9. Ich führe nichts anderes an, denn es ist nicht nötig. Und wenn ich vielleicht sehr vielen Männern, die in gegenteiliger Auffassung handelten oder zu handeln gedenken, mit meiner Schlussfolgerung missfalle, so rede ich doch nicht, um einen Schluss zu ziehen, sondern um einen Rat zu geben. Vom geplanten Unternehmen abzulassen, das ist mein Ratschlag, hoffentlich so voller Klugheit wie Redlichkeit. 10. Und willst Du einem Freund etwas glauben und ist es so, dass der Ruhm verlangt, ein Schwert mit goldenem Griff zu schwingen, ein Pferd mit Gold sowohl zu

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zügeln wie zu sprengen und, wie mehrmals gesagt, goldene Sporen zu tragen (was freilich weder von Scipio noch von Caesar bezeugt wird), so kehre doch als ehrbarer Sieger im Schmuck Deiner Brustzier aus einem tüchtigen Heer und aus irgendeinem heiligen Krieg zum Wohl des Vaterlandes und zur Verteidigung der Gerechtigkeit zurück, jedoch nicht vom Grabe Christi! Kommst Du aber von eben da, dann in bescheidenem Überwurf und wohlbehalten unter freudigen Tränen. Lebe wohl! (Kein Datierungsvorschlag)9

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

Von diesem Adressaten ist nichts weiter bekannt. Vgl. Überblick. Vgl. Cic. Tusc. 1,45,109; vgl. auch Fam. 15,1,8. Der Dichter ist Vergil; vgl. Aen. 11,714. Gemeint ist das Menschengeschlecht. Vgl. Mt. 8,26; Lc. 8,25. Gemeint ist das Zeichen des jüngsten Gerichts; vgl. Mt. 24,30; Lc. 21,25; Apoc. 12,1. Gottfried von Bouillon, Herzog von Niederlothringen, führte eine Abteilung von Kreuzfahrern an; weitere Abteilungen standen unter Hugues von Vermandois, Raimond von Toulouse, Boemund von Tarent und Robert von der Normandie. Gottfried brach im August 1096 als einer der ersten Anführer mit einem grossen Haufen auf und war im Juli 1099 massgeblich an der Eroberung Jerusalems beteiligt. Die Herrschaft übernahm er nicht als König sondern als „Beschützer des Heiligen Grabes.“ Das entsprach wohl seiner Gesinnung, jedenfalls einer Forderung der Geistlichkeit im Heer. Er starb schon 1100 an den Folgen einer Seuche. Mittelalterliche christliche Legenden überboten sich, ihn zu verherrlichen. 8 Lateinisch: adeo clarus ut et per ora hominum et per aulas fere omnium Galliarum inter trium sectarum ternos, ut perhibent, excellentes, ipse quidem scriptus et pictus Cristianorum tertium teneat locum. 9 Petrarca wurde 1358 eingeladen, eine Pilgerfahrt ins Heilige Land zu unternehmen, lehnte jedoch ab. Vgl. sein Itinerarium breve de Ianua usque ad Ierusalem et Terram Sanctam (Itinerarium syriacum), gewidmet Giovanni Mandelli, 4. April 1358; dazu Dotti, Vita 324 f. mit Literaturhinweis.

Fam. 23,12, an den Erzbischof Guido von Genua1 Nicht der Schmerz, aber Geduld im Schmerz ist zu wünschen; viele Gaben, die dem ersten Empfänger nutzlos sind, können anderen nützen. 1. Der Mensch hat ein unverlierbares Verlangen nach Glück. Im Unglück ist die Kraft zum Durchhalten schon halbes Glück. 5. Poseidonios rechnet Beschwerden nicht zu den Übeln. Er nennt das Laster das einzige Übel. 8. Über Beschwerden spricht am richtigsten, wer solche tapfer erduldet. 10. Petrarca spricht von der Gicht. Die Meinung des Poseidonios überzeugt ihn nicht immer. 14. Er würde zur Frage des Übels eine Schrift vorlegen, doch es fehlen ihm gute Kopisten. 15. Sein Sohn versagt ihm die Hilfe. 17. Auch für dieses Unglück muss Petrarca Geduld aufbringen. 25. Ihn freut, wenn einer seiner Briefe nützlich ist, wenn nicht dem Adressaten so doch einem andern. 29. Cicero und andere versuchten erfolglos ihre Söhne zu Erben ihrer Bildung zu machen. Mailand, am 1. Dezember (1360).

1. Niemand will unglücklich sein oder hat es je gewollt.2 Dem nämlich widersetzt sich die Natur. Selbst nach dem Verlust des Glücks verlieren wir nicht das Begehren danach; ja wir verlangen dann am stärksten, glücklich zu werden, wenn wir im höchsten Mass unglücklich sind, und die Sehnsucht nach dem Guten steigert sich in der Gegenwart des Übels. Sogar wenn wir ab und zu etwas anderes zu wollen scheinen, wollen wir dennoch immer das Selbe, und überhaupt hat niemand das Vermögen, etwas anderes zu wollen, und jene, deren Taten dem Wollen widersprechen, wollen trotzdem; aber indem sie eben das wollen, treibt sie die Unwissenheit ins Gegenteil. Sie gleichen damit den Reisenden, die oft das Ziel, das sie im Geiste verfolgen, unter den Füssen verlieren. 2. So ist es auch mit den Sündern; sie tun das, was sie elend macht, doch meinen sie, in der Erfüllung ihrer Begierde liege ein gewisses Glück. Und andere, die Hand an sich legen, fliehen auf diesem Pfad vor dem Elend, wiewohl vergeblich, indem sie übersehen, wie sie auf der Flucht vor einem kurzen Unglück dem ewigen verfallen. Und in der Tat geht niemand anders als im Hass auf ein unglückliches Leben oder in der Hoffnung auf ein seliges in den freiwilligen Tod: zerstörerisch ist der Hass, töricht die Hoffnung; denn dem, was man flieht, verfällt man, und das, was man wünscht, verstösst man. 3. Wie nun nach Kummer zu verlangen, dem Geist nicht möglich ist und wie, sofern es doch möglich wäre, das Verlangen danach einen kranken Geist verriete, so wäre in schwieriger Lage, die Geduld erfordert, der Wunsch nach dem Durchhalten Klugheit und die Erfüllung dieses Wunsches wenigstens ein Teil von Glück. Ein volles Glück bestünde hingegen darin, nichts Betrübliches, nichts Beschwerliches, nichts Widriges zu erdulden, vielmehr einen ewigen Zustrom alles Angenehmen sicher zu besitzen.3 Da man solches in diesem leidvollen und tränenreichen Exil nicht haben kann, steht dem Glück am nächsten die Fähigkeit, mit Fassung zu ertragen, was immer eintrifft, und den Schlägen des Schicksals den Schild der Geduld entgegenzuhalten.

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4. Wie sehr mich unter solchen Gedanken die Krankheit Deines Leibes betrübt hat, so sehr oder noch viel mehr hat mich der Gleichmut, die Gesundheit und Kraft Deines Geistes beglückt, denn mehr an Gutem gibt es hier als an Bösem dort.4 Wollte ich aber mit den Stoikern sprechen, gäbe es ebenda viel Gutes, dort überhaupt nichts Böses, wenn auch etwas Beschwerliches. Leicht fällt es eben, als gesunder Mensch in seinem Wohlergehen über die Krankheit anderer Leute und ihren Schmerz zu philosophieren! Dagegen ist sich selber zu trösten und sich der Empfindung des Schmerzes zu entziehen, recht viel schwieriger. 5. Nicht auf jedem Schragen liegt Poseidonios.5 Als Magnus Pompeius – damals in Rom und auf dem ganzen Erdenrund hochgeachtet und furchterregend – zu ihm reiste, um ihn kennenzulernen, blieb er, der Königen stolz begegnete, dem Philosophen gegenüber bescheiden, und dieser, „schwer krank“ wie er war, erwiderte dem bedeutenden Mann die Ehrung, so gut er vermochte. Er „disputierte“ also mitten unter Qualen und stechenden Schmerzen, während Pompeius erstaunt zuhörte, über die sehr berühmte Meinung, „es gebe kein Gut“ ausser die Tugend, und es gebe kein Übel ausser das Laster. Doch weil der Schmerz gegen den Sprechenden aufmuckste, bemerkte dieser endlich in sich hinein – sofern ich den Bericht Ciceros6 dem Sinn und dem Wort nach richtig festhielt: „Nichts erzwingst Du, mein Schmerz! Wie beschwerlich Du mir auch sein magst, nie werde ich erklären, dass Du ein Übel bist.“ 6. Du siehst, worauf Poseidonios in diesem Satz das Hauptgewicht legte, nämlich auf den Unterschied zwischen Übel und Beschwerde,7da man hinwiederum auch einen Unterschied zwischen Gutem und Vorteilhaftem macht. Und dies mit Recht. Denn wenn das einzige Gut eben die Tugend ist, das Übel aber nichts anderes als das Gegenteil des Guten, und das Laster wiederum das einzige Gegenteil des Guten, dann ist wirklich nichts anderes ein Übel als das Laster. Doch lassen wir so Erhabenes und sprechen wir wie alle andern, und dies nicht zuletzt deshalb, weil es weder dem Urteil der grossen Menge noch dem Allgemeinsinn einleuchtet und weil sogar ein gegnerisches Philosophenheer unter der Führung des Aristoteles unter grossem Geschrei dawiderredet. 7. Leicht ist es also für einen Gesunden, neben einem Kranken sitzend zu disputieren, sich mit gewundenen Argumenten auf knifflige Meinungen einzulassen, um dann hoch tönende Probleme aufzuwerfen.8 Mit Umschlägen nicht mit Worten behebt man den Schmerz, obwohl dieser auch mit Worten gemildert und gebrochen werden kann; denn oft hat eine freundschaftliche Zurechtweisung oder eine männliche Aufmunterung durch Beschämen oder Beloben eine Seele so gewappnet, dass sie eine dem Leibe zugefügte Verletzung nicht mehr verspürte. Doch haben die Worte dann ein besonderes Gewicht, wenn einesteils der Lernwille des Hörenden und andernteils die Glaubwürdigkeit des Sprechenden gegeben sind.

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8. Diese Glaubwürdigkeit ist aber dann vor allem gross, wenn der Belehrende ausser Einsicht auch Erfahrung erworben hat, nämlich als einer, der einst Ähnliches erduldet und nun das, was er fordert, vorher schon selber geleistet hat. Und gerade dann ist sie am grössten und gar vollkommen, wenn einer gleichzeitig redet und leidet. Denn dann bietet er nicht logische Schlüsse an, sondern zeigt die Sache vor, und dann verleiht der vorhandene Schmerz seinen Worten besondere Stärke. Daraus ergibt sich, dass zur Festigung aller Geduld eben diejenigen Mahnungen am wirksamsten sind, die jemand unter eigenen Qualen vorträgt. 9. Diese Überlegung hat mir, der ich als Ratgeber unter anderen Umständen vielleicht nicht genügend Gewicht besitze, jetzt Autorität und Glaubwürdigkeit verschafft. Denn soeben, da ich mich an Dich wende, ertrage ich keine geringeren Schmerzen als die der Gicht, während auch Du von Deinen Schmerzen bedrängt und bedrückt, jedoch nicht besiegt bist und sie mit so grosser Tapferkeit aushältst, dass Dir beides nicht fehlt, weder Gutgläubigkeit noch Lernwille. Beide also, sowohl der Lehrer wie der Schüler, sind jetzt ihrer Aufgabe gewachsen. 10. Ich habe ja für den Augenblick die Rolle des Lehrers übernommen, bin aber bereit, später Schüler zu sein, sofern Du es willst. Und ich spreche von der Sache, die uns beide jetzt am stärksten beschäftigt, und nichts sage ich, was ich nicht selber erlebt habe. Auch spreche ich mit grösserer Gewissheit, als mir recht ist, spreche ich doch vom Schmerz, der mir unter dem Reden so heftig zusetzt, dass ich in diesen Tagen im häufigen Gedanken an Poseidonios über seine Auffassung doch etwas stutze und wechselnd dies und jenes überlege. 11. Denn ist die Gedankenverknüpfung, die Du oben gehört hast, richtig, so kann doch wohl ebenso richtig sein, was ich hier anfüge: Angenommen das Behagen, die Gesundheit, die Unversehrtheit der Glieder sind ein Gut, und ist das Entgegengesetzte zum Guten notwendigerweise ein Übel, dann ergibt sich daraus, dass die Beschwerde und die Krankheit und der Schmerz des Leibes eben ein Übel sind.9 Darum also kann ich die eiserne Festigkeit jenes Mannes nicht so leicht nachahmen als bewundern. Und schliesslich wird mir bewusst, dass meine Lehre oft stoisch ist, meine Empfindung aber stets peripatetisch.10 12. Doch damit wir nicht mit einer müssigen Erörterung des körperlichen Schmerzes gar noch die Seele beschweren, seien diese heiklen Fragen an die Schwelle der Schulstube verwiesen und auf eine vielleicht ruhigere Zeit verschoben. Eine ausnehmend grosse Freude habe ich unter Deinen und meinen Martern deswegen verspürt, weil ich in Deinem Schreiben nicht allein die schriftliche Bezeichnung Geduld, sondern just die ausgehauene11 Geduld selber vor mir sah. 13. Wie immer dieser nie endende Philosophenstreit aussehen mag: In einem Punkt sind sich alle Philosophen und die Erfahrung und gar die Wahrheit unter sich einig: Unter misslichen Zuständen – ob es sich um Übel oder Beschwerden handle –12 sagt man am besten, Geduld sei das einzige Hilfsmittel. Denn Entrüstung,13 Klagerufe, weibisches Gezeter und tiefe Trauer können (ganz abgesehen davon, dass sie

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Männern übel anstehen) den Schmerz nicht lindern sondern nur schärfen.14 Wie denn umgekehrt auch in Glückszuständen – ob man sie als gut oder angenehm bezeichne – das beste Heilmittel die Mässigkeit ist, mit deren Zügel man den Ansturm ausgelassener Freude bändigt. Über diese beiden Hilfsmittel zusammen etwas Weniges zu schreiben, ist mir vor einiger Zeit in den Sinn gekommen, und ich habe es getan.15 14. Und Du hättest das Schriftlein erhalten, wäre ich selber nicht vom Schreiben schon müde und kein Helfer vorhanden.16 Meine Freunde sind entweder abwesend oder in eigene Angelegenheiten verstrickt und können mir deshalb ihre beschäftigte oder allzu ferne Hand nicht bieten. Und wie gross die Verlässlichkeit der Schreiber, wie gross ihre Beharrlichkeit, wie gross schliesslich ihr Verstand ist, das hat uns die Erfahrung gelehrt: Sie versprechen sehr vieles, verderben alles und führen nichts bis ans Ende. So kommt es, dass bei vielen – denn was ich selber verspüre, vermute ich auch bei andern –,das glühende Verlangen, neue Geisteserzeugnisse niederzuschreiben, erkaltet; denn es taucht die Furcht auf, es könnten ansehnliche Ergebnisse eigener Sorgfalt durch fremde Sorglosigkeit verdorben werden.17 15. Unser „betriebsamer“ Sprössling,18 den ich unter so grossen und schwierigen Umständen dreiundzwanzig Jahre lang erzogen habe, damit er mir in zunehmend beschwerlichem Alter eine Hilfe bei der Arbeit und eine Zierde und Freude meines Hauses sei,19 er ist mir – wie falsch ist doch die Voraussicht eines blinden Verstandes, die in einem früheren Brief an Dich20 auszuradieren wäre – er ist mir eine einzige Lebenslast, eine einzige Schande, ein einziger Schmerz. Entgegen meiner einstigen Vermutung, dass er für die Wissenschaft, wenn er wolle, vorzüglich geeignet sei, ist er ein Feind der Rechtschaffenheit, von schlechtesten Sitten, faul, neidisch, anmassend und rebellisch, Knecht der Leidenschaften und Gefolgsmann der Begierden. 16. Doch alles habe ich zu ertragen, damit nicht der Eindruck entstehe, mir selber sei in meinen Schwierigkeiten die Geduld, von der ich hier spreche und die ich an anderen lobe, verloren gegangen. Dass ich es heiter ertrage, das wage ich nicht zu behaupten, doch tue ich es willig, um dazu nicht gar gezwungen zu werden. Und wenn Augustus, der glücklichste und mächtigste der Menschen, drei Eiterbeulen, wie er es nannte, aus seinem eigenen Blut erduldet hat,21 wie wäre da ich, ein zur Anstrengung geborener Mensch, erträglich, wollte ich eine einzige nicht ertragen? So ringsum verlassen, halte ich mich an die Fabel jenes phrygischen Gelehrten, um nach Verlust der vereinbarten und erhofften Hilfe die Ernte mit der eigenen Sichel einzubringen. Doch insofern fehlt mir etwas mehr als jenem Greis bei Aesop,22 als er zum Begleiter einen Sohn hatte, ich aber keinen. 17. Daher – was ich schon oft beklagt habe und jedesmal beklagen muss, wenn ich darauf zurückkomme – fällt die ganze Mühe und alle Arbeit auf diese müden und verbrauchten Finger zurück,23 und die ganze Bürde drückt diese schwachen und schwer beladenen Schultern. Doch auch das ist mit grossem Mut zu ertragen.

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Auf dornenvollen Pfaden steigt man auf, wohin ich mich sehne. Niemals bin ich so jung und dumm gewesen, dass ich glaubte, ich sei zur Ruhe gelangt, obwohl ich diese, was mich heute verwundert, da, wo sie nicht ist, unglücklich und ich weiss nicht mit welchen Wahnideen, im Finstern tappend gesucht habe.24 18. Das alles habe ich Dir jetzt gesagt, damit Du mir nicht vorwirfst, ich hätte Dir etwas, das Dich im höchsten Mass angeht, noch nicht mitgeteilt. Habe ich Dir aber nicht volle Heilung beschert, so doch vielleicht etwas an Linderung. Und jedenfalls mit dieser Lektüre sei Dir eine gewisse Beschäftigung und ein heilsames Vergessen Deiner Übel gegeben. 19. Und was übrigens zum Thema dieser Epistel gehört: Deine Krankheit hasse ich, Deine Geduld aber liebe ich; und so muss ich mich fragen, ob ein Übel wünschenswert sein könne. Sofern überhaupt mit Recht ein Übel geheissen wird, was Dich zur Erfahrung Deiner selbst und zum ruhevollen Besitz des so grossen Gutes, wenn zwar auf sehr steinigem Weg, geführt hat. Und so geh denn voran! Und „erlahme nicht“,25 sondern bleibe fest, beschwichtige in dieser Bedrängnis Dein Herz, ermutige, härte und erhebe es! 20. Du bedarfst keines Helfers ausser des himmlischen. Er wird da sein, er wird dem Gefährdeten seine Rechte entgegenstrecken, sooft Du ihm in christlicher Frömmigkeit das Dichterwort26 zurufst: „Siegreicher reiss mich heraus aus der Not,“ wenn Du nur nicht zweifelst, nicht misstraust und nicht ermüdet Dich zum Boden neigst, sondern Dich zum Himmel aufrichtest und die Hilfe dessen erflehst, der weit stärker als Du selber danach verlangt, dass Dir geholfen werde, auch die dem Menschen unbekannten Wege kennt, auf denen es am besten geschieht. 21. Zudem macht nicht selten der Aufschub der Erfüllung von Wünschen einen beträchtlichen Teil seiner Wohltat aus. Rettung zu erbitten, kommt uns zu; doch die Art und Weise und den Zeitpunkt wollen wir seiner Entscheidung überlassen. Sein Wille verändert sich nicht, sein Urteil täuscht sich nicht, und seine Macht vermindert sich nicht. An seiner Hilfe verzweifle auch dann nicht, wenn Dir scheint, er habe Dich vergessen oder er sei auf Dich erzürnt. Von Ihm steht ja geschrieben:27 „Wenn Du erzürnt bist, gedenkst Du Deines Erbarmens.“ Vertrauensvoll, zuversichtlich und aufrichtig wiederhole das bedenkenswerte und gottergebene Wort, das jener von Geschwüren bedeckte Greis28 gesagt hat: „Selbst wenn er mich umbringt, ich hoffe auf Ihn.“ So rede, so handle, so denke, so hoffe! Alles wirst Du können, wenn Du zu können vertraust, zwar nicht durch Dich, aber „durch Ihn, der Dich stark macht.“29 22. Und nun handle, wie Du gewohnt bist, unentwegt, und dies um so eiliger, je näher Du dem Ende bist. Der Weg ist kurz; und ist etwas kurz, ist es nicht schwierig. Kein Weg von wenigen Schritten, gar wenn er sich senkt, schafft Müdigkeit. Dagegen ermüdet schon beim blossen Anblick ein etwas langer Weg, sogar wenn er eben ist. Was aber meinst Du? Ein grosser Teil des Tages hat man in falschen Freu-

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den, in wahren Mühen, unter vagen Hoffnungen und sicheren Gefahren vertan. Und wie gar wenig ist das, was übrig bleibt! 23. Es will Abend werden,30 das glaube mir. Während wir plaudern und uns umsehen, vergeht der Tag, ohne dass wir es achten. Nach der Sonne müssen wir ausschauen; dann werden wir sehen: das Ende ist da. Selbst wenn wir es leugnen, wird es doch da sein. Und was die meisten Reisenden erleben, vor allem, wenn sie sich tragen lassen: Unverhofft steht der Gastwirt vor seiner Türe,31 und dann nimmt uns die letzte Behausung auf. Daher muss man den Rest des Lebens freudig und vorsichtig und mit unbesiegbarem Mut zurücklegen und dabei die Mühe mit der Hoffnung auf Ruhe versüssen. 24. Und weil wir unter dem Reden so weit gekommen sind, sehe ich auch jene Gewohnheit durch viele Reisende bestätigt, dass man kurz vor der Ankunft beim Gasthaus gemächlicher gehe, damit die in der Mittagsglut erworbene Körperhitze sich vermindere. Man verlangsamt dann mit Absicht seinen Schritt, zügelt die dampfenden Pferde und langt am Reiseziel so gelassen an, dass nirgends eine Spur von Eile sichtbar wird. Und sind wir als Heranwachsende mit begeisterten Herzen über den Kampfplatz und als junge Männer über Bergpfade gegangen,32 haben wir nun den festen und ebenen Boden wiedergewonnen, müssen die Hitze mässigen und den Wanderdrang zügeln, um dann so bedächtig, geruhsam und zuversichtlich ans Ziel zu gelangen, dass einer, der uns am Abend antrifft, kaum glaubt, wir seien die selben, die zur Mittagszeit gelaufen waren. Wenn uns noch kurz vor der Ankunft vielleicht ein Missgeschick zustösst, wird, das wiederhole ich, die Schwierigkeit durch ihre Kürze gemildert. 25. Dass Du für Deine Person demgemäss handeln wirst, bedeutet mir eine so mächtige Freude, dass mir kaum fröhlicher zu Mute wäre, wenn ich selber etwas so Tapferes geleistet hätte. Und das macht den Gipfel meiner Freude aus, dass Du erklärst, in dieser Hinsicht sei Dir jener bestimmte Brief nützlich gewesen, den ich vor so manchen Jahren für einen alten Ordensmann33 verfasste, weil er mir schriftlich geklagt hatte, die Gicht, die Armut und das Alter, doch vor allem das Verlangen nach mir, der ich ihm lange Zeit fern war, bedrückten ihn. Von diesen genannten Leiden sind es bloss zwei, die Dich quälen: das erste und das letzte. Und eben dieses letzte werde ich Dir wegfegen, sobald das Kriegsgetümmel in einem guten Frieden zur Ruhe gekommen ist. Und wäre mir doch möglich, Dich auch vom ersten zu befreien! Dass Du weiterhin leiden müsstest, das würde ich dann nicht dulden; denn schon genügen die Proben, die Deine Tapferkeit Dir geliefert hat! Und ist wahrhaftig, wie ich am Anfang gesagt habe, Geduld begehrenswert, so ist doch, wie selbst die gestrengsten Philosophen34 zugeben werden, der Schmerz nicht zu wünschen, sondern zu ertragen. 26. Das aber lobe ich an Dir; und ich treibe den Laufenden voran, da ich nichts anderes tun kann. Und dass der erwähnte Brief Dir nützlich war, erfüllt mich mit

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Stolz, und inwiefern er auch dem Empfänger, für den er geschrieben wurde, hilfreich war, mag er selber gespürt haben. Ich sah ihn später nur noch einmal, und zwar sehr kurz unter der Burg von Palestrina;35 und er schien mir heiterer als üblich zu sein und mit allen seinen Beschwerden und mit seinem Alter gleichmütiger zu kämpfen. Mir dankte er, indem er sagte, es sei mein Verdienst, dass er ohne Gejammer in Frieden altere und den Tag des Schreckens unerschrocken erwarte. Nicht viel später ist er gestorben. 27. Das kommt übrigens sehr häufig vor, dass eine Arbeit gewissen Personen zugedacht, jedoch anderen nützlich ist. So sammelt zum Beispiel ein Vater Schätze für seinen Sohn, aber dann ist es ein anderer, im schlimmsten Fall ein Feind, der das Erbe geniesst. Ja nicht bloss in den Dingen, über welche Fortuna herrscht,36 sondern auch dort, wo ihr, wie es heisst, kein Recht zukommt, habe ich das selbe mit grossem Staunen bemerkt. Zweifellos handelt es sich um eine Ungerechtigkeit, doch ist sie dermassen verbreitet, dass ein Staunen darüber schon selber erstaunlich wirkt. Und weil Dir einesteils nicht lästig zu werden pflegt, wenn ich recht ausgiebig spreche, und andernteils die Sache eines Beispiels bedarf, verweile ich dabei. 28. Und ich gehe über jene hinweg, welche ihre Kenntnis vom Gemeinwesen oder von der Kriegskunst ihren Söhnen übertrugen, doch damit allen dienten ausser jenen, denen insbesondere zu nützen ihre Absicht war. Was übrigens, wie ich sehe, auch bei literarisch Gebildeten, ja bei ihnen sogar besonders häufig geschieht, indem eine Art Absonderlichkeit darin besteht, dass einem Vater von höchster Begabung selten genug ein ebenso begabter Nachkomme folgt, die Natur vielmehr einen Wechsel verfügt, damit jeder, was er geworden ist, Gott verdanke und nicht seinem Vater. Ich könnte Herzöge, Könige, Cäsaren zum Beweis anführen, doch fehlt dazu die Zeit. Ich komme zu dem, was in Büchern steht und auf alle Jahrhunderte hinaus vielen nützlich bleibt, aber gerade in den Augen derer, für die es geschrieben wurde, anscheinend geringen Wert besass. 29. Aristoteles37 schrieb eine „Ethik für einen Nikomachos“, sei’s dass dieser der Vater des Autors oder sei’s dass er – wie andere meinen – dessen Sohn oder Freund war. So durchaus gar nichts war er, dass über die Frage, was er gewesen sei, unter vielen noch jetzt ein Zweifel besteht, obwohl Cicero zweifelsfrei erklärt hat,38 er sei der Sohn des Philosophen gewesen und durch nichts anderes bekannt als durch die an ihn verschwendete Mühewaltung, nein nicht einmal dafür bekannt, denn er sei durch und durch ein Dunkelmann gewesen, den nicht einmal Aristoteles heller zu machen vermochte. 30. Seneca schrieb an Nero, und zwar, was uns verwundert, „Über die Milde.“ Und inwiefern das Buch dem Angesprochenen genützt hat, ist auf der ganzen Welt bestens bekannt. 31. Für seinen Sohn Eustachius schrieb Macrobius Kommentare zu Cicero und die „Saturnalien“, nämlich sehr aufwendige Arbeiten. In der Vorrede zum einen39 will er alles, was er jemals gelesen hat, seinem Sohn wie einen Hausrat an Wissen und wie einen Schatz an Bildung weitergeben. Doch was meinst Du?

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Seinen Verstand, sein Wissen, seine Sprachbegabung, seine Arbeiten weihte er ihm und machte seinen Nachkommen damit gleichsam zum testamentarischen Verwalter nicht etwa eines kleinen Ertrages und beschränkten Gutes, sondern eines allseitig begüterten Geistes. Glanzvoll diese Erbschaft, aber unbedarft der Erbe! Und würde dieser nicht im Vorwort des Vaters genannt, wäre er unbekannt. 32. Vergil schrieb für Maecenas über den „Landbau“, ein einfallsreiches und heiteres Werk, doch ob er jenen damit zum Landmann machte, ist ungewiss, gewiss dagegen, dass er ihn weder in einen standhaften noch in einen bescheidenen Mann verwandelte. Horaz verfasste für den selben denkbar nützliche und köstlich gewürzte Episteln sowie sehr ernsthafte Satiren; doch, bitte, hat er mit so vielen Ermahnungen und so vielen Ratschlägen erreicht, dass jener sich zu Höherem gerüstet, besonnenere Reden geführt und – obwohl der Reichtum seine leichtsinnige Seele hin- und herwarf – festen Stand gewonnen hätte? Weit würde es führen, ginge man den einzelnen Personen nach. Ich kehre mich der alle überragenden zu. 33. Cicero,40 ein so bedeutender Mann, hat für seinen Bruder Cicero eine liebreiche und kunstvolle Aufmunterung verfasst. Doch hat er ihn damit vielleicht vom Jähzorn, zu dem er von Natur aus geneigt war, abgezogen? Oder hat er dessen ungeordnete Erregungen mit seiner Schrift etwa besänftigt? Auch hat Cicero für seinen Sohn Cicero Bücher „über die Pflichten“ verfasst, doch hatte dieser mit dem Vater nichts gemein ausser den Namen.41 Und wie sind doch diese Bücher mit vortrefflichen Wendungen und ernsten Gedanken reich ausgestattet! Da ist alles voll von heilsamen Lehren, und kein Teil seines Werkes ermangelt der Anreize, um den jungen Mann aufzuwecken und seinen Geist zu befeuern, damit er wenigstens im Glanz des familiären Ruhmes sich sonne.42 34. Und was erwartest Du? Cicero war imstande, einen Iulius Caesar zu besänftigen und umzustimmen, wenn er durch Machenschaften der Parteien erbost, infolge seiner Siege überheblich und ob gewisser Beleidigungen gereizt war. Auch vermochte er die Richter, das Volk und den Senat mit seiner Beredsamkeit immer wieder aufzurütteln, ja man könnte von ihm sagen, er habe mit seinen Reden sogar Steine zu bewegen vermocht, und dennoch war er ausserstande, den ihm unähnlichen jungen Mann zu rühren, vielmehr war er in dieser einen höchst wichtigen Sache glücklos und überhaupt völlig anders als in anderen Dingen, dank denen er in seinem Leben überreichen Ruhm und überbordendes Glück gewann. Einem einzigen ist eben nicht alles gegeben. Heiteres mischt sich mit Traurigem, Helles mit Dunklem, Sanftes mit Stürmischem, Widriges mit Bekömmlichem. Und gelangte der gewaltige Haufen menschlicher Gaben in ein Sieb, würde an Gutem fast nichts und an Üblem ein Haufe zurückbleiben. 35. Du, mein Cicero, hattest an Gutem viel, an Ruhm Unendliches und einen entarteten Sohn! „Für Dich wäre besser gewesen,“ wie Aelius Spartianus43 sagte, „keine Kinder zu haben.“ Du hattest ja einen Sohn, der „die Pflichten,“ von denen er in den genannten Büchern gelesen hatte, verachtete, einen, der von ihnen öfters sogar

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„durch eine lebendige Stimme“ zu hören bekam (und wahrhaftig durch eine unter vielen einzigartig „lebendige“ Stimme, wie mir scheint und wie auch Seneca44 schien, ja durch die lebendige Stimme aus väterlichem Munde), der aber gar nicht in der Pflicht des Lebens, sondern in der des Trinkens45 sich adelte und „zwei Mass Wein in einem einzigen Sinnenrausch hinuntergoss. 36. Wie grossartig war doch dieser Sohn und wie ruhmvoll dieser Rächer seines hoch bedeutenden Vaters! Er hat dessen Mörder Antonius46 nicht um sein Leben, nicht um Macht und Reichtum gebracht, ihn jedoch in jenem Laster übertroffen, das eben dieser in einem eigenen Buch über die Trunkenheit beklagte. Denn den Siegespreis im Trinken und den Ruhm der Trunkenheit hat der Sohn dem andern entrissen!47 Welch ein Ungeheuer, geboren unter unheilvollem Gestirn! Welch unglaubliche Verschiedenheit der Natur, und welch grosse Finsternis, herkommend aus so grossem Licht! Weh, Marcus Tullius, hervorragender Mann, aber unglücklicher Vater! Wie grosse Mühe hast Du aufgewandt, um nach Dir einen zweiten Marcus Tullius zu prägen. Oh wie oft wird der Scharfsinn der grössten Begabungen hintergangen! Einen Marcus Bibulus48 hast Du geprägt! Bis hierher habe ich nun mit Cicero, als stünde er vor mir, geweint. 37. Wenn nun also, wie ich sagte, die Anstrengungen vieler Menschen oft auf jene keine Wirkung ausüben, für die sie aufgebracht wurden, jedoch anderen, zu denen vielleicht auch wir gehören, nach Jahrtausenden Nutzen brachten und weiterhin bringen, wenn also vielleicht – um mich unter so bedeutende Männer zu mischen – die vorgenannte Epistel jenem Adressaten hilfreich war, was ich eher glaube, oder aber nicht half, und wenn dieser selbe Brief Dir so viel später nützlich war, so freut es mich, wobei ich meiner Feder danke und jenen Tag nicht vergesse. Allzu lange halte ich Dich heute auf. Verzeih mir! Ich bleibe mit Dir verbunden! Lebe wohl! Mailand, am 1. Dezember (1360).49

Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 19,10 mit einem Glückwunsch zur neuen Würde und die früheren Schreiben an diesen Freund Petrarcas, auch Überblick. 2 Zu den ersten Bemerkungen des Briefes über das Verlangen nach Glück vgl. Fam. 7,12,1; 8,5,2; 17,10 passim. 3 Lateinisch: pati …nil adversum, affluentem perpetuo letis omnibus securumque. Offenbar sind Worte ausgefallen. 4 Hier: bei Gesundheit und Gleichmut; dort bei der Krankheit. 5 Poseidonios aus Apameia, ca. 136–51 v. Chr., ungemein vielseitiger Gelehrter, Philosoph, Geograph, Ethnograph und Historiker; vgl. Personenreg. Petrarca zitiert die folgende Anekdote aus Cic. Tusc. 2,25,61. Vgl. auch Fam. 22,6,2. 6 Cic. ebenda.

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7 Lateinisch: differentia mali scilicet et molesti. 8 Lateinisch: eructare problemata. Das Wort eructare gebraucht Petrarca hier wie anderswo für das Argumentieren der Philosophen, und zwar in negativem Sinn, so in Fam. 1,7,8. Es kommt in der Literatur und besonders oft auch in den Psalmen mit positivem Sinn vor; vgl. die sehr bekannte Stelle Ps. 44,2. 9 Lateinisch: si delectatio, si sanitas, si membrorum integritas bona sunt, et quecunque bonis opposita mala sint oportet, utique molestiam corporis et morbum et dolorem mala esse consequens est. Vgl. Fam. 16,6,14 f. 10 Das heisst: gemäss der Schule des Aristoteles. 11 Lateinisch: exculptam vere patientiam ipsam vidi. 12 Vgl. die Unterscheidung oben in Abschnitt 6. 13 Vgl. Cic. Tusc. 2,13,31. 14 Anders spricht Petrarca nach seinen Verlusten im Pestjahr 1361. Er rühmt dann die Wohltat, ausgiebig zu weinen, unum remedii genus ipse mihi conflavi… flere largiter; vgl. Var. 54 Ende, Fracassetti Bd. 3, 456. 15 Gemeint ist die Schrift De remediis utriusque fortune (Hilfsmittel in Glück und Unglück). Im vorausgehenden November hatte Petrarca wohl einen ersten Entwurf erstellt. 16 Klagen über den Mangel an guten Kopisten finden sich bei Petrarca häufig; vgl. Anm. 23. 17 Vgl. 21,15,17 f. und Fam. 23,13. 18 Lateinisch: industrius. Das muss ironisch gemeint sein, da Petrarca sonst über die Trägheit des Sohnes klagt. 19 Petrarca spricht von seinem Sohn Giovanni. Eine Klage, dass ihm dieser im Alter keine Stütze sei, steht auch im Brief an diesen selber, in Fam. 22,7,7. Doch vgl. Nellis Brief Epist. 29 vom März 1362 bei Cochin 289 ff.; in wahrem Schmerz und mit einleuchtenden Argumenten verteidigt er den eben verstorbenen Giovanni. 20 Fam. 19,17,9–10, wohl vom Sommer 1357. 21 Suet. Aug. 65. 22 Den Inhalt der Legende kann ich nicht wiedergeben. 23 Ähnliche Klagen über Schreiber, eigene Schreibarbeit und Ermüdung der Finger in Fam. 16,10,1; 16,11,6; 18,5,7; 18,12,1–6; 19,7,1; 19,16,5; 20,6,1 ff.; 21,10,16; und 23,19,7. 24 Zur Ruhe, die Petrarca sucht, vgl. Fam. 23,9,3 ff. 25 Cic. Ad Brut. 1,16,10; auch 1,159. 26 Verg. Aen. 6,365. 27 Hab. 3,2. 28 Job 13,15. 29 Phil. 4,13. 30 Hier das Wort advesperascit aus Lc.24,29, gesprochen von den wandernden Jüngern, die zur Einkehr mahnen. 31 Gemeint ist der Tod. 32 Über das Reisen in verschiedenen Lebensaltern äusserte sich Petrarca z. B. in Fam. 9,13,8 ff. 33 Fam. 6,3 an den Dominikaner Giovanni Colonna. 34 Cic. Tusc. 2 passim. 35 Pelestrina, Palestrina, Penestrina: südöstlich von Rom, einst Besitz der Colonna, zu deren Familie der genannte Dominikaner gehörte. Dieser starb 1343, und der Brief an ihn wurde zwischen 1338 und 1342 geschrieben. 36 Das heisst über vergängliche Glücksgüter. 37 Zu den Namen des folgenden Abschnittes vgl. Personenreg. 38 De fin. 5,5,12. 39 Saturn. 1 praef. 2. 40 Ad Q. fr. 1,1,13.

Fam. 23,12 41 42 43 44 45 46

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Zum folgenden Text vgl. Petrarcas Brief Fam. 19,17 an seinen Sohn. Lateinisch: ad imitandam saltem domestice glorie claritatem. Hist Aug. Sev. 21,2. Sen. Maior. Controv. 1, praef. 11. Im Lateinischen: non vivendi sed bibendi nobilitatus officio. Von einem Häscher des Marcus Antonius, der sich zum Rächer Caesars aufgeschwungen hatte, ist Cicero 43 umgebracht worden. 47 Plin. Nat. 14,22,147–148. 48 Bibulus heisst trunksüchtig, immer durstig, „Säuferlein“. War Übername in verschiedenen Familien. Einen Marcus Bibulus erwähnte Petrarca schon Fam. 3,9,5 und meinte Marcus Calpurnius, Caesars Kollegen im Konsulat von 59. 49 Vgl. Wilkins, Eight years 218-219 und 239.

Fam. 23,13, an seinen Sokrates1 Dass andere die Früchte unserer Arbeit ernten, müsse man ertragen, weil es üblich sei. 1. Sokrates ärgert sich darüber. 2. An verschiedenen Beispielen wird bewiesen, dass der Verzicht auf Eigenes zu Gunsten eines anderen zum Alltag gehört. 4. Zufrieden muss sein, wer Speise und Kleidung hat. Zitate aus Dichtern und Propheten bestätigen das. 5. Sich über allgemeine Übel beschweren, heisst die Vorsehung anklagen. (Ende 1359/Anfang 1360)

1. Verärgert bis Du, weil sich ein anderer über Deine Arbeit hergemacht hat. Begrabe Deine Entrüstung, auch Dein Verwunderung begrabe! Voll ist das Leben an solchen Streichen, und was üblich ist, wundert uns nicht, ja Du wirst kaum anderes entdecken. Nur wenige Werke dienen dem, der sie gemacht hat.2 Und oft folgt dem je grösseren Aufwand um so geringerer Entgelt. 2. Unter bescheidenem Grabstein ruhen die Gründer der grössten Städte; und über sie entscheiden die Zugezogenen. Der eine baut ein Haus, der andere bewohnt es; aber der Architekt lebt unter freiem Himmel. Der eine sät, der andere erntet; und der Sämann hungert. Der eine fährt über’s Meer, der andere schmückt sich mit Schätzen des Meeres, und der Schiffer geht leer aus. Der eine webt, der andere kleidet sich in Stoff, und nackt bleibt inzwischen der Weber. Der eine kämpft, der andere errafft die Siegesbeute; und ungeehrt ist der Sieger. Der eine gräbt nach Gold, der andere gibt es aus, der Gräber bleibt arm und bedürftig. Der eine sammelt Gemmen, sie strahlen vom Finger eines andern, und der Gemmenhändler geht in schmutzigen Kleidern. Eine Frau gebiert unter Beschwerden einen Sohn, eine andere Frau nimmt ihn freudig zum Mann, und schon ist die Mutter verlassen. Der Tag wird früher enden als die Zahl solcher Exempel. Denn worüber beschwert sich ein Vierzeiler Vergils:3 „Also nicht für Euch flechtet ihr Vögel ein Nest?“ … und das Übrige ist bekannt. Alt und volkstümlich ist ausserdem das Sprichwort: „Je mehr Jucharten einer für Reben gräbt, desto weniger Mass Wein wird er trinken.“ Und nicht von ungefähr sagt der königliche Prophet:4 „Kannst Du von Deiner Hände Arbeit essen, dann Glück auf! Gut wird es Dir gehen.“ Dazu sein Sohn:5 „Wenn einer isst und trinkt und den Ertrag seiner Hände sieht, so ist es Gottes Gabe.“ 4. Ein seltenes, sage ich, und ein auserlesenes Geschenk; das jedenfalls wird zu verstehen gegeben, und das meinte der Vater wie der Sohn.6 Und wem das geschenkt wird, der sage Dank, und wem es versagt wird, der tröste sich, weil es üblich ist, und wisse, er erleide kein besonderes Unrecht. Auch vergesse er nicht jenes Wort des selben Salomon:7 „Denn wenn ein anderer voller Weisheit, Wissenschaft und Hingabe arbeitet und das Errungene einem Faulen überlässt, so ist’s Ver-

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Fam. 23,13

geblichkeit und ein grosses Übel.“ Ein grosses, wahrhaftig, doch ein gewöhnliches! 5. Du aber solltest jedesmal, bevor Du die Natur oder das Schicksal anklagst, bedenken, ob Du allein oder ob Du als einer unter Tausenden duldest, was immer Dir Kummer bereitet. Denn wenn es ein allen gemeinsames oder wenigstens ein weit verbreitetes Übel ist, dann solltest Du vermeiden, mit der Anschuldigung gegen die göttliche Vorsehung wie ein Vertreter aller Murrenden dazustehen. Und über die Klagen nur soviel. 6. Dafür aber, dass Du mir so eindringlich dankst, als wäre ich für Dich der einzige Vorkämpfer guter Geschicke,8 werde ich, ohne mein Verdienst mit Worten erhöhen oder meine Treue vermindern zu wollen, nichts anderes vorbringen als jenes Wort von Terenz in der Andria:9 „… Freut mich doch, Wenn das, was ich tat oder tu, Dir gefällt… Und dass es Dir angenehm war, dafür sage auch ich Dir Dank.“ . Lebe wohl und bleibe gesund und denke an uns! (Ende 1359/Anfang 1360)10

Anmerkungen 1 Möglicherweise geht dieses Schreiben dem Brief Fam. 23,12 zeitlich voraus. Zu seinem Inhalt vgl. die Notiz im Überblick. 2 Vgl. das vorangehende Schreiben Fam. 23,12,27 ff. 3 Das Zitat findet man bei Donat, Vita Verg; aber ob Petrarca diese Vita gekannt hat, ist unsicher; vgl. dazu Rossi in seiner Briefausgabe. 4 Ps. 127,2. 5 Eccl. 3,13. Salomon zugeschrieben. 6 Also David und Salomon, die als Verfasser der zitierten Bücher galten. 7 Eccl. 2,21. 8 Die Hilfe, die Petrarca seinem Sokrates geboten hat, wird angedeutet in Fam. 21,9,21 f. und 24 f. vom Juni (1359). 9 Andria 40–42 (1,1,13 ff.). 10 Wilkins, Eight years 237.239.

Fam. 23,14, an Bischof Johann von Olmütz1 Vertrauliches Schreiben. 1. Petrarca wundert sich über des Bischofs Anrede mit Ihr statt Du. 3. Letzte Briefe haben den Bischof nicht erreicht. Versperrte Wege haben Petrarca genötigt, die Reise zu Karl abzubrechen. 4. Sein Weg hat ihn nach Venedig geführt. (Venedig, am 11. März 1363)

1. In nicht geringes Staunen hat mich Dein Schreiben versetzt. Neu vor allem und unter uns ungewohnt ist Deine Redeweise. In der Mehrzahl sprichst Du auf mich ein, obwohl ich nur einer bin (und hoffentlich ein in sich gefestigter, nicht ein in viele Kämpfe der Gegensätze zersprengter2). 2. Ich selber werde die Sprechart nicht ändern, welche die Gelehrten einst alle und welche auch wir beide längere Zeit untereinander verwendeten. Die modernen Schmeicheleien und blossen Lächerlichkeiten will ich verwünschen, und gerade dessen will ich vor Dir mich so bescheiden wie vertraulich rühmen, dass ich den Sprachgebrauch unserer Väter, in dieser Hinsicht weibisch und schwächlich, so viel ich sehe als einziger oder wenigstens als erster in Italien, verändert und wieder kräftig und männlich gemacht habe. Ich werde dabei bleiben, ausser ich merke, dass Du durchaus eine Änderung wünschest. 3. Ausserdem sehe ich, dass keiner meiner Briefe aus letzter Zeit Dich erreicht hat, denn auf keinen kommst Du zu sprechen, wunderst Dich aber darüber – und nicht ohne Grund –, dass ich ohne Dein Wissen (obwohl ich Dich sonst mit Vorzug behandelte) einen bedeutenden Wechsel herbeigeführt und somit meine Habe wie meinen Wohnsitz verlegt habe. Doch ich bin nicht mit dem Ziel Venedig, sondern um den Cäsar und Dich aufzusuchen, von Mailand weggegangen.3 Nun aber hatte Fortuna den Weg verriegelt, und zwar nicht allein die Strecke vor mir, sondern auch den Rückweg.4 4. Was also sollte ich tun? Ich folgte einem Ratschlag des Terenz:5 Weil ich das, was ich wollte, nicht konnte, lernte ich wollen, was ich konnte. Daher habe ich, umherschauend und vieles bedenkend, die nächstgelegene Gaststätte und diesen öffentlichen, sozusagen Allerwelts-Hafen aufgesucht6 und nichts anderes mitgebracht als meine Büchlein7 und Schreibfedern. 5. Das und vieles andere Dir zur Kenntnis zu geben, war ich besorgt gewesen, aber – wie ich sehe – hatte ich kein rechtes Glück mit den Boten. Der Deine hier, den ich bereits als den meinen betrachten darf, der unsrige hier, sage ich, wird, wenn ich richtig voraussehe, uns beide nicht enttäuschen. Er hat mich, während ich nämlich auch jetzt nicht weiss, was ich unserem Cäsar in der Eile schreiben soll, mit sanfter Eindringlichkeit und tiefem Seufzer trotz meiner Beschäftigung angetrieben. Lebe wohl! (Venedig, am 11. März 1363)8

Fam. 23,14

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Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Schreiben an den selben Bischof. Brief Fam. 23,14 steht bei Piur, Briefwechsel 147–149 und lat./dt. in Petrarca, Aufrufe 544 f. 2 Der Bischof hatte den Dichter in seinem ersten Schreiben in der Mehrzahl angesprochen, dann aber, dessen Brauch übernehmend, das Du verwendet. 3 Petrarca hatte Mailand ungefähr Ende Juli 1361verlassen. Die Stadt litt unter der Pest, doch war das kaum ein Grund für seinen Wegzug; vgl. Fam. 22,12,15 ff. Er hielt sich dann in Padua auf; zum Kaiser zu reisen hatte er in Fam. 23,8,9 und 23,9,1 versprochen, sah sich aber gehindert; vgl. Fam. 23,16,5 ff. 4 Versperrt waren die Wege durch Söldnerbanden; vgl. Fam. 23,9 Anm. 9. 5 Andria 305 f. 6 Das ist Venedig, wo sich Petrarca seit Anfang Juni 1362 aufhielt. 7 Petrarca spricht von seinen Büchern regelmässig in der Verkleinerungsform und also von libelli, nicht libri, so eher liebevoll als abwertend. 8 Zur Datierung vgl. Wilkins, Eight years 230, Anm. 3 und Petr. corresp. 87.

Fam. 23,15, an den Cäsar1 Flehentliche Ermahnung, nach Italien zurückzukehren. 1. Bitte um Entschuldigung für fortgesetzte Ermahnungen. 3. Beteuerung der reinen Absicht. 4. Hinweis auf Erschöpfung aller Überredungskunst und fast aller Hoffnung. 7. Es bleibt der Hilferuf im Verstummen. Venedig, am 11. März (1363).

1. Ich fürchte, meine häufigen Briefe mit ihrem lauten Geschrei werden mir von vielen als ungebührliche Anmassung oder lachhafter Wahnsinn ausgelegt, als würde ich die ruhige Heiterkeit des erlauchtesten Geistes gleichsam mit wolkenschwangeren Lüften erfüllen und durchwühlen. 2. Denn wer bin ich oder woher kommt mir diese Kühnheit? Wahrhaftig allein aus der Reinheit meines Gewissens, die ich für keine anderen Dinge als für die Deinen, Cäsar, mir zuspreche. Ich weiss, wer Du bist, und ich weiss, wer ich selber bin; ich weiss, worum es geht, und ich spreche trotzdem, wiewohl mir oft jener Ausspruch Davids2 entgegentritt: „Was besitze ich im Himmel, und was wollte ich von Dir auf Erden?“ Mich trösten und stärken Deine Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, die lieber nach der Wahrheit, und sei sie beissend, verlangen als nach schmeichelnden betörenden Reden. 3. Dass ich Dir, Du Kaiser von durchdringendem Blick, selbst bis in mein Innerstes bekannt sei, das glaube ich nicht etwa darum, weil ich Dir manche Gelegenheit verschafft hätte, mich zu erproben; vielmehr schätze ich Dich so ein, wie ich selber zu sein glaube, weshalb ich vermute, meine Treue müsse Dir einleuchten. Daher fürchte ich nicht, Dich, den ich aufrichtig liebe, zu kränken, bin ich nur immer getreu, wenn ich mahne und tadle. Und bin ich Deiner gewiss, so kümmern mich die Urteile der andern, und vor allem die falschen, nur wenig. Und wenn keine Schuldlosigkeit so gross ist, dass sie der Zurechtweisung nicht bedürfte, will ich lieber, es werde meine Treue der Keckheit bezichtigt als mein Schweigen des Treuebruchs. Und dies, obwohl mir schon beinahe nichts übrig bleibt, was noch zu sagen wäre. 4. Ausgeschöpft habe ich, so scheint mir, meine Denkkraft,3 und indem ich Dich, Cäsar, auf Deinen Herrschersitz rufe, „ist meine Kehle heiser vom Schreien“.4 Nichts mehr ist die Zunge, nichts mehr die Feder; verachtet sind zu oft die Bitten, ermattet die Rufe, vertrocknet die Tränen, verschwendet die Seufzer! Nun spreche ich bloss mit dem Herzen. Aber ich hoffe, Du hörst mich, wenn ich auch heiser, ja stumm bin. Denn wenn es scheint, ich sei völlig verstummt, so spreche ich nur lauter, und Tag und Nacht beschwöre ich Dich, beteuere, versichere und schelte ich. 5. Somit geschieht mir, was einem ermatteten Liebenden; hat er schon alles verschwendet, was zur Überredung geeignet ist, kann bloss noch auf den Lippen, nachher nicht einmal auf den Lippen, sondern einzig im Herzen der Name

Fam. 23,15

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des Geliebten ertönen. Auch mir und allen den Deinen bleibt nur das Eine: Dich wie eine Gotteserscheinung in der Seele zu hegen, doch wie eine uns feindliche, unser Elend nicht achtende. Ist aber in mir noch etwas an Geist vorhanden, so doch nichts an Kunstvermögen, weshalb uns nichts anderes bleibt, als zu Deinen Füssen liegend, nicht nur ein Mal, sondern tausend Mal Dich flehentlich anzurufen. So weit musste es kommen, dass an die Stelle der Redekunst allmählich nackte Worte und völlig nackte Gefühle treten und das bloss häufige Wiederholen eines teuren Namens als wirksamstes Mittel empfunden wird, die Herzen zu rühren. 6. Oh glorreichster Cäsar, ertrage mit gnädigem Ohr und mit noch gnädigerem Herzen unsere Aufdringlichkeit und zürne nicht denen, die oft zu Dir rufen. Nicht gehört zu werden, ist Strafe genug. Ruhmvoll und hold ist der Titel Cäsar, verehrungswürdig allen Völkern und Königen, uns aber auch heilsam. Lass ihn in unserem Munde köstlich werden, ob wir ihn allzu laut ausschreiend oder als stumme anrufen. 7. Höre die Stimmen der Deinen selbst im Schweigen! Dein Italien, Cäsar, ruft Dich, und tut es mit so durchdringenden Schreien, dass, sofern sie Ohren vernehmbar wären, sie nicht nur die eigenen Fürsten, nein auch die fernsten Könige der Inder zu rühren vermöchten. Dein Italien, Cäsar, so sage ich, ruft Dich: „Cäsar, Cäsar, wo bist Du, mein Cäsar? Warum bleibst Du mir fern? Was zögerst Du? Wahrhaftig, wäre ich nicht unbeweglich und nicht zur Rechten und zur Linken von einem doppelten Meer, im Rücken aber von den Alpen umschlossen, ich hätte meinen Cäsar längst aus weiter Ferne hinter der Donau herbeigeholt.“ Lebe wohl, Cäsar, und wache! Es ist Tag!5 Venedig, am 11. März (1363).6

Anmerkungen 1 Fam. 23,15 findet man wie die früheren Briefe an den Kaiser auch in Piur Briefwechsel 150 f. und lat. und dt. in Petrarca, Aufrufe 548 ff. Petrarca nennt Karl IV. vor seiner Krönung Cäsar, nachher wechselnd Imperator (Anschrift in Fam. 19,12 und 21,7 etc.) oder Cäsar (Fam. 1912, Abschnitt 2; 21,7,5 etc.) 2 Ps. 72,25. 3 Ähnliche Aussage auch in Fam. 23,14,5. 4 Ps. 68,4. 5 Erinnert an Jo. 9,4. 6 Vgl. Wilkins, Later years 52 f.

Fam. 23,16, an Bischof Johann von Olmütz, den Kanzler1 Er möge tun, was er vermöge und wenn er nichts vermöge, tun, was er wolle. 1. Der Bischof möge schreiben, auch wenn er nicht von erhörten Bitten berichten könne. 3 Petrarca lebe in Venedig einsam wie in einer abgesonderten Welt. 4. Doch betrübe er sich nicht wegen der Verweigerungen des Kaisers. 5. Immer bleibe er diesem zutiefst verpflichtet. 6. Der Mann, der den Brief überbringe, wolle in Prag studieren; Petrarca empfehle ihn dem Bischof. Venedig, am 27. August (1363).

1. Wie? Weil Du nicht schreiben kannst, was Du wolltest, schreibst Du nichts? Aber ich beschwöre Dich, füge doch ja nicht zum einen Fehler einen zweiten. Viel schwerer fällt mir, Deine mir lieb gewordenen Briefe als die Erfüllung einer vagen Hoffnung zu vermissen. Diese versprach eine leibliche, äusserliche Befriedigung (eine vielleicht sehr erwünschte, weil ja das grenzenlose Begehren des Herzens unerfüllbar ist), aber gewiss keine notwendige. Deine Briefe dagegen brachten mir innere Nahrung und Erleichterung. Denke nur ja nicht, mich ihrer berauben zu dürfen! Das bitte ich Dich bei Dir selber und bei Deinem immer verehrten und mir immer verehrungswürdigen Haupt und, wenn Du je für meinen Namen so etwas wie Liebe empfunden hast, ängstlich und beschwörend auch bei dieser. 2. Entziehst Du vielleicht das, was Du zu geben gewohnt warst, eben darum, weil Du nicht auch geben kannst, was Du möchtest? Und weil Du nicht wohltätig sein kannst, willst Du schädigen? Was hiesse das anderes, als den Kranken, den Du nicht heilen kannst, umzubringen? Schau doch zu, bester Vater, um mich liebendbesorgter und, wie der Lateiner sagt: „piissime“! Schau, dass Deine „Pietas“ nicht vor allzu grosser Teilnahme überborde! Du wolltest aus mir etwas Grosses machen; gelingen konnte es nicht. Doch nun liebe den Geringen, wie Dir niemand verbietet! Ich fordere nichts Neues. 3. Tu, was Du gewohnt bist! Mich, den Deinen, der (was Dich wundern muss) in dieser grossen Stadt einsam umhergeht und der, sofern ich einmal richtig gesagt habe, es sei „Venedig, eine andere Welt“,2 vom Erdkreis völlig getrennt ist, den verlass nun nicht! Erquicke lieber seine durstige Seele und tröste sie mit heiligen und liebevollen Antworten. Schliesslich fordere ich dies eine nach meinem guten Recht: Hat meine Gesinnung Dir gegenüber sich nicht gewandelt, so lass mich bei Dir noch der selbe sein, der ich einmal war, als Du mich ändern wolltest. Sicher weiss ich, dass Deine Zuneigung zu mir sich immer ähnlich ist. Doch wenn die Neigung die selbe, warum die Wirkung verschieden? 4. Du betrübst Dich wohl, weil nun zum ersten Mal Deine Bitten für mich beim Cäsar nichts fruchteten. Betrübe Dich bitte nicht! Ich nämlich bin nicht betrübt. Betrüben mögen sich die Freunde,3 denen zugedacht war, was an Unterstützung erbeten wurde. Mir selber genügt schon das Wenige. Wenn ich meiner Natur und mir selber folge, habe ich nicht bloss genug, sondern im Überfluss. Und

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in einem Mass, dass ich Neid erwecke.4 Und würde auch jetzt vielleicht etwas fehlen: Schau, auf der Schwelle steht das hohe Alter als ein in Gebeten erflehter Gast, und in seinem Rücken steht der Tod als der tüchtigste Gleichmacher, und bei ihm ein so unermesslicher Reichtum, dass man nie mehr das Geringste entbehren wird. 5. Für Deinen guten Willen sage ich Dank; seine Wirkungslosigkeit lege ich meinem Schicksal zur Last, nicht Dir, nicht dem Cäsar, der mich stets über Verdienst geliebt hat und der entweder das, was er jetzt verweigert, später gewährt oder aber – was seiner allerhöchsten Voraussorge nicht widerspräche – mir mit seiner Ablehnung Rat erteilt. Er hat mir ja, sollte er nun für allezeit ablehnen, einst so vieles geboten, dass ich zeit meines Lebens dazu verpflichtet bin, seine Fussspuren hingegossen zu verehren.5 Darüber nichts weiter. 6. Der Bote, der dieses Schreiben Dir aushändigen wird, halb Deutscher, halb Italer, mir teuer, ein Mann wachen Geistes und scharfsinnig, in der Literatur und den grundlegenden Künsten recht tüchtig geschult, hat Padua verlassen, um nach Prag zu reisen, denn schon auf dessen blossen hell klingenden Ruf hin ist er begierig, dort zu lernen und zu lehren. Und wenn er nur Nachahmung findet, wird er an Eurer Universität6 nicht die letzte der Zierden sein. Materielles benötigt er nicht, doch ersucht er Dich um Deine Gunst. Viel wird es dem Fremdling bedeuten, Dich von Angesicht zu sehen, und das hofft er, dank meinem Brief zu erlangen. Und wenn er sich würdig erweist und Dir gefällt, möge Deine Menschlichkeit, die sich Guten gegenüber nie schwierig zeigt, ihm freundlich entgegengehen. 7. Lebe glücklich! Und ist nackte Liebe nicht leer an Verdienst, so schreibe etwas zurück, damit ich mich freue, aus der Burg Deines Gedächtnisses noch nicht verstossen zu sein. Venedig, am 27. August (1363).7

Anmerkungen 1 Vgl. die anderen Schreiben an den Bischof und dessen Schreiben an Petrarca, zu finden bei Piur, Briefwechsel 152 ff.; auch in Auswahl lat./dt. in Aufrufe. 2 Metr. 3,9,21 an Zanobi; bei Schönberger 250 f.; vgl. auch Fam. 23,14,4 an den Kanzler, wo Petrarca Venedig als: humani generis portum bezeichnet. 3 Vgl. Fam. 23,3 und Fam. 23,7. 4 Vgl. dazu z. B. Fam. 16,3,3 ff.; 19,17,1 ff.; 20,8,12. 5 Im Latenischen steht adorare. Die Anbetung gilt dem kaiserlichen Amt. 6 Die „erste Universität Deutschlands“ in Prag war eine Gründung eben Karls IV. vom Jahre 1348. 7 Vgl. Wilkins, Later years und Petr. corresp. 87.

Fam. 23,17, an den Grafen Ugo von San Severino1 Über die Hofhunde im Königspalast von Neapel. 1. Petrarca fühlt sich gegenüber der Königin Giovanna als Schuldner und erhebt keinerlei Ansprüche. 2. Seit dem Tod von König Roberto herrscht in Neapel mörderisches Unwesen. 4. Der Adressat ist Petrarca nichts schuldig. 5. Er muss sich vor der Gesinnung der Hofleute hüten. (1362)

1. Dein Brief, ruhmvoller Herr, lange erwartet und wohl oft auch gescholten, habe ich heute endlich empfangen und mit Interesse gelesen. Er entsprach ganz erstaunlich meiner eigenen Vorstellung. Ich erkannte in Deinen Worten die Hofsitten wieder, wie ich sie früher kannte und hasste.2 Um nicht weit auszuholen, denn das verbieten mir meine schwankende Gesundheit und meine vielen Beschäftigungen, sage ich kurz: Was die erlauchte Königin betrifft, bin ich zufriedengestellt und in allem ihr Schuldner.3 Ich habe mich davon überzeugt – ob zu Recht weiss ich nicht –, dass sie bei ihrer grossherzigen, edlen und wohlwollend Art aus eigenem Antrieb von allem, was ihrer und meiner würdig ist, nichts ablehnen wird. Freilich hat sie „…unter der Macht von Pothinos Leidenschaft und eigenes Schwert…“4 2. Es schmerzt mich ihretwegen, Deinetwegen, der Guten wegen (so selten sie sind), auch Italiens wegen (denn dass auf seinem Boden ägyptische Monstren regieren,5 bedrückt mich im höchsten Masse), doch nicht auch meinetwegen. Denn zum einen bin ich zu weit entfernt, als dass mich die Sache berührte, zum anderen habe ich vor vielen Jahren als Anwesender eben dort, während Neapel auf Messersschneide zwischen Glück und Elend stand, just dies Unglück, als läge es mir vor Augen, vorausgesehen und vorausgesagt, darüber auch geschrieben, was der Verstand mir eingab.6 3. Den göttlichen und gestirnten König von damals – bald darauf der Erde entrissen und dem Himmel zurückgegeben – ihn, der als hochbetagter Mann meine Jugend weit über mein Verdienst, aber längst nicht gemäss seinem Wunsch und Vorsatz, ich weiss nicht wie rühmlich, aber mit zweifellos seltenen Gunsterweisen ehrte, werde ich samt seinem Namen und seiner Asche und mit allem, was seinem Blut entstammen mag, in immerwährender Treue hochhalten. Ich weiss, das habe ich ihm versprochen, und das Versprochene habe ich bisher erfüllt und hoffe, es auch weiterhin zu tun. Dazu bedarf es keiner neuen Wohltaten, denn überreich waren die früheren. 4. Was Dich angeht, so sage ich das selbe. Denn was an Dir liegt, hast Du getan, auch wenn Missgunst die Liebe besiegt hat, wie das üblich ist; und lieber ist mir nutzlose Treue als nützliche Untreue. Doch was die Hofhunde angeht, so sage ich

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nichts anderes und sehe auch nicht, was Tiefsinnigeres zu sagen wäre als der Ausspruch Caesars7 (sofern er mir zusteht): „Nichts ist mir lieber, als dass ich mir gleich bin und die andern sich.“ 5. Gewiss bin ich reich in meiner Armut, und dies nicht allein nach meiner eigenen Ansicht, sondern auch nach Ansicht und Gutheissung vieler. Jene8 sind mit ihren Gütern unbegütert, ja bettelarm. Und würden sie doch immer noch bitterer leiden! Sie könnten einsehen, wie so viel geruhsamer und glücklicher mir ein Tag vergeht, als ihnen allen ein ganzes Leben, ein von schlimmsten Sorgen besetztes, in schmutzigen Gelüsten erschlafftes, zitternd und schwankend in seiner Hoffnung, verhöhnt von falschen Freuden, von immer neuer Trauer erdrückt, in vielen Schrecken erstarrt und in Begierden entflammt. Wirklich, unter ihnen ist keiner, mit dem ich meine Lage unter irgendwelchen Bedingungen zu tauschen verlangte. Man kann ja bei goldenen Bechern elend sein und bei irdenen glücklich. Denn zu einem glücklichen Leben ist ein tönernes Gefäss nicht minder gut als ein goldenes, Samos nicht schlechter als Korinth.9 Lebe Du also wohl! Und willst Du gut sein, sei bemüht, Dich von ihnen zu unterscheiden, damit ihre Sitten Dich nicht durch Ansteckung versehren.10 (1362)

Anmerkungen 1 Ein Ort San Severino liegt östlich von Neapel nahe bei Mercato. Der Graf Ugo war Beamter am Hof von Neapel. Als später 1367 Petrarcas bester Kopist, der junge Giovanni Malpaghini, (vgl. Fam. 23,19) eine neue Stelle suchte, dachte er nicht nur an die Kurie in Avignon und an Francesco Bruni von Florenz, sondern auch an den eben genannten Grafen. 2 Vgl. Fam. 5,3 und 5,5 bis 5,6. 3 Königin Giovanna Anjou hatte die von König Roberto dem Dichter verliehene Ehrenstelle einst bestätigt; vgl. Fam. 5,1,4 und Anm.7. 4 Luc. Phars. 10,95–96. Potheinos (bei Petrarca: Photinus) wird schon in Fam. 5,3,20 erwähnt und dort wie hier zur Andeutung von Intrigen am neapolitanischen Hof verwendet. Bei den Wirren in Ägypten zur Zeit der berühmten Kleopatra veranlasste er die Ermordung von Pompeius dem Grossen. 5 Auch an anderer Stelle vergleicht Petrarca die Zustände am Hof Neapels mit ägyptischen aus der Zeit der Ptolemäer; vgl. Fam. 5,3,20. 6 Vgl. Fam. 5,3,8; 5,3,15 ff.; 6,5,3–9. 7 Cic. Ad Att. 9,16,2. 8 Gemeint sind die „Hofhunde“. 9 Die Erde von Samos eignete sich besonders gut für die Fabrikation von Tongeschirr. Korinthische Gefässe aus einer Legierung von Erz, Gold und Silber gehörten in der Antike zu den teuersten. 10 Kein Datierungsversuch. Man vgl. jedoch den folgenden Brief Fam. 23,18 an Acciaiuoli, zu welchem inhaltliche Beziehungen bestehen.

Fam. 23,18, an Niccolò Acciaiuoli, den Gross-Seneschall des Königreichs Sizilien1 Über seine Ruhmestaten. 1. Lob auf sprachliche Fähigkeiten des Adressaten und auf seine Leistungen. 2. Nur ein Homer könnte sie würdigen. 3. Petrarcas Sprachkunst werde den hohen Erwartungen des Staatsmannes nicht genügen. 5. Grossherzige Angebote an den Dichter und dessen Freund (Nelli)werden gerne beachtet. 7. Tadelnde Worte über den eben verstorbenen König und Bedenken wegen der Zukunft Neapels. Padua, am 8. Juni (1362).

1. Dich wahrlich, der Du zu jeder Zeit ein Mann von grösster Seltenheit wärst, aber in der unsrigen ganz einzigartig bist, umfange ich mit den Armen meines Geistes verehrungsvoll und besitze Dich nach bürgerlichem Recht wie einen gefundenen Schatz;2 gleichgültig ob Du gegenwärtig bist und Deinen geweihten Mund zur Rede öffnest oder ob Du abwesend bist und Deine goldene Schreibkunst für ein Schriftstück, köstlich wie Nektar, anwendest, nämlich einmal nach militärischer und gewöhnlicher Art, einmal mit auserlesenen Worten und Wendungen gemäss der Redekunst. Eben dies, so meine ich, hast Du jetzt in höherem und in viel heiligerem Sinne getan, als früher unter dem Getöse der Waffen Dir möglich war.3 2. An immer anderen Bächlein von wechselndem Geschmack erkenne ich die immer gleiche Quelle Deines himmlischen Verstandes. Und ich wundere mich bei mir, was aus diesem, hätte er sich an Studien tüchtig ernährt, wohl hätte werden können, da er schon dank einer Nutzung geringster Zeitersparnis so hoch bedeutend ist. Abgerungen hast Du Dir solch kleine Reste bei gewaltigen Geschäften und die heimlich gestohlenen da und dort dem genannten Zweck zugekehrt. Ich übergehe alles Hochbedeutende, dem nicht diese arme Feder, sondern höchstens eine homerische Verklärung gerecht wird, den Stoff, den nicht ein Brief, sondern höchstens ein Buch4 zu würdigen vermöchte, wie Du nämlich mit den Waffen und mit militärischer Disziplin die Kriege, aber mit der Gesetzgebung und der bürgerlichen Rechtsprechung den Frieden lenkst! 3. Für diese beiden Fähigkeiten zeugten bis heute Neapel und unter anderem die gelobte Campagna,5 nun aber auch Sizilien.6 Die Arethusa sprudelt schon fröhlicher, die Hitze des Aetna mildert sich, und die Charybdis7 zeigt sich aus Ehrfurcht vor Deinem Antlitz und in der Bewunderung Deiner Taten versöhnlicher. Verherrlicht bist Du durch vielfache Ruhmestaten und vor allem auch durch eine Bescheidenheit, die alle Deine Geistesgaben ziert; sieh, Du hoffst ja, „bei den späteren Geschlechtern“ sogar durch diese meine Kleinigkeiten „nicht geringeren Ruhm zu erlangen“ als durch Deine eigene Grösse, wie Du in Deinen Briefen mir mehrmals beteuert hast.8 Das ist ein vielleicht recht schätzenswerter Irrtum, aber nicht weniger ein Erzeugnis der Liebe! 4. Ich jedoch werde nicht von „meinen Nachgebore-

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nen,“ sprechen, weil ich nicht weiss, ob eine Spur meines Namens bis zu solchen gelangen werde, zweifle allerdings nicht, dass mir eines so bedeutenden Mannes Gunst immerhin bei den Zeitgenossen zur Ehre gereicht. Und dass es mir Freude und eine ehrenwerte Lust bereitet, das hoffe ich nicht, das spüre ich. 5. Weil Du aber meiner Niedrigkeit Deine Erhabenheit anbietest und weil Du von meiner Zuneigung zu unserem Vorsteher an der Apostelkirche9 (über deren Wert der Erfolg entscheiden wird, auch wenn sie zweifellos getreu und glühend ist), und übrigens auch von meinen Handlungen zu seinen Gunsten erklärst, alles sei mit Deinem Ruhm verquickt (und ich glaube, das ist richtig), und weil Du schliesslich nach Deiner Gewohnheit der Sache in freundlichstem Gedenken zugewandt bleibst, tust Du nicht, was Du mir, vielmehr was Du Dir selber schuldest, um in jeder Hinsicht vollkommen zu sein!10 Daher werde ich von Deinen häufigen und grossherzigen Angeboten, wenn die Verhältnisse es nahelegen, in gewaltigem Vertrauen Gebrauch machen.11 6. Was aber ihn angeht, von dem wir sprechen – um Dir gegenüber von Dir zu schweigen –, so könnte man nicht behaupten, ich sei ihm treu ergeben, als wäre er ein anderer. Denn er ist ein Teil meiner selbst und damit einer von den wenigen, die ich in diesem rasenden Lauf des Lebens auf Sitten und Verstand erprobt und zutiefst in meinem Herzen verankert habe. 7. Bleibt mir noch, Dich zu bitten, Du möchtest mich hinsichtlich Deiner Lage nicht angstvoll in Unkenntnis schweben lassen, ob mit dem Tod des Königs12 das Geschick irgend etwas an Deinen Verhältnissen verändert habe. Hättest Du ihn doch wie zur Regentschaft so auch zu königlichem Verhalten emporheben können!13 Doch ich fürchte, was dies betrifft, habe ich mit Schreiben viel Mühe vergeudet wie Du mit Reden. Sehr wahr hat ein zwar sehr falscher Mann gesagt:14 „Worte können nicht Tugend schenken“. Das gilt durchaus, wenn in der Brust eines Hörenden nirgends ein Funke ist, den man schüren könnte. Hätte sich der Erwähnte Deinen Ermahnungen doch lernbegierig geöffnet! Verzeih, der Schmerz bedrängt mein Herz und meine Feder! Er hätte in der Tat länger leben, glücklicher sterben und einen rühmlicheren Namen hinterlassen können. Lebe wohl, Du meine und des Vaterlandes Zier! Padua, am 8. Juni (1362).15

Anmerkungen 1 Vgl. die früheren Briefe an diesen Adressaten, auch Bemerkungen über ihn in Fam. 22,6 mit Anm. 7 und den späteren Brief Sen. 3,3. Fam. 23,18 antwortet auf ein Schreiben Acciaiuolis, das ediert wurde von H. Cochin, Un ami de F. Pétrarque, appendice 1. 2 Hier scheinbar die selbe masslose Überschätzung des Regenten wie in Fam. 22,6. Doch man darf mit einer scherzhaften Übertreibung rechnen, da der Brief wohl auf einen scherzhaft gehaltenen Brief antwortet. Vgl. Notiz in Überblick. Petrarca schrieb bald darauf nüchterner. Boccaccio, der

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schon 1355 in Neapel – wie er überzeugt war – eine schlechte Behandlung erlebt hatte, war 1362 einer erneuten Einladung von seiten Accaiuolis gefolgt, jedoch sogleich, ausser sich vor Entrüstung über die Art des Empfangs, wieder abgereist. Und obwohl Petrarca ihn zu besänftigen bemüht war, erlaubte er sich kurz darauf, dem Verehrten unmissverständliche Vorwürfe wegen vernachlässigter Versprechen zu machen. Möglicherweise schickte er die Briefe nicht ab. Vgl. Dotti, Vita 312 und 373 mit Literaturangaben. Aufmunterungen, die Sprachkunst zu pflegen und anerkennende Worte zu Acciaiuolis Sprachbegabung findet man schon Fam. 12,15,4 an den Seneschall persönlich und Fam. 13,9,3 gegenüber Zanobi. Vgl. Fam. 11,13,2. In der Campagna hatte der Adressat als Seneschall geamtet. Acciaiuoli gelangen einige Rückeroberungen auf der Insel Sizilien zu Gunsten Neapels, so 1354 die Einnahme von Messina. Das Kriegsglück war jedoch von kurzer Dauer. Arethusa meint eine sagenumwobene Quelle dieses Namens auf Sizilien bei Syrakus. Charybdis bezeichnet ein Meerungeheuer gegenüber einem andern namens Skylla an der Strasse von Messina. Petrarca zitiert uns unbekannte Schreiben und frei nach dem oben Anm 1 angegebenen Brief, den man im Anhang 1 bei Cochin findet. Gemeint ist Petrarcas oft genannter Freund Francesco Nelli. Dieser stand zeitweise im Dienst des Bischofs Acciaiuoli von Florenz und damit auch der Politik Neapels, also auch des Gross-Seneschalls, und hielt sich seit 1361am Königshof von Neapel auf, wo er die Stelle einnahm, die Zanobi innegehabt hatte (vgl. Überblick). Zudem war Acciaiuoli wie Nelli der Meinung, Petrarca solle sich in Neapel niederlassen. Vgl. Nellis Brief an Petrarca vom 6. November 1361 (Miraberis aus Neapel), bei Cochin Epist. 27, und Petrarcas Antwort Sen. 1,2. Vgl. Dotti, Vita 359. Was Petrarca mit seiner Verwendung zu Gunsten Nellis meinte, bleibt unklar. Doch weiss man, dass Nelli sich damals geneigt zeigte, in Avignon die Stelle eines päpstlichen Sekretärs, die nach Zanobis Tod frei war, anzunehmen. Vgl. bei Cochin Nellis Epist. 29 (Mulltum multoque) vom 16. März 1362 aus Messina. Nelli beantwortete Petrarcas Sen. 1,2. Die Art, wie Acciaiuoli später seine schönen Versicherungen verstand, hat den Dichter offenbar wenig befriedigt; vgl. oben Anm.2. Petrarca wurde mehrmals nach Neapel eingeladen. Der König Lodovico, Gatte von Giovanna d’Anjou, starb am 26. Mai 1362. Vgl. Petrarcas Fürstenspiegel Fam. 12,2. Sall. Catil. 68,1 und auch Iug. 85,50. Vgl. 18,1,48. Die Datierung beachtet die im Schreiben angedeuteten Ereignisse des Jahres 1362; vgl. Überblick.

Fam. 23,19, an Giovanni von Certaldo (Boccaccio)1 Über einen jungen Helfer, der als Kopist tätig ist. Nichts sei so vollkommen, dass es keine Fehler enthalte. 1. Petrarca rühmt einen bei ihm wohnenden Kopisten. 3. Erstaunlich ist nicht zuletzt sein Gedächtnis. 4. Doch verfasst er auch schon Gedichte. 5. In der Askese wetteifert er mit Petrarca. 7. Petrarcas Prosabriefe ordnet er und schreibt sie mit einfachen Lettern ab. 9. Von Petrarca erhält er Belehrung über richtige Nachahmung und Originalität.15. Dabei entdeckt er eine unbeabsichtigte Anleihe Petrarcas. Pavia, am 28. Oktober (1366).

1. Ein Jahr nach Deinem Weggang2 ist ein junger Mann edler Veranlagung bei mir eingetroffen, der zu meinem Bedauern Dir unbekannt ist, während er Dich recht gut kennt.3 Er hat Dich in Venedig oft in Deinem Haus, in dem ich wohne,4 und bei unserem Donato5 gesehen und, wie es seiner Jugend entspricht, recht aufmerksam beobachtet. 2. Damit er auch Dir bekannt sei, soweit es aus der Ferne möglich ist, und damit Du ihn in meinem Brief vor Dir habest, sage ich: Geboren wurde er an der Küste der Adria ungefähr zu der Zeit, als Du, sofern ich mich nicht täusche, mit dem früheren Herrn des Landstrichs, dem Grossvater des heutigen,6 dort verkehrtest. Herkunft und materielle Mittel des jungen Mannes sind bescheiden, seine Genügsamkeit und sein ernstes Wesen wären selbst an einem alten Mann lobenswert, sein Verstand ist scharf und lebhaft, sein Gedächtnis zugriffig, sehr belastbar und wertvoll vor allem weil zäh. 3. Mein Hirtengedicht, das, wie Du weisst, aus zwölf Eklogen besteht, hat er in elf aufeinanderfolgenden Tagen auswendig gelernt und im Gedächtnis behalten, so dass er an einzelnen Tagen gegen Abend mir je eine, schliesslich aber ihrer zwei in einem Zug und ohne jedes Stocken vortrug, als hätte er das Buch vor Augen. 4. Er hat ausserdem, was zu unserer Zeit eine Seltenheit ist, grosse Erfindungsgabe, edle Begeisterung und einen ausgeprägten Sinn für das Musische. Schon macht er, wie Maro7 sagt, „auch selber neue Gesänge“, und wenn er am Leben bleibt und, wie ich hoffe, mit der Zeit noch weiter reift, kann er, wie über Ambrosius dessen Vater prophezeite, „etwas Bedeutendes werden.“ 5. Vieles kann man schon jetzt über ihn sagen. Hier weniges von vielem! Das Eine hast Du bereits vernommen; nun höre noch dies: Er hat an Charakterstärke und Wissenschaft das beste Fundament! Niemals liebt und begehrt die grosse Menge das Geld so sehr, wie er es hasst und verabscheut. Ihm Geld aufdrängen zu wollen, ist vergebene Liebesmühe. Kaum nimmt er das Nötigste zum Lebensunterhalt. Im Verlangen nach Einsamkeit, Fasten und Wachen wetteifert er mit mir; oft ist er überlegen. Was weiter? 6. Mit seiner Lebensführung hat er mich so ganz gewonnen, dass ich ihn liebe, als wäre er mein von mir gezeugter Sohn,8 ja vielleicht noch lieber, weil ein Sohn gemäss dem Brauch unserer jungen Leute befehlen will, während er dagegen zu gehorchen wünscht und nicht fragt, wie er sich vergnüge, sondern wie er mir diene, dies aber ohne jede Begehrlichkeit und ohne Gedan-

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ken an Belohnung, sondern einzig von Liebe bewogen und vielleicht in der Hoffnung, dank unserem Zusammenleben besser zu werden. Schon sind es zwei Jahre her, dass er zu mir kam. Und wäre er doch zeitiger gekommen! Doch bedenkt man seine Jugend, war es viel früher gar nicht möglich. 7. Meine vertraulichen Briefe in Prosa – wären sie nur so wertvoll wie reich an Zahl! – unter einem Wirrwarr von Abschriften und infolge meiner Pflichten schon beinah ihrem Schicksal preisgegeben, auch von vier Freunden, die mir Hilfe versprachen, auf halbem Weg liegen gelassen,9 hat nun dieser allein in Ordnung gebracht; freilich nicht alle, sondern so viele, als in einem nicht allzu gewaltigen Band zusammengefasst werden können. Wenn ich dieses vorliegende Schreiben ihnen anfüge, beläuft sich die Zahl auf dreihundertfünfzig.10 8. Du wirst sie, so Gott will, später in der Kopie seiner Hand vor Dir sehen, nicht in einer ausschweifenden und schwelgerischen Schrift, wie sie heute bei Schreibern, oder richtiger bei „Malern“ Mode ist und so recht den Augen schmeichelt, ja diese geradezu reizt und ermüdet, als wäre sie zu einem anderen Zweck als zum Lesen erfunden worden, das heisst: als bestünde sie – wie der Fürst unter den Grammatikern erklärt – nicht aus „Lettern“, bestimmt für „Lektüre“.11 Vielmehr wird sie genau gezeichnet und so deutlich sein, dass sie sich dem Auge einprägt und Du sagen wirst, nichts von der Orthographie, überhaupt nichts von den grammatikalischen Regeln werde da ausser acht gelassen. Und darüber nur soviel. 9. Und nun stehe in diesem Brief am Ende, was ich im Geiste an den Anfang setzte: Der Genannte hat eine Vorliebe für die Dichtung, und wenn er in ihr tüchtige Fortschritte macht, so dass seine Schaffenskraft sich festigt, kann er etwas erreichen, das Dich zur Bewunderung und Begeisterung hinreissen wird. Bis jetzt ist er in seiner jugendlichen Unreife noch unbestimmt und hat sich noch kaum entschieden, was er ausdrücken wolle. Doch was immer er ausdrücken will, das sagt er in wirklich erhabener und wohlgeformter Sprache. Somit entfällt ihm oft ein Gedicht, das nicht allein wohllautend, vielmehr auch ernst, anmutig und ausgereift ist, weshalb man dem Dichter ein höheres Alter zuschriebe, würde man ihn nicht kennen. 10. Festigen wird er, wie ich hoffe, seinen Geist und seine Schreibweise, dass er aus verschiedenen Stilen seinen bestimmten eigenen zusammenschweissen12 und die Nachahmung, ich sage nicht: ‚fliehen‘, aber ‚verbergen‘ wird, und es dann scheine, er sei niemandem ähnlich, habe vielmehr aus Altem etwas völlig Neues geschaffen und „nach Latien gebracht“.13 Bisher freut er sich der Nachahmungen, wie es seinem Alter eigen ist, und bisweilen verirrt er sich, durch etwas Verlockendes hingerissen, entgegen aller dichterischen Kunst in eine allzu „grosse Enge“.14 Aus dieser „den Fuss herauszuziehen, hindert“ ihn dann freilich das innere „Gesetz des Originals,“ es sei denn, er zeige und verrate sich. 11. Vor allem bewundert er Vergil, und das gewiss mit Recht. Denn wenn viele aus der Zahl unserer Sänger lobenswert sind, so ist doch einzig er bewundernswür-

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dig. Die Liebe zu Vergil und dessen wunderbare Anziehungskraft halten ihn gefangen, weshalb er oft kleine Einzelheiten aus Gedichten dieses Vorbildes in die seinen einfügt. Wenn ich dann freudig erkenne, wie er mir nachwächst, und für ihn eine Vollendung erhoffe, die ich zu erreichen gewünscht hätte, ermahne ich ihn freundschaftlich und väterlich, er möge zusehen, was er tue. Wer nachahme, müsse dafür sorgen, dass er Ähnliches, nicht aber Gleiches schreibe, denn die Ähnlichkeit dürfe nicht sein wie die eines Bildes gegenüber dem Abgebildeten, obwohl beim Abbilden eine möglichst grosse Genauigkeit den Ruhm des Künstlers ausmache. Vielmehr müsse die Ähnlichkeit die eines Sohnes zum Vater sein. 12. Zwischen diesen gebe es ja, obwohl die Verschiedenheit bei den Körperteilen oft sehr bedeutend sei, doch ein gewisses Etwas, das unsere Maler als „Duft“15 bezeichnen und das man vor allem im Gesicht, zumal in den Augen wahrnehme, und in eben diesem Duft liege, was jene Ähnlichkeit ausmache, die beim Anblick des Sohnes unverzüglich die Erinnerung an den Vater wachrufe, auch wenn bei einem genauen Abmessen wirklicher Verhältnisse von diesem zu jenem alles sehr verschieden sei. Doch da gebe es ich weiss nicht was an Verborgenem, was diese Kraft besitze. 13. Daher müssten auch wir, wo etwas Ähnliches vorliege, dafür besorgt sein, dass sehr viel Unähnliches vorhanden sei und jenes gewisse Ähnliche sich recht eigentlich darein verberge und nicht anders erfasst werde, als indem der Geist es still und behutsam einkreise, da man das Ähnliche eher zu denken als auszusprechen vermöge. Verwenden müsse man dafür eine andere besondere Eingebung, verwenden müsse man Farben und Wörter vermeiden. Es gebe eine Ähnlichkeit, die verborgen sei, und es gebe eine andere, die sich hervordränge; und die eine mache den Poeten, die andere den Affen. Halten müsse man sich an einen Ratschlag Senecas,16 den vor ihm schon Flaccus gekannt hatte, dass wir nämlich dichten sollen, wie die Bienen Honig bereiten, welche nicht Blüten an sich bewahren, sondern sie in Waben verwandeln, wodurch aus dem Vielen und Verschiedenen ein Einziges entstehe, und zwar ein Anderes und Besseres. 14. Da ich solches oft mit ihm besprach und er stets alles wie väterliche Ermahnungen aufmerksam anhörte, geschah es kürzlich, dass er nach seiner Gewohnheit auf eine Ermunterung hin einiges vorbrachte und dabei Folgendes sagte: „Ich begreife das; und ich gestehe, dass es so ist, wie Du sagst. Aber andere benützen, wenn auch nur wenige und auch nur selten, das habe ich mir wegen des Beispiels vieler, jedoch vor allem wegen des Deinen gestattet.“17 Und ich voll Verwunderung: „Wenn Du, mein Lieber, so etwas in meinen Gedichten gefunden hast, glaube mir, beruht das nicht auf einer Absicht, sondern auf einem Versehen. Denn selbst wenn es bei Dichtern tausendfach vorkommt, dass einer des andern Worte verwendet, so schafft jedenfalls mir, wenn ich dichte, nichts anderes grössere Mühe und nichts grössere Schwierigkeit als dies, Spuren meiner eigenen Schritte und weitaus am meisten solche der früheren Meister zu vermeiden.18 Wo aber steht das, ich bitte,

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was Dir gestattet, Dir diese Freiheit von mir abzuleiten?19 „In der sechsten Ekloge Deines Hirtengedichts,“ sagte er, „wo knapp vor dem Ende ein Vers so aufhört: ‚und mit donnernder Stimme‘.“20 17. Ich erstarrte. Denn mir fiel ein, während er sprach, was mir beim Schreiben nicht eingefallen war, dass es sich nämlich um ein Versende Vergils im sechsten Buch seines göttlichen Werkes handle. Dir das mitzuteilen, habe ich nicht etwa darum beschlossen, weil zu irgendeiner Korrektur noch eine Gelegenheit bestünde, ist doch das Werk schon weit herum bekannt und verbreitet,21 sondern damit Du Dich tadelst, weil mit Deiner Duldung ein anderer Dir zuvorkam, mein Versehen mir anzuzeigen! Oder damit es, falls Du es überhaupt nicht erkannt hast, Dir endlich bekannt werde und Du überdies bedenkest, wie doch weder ich (zwar belesen, doch unter mancher Bildungslücke und mangelnden Einsicht leidend), noch überhaupt einer, und wäre er noch so gelehrt, bei all seiner Anstrengung einer Sache so gerecht werden könnte, dass bis zu den menschlichen Zielen nicht doch noch immer ein grosser Abstand verbliebe. Ist ja die Vollkommenheit Jenem vorbehalten, von dem auch das Wenige stammt, das wir wissen und können! Schliesslich solltest Du Vergil zusammen mit mir darum bitten, er möge, da er einem Homer, Ennius, Lucretius und vielen anderen oft vieles geraubt hat,22 verzeihen und nicht übelnehmen, wenn ich ihm meinerseits zwar nichts raubte, aber doch aus mangelnder Aufmerksamkeit eine Kleinigkeit entwendete. Lebe wohl! Pavia, am 28. Oktober (1366).23

Anmerkungen 1 Vgl. Petrarcas frühere Briefe an Boccaccio, besonders Fam. 22,2, Anm.1 über Briefe Petrarcas an Boccaccio aus den jüngst vergangenen Jahren. Hingewiesen sei auch auf ein Schreiben des Dichters an Modio von Parma Var. 12 vom 10. Juni 1362, in dem zwar nicht Boccaccio genannt wird, jedoch Petrus Damiani, der die beiden Humanisten lange Zeit beschäftigen wird. 2 Es handelt sich nicht um die in Fam. 20,6; 20,7 und 22,2 angeführte Begebenheit wohl vom Jahr 1359, sondern um einen Abschied Boccaccios nach seinem Besuch bei Petrarca in Venedig im Jahr 1363 oder später; vgl. Dotti, Vita 385 und A. Foresti, Aneddoti 485–487. 3 Die Rede ist von Giovanni Malpaghini aus Ravenna, der von ca.1346–1417 lebte. Er kam ins Haus Petrarcas mit etwa achtzehn Jahren und weilte da 1364–1368. Im Jahr 1394 wurde er als Lehrer der Rhetorik an die Universität von Florenz berufen; und war sehr geschätzt als ausgezeichneter Kenner und Interpret der lateinischen Literatur. Man verglich ihn mit Cicero, doch hat er an eigenen Schriften so gut wie nichts hinterlassen. Von ihm spricht Petrarca auch in Sen. 5,5–6; 11,7–9; 15,12;13,14 und Var. 15. Vgl. auch Fam. 23,17, Anm. 1. 4 Lateinisch: Venetiis in domo tua, quam inhabito. Das Verb steht im Präsens. Petrarca, der sich im Augenblick in Pavia aufhält, denkt an eine Gewohnheit, wenn er in Venedig ist. Der Palazzo Molin, den er bewohnte, gehörte aber nicht Boccaccio.

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5 Das ist Donato Albanzani, ein zu seiner Zeit sehr bekannter Lehrer der Grammatik und Rhetorik, der zeitweise in Ravenna und Venedig Schule hielt; er pflegte Beziehungen zu Boccaccio und lernte in Venedig Petrarca kennen. Ihm widmete der Dichter das Werk De ignorantia. Vgl. DBI 1,611–613. 6 Da der Kopist, als er zu Petrarca kam, kaum mehr als 18/9 Jahre alt war und jetzt (1366) schon zwei Jahre bei ihm lebte, wird er eben noch unter Ostasio da Polenta geboren worden sein, auf den 1347 sein Sohn Bernardo folgte, bevor Guido da Polenta an die Macht kam. 7 Verg. Ecl. 3,86. 8 Über den eigenen Sohn Giovanni äussert sich Petrarca verzweifelt in Fam. 22, 2,7 und 23,12,15; seither hat sich sein Urteil über den Toten – wohl teils unter dem Einfluss seiner Freunde – gemildert. 9 Dotti, Vita 384 nennt einen Kopisten Gaspare Scuaro Broaspini, der zwischen 1363 und 1365 an der Sammlung der Familiares arbeitete. Klagen über das Fehlen einer genügenden Zahl von Kopisten und hilfsbereiten Freunden hört man z. B. auch in Fam. 23,12,14 und Var. 15, Fracassetti Bd. 3,333. Von der Überarbeitung und Sammlung der Briefe spricht z. B. auch Fam. 20,7,6. 10 Das entspricht der Zählung bei Rossi. 11 Gemeint ist Priscianus aus Caesareia in Mauretanien, gestorben zu Anfang des 6. Jahrhunderts n. Chr. Vgl. Inst. gramm. 1,2,3; auch Isid. Etym. 1,3,3. Die entscheidenden Wörter lauten: litera quasi legitera. 12 Vgl. Fam. 1,8 über Originalität und vgl. auch Anm. 16 und 17. 13 Hor. Epist. 2,1,157. 14 Hor. Ars 134 f.: nec desilies imitator in arctum. 15 Lateinisch: aerem vocant. Aer meint Luft, Lufthauch, Dunst, Duft. 16 Speziell zum folgenden Text über Originalität vgl. den oben Anm. 12 genannten Brief Fam. 1,8, die Stelle 3 ff. Vgl. auch Sen. Ad Lucil. 84,3–10; Hor. Carm. 4,2,27–32. 17 Lateinisch: sed alienis uti, paucis quidem et id raro, multorum atque ante alios tuo mihi permiserim ab exemplo. 18 Von solch ängstlichem Vermeiden spricht Petrarca z. B. in Fam. 22,2,8 ff. gegenüber Boccaccio, aber auch 21,15,11 wiederum an Boccaccio über das Verhältnis zu Dante, auch 24,12,15 über Vergils Abhängigkeit von Homer. 19 Lateinisch: ubinam, queso, est unde hanc tibi licentiam ex me sumis? 20 Buc. carm. 6,193:…atque intonat ore. Wörtlich gleich lautet das Versende bei Verg. Aen. 6,607. 21 Vgl. Fam. 22,3,2 f. an Barbato und die Notizen dazu vorn im Überblick. 22 Vgl. das Schreiben an Homer, Fam. 24,12,15 ff, 23 Dotti, Vita 385 ff. gibt weitere Stellen an, in denen Petrarca seinen Kopisten Malpaghini und seine verschiedenen Arbeiten für ihn erwähnt. Sen. 5,5 und 6 verraten, dieser habe schon im April 1367 einen so grossen Hang zum Reisen verspürt, dass er sich durch keinerlei Einwendungen habe zurückhalten lassen.

Fam. 23,20, an Francesco Bruni, den florentinischen Rhetor1 Eine neue Freundschaft wird geschlossen. 1. Freunde des Adressaten haben Petrarca gebeten, er möge ihm schreiben. 3. Doch weigert sich der Dichter. 5. In einem unerwarteten Angriff wird er besiegt. 8. Den neuen Freund reiht er in die Familiares ein. Padua, am 8. September (1361).

1. Ein recht grosser Beweis, vortrefflicher Mann,2 für Deine Tüchtigkeit ist mir schon das Wort eines hochedlen Mannes, dem ich alles glauben würde. Als er kürzlich zu uns zurückkam3 und mir als grosses Geschenk den Namen eines neuen Freundes mitbrachte, sagte er von Dir, den er sehr liebt und sehr gerne erwähnt, unter manch anderem, dass Du meine Freundschaft wünschtest, aber wenn man Dich frage, ob Du mich ab und zu sähest, zu antworten pflegtest, Du hättest mich gesehen und ich sei Dir bekannt. Und mit diesem Trick weltmännischer Gewandtheit seist Du bisher Deinem Schamgefühl zu Hilfe gekommen, als wäre es für Dich eine Schande, mich, Deinen Zeitgenossen und Mitbürger, den Du sehr hoch schätztest und als Unbekannten liebtest, gar nicht zu kennen. 3. Dank sage ich Dir für Deine Zuneigung und Dank auch für Deinen wohlmeinenden Irrtum. Denn schlecht ist kein Fehler, wenn er aus schöner Wurzel stammt.4 Ein milder Charakter und ein zur Liebe neigendes Gemüt hat schon manchen in irgendeine falsche Beurteilung gleiten lassen. Besser ist jedoch, viele, die es nicht verdienen, zu lieben, als einen einzigen, der es verdiente, nicht zu lieben.5 4. Darauf aber hat jener Besucher bestanden, dass ich einem so tüchtigen Mann mit so grosser Zuneigung zu mir (aber aus unbekanntem Grund zu ängstlich, mir als erster zu schreiben) freundschaftlich einige Zeilen senden müsse. Ich sagte, dass kein Stoff zum Schreiben vorliege und dass ich nicht gewohnt sei, Unbekannte mit Worten zu überfallen; beinah alles, was ich je in Briefen verfasst hätte, bestehe folglich aus einer Antwort oder richte sich an Menschen, mit denen mich eine enge Freundschaft verknüpfe.6 Denn wirklich sei ich nicht dreister als andere, noch sei mir diese Neuerung im Schreiben weniger verdächtig als Dir. 5. Was aber meinst Du, hat jener hierauf getan? Hat er sich etwa beruhigt, und war er von meiner Rede beeindruckt? Überhaupt nicht! Er wandte sich vielmehr an den Herrn der Stadt, den mit Dir sehr befreundeten,7 führte ihn an der Hand in mein Haus, und zwar mit der Überlegung, ich würde vor einem solchen Zeugen (eigentlich müsste ich von „Befehlshaber“ sprechen, denn auch dieser stellte sich als Bittender ein, nur dass die Bitten der Gebieter wie Befehle sind8), ich würde also nicht im mindesten wagen, etwas abzulehnen, Darauf sassen wir – ich völlig ahnungslos, was man im Schilde führe – allein unter unseren Büchern. 6. Da wurde denn vieles über vieles gesprochen, am Schluss jedoch über Dich. Da ging es um die Wette, und drang der eine von hier auf mich ein, prellte unerwartet von dort

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der andere gegen mich vor. Ich merkte, ich sitze in der Falle. Doch was vermochte gegen zwei solche Kerle ein einziger? Den Schmeicheleien der beiden so grossen Freunde und dem tiefen Ernst einer gebietenden Stirne zu widerstehen, war ich nicht fähig. Also fügte ich mich! Und noch zur selben Stunde gingen sie davon. Ich aber, meines Versprechens gedenkend, ergreife die Feder, um zu schreiben, was mir etwa einfalle.9 Aber wie hätte ich, von verschiedensten Geschäften bedrängt und voll von Sorgen etwas Neues ausdenken können! An dem, was vorgefallen war, und dem, was nachher der Reihe nach folgte, hatte ich Schreibstoff genug. 7. Hier also das Ende der Geschichte! Meine Freundschaft, wie ich verstehe, eine wahre Kleinigkeit, wünschest Du; und je bescheidener der Wunsch, desto unhöflicher die Abweisung. Deinen Bitten komme ich daher entgegen. Nimm das Gewünschte aus vollen Händen entgegen; und rechne Du mich vertrauensvoll zur Zahl Deiner Freunde. Und kannst Du mich brauchen, dann brauche mich, wenn nicht, dann einen andern. Freilich wirst Du unter meinen Bekannten und Freunden und unter den Episteln meiner fast noch grünenden Jahre, weil kein anderer Platz mehr übrig ist, beinah den letzten einnehmen.10 Denn an einen ältlichen Freund und an eine ältliche Feder bist Du, wenn Du es nicht wissen solltest, geraten. 8. Bleibt mir vom Leben noch etwas übrig, wird es entsprechend weniger schweigsam sein, da „das hohe Alter besonders geschwätzig ist,“ wie Cato, der beste der Alten, gemeint hat.11 Also wirst Du zweifellos häufiger daran beteiligt sein. Inzwischen ertrage Dein Schicksal gelassen! Nicht Deinem Fürsprecher, der Deine Sache tüchtig und wahrhaft soldatisch12 verteidigte, übrigens auch nicht mir, der ihm, wenn auch zögernd, schliesslich gehorchte, sondern Dir selber rechne es an, wenn Du nun etwas gewinnst, wenn auch weniger, als Du gemeint hast. Sei Du nur in Zukunft immer ebenso rasch im Besitz alles Erwünschten! Aber beim Wählen geschickter!13 Lebe wohl! Padua, am 8. September (1361).

Anmerkungen 1 Der Adressat Bruni gehörte zum Humanistenkreis in Florenz, verkehrte aber auch im Kreis des Pandolfo Malatesta und war mit dem Stadtherrn von Padua, mit Francesco da Carrara befreundet. Er übernahm später das Amt eines päpstlichen Sekretärs. Petrarca pflegte mit ihm schriftlichen Kontakt und bediente sich u. a. gerne seiner Person zur Vermittlung von Briefen an Papst Urban V. Zur Person vgl. DBI 14, 610 ff. 2 Wie oft in Petrarcas Anreden steht hier vir, und dafür Mann zu setzen, ist wohl richtig. Für Kleriker eines höheren Grades verwendet er sowohl pater wie auch dominus. 3 Das ist Pandolfo Malatesta; vgl. Petrarcas Briefe an ihn Fam. 22,1; Sen. 13,9–11; Var. 18, sowie Angaben im Überblick.

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4 Über Wert und Unwert von Ausflüchten äussert sich Petrarca mehrmals, so in Fam. 22,5,10. 5 So sagt Petrarca auch dort, wo er seine Nachsicht gegenüber seinem Sohn entschuldigt; vgl. Fam. 22,9. 6 Die selbe Beteuerung in Fam. 9,12,4. 7 Vgl. Dotti, Vita 401 ff. A. Zardo, Il Petrarca e i Carraresi, Mailand 1887. 8 Lateinisch: ut tanto sub teste, dicam verius preceptore, nam et ipse precaturus aderat et sunt precepta preces principum. Dies eine von Petrarcas mehrfach wiederholten Aussagen; vgl. Fam. 7,4,3; 16,12,8. 9 Vgl. Fam. 9,11,2 f. 10 Der neue Freund wird beinah den letzten Platz in der Sammlung der Familiares erhalten. Sokrates, dem Petrarca sie gewidmet hatte, war 1361 gestorben. Es folgt die Sammlung der Seniles, die Petrarca dem Freund Francesco Nelli zueignete. Dieser starb auch schon bald, im Sommer 1363. 11 Cic. De sen. (Cato)16,55. 12 Pandolfo Malatesta war als Condottiere sehr geschätzt. 13 Die Sen. und auch die Var., die Petrarca an Francesco Bruni richtete, sind bei Wilkins, Petr. corresp. 15 zusammen aufgeführt.

Fam. 23,21, an den Cäsar1 Letzter Aufruf. 1. Petrarca hat alle Hoffnung verloren. 2. Doch lässt er sich durch neue Nachrichten wieder ermutigen. 4. Noch immer kann der Kaiser auf einen ungenügenden Anfang ein gutes Ende folgen lassen. 7. Dann wird er mit dem „Zögerer“ der Römer verglichen werden. 11. Selbst beim Misserfolg ist der Tod während mutiger Tat besser als der in Tatenlosigkeit. Padua, am 11. Dezember (1365).

1. Müde der Vergangenheit und der Zukunft misstrauend, Cäsar, hatte ich die Feder weggelegt, die Dich zu ermuntern ganz abgewetzt und sperrig ist. Es nährt und erquickt den Geist in schwieriger Lage die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang; doch ist sie geschwunden, wer wäre dann so töricht, der fruchtlosen Anstrengung nicht Ruhe vorzuziehen! 2. Zur Feder zurückzukehren, zwingt mich der „Sacer Amor“; und damit ist entweder ein Ritter dieses Namens2 oder es ist jene heilige Begeisterung gemeint, die mir von meinen Eltern als Erbe zufiel3 und die, nachdem ich sie von Kindheit auf gehegt hatte, für Deine Majestät, seit ich Dich kenne (oder genauer für die des römischen Imperiums), in meinem Inneren noch lebt und täglich zunimmt, – oder es sind wohl richtiger beide zusammen. 3. Denn weder wäre meine Liebe nach so vielen Hilferufen und so manchem vergeblichem Beginnen nochmals zu nutzloser Mühe zurückgekehrt, noch hätte dieser Ritter, obwohl freundlich, beredt und verständig, mich zu solchem bewogen, hätte er in meinem Herzen nicht die noch glühende Asche des früheren Vertrauens gefunden. Diese hat er nun mit dem Zunder grosser Hoffnung und mit dem gelinden Blasebalg sanftester Reden entzündet. Mit vielen stichhaltigen Gründen hat er nämlich Deinen Aufschub entschuldigt, hat auch meinen Ohren (die begierig und rasch an Dein Glück und Deine Herrlichkeit glauben) viele gewichtige Hinweise auf Deine edlen, grossmütigen Vorhaben und auf die wahrhaft kaiserlichen Rüstungen zugeflüstert, und so jenes aus früherer Erfahrung entstandene Eis meines Misstrauens in der Hitze neuer Zuversicht geschmolzen.4 4. Wohlauf denn, Cäsar! Unter der Führung Gottes, der Dir nicht umsonst sein Imperium anvertraut hat, erhebe Dich! Erfülle die vertagte, ehrenvollste Pflicht entschlossen, derweil Du es kannst, und erfülle sie glücklich! Ein glorreiches Ende wird einen trägen Anfang entschuldigen. Alle werden übereinstimmend sagen, Du habest nach höherem Ratschlag zu handeln gezögert, denn die Ernte des Abendlandes sei nicht so reif gewesen, dass Deine kaiserliche Sense nutzbringend habe eingreifen können (mochte zwar unser Hunger, jeder Verzögerung abhold, unwillig knurren); nichts Verfrühtes könne richtig, nichts Gutes mit Verspätung gelingen, und wahr sei das Wort des Augustus:5 „Rasch genug wird gemacht, was immer gut

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genug wird.“ 5. Ergreife, Cäsar, diese Gelegenheit, derweil Du es noch kannst, denn nicht immer wirst Du es können. Handle, ich bitte Dich, Cäsar, denn noch habe ich Deinen Namen anzurufen und von Dir Deine Ruhmestat zu fordern und zu erbitten nicht verlernt. Und wenn ich bloss als einer der Ungeduldigen ob dem mir verhassten Aufschub erkaltete, sieh da, ich erwärme mich wieder! Hüte Dich, meine eigene und die vieler Menschen herrliche Hoffnung erneut zu ersticken. Eine allzu oft unterdrückte Hoffnung erhebt sich schwerlich. 6. Wenn Dein Ruhm vielleicht bis heute von irgend einer Wolke beschattet war und wenn aus dem Dunkel des Anfangs etwas Unehrenhaftes hervorging, glaube mir, all das wird nicht allein im Glanz der Vollendung sich läutern, sondern auch – wie ich schon sagte – sich in Ehre verwandeln. Denn was einst sei’s Irrtum, sei’s Einsicht gewesen ist, wird dann in der Öffentlichkeit als Einsicht, nicht als Irrtum erscheinen. Oft hat ein herrliches Ende einen schlaffen Anfang verherrlicht, dagegen ist nie ein etwas düsteres Ende durch einen glänzenden Anfang verklärt worden. Kurz gesagt: Du hast begonnen, wie wir es bedauerten, daher vollende nun, wie wir es wünschen! 7. Dann wirst Du des Fabius Maximus Beinamen verdienen;6 ein „Zögerer“ wirst Du sein, doch ein weiser, der mehr auf das öffentliche Wohl bedacht war als auf das Ansehen bei der Menge. Mochte Minucius in dünkelhafter Geschwätzigkeit Dir seine Überlegenheit dartun,7 so genügt es, wenn er jetzt, durch die Sache belehrt, sein Unvermögen eingesteht! Sagen mögen von Dir die Feinde des Imperiums, was von jenem Fabius einst Hannibal gesagt hat:8 „Stets haben wir geahnt, dass dieses Gewölk unter mächtigem Donnern von den Bergen herabbrechen werde.“ Doch sollte – dass die göttliche Gnade diese Befürchtung zerstreue! – auch das Ende kraftlos sein: Wer in der Gegenwart oder Zukunft würde Dich jemals entschuldigen können? 8. Höre mich, bitte, Cäsar, der ich zwar niedrigen Standes bin, Dich aber liebe und Deinetwegen fürchte und hoffe! Der Natur zahlst Du Deinen Tribut nicht anders als ich und als jeder Beliebige aus dem Volke. Die Zeit ist flüchtig und unwiederbringlich, das Glück unbeständig, das Leben kurz, die Stunde des Todes unsicher. Die einzige Art, sich zu helfen, heisst: Zeit sparen, dem Glück misstrauen, das Leben durch Taten entfalten,9 für den Tod stets mit Leib und Seele bereit sein! Das vermag aber keiner, der seine wichtigste Pflicht nicht erfüllt hat. 9. Ist das Ende des Lebens auch ungewiss, so ist wenigstens so viel gewiss, dass es nicht fern sein kann. Und ist es gekommen, wird Dir von allen Deinen Gütern und denen des Kaiserreiches nichts verbleiben, als was Du zum ewigen Leben Deiner Seele und zum unsterblichen Ruhm Deines Namens durch ein gutes Leben verdient hast. Gut zu leben versteht aber nicht, wer um das Eine und Höchste und Grösste, wozu er geboren ist, sich nicht kümmert. 10. Du bist, wie ich schon früher sagte, für die Kaiserherrschaft geboren, für diesen umfassenden, überragenden Auftrag. Erfülle ihn getreulich, wenn Du willst, dass man sage, gut habest Du gelebt. Was würde

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Dir sonst nützen, für jene Deine letzten Stunden auf Erden grossartig vorgesorgt zu haben?10 Das hättest Du auch ohne Kaisermacht tun können, und vielleicht sogar besser. Weniger Neid und weniger Mühe hättest Du erworben. Etwas viel Gewaltigeres bleibt zu tun. Packe es an! Und es erschrecke Dich nicht seine Grösse! Nichts gibt es, was die Majestät des Kaisertums, versehen mit Klugheit und Gerechtigkeit und diesen Streitkräften, nicht vermöchte. 11. Sollte Dir aber vom Himmel die Vollendung des Werkes verwehrt sein, so wäre doch – wie ich meine – weit besser und erfreulicher, bei glorreicher Tat als in schwächlicher Ruhe zu sterben. Und das ist es, was Deinen Grossvater11 göttlichen Gedenkens für alle Jahrhunderte glorreich gemacht hat. Sieh, Cäsar, jetzt und oft schon früher habe ich, nicht um Schmeicheleien, sondern um Wahrheit bemüht, auch nicht auf Schönheit der Worte, sondern auf klaren Ausdruck der Gedanken bedacht, Dir ängstlich gesagt, was mein Inneres bedrückt hat. Dass meine Rede nicht fruchtlos sei, bitte ich Gott und Dich. Lebe wohl, Du unsere Zierde, Freude und Hoffnung. Padua, am 11. Dezember (1365).12

Anmerkungen 1 Den lateinischen Text findet man auch bei Piur, Briefwechsel 155 f. und lat./dt. Petrarca, Aufrufe 553 ff. Vgl. das vorangehende Schreiben an Kaiser Karl Fam. 21,7; die Adresse nennt dort den Imperatorentitel, während die Adresse Fam. 23,21 den Cäsar nennt. Die Anrede Cäsar bleibt im Brieftext überall bestehen. 2 Für den Ritter Sagremor de Pommiers, den sehr bewährten Boten vor allem der Höfe Mailand und Prag, hatte Petrarca in mehreren Briefen an den Kaiser und seine Ratgeber um Gunsterweise gebeten; vgl. das Personenreg. Der Ritter besuchte Petrarca höchst wahrscheinlich im Herbst 1364 und wohl in Padua. Durch ihn wusste der Dichter von Verhandlungen Karls mit dem neuen Papst Urban V. (gewählt 28.9.1362) und von einem neuen Plan einer Italienfahrt. Diese kam erst 1368 zustande. Von Sagremor vernahm Petrarca 1367 überdies, er sei in den Orden der Zisterzienser eingetreten. 3 Die Eltern Petrarcas waren nicht Guelfen der strengsten Richtung, sondern vertraten eine prokaiserliche Haltung, weshalb sie aus Florenz verbannt wurden. 4 Seit dem 11. März 1363 hatte der Dichter dem Kaiser gegenüber geschwiegen. 5 Suet. Aug. 25. 6 Quintus Fabius Maximus „Cunctator“ („Zögerer“) vermied, nachdem er 217 die militärische Leitung übernommen hatte, jede Schlacht, was bei den Römern Misstrauen weckte. Minucius Rufus, ihm als zweiter Diktator beigesellt, versagte völlig und musste sich durch den Cunctator retten lassen. Vgl. Liv. 22,8–12 und 26–30. 7 Vgl. Liv. 22,49,16. 8 Liv. 22,30,10. 9 Über die Möglichkeit, die Zeit zu sparen und zu dehnen, spricht Petrarca Fam. 21,12. 10 Petrarca hat bei seinem etwa vierwöchigen Besuch in Prag (vgl. Fam. 19,13 und 19,14) an Bauten und verschiedenen Kunstgegenständen, mit denen Karl seine Grabstätte und sein Andenken verherrlichen wollte, manches betrachten können. Zu nennen sind vor allem der von Karl erbaute

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Veitsdom mit der prachtvoll ausgeschmückten Kapelle zu Ehren seines Namenspatrons Wenzel, die zum Mausoleum der Böhmenkönige wurde, und Bauten zur Demonstration der Kaisermacht wie der Hradschin. Vom Karlstein wird er gehört haben, etwa durch Sagremor. 11 Das ist Kaiser Heinrich VII., der 1313 auf seinem Italienzug gestorben war. 12 Vgl. Wilkins, Later years 78–80.

Fam. 24,1, an den Bischof Philippe von Cavaillon1 Über die unbegreifliche Flucht der Zeit. 1. Über einen Jugendbrief an Raimondo Subirani. 2. Er sprach von der Kürze der Lebenszeit. 4. Schon als Schüler hat Petrarca antike Gedanken zur Kürze der Zeit beherzigt. 13. Was er vorausahnte, erlebt Petrarca jetzt im Alter. 17. Die Kürze der Lebenszeit hat Petrarca gelehrt, nichts Zeitliches zu erhoffen. 20. Doch mit Rücksicht auf Hoffnungen der Eltern hat er eine Zeit lang Jus studiert. 22. Die Kürze des Lebens hat den Dichter auch die richtige Lebenshaltung gelehrt. 24. In Kürze hat er sich und hat sich vieles verändert. 26. Zu jedem Zeitpunkt sterben wir. 28. Nicht länger dauert unser Leben als das eines Eintagstierchens. 30. Der Psalmist bezeugt es. (–1360)

1. Es war vor dreissig Jahren – wie die Zeit doch heimlich entgleitet, die mir, sobald ich mich umkehre und das Vergangene insgesamt überschaue, nur wie die gleiche Zahl Tage, ja kaum die gleiche Zahl Stunden zu sein scheint, mir aber beim Bemessen des Einzelnen und beim Verzetteln meiner Haufen Arbeit gewöhnlich wie eben so viele Jahrhunderte vorkommt –, da schrieb ich an den ehrwürdigen und vortrefflichen, hochbetagten Raimondo Subirani,2 der den wohlverdienten Titel eines Rechtsberaters trug – während ihn, wie Du weisst, viele zu Unrecht besitzen – und der nach seinem Äussern und seinen Werken einen Weisen vorstellte. 2. Er beharrte gegenüber dem römischen Bischof3 in seiner völlig unbeirrbaren Hartnäckigkeit bis zum äussersten auf der Wahrheit und Gerechtigkeit hochgemut und unbesiegt, weshalb er zu seinem grössten Ruhm als Einziger nicht zu höheren Ämtern aufstieg (während weit minder Fähige befördert wurden) und dank grosser ihm eigener Würde, also nicht dank einer ihm von aussen auferlegten Hoheit, stets auf seinem alten Posten verharrte, keine Beförderung wünschend und unbefördert. 3. An diesen ehrenvollen Alten also, der mich junges Bürschchen und mein bisschen Verstand zu lieben und zu fördern und mit jeder Art Hilfe und Ratschlag und mündlichen Aufmunterungen höher zu heben bemüht war, schrieb ich vertraulich, wie ich zu tun pflegte, eine Epistel, die wegen der chronologischen Anordnung meiner Briefe in der vordersten Reihe steht und deshalb diesem Schreiben bei weitem vorausgeht. Offenherzig brachte ich darin vor, ich hätte, obwohl noch in aufblühendem Leben, dessen Flucht und Lauf kennen gelernt. Nun freilich wundert mich das, doch habe ich gewiss die Wahrheit geschrieben. 4. Und wenn das schon ehemals richtig war, was meist Du gilt heute, wo eintrifft, was ich damals voraussagte? Ich hatte mein üppig blühendes Alter „und das purpurne Licht meiner Jugend“ vor Augen,4 wie Maro sagt, doch ich las auch bei Flaccus:5 „Sieh schon sprosst ja der Flaum/eh Du’s gedacht,/Zierde und Mannesstolz, Und Dein Haar, das den Hals/zärtlich umstreicht,/schneidet die Schere ab. War da purpurner Glanz,/duftend und weich,/schöner als Rosenflor, Weicht er, sieh, Ligurin,6/bis Dein Gesicht/rauh und gar runzlig ist.

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Und dann sagst Du nur „Ach“,/Wenn Dir Dein Bild/fremd aus dem Spiegel schaut.“ Ich las auch bei einem andern Satiriker:7 „…in hurtigem Lauf beeilt sich, zu fliehen Jugend, die kürzeste Frist eines traurigen, allzu beengten Lebens; und uns, die wir trinken und Kranz und Salben und Mädchen Fordern, beschleicht – selbst wenn wir es nicht beachten – das Alter.“ 5. Dies und Ähnliches las ich, nicht wie es in jenem Alter Brauch ist, einzig nach Sprachlehre und Wortkunst eifernd, sondern dahinter immerhin etwas anderes, darin Unbekanntes vermutend, was weder meine Mitschüler, ja nicht einmal mein Lehrer8 (ein in den Anfangskünsten geschulter Mann) erwarteten.9 Ich hörte Vergil10 „mit göttlichem Mund“ ausrufen: „Eben der beste Tag entflieht den unseligen Menschen Als der erste; dann folgt viel Leid und trauriges Alter, Mühe auch, und darauf die grausame Härte des Todes.“ und anderswo:11 „…kurz und unwiederbringlich Ist der Menschen Zeit…“ und wiederum:12 „Flieht inzwischen die Zeit und entflieht uns unwiederbringlich“. Kaum schien es möglich zu sein, die Flucht der Zeit und ihren unwiederbringlichen Verlust anders als durch öftere Wiederholung kräftig genug zu betonen. 6. Ich vernahm auch Ovid,13 und je schlüpfriger seine Muse, um so gewichtiger und eindrücklicher war mir dieses Bekenntnis und um so unverbrüchlicher sein Zeugnis für diese Wahrheit. Er sagte nämlich: „Heimlich entgleitet uns und narrt uns das flatternde Leben, Nichts läuft rascher dahin als die Jahre…“ und wieder an anderer Stelle:14 „Zeiten gleiten dahin; wir altern mit lautlosen Jahren, Und es flüchtet der Tag; Zügel hemmen ihn nicht.“ 7. Auch den genannten Flaccus15 vernahm ich wieder: „…läuft doch wie wild die Zeit Voran…“

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da, wo von der Jugend die Rede ist. Doch gilt von jedem Lebensalter:16 „Ach weh! Wie eilig,/Postum, oh Postum hör! Es fliehn die Jahre;/sieh, keine Gnadenfrist Spart Runzeln uns, dann kommt das Alter; Keines verzögert die Zeit des Sterbens.“ Und noch einmal:17 „Unseres Lebens Frist/hindert uns stets,/Hoffnung lang zu hegen.“ Und zur Kürze der Zeit:18 „Langes Hoffen mach kurz;/während Du sprichst,/flieht voller Neid die Zeit/ Weiter.“ Und ausserdem:19 „…denn es flieht schon bald Der frohen Jugend Reiz, da das spärliche Ergraute Haar uns Liebesspiele Und den erquicklichen Schlummer austreibt.“ Und damit ich nicht etwa die Rückkehr des einmal Entschwundenen erwarte, hörte ich:“20 „Nicht Dein purpurnes Kleid,/durchsichtig fein aus Kos, Nicht Dein kostbarer Schmuck/bringt Dir die Zeit zurück; Fest hielt einst der Kalender,21 Was nun wirbelnd ein Tag verschluckt.“ 8. Allzu lange verweile ich bei Flaccus. Ich hörte auch Seneca:22 „Unsere Leiber wogen dahin gleich Strömen. Was immer Du siehst, rennt mit der Zeit. Nichts von dem, was wir schauen, bleibt stehen. Während ich sage, alles ändere sich, bin ich selber verändert.“ Ich hörte Cicero:23 „Es fliegt die Zeit“, so sagte er; und dann weiter: „Gäbe es gar einen (und wäre er noch so jung) von solcher Torheit, dass er meinte, seine Lebensdauer reiche, wie erwiesen, bis zum Abend?“ Und gleich nachher: „Dass man sterben muss, ist sicher; doch unsicher ist, ob noch heute.“ Und nochmals er an anderer Stelle:24 „Als könnte für irgend jemand gewiss sein, wie sein leibliches Befinden, ich sage nicht: in einem Jahr, sondern nur bis zum Abend, beschaffen sei.“ 9. Ich übergehe andere. Mühsam ist es ja, einzelne Autoren und einzelne Worte anzuführen, und eher ist es ein kindisches Begehren, als eines für alte Leute, Blümlein zu pflücken.“25 Doch diese und tausend ähnliche Wendungen hast Du oft bei mir, oft mit mir auf eben den Matten der Autoren ganz nach Bequemlichkeit abge-

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pflückt. Wie ich als Heranwachsender während einiger Jahre bei ihrer Lektüre vor Eifer glühte, weil ich mit andersartigen Schriften noch nicht ebenso vertraut war, das zeigen jene Bücher an, die mir aus jener Zeit erhalten geblieben, ebenso meine Schriftzüge, vorwiegend solchen Denksprüchen angefügt, aus denen ich meinen Zustand in der Gegenwart und Zukunft herauslas und über mein Alter hinaus und immer neu überdachte. 10. Ich merkte mir gewissenhaft nicht etwa äusserliches Wortgepränge, sondern die Sache selbst, also die enge Begrenztheit dieses traurigen Lebens, seine Kürze, Raschheit und Eile, sein Gleiten, Laufen und Fliegen, seine versteckten Betrügereien, den unersetzlichen Zeitverlust, die Hinfälligkeit und Wandelbarkeit der Jugendfrische, die schwindende Anmut eines blühenden Gesichts, die zügellose Flucht der nie wiederkehrenden Jugend, die hinterhältige Zudringlichkeit eines still anschleichenden Greisenalters, schliesslich die Runzeln, die Krankheiten, die Traurigkeit, das Ermatten und des unbezähmbaren Todes Schroffheit und unnachgiebige Härte. 11. Was den Gleichaltrigen und Schulkameraden so etwas wie Träume zu sein schien, galt mir schon damals – der alles sehende Gott ist mein Zeuge – als etwas Wirkliches und beinah Gegenwärtiges. Und ob nun eine echte Schönheit des Gesichts oder ein Irrtum der Jugend vorlag – beinah alle jungen Leute, selbst die hässlichen, halten sich ja für ausnehmend schön –, jedenfalls meinte ich stets, wenn ich das Wort jenes Hirten26 las: „Oh Du schönes Kind, vertrau nicht zu sehr Deiner Anmut,“ es richte sich an mich und nicht an einen andern. 12. Ich weiss, ich sage die Wahrheit. Besser weiss es Jener, den ich zu meinem Zeugen gemacht habe. Und denke ich daran, bin ich doppelt erstaunt, dass ich mitten unter solchen Überlegungen mich zu jugendlichen Liebeleien und Irrtümern habe hinreissen lassen. Ich meine, ein Dunst legte sich auf alles, der meinen Blick trübte, und ein allzu mutwilliges Alter löschte jenes frühere Licht meiner Seele aus. Doch es sei! Wenn ich nur wenigstens heute einiges zu begreifen lerne. Wirklich glücklich ist freilich, wer nie einem Irrtum erlag. Doch weil ein unbeschränktes Glück ganz selten ist, kann schon jener von reichlich viel Glück sprechen, dem unter den Nebelschwaden des Irrtums endlich ein himmlisches Licht erstrahlte. 13. Was also denkst Du nun? Wahrhaftig, was mir damals zu sein schien, ist nun Gegenwart; ich sehe eine so gewaltige und so rasende Flucht des Lebens, dass ich sie im Geist kaum zu bemessen vermag; und ist die Raschheit des Geistes ganz unvergleichlich, so ist das Leben doch beinah noch rascher.27 Ich spüre, dass die einzelnen Tage und Stunden und Augenblicke mich zum letzten drängen. Täglich gehe ich dem Tod entgegen, oder besser – beim Pollux, denn schon damals, als ich noch heranzuwachsen schien, hatte ich damit begonnen: täglich sterbe ich, und wenig fehlt, dass ich’s in der Vergangenheit sagen muss. Zum grossen Teil ist schon

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abgetan, was zu tun war; und der restliche Teil ist winzig. Der aber, so nehme ich an, wird zerrieben, während ich mit Dir spreche. 14. Alt ist mein Lehrsatz: Unzweifelhaft täuschen jene oder werden getäuscht, die ich weiss nicht von welchem Lebensalter behaupten, es bleibe stehen. Oh Ihr Menschen, die Ihr diesem Körperlein so vieles versprecht, gerade wie beliebigen anderen Dingen! Wenigstens dies Eine dürft Ihr Euch nicht versprechen, nämlich einen Zustand des Unbeständigen. Sorgt getreu, sorgsam und vorsichtig! Wehrt Euch, soviel Ihr vermögt! Treibt Krankheiten aus, sie kehren unverzüglich zurück! Verschiebt das hohe Alter; einzig im Tod wird es vertrieben. Widersetzt Euch dem Tod; unverzüglich trifft er ein! Legt der grünenden Jugend den Zügel an! Sie beisst in den Zügel und entläuft unter den Händen der Zügelnden. Hütet Euch zu glauben, sie werde irgendeinmal stehen! 15. Wenn nämlich „das Leben kurz ist,“ wie das erste Wort Eures Bekenntnisses lautet,28 wie können einzelne Teile da lang sein? Sie wären lang, stünden sie fest.29 Doch jedes Lebensalter flieht oder wird weggerafft; keines bleibt stehen. Und jede Lebenszeit flieht, so sage ich, mit immer gleichen Schritten, doch wird nicht jede Zeit gleich bemessen, weil die Bewegung der Auf- und Niedersteigenden stärker ins Auge fällt.30 16. Was ich aber einst vermutete, das weiss und sehe ich jetzt, und auch Ihr könnt es sehen, sofern Ihr Eure Augen nicht zudrückt. Wer denn sähe den Lebenslauf nicht? Und nicht eben dann besonders gut, wenn er die Mitte des Weges hinter sich hat?31 Ich jedenfalls habe damals – wie ich mich erinnere –, das heisst schon vorher meine Augen darauf gerichtet. Eine kleinste Strecke lag in meinem Rücken und vor mir ein nur wenig grösserer Rest, wie dann die Wirklichkeit bestätigte; doch war er völlig unsicher und unzähligen Zwischenfällen ausgesetzt, unter denen meine Gefährten ermatteten und mitten auf der Strecke zurückblieben, ich jedoch um mich blickend oft mich allein sah und nicht ohne Seufzen bis zum heutigen Tag gelangte.32 17. Das aber unterschied mich von meinen Gleichaltrigen, ja auch von unseren Betagten, dass ihnen der Weg sicher und endlos, mir aber – wie er ist – zweifelhaft und kurz erschien. Darüber gab es häufige Gespräche und jugendlichen Streit, wobei die Autorität der Betagten besonderes Gewicht erhielt, ich jedoch beinah des Wahnsinns verdächtigt wurde. Denn was ich mit dem Verstand erkannte, vermochte ich nicht in Worte zu kleiden, und hätt’ ich’s vermocht, wäre doch dem Neuling und seiner neuartigen Idee wenig Vertrauen geschenkt worden. Im Gespräch besiegt, floh ich daher in die Burg des Schweigens. Doch es offenbarte sich in Ereignissen, so stumm sie waren, was von den beiden Meinungen zu halten war. 18. Jenen nämlich, nicht allein den Kindern, sondern auch den Alten, wurden beschert: Lang dauernde Erwartungen, mühselige Ehen, anstrengender Kriegsdienst, gefährliche Seefahrt und Umtriebe der Gewinnsucht. Ich dagegen – und wiederum rufe ich Christus zum Zeugen an – hegte von jener Frühzeit an beinah keine Erwartung mehr, weil schon damals das Schicksal meine kindischen Pläne

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untergrub. Was also eher glückbringend eintraf (und das war mit der Zulassung Gottes nicht wenig), fiel einem, der nichts hoffte, zu. Habe ich dennoch ausnahmsweise – kühner als üblich – etwas erhofft, traf es nicht ein, wahrscheinlich, weil ich verlernen sollte zu hoffen. 19. Und das verlernte ich wirklich in solchem Mass, dass ich nun – wo ich täglich durch Fortuna immer reicher werde und das Gebotene dankbar empfange – dennoch nichts weiter erhoffe, ganz als hätte ich nichts empfangen.33 Das bleibt nun ein einziges Streitobjekt zwischen mir und meinen Freunden; die selbst einem, der zu sterben bereit ist, noch Hoffnungen aufdrängen,34 während ich solche, wie ich sagte, schon am Anfang meines Lebens verachtete. 20. War es Schwäche oder Güte der Natur: Sie hat mir jedenfalls nicht zuletzt eine Ehe, aber auch andere Schwierigkeiten des Lebens gnädig erspart, wiewohl die Liebe meiner Eltern und die Ratschläge meiner Freunde mich dazu antrieben. Doch um den Eltern, die von einem nichts Hoffenden vieles erhofften, nicht gar alles zu verweigern, habe ich wenigstens etwas auf mich genommen: Ich habe mich unter das drückende Studium des Zivilrechts gebeugt. Davon erhoffte sich jedermann grosse Gewinne, nur nicht ich selber; denn ich spürte, was ich in diesem Studienzweig etwa vermöchte und was ich wollte, und ich misstraute nicht meinem Verstand, wollte aber ungern mit meinem Verstand einen materiellen Gewinn erwerben. 21. Sobald ich daher auf mich selber gestellt war,35 warf ich müde die verhasste Last von mir ab und beschloss, den betretenen Weg nach eigenem Brauch ohne Befürchten und ohne Hoffen weiterzuziehen. Vieles erlangte ich darauf wider Erwarten und vieles erduldete ich. Doch sollen mir ob solchen Reden Unwissende nicht gar Hoffnungslosigkeit vorwerfen! Ich spreche eben nur von Dingen, die in den Bereich Fortunas36 fallen! In allen übrigen Dingen bin ich ein Sünder, der auf vieles hofft. 22. Mich vor einem Mann, der mich von Anfang an gekannt hat, an Derlei zu erinnern, war mir lieb. Und ich glaubte nicht, vom eigentlichen Inhalt weit abzuschweifen, da mir ja gerade die Kenntnis von der Kürze des Lebens den genannten weitreichenden Entschluss eingab, dank welchem ich im Verlauf der Jahre doch wohl gewisse Fortschritte machte, 23. während zwischen dem früheren und dem späteren Lebensabschnitt ein Unterschied einzig darin besteht, dass ich früher den Gelehrten, wie ich berichtete, jetzt aber sowohl den Gelehrten als auch mir und eigener Erfahrung vertraue. Damals schaute ich voraus, schon an der Schwelle unsicher und zweifelnd; jetzt hingegen schaue ich vorwärts und rückwärts, und was ich früher las, das habe ich jetzt vor Augen, und was ich einmal vermutete, das erfahre ich nun, und ich sehe mich mit solchem Ungestüm dem Ende entgegen laufen, wie man es nicht sagen, ja nicht leicht auch nur denken kann. 24. Ich benötige in dieser Sache keinen Dichter und keinen Philosophen mehr; ich bin mir selber Zeuge, mir selber brauchbare Autorität. In kurzer Zeit hat sich mein Gesicht und nicht weniger meine Seele verändert. Verwandelt sind meine Sitten, verwandelt meine Sorgen,

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verwandelt meine Studien. Nichts ist so, wie es gewesen war; ich sage nicht: wie bei der Niederschrift jenes Briefes,37 sondern ich sage: wie zu Beginn der Niederschrift des hier vorliegenden Schreibens. Nun laufe ich, und wie diese Feder sich regt, so rege ich mich, jedoch viel schneller. Die Feder gehorcht nur träge dem diktierenden Geist, ich aber, dem Gesetz der Natur gehorchend, laufe, renne und hetze voran bis zum Letzten. Schon erkenne ich mit den Augen das Ziel. 25. Was immer gefallen hat, missfällt; was immer missfallen hat, gefällt. Wirklich, ich habe mir gefallen, habe mich geliebt; nun aber, was soll ich sagen? „Ich hasse mich!“ Aber nein, ich lüge. „Niemand hat je sein Fleisch gehasst.“38 Soll ich sagen: „Ich liebe mich nicht?“ Wie aufrichtig das wäre, weiss ich nicht. Doch erkläre ich unverzagt: „Ich liebe nicht meine Sünde, und auch meine Sitten liebe ich nicht, ausser sie haben sich geändert und zum Besseren gewandelt.“ Doch was soll ich zögern? Meine Sünden und meine schlechten Sitten und mich, soweit ich ihnen gleich bin, hasse ich. Von Augustinus habe ich ja gelernt, keiner könne so werden, wie er es wünsche, sofern er sich nicht hasse, wie er ist.39 26. Schau, bis zu dieser Briefstelle bin ich gekommen, überlegend, was ich zudem noch sagen sollte und was nicht; und inzwischen habe ich, wie man das so macht, mit umgestülpter Feder auf das leere Blatt Papier geklöpfelt. Und just das hat mir zum Gedanken verholfen, dass die Zeit in kleinen Abschnittchen weiter gleitet und ich gleichzeitig gleite, scheide, ende, und um es richtig zu sagen: sterbe. 27. Andauernd sterben wir: ich, während ich solches schreibe, und Du, während Du es lesen wirst, andere, wenn sie es hören werden, und andere, wenn sie es nicht hören werden. Und ich werde auch sterben, wenn Du es lesen wirst; und Du wirst sterben, wenn ich am Schreiben bin. Beide sterben wir, alle sterben wir, niemals leben wir, solange wir da sind, es sei denn, dass wir mit irgend einer verdienstvollen Leistung einen Weg zum wirklichen Leben bahnen, wo im Gegenteil niemand stirbt, vielmehr alle leben und für immer leben, wo auch für immer gefällt, was einmal gefiel, und wo aus der unaussprechlichen, unerschöpflichen Süsse nicht einmal ein kleines Mass der Seele erfassbar ist, wo auch keine Wandlung verspürt und kein Ende befürchtet wird. 28. Die von mir oft erwähnte und gelobte Naturgeschichte muss ich wieder anführen. Der „Hypanis“40 ist ein Fluss im Norden, der rechts vom Tanais „dem Pontus“ zufliesst. „Hier“ so schreibt Aristoteles, „werden kleine Lebewesen geboren, die nicht länger leben als bloss einen Tag.“41 Doch um wieviel länger, ich bitte, ist unser Leben? Die Tierchen durchleben wie wir mehr und weniger klar unterschiedene Abschnitte; die einen sterben am Morgen, diese also jung; andere aber um die Mittagszeit, also im mittleren Alter; wieder andere, wenn der Tag sich neigt, also in fortgeschrittenem Alter; andere schliesslich sterben völlig hinfällig bei Sonnenuntergang, und gewiss besonders hinfällig bei der Sonnenwende im Sommer. 29. „Vergleiche,“ sagt Cicero, „unsere denkbar längste Lebenszeit mit der Ewigkeit;

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dann befinden wir uns auf ungefähr gleicher Kurzstrecke wie jene Tierchen.“ So ist es beim Herkules, und ich könnte wohl nichts anführen, was die Kürze der Lebensfrist besser anschaulich machte. Scheiden wir einen Teil vom andern, wie immer wir wollen, vermehren wir die Zahl unserer Jahre, erfinden wir Namen für Lebensabschnitte: Dennoch ist das ganze Leben des Menschen ein einziger Tag, und nicht etwa einer im Sommer, sondern einer im Winter, während dessen der eine am Morgen, der andere am Mittag, wieder ein anderer etwas später und schliesslich einer spät am Abend stirbt; also einer noch zart, einer blühend, dieser erstarrt, jener verwelkt und einer hinfällig. 30. „Am Morgen,“ sagt der Psalmist,42 „geht er dahin wie das Gras. Am Morgen blüht es und verwelkt, am Abend wird es gemäht, wird hart und vertrocknet.“ Manche sterben als Greis, und wenn wir den Weisen glauben, stirbt keiner anders, weil für jeden das Greisenalter und das Lebensende das selbe ist.43 Als reife Menschen sterben wenige, und als einer mit langem Leben stirb keiner, ausser er habe sich überzeugt, dass zwischen einer kürzesten und einer längsten, aber begrenzten Zeit kein Unterschied bestehe. 31. In dieser Frage ist meiner alten Erkenntnis nichts zugefügt worden, es sei denn dies eine, dass ich, wie schon gesagt, früher den Gelehrten vertraute, jetzt aber mir selber vertraue und was ich einst vermutet habe, nun weiss. Denn auch jene Gelehrten haben nicht anders als lebend und sehend und beobachtend das gelernt, was sie – gleichsam beim Überqueren eines unsicheren Steges – warnend den Nachfolgenden zuriefen. Wirklich lese ich nun jene meine Epistel heute nie anders als mit Verwunderung; und bisweilen sage ich zu mir selber: „Diese Gesinnung besass etwas von trefflichem Saatgut; hättest Du sie bloss zur rechten Zeit mit grösserer Sorgfalt gehegt! 32. Dies also glaubte ich Deiner Person, die sich durch Weitblick mehr als andere auszeichnet, schreiben zu sollen, nicht um Dir etwas Unbekanntes vorzutragen – denn wüsstest Du das nicht von Dir aus, könnte ich kaum erlangen, dass Du mir glaubtest –, vielmehr um Dein und mein Gedächtnis, verstaubt und in Vielerlei verstrickt, tüchtig aufzurütteln, damit Du (wie Du zweifellos von Dir aus schon schweigend tust und getan hast) mit mir dazu bereit seist, die Kürze des Lebens gering zu achten und Dir für das unausweichliche Schicksal Tragkraft zu erwirken. Möchten wir unsere Seelen so in Zucht nehmen, dass wir, in enger Beklemmung gefangen, uns immerhin über uns selber hinaus recken und all das Überflüssige, das Fortuna uns zuteilt, so wie wir das Gott sei Dank schon oft getan haben, auch weiterhin hochgesinnt verspotten. Lebe wohl! (–1360)44

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Anmerkungen 1 Vgl. die vorangehenden Schreiben an diesen Freund Petrarcas, vor allem das erste, nämlich Fam. 2,1 mit Anmerkungen zur Person. Im Jahr 1361 wurde Bischof Philippe Patriarch von Jerusalem; anzunehmen ist, dass Petrarca den Titel erwähnt hätte, wäre der Bischof, als er ihm schrieb, damit schon geehrt gewesen. Vgl. auch die Notizen im Überblick. 2 Vgl. Fam. 1,3, datiert aus Avignon vom 1. Mai 1330. Petrarca war also immerhin 26 Jahre alt. Die zitierte Stelle findet sich dort in Abschnitt 2. 3 Zu Raimondo, (Raymondo) Subirani, † 1330, vgl. G. Billanovich, La tradizione del testo di Livio e le origini dell’umanesimo 50–52. Widerstand leistete Subirani vor allem Papst Johann XXII. 4 Verg. Aen. 1,590–591. 5 Hor. Carm. 4,10,2–6. Hier wie auch sonst folgt die Übersetzung den Metren der Vorlage. Das zitierte Gedicht ist im Metrum Asclepiadeum Quintum verfasst; die Strophe hat vier Verse im Metrum Asclep. maior. 6 Das ist ein schöner Mann in Hor. Carm. 4,1,33. 7 Iuv. Sat. 9,126–129. Zitat auch in Fam. 23,2,13. 8 Das ist Convenevole von Prato. Zu seiner Person vgl. Dotti, Vita, Register und die von ihm zitierte Literatur, so Arsenio Frugoni, Studi su Convenevole da Prato, maestro del Petrarca, BISIM 1969, 1–32. 9 Einen tieferen Sinn, einen philosophischen, wollte Petrarca ergründen; vgl. Sen. Ad Lucil. 108,23–24; und vgl. auch Fam. 1,3,3–8 auf den sich der Dichter in diesem Schreiben mehrmals bezieht. 10 Georg. 3,66–68. Diese Stelle zitierte Sen. De brev. vitae 9,2. Von ihm stammt auch das Wort vom goldenen Mund. 11 Verg. Aen. 10,467–468. 12 Verg. Georg. 3,284. 13 Ov. Metam. 10,519–520. 14 Ov. Fast. 6,771–772. 15 Hor. Carm. 2,5,13–14 (Versus Alcaicus). 16 Hor. Carm. 2,14,1–4.(Metrum Alcaicum; 2 Elfsilber, ein Neunsilbe und ein Zehnsilber) 17 Hor. Carm. 1,4,15 (Metrum Archilochium quartum; maior); vgl. Fam. 8,4,28. 18 Hor. Carm. 1,11,6–8 (Versus Asclepiadeus maior) 19 Hor. Carm. 2,11,5–8 (Metrum Alcaicum; wie Anm. 16). 20 Hor. Carm. 4,13,13–16 (Metrum Asclepiadeum tertium; 2 Asclep. 1 Pherecrat. und 1 Glycon.). 21 Im Lateinischen: notis condita fastis. 22 Sen. Ad Lucil. 58,22. 23 Cic. Tusc. 1,31,76; anschliessend De sen. 19,67; 20,74. 24 Cic. De fin. 2,28,92. 25 Vgl. den oben genannten Brief an Subirani und Sen. Ad Lucil. 33,7. 26 Verg. Ecl. 2,17. 27 Petrarca verwendet den Komparativ velocior, stellt also mit dem Unvergleichlichen doch einen Vergleich an. 28 Das Wort des Hippokrates zitiert Seneca De brev. vitae 1,1. 29 Zum ganzen Abschnitt vgl. Fam. 1,3,2 ff. 30 Petrarca denkt sich also eine Zwischenzeit, die geradeaus geht, nicht steigt und nicht fällt. 31 Von einer höheren Warte, aus welcher Petrarca zurückschaue, spricht Fam. 1,1,4 (ca. 1350). Wo er die Mitte im Leben des Menschen ansetzt, ergibt sich aus nachfolgenden Ausführungen; vgl. unten Abschnitt 28. Auf die flüchtige Zeit und die nötige Vorbereitung auf den Tod verweist er unzählige Male; ausser in Fam. 1,3 und in den Kondolenzschreiben z. B. in Fam. 8,4,14 ff.; 8,4,19 f.;

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10,1,4 ff.; 14,1,4 f.; 15,1,3 ff.; 16,11,4 ff.; 19,16 passim; 21,4,1 f.; 21,12 passim; 22,12,12 f.; 23,2,14 f.; 23,5,4 ff. Von früh verstorbenen „Weggefährten“ Petrarcas lassen sich vor allem Tommaso Caloira (Caloria), Giacomo Colonna, Franceschino degli Alibzzi nennen. Doch datiert wird das Schreiben auf –1360, und somit kann Petrarca auch an späte Jahre gedacht haben. Davon spricht Petrarca oft; vgl. z. B. Fam. 16,3; 17,8 und insbesondere 19,17. Von ehrenvollen Angeboten seitens der Kurie ist noch in Fam. 20,14,13 von wohl 1358, dann wieder 1361 die Rede; vgl. Sen. 1,4 und 1,5; Wilkins, Studies 26 ff. Petrarca verlor seine Mutter früh in unbekanntem Jahr; der Vater starb 1326; vgl. Wilkins, Life of Petrarch 8 und Dotti, Vita 6 ff. Petrarca meint irdisches Glück insgesamt, kaum nur materielles. Gemeint ist der schon erwähnte Brief an Subirani. Eph. 5,29. Rossi nennt als mögliche Quelle De vera rel. 88. So bezeichnete das Altertum den Bug; dieser war immer wieder Gegenstand phantastischer Geschichten. Dem nachher erwähnten Tanais entspricht der Don. Auch von ihm erzählte man Wundergeschichten. Cic. Tusc. 39,94. Ps. 89,6. Sonderbar ist die doppelte Nennung des Morgens. Lateinisch: nemo non senex moritur; vgl. Fam. 6,3,37; 8,4,20. Pseudo Sen. De rem. fort. 4,2–3 und Ad Lucil. 71,3; sowie Cons. ad Marc. 21.1 Zur Jahreszahl vgl. oben Anm. 1. Die Datierung beruht auf dem Hinweis, das erwähnte Schreiben an Subirani liege dreissig Jahre zurück, und auf der Kenntnis, dass das Todesjahr dieses Freundes 1330 ist; vgl. Wilkins, Eight years 240.

Fam. 24,2, an den Dichter Pulice von Vicenza1 Über Inhalt und Grund der an Cicero und Seneca adressierten Briefe. 1. Petrarca lässt sich in Vicenza durch Gespräche mit Freunden aufhalten. Thema wird Cicero. 4. Der Dichter weckt mit Kritik Widerspruch und zeigt eigene Briefe an Cicero vor. 7. Ein alter Mann erklärt Cicero für einen Gott. 10. Petrarca korrigiert ihn ungern. 15. Beim Abschied verspricht er, Kopien besagter Briefe zu senden. 16. Er schickt sie mit einer Warnung. Am 13. Mai auf der Reise (1350/1351).

1. In der Vorstadt von Vicenza, wo ich eine Nacht zubrachte, bin ich auf einen neuen Schreibstoff gestossen. Und das kam so: Nachdem ich gegen Mittag von Padua weggegangen war, gelangte ich bis ans Tor Deiner Vaterstadt, als die Sonne sich schon gegen Abend neigte. Unsicher, ob ich übernachten oder eher weiterreisen solle (denn ich hatte Eile und vom sehr langen Tag war noch ein guter Teil übrig), stand ich unter Überlegungen still, als sieh da – wer kann sich vor liebevollen Freunden verstecken? – Du und mehrere angesehene Männer, deren es in der kleinen Stadt eine grosse Zahl gibt, mit Eurem angenehmsten Dazwischenkommen allen Zweifel verscheuchtet. 2. So gut habt Ihr mein hin und wider schweifendes Verlangen mit dem Strick wechselnder und heiterer Rede festgemacht, dass ich, trotz meiner Absicht weiterzureisen, stehen blieb und das Schwinden des Tages erst beim Hereinbrechen der Nacht bemerkte. Und eben an diesem Tag habe ich wie überhaupt oft erfahren, dass mit einem Gespräch unter Freunden die Zeit so leicht und unbemerkt gestohlen wird wie mit nichts anderem. Gewiefte Räuber sind die Freunde, wenn es um die Zeit geht, obwohl man von geraubter oder entwendeter Zeit gerade dann am wenigsten sprechen dürfte, wenn sie – ganz abgesehen von Gott – für Freunde verwendet wird. 3. Da also, um nicht endlos vieles anzuführen, wurde zufällig Cicero erwähnt, – Du erinnerst Dich –, wie das bei Gelehrten sehr häufig vorkommt. Eben er setzte einem ständigen Themenwechsel schliesslich ein Ende, weil sich alle ihm allein zukehrten. Um nichts anderes drehte sich nachher das Gespräch als einzig um ihn. Bekenntnisse legten wir ab, Hymnen und Panegyriken (oder wenn dafür Lobreden zu sagen beliebt) sangen wir wechselweise. 4. Da jedoch unter den Werken der Sterblichen erwiesenermassen nichts vollkommen ist und es auch keinen Menschen gibt, an dem nicht sogar ein bescheidener Kritiker Tadelnswertes entdeckte, sagte ich beiläufig, dass mir an Cicero, einem Menschen, der mir unter allen der liebste und verehrungswürdigste Freund sei, beinah alles gefalle und dass mir seine goldene Beredsamkeit und seine himmlische Verstandeskraft Bewunderung einflössten, ich aber dennoch eine gewisse sittliche Unvorsichtigkeit und eine an vielen Anzeichen wahrgenommene Unstetigkeit nicht lobte. 5. Wie nun alle Anwesenden ob der Neuheit meiner Meinung verblüfft waren, insbesondere jedoch ein betagter Mann, dessen Name mir entfallen ist,

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wenn auch nicht seine Person (denn es war einer Deiner Landsleute von verehrungswürdigem Alter und Wissen), da legten mir die Umständen nahe, aus meinem Behältnis den Codex meiner Episteln herauszuziehen.2 6. Kaum vorgezeigt, bot er dem Gespräch neue Nahrung. Neben vielen Schreiben an meine Zeitgenossen sind da einige wenige, die ich im Bemühen um Abwechslung und zur angenehmen Erholung von angestrengter Arbeit an antike Berühmtheiten adressiert hatte. Einen Leser würden sie in Staunen versetzten, wenn er, ohne vorgewarnt zu sein, mitten unter den modernen Namen so herrliche und altehrwürdige fände. 7. Zwei dieser Briefe sind an Cicero gerichtet;3 der eine hebt Charaktereigenschaften hervor, der andere lobt seine geistige Überlegenheit. Als Du diese beiden der aufmerksamen Zuhörerschaft vorgelesen hattest, entbrannte sogleich ein launiges Wortgefecht, bei dem einige Gesprächspartner unsere Auffassungen lobten und bekannten, Cicero sei mit Recht getadelt worden, während einzig jener Alte nur um so hartnäckiger auf seinem Widerspruch beharrte, weil er hingerissen vom Glanz dieses Namens und von der Liebe zu diesem Autor es vorzog, selbst dem Irrenden zuzujubeln und die Fehler des Freundes mit seinen Vorzügen zu verhüllen, nicht aber geneigt war, zu untersuchen, ob an diesem viel gelobten Menschen vielleicht doch etwas zu rügen sei. 8. Nichts anderes also hatte er mir und den anderen gegenüber auf alle unsere Reden zu antworten, als dass er immerzu den Ruhm von Ciceros Namen hervorhob und anstelle eines Vernunftgrundes seine Autorität geltend machte. 9. Er rief uns unterbrechend, indem er die Hand vorstreckte, immer wieder das selbe zu: „Verschont, bitte, verschont meinen Cicero!“ Und als man ihn fragte, ob man annehmen könne, Cicero habe irgendeinmal in irgendeiner Sache geirrt, schloss er die Augen, wandte sein Gesicht aufschreiend zur Seite, als hätte das Wort ihn durchbohrt, und stöhnte: „Weh mir, mein Cicero wird also angeklagt!“ ganz als handle man nicht von einem Menschen, sondern von irgendeinem Gott. Ich fragte ihn also, ob er Tullius für einen Gott halte oder für einen Menschen. Und er ohne zu zögern: „Für einen Gott“; und einsehend, was er sage, fügte er an: „Für den Gott der Redekunst.“ 10. Da sagte ich: Gut, wenn er Gott war, konnte er tatsächlich nicht irren. Dass er aber Gott genannt werde, habe ich noch nicht gehört; immerhin, wenn Cicero einen Platon seinen Gott nennt,4 warum solltest Du nicht auch einen Cicero Deinen Gott heissen! Wäre nur nicht mit unserer Religion ganz unvereinbar, sich nach eigenem Belieben Götter zu erdichten.“ Darauf jener: „Ich scherze; ein Mensch war Tullius, aber einer von göttlicher Verstandeskraft, das weiss ich.“ Und ich: „Das tönt besser; und auch Quintilian nannte diesen Mann „himmlisch in seiner Rede“;5 aber da er dennoch ein Mensch war, konnte er wirklich irren, und er hat auch geirrt.“ 11. Doch während ich das sagte, entsetzte er sich gewaltig und wehrte sich dagegen, als wäre nicht der Ruf eines andern sondern sein eigenes Haupt gekränkt worden. Was aber hätte ich anfügen sollen? Bin ich ja selber der grösste Bewunderer von Ciceros Namen!

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12. Über den greisenhaften Überschwang und verbissenen Eifer freute ich mich, obwohl er fast nach etwas Pythagoräischem schmeckte.6 Und dass es dem bestimmten Genie gegenüber eine so grosse Verehrung und eine so starke heilige Empfindung gebe, die beinah als Sakrileg ansah, wenn an ihm etwas wie menschliche Schwäche vermutet wurde, das beglückte mich. Auch wunderte mich, einen Menschen gefunden zu haben, der Cicero mehr liebte als ich, wo ich ihn doch stets mehr als alle anderen geliebt hatte. Und ich wunderte mich zudem, die Meinung, die ich zweifellos in früher Jugend von ihm gehegt hatte, im tiefsten Herzen noch eines Greises verwurzelt zu finden, wollte dieser ja selbst in seinem hohen Alter niemals daran denken, Cicero müsse, da er ein Mensch gewesen, in bestimmten Punkten – um nicht zu sagen: in vielen – notwendigerweise geirrt haben. 14. Ich hingegen weiss das eine und nehme das andere für sicher, obwohl ich bis heute an der Redekunst keines anderen mich gleichermassen begeistere. Gerade auch Tullius selber, von dem wir sprechen, erkannte ja eigene Irrtümer, und klagte ihretwegen oft heftig. Und wollten wir dennoch verschweigen, dass er sie an sich selber verspürt habe, würden wir in hemmungslosem Beloben ihm sowohl seine Selbsterkenntnis wie auch einen guten Teil seiner philosophischen Ehre, nämlich die Bescheidenheit versagen. 15. Schliesslich haben wir an jenem Tag, als die Zeit dazu mahnte, nach dem langen Gespräch uns erhoben und sind mitten aus dem lebhaften Streit voneinandergegangen.7 Zuletzt aber hast Du darauf gedrängt, ich solle Dir, weil die Kürze der Zeit nichts anderes zuliess, sobald ich irgendwo Halt gemacht hätte, ein Exemplar der beiden Briefe zustellen; Du könntest dann die Frage gründlicher untersuchen, um darauf entweder als Friedensstifter unter den Parteien oder, wo immer möglich, als Verteidiger von Ciceros Charakterfestigkeit aufzutreten. 16. Ich lobe Deine Absicht und übersende das Geforderte. Und wahrlich wunderbar! Zu siegen fürchte ich, und besiegt zu werden, das wollte ich! Eines aber sei Dir bewusst: Wenn Du dabei siegst, bleibt Dir mehr zu tun, als Du ahnst! Zu einem ebenbürtigen Duell fordert Dich als geübten Kämpfer ein Annaeus Seneca heraus; er nämlich wird im nachfolgenden Schreiben zerrupft.8 Ein Spiel getrieben habe ich mit diesen beiden Geistesgrössen, vielleicht recht verwegen, jedoch als Liebhaber und als Trauernder, und zwar, wie ich meine, nicht ohne Grund, ja vielleicht mit etwas mehr Grund, als ich gewollt hätte. 17. Vieles hat mich stets an diesen beiden beglückt; nur weniges mich verwirrt; doch gerade darüber zu schreiben, reizte mich damals ein Ungestüm, das mir heute wohl fehlte. Und obwohl ich die Briefe ihrer besonderen Art wegen ans letzte Ende des Bandes verwies,9 habe ich sie in viel früherer Zeit ausgebrütet. Dabei beklage ich noch heute das Geschick dieser grossen Männer, und nicht weniger ihre Schuld. Doch wird Dir nicht entgehen, dass ich weder Senecas Lebensweise noch Ciceros Verhalten gegenüber der Republik verurteile.

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18. Und dass Du nur ja nicht die beiden Streitgegenstände miteinander vermengst! Es geht jetzt einzig um Cicero, den ich als wachsamsten und besten und wohlverdienten Konsul und stets als ein dem Vaterland treu ergebenen Bürger gekannt habe. Und trotzdem? Die unstete Haltung bei Freundschaften, dann die aus geringen Ursachen bedeutende, ja zerstörerische Entfremdung, nützlich weder der eigenen Sache noch der eines anderen, überdies sein Fehlurteil bei der Scheidung zwischen persönlicher und öffentlicher Lage, das seinen üblichen Scharfsinn verleugnete, schliesslich eine fruchtlose und jungenhafte Streitsucht, unpassend bei einem alten Philosophen, all das lobe ich nicht. 19. Doch bewusst sei Dir, dass über alles dies weder Du noch sonst irgend einer ein gerechter Richter zu sein vermag, wenn er nicht sämtliche Briefe Ciceros, derentwegen der Streit entstanden ist, sehr genau und nicht bloss flüchtig durchgelesen hat. Lebe wohl! Am 13. Mai auf der Reise (1350/1351).10

Anmerkungen 1 Der von Petrarca als Dichter Pulice (Enrico Costozza) bezeichnete Adressat war Notar in Vicenza. Zu seiner Person vgl. Dotti, Vita 234 f.; hier steht der Hinweis auf die Schrift von Giovanni Mantese, Incontri vicentini con il Petrarca, in: Venezia, Florenz 1976, 187 ff. Einen sehr schönen Kommentar zu diesem Brief hat der überlegene Kenner der lateinischen Literatur Eduard Norden in Die antike Kunstprosa (6. Auflage) Darmstadt 1971, 738 f. gegeben. 2 Petrarca zog seine von ihm selber verfassten Episteln hervor. Er hatte aber 1345 in der Bibliothek der Kathedrale von Verona unbekannte Briefe Ciceros entdeckt und erst bei ihrer Lektüre an seinem besten Freund einige Charakterzüge entdeckt, die ihn zwangen, seine Verehrung etwas einzuschränken. Vgl. die Notizen im Überblick. 3 Vgl. Fam. 24,3 und 24,4. 4 Ad Att. 4,16,3. 5 Inst. 10,22,18. 6 Cic. De nat. deor. 1,5,10. Die Pythagoräer vertrauten ihrem Lehrer so vollkommen und erwarteten auch von andern so grossen Respekt vor seiner Autorität, dass ihnen zur Begründung einer Behauptungen genügte, auf sein Wort zu verweisen. 7 Petrarca suchte also sein Hospiz auf. 8 Auf die Briefe an Cicero folgt Fam. 24,5 an Seneca. 9 Vgl. Fam. 1,1,42,ff. und 46. 10 Vgl. Wilkins, Petr. corresp. 88.

Fam. 24,3, an Marcus Tullius Cicero1 Manches hat er in seinen Schriften gelehrt, was er im Leben nicht beachtete. 1. Petrarca habe Ciceros Briefe gefunden und gelesen; nun wisse er, was Cicero vor sich selber gewesen sei. 3. Klage über das Fehlverhalten des alten Cicero. 4. Hinweise auf Ratschläge und günstige Umstände, die Cicero missachtete. 6. Richtig wäre für ihn gewesen, sich im Alter aufs Land zurückzuziehen. In Verona, am 16. Juni 1345.

1. Francesco grüsst seinen Cicero. Deine Episteln,2 „lange und eifrig gesucht“3 und, wo am wenigsten erwartet, auch gefunden, habe ich aufs begierigste gelesen. Ich hörte Dich vieles sagen, vieles beklagen und vieles ändern, Marcus Tullius, und hatte ich schon früher gewusst, welch bedeutender Lehrer Du für andere gewesen, so habe ich nun erkannt, wer Du Dir selber seist. Nur dies Eine, in aufrichtiger Sorge, aber schon nicht als Ratschlag, sondern als Wehklage vorgebracht,4 das höre Du nun an, wo immer Du bist. Denn einer der Nachgeborenen, der Deine Person im höchsten Masse liebt, breitet es nicht ohne Tränen vor Dir aus. 2. Oh Du ewig ruheloser und geängstigter, oder – damit Du Deine eigenen Worte vernehmest – „Du gehetzter und schwergeprüfter Greis“,5 was hast Du mit all diesen Streitereien und völlig unnützen Feindseligkeiten für Dich erreichen wollen? Wo hast Du das Deinem Lebensalter, Beruf und Wohlstand geschuldete Privatleben abgelegt? Was für ein falscher Ruhmesglanz hat Dich alten Mann in Gefechte junger Leute verwickelt und von einem Unglück ins andere und in einen dem Philosophen unwürdigen Tod gerissen? 3. Ach des Bruders Ratschlag6 und die grosse Zahl eigener gesunder Grundsätze vergessend, hast Du wie ein nächtlicher Wanderer durch die Finsternis ein Licht getragen,7 um den Dir Nachfolgenden den Pfad zu weisen, bist aber selber wahrhaft kläglich gestrauchelt. 4. Ich übergehe Dionysius,8 ich übergehe Deinen Bruder und Deinen Neffen, ich übergehe auch, wenn es beliebt, Dolabella.9 Einmal erhebst Du sie mit Lobreden zum Himmel, einmal beleidigst Du sie mit überraschenden Flüchen! Doch das war vielleicht verzeihlich. Auch von Iulius Caesar spreche ich nicht lange; eben seine oft bekundete Nachsicht war für alle, die ihn beleidigten, so etwas wie ein Zufluchtsort. Und nichts sage ich von Magnus Pompeius. Denn ihm gegenüber hättest Du dank einem gewissen vertrauten Umgang alles Beliebige vermocht. 5. Aber welch eine Wut hat Dich gegen Antonius10 aufgebracht? Es war Liebe, so denke ich, zur Republik, obwohl Du bekanntest, sie sei rettungslos zerstört. Wenn Dich also reine Treue, wenn Dich Freiheitsliebe beseelte, wie war dann eine freundschaftliche Beziehung zu Augustus möglich?11 Was hättest Du Deinem Brutus antworten wollen? Er sagte:12 „Wenn Du Octavius vorziehst, wird man denken, Du habest nicht einen Herrn geflohen, sondern einen Dir besonders befreundeten Herrn gesucht.“13 6. Das eben fehlte noch, Du Unglücklicher, und es grenzte ans Unerträg-

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liche, Cicero, dass Du den zuerst hoch gepriesenen später geschmäht hast,14 weil er Dir, ich sage nicht, Übles tat, aber weil er Deine Übeltäter nicht hinderte. Mich dauert Dein Absturz, Freund, und Deine Fehler schaffen mir Scham und Mitleid. Dabei möchte ich mit dem selben Brutus15 „nichts Deinen Wissenschaften zur Last legen, in denen Du, wie ich weiss, ausgezeichnet beschlagen warst“! Doch sonderbar! Was hilft es denn, andere zu belehren, was nützt es, mit herrlich gewählten Worten stets von hohen Tugenden zu sprechen, wenn man nicht auf sich selber hört? 7. Oh wie viel richtiger wäre es gewesen, insbesondere für einen Philosophen, abseits auf einem Landsitz zu altern, um da, wie Du selber16 an irgend einer Stelle schreibst, „über jenes ewige Leben nachzudenken, aber nicht noch immer an den geringen Rest des zeitlichen,“ und auch keine Staatsehren zu suchen, keine Triumphe zu ersehnen, durch keine Catilinas das Herz beunruhigen zu lassen! Doch alles das sage ich Dir vergebens! Lebe in Ewigkeit wohl, mein Cicero! Bei den Lebenden, auf dem rechten Ufer der Etsch in Verona im transpadanischen Italien, am 16. Juni des Jahres 1345 nach der Erscheinung jenes Gottes, den Du nicht kanntest.

Anmerkungen 1 Hier benützt Petrarca nicht das Wort literae, sondern bewusst Epistula. Sein Schreiben sowie Fam. 24,2; 24,4; 24,5; 24,8 stehen in deutscher Übersetzung bei Hans Nachod und Paul Stern, Die Briefe des Francesco Petrarca. Eine Auswahl, Berlin 1931. Erwähnt sei auch: Epistolae Familiares XXIV. Vertrauliche Briefe, 24. Buch. Briefe an die berühmten Alten. Lat. und dt., übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Excerpta Classica Bd. 18, Mainz 1999. Aus einer gewissen Furcht, die auch Petrarca kannte, habe ich diese Ausgaben (wie übrigens auch andere Verdeutschungen) nicht zum Vergleich herangezogen. 2 Längst nicht alle Briefe Ciceros hat Petrarca im Sommer 1345 in der Bibliothek der Kathedrale von Verona entdeckt und abgeschrieben. Es waren die sechzehn Briefe an Atticus, die Sammlung von Briefen an den Bruder Quintus und die an Brutus samt einem apokryphen an Octavian. Völlig unbekannt waren diese Briefe nicht, doch war ihr Wert nicht erkannt worden. 3 Cic. Pro Sulla 26,73 (die Stellenangabe verdankt Rossi den Übersetzern H. Nachod und P. Stern). 4 Der Nachgeborene kommt zu spät, um noch raten zu können. 5 Ps. Cicero, Epist. ad Octav. 6. 6 Anspielung an De petitione cons. c. 5–10 von Ciceros Bruder Quintus Cicero. Vgl. Petr. Rer. mem. 3,43. 7 Bei dieser Stelle verweist Rossi (Anm. zu Fam. 24,3) auf Dante, Purg. 22,67–70. 8 Entweder ein Sklave Ciceros oder ein Freigelassener des Atticus ist gemeint, wenn Petrarca sie überhaupt unterschied. 9 P. Cornelius Lentulus Dolabella war der Schwiegersohn Ciceros. Vgl. zu den Namen auch das Personenreg. 10 Gemeint ist der Triumvir und Gegner Caesars im Bürgerkrieg; einer seiner Häscher ermordete Cicero.

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11 Zur Zeit Ciceros († 43 v. Chr.) trug Octavian diesen Ehrennamen, den er 27 v. Chr. erhielt, noch nicht, und im folgenden Satz scheint Petrarca das berücksichtigt zu haben. 12 Brief des Brutus an Cicero 1,16,7. 13 Das heisst: Du akzeptierst einen Herrn, verrätst jedenfalls die Freiheitsidee. 14 Ps. Cic. Epist. ad Octav. 6. 15 Brief des Brutus an Cicero 1,17,5. 16 Ad Att. 10,8,8.

Fam. 24,4, an Marcus Tullius Cicero1 Petrarca zieht Cicero allen Rednern vor, wie Vergil allen Dichtern. 1. Dieser zweite Brief an Cicero soll wahr reden wie der erste, ihm aber wohl tun. 4. Cicero ist der höchste Meister der ungebundenen Sprache. 5. Neben ihn tritt als Fürst der gebundenen Sprache Vergil. 8. Sie beide haben der griechischen Redekunst den Rang abgelaufen. 11. Manche Werke Ciceros sind verlorengegangen. 13. Petrarca zählt die wichtigsten unter ihnen auf. 15. Er weist auf den Zustand des Imperiums zu seiner Zeit. An der Rhone, am 19. Dezember 1345.

1. Francesco grüsst seinen Cicero. Wenn mein früherer Brief Dich kränkte – wahr ist ja, was in der Andria Dein „Vertrauter“2 gesagt hat und was Du zu zitieren pflegst – „Sag Ja, und Du hast einen Freund; die Wahrheit verschafft nur Hass,“ so empfange, was die gekränkte Seele teilweise besänftigt, damit die Wahrheit nicht immer verhasst sei. Denn berechtigte Vorwürfe machen uns zornig, aber berechtigte Lobreden schenken uns Freude. 2. Du, Cicero – verdenk’ es mir nicht – hast als Mensch gelebt, als Redner gesprochen und als Philosoph geschrieben; ich aber habe Dein Leben angefochten, nicht aber Deinen Genius und nicht Deine Zunge, da ich ja jenen bewundere und diesen verherrliche. Und in Deinem Leben vermisse ich nichts anderes als Charakterfestigkeit, das dem Philosophenberuf geschuldete Bemühen um Gelassenheit und die Abkehr von Bürgerkriegen zur Zeit, als die Freiheit ohnehin erloschen und begraben, die Republik schon beweint war. 3. Schau, ich gehe mit Dir anders um, als Du an vielen Stellen mit Epikur, doch besonders eindrücklich im „Buch über die letzten Ziele“ getan hast.3 Du lobst überall sein Leben und verlachst seinen Verstand. Ich hingegen verlache Dich nirgends, habe für Dein Leben Mitgefühl, wie ich schon sagte, und beglückwünsche Dich zu Deinem Genius und nicht weniger zu Deiner Redekunst. 4. Oh Du wahrster Vater der römischen Redekunst, nicht allein ich, sondern wir alle, die wir mit den Blüten der lateinischen Sprache uns zieren, sagen Dir Dank! Und dass wir mit Deinen „Quellen unsere Matten besprengen,“4 dass Deine Führung uns lenkt, Deine Hilfsmittel uns fördern, Dein Licht uns leuchtet, das bekennen wir frohen Herzens; ja auch dies, dass wir in der Anwendung Deiner Lehrsätze diese schriftstellerische Fähigkeit, wie gering sie auch sei, und unser Hauptziel erreicht haben. 5. Zu Dir gesellte sich ein zweiter Wegweiser, und zwar für die Dichtkunst. Das war ein Gebot der Notwendigkeit, dass wir einem Führer, der mit ungebundenen Schritten, und einem, der mit gezügelten voranging, nachfolgen sollten, den einen für sein Reden und den andern für sein Dichten bewundernd. Denn – das werdet Ihr beide gelten lassen – keiner von Euch hat in den beiden Redeweisen das Höchste geleistet.5 Jener war Dir auf ausgedehntem Feld, Du ihm auf engem Raum nicht gewachsen. 6. Das hätte ich kaum als erster ausdrücken wollen, obwohl ich genau

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so denke; aber gesagt hat es vor mir – oder als das Wort eines anderen zitiert – ein gewisser bedeutender Mann namens Annaeus Seneca aus Cordoba,6 und von ihm hat Dich, wie er selber klagte, nicht etwa die Lebenszeit, sondern „die Reihe wütender Bürgerkriege getrennt“.7 Er hätte Dich sehen können, aber gesehen hat er Dich nicht.8 Ein grosser Lobredner Deiner Werke war er und einer des eben Erwähnten. Bei ihm ist jeder von Euch auf sein bestimmtes Gebiet der Sprachkunst eingegrenzt und geheissen worden, alles übrige dem Gefährten zu überlassen. 7. Wahrhaftig, ich spanne Dich auf die Folter; Du möchtest wissen, wer dieser andere Wegweiser sei. Du kennst ihn, Du brauchst Dich nur an seinen Namen zu erinnern; es ist Publius Vergilius Maro, ein Bürger aus Mantua, und Du hast über ihn grossartig prophezeit. Denn, wie wir lesen,9 hast Du einmal ein jugendliches Werk von ihm bewundert und nach dem Autor gefragt; und als man Dir in Deinen alten Tagen einen Jüngling vorstellte, warst Du hoch erfreut und hast aus der unerschöpflichen Quelle Deiner Beredsamkeit ein mit eigenem Lob vermischtes, jedoch wahres und herrliches Zeugnis für ihn abgelegt. Denn Du sagtest ja: „…dem grossen Rom eine zweite Verheissung.“ Diese Wendung aus Deinem Munde hat jener vernommen, hat an ihr so grosses Gefallen gefunden und sie so fest seinem Gedächtnis eingeprägt, dass er sie zwanzig Jahre später, kurz nachdem Du dem Zeitlichen entrissen wurdest,10 im genauen Wortlaut in seine göttliche Dichtung einfügte.11 Und hättest Du dieses Werk noch sehen dürfen, wäre es Dir noch heute eine Freude, aus einer ersten Blüte eine so zutreffende Prophezeiung über ihre künftigen Früchte gewonnen zu haben. 9. Und überdies hättest Du den römischen Musen Glück gewünscht, dass sie den unverschämten Griechen sei’s einen bloss zweifelhaften Sieg überliessen, sei’s einen sicheren entrissen. Für beide Meinungen gibt es Gewährsleute.12 Wenn ich aus Deinen Büchern Deine Gesinnung richtig erraten habe, die ich so gut zu kennen meine, als wärst Du mein Zeitgenosse, so würde ich nicht zweifeln, dass Du die zweite Auffassung vertreten wolltest, um zusammen mit der Palme für die Redekunst eben auch die andere für die Dichtung an Latien13 zu reichen und um zu verlangen, die Ilias müsse hinter die Aeneis zurücktreten,14 wie Propertius15 das schon gleich zu Beginn des vergilischen Werkes zu fordern sich nicht gescheut hat. Als er nämlich die Grundlagen der Dichtkunst betrachtete, äusserte er über sie seine Meinungen und Hoffnungen in den folgenden Versen: „Weichet zurück, Ihr Dichter aus Rom, und weichet, Ihr Griechen: Grosses kündigt sich an, dem sich die Ilias beugt. Soviel zum zweiten Wegweiser lateinischer Redekunst und zur zweiten Hoffnung der grossen Roma. Nun kehre ich zu Dir zurück.

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11. Was ich von Deinem Leben und was von Deinem Genius denke, hast Du vernommen. Du erwartest, etwas über Deine Bücher zu hören und welches Schicksal über sie gewaltet hat oder wie sie vom Volk und von den Gelehrten geschätzt werden. Hervorragende Werke haben sich erhalten, die zu lesen, ja auch nur aufzuzählen wir nicht vermögen. Der Ruf Deiner Erzeugnisse ist glänzend, und unermesslich weit und hell erschallt Dein Name. Doch äusserst gering ist die Zahl der Studierenden, ob die schlechten Zeiten oder die Stumpfheit und Trägheit der Veranlagung oder, was ich eher glaube, die auf anderes zielende Begierde der Herzen solches verschulde. 12. Daher sind einige der Bücher, ich weiss nicht, ob unrettbar, doch sicher für uns, die wir heute leben, verloren. Gross ist mein Schmerz, gross die Schande unseres Jahrhunderts und gross das Unrecht an unserer Nachwelt. Ja, es sah aus, als hielten wir nicht für schimpflich genug, bloss unsere eigenen Fähigkeiten so zu missachten, dass die nachkommende Zeit daraus nichts an Früchten empfange, weshalb wir darüber hinaus in grausamer und geradezu unerträglicher Fahrlässigkeit die Frucht auch Eurer Mühen zerstörten. Denn wirklich, was ich hinsichtlich Deiner Bücher beklage, das geschieht überhaupt mit vielen Werken ausgezeichneter Autoren. 13. Von den Deinen, welche eben Gegenstand unserer Rede sind und deren Verlust ungemein schwer wiegt, nenne ich die folgenden: Das Buch der Republik, das der Vertraulichkeiten, das über das Kriegswesen; das vom Lob der Philosophie, das vom Trost, das vom Ruhm. Dabei ist bei den letztgenannten meine Hoffnung fragwürdiger als meine Hoffnungslosigkeit begründet. 14. Und wär’s doch wenigstens, dass wir von den uns erhaltenen Büchern nicht grosse Teile vermissen müssten! Doch als hätte ein gewaltiger Feldzug der Vergesslichkeit und Faulheit uns bezwungen, haben wir unter unseren Vorbildern nicht allein Tote sondern auch Entstellte und Entehrte zu betrauern. Gilt das für viele andere Werke, so doch am meisten für Deine Bücher über die Redekunst, über akademische Fragen und über die Gesetze, die dermassen verstümmelt und verunstaltet sind, dass sie völlig zu zerstören, beinah besser gewesen wäre.16 15. Noch bleibt, dass Du vom Zustand der Stadt Rom und der römischen Republik etwas hören möchtest, wie es um das Aussehen des Vaterlandes, um die Eintracht der Bürger bestellt und an wen die höchste Macht gelangt sei, mit wessen Händen und mit wie beschaffener Ratsbehörde die Zügel des Imperiums gelenkt würden, ob Donau, Ganges, Ebro, Nil und Don unsere Grenzen bildeten oder ob einer erstanden sei, der: „Dehnte das Reich bis ans Weltenmeer und den Ruhm zu den Sternen“ oder der: „…sogar Garamanten und Inder Einverleibte dem Reich…“,

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wie Dein Freund aus Mantua gesagt hat.17 16. Dass Du Solches und Ähnliches aufs begierigste hören möchtest, vermute ich; das gibt mir Dein treues Gedenken und Deine allbekannte Vaterlandsliebe ein, die Dich bis ins Verderben führte. Doch wirklich, ja wirklich wäre besser gewesen, darüber ganz zu schweigen. Glaube mir, Cicero, würdest Du hören, in welchem Zustand wir uns befinden, kämen Dir die Tränen, ob Du Dich nun im Himmel oder im Erebus18 aufhältst. Lebe wohl auf ewig! Bei den Lebenden, am linken Ufer der Rhone im transalpinen Gallien am 19. Dezember des selben Jahres.19

Anmerkungen 1 Vgl. den vorangehenden Brief an Cicero. 2 Vgl. De am. 24,89, wo Terenz von Cicero als Vertrauter des Laelius bezeichnet wird. Terenz ist Verfasser der Andria, aus der Petrarca jetzt die von Cicero oft angeführte Stelle 1,1,41 (68) zitiert. 3 De finibus, gemeint sind das grösste Gut und das grösste Ubel. Von Epikur ist passim die Rede, doch besonders in Buch 2. 4 De nat. deor. 1,43,120. 5 Differenziert wird diese Meinung in Fam. 24,12,3. 6 Vgl. Controv. 3, praef. 8. Petrarca unterschied so wenig wie seine Zeitgenossen zwischen Seneca Vater und Seneca Sohn. Er zitiert hier nicht den Philosophen Seneca, der kurz vor Christi Geburt (genaues Datum unbekannt) geboren und 65 n. Chr. gestorben ist, vielmehr Seneca Vater, der ungefähr 55 v. Chr. geboren wurde und als Kind dem Redner († 43) hätte begegnen können. Genaue Daten waren dem Dichter nicht gegenwärtig. Vgl. Fam. 24,5,16 f. 7 Vgl. Seneca Vater, Controv. 1, praef. 11. 8 Lateinisch: videre te potuit, sed non vidit. Vgl. Anm. 6. 9 Serv. Ad Ecl. 6,11. 10 Vergil, * 70 v. Chr., war beim Tod Ciceros siebenundzwanzig Jahre alt. 11 Aen. 12,168. Vergil bezog die Worte auf Askanios (Ascanius), der bei Vergil ein Sohn des Aeneas ist. 12 Macr. Saturn. 5,2 ff.; Iuv. Sat. 11,180 f. von Petrarca in Rer. mem. 1,2 zitiert. Vgl. auch Fam. 24,12,18. 13 Latium: der Name für die Landschaft, die heutige Campagna, in der die Hauptstadt Italiens liegt, wurde oft für ganz Italien verwendet. 14 Petrarca ist über rudimentäre Kenntnisse des Griechischen nie hinaus gelangt; vgl. Fam.18,2,7 und 12 ff.; 24,12,1. 15 Dichter, ca. 47 v. Chr. bis vor 2 v. Chr. Zitat aus Carm. 2,34,65–66; vgl. auch Don. Vita Verg. ed. Brummer 7. 16 Spätere Funde haben die Werke nicht zur Vollständigkeit ergänzt. 17 Aen. 1,287 und 6,794–795. 18 Das bedeutet so viel wie Unterwelt. 19 Gemeint ist das selbe Jahr wie in Fam. 24,3, also 1345. Ein halbes Jahr liegt zwischen den beiden Schreiben.

Fam. 24,5, an Annaeus Seneca1 Ein Tadelbrief. 1. Petrarca wird nach Cicero auch Seneca einige Wahrheiten beibringen. 3. Er zitiert ein lobendes Wort des Plutarch über Seneca, beanstandet aber kecke Urteile des Griechen. 4. Die Natur schenkt keinem Geschöpf Vollkommenheit. 6. Aus Ruhmsucht hat Seneca das Schwierige gesucht, als er Lehrer eines Tyrannen wurde. 10. Petrarca schildert ihm sein Fehlverhalten. 16. Er kritisiert Senecas Tragödie Octavia. 20. Er schildert Neros Taten. 25. Seneca muss ihre Niedertracht erkannt haben. Das verrät sein Brief an den Apostel Paulus. Am Po, am 1. August 1348.

1. Francesco grüsst Annaeus Seneca. Erbeten sei von dem bedeutenden Mann Verzeihung, und ich wollte: auch gewährt! Freilich spreche ich etwas rauher, als es der Ehrfurcht vor Deiner Lehre geziemt oder Deiner Grabesruhe geschuldet wird. Wer aber gelesen hat, dass ich Marcus Cicero nicht schonte, obwohl ich ihn, Du weisst es,2 als Licht und Quell der lateinischen Redekunst bezeichne, der wird keinen Stoff zu berechtigter Entrüstung finden, wenn ich mit wahren Aussagen andere ebenso wenig schone. 2. Es freut mich, ruhmvolle Männer, mit Euch zu sprechen; denn wenn jedes Zeitalter an Euresgleichen Mangel litt, so leidet das unsere an einer völligen Unkenntnis Eurer Namen und an Eurem gänzlichen Fehlen. Ich allerdings höre auf Eure Rede täglich mit grösserer Aufmerksamkeit, als sich glauben lässt; und vielleicht ist nicht unbescheiden, wenn auch ich wenigstens einmal von Euch gehört zu werden wünsche. Dass zu den herrlichen Namen aller Zeit auch der Deine zu zählen ist, weiss ich wohl; und wüsste ich’s nicht aus anderer Quelle, so hätte ich’s doch dank einem fremden Zeugen erfahren. Plutarchos nämlich,3 ein Grieche, ein Lehrer des Princeps Traian, der seine und unsere Berühmtheiten miteinander verglich, stellte seinem Platon und Aristoteles – und der eine wird von den Griechen für göttlich und der andere für dämonisch gehalten – unseren Marcus Varro gegenüber, dann seinem Homer unseren Vergil und seinem Demosthenes unseren Marcus Tullius. Und schliesslich wagte er einen Streit über Kriegsführer heraufzubeschwören, ohne sich durch die Verehrung für seinen grossen Schüler davon abhalten zu lassen,4 und bei wenigstens einem Vergleich räumte er ohne Erröten ein, es gebe unter den Seinen durchaus keine ebenbürtigen Talente. Er sagte, einen Mann, der in moralischen Lehren Dir gleichkäme, hätten sie nicht.5 Ein gewaltiges Lob ist das, vor allem weil es aus dem Mund eines kecken Mannes stammt, der sogar seinen Alexander von Makedonien mit unserem Iulius Caesar verglich. 4. Doch ich weiss nicht, wie es kommt, dass wie an ideal gestalteten Körpern auch an eben solchen Seelen die unzuverlässige Natur oft ein schwerwiegendes Unrecht walten lässt. Es könnte sein, dass die Allmutter den Sterblichen die Vollkommenheit missgönnt (und dies gerade dann am meisten, wenn jene das Voll-

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kommene beinah zu erreichen im Begriff sind) oder dass gerade unter einer grossen Zahl von Vorzügen selbst die geringste Missbildung besonders deutlich hervorsticht. Während ein Muttermal in einem unschönen Gesicht nur wenig bedeutet, wirkt im schönen eine blosse Narbe schon hässlich. Sehr grell leuchtet das Licht auf allen Dingen, wo Gegensätze aneinanderstossen. 5. Du aber, ehrwürdiger Mann und – wenn wir auf Plutarch hören – Du unvergleichlicher Lehrer, erkenne mit mir, sofern es Dir recht ist, den Irrtum Deines Lebens: Auf den grausamsten Princeps aller Jahrhunderte bist Du gestossen!6 Und Du, ein bedächtiger Seemann, hast Dein mit kostbarer Ware befrachtetes Gefährte gegen ein berüchtigtes, wild umbrandetes Riff gesteuert. 6. Warum nur hast Du ebenda angehalten? Das frage ich Dich! Etwa um im heftigen Wirbelsturm Deine Meisterschaft zu erproben? Doch das hätte niemand ausser ein Narr gewünscht. Mag es Sache eines Starken sein, eine Gefahr zu ertragen, ist es doch niemals Sache des Klugen, diese zu suchen.7 Freilich, wenn der Klugheit die freie Entscheidung überlassen wäre, müsste die Tapferkeit tatenlos bleiben, weil dann alles verhindert würde, wogegen man sie um ihre Hilfe anflehen müsste, während die Mässigkeit sich ohnehin eher ihrer eigenen Mittel bedienen würde, um ihre Lust zu zügeln und das Gewünschte zu beschneiden. 7. Doch weil unzählige Ereignisse statthaben und das Leben der Menschen vieles heran trägt, was unsere Vorhaben umwirft, sieht sich die Tugend, wiewohl unbesiegt, stets im Widerstreit mit der wütenden Fortuna, und das nicht etwa infolge jener Entscheidung, von der ich gesprochen, sondern gemäss unausweichlichen und eisernen Gesetzen der Notwendigkeit. 8. Doch ich selber stünde da, als wäre ich nur halb gescheit, wenn ich mit dem Lehrmeister der Tugend noch länger über die Tugend disputieren und mich abmühen wollte, ihm etwas zu beweisen, dessen Gegenteil zu beweisen ohnehin ganz unmöglich wäre, so dass ich auf jeden Fall siegen müsste, ob Du selber Richter wärst oder ein anderer, der in diesen Fluten des Lebens auch nur einigermassen zu segeln gelernt hat! Denn wirklich: Unvernünftig war es, sich bei den Syrten8 aufzuhalten. 9. Wenn Du dort aus der schwierigen Lage für Dich Ehre zu gewinnen hofftest, dann konnte das höchst Lobenswerte nur darin bestehen, aus den Fluten aufzutauchen und mit dem geretteten Schiff zu einem Hafen zu flüchten. Das über Deinem Haupt andauernd hängende Schwert hast Du zwar gesehen, Dich aber dennoch nicht gefürchtet und den Ausgang der gefährlichen Lage nicht voraus erkannt, obwohl Du wenigsten hättest begreifen können, dass Dein Tod9 – was zur kläglichsten Art des Sterbens gehört – jeder Art Nutzen und Ruhm entbehren werde. 10. Du warst, bedauernswerter Greis, in die Hände eines Mannes geraten, der alles, was er wollte, auch konnte, doch einzig das Böseste wollen konnte. Durch einen Traum wurdest Du schon vom ersten vertrauten Verkehr mit ihm abgeschreckt,10 hast aber hierauf wachsam und dank vielfältiger Überlegung Vertrauen auf eine zwar wirre Ruhe geschöpft. Warum nun ein so langer Verbleib bei seinen

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Laren? Warum dieses Verbleiben bei einem so unmenschlichen und blutdürstigen Schüler? Warum dieser Umgang mit dem völlig Andersgearteten? 11. Du wirst sagen: „Ich wollte fliehen und konnte nicht,“ und wirst auch einen Vers des Kleanthes11 anführen, den Du in lateinischer Übersetzung zu verwenden pflegst: „Den Willigen führt das Schicksal, Unwillige zerrt es“, und dabei behaupten, Du seist ja bereit gewesen, auf Deine Habe zu verzichten, um die Fessel der Freiheit zu sprengen oder um aus solchem Schiffbruch Dich – notfalls nackt – zu retten. Das war den alten Historikern bekannt12 und mir, der ich ihren Spuren folgte, ist es keineswegs entgangen. 12. Vor der Öffentlichkeit habe ich Geheimeres für mich zurückbehalten. Nun aber, da ich meine Worte an Dich allein richte, meinst Du etwa, ich würde verschweigen, was mir Entrüstung und Wahrheit einflüsterten? Du bist da, rücke näher! Denn es soll kein fremdes Ohr dazwischenkommen und hören, dass die Jahrhunderte die Kenntnis Deiner Geschicke uns nicht entzogen haben. Wir haben nämlich einen sehr zuverlässigen Zeugen und einen, der bei seinen Mitteilungen über die bedeutendsten Gestalten sich weder durch Drohung noch durch Gunst verführen lässt: Tranquillus Suetonius.13 13. Und was sagt er?14 Du habest Nero „daran gehindert, die alten Redner kennen zu lernen“, damit er „desto länger in der Bewunderung für Dich verharre.“ Auf diese Weise hättest Du Dich bemüht, seinem Herzen teuer zu sein, während Du umgekehrt dafür hättest sorgen sollen, ihm verächtlich zu werden und Deine Entlassung zu verdienen, indem Du mit Fleiss einen Sprachfehler vorgetäuscht oder sogar einen echten herbeigeführt hättest. Die eigentliche Wurzel Deiner traurigen Geschicke stammte aus dem Leichtsinn Deines Herzens, um das Wort „Eitelkeit“ zu vermeiden. 14. Einen wertlosen Ruhm für Deine Gelehrsamkeit suchtest Du, ein harter Alter, nur allzu weichlich – um nun auch das Wort „kindisch“ zu meiden –, und dass Du bei einem ruchlosen Menschen ein Lehramt überhaupt angenommen hast, das wäre auf den Beschluss eines andern oder auf einen Irrtum oder auf das Fatum zurückzuführen, sofern wir recht eifrig nach Entschuldigungen jagen und persönliche Fehler auf das Fatum abschieben wollten. Aber nein, der bestimmte Wunsch entsprang Deinem eigenen Entscheid, Du kannst Fortuna nicht beschuldigen. Was Du selber verlangtest, das wurde Dir beschieden. 15. Doch wohin geht Dein Weg, Bemitleidenswerter? Hattest Du den Jüngling, der vor Bewunderung für Dich raste, einmal bis dahin gebracht, dass weder eine Freiheit noch ein Zusammenleben weiter bestehen konnte, warum hast Du dann das freiwillig angenommene Joch nicht etwas gleichmütiger getragen und Dich mindestens davor gehütet, den Namen Deines Herrn mit unauslöschlichen Makeln zu beschmutzen? 16. Wusstest Du etwa nicht, dass, wie Naso15 sagt, „die Tragödie in ihrer drückenden Schwere jede andere Schriftgattung überbietet“? Wie beissend

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und wie giftig, wie scharf Du sie gegen ihn verwendet hast, das weiss man; und weil das Menschenherz die Wahrheit nicht erträgt, beleidigte Deine Feder in dem Mass, als sie Wahres sprach. Ausser es sei vielleicht jene Meinung richtig, nach welcher nicht Du, sondern ein anderer unter Deinem Namen der Autor sei.16 17. Dass aus Cordoba zwei verschiedene Männer des Namens Seneca stammten, das jedenfalls bezeugen auch die Spanier.17 Und in der „Octavia“, so nämlich lautet der Name jener Tragödie, bekräftigt eine Stelle jene Vermutung. Übernehmen wir sie, bist Du, was den Inhalt betrifft, entschuldigt. Doch bleibt noch der Stil; und wer immer so geschrieben hat: Er ist Dir in nichts unterlegen, wär’s auch, dass er nach Alter und Namen zurückbliebe. Und so muss denn im Mass, als der üble Ruf der Sitten vermindert wird, auch der gute Ruf der Erfindungsgabe beschnitten werden, andernfalls ist, so meine ich, eine Entschuldigung für die berühmte Dichtung null und nichtig.1818. Nicht dass ich selber nicht genau wüsste,19 es könne keinerlei beissende Schärfe, sei’s einer Erfindung, sei’s einer Ausdrucksweise, den Schandtaten dieses Menschen gerecht werden, wenn immer diese so entsetzliche Unmenschlichkeit der Bezeichnung Mensch überhaupt wert ist! Doch sei es, wie ihm wolle: Schau dennoch, ob gerade Du mit Anstand Derartiges schreiben durftest? Du über den Kaiser als sein Untergebener, Du über den Herrn als sein Vertrauter, Du über den Schüler als sein Lehrer, schliesslich Du über jenen, dem Du allzu oft zu schmeicheln (um nicht zu sagen: schmeichelhaft zu lügen) gewohnt warst! 19. Lies nochmals die Bücher, die Du ihm „Über die Güte“20 und lies nochmals, was Du an Polybios „Über den Trost“21 geschrieben hast, wenn nicht etwa die Fluten der abgrundtiefen Lethe Deine Bücher oder die Erinnerung an solche verschütteten. Dein Lob auf Deinen Schüler wird Dich, so meine ich, beschämen. Mit welcher Stirn Du Dergleichen von jenem zu schreiben vermochtest, ist mir unbegreiflich. Ich jedenfalls lese das nicht ohne Scham. 20. Doch hierauf hast Du wiederum eine Antwort, hältst uns die Jugend des Princeps und seine Begabung entgegen, welche schöne Hoffnungen weckten, und verteidigst Deinen Irrtum mit der plötzlichen Wandlung seiner Sitten, als wäre uns das unbekannt. Aber betrachte selber, wie entschuldbar es sei, wenn so ein paar lächerliche Schriftchen eines komödiantischen Prinzipats oder so ein paar Wörtchen geheuchelten Pflichtbewusstseins einem hervorragenden Mann wie Dir Herz und Urteil verdrehen konnten, und dies in Deinem Alter, bei Deiner grossen Erfahrung und Deiner Gelehrsamkeit! 21. Was, ich bitte, gefiel Dir an seinen Taten, von denen die Historiker erklärten, (um deren Worte anzuführen22) „einige seien keines Tadels, andere eines mittelmässigen Lobes würdig“ gewesen, freilich bevor er sich ganz in Verbrechen und Schandtaten verlor, ob eher die Übung im Wagenlenken oder eher die des Zitherspiels gemeint war.23 Beidem oblag er ja angeblich so hingerissen, dass er zuerst eher versteckt vor Dienern und schmutzigen Leuten, dann aber öffentlich vor den Augen des ganzen Volkes als fürstlicher Wettfahrer

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auftrat und eine ihm dargereichte Kithara wie eine göttliche Hoheit anbetete als der überragende Kitharista!24 22. Als er durch solche Erfolge sich hoch erhoben fühlte, reiste er, als könnten ihm italische Kunstverständige nicht genügen, nach Achaia,25 liess sich durch Schmeicheleien griechischer Musiker den Kopf verdrehen und erklärte darauf, einzig die Griechen könnten seine Meisterschaft würdigen.26 Oh dieses lächerliche Monstrum, diese wütende Bestie! 23. Oder galt Dir wohl das als ein besonders deutliches Anzeichen eines grossen und fromm gesinnten Fürsten, dass er die ersten Barthaare und die am nichtswürdigen Mund gerupften Stoppeln auf dem Kapitol den Göttern weihte?27 Das alles, Seneca, waren unbestreitbar Taten Deines Nero! 24. In einem Alter, in dem die Historiker ihn noch immer zu den Menschen rechnen, versuchst eben Du, ihn mit Lobeserhebungen, die weder des Lobredners noch des Gelobten würdig sind, zu den Göttern zu erheben, und – ob es Dich beschämt, weiss ich nicht, mich aber beschämt es! – zögerst nicht, ihn dem göttlichen Augustus, dem besten der Fürsten, vorzuziehen.28 Wenn Du nicht vielleicht meinst, es sei einer besonders hohen Ehrung würdig gewesen, dass er die Christen, eine wahrhaft gottgefällige und ehrbare Menschengemeinschaft (welcher freilich sogar der Berichterstatter Sueton „einen neuen und bösartigen Aberglauben“ vorwarf29) zum Tode verurteilte, er, der jeder Frömmigkeit ein Verfolger und grausamster Feind war. 25. Ich allerdings vermute von Dir nichts Dergleichen. Und um so mehr wundere ich mich über Dein Verhalten. Denn das oben Beschriebene ist masslos leichtfertig und eitel, und das zuletzt noch Angefügte ist sogar frevelhaft und entsetzlich. Und dass Du selber darüber so urteiltest, verrät nicht bloss, sondern bekennt wenigstens einer Deiner Briefe an den Apostel Paulus.30 Und dass Du hierüber gar nicht anders denken konntest, ist mir gewiss, hast Du doch jenen heiligen und himmlischen Ermahnungen Dein Ohr nicht verschlossen, sondern der von oben her angebotenen Freundschaft Dich geöffnet. Und hättest Du sie nur fester umklammert und Dich nicht am Ende ihr entwunden! Dann wärst Du zusammen mit diesem Herold der Wahrheit und für eben diese Wahrheit und für die Verheissung eines ewigen Lohnes und für den Namen ihres grossen Verkünders in den Tod gegangen. Doch ich habe mich von meinem Redeschwung allzu weit mitreissen lassen und sehe nun ein, dass ich zum Beackern des Feldes mich viel zu spät erhoben habe, als dass eine Hoffnung auf eine rechtzeitige Frucht noch aufspriessen könnte. Lebe Du auf ewig wohl! Unter den Lebenden im diesseitigen Gallien am rechten Ufer des Po, am ersten August im Jahr 1348 nach der Geburt Jenes von Dir vielleicht – doch weiss ich nicht, ob wahrhaft – Erkannten.31

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Anmerkungen 1 Wie schon in Fam. 24,4 Anm. 7 gesagt wurde, unterscheidet Petrarca nicht zwischen Seneca Vater und Seneca Sohn; vgl. Personenreg. 2 Vgl. in der Edition Rossi die Anmerkung zu dieser Briefstelle; hier steht die gewiss richtige Vermutung, Petrarca beziehe sich auf Seneca Vater, Controv. 1, praef. 6–7; vgl. auch Fam. 24,4,6. 3 Plutarchos aus Chaironeia, ca. 45 bis nach 120 n. Chr., Schriftsteller, Vulgärphilosoph; in Rom aufgenommen in den Kreis der Vertrauensleute Traians. Wichtigstes Werk: Parallelbiographien, in denen zur sittlichen Belehrung der Leser vorbildliche oder abschreckende Persönlichkeiten geschildert werden. 4 Lateinisch: ausus est ad postremum et ducum controversiam movere, nec eum tanti saltem discipuli veneratio continuit. Der Schüler ist oben genannt worden: Traian. Nachrichten über enge Beziehungen zum Kaiserhaus sind späten Datums. 5 Petrarca kennt an moralischen Werken Senecas besonders gut die Epistulae morales, die zum Adressaten seinen Schüler Lucilius haben. An Nero richtete Seneca unter anderem das Werk De clementia. 6 Gemeint ist Kaiser Nero, 54–68, auf dessen Befehl sich Seneca 65 das Leben nahm. 7 Petrarca setzt zwei der vier Kardinaltugenden einander gegenüber: Prudentia und Fortitudo; es folgt Modestia in der Rolle der Temperantia. 8 Gemeint sind gefährliche Sandbänke im Mittelmeer. 9 Suet. Nero 35 über den anbefohlenen Selbstmord. 10 Seneca träumte, dass er Kaiser Claudius zum Schüler habe; der elfjährige Nero glaubte diesem Traum. Er verriet bald darauf mit ersten Gewaltakten seine Brutalität. Suet. Nero, 7. Vgl. auch Petrarca, Rer. mem. 4,1. 11 Vgl. Sen. Ad Lucil. 107,11. Genannt wird der griechischer Stoiker, der ca. 330 bis ca. 231 lebte; vgl. Personenreg. 12 Suet. Nero 35; vgl. Petrarca, Rer. mem. 3,3. 13 Das ist der oft genannte Gewährsmann, berühmt vor allem durch seine Kaiserbiographien, allerdings weit weniger zuverlässig, als Petrarca gemeint hat. Vgl. Personenreg. 14 Suet. Nero 52. 15 Ov. Trist. 2,381. Von Petrarca nicht genau zitiert. 16 Petrarcas Echtheitsfrage beschränkt sich hier auf die eine Tragödie. Die Schmähschrift Divi Claudii apotheosis mit Himmel- und Höllenfahrt des Claudius Nero gilt heute allgemein für ein Werk Senecas. Die Echtheit der Tragödie Octavia, die im folgenden Satz erwähnt und darauf charakterisiert wird, ist heute noch umstritten. 17 Der Philosoph Seneca war einer der drei Söhne des Rhetors Seneca. Petrarca unterscheidet nicht zwischen Vater und Sohn; vgl. Fam. 24,4 Anm. 6. 18 Lateinisch: quantum morum demitur infamie, tantundem ingenii fame detrahi oportet; alioquin excusatio, nisi fallor, famosi carminis nulla est. 19 Bei Rossi: Non quod ego nullam vel ingenii vel sermonis acrimoniam nefandis actibus equari posse hominis rear illius; bei Fracassetti: non quod ego sim nescius nullam…aequari posse. Was Petrarca meint, scheint die Version bei Fracassetti zu verdeutlichen. 20 De clementia von 56 richtete sich an Nero. 21 Polybios, Freigelassener des Caligula, der unter Claudius politischen Einfluss erlangte, bekannt für Paraphrasen zu Homer und zu Vergils Aeneis. An ihn richtete Seneca einen Trostbrief nach dem Tode eines Bruders ca. 43. 22 Suet. Nero 19 f. Petrarca zitiert hier nur Sueton. Vgl. Überblick. 23 Kithara war eine Art Armharfe. 24 Suet. Nero 12. 25 Die Landschaft im Norden der Peloponnes steht oft für ganz Griechenland.

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Suet. Nero 22. Suet. Nero 12. Sen. Clem. 1,11,1. Suet. Nero 16. Pseudo-Sen. Ad Paul. 12. Die Datierung verweist mitten in die Pestzeit des genannten Jahres.

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Fam. 24,6, an Marcus Varro1 Vom Ruhm seiner Bücher und von der Trägheit der modernen Zeit. 1. Gewisse Menschen bringen Nutzen selbst nach dem Tod. 2. Die Nachlässigkeit der modernen Zeit ist schuld daran, dass Varros Schriften keinen Nutzen mehr erbringen. 3. Kenntnis vom Wert seiner Schriften vermitteln verschiedene Zeugen. 5. Zu diesen gehören Cicero, Lactanz und Augustinus. 8. Petrarca hat einst ein Fragment einer Schrift Varros in den Händen gehabt. 10. Er zählt andere Schriftsteller auf, deren Werke grossenteils verlorengingen. Rom, am 1. November 1350.

1. Francesco grüsst Marcus Varro. Dich zu lieben und zu verehren, zwingen mich Deine einzigartige Menschenwürde, Dein Arbeitswille wie auch Dein glanzvoller Name. Es gibt Menschen, die man für ihre Wohltaten und Verdienste liebt und die, während andere durch Gestalt und Geruch höchst lästig fallen, mit ihren Wissenschaften belehren und mit ihrem beispielhaften Leben erfreuen, ja wenn „sie weggegangen sind an den allen gemeinsamen Ort,“ wie Plautus sagt,2 als die Abgeschiedenen den Zurückgebliebenen noch immer von Nutzen sind. 2. Du freilich bringst uns keinen oder bloss geringen Nutzen, und das hast nicht Du verschuldet, sondern unser alles zerstörendes Zeitalter. Unsere Epoche hat Deine Bücher verderben lassen; und wie nicht? Ist sie doch einzig auf das Hüten von Geld bedacht. Denn wer hätte je getreulich das bewacht, was er verachtet? Du hingegen hast über alles Glaubhafte hinaus Dich der Betrachtung der Welt gewidmet und dabei den Pfad des tätigen Lebens keineswegs gemieden, ja Du bist, weil hervorragend auf beiden Wegen, dank Deinem Verdienst jenen mächtigsten Männern Pompeius Magnus und Iulius Caesar teuer gewesen. Unter dem einen hast Du Kriegsdienst geleistet,3 und für den andern hast Du wunderbare Bücher voll Wissenswertem aus jeder Disziplin verfasst,4 und dies mitten unter vielfältigsten Aufgaben militärischer und öffentlicher Ämter. Grosses Lob gebührt nicht allein Deiner Schaffenskraft, sondern auch Deinem Vorhaben, Geist und Leib in fortwährender Tätigkeit zu üben, um mit allem Können und Wollen nicht allein der eigenen Zeit, sondern allen Jahrhunderten zu nützen. 4. Deine mit so grossem Bemühen ausgearbeiteten Bücher wurden nicht hoch genug geschätzt, um durch unsere Hände an die Nachwelt zu gelangen. Deinen Feuereifer überwand unser Stumpfsinn. Nie hat es einen so knauserigen Vater gegeben, dass das Ergebnis seiner andauernden Sparsamkeit ein verschwenderischer Sohn nicht in kürzester Zeit hätte aufbrauchen können. Wozu aber sollte ich nun Deine verlorenen Bücher aufzählen? So zahlreich die Titel Deiner Bücher, so zahlreich auch die Wunden unserer Ehre! Besser also, ich hätte geschwiegen, denn bei jeder Berührung beginnt eine Wunde von neuem zu bluten; und bei der Erinnerung an einen Verlust erwacht der Schmerz aus seiner Betäubung.

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5. Dennoch: Wie unglaublich ist die Kraft des Ruhmes! Es lebt der Name, sind auch die Werke begraben. Und wenn vom Nachlass eines Varro beinah nichts zum Vorschein kommt, ist doch gemäss einstimmigem Urteil der Gelehrten dieser Varro „der gelehrteste“ von allen. Eben dies hat Cicero5 „ohne alles Zögern“ genau in jenen Büchern sicher zu behaupten gewagt, in denen er darlegt, „nichts dürfe man sicher behaupten“, und so scheint es fast, er habe, während er von Dir sprach – gleichsam geblendet vom Licht Deines Namens – genau seine wichtigste These aus den Augen verloren. Einige Gelehrte schränken Ciceros Zeugnis auf den engen Umkreis der lateinischen Sprache ein, und bei diesen hast Du den Ruf, der Gelehrteste unter den Römern zu sein. Andere dehnen Dein Gebiet bis zu den Griechen aus, so insbesondere Lactanz,6 einer der unsern und hoch berühmt für seine Redekunst wie für seine Glaubenstreue. Dass „niemand gelehrter sei als Varro, auch nicht bei den Griechen“, bezweifelt er nicht.7 7. Doch unter Deinen unzähligen Lobrednern sind zwei die weitaus bekanntesten. Der eine ist der eben erwähnte, Dein Zeitgenosse und Mitschüler Cicero, der Dir manches gewidmet hat, wie auch Du ihm vieles (nämlich nach Catos Grundsatz8 über die Verwendung der Musse), und dass seine Werke lebendiger geblieben sind, das hat vielleicht die Anmut seiner Feder bewirkt. Der andere ist von hervorragender Heiligkeit und göttlicher Begabung, nämlich Augustinus, nach Geburt ein Afrikaner und nach Sprachkunst ein Römer. Und wäre Dir nur vergönnt worden, Deine Bücher zu den Fragen über Gott mit ihm zu erörtern, so wärst Du ein grosser Gottesgelehrter geworden, nachdem Du ja die Theologie mit all Deinem Können peinlich genau abgehandelt und höchst vorsichtig gegliedert hattest.9 8. Aber nichts von dem, was Dich angeht, soll Dir verheimlicht werden. Von Dir wurde geschrieben,10 „Du habest so viel gelesen, dass man sich wundere, wie Du Zeit zum Schreiben fandest, und so viel geschrieben, dass man meine, niemand habe so viel auch nur zu lesen vermocht,“ und trotzdem existiert von Deinen Werken nichts mehr, es wären denn sehr zerfetzte Überreste. Von solchen habe ich einst einige gesehen, und die Erinnerung daran foltert mich, weil ich – wie man sagt – bloss mit der äussersten Zungenspitze die Süsse gekostet habe. Doch mir bleibt die Vermutung, sie könnten alle noch immer irgendwo verborgen liegen, unter ihnen besonders Dein Werk über göttliche und menschliche Dinge, das Deinen Namen besonders hell erschallen liess.11 Diese Sorge macht mir schon seit vielen Jahren zu schaffen, wie denn eine lang anhaltende, unruhige Hoffnung quälender ist als alles andere. 9. Du freilich tröste Deine Seele! Von Deiner Erinnerung pflücke die Frucht Deiner hervorragenden Leistung, und dann trauere nicht über den Verlust des Vergänglichen. Du wusstest unter der Niederschrift der Werke, dass sie vergehen würden; denn der sterblichen Schöpferkraft entspringt nichts Unsterbliches. Was tut es zur Sache, ob es sogleich oder hunderttausend Jahre später zugrunde geht, da es

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notwenigerweise zugrunde gehen muss? Es gibt einen ehrenvollen Trupp ähnlich begeisterter Forscher, die mit ihrer Arbeit durchaus keinen besseren Erfolg erzielten, und nach deren Vorbild solltest Du Dein Los recht gleichmütig tragen. 10. Einige aus ihnen anzuführen, drängt sich nun auf, denn schon der blosse Gedanke an herrliche Namen kann uns trösten. Genannt seien:12 Marcus Cato Censorius,13 Publius Nigidius,14 Antonius Gnipho,15 Iulius Hyginus,16 Ateius Capito,17 Gaius Bassus,18 Veratius Pontificalis,19 Octavius Hersennius,20 Cornelius Balbus,21 Massurius Sabinus,22 Servius Sulpitius,23 Cloatius Verus, Gaius Flaccus,24 Pompeius Festus,25 Cassius Hemina,26 Fabius Pictor,27 Statius Tullianus.28 Noch viele andere aufzuzählen, würde ermüden; und waren sie einst berühmte Männer, sind sie heute verwehte Asche und mit Ausnahme der beiden zuerst erwähnten kaum noch dem Namen nach bekannt. Sie alle möchte ich mit meinen Worten und durch Deinen Mund gegrüsst haben. 11. Von den Cäsaren Iulius und Augustus und von einigen anderen ihres Standes weiss ich zwar, dass auch sie ungemein bildungsbeflissen und in hohem Masse gelehrt waren und dass Du mit einigen vertrauten Umgang pflegtest; aber ich halte es für richtiger, ein Grusswort an sie unseren modernen Imperatoren zu überlassen. Müssten sich diese späteren vor den früheren nur nicht gar verkriechen, weil sie das von jenen mit Bildung und Heldentat gegründete Imperium zugrunde gerichtet haben! Lebe wohl auf ewig, Du wachsamster Mann!29 Bei den Lebenden in Rom, der Hauptstadt der Welt, welche Deine Vaterstadt war und die meine wurde, am 1. November, 1350 Jahre nachdem Jener geboren wurde, dem Du, ach wahrhaftig, hättest begegnen sollen.30

Anmerkungen 1 Marcus Terentius Varro, 116–27; für sein eminentes Wissen allseitig bewunderter Schriftsteller; vgl. Anm. 3 und Personenreg. 2 Cas. prol. 19; nicht als Vers zitiert. 3 Varro beteiligte sich unter Pompeius 77–72 an Kriegen in Spanien, wurde 70 unter dem ersten Konsulat des Pompeius Volkstribun, beteiligte sich 67 an dessen Kämpfen gegen die Piraten, stritt unter ihm vielleicht auch gegen Mithradates. Das Triumvirat Pompeius-Caesar- Crassus attakierte er 60 mit einem Pamphlet. Nach zehn Studienjahren kämpfte er in Spanien 49 als Legat des Pompeius und schloss sich nach dessen Tod Caesar an. Von ihm erhielt er den Auftrag, eine Bibliothek römischer und griechischer Literatur vorzubereiten, entging nach dessen Ermordung zwar nicht der Proskription, wurde aber vor dem Tod gerettet. Die letzten Jahre lebte er auf dem Lande dem Studium und der Schriftstellerei. 4 Auch für Pompeius hat Varro Bücher verfasst, so u. a. eine Meeres- und Wetterkunde, auf dessen Bitte eine „Schrift der Erklärungen“ zur Information über Benehmen und Reden bei Auftritten (Gell. Noct. att. 14 7 2.), die sich nicht erhalten hat; auch eine Schrift mit Berichten über seine Legationen.

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5 Cic. Ac. 1. Hier auch die folgenden Zitate aus Cicero. Übrigens hat Cicero gerade die Academici libri Varro gewidmet. Zu vergleichen ist Aug. De civ. 6,2, welchem Text Petrarca manche Kenntnis vom Inhalt verlorener Werke entnimmt. Weiter vgl. Fam. 18,2,6 und Rer. mem. 1,2. 6 Lactantius, L. L. Cael. Firmianus, * ca. 250 in Afrika, Todesjahr unbekannt. Lehrer der Rhetorik unter Diocletianus, vorübergehend in Nikomedien, Verfasser von Werken zur Verteidigung des Christentums; wichtigstes Werk: Divinae institutiones; vgl. Personenreg. 7 Div. inst. 1,6,7. 8 Cic. Planc. 27,66; vgl. Fam. 12,9,2. Für Freunde solle man Zeit haben. 9 Ein Hauptwerk Varros ist das Handbuch Antiquitates rerum humanarum et divinarum in 41 Büchern; ein Buch über Götterkult trägt den Titel: Curio de cultu deorum. Doch kann Petrarca an ein anderes Werk gedacht haben. 10 Aug, De civ. 6,2. 11 Bei Schriftstellern nach Zitaten aus Varro zu forschen und eine gute Ausgabe der eruierten Stellen zu ermöglichen, dieses Desiderat ist auch heute nicht vergessen. 12 Von den folgenden Namen sagt die Ausgabe Rossi, man finde viele bei Macr. Saturn. 3 passim. Zitiert werden sie vor allem auch in Gell. Noct. att. Ihre Werke sind zum Teil bloss dem Titel nach bekannt und von ihrem Leben weiss man sehr wenig. 13 Lebte 234–149; Politiker, Schriftsteller, Soldat, berühmt für sein Ceterum censeo; vgl. Personenreg. 14 Lebte ca. 100–45; war Grammatiker und Naturforscher. 15 Lebte 114–64; war Rhetoriker, Lehrer Ciceros. 16 Lebte zur Zeit des Augustus, wurde von diesem freigelassen, war Philologe, Polyhistor. 17 War Jurist zur Zeit des Augustus und Tiberius. 18 Verfasste Gedichte, war ein Freund von Ovid und Properz. 19 Mit Veratius ist Veranius Pontificalis gemeint. Er begleitete Germanicus nach Asien und erlebte dort 19 n. Chr. dessen Tod. 20 Dieser Name ist bloss aus einer einmaligen Erwähnung bei Macrobius, Saturn. 32,7 bekannt. 21 Lebte zur Zeit Caesars, schrieb Exegetica. 22 Dichtete in der Zeit des Augustus, war Freund Ovids. 23 Starb 43; war ausgezeichneter Jurist, Freund Ciceros. 24 Gemeint ist wohl ein Jurist aus dem 2. Jh. n. Chr. 25 War Grammatiker im 2. Jh. n. Chr. 26 War Verfasser von Annalen, 2. Jh. v. Chr. 27 War Geschichtsschreiber im 3. Jh. v. Chr. 28 Gemeint ist wohl ein Freigelassener von Ciceros Bruder Quintus Tullius Cicero. Wird erwähnt in Ciceros Korrespondenz. 29 Lateinisch: vir vigilantissime. Das Wort kann auf grosse Aufmerksamkeit und Sorgfalt deuten, jedoch auch auf unermüdliche Nachtarbeit. 30 Petrarca schrieb diesen Brief 1350. Zu Anfang dieses Jahres hatte er seinen ersten Aufruf an Karl IV. geschrieben. Im selben „Jubeljahr“ hatte er eine Pilger- und Bussreise nach Rom unternommen Vgl. Fam. 11,1.

Fam. 24,7, an Quintilian1 1. Petrarca hat die Bedeutung des Adressaten nicht sogleich erkannt. 2. Erst spät hat er einzelne Teile von Quintilians Werk zu sehen bekommen. 3. An wissenschaftlicher Gründlichkeit überbietet Quintilian sein Vorbild Cicero. 4. Petrarca charakterisiert die beiden Lehrer der Rhetorik. 8. An Seneca hat Quintilian einen strengen Kritiker gefunden; er hat ihn ebenfalls getadelt. 10. Vom Leben des Adressaten gibt Petrarca einen knappen Abriss. Florenz, am 7. Dezember 1350.

1. Francesco grüsst Quintilian. Ich hatte einst Deinen Namen vernommen und irgend etwas von Deinen Werken gelesen, und ich hatte mich gewundert, wie Du zu einem Ruhmestitel höchsten Ranges gekommen seist. Erst spät habe ich Deine Verstandesschärfe erkannt. Denn Dein Werk mit dem Titel „Anweisungen zur Redekunst“2 ist leider zertrennt und zerfetzt in meine Hände gekommen. Ich erkannte daran unser alles zerstörendes Zeitalter und sagte zu eben diesem bei mir selber: „Du handelst wie immer; nichts hütest Du in guten Treuen, ausser das, was zu verlieren Gewinn wäre. Oh Du faule und anmassende Zeit! In solchem Zustand also übergibst Du mir hervorragende Männer, während Du grösste Nichtsnutze hätschelst! Wie unfruchtbar und liederlich ist diese Epoche, die sich müht, so vieles zu lernen und zu schreiben, was man besser nicht wüsste, dabei aber dieses Werk vollständig zu erhalten vernachlässigt hat.“ 2. Übrigens hat eben dieses mir die richtige Auffassung von Deinem Wert geschenkt, nachdem ich lange darüber im Irrtum war. Dass der Irrtum ein Ende nahm, beglückt mich, doch sah ich vor mir zerstreute Glieder eines schönen Leibes, und Bewunderung und Jammer erschütterten mein Herz. Mag sein, dass Du jetzt bei einem anderen Menschen sogar vollständig vorhanden bist, womöglich bei jemand, dem der Gast ein Unbekannter ist. Hat aber irgend einer bei der Suche nach Dir besonderes Glück gehabt, soll er wissen, dass er etwas von hohem Wert besitzt, und solches, hat er es erkannt, unter seine vornehmsten Reichtümer einreihen. 3. Du jedenfalls hast in diesen Büchern – und wie viele es sind, weiss ich nicht, aber zweifellos eine grosse Zahl – ein Thema, das Cicero erst im Alter mit höchster Behutsamkeit behandelte,3 neu aufzugreifen gewagt, und hast Dir, was ich für unmöglich hielt, auf den Spuren des grossen Meisters einen neuen Ruhm nicht etwa für Nachahmung sondern für eine selbständige Lehre und für eine eigene und herrliche Arbeit errungen. So sorgfältig hast Du den von ihm unterrichteten Redner gebürstet und geschmückt, dass man denken könnte, jener habe vieles vernachlässigt oder gar nicht beachtet. Und alles, was Deinem Lehrer entfallen war, greifst Du einzeln auf und bündelst es so geschickt zusammen, dass man von Dir, wie ich meine, völlig zu Recht erklären kann, im Mass als Du in der Redekunst besiegt wirst, siegst Du in der wissenschaftlichen Gründlichkeit. 4. Cicero treibt ja seinen

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Rhetor auf einem steil ansteigenden Pfad der Rechtsprechung sowie über höchste Gipfel der Redekunst und schult ihn in gerichtlichen Prozessen auf seinen Sieg hin.4 Du hingegen greifst weiter zurück, führst Deinen Rhetor über alle Windungen und Winkel eines langen Weges, und zwar von den Ursprüngen her bis zur höchsten Feste der Redekunst. Das gefällt, das freut und das zwingt Bewunderung ab! Und nichts ist für Anwärter nützlicher. Die Klarheit eines Cicero erleuchtet die Fortgeschrittenen; er bezeichnet einen erhabenen Weg den Tüchtigen. Dagegen gibt Deine Umsicht gerade auch den Schwachen Kraft, ist eine ausgezeichnete Amme für natürliche Veranlagung und nährt mit ihrer bescheidenen Milch die zarte Kindheit. 5. Damit Dir aber diese schmeichelhafte Wahrheit nicht verdächtig sei, muss ich meine Redensart ändern. An Dir lässt sich klar ablesen, wie richtig es ist, was gerade Cicero5 in seiner Rhetorik gesagt hat, nämlich, es solle „der Redner möglichst wenig über seine Kunst, dagegen möglichst vieles gemäss seiner Kunst vortragen.“ Trotz dieser Bemerkung handle ich nicht wie jener gegenüber Hermagoras tat,6 das heisst, ich billige Dir nicht die eine Fähigkeit zu, um Dir die andere abzusprechen, vielmehr habe ich Dir beide zugeschrieben, jedoch die eine in mittlerem Mass, die andere in vortrefflichem, ja in so überragendem Mass, dass man denken könnte, solcher menschlichen Begabung könne darüber hinaus kaum etwas zugefügt werden. 6. Wenn dieses Dein grossartiges Werk mit jenem anderen zu vergleichen erlaubt ist, das Du „Über die Gründe“7 geschrieben hast (es ging just darum nicht verloren, weil es beweisen sollte, dass unsere Zeit das Beste am gründlichsten vernachlässigt und anderes weniger), dann zeigt sich den Sachverständigen, wie viel besser Du für die Aufgabe eines Wetzsteins8 als für die des Schwertes geeignet warst, und wie viel fähiger, den Redner auszubilden, als ihn selber darzustellen. 7. Nimm das nicht übel auf, sondern erkenne an Dir wie an andern, ein einzelnes Genie sei niemals zu allem so völlig gleich geeignet, dass es nicht in einem Teil sich selber überträfe. Ein hervorragender Mann bist Du gewesen, so sage ich, aber in der Unterweisung und Heranbildung bedeutender Männer am hervorragendsten. Und wäre Dir nur ein geeigneter Stoff beschieden worden, hättest Du aus Dir selber leicht einen Grösseren geboren, Du ein hochgelehrter Erzieher edler Begabungen. 8. Herausgefordert wurdest Du recht tüchtig von einem andern bedeutenden Mann, von Annaeus Seneca,9 so sage ich. Euch, die das Zeitalter, der Beruf, die Nation miteinander verbanden, entzweite jene Seuche unter Gleichgearteten, nämlich die Missgunst. Ob Du hierbei als der massvollere dastehst, weiss ich nicht: Du10 kannst ihn nicht uneingeschränkt loben, während er von Dir mit letzter Verachtung spricht.11 Sollte ich Richter über Euch und Eure Parteien sein – obwohl ich eher fürchte, von Unbedeutenden gerichtet zu werden, als dass ich verdiente, über grosse Meister zu richten –, will ich dennoch meinen Richterspruch fällen. 9. Jener ist kühner, Du genauer, jener erhabener, Du aber gewiefter. Und Du lobst sei-

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nen Verstand, seine Forschungen und seine Kenntnis, lobst aber gar nicht seinen Geschmack und auch sein Urteil nicht. Von seinem Stil sagst Du sogar, er sei verderbt und kranke an allen Gebrechen.12 Er hingegen rechnet Dich zu jenen, „die ihren Ruf mit sich ins Grab genommen haben.“ Und dabei ist Dein Ruf noch heute nicht begraben und warst Du, als er das schrieb, in Person weder begraben, noch auch tot. 10. Er starb ja unter Nero,13 Du hingegen bist nach seinem und des Nero Tod unter Galba14aus Spanien nach Rom gekommen. Hier hast Du nach vielen Jahren auf Verlangen des Kaisers Domitian15 die Erziehung der Enkel seiner Schwester16 übernommen und bist ein Aufseher über ihre jugendlichen Sitten und Studien geworden. In beiden Aufgaben bist Du, wie ich glaube, der hohen Erwartung, so viel an Dir lag, gerecht geworden. Und dennoch hat man Dich, wie gleich nachher Plutarch17 an Traian18 geschrieben hat, „für die Unbesonnenheit Deiner Zöglinge verantwortlich gemacht.“ Etwas anderes habe ich Dir nun nicht mehr zu schreiben. Ich hoffe, Dich einmal in gutem Zustand zu finden, und falls Du irgendwo gar vollständig vorhanden bist,19 dann verstecke Dich bitte vor mir nicht länger! Lebe wohl! Bei den Lebenden zwischen der rechten Flanke des Apennin und dem rechten Ufer des Arno innerhalb der Mauern meiner Vaterstadt, wo Du anfingst, mir bekannt zu werden, und jetzt zur selben Zeit wie damals, am 7. Dezember 1350, nach der Geburt dessen, den Dein Herr20 lieber verfolgen als kennen wollte.

Anmerkungen 1 Marcus Fabius Quintilianus aus Spanien, ca. 35–96/100, Anwalt und hervorragender Lehrer der Beredsamkeit; bedeutendstes Werk: Institutio oratoria. Vgl. Notizen im Überblick und Personenreg. in Bd. 1. 2 Petrarca nennt das Werk Oratoriarum Institutionum liber. 3 De oratore in 5 Teilen als Dialog verfasst im Jahr 55. 4 Ciceros Redner ist im Idealfall philosophisch und juristisch geschult, überdies ein allgemein gebildeter und „guter Mensch“ im Sinne Catos. 5 De inventione 1,6,8. Dies ein Zitat aus einem Jugendwerk Ciceros, nicht aus seinem Hauptwerk über die Redekunst. 6 Griechischer Redner und Lehrer der Beredsamkeit, 2. Jh. v. Chr., nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Redner aus der Zeit des Tiberius. Quintilian setzte sich mit beiden auseinander. 7 Erstlingswerk Quintilians mit dem Titel: De causis corruptae eloquentiae; gilt heute als verloren. 8 Lateinisch: cos, cotis. Der Wetz- oder Schleifstein wird in übertragenem Sinn auch von Horaz in Ars 304 oder bei Cic. Acad. 2,135 und andern verwendet. 9 Der oftgenannte Philosoph ist gemeint, doch unterschied Petrarca ihn nicht klar vom Vater, einem Lehrer der Rhetorik. Das im folgenden Text zitierte Urteil stammt wirklich von Seneca Maior. Die-

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ser aber hätte, da er 40 v. Chr. starb, nur einen anderen Quintilian angreifen können, nicht den berühmten, der im selben Jahr noch ein Kind war; vgl. Anm. 1. Inst. 10,1,125–131. Der Sprachlehrer tadelt einerseits kurze abgehackte Sätze, anderseits Theatralisches, Pathetisches. Controv. 10, praef. 2. Das ist ein Zitat aus Seneca Maior; vgl. Anm. 9. Quintilians Urteil über Senecas Stil betrifft mehr den des Sohnes, also den des Philosophen, vor allem den Stil seiner Tragödien. Vgl. Anm. 10. Seneca Sohn starb 65 unter Nero. Galba wurde am 8. Juni 68 Nachfolger Neros; ermordet wurde er am 15. Jan. 69. Der Spanier Quintilian begleitete ihn auf seiner Reise zur Übernahme der Kaisergewalt nach Rom. Sein Tod 96/100 fiel in die Regierungsjahre Domitians oder Traians; vgl. Anm. 1. Das ist der zweite Sohn Vespasians, Kaiser 81–96. Richtig ist, dass Quintilian Erzieher von Grossneffen des Kaisers Domitian wurde, der sie adoptierte. Schwester des Domitian war Flavia Domitilla, die eine Tochter gleichen Namens hatte. Zwei Söhne derselben wurden von Quintilian unterrichtet. Epist. ad Traian. zit. nach Io. Saresb. Policrat. 5,1. Kaiser 98–117. Lateinisch: te incolumen videre, et sicubi totus es… Beides bezieht sich auf Quintilians Schriften. Vgl. oben Abschnitt 2, wo bereits mit der „Ganzheit“ das vollständige Werk gemeint ist. Domitian ist mit Strenge gegen verschiedene religiöse und philosophische Gruppen vorgegangen. Seine Verfolgung der Christen erwähnt Hegesippos um 180 in seiner Kirchengeschichte 3,20.

Fam. 24,8, an den Historiker Titus Livius1 1. Wünschbar wäre es gewesen, mit Livius im selben Zeitalter zu leben, um mit ihm das ganze römische Reich zu besuchen. 2. Nur ein geringer Teil der römischen Geschichte ist erhalten geblieben, aber mit diesem beschäftigt sich Petrarca, um der eigenen Zeit zu entgehen. 4. Er trifft darin die grossen Vorbilder der Frühzeit. 6. Andere berühmte Historiker lässt er durch Livius grüssen. Padua, am 22. Februar 1351.

1. Francesco grüsst Titus Livius. Ich wünschte – wäre es von Oben gegeben worden –, ich wäre in Deine Epoche gefallen oder Du in die unsere. Dann könnte unsere Zeit oder wenigstens ich durch Dich gebessert werden, und ich würde als einer aus der Zahl Deiner Besucher mich nicht allein bis nach Rom begeben, um Dich zu sehen, sondern auch „von den beiden Gallien oder von Spanien aus bis nach Indien reisen“.2 Nun aber finde ich Dich, wie es sich gibt, in Deinen Büchern, nämlich nicht ganz,3 sondern nur im Mass, als Du ob der Faulheit unserer Epoche noch nicht zugrunde gegangen bist. 2. Hundertundzweiundvierzig Bücher über die römische Geschichte hast Du, wie wir wissen, herausgegeben, und ach, dank wie mannigfacher Nachforschung und wie gewaltiger Anstrengung! Doch kaum dreissig von allen sind erhalten geblieben. Oh welch entsetzlich verdorbene Gesinnung, dass wir uns selber mit Fleiss berauben! Dreissig sage ich, weil allgemein ganz übereinstimmend eben das behauptet wird.4 Aber ich selber stelle fest, dass eines an dieser Zahl fehlt. Neunundzwanzig sind es, ganze drei Dekaden, nämlich die erste, dritte und vierte, und von dieser steht die Bücherzahl nicht fest.5 3. Mit diesem geringen Überrest beschäftige ich mich, so oft ich diese Gegenden, die heutigen Zeiten und die herrschenden Sitten vergessen möchte, denn ich gerate stets in heftige Empörung über die Zielsetzungen der modernen Menschen, denen nichts kostbar ist ausser Gold und Silber und Vergnügungen, und wären diese unter die Güter zu rechnen, dann wäre dem sprachunkundigen Vieh6 und sogar dem unbeweglichen und unempfindlichen Stoff ein weit volleres und weit zweckmäßigeres Gut beschieden als dem vernunftbegabten Menschen. 4. Doch das ist ein grosses und bekanntes Thema, und dabei ist im Augenblick richtiger, Dir zu danken, nämlich für vieles, doch namentlich dafür, dass Du mich oft das gegenwärtige Elend vergessen lässt und mich glücklicheren Jahrhunderten einfügst. Unter der Lektüre Deines Werkes kann mir scheinen, es seien die Cornelii,7 die beiden Scipiones Africani, die Laelii, die Fabii Maximi und Metelli, die Brutii, Decii, Catones, Reguli, Cursorii, Torquati, Valerii Corvini, Salinatores, Claudii Metelli, Nerones, Aemilii, Fulvii, Flaminii, Atilii, Quintii, und Camilli meine Zeitgenossen, nicht aber diese ausgemachten Lümmel, mit denen ich unter einem glücklosen Stern geboren wurde.8 5. Und könntest Du mir doch vollständig zuteil werden!9 Dank wie vielen anderen herrlichen Namen wären dann Trost für mein Leben und

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Vergessen der bösen Zeitläufte zu beschaffen! Was ich bei Dir nicht finden kann, lese ich da und dort bei anderen Autoren, doch nicht zuletzt in jenem Buch, wo ich Dich zwar vollständig, aber so sehr zusammengepresst vorfinde, dass an der Bücherzahl nichts, aber an der Sache unendlich vieles fehlt.10 6. Nun grüsse mir denn von den älteren Historikern Polybios, Quintus Claudius und Valerius Antias11 und die andern, deren Ruhm der Deine verdunkelt, von den neuen zudem Deinen Nachbarn Plinius Secundus aus Verona12 und Crispus Sallustius,13 der einst mit Dir wetteiferte. Melde ihnen, ihre Nachtarbeiten hätten keinen grösseren Erfolg gezeitigt als die Deinen.14 Auf ewig lebe wohl, Du des historischen Gedächtnisses bester Verwalter! Bei den Lebenden, in jener Gegend Italiens und in jener Stadt, in der Du geboren wurdest, im Vorhof der Jungfrau Iustina15 und vor dem Stein Deines Grabes, am 22. Februar im Jahr 1351 nachdem Jener erschienen war, von dessen Geburt Du hättest sehen und hören können, hätte Dein Leben nur ein wenig länger gedauert.

Anmerkungen 1 Berühmtester Geschichtsschreiber der Römer, 59 v. Chr. bis 17 n. Chr., Hauptwerk: Ab urbe condita libri; vgl. Personenreg. 2 Hier. Epist. 53,1. 3 Petrarca setzt den Autor mit seinem Werk gleich. 4 Heute zählt man fünfunddreissig erhaltene Bücher. 5 Vgl. Nolhac, P. de, Pétrarque et l’humanisme 1907, 2,16–17 über die festgestellte Lücke. Zu Petrarcas Arbeiten an Livius-Manuskripten vgl.G. Billanovich, La tradizione del testo di Livio 1,1 Teil 97 ff. Vgl. auch den Überblick 6 Lateinisch: mute pecudis. Das heisst nicht einfach „des stummes Viehs“, gemeint ist das Vieh, dem die Gabe der Sprache, also rationalis hominis bonum fehlt. 7 Zu den hier aufgezählten und schon früher oft genannten Namen vgl. man das Personenreg. 8 Dies eine blosse Redeweise; Petrarca hat mehrfach betont, dass er von Astrologie nichts halte; vgl. Fam. 3,8; 13,6,29; 16,14,11; 19,9,12; 23,2,1 und 7. 9 Gemeint ist die Vollständigkeit des Werks. 10 Petrarca denkt an die Periochae. 11 Petrarca nennt drei Historiker, die Livius ausgiebig zitiert hat. Der Hellene Polybios, ca. 200 bis nach 120, befand sich nach 167 zeitweilig in Rom, war befreundet mit Scipio Africanus und kämpfte unter ihm im 2. Punischen Krieg. Sein Hauptwerk, eine Universalgeschichte, reichte bis auf die Zeit Sullas. Quintus Claudius Quadrigarius schrieb nach 100 v. Chr. Annalen in dreiundzwanzig Büchern und erreichte ebenfalls die Zeit Sullas. Valerius Antias, Zeitgenosse des vorgenannten und wie jener Annalist, legte fünfundsiebzig Bücher für ungefähr den selben Zeitraum vor. 12 Gemeint ist der ältere Plinius, 23–79 n. Chr., nicht aus Verona, wie Petrarca hier zum wiederholten Mal behauptet (vgl. Fam. 12,6,7), sondern aus Como, wie auch sein Neffe, Plinius der Jüngere. Sein Hauptwerk, die Naturgeschichte, hatte Petrarca in Mantua gekauft, und zwar, wie er im Buch mit einer Notiz festhielt, am 6. Juli 1350. Seine Bücher über die Kämpfe der Römer gegen die Germanen ist verloren.

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13 Sallustius, 86–35, bekannt vor allem für seine Werke zu Catilina und Iugurtha. 14 Die Werke der andern sind auch bloss teilweise erhalten geblieben. 15 Petrarca verweist auf Padua. Was Petrarca als Grab des Livius verehrte, wurde zu seiner Zeit fälschlicherweise als solches ausgegeben. Livius war aber tatsächlich in Padua nicht allein geboren worden, sondern auch gestorben. Eine Plastik, die Livius darstellt, findet man heute im Atrium der Universität Liviano; im oberen Stock zeigt man ein Porträt Petrarcas aus dem 14. Jh.

Fam. 24,9, an den Redner Asinius Pollio1 1. Petrarca kennt die Bedeutung des Adressaten nicht aus dessen eigenen, sondern aus fremden Schriften. 3. Zum Glück des Asinius gehörte, unter Augustus, nicht unter Tiberius zu leben. 5. Tadeln muss ihn Petrarca wegen seiner Angriffe gegen Ciceros Vorrang in der Redekunst. 9. Neid wäre an Asinius besonders widerlich. 10. Er soll andere Redner im Jenseits grüssen. Frage nach deren Gedächtnis. Mailand, am 1. August 1353.

1. Francesco grüsst Asinius Pollio. Als mir einfiel, unter die Empfänger meiner vertraulichen Briefe einige längst verstorbene Vorbilder der Redekunst und gewisse seltene Zierden der italischen Sprache einzufügen, wollte ich Deinen Namen nicht im Schweigen begraben, erkannte ich doch, dass er gemäss dem Zeugnis sehr bedeutender Kenner den herrlichsten ebenbürtig sei. Weil jedoch Dein Ruhm beinah aller Deiner Werke entblösst zu uns gelangt ist, nämlich mehr auf Schriften anderer als auf die Deinen gestützt – und mit vollem Recht wird das zu den Schandtaten und Verlusten unseres Jahrhunderts hinzugezählt2–, habe ich Dir nur wenig zu sagen. 2. Doch Dir, einem Mann von der Würde eines Konsuls und Triumphators3 wünsche ich Glück, einesteils zu glänzenden Leistungen Deiner grossartigen Schaffenskraft und blühenden Beredsamkeit und zu manchen anderen Gaben des Leibes, des Geistes oder Fortunas, dann andernteils ganz ausdrücklich zu einer Dir geschenkten Gunst, unter dem besten, für Bildung und Manneswürde treu besorgten Fürsten gealtert zu sein und an ihm einen befugten Beurteiler Deiner Taten gefunden zu haben. 3. Du Glücklicher hast ja zu Lebzeiten des Augustus ein beträchtliches Alter erreicht und auf Deinem Landgut in Tusculum mit achtzig Jahren ein ruhmvolles Leben in Ruhe beschlossen, womit Du den blutigen Händen eines Tiberius entgehen konntest,4 während Dein unglücklicher Nachfahre, der Redner Asinius Gallus ihnen verfallen ist.5 Wir lesen6 von ihm, er sei „unter grausamen Foltern“ ermordet worden. 4. Gut, dass zur Zeit, als das Fatum bereits auf ein so trauriges Ereignis zusteuerte, Dein wahrhaft rechtzeitiger Tod eintrat; er hat wenigstens Deine Augen davor bewahrt, ein schreckliches Schauspiel mitanzusehen.7 Denn wirklich fehlten nur wenige Jahre, und Du wärst gezwungen worden, Deinem Sohn8 der unglücklichste Gefährte oder wenigstens Zuschauer zu sein.9 Wenn aber, wie gewisse Weise vermutet haben, die Toten10 am Schicksal der Hinterbliebenen teilnehmen sollten, dann wäre durch sein trauriges Ende Deiner erlangten Seligkeit gleich wieder ein erheblicher Teil entrissen worden. 5. Etwas Gewisses zu übergehen und somit schweigend ein Nichtwissen vorzutäuschen, verbietet mir das Gesetz wahrer Freundschaft; denn durch solches bin ich der Asche und dem Ansehen ruhmvoller Menschen aller Zeiten so gut wie jenen der Gegenwart verpflichtet. Das missfällt mir an Dir, dass Du einem Marcus Tullius, dessen Ehre verdient hätte, gerade durch Deinen Mund gefeiert und erhöht zu

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werden, ein sehr scharfer Aufpasser – um nicht zu sagen: ein widerwärtiger Tadler – sein wolltest.11 6. Ist es die Urteilsfreiheit, die Dir solches erlaubt hat, dann billige ich Dein Urteil so wenig, als ich Dir diese Freiheit missgönne. Doch erkläre ich bestimmt – wenn auch zu spät –, Du hättest sie bescheidener gebrauchen sollen. Freilich, weil Du sogar dem Herrn der Welt gegenüber von ihr Gebraucht gemacht hast, verdientest Du leicht Verzeihung von andern Personen.12 Überdies ist es für einen, der bei Fortuna sehr viel Nachsicht findet, gewiss recht schwierig, seine Kühnheit und seine Zunge zu mässigen. Dass ich trotzdem gerade von Dir Rechenschaft für alles Vergangene fordere, geschieht mit Rücksicht auf die grosse Reife Deines Alters und Deiner Bildung, und ihretwegen tadle ich Dich auch freimütiger als Deinen Sohn, der hinter dem Vater her die selbe Meinung vertrat, oder als Calvus und alle andern, die sich dem selben Urteil anschlossen. 7. Übrigens vergesse ich mich nicht so völlig, dass ich Dir gegen einen bekannten Zeitgenossen ein Recht absprechen würde,13 das ich mir selber nach vielen Jahrhunderten gegen diesen Mann von so alterwürdigem Ansehen herausgenommen habe. Keinen Menschen gibt es, der nicht irgendwo Fehler beginge.14 Wer also könnte Dir, einem bedeutenden Mann, verbieten, an den Sitten Deines Nachbarn etwas Beachtliches festzustellen? Wo ich doch selber aus weiter Entfernung in gewissen seiner Schriften manches beachte, was ich notiere! 8. Nur eben, dass Du just den Ruf seiner Redekunst antastest und ihm in der Beredsamkeit die Vorrangstellung entreissen willst, welche ihm von oben gegeben ist und ihm von fast dem ganzen Erdkreis einhellig und ohne Widerspruch zuerkannt wird –, schau zu, ob dieses Unrecht nicht allzu offenkundig ist! Schau nur, und mit Dir schaue auch Calvus!15 Dass Ihr mit jenem Mann nur ja nicht einen ungleichen Kampf um die Vorrangstellung in der Redekunst aufnehmt! Uns, die wir den Wettstreit verfolgen, fällt es ungemein leicht, sein Ende vorauszusehen. Schon längst seid Ihr durch einen richterlichen Entscheid über den Ehrenkranz besiegt, mithin ist ja Euer Widerstreben und Aufbegehren ganz nutzlos. Die Wahrheit zu erkennen, hindert Euch eine Geschwulst am inneren Auge, und dabei würdet Ihr wahrhaft gross sein, wenn Ihr einen Grösseren zu ertragen vermöchtet. 9. Nun wird aber der Mensch, der in seinem Stolz mit Wahnvorstellungen sich über das, was er ist, hinaus hebt, mit einem nüchternen Urteil unter das, was er hätte sein können, hinab gedrückt; und deshalb haben viele Sterbliche in ihrem Begehren nach fremdem Ruhm ihren eigenen verloren. Sollte Euch aber vielleicht der Neid dazu verleitet haben, würde ich das gerade an Dir (wiewohl Aufgeblasenheit und Neid überall viele Begleiter haben) ganz besonders schlecht ertragen. Denn während ich bei Calvus einen nicht geringen Grund zwar nicht für Neid aber für Hass feststelle, finde ich bei Dir jedenfalls keinen für Hass; während, was den Neid angeht, es recht unwürdig erschiene, wenn er, der am Boden zu kriechen pflegt, zu einem so erhabenen Geist wie dem Deinen hätte aufsteigen können.

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10. Auf ewig lebe wohl! Und von den griechischen Rednern grüsse mir Isokrates, Demosthenes und Aischines;16 von den unsern Crassus und Antonius, auch Corvinus, Messala und Hortensius,17 sofern der eine, der zwei Jahre vor seinem Verscheiden das Gedächtnis verlor,18 es später dank festem Verschnüren seiner Leiche zurückerhielt, und dem andern das seine nicht entrissen wurde. Bei Mailand im Land der Insubrer, am 1. August 1353 des letzten Zeitalters.19

Anmerkungen 1 Schriftsteller und Politiker, 76 v. Chr. bis 4 n. Chr.; vgl. Personenreg. Als Redner bezeichnet ihn Petrarca in Erinnerung an eine Stelle bei Sen. Ad Lucil. 7,9 (vgl. Petr. Rer. mem. 2,2). Er stellt Asinius zwischen „die eloquentesten Lateiner Cicero und Livius“. Sieben Reden des genannten sind erhalten geblieben. Asinius war aber ein typischer Vertreter der gestrengen Attizisten, die den alten trockenen und knappen Stil pflegten. Vgl. Notizen im Überblick. 2 Der Einschub ist verdorben; lateinisch: quod ipsum merito inter evi nostri pudores ac damna quis numeret. 3 Asinius war Konsul im Jahre 40, einen Triumph feierte er am 25. Oktober 39 nach seinem Sieg über die illyrischen Parthini. 4 Augustus regierte von 30 v. Chr. bis 14 n. Chr.; Tiberius von 14–37. 5 Es handelte sich um den Enkel von Asinius Pollio, nicht um den Sohn (gleichen Namens). Er stand im Verdacht, nach dem Prinzipat zu streben, zudem begünstigte er Seianus, den Praefectus praetorio Roms, der seine Machtstellung dazu benützte, Kaiser Tiberius von Rom fernzuhalten und die Familie des Germanicus, des Adoptivsohns von Tiberius, zu vernichten. Gallus Asinius wurde im Jahr 30 eingekerkert und starb 33. 6 Petrarca bezieht sich auf Euseb. Chron. a. 2020 und a. 2030; auch auf eine Kurzmeldung bei Hieronymus zu den angegebenen Jahren. Zu vergleichen wären die Annales des Tacitus 1,12,4 ff.; 3,11,2, 6,23,1, die Petrarca aber nicht hat kennen können. 7 Das heisst: Wenigstens die Augen wurden geschont. Immer wieder deutet Petrarca an, dass es schon eine Gnade sei, wenn man ein Unglück nicht mitansehen, von ihm bloss hören müsse; vgl. z. B. Fam. 4,12,38. 8 Richtig wäre: Deinem Enkel; vgl. Anm. 5. 9 Vgl. die vorangehende Anmerkung. Nach heutiger Kenntnis lagen zwischen dem Tod von Asinius Pollio im Jahr 4 und der Einkerkerung des Enkels sechsundzwanzig Jahre. 10 Petrarca denkt kaum an einen bestimmten Weisen, aber die Vorstellung, dass Verstorbene im Jenseits sich um das Elend in der Welt und speziell um das Unglück der Hinterbliebenen Sorgen machen, ist ihm vertraut; vgl. z. B. Fam. 6,5,14 seine Fragen an König Roberto im Himmel. Anrufungen an Heilige im Himmel, wie Petrarca sie kannte, setzten den Glauben an deren Mitgefühl für Hinterbliebene voraus. 11 Zur Kritik der beiden Asinii an Cicero vgl. Quint. Inst. 12,1,22; Sen. Vater, Suasoriae 6,14 f. und. Contr. 7,4,6 f.; Suet. Claud. 41; Gell. Noct. att. 17,1,1. 12 Über die Freiheiten, die sich Asinius Pollio gegenüber Augustus erlaubte, vernahm Petrarca durch Macr. Saturn. 2,4,10; das Zitat steht auch Fam. 7,15,7; Sen. Maior, Controv. 4 praef.5; Suet. Aug. 43; Sen. Ira, 3,23,4.8. 13 Petrarca führt den Namen Ciceros nicht an, doch denkt er hier und im folgenden wieder einzig an diesen. 14 Dies eine Bemerkung, die in den vorangehenden Briefen mehrfach wiederholt wird.

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15 Lucius Licinius Calvus gehörte zu den Attizisten wie Asinius, damit zu den Vertretern einer Stilrichtung, die von Seneca Vater, Quintilian und andern sehr klar abgelehnt wurde. 16 Isokrates, 436–338; Demosthenes, 384–322; Aischines, ca. 390–315; vgl. das Personenreg. 17 Crassus, 140–91; Antonius, 143–87; Messal(l)a Corvinus, 64 v. Chr.- 13 n. Chr.; Hortensius, 114–50; vgl. Personenreg. 18 Euseb. Chron. a. 2027; vgl. Fam. 3,10,14. 19 Petrarca hatte Ende Mai oder Anfang Juni 1353 die Provence verlassen. In Mailand befand er sich wohl seit dem Juni 1353.

Fam. 24,10, an den lyrischen Dichter Horatius Flaccus1 1. Würdigung des Dichters. 7. Idyllische Landschaft. 11. Verehrte Götter und Helden. 40. Lieblingsorte des Horaz. 70. Moralische Lehren des Dichters. 80. Literarische Auffassungen. 95. Historische Ereignisse und Legenden. 110. Leben des Dichters. 125. Bekenntnis zur Nachahmung.

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König lyrischen Lieds,/nie ist Dein Vaterland Deiner uneingedenk!/Lesbisches Saitenspiel2 Schenkt Dir musische Gunst,/auf dass die Saite klingt! Sieh, das Untere Meer/nahm Dich dem Oberen,3 Deshalb streiten um Dich/Tiber und Aufidus, Unbesorgt, ob Dein Haus/niedrig ob edel sei. Dir zu folgen macht froh,/gehst Du im Waldgebirg Oder suchst Du im Tal/Schatten und muntern Quell, Purpurn schimmernde Höhn,/Matten im frischem Grün, Kühle spendende Seen,/Grotten benetzt von Tau. Ob Du Faune ermahnst,/Herden ein Freund zu sein,4 Ob Du Bacchus besuchst,5/der Dir entgegenglüht,6 Wenn sein rankendes Kleid/Ceres, die blonde, streift,7 Schweigend ehrst Du sie hoch,/alle in heilger Scheu: Venus beiden geneigt,8/sie, die des Hunds bedarf;9 Nymphen, lispelnd wie je,/Satyrn im Übermut,10 Und der Grazien drei,/rosig der nackte Leib,11 Herkles12 lorbeerbekränzt,/strotzend von Tatendrang, Nebst des lüsternen Zeus/anderer Leibesfrucht,13 Mars, wie immer behelmt,/Pallas14 im Kriegsgewand (Vorn, entsetzlich zu sehn,/wild das Gorgonenhaupt), Ledas Zwillinge dann,15/freundliches Sternenpaar, Hilfe bringend zur See,/zwar in der Flut versteckt, Vater Merkur voll Witz,16/wenn er die Zither schlägt, Drauf im Goldhaar Apoll,/welches Dein Wort entwirrt, Wenn sein lockiger Schopf/taucht aus des Xanthos Flut;17 Seine Schwester geschmückt,/Köcher und Pfeil zur Hand,18 Feind dem Wild; neben ihr/heilig der Musen Chor. Sieh Dein Griffel verleiht/(Marmor ist nie so hart19) Auch den Helden von einst/(neuen, sofern man findt!) Ewig währenden Ruhm,/spottend dem Lauf der Zeit. Allen huldigt Dein Werk,/wie dem Verdienst gebührt.

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Was die Tugend allein/Sterblichen schenken kann, Wird zum ewigen Bild/dank ihrer Sänger Fleiss.20 Hilfreich zeigen sie uns/Männer fast göttergleich, Grad als lebten sie noch:/Drusus und Scipio,21 Ja die übrigen auch,/welchen das edle Rom Kraft zum Siegen verlieh,/als es die Welt bezwang. Drum steht wunderbar hell,/blendend vor lauter Licht, Glanzvoll wie ein Gestirn/unsrer Caesaren Haus.22 Geh’ nur singend voraus,/folg’ Dir ja gierig nach! Führ’mich,23wenn’s Dir beliebt,/rudernd auf hoher See, Doch wenn lieber Du willst,/über der Berge Joch;24 Fahr’den Tiber hinab,/suche die Wasser tief, Kommst zum Anio25 dort,/wo er die Felder teilt. Sie hast einst Du geliebt,/lobend die Himmlischen, Und just deshalb hab’ich/rasch diesen Vers gemacht! Flaccus, Du unsre Zier,/führ’ mich ins Abseits fort, Da wo einsam der Wald,/frostig der Algidus.26 Führ’ zur Bajischen Bucht/und ihrem warmen Bad,27 Ins Sabinergebiet,/herrlich im Blütenschmuck,28 Wo im Winter der Schnee/hoch vom Soracte glänzt.29 Drauf nach Brindisi fahr’,30/sei auch die Strasse schlecht,31 Nicht ermüd’ ich dabei!/Wenn sich die Sänger nahn, Seh’ ich gern, wie vergnügt/einer den andern grüsst.32 Mich abwenden vom Ziel/sollen nicht Zeit noch Ort, Nicht ermatte mir je/dieses mein Ungestüm! Ob der Mutter Natur/mählich der Leib anschwillt,33 Ob das tauige Gras/unter der Sonne dorrt, Ob die Trage sich biegt/unter der Früchte Last, Ob das schläfrige Land/langsam zu Eis erstarrt: Nie verweil ich zu Haus,/will die Kykladen sehn,34 Will beim thynischen Volk/lauschen dem Bosporus35 Will durch’s schmachtende Land/Lybien36 weiter ziehn, Will zu stürmischen Höh’n/steigen im Kaukasus.37 Wende Dich, wie Du willst:/Was Du auch tust, ist recht, Ob Du eifrig belehrst/Deine getreue Schar, Ob Du Tugend erhebst,/wie ihrer würdig ist,38 Oder Laster verschreist,/dass sie Dein Biss versehrt,39 Torheit lachend zernagst,/pfiffig mit flinkem Zahn, Auch mit schmeichelndem Wort/zärtlicher Liebe denkst

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Und im Lied sie besingst;/oder mit rauhem Stift Alte Weiber verhöhnst,/zürnend der Ausschweifung40 Oder Städte und Volk/schwerer Vergehen zeihst,41 Weil man Schwerter ergriff/mitten im grimmen Zorn:42 Stets wenn solches Du singst,/preist Dich Dein Maecenas,43 Der am Anfang des Werks/wie auch am Ende steht. Was die Alten verfasst,/das unterdrückt Dein Fuss,44 Träufelst eifrig dem Ohr/Deines erhabnen Herrn Neues ein,45 und dem Werk,/das Dir ein Florus46 zeigt, Allzu holprig und roh,/legst Du die Feile an. Des Landlebens Genuss/und den Verderb der Stadt Lehrst Du Fuscus47 und nennst/Gründe, weshalb ein Pferd Pflügen möcht’;48 und Sallust/zeigst Du des Geldes Wert.49 Doch Vergil ziehst Du fort,/wenn er um Varus klagt.50 Kehrt der Frühling zurück,/rufst Du uns, froh zu sein, Gönnst uns freundlich gesinnt,/Torheit, sofern sie kurz.51 Drauf belehrst Du Hirpin,52/und auch – im Lied vereint – Torquat53 gleich wie Postum/über die Flucht der Zeit.54 Dass die Nacht sich beeilt,/dass auch der Tag entflieht, Schreibt Dein Griffel getreu,/und dass die Lebensfrist Mit unmerklichem Schritt/sicher ins Alter führt, Wenn nicht plötzlicher Tod/hindernd dazwischen tritt. Doch wer hörte nicht zu,/wenn Du Augustus lobst,55 Der auf himmlischem Sitz/ewiglich thronen wird? Oder wenn Du für Mars/nähst eine Tunica,56 Wiewohl eine aus Stahl/oder ein eisern Hemd Für ihn schicklicher wär’?/Wenn Du ein ganzes Heer57 Eingepfercht im Gedräng/goldenen Räderwerks Siegreich leitest hinab/über den heilgen Weg: Dass ein Weib diese Schmach,58/kühn zu vermeiden weiss, Heimlich greifend nach Gift,/das ihr die Natter beut? Wenn Du zeigst, wie ein Hirt/listig das Gastrecht bricht59 Unberührt von dem Wort,/das zu des Paris Heil Nereus warnend gesagt,/weil er die Zukunft kennt?60 Wenn ein Regen von Gold/Danae erbärmlich täuscht,61 Und trotz jammernder Wehr/jener Galan gehörnt Sich ein königlich Weib/frech auf den Rücken schwingt?62 Bist Du heiter, besorgt,/ja bist Du kummervoll, Zornig gar: Du gefällst,/wenn eines Lügenmauls

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Du Dich tapfer erwehrst/(sei’s mit Verdächtigung),63 Oder Viperngezücht,/giftige Brut zu Recht Mit Verwünschung bedrohst,/Vettel, Gesindel, Tor,64 Dann für Lalage singst65/oder den rauhen Wolf66 Unbewaffnet allein/sicheren Blicks verscheuchst, Einem stürzenden Baum/knapp noch entfliehen kannst,67 Und den Fluten entkommst/mitten im Wintersturm!68 Nun im duftenden Gras69/lagerst Du nah dem Bach, Sein Geplätscher im Ohr,/und des Gefieders Lied. Knüpfst vom saftigen Halm/Blüten zum frischen Kranz,70 Schlingst ein biegsames Reis/leicht um den Rebenzweig. Doch Dein Daumen grazil/spannt nun den Barbiton,71 Und Dein Plectron verströmt/klingende Harmonie, Lockt die Sterne herab,/wechselnd die Melodie.72 All dies sah ich, und rasch/fühlte mein laues Herz Edles Eifern, doch lang/reifte noch nicht die Frucht. Fuhr zuerst nach des Meers/Buchten und Inselwelt,73 Allen Klippen Dir nach./Monstren und wilde Flut74 Schreckten mich, bis ich einst/sah an des Indus Strand, Wie ein Pferdegespann/hoch mit dem Sonnengott75 Aufwärts stieg und versank,/fern dort im Ozean.76 Ob nach Norden Du lenkst/oder nach Süden hin, Ob der Zufall Dich treibt,/bis wo die Inseln sind,77 Ob uns flutenumspült/Antium Zuflucht schenkt,78 Ob zu Burgen in Rom/Du mir den Weg bestimmst: Jeder Spur Deiner Kunst/folge ich freudig nach! Deiner Leier Gesang,/wer widerstünde ihm? Zauber wirkt Deines Worts/süsseste Bitterkeit!79 (1337? 1350? 1365/66)80

Anmerkungen Petrarca hat die Verse im kleineren asklepiadeischen Mass verfasst, jede Zeile in zwei Hälften getrennt, von je 6 Silben, in dieser Reihenfolge von Längen und Kürzen oder – im Deutschen – von betonten und unbetonten Silben: __ __ __vv __ I __vv __v__. Bei der Übersetzung zum vornherein auf die Versform zu verzichten, ist kaum richtig. Ein Versuch, sie beizubehalten, lohnt sich, selbst wenn er nicht völlig gelingt. Am Wert des Inhalts geht, ver-

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gleicht man mit einer Prosaversion, im vorliegenden Fall nichts verloren, eher möchte man meinen, dass der Gehalt einzig in der Versform reizvoll ist. Rossi bezeichnet die erste Verszeile, weil er die Inhaltsangabe mitrechnet, als zweite, hinkt also unserer Zählung nach. Horatius: berühmtester lyrischer Dichter der lateinischen Antike, * 8. Dez. 65 in Venusia, † 27. Nov. 8.v. Chr. Hauptquelle für sein Leben: seine Dichtung und Suet. Vita in De vir. ill. Vgl. Horaz über seine eigene Leistung in Carm. 3,30,13 f.: Princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos. („Ich habe als erster das äolische Lied in die italische Weise hinübergebracht“). Dass Horaz die lesbische Dichtungsart hochhalte, sagt er auch Carm. 1,26,11, Carm.1,32,5 und Carm. 4,6,35. Lesbos, die Insel im Ägäischen Meer, ist Heimat des lyrischen Dichters Alkaios und der Dichterin Sappho. Das Untere Meer ist das Tyrrhenische, das Obere das Adriatische. Venusia, wo Horaz geboren wurde, liegt auf der Grenze zwischen Apulien und Lukanien. Schon als Kind zog er mit dem Vater nach Rom. Vgl. die folgende Verszeile. Apulien erwähnt Horaz in Epod. 3,16; Sat. 1,5,77; häufiger nennt er den Apulier, so in seinem Lebensbericht Carm. 3,4. Der Faun, ein Halbgott der Berge und Äcker, wird in Hirtengedichten gerne genannt, so auch bei Horaz. Dass er sich sanft, rücksichtsvoll benehmen solle, sagt Carm. 3,18,1–4; auf des Dichters Gütlein zeigt sich der Faun in Carm. 1,17,2. Die folgende Aufzählung der Götter und Heroen lehnt sich gewissermassen an die des Horaz in Carm. 1,12 an. Aufgeführt werden da der Vater der Welt (ohne Namen, Vers 13) gleich darauf Pallas, dann Liber (Bacchus), hierauf Phoebus (Apoll) und die saevis inimica virgo beluis, weiter Herkules (Alkide), Leda mit ihren Zwillingen, anschliessend Berühmtheiten der römischen Geschichte. Es fehlen in Carm. 1,12 Merkur, Ceres, Venus und Mars, deren Petrarca in der Aufreihung hintereinander gedenkt. Adolf Kiessling gibt der inimica virgo den Namen Artemis (13. Edition 1968), der aber bei Horaz nirgends vorkommt, weil die Göttin bei ihm Diana heisst. Zu den Götternamen vgl. Personenreg. Bacchus wird in den Carmina häufig genannt; Petrarca bezieht sich hier wohl vor allem auf Carm. 3,25,1: Quo me Bacche rapis tui plenum, wo Vers 20 auf den Rankenschmuck hindeutet (viridi pampino), etwa auf Carm. 1,18,6 und 2,19,1 f., wo Bacchus Nymphen und Satyrn belehrt. Ceres gesellt sich zum Gott des Weines als Göttin der Äcker und der Feldfrucht. Horaz nennt sie mehrfach, auch im Carmen saeculare 30, Petrarca jedoch bezieht sich kaum auf eine bestimmte Horazstelle. Der Text ist hier besonders schwierig. Alles muss von concelebras abhängig im Akkusativ stehen. Lateinisch: Amborum Venerem seu canis indigam, das kann wohl nichts anderes heissen, als (wörtlich): Venus, des Bacchus und der Ceres oder auch des Hundes bedürftig. Amborum bezieht sich zurück auf Bacchus und Ceres, obwohl eine Anrede an Horaz dazwischen steht. Überdies kann ich eine Erklärung, weshalb Venus auf einen Hund angewiesen sei, weder bei Horaz noch sonst irgendwo finden. Bei Horaz werden Bacchus und Venus nicht selten aufeinander bezogen, so in Carm. 1,18,6 (wo nach ihrer Schuld gefragt wird); 1,19; und 1,32,9 (wo bei Venus Cupido steht), auch in 1,19 (wo Bacchus als Semeles puer auftritt und Venus sich auf ihr Opfer geradezu stürzt).Venus und Cupido findet man erwartungsgemäss bei Horaz mehrmals beisammen, so z. B. Carm. 1,2, 33.ff.; 2,8,13 f. Fraglich bleibt, ob der zweite Versteil (vgl. Anm. 8): seu canis indigam überhaupt auf Venus zu beziehen ist. Man könnte übersetzen: Du verehrst (siehe vorangehenden Vers)… der beiden Venus und verehrst auch sie, die des Hunds bedürftig ist. Es folgt am Anfang der nächsten Zeile sogleich: Seu nimphas querulas, und mit seu (selten mit et) reiht Petrarca an dieser Stelle regelmässig eine neue Person an, die Horaz verehrt. Welche Göttin, welche Frau mit der knappen Angabe canis indigam gemeint sein könnte, wüsste ich allerdings nicht zu sagen. Diana, die Jägerin, wird weiter unten dargestellt; Artemis existiert bei Horaz nicht, oder richtiger gesagt: sie heisst bei ihm eben Diana.

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10 Vgl. zu den einander zugewandten Nymphen und Satyrn Carm. 1,1,31. In Carm.2,19,4; Epist.1,19,4 stehen die Satyrn bei Bacchus. 11 Nackte Grazien; vgl. Carm. 4,7,5 f. und 3,19,17; dezente Grazien Carm. 1,4,6. 12 Herkles (wohl etruskische Form) für Hercules schmiegt sich in den geforderten Rhythmus ein. 13 Nachdem Herkules, Sohn des ehebrecherischen Jupiter und der von ihm betrogenen Alkmene genannt ist, wird ein anderer Sohn des selben Jupiter angegeben, der Kriegsgott Mars. Dieser hat aber weder bei Horaz noch bei Petrarca ausnehmend grosse Verehrung gefunden. Zu den einzelnen Götternamen vgl. Personenreg. 14 Geschildert wird Pallas, das ist Minerva; Horaz nennt sie sehr oft. Von ihrem Schild mit dem Gorgonenhaupt sprechen ausser Carm. 1,12,20 (vgl. oben Anm.5) auch Carm. 1,6,15; 1,7,5; 1,15,11; 3,4,57 etc. 15 Ledeos iuvenes, Leda mit ihren Söhnen, entspricht Carm. 1,12,25 puerosque Ledae. Zu den Dioskuren, den Sternen Castor und Pollux, vgl. Carm. 3,29,64; 4,5,35; Epist. 2,1,5; Epod. 17,42 f.; etc.; sie werden von Schiffern in Seenot angerufen. 16 Merkur ist Vater des Saitenspiels, Erfinder der Laier; hierauf verweist Horaz mehrmals, so in Carm. 1,10,6; 3,11,1 ff.; er rühmt auch sonst sein Spiel, so Carm. 1,24. 17 Vgl. Carm. 4,6,26. Das Waschen der Haare im Xanthos besorgt im Carmen nicht Horaz sondern Phoebus. Der genannte Fluss (heute Günük) durchfliesst Lykien am Südrand Kleinasiens. Der Kult Apolls wurde in der Gegend sehr gepflegt. 18 Die hier genannte Schwester Apolls ist Diana. Sie wird in Petrarcas Gedicht als Jägerin und Göttin der Jagd charakterisiert; die Worte feris infestam erinnern an die oben Anm. 5 angeführte Wendung aus Carm. 1,12: saevis inimica virgo beluis. Die Göttin war aber weit mehr als Jägerin, sie wurde als jungfräuliche Herrin über die Natur, Tier- und Pflanzenwelt, und besonders als Beschützerin der Frauen hochverehrt, in Rom mit Festtagen. Im Carmen Saeculare steht sie mit Phoebus gleich am Anfang, und zusammen mit ihm beschliesst sie das Lied; sie kämpft gemäss Sage gegen den temptator Orion in Carm. 3,4,71; sie kann aber gemäss Carm. 4,7,25 f. bei all ihrer Macht ihren Gefährten Hippolytos (keusch wie sie) nicht aus der Unterwelt befreien; Carm. 2,12 ist ein Preislied zu ihrem Festtag. 19 Vgl. Carm. 3,30,1: Exegi monumentum mit einem entsprechenden Hinweis auf die Leistungen von Horaz. 20 Zur Aufgabe der Dichter, den tüchtigen Menschen Ruhm zu erwerben und nach dem Tod zu bewahren, vgl. Carm. 4,8,11 ff. und Epist. 2,1,247 ff.(hier unter Hinweis auf Vergil und Varius). 21 Nero Claudius Drusus, den Sieger über Vindelici und Raeti nennt Horaz Carm. 4,4,18 und 4,14,10 ff. Die Scipionen stehen Sat. 2,1,17 und 72. 22 Zu Iulius Caesar vgl. Carm. 1,2,44; häufiger erwähnt Horaz Kaiser Augustus. 23 Zu den folgenden Versen mit dem Aufruf, die Führung zu übernehmen vgl. Epod. 1, 12 mit dem Hinweis auf das Joch der Alpen, den Kaukasus und auf die Unermüdlichkeit des Dichters: forti sequemur pectore. 24 Über der Alpen Joch heisst es Epod. 1,11 f. 25 Zum Anio und zur Gegend von Tibur vgl. Carm. 1,7,21 f.; 1,18,2; 2,6,5; 3,4,23; 3,29,6; und 4,2,30 f.; 4,3,10 ff.; Epist. 1,7,45: Tibur placet. Ebenda Vers 77 f. sagt Horaz von einem Freund non cessat laudare und meint: das Sabinerland. 26 Auf diesen Berg in Latien verweist Horaz Carm. 1,21,6; 3,23,9; 4,4,58; Carm. saec. 69. 27 Dies ein Hinweis auf den berühmten Badeort Baiae in der Campagna; vgl. Carm. 2,18,20; 3,4,24 und oft. 28 Das Sabinerland war Horaz besonders lieb; sein eigenes kleines Gut lag eben dort; vgl. oben Anm. 25 und Carm. 2,18,14; Sat. 2,6,1–5; Epist. 1,16,1 ff. 29 Vgl. Carm. 1,9,1, eines der berühmtesten Gedichte des Horaz: Vides, ut alta stet nive candidum/Soracte… 30 Sat. 1,5,104 über den langen mühsamen Weg nach Brindisi.

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31 Vgl. Sat. 1,5,94 f. Horaz reiste nach Brindisi im Jahr 37 mit Maecenas, bei dem er 38 eingeführt worden war. Vgl. auch Epist. 1,17,52; 1,18,20. 32 Vgl. Sat. 1,5,27 ff. über das Treffen in Formiae (Mamurrarum urbs) auf dem Weg nach Brindisi. 33 Petrarca deutet auf die vier Jahreszeiten. Es folgen Zeilen mit dem Anfang vel, vel, vel etc. 34 Gemeint ist die Inselgruppe im südlichen Teil des Ägäischen Meeres; vgl. Epist. 1,11,16 und Carm. 2,16,2 und 3,29,63. Petrarca setzt an die Versanfänge visurus, visurus etc. 35 Den Bosporus und den Fischer aus dem Volk der Thyner nennt Horaz Carm. 2,13,14 f.; vgl. 2,20,14 und 3,4,30. 36 Vgl. Carm. 2,2,10 und Sat. 2,3,101. 37 Vgl. Carm. 1,22,7 und Epod. 1,12. Vgl. oben Anm. 24. 38 Virtus, als Göttin der Tugend nennt Horaz Carm. 2,2,19; 3,2,17 und 21; Carmen saeculare 58; Tugenden der Barbaren verglichen mit Lastern der reich gewordenen Römer in Carm. 3,24. Es folgt eine Versreihe mit den Anfängen ob oder wenn, sive, dum, zum Gedanken: Es gefällt, was immer Du schilderst, was immer Du tust. 39 Hohn und Zorn auf Laster findet man mit Seitenhieben überall eingestreut, vgl. Carm. 3,6; Epod. 5 und 10; vor allem in den Satiren, so in Sat. 1,1 und Sat. 2; oder Sat. 2,3 über verschiedene Arten eines allgemeinen Wahnsinns; 2,4 über falsche Sorgen um leibliche Genüsse. 40 In erster Linie ist an Lyce zu denken, die in Carm. 4,13 gescholten wird, weil sie nicht alt werden will. Von einer reichen Törin sprechen Epod. 8 und Epod. 12; von einer alternden Hure Carm. 1,25 und 1,27; vgl. z. B. auch Carm. 3,15; Sat.1,4,49 und 111 ff. Vgl. Anm. 64. 41 Vgl. Epod. 16,36; hier ist die Rede von der exsecrata civitas, von Rom, das sich selber zerstört. Häufig sind Hinweise auf den Kampf um Troia; vgl. etwa Carm. 1,10,11 ff; 3,3,16 ff; 4,6. 42 Vgl. z. B. zum Bürgerkrieg Epod. 7; vgl. Carm. 3,3 über Troias Untergang; Carm. 1,27 über ein Gelage mit wüstem Streit. 43 Das ist der berühmte Gönner des Horaz; vgl. das Personenreg. 44 Epist. 2,1 auf Wunsch des Kaisers verfasst und an ihn gerichtet, protestiert gegen die Verachtung der neuen Dichtung, nennt frühere und spätere Geschmacksurteile, dann neue Literatur; 214 ff. Vgl. Briefe an Florus Epist. 1,3 und 2,2. Von früheren Schriftstellern nahm Horaz vor allem den Ritter und Satirenschreiber Lucilius († 103) aufs Korn, womit er sich viele Feinde schaffte; vgl. Anm. 63. 45 Hinweis auf Kaiser Augustus. 46 Iulius Florus befand sich im Jahr 20 im Heer des Tiberius; von seiner Person weiss man fast nichts, und von seinem Werk hat sich nichts erhalten. Vgl. Epist. 1,3,1 und 2,2,1. 47 Epist. 1,10,1 ff.; zum Gegensatz zwischen Stadt- und Landleben vgl. auch Epod. 2 (Beatus ille); Sat. 1,6,110 ff.; 2,6 und 2,7. 48 Unsicher ist, ob Petrarca sich auf Epist. 1,14,43 bezieht. Er spricht von einem equus ferox; Horaz sagt caballus; von diesem heisst es: optat arare. Diesen Wunsch hat das Pferd, weil es seiner üblichen Beschäftigung überdrüssig ist und einmal tun möchte, was der Ochse. 49 Carm. 2,2,1–3. Gemeint ist ein Grossneffe des Geschichtsschreibers Sallust. 50 Vgl. Carm. 1,24,10 f., wo Vergil um den verstorbenen Freund Quintilius Varus trauert. 51 Carm. 4,12,27 f. 52 Horaz widmete Hirpinus Quinctius sein Carm. 2,11 und wohl auch Epist. 1,16. Petrarca bezieht sich hier auf Carm. 2,11,9 ff. 53 Carm. 4,7 und Epist. 1,5. 54 Carm. 4,7,19–23. „Postumum“ sagt Petrarca; doch das Wort ist im zitierten Carmen nicht Eigenname, es meint bei Horaz einen Nachkommen und Erben, haeres. 55 Dum…Augustus statuis. Zu vergleichen ist wohl Carm. 3,3,9 ff. (Augustus aufgenommen unter die Himmlischen), vor allem auch der hymnische Gesang auf Augustus Carm. 4,14; denn Carm. 4,15 feiert die Pax, das Carmen saeculare dagegen feiert die Roma. Im folgenden Text fährt Petrarca fort mit der Aneinanderreihung solcher Umstandssätze mit dum, im Deutschen mit wenn wiedergegeben.

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56 Carm. 1,6,13 ff. Horaz deutet an, dass er als Lyriker nicht fähig ist, Mars gerecht zu werden, dass hierzu L. Varius Rufus, der Epiker, sich besser eignet. 57 Der Hinweis auf einen Triumphzug setzt sich aus verschiedenen Zitaten zusammen; vgl. Carm. 4,2,35; Carm. 4,14,51 (beidemal Nennung der Sygambrer, deren Überwindung zu feiern geplant, von Augustus aber untersagt wurde); Epod. 7,7 f. (hier wie in Carm. 4,2,33 ff. Triumph auf der via sacra) und Epod. 9,21 f. (Nennung der goldenen Wagen). 58 Zu Kleopatra vgl. Carm. 1,37,7. 21 (fatale monstrum) und 25. 59 Der Hirte ist Paris, der Helena entführt; vgl. Carm. 1,15,1,ff. 60 Ebenda. Dass Nereus weissagte, liest man wohl einzig bei Horaz. 61 Carm. 3,16,1–4. Danae, Tochter des Königs Akrisios von Argos; im Kerker gehütet, wurde von Zeus als einem Goldregen besucht. 62 Gemeint ist die Entführung der Europa durch Zeus in Gestalt eines Stiers; vgl. Carm. 3,27,25 ff.-57. 63 Epod. 6. Genannt wird da in Vers 14 der Bildhauer Bupalus, der den Dichter in einem Werk lächerlich machte, dann aber von diesem geschmäht wurde und darauf Selbstmord beging. Über einen Rezensenten Pantilius spottete Horaz Sat.1,10,78; über einen Sänger Demetrius ebenda Vers 90. Zu beachten ist Epist. 1,19 an Maecenas, wo Horaz zu einem heftigen Angriff auf Nachahmer ausholt und dann zur Selbstverteidigung übergeht. 64 Vgl. zu Zauberpraktiken einer unsittlichen Alten Canidia Epod. 3,8; Epod. 5,15 und 48; Epod. 17,6. vgl. auch Sat. 1,8,24 und 48; 2,1,48; und 2,8,95; von einem Ehebrecher Trebonius spricht Sat. 1,4,114; vgl. auch oben Anm. 39. 65 Lalage, ein munter plauderndes Mädchen; vgl. Carm. 1,22,10.23; Carm. 2,5,16. 66 Carm. 1,22,9 f. und 23; 2,5,16; Carm. 1,17,9. 67 Carm. 2,13,1 ff. und 3,8,7. 68 Petrarca sagt eolio turbine und verweist damit auf den Wind aiolos. Bei Horaz steht oft das Wort aeolius, das regelmässig auf Aeolien, genauer die Insel Lesbos deutet. 69 Vom Ruhen im Gras spricht z. B. Carm. 2,3,6 f., hier findet sich auch ein Hinweis auf den Bach Vers 12; auf Blumen Vers 13; vgl. auch zu plaudernden Bächen Carm. 3,13,16, zu Blumen für Maecenas Carm. 3,29,4. Rebenhügel und Weinkultur nennt Carm. 4,6,29 ff. 70 Vom Blumenpflücken in der Nähe eines Bachs hört man auch in Carm. 1,26,6 f.; vgl. Carm. 2,11,9 ff. und Andeutungen in Sat. 2,6,1–4; Epist. 1,14,10 ff.; Epist. 1,16, 1–16 71 Barbiton, ein Saiteninstrument aus Asien, tiefer gestimmt als das lateinische Gegenstück, auch eine Gesangsweise. Horaz verlangte die Verbindung dieser Weise mit der lateinischen: dic Latinum, barbite, carmen, so Carm. 1,32,3 f., jedoch auch das Umgekehrte; vgl. Carm. 3,26,4 und vgl. auch oben Anm.1. 72 Zum Vermögen, mit Liedern Sterne vom Himmel herabzuholen vgl. Epod. 17,5 und 78. 73 So frei nach lateinisch: per pelagi stagna reciproci. Die „Teiche“ (oder Becken) im hin- und herwogenden Meer deuten auf verschiedene Meere, die Horaz in manchen Gedichten nennt, z. B. auf das Karpatische, Ägäische, Kaspische, Jonische Meer, den Bosporus. 74 Vage Anlehnung an Carm. 1,3, wo von der Meerreise Vergils und den Gefahren zur See, von Monstren, Felsenriffen und von menschlicher Verwegenheit (Vers 25 audax omnia perpeti) die Rede ist; vgl. auch Hinweise auf einen Flug über die Welt Carm. 2,20. 75 Vgl. Carmen saeculare 9: Apoll auf dem Sonnenwagen: curru nitido. Als Sonnengott gilt auch Ianus, der Gott des Anfangs aller Dinge; an ihn hat Horaz vielleicht ebenfalls gedacht; vgl. Sat. 2,6,20 f. zu Ianus: Iane,…tu carminis esto / principium. 76 Die vier Hauptwinde Auster, Eurus, Aquilo, Notus und ihre Stürme auf dem Meer erwähnt Epod. 10. 77 Vielleicht sind die von Horaz oft genannten Syrten gemeint, vielleicht Inseln jenseits des römischen Reichs im Ozean.

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78 Die Stadt Antium an der Küste von Latien, mit langer Geschichte, bekannt für seine Villen, der Ort, wohin Coriolan im Kampf gegen Rom flüchtete, bei Horaz Kultort der Fortuna; vgl. Carm. 1,35 ein Gebet an Fortuna. 79 Im Lateinischen dulcis acerbitas, was sich auf Form wie Inhalt der Werke beziehen kann und auch soll; „süsse Bitterkeit“ lässt sich im Deutschen wegen des Versmasses leider nicht einfügen. 80 Vgl. Wilkins, Petr. corresp. 90. Selbstverständlich hat Petrarca die Verse zu verschiedenen Zeiten verbessert.

Fam. 24,11, an Publius Vergilius Maro, den heroischen Dichter und Fürsten der lateinischen Dichter.1 1. Huldigung an Vergil und Frage nach seinem Befinden. 10. Hinweis auf das Schicksal einiger Dichter. 22. Frage nach dem Sieg über das Totenreich. 30. Angaben über Verhältnisse in Neapel, Mantua und Rom. 40. Hinweise auf Petrarcas Spurensuche in der Gegend von Mantua. 51. Mitteilungen über das bleibende Ansehen der Werke Vergils. (Mantua am 19. Mai 1349/1350)

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Leuchte der Redekunst, der Lateiner zweite Verheissung,2 Ruhmvoller Maro sieh an, wie freut sich doch Mantua ewig,3 Dich zur grossen Zier Deiner Römer geboren zu haben! Welche Gegend der Welt oder welcher Kreis des Avernus4 Hält Dich fest? Sag, schlägt ein finstrer Apoll5 Dir die rauhe Leier? Ja dichten vielleicht Dir Worte die finsteren Schwestern?6 Oder streifst Du mit frommem7 Gesang durch elysische Wälder, Ehrst in der Unterwelt einen Helikon,8 herrlicher Sänger? Dass zum Spazierengehn Dein Freund Homer9 Dich begleitet? Einsam wandert Ihr wohl über Matten und preist Euren Phoebus,10 Orpheus, die ganze Schar der Dichter, mit Ausnahme jener, Die auf Selbstmordbefehlt mit williger Hand sich entleibten,11 Wie der Dichter Lucan es getan,12 der zu sterben bereit war, Als er dem mordenden Arzt die Ader zu öffnen nicht wehrte, (Nämlich aus Furcht vor schlimmerer Qual und schimpflichem Tode), Und wie Lucrez sich selber den Tod gab, als ihn Bedrohung Zwang, wie die Fama sagt, bald da bald dort zu verweilen.13 Wer Dein Gefährte ist, wie Du lebst, das möcht’ ich zu gerne Wissen, und hören, wie weit Deine Träume der Wahrheit entsprechen, Ob durch die elfenbeinerne Pforte14 Aeneas heraustrat, Ob auch vielleicht ein himmlisches Land des Friedens die Geister Bei sich vereint, wo ein freundliches Licht den Seligen lächelt, Und ob das Totenreich schon leer ist, die Hölle verödet,15 Weil aus gewaltiger Schlacht der Höchste als Sieger hervorging Und mit gezeichnetem Fuss die gottlose Schwelle zerstampfte,16 Dann mit gezeichneter Hand gar machtvoll die ewigen Riegel Brach, dass die Flügel der Tür mit Gekreisch in den Angeln sich drehten. Wissen möcht’ eben ich’s! Doch Du, wenn irgend im Stillen Neustens ein Schatten Dir naht, ich meine: von unserem Ufer, Dann vernimm dieses eine Wort, denn es spricht Dir vom Schicksal, Das drei Orte ereilt, die Du liebst, und drei Deiner Werke:

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Parthenope ist verwaist; es klagt um den König Roberto;17 Vieler Jahre Ertrag hat ein einziger Tag ihm vernichtet; Zweifel bedrücken das Volk; es fragt voller Angst nach der Zukunft.18 Frei von Schuld ist die Menge, doch hart ist die Horde der Frevler. Mantua sieht sich bedrängt von ewigen Kämpfen der Nachbarn;19 Selber von bester Art und gestärkt durch gütige Herrscher, Beugt es sich keinem Joch, wählt lieber aus eigenen Bürgern Seine Herren und spart sich dabei eine Herrschaft von aussen.20 Hier eben hab’ ich verfasst, was Du liest, hier die Musse gefunden, Die Deinem Land sich vermählt. Auf schattigen Wegen im Abseits21 Geh ich, und da, wo auch Du durch Wiesen zu schweifen gewohnt warst, Forsche ich eifrig hin und her, welchen Bach Du besuchtest,22 Welche Buchten am See23 und schattenspendende Bäume, Welche Winkel im Hain und Ruheplätze am Hügel, Wo Du Dich müde gesetzt, vielleicht auf grünendem Rasen, Oder Dich hingelegt am Saum einer lieblichen Quelle. Denn was immer sich zeigt, kann mir Deine Gegenwart schenken! Deiner Heimat Geschick und wie gross Deiner Grabstätte Frieden, Hab’ ich genannt. Nun zu Rom, unsrer Mutter! Verzichte aufs Fragen! Glücklicher ist, wer nichts davon weiss. Etwas Besseres höre! Öffne Dein Ohr und vernimm vom glänzenden Ruhm Deiner Werke: Tityrus spielt noch als Greis auf der Hirtenflöte, der dünnen,24 Nütze nur Du den geviertelten Pflock, des freut sich Dein Gütchen!25 Selbst Dein Aeneas lebt, und soweit sich die Erde erstrecke, Findet er Sänger und Lob. Zwar Dich, der den Helden emporhob Kraftvoll zur Sternenwelt,26 Dich höhnte der ewig gekränkte Tod und pochte auf Recht. Auch drückte den armen Aeneas27 Schwerstes Los, weil Dein eigener Spruch ihn zum Sterben verdammte!28 Doch des Augustus Huld hat ihn, den fürs Feuer Bestimmten, Zweitem Brand entrissen! Von Dir, seinem sterbenden Freunde, Liess er sich nicht verwirren, weil längst Deine Sinne sich trübten! Deinen letzten Wunsch missachtet zu haben, des lobt ihn Jedes Jahrhundert. Doch Du lebe wohl, mein Lieber, und beide Greise von Lydien und Askra,29 die grüss’ mir und alle die Unsern! (Mantua, am 19. Mai 1349/1350)30

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Anmerkungen * Rossi bezeichnet die erste Verszeile als die dritte, weil er die Überschrift des Briefes mitrechnet. Seine Zählung geht also unserer Zählung immer voraus, also sein Text hintennach. 1 Beste Quellen zu seinem Leben sind die Vitae des Aelius Donatus, der Suetons Vita Vergils überarbeitete und um Zusätze vermehrte, dann des Servius (Sergius), geb.ca. 370 n. Chr. und des Valerius Probus, 2. Hälfte 1. Jh. Vgl. Personenreg. 2 Vgl. die Ausführungen Petrarcas über die beiden Fürsten der lateinischen Sprachkunst, Cicero und Vergil in Fam. 24,4,5 ff. 3 Das Grabepigramm des Dichters hält fest: Mantua me genuit. Vergil wurde 15. Okt 70 v. Chr. in Andes (heute Piètole?), nahe bei Mantua, geboren. Er starb in Brindisi, als er eine Reise nach Griechenland plante, am 21. September 19, und fand sein Grab in Neapel. 4 Der genannte Kratersee, der Avernus in der Nähe von Baiae, galt als Eingangspforte zur Unterwelt, steht hier aber für die Unterwelt selber. 5 Petrarca weiss, dass Apollon bei seiner Vielgestalt nicht allein Herr des Lichts, sondern auch der Unterwelt und der Toten ist, der die Sänger düstere Weissagungen lehrt. 6 Es sind die drei Parzen gemeint, die den Lebensfaden spinnen, erhalten und abschneiden. 7 Im folgenden Vers bezieht sich Petrarca immer wieder auf Wörter und Vorstellungen aus dem 6. Gesang der Aeneis, wo Aeneas die Unterwelt besucht (Aen. 6,564 ff.). Er spricht von frommen Sängern, die auf elysischen Matten Lieder singen (Aen. 6,637 ff. und 644. 674) 8 Zum Musenberg Helikon auf der Erde gäbe es also einen Helikon auch in der Unterwelt. 9 Grosses Misstrauen Homers gegenüber Vergil fingiert Petrarca in Fam. 24,12,15. Die Verehrung Vergils für Homer und seine bewusste Auseinandersetzung mit homerischen Vorstellungen, die man als Nachahmungen pries oder verurteilte, waren allgemein bekannt. 10 Vgl. Aen. 6,662: pii vates et Phoebo digna locuti. 11 Über Selbstmörder in der Unterwelt spricht Aen. 6,430–437. 12 Lucanus, Verfasser der Pharsalia, Neffe des Philosophen Seneca, gab sich 65 auf Befehl Neros den Tod, nicht durch Gift, sondern durch Verbluten. Vgl. Personenreg. 13 Von Lucretius, dem Verfasser des Werks De rerum natura, ist nicht bekannt, wo er geboren wurde, auch nicht, wo er lebte und starb. Vgl. Sueton. De poetis. Sein Todesjahr ist 55 v. Chr. Dass er zeitweise geisteskrank gewesen sei und mit 44 Jahren Selbstmord begangen habe, berichtete Hieronymus In chronicon Eusebii; diese Nachricht ist unzuverlässig; vgl. K.Ziegler, Hermes 71,1936,421 ff. 14 Von zwei Pforten spricht Vergil in der Aeneis am Ende seines 6. Buches Vers 897 ff. Eine aus Horn entlässt Träume, die der Wirklichkeit entsprechen, eine aus Elfenbein erzeugt phantastische Träume. 15 In den folgenden Versen erinnert Petrarca an die im Mittelalter oft in Dichtung und Bild dargestellte und in der Liturgie der Karwoche dramatisch berichtete Höllenfahrt Christi. Er kommt mit der Siegesfahne an die Höllentüre als Rex gloriae, als der Lebendige, der den Tod überwunden hat; seine Wunden an Händen und Füssen sind Merkmale seines Sieges und bezeugen den erlittenen Kreuzestod. Satan kann ihm nicht widerstehen; durch die aufgebrochene Türe strömen die Toten heraus; darauf ist die Hölle leer. Vgl. Ps. 23,7,9: Attollite portas etc. 16 Die Wundmale sind Beweis für die Überwindung des Todes. 17 König Roberto, gestorben 1343; vgl. Personenreg.(dort Verschreiben beim Todesdatum). 18 Zu den Übelständen in Neapel vgl. Fam. 5,1 (Tod Robertos), 5,3 (Hofintrigen), 5,6 (Verwilderung der Gesellschaft Neapels), 6,5 (Ermordung des Königs Andrea), 7,1 (Bedrohung durch Ungarn), 11,13 und 12,12 (Kämpfe um die Königsmacht), 12,16 (Parteiungen unter Hofleuten), 15,7,9 (allgemeine Unruhen), 23,18,5 (Versagen des neuen Königs). 19 Schwer waren die Spannungen zwischen dem mächtig ausgreifenden Mailand und einer immer wieder neu zusammengesetzten antiviscontischen Städteliga. Ihr gehörte Mantua oftmals an. Ein Konflikt mit den Skaligern von Verona entstand 1345. Aus dem Streit um Pavia (vgl. Fam. 19,18) konn-

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ten sich die Gonzaga nicht völlig heraushalten, auch nicht aus dem von Kardinal Albornoz geführten Krieg um Gebiete des Kirchenstaates (Bologna). Aber gegen äussere Feinde baute die Stadt ein hervorragendes Bollwerk. Im Innern waren die Bürgerunruhen im Vergleich zu anderen Orten bescheiden. Mit den Gonzaga war Petrarca seit seiner Jugend freundschaftlich verbunden. Sie selber bauten ihre Herrschaft im Innern aus, nämlich als Volkskapitäne; vgl. DBI 57,729 ff. Ihre Stadtherrschaft begann 1328. Bis zum Tod von Luigi I. Gonzaga war die Herrschaft unter ihm und drei Söhnen Guido, Luigi, Filippino und drei Neffen geteilt. Ein Brief von Petrarca aus der Zeit vor 1339 an Guido ist Fam. 3,11. Um 1350 begann eine Krise unter den Brüdern. 1354 erhielten sie von Karl IV. das Amt von kaiserlichen Vikaren für Mantua und Reggio Emilia, 1366 teilte der Kaiser ihre Herrschaft in zwei Teile Mantua und Reggio. Vergil gibt in den Georgica, kaum dass er 2,198 Mantua erwähnt hat, verschiedene Farben des Bodens an; er sagte fast schwarz, nigra fere; vgl. 2,178 und 2,203, 2,55, was dem fuscus bei Petrarca entspricht; auch heisst es dort, der Boden sei schwer wie Pech 2,250. Es folgen Hinweise auf grosse Fruchtbarkeit. Von einer Sumpflandschaft rings um Mantua sprechen schon antike Autoren, und Petrarca gibt davon einen Begriff in Fam. 9,10, wo er einer Reise zu Pferd von Mantua nach Luzzara gedenkt. Er konnte zu jeder Jahreszeit Tümpeln und kleinen Seen, Bächen und schmalen Flüssen begegnen. Zu nennen sind hier nur die von Vergil in den Georgica aufgeführten wichtigsten; der Mincio, der Mantua durchfliesst (3,15), der Gardasee (als „Vater“ des Mincio) und der Comersee (Benacus und Larius 2,159 f.), etwa noch der Po (Eridanos 1,482). Am Gardasee oder am See, den der Mincio bei Mantua bildet? Vgl. Ecl. 1,1 ff. der Hirte Tityrus spielt „tenui…avena“. Als Greis spielt er noch immer, nämlich viele hunderte Jahre nach der Entstehung des Gedichts. Quadrifidasque sudes heisst es in Georg. 2,25; Petrarca erinnert an eine Methode der Pflanzung. Gemeint ist eben der Dichter der Aeneis. Dass Vergil mit einem Übermass an Eifer seinen Aeneas verherrlicht habe, sagt Petrarca deutlicher an anderer Stelle; vgl. Fam. 1,2,22. Gemeint ist das Epos Aeneis. Die Vergilsviten von Sergius und Probus (vgl. oben Anm. 1) berichten, dass Vergil bei seinem Tod die Aeneis verbrennen wollte und Augustus das verhinderte. Zwar fand die Aeneis sogleich allgemeine Anerkennung, aber noch Kaiser Caligula (37–41) soll daran gedacht haben, Vergil, wie übrigens auch Livius, als minderwertig aus den Bibliotheken zu entfernen; vgl. Suet. Calig. 34,4. Bei Petrarca steht für lydisch das ältere Wort maeonius, das im Deutschen wegen des Versmasses gemieden wird. Mit dem maeonischen Greis ist Homer gemeint. Unter einem maeonischen Sänger versteht auch Horaz Carm. 1,6,2 und 4,9,5 eindeutig Homer, und ähnlich sprechen andere Dichter von Homer, so Ovid, z. B. in Am. 1,15,9 oder Trist. 6,21. Als Greis bezeichnet ihn Ovid in Ars am. 2,4, und fügt ihm da gleich den askreischen Greis bei. Dieser zweite Greis ist Hesiod. denn dieser stammte aus Askra in Boiotien (er lebte um 700). Vergil deutet auf ihn hin in Ecl. 6,70 und Georg. 2,176. Das Eigenschaftswort ascreus stand oft auch für ländlich, einfach. Vgl. Wilkins, Petr. Corresp. 90.

Fam. 24,12, Antwort auf einen langen inhaltsreichen Brief, abgesandt unter dem Namen des Dichters Homer und bei den Unterirdischen datiert.1 1. Petrarca entschuldigt sein bisheriges Schweigen. 2. Auf Homer hat er sehnsüchtig gewartet. 3. Unter den Lateinern sind Cicero und Vergil die Fürsten der Sprachkunst. 4. Ein Urteil des Hieronymus über Homer teilt Petrarca nicht mehr. 6. Er dankt Homer für seine Belehrungen. 15. Doch seine Klagen, besonders die über Nachahmer, hält er für falsch. 18. Er verteidigt Vergil und fordert Glauben. 28. Dass es in der modernen Zeit bloss wenige Verehrer Homers gibt, darf diesen nicht bekümmern. 31. Petrarca deutet an, wo es solche gibt. 38. Gar nicht klagen soll Homer, dass er in Florenz festgehalten wird. Hier findet er die beste Unterkunft. 40. Hier werden seine Werke übersetzt. Mailand, am 9. Oktober 1360.

1. Francesco grüsst Homer, den Fürsten der griechischen Muse. Schon früher hatte ich im Sinn, Dich in einem Schreiben anzusprechen, und ich hätte es getan, wenn mir zum Gespräch nur nicht die Sprache gefehlt hätte. Denn ich selber war nicht glücklich genug, das Griechische zu erlernen,2 während Du das Lateinische, dessen Du mit Hilfe unserer Schriftsteller Dich einst zu bedienen pflegtest, infolge einer Nachlässigkeit der späteren offenbar wieder verlernt hast.3 Ausgeschlossen von hier wie dort, bin ich also verstummt. Ein einziger in unserem Zeitalter wird Dich erneut ins Lateinische übertragen, und beim Herkules, Dein Ulixes wurde von seiner Penelope nicht sehnsüchtiger und nicht länger herbeigewünscht als Du von mir.4 2. Schon kam mir die Hoffnung ganz allmählich abhanden; denn ausser einigen Deiner Buchanfänge, dank denen ich von meinem ersehnten Freund in der Ferne etwas wie eine zuckende Braue oder die Spitze des flatternden Haarschopfs5 erkannte, begegnete mir an lateinischen Übersetzungen nichts mehr; und schliesslich durfte ich auch nichts mehr zu finden hoffen, was Dich je aus der Nähe zu betrachten erlaubt hätte. Denn jenes Schriftchen, das allgemein als das Deine gilt, obwohl nicht feststeht, von wem es stammt, enthält nur Auszüge, wird Dir zugeschrieben, ist aber nicht Dein Werk. Immerhin wird uns der oben Erwähnte, wenn er am Leben bleibt, Dich in Deiner Vollständigkeit übermitteln; ja, er hat das Werk schon begonnen, damit wir nicht allein die herrlichen Früchte Deines göttlichen Werkes, sondern auch Deine reizvollen Plaudereien geniessen können.6 3. Von einer einzigen unter ihnen ist mir kürzlich in lateinischen Gefässen der griechische Wohlgeschmack kredenzt worden, und sogleich habe ich gespürt, dass eine kraftvolle und lebhafte Begabung einfach alles vermag. Zwar hat Seneca erklärt,7 Cicero sei in seinen Gedichten von seiner Beredsamkeit im Stich gelassen worden und einem Vergil sei in der ungebundenen Sprache die glückliche Erfindungsgabe entglitten (dabei war der eine der beiden ein Deuter vieler Deiner Aussagen, der andere in mehrerer Hinsicht Dein Nachahmer, und jeder zudem Weg-

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weiser in der lateinischen Redekunst), doch nehme ich an, von den beiden werde jeder nur an sich und nicht am andern gemessen und jeder nur in sich selber für verschieden und ungleich gehalten. Ich habe ja von Cicero recht geschickte Verse und von Vergil recht angenehme Episteln in Prosa gelesen.8 4. Was aber Dich angeht, mache ich folgende Erfahrung: Deine Dichtung ist Dein eigenes und wichtigstes Werk, und indem ich einst von Hieronymus, einem unserer hervorragenden Sprachgelehrten, eine Meinung übernahm, schrieb ich, mir scheine, indem man Dich wörtlich in unsere Sprache, aber auch in die Prosa Deiner eigenen übertragen habe, seist Du „aus einem höchst sprachgewandten Dichter ein fast sprachunkundiger geworden.“9 Heute muss ich dagegen zu meiner Verwunderung feststellen, dass Du sowohl in Prosa als auch auf lateinisch gefällst. 5. Soviel habe ich vorausgeschickt, damit niemand entrüstet sei, wenn ich Vergil in gebundener Sprache, Dich hingegen in ungebundener anspreche. Jenen forderte ich heraus, Dir hingegen antworte ich;10 ebenso spreche ich zu jenem in der ihm eigenen Sprache, zu Dir nicht in Deiner alten, aber in der neuen Deines mir zugesandten Briefes, das heisst in der mir alltäglichen, Dir aber eher ungewohnten. Doch wie dürfte ich sagen, dass ich zu Euch beiden „spreche“? Ein Kreischen ist das, was wer immer er sei neben Euch äussert. Allzu hoch ragt Ihr über den Menschen hinaus; und mit Euren Häuptern geht ihr in Wolken dahin. Doch selig ist mir zumute, wenn ich wie ein Kleinkind11 vor meinen sprachgewaltigen Vätern stammeln darf. Und über den Stil nur soviel! Ich komme zum Inhalt. 6. Du klagst über bestimmte Dinge, obgleich Du beinah über alle mit sehr gutem Recht zu klagen hättest. Denn bitte, was gäbe es im Bereich der Menschen, das berechtigte Klagen nicht zuliesse? Ausser man könnte behaupten, dass Beschwerden, wo sie unwirksam werden, gewissermassen aufhören, berechtigt zu sein. Sie hätten zwar noch immer einen gerechten Grund, aber keine Auswirkung, die ja darin bestehen müsste, dass das Verurteilen einer vergangenen Sache der Gegenwart diene und für die Zukunft vorsorge. Da aber die Klagen auch ohne so geartete Wirkung bisweilen bedrückte Seelen erleichtern, brauchen sie nicht für durchaus überflüssig zu gelten. 7. An solchen Klagen also, hochangesehener Mann, hast Du nun Überfluss und hast mit ihnen eine lange Epistel verfertigt, die ich mir freilich noch länger wünschte. Denn nichts empfindet man als lang, ausser es verursache Überdruss.12 Doch um endlich nach Gutdünken auf Einzelnes einzugehen, hat sich meine wissensdurstige und lernbegierige Seele mehr als sich glauben lässt gefreut, dass Du von Deinen Lehrern geschrieben hast; mir nämlich, so gestehe ich, waren sie bisher unbekannt, sind mir aber von jetzt an – im Hinblick auf die grossartige Leistung ihres bedeutenden Schülers – verehrungswürdig. 8. Weiter freut mich, dass Du über den Ursprung der Dichtkunst, den so lange Zeit immer neu gesuchten, geschrieben hast, dann über die ältesten Verehrer der Musen, welchen Du ausser

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den bekannten Anwohnern des Helikon auch Kadmos, den Sohn des Agenor,13 einen gewissen Herkules, von dem ich nicht weiss, ob er der Alkide ist,14 anfügtest; ebenso über Dein Vaterland, von dem es bei uns viele nebulöse Vorstellungen gab und bei Euch, wie ich sehe, nicht viel Klares, 9. schliesslich über Studienreisen nach Phönizien und Ägypten, wohin einige Jahrhunderte nach Dir die berühmten Philosophen Pythagoras und Platon zogen, ja auch der Gesetzgeber der Athener, jener hochgelehrte Greis Solon, ein später Verehrer der Musen15 (er wird, da er Dich zu Lebzeiten bewunderte, nach seinem Ableben gewiss Dein sehr vertrauter Freund geworden sein); endlich über die Zahl Deiner Bücher, von denen ein guter Teil sogar den Italern, Deinen Nachbarn und Verwandten, ganz unbekannt ist. 10. Denn die Barbaren da, von denen wir beide rings umschlossen sind – und würden wir doch nicht bloss durch die hochragenden Alpen, sondern durch das ganze Meer, so weit es sich dehnt, von ihnen geschieden!16 –, sie haben nicht bloss von Deinen Büchern, nein auch von Deinem Namen kaum je etwas vernommen! Woraus Du ersehen magst, was das bisschen Ehre der Sterblichen wert ist, nach der wir keuchend vor Anstrengung jagen. 11. Unter diese sehr erfreulichen Angaben hast Du die sehr bittere vom Verlust eben der genannten Bücher gemischt. Weh mir und dreimal, ja tausendmal Weh, dass vieles zugrunde geht, richtiger, dass so gar nichts erhalten bleibt von allem, was unter der veränderlichen Sonne der blinde Eifer hervorbringt! Oh Mühen und Sorgen der Menschen! Oh kurze, ja verlorene Zeit! Oh Hoffart und Hochmut für ein Nichts! Was sind wir, was tun wir, was hoffen wir? Wer soll dem zweifelhaften Licht noch vertrauen? 12. Die herrlichste Sonne der Beredsamkeit erleidet eine Finsternis! Wer wagte da zu klagen, es gehe ihm etwas verloren? Oder wer wagte sich noch zu versprechen, ihm werde von all seinen Studien etwas verbleiben? Ein beträchtlicher Teil der Nachtarbeit Homers ist zugrunde gegangen, nicht so sehr für uns – denn niemand verliert, was er niemals besass –, als für die Griechen, die in keiner Sache hinter uns nachhinkten, uns in der Pflege literarischer Werke an Faulheit übertrafen und viele Bücher Homers – etwa wie ebenso viele Strahlen des zweiten17 ihrer beiden Leuchten – verkommen liessen, aber als Nichtsnutze in all ihrer Blindheit noch prahlen, sie seien es, die jenes Himmerlslicht besassen. 13. Übrigens erregte den Leser und liess ihn aufhorchen, was Du von Deinem Ende berichtet hast.18 Obwohl sich auch bei den Unsern ein bestimmtes Gerücht von Deinem Sterben verbreitet hat und ich, gestützt auf eine andere Quelle ein Gerede darüber festhielt (freilich unter Hinweis auf seine Unsicherheit), war mir doch lieb und ist es mit Verlaub auch noch heute, von Dir (und übrigens auch von Sophokles) etwas Besseres zu vermuten, als dass verworrene Leidenschaften, Seelenschmerz und Lachlust über so göttliche Talente so vieles vermocht hätten. 14. Denn von Philemons Ende,19 dem „lächerlichen“ (wenn wir dem Gerede glauben), haben wir nun Ernsthafteres und Glaubwürdigeres vernommen; er sei nämlich

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nicht vor lauter Gelächter, wie man zu sagen pflegte, sondern erschöpft von der Anstrengung einer tiefgründigen Betrachtung verschieden.20 Nun aber wende ich mich erneut einzig Dir und Deinem Schicksal zu, das Du recht wortreich und schwer beklagt hast, und bitte Dich: Tröste Dein Herz! Und Du wirst es tun, das weiss ich, wenn Du Deine Leidenschaften verscheuchst und zu Dir selber zurückkehrst. 15. Viel geklagt hast Du über Deine Nachahmer, viel über Undankbare, viel über unbedarfte Lästerer, und Du hättest in allen Punkten recht, wenn Du als einziger daran leiden müsstest und wenn nicht allgemein menschlich, ja geradezu alltäglich wäre, was Dich drückt. Du solltest Dich also beruhigen, denn Du bist in der Zahl zwar der Höchste, doch nicht der Eine. Und was soll ich über die Nachahmung sagen? Als Du erkanntest, welche Höhe Du auf den Flügeln Deines Geistes erreichen konntest, hättest Du vorausahnen sollen, dass es Dir an Nachahmern niemals fehlen werde. Ein Grund zur Freude ist’s, einer zu sein, dem viele gleich werden wollten, ohne das es viele vermögen. 16. Warum denn freust gerade Du Dich nicht? Bist ja des ersten Platzes allezeit sicher! Ich dagegen, der Geringste der Menschen, würde mich freuen und, damit nicht genug, würde ich mich auch rühmen, ein solcher Kerl zu werden, dass einer komme (sofern denn wirklich einer kommt), der mich nachzuahmen und ein Dichter zu werden begehrte. Ja sogar jubeln wollte ich, wenn meine Nachahmer gar fähig wären, mich zu übertreffen. Deshalb bitte ich, freilich nicht jenen Deinen Apoll, sondern den meinen, den wahren Gott der Verstandeskraft, es möge jeder beliebige, der es für wert hält, mir nachzufolgen, mit geringer Anstrengung den Vorangehenden einholen, ja sogar überholen. 17. Ich würde nämlich im Geheimen glauben, es gereiche mir zum Guten, zu Ruhm und Glück, wenn aus der Schar meiner Freunde – denn einzig ein Liebender will nachahmen – viele mir ebenbürtig würden. Und ich wäre noch um einiges glücklicher, wenn ich unter ihnen überlegene fände oder wenn aus der Schar der Nachahmer sogar jeder zum Sieger würde. Wenn ein leiblicher Vater von seinem Sohn erwartet, er möge ihn übertreffen, was soll da ein geistiger Vater erwarten? 18. Du, der einen Grösseren und einen Sieger nicht zu fürchten braucht, solltest also Deine Nachahmer gleichmütig ertragen. Ob allerdings Du oder jener andere, über den Du manche Klage vorbringst, nämlich ob Du oder Vergil, der Überlegene sei, das ist im Buch der Saturnalien eine hängige Frage,21 und ausserdem behaupten gewisse der Unsern, zwischen Euch „sei über die Palme nichts entschieden“,22 während wieder andere den sicheren Sieg jenem Genannten zusprechen. Das füge ich nicht darum an, weil ich einer Meinung zuneigte oder widerspräche, vielmehr um Dir bekannt zu machen, was und wie verschieden die Nachwelt von Dir denke. Und eben deshalb ermahne ich mich, bevor ich abschweife, Vergil, von dem Flaccus23 sagte, „keine reinere Seele habe die Erde getragen,“ vor Dir, Du unser bester Lehrmeister zu entschuldigen.

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19. Denn wirklich, was Du von seiner Nachahmung gesagt hast, ist nicht allein richtig, sondern auch ganz allgemein bekannt, wie übrigens vieles andere mehr, was Du – ich weiss nicht ob aus Anstand oder Bescheidenheit – verschwiegen hast. All das steht der Reihe nach in eben den Saturnalien,24 wo allerdings auch ein Scherz Vergils nicht fehlt. Er hat ja, als seine Neider ihm vorwarfen, er habe Dir Deine Verse gestohlen, schlagfertig geantwortet, es bedürfe gewaltiger Kräfte, einem Herkules die Keule zu entreissen. Und natürlich zweifle ich nicht, dass Du den versteckten Witz dieser Rede heraus hörst. 20. Damit ich indessen nicht nach der Art vieler Leute den Mann, den zu verteidigen ich vorgebe, am Ende beschuldige, erkläre ich rundheraus alles, was Du sagst, für richtig. Doch vernehme ich bloss mit halbem Ohr jene Beschwerde, er, der sich an Deiner Hinterlassenschaft tüchtig bereicherte, habe Deinen Namen nirgends erwähnt, und zwar im Gegensatz zu Lucan,25 der, wie Du richtig bemerkst, „an die Ruhmestaten des Sängers aus Smyrna“26 in einer Schilderung dankbar erinnerte. Man wird Deine Klage gern unterstützen: Auch Flaccus hat oft Deiner gedacht und stets grossartig. An einer Stelle hat er Dich über die Philosophen hinaus erhoben und an einer anderen Dir den ersten Sitz unter den Dichtern angewiesen.27 Deiner gedachten auch Naso, Iuvenal und Statius.28 Aber wozu gedenke ich denn der Gedenkenden? Fast keiner der Unsern hat Deiner nicht gedacht! 21. „Was hilft’s ?“ wirst Du fragen. „Just von diesem einen erleide ich Undank, von dem ich besonderen Dank verdiente!“ – Bevor ich Dir antworte, will ich der Klage noch etwas beifügen. Niemand nehme an, Vergil habe sich allen gegenüber gleich überheblich betragen. Er hat an Musaios, Linos und Orpheus29 nicht bloss einmal erinnert, und was bescheidener war: Er hat sowohl Hesiodos aus Askra wie auch den Poeten Theokritos aus Syrakus30 und, was ihm schliesslich der Neid, wäre er von ihm beseelt gewesen, verwehrt hätte, er hat Varus und Gallus31 und andere Zeitgenossen mit Namen genannt. 22. Und weiter? Scheint Dir, ich hätte die Klage, die ich entkräften oder entwerten wollte, gar vergrössert? Gewiss, sofern ich nicht etwas anfüge. Aber man hat auf eine Begründung zu warten und alles, was immer man tut, genau zu überlegen, besonders wenn man ein Urteil fällt. Da nämlich Vergil in den Hirtengedichten Theokrit und in seinem Buch vom Landbau Hesiod zum Führer gewann, hat er jeden an seinem Ort eingefügt.32 „Und weshalb“, so fragst Du, „hat er mich, den dritten Führer, den im heroischen Gesang, an keiner Stelle des Werkes aufgeführt?“ Er hätte es getan, glaube mir, er der allermildeste und ehrerbietigste unter den Sterblichen, von dem, wie wir wissen, geschrieben wurde,33„bewährt in seinem ganzen Leben.“ Hätte es nur der frevelnde Tod nicht verhindert! 23. Er hat andere, wo es sich ergab und wie es sich fügte, genannt; für Dich aber, dem er weit mehr verdankte, hat er als einzigem nicht einen zufälligen Platz, sondern einen ganz bestimmten nach bestimmter Überlegung ausgewählt und bereitgehalten. Und welchen, meinst Du, wenn nicht den hervor-

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ragendsten unter allen und den weitaus sichtbarsten! Das Ende seines ruhmvollen Werkes wartete er ab, um Dich ebenda als seinen Führer mit Namen zu nennen und Dich mit voll tönenden Versen bis zu den Sternen zu erheben. Wo, bitte, liesse ein Führer sich würdiger loben als am Ende des Weges? Vieles also gibt es, was Du mit gutem Grund gegen den frühen Tod des hoch Verdienten vorbringen könntest; auch Italien hat vieles so gut wie Du, doch nichts gegenüber dem Freund persönlich. 24. Und dass es sich so verhält, kannst Du an einem naheliegenden und ähnlichen Beispiel ablesen. Denn wie Vergilius Dich, so hat Statius Papinius eben ihn nachgeahmt. Diesen habe ich oben erwähnt,34 und er war ein Mann, der sowohl für seine Begabung wie auch für seinen edlen Anstand hoch geschätzt war. Auch er hat spontan einzig am Ende seines dichterischen Weges seinem Führer ein Denkmal gesetzt. Zwar hat er an anderer Stelle – eher versteckt – von sich gesagt, er sei jenem stilistisch nicht gewachsen, aber dennoch hat er einzig am Ende seines Werkes in guten Treuen die Schuld seines dankbaren Herzens der hochverdienten Aeneis bezahlt.35 25. Wäre auch ihm der Tod zuvorgekommen, hätte er von Vergil geschwiegen wie dieser von Dir. Dass es sich verhalte, wie ich es darlege, davon überzeuge Dich, bitte! Ganz gewiss ist es so (täuscht mich meine Beobachtung nicht), und wäre es anders, sollte man im Zweifelsfall die freundlichere Auffassung vorziehen. Und soviel sei zur Entschuldigung Vergils für die grösseren Werke gesagt; denn wenn Du Deine Augen jenen zuwendest, die man „jugendliche Spielereien“ nennt, nämlich den frühesten Schriftchen des Jünglings, entdeckst Du eben da Deinen Namen.36 26. Bleibt mir noch, die über den ganzen Korpus Deines Briefes37 zerstreuten Bruchstücke von Beschwerden zusammenzuraffen. Dich schmerzt, dass Deine Nachahmer Dich zerrissen haben. Doch das musste sein, weil niemand die nötige Geisteskraft für Dein Gesamtwerk aufbringen konnte. Du bist auch entrüstet, dass die mit Beutestücken Bekleideten Dich, den Beraubten, verspotten. Das aber ist üblich. Niemand kann so recht undankbar sein, hat er nicht zuvor eine beträchtliche Wohltat empfangen. 27. Ebenso betrübst Du Dich, weil Dein Name, der bei alten Juristen und Ärzten in hohen Ehren stand, den Nachkommenden verächtlich ist, und Du übersiehst die Ursache: Alle modernen sind den früheren ja völlig unähnlich; und wären sie ähnlich, würden sie das selbe verehren und lieben, was jene. Lass also fahren die Entrüstung, lass fahren den Schmerz! Die schönste Hoffnung richte sich auf! Eine Erstlingsfrucht der hohen Gesinnung und Tatkraft ist’s, Ungebildeten und Schlechten zu missfallen. So herrlich strahlt die Stirn Deiner geistigen Macht, dass die Heerschar der Triefäugigen sie nicht erträgt. Du erfährst eben das, was die Sonne, der es nicht Schande, vielmehr Ehre einträgt, wenn schwache Augen und Nachtvögel sie fliehen. 28. Für die Alten wie für gewisse Moderne, in denen wenigstens ein kleiner Funke einstiger Geistesart lebt, bist Du nicht ein bloss heiliger Philosoph, wie Du selber sagst, sondern wie ich sagte, dem Philoso-

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phen hoch überlegen,38 weil Du die herrlichste Philosophie in den schmucksten und zartesten Schleier gehüllt hast.39 Für wen Du bei menschlichen Ungeheuern gehalten wirst, kümmere Dich nicht! Wünsche vielmehr, jenen nicht zu gefallen, denen zu missfallen die erste Stufe des Ruhmes, und denen unbekannt zu sein, die nächste Stufe bedeutet. 29. Befreie Dich bitte von Sorge und Trauer und wende Dich zurück zu den elysischen Feldern, zu Deinem ältesten und Dir gebührenden Sitz, von dem Dich, wie Du glaubst, solche Nichtsnutze verjagten. Es schickt sich nicht für einen Weisen, sich durch Beleidigungen der Dummköpfe geschlagen zu geben, denn was würde sonst geschehen und wie sähe das Ende des Übels dann aus? Sagt doch jener hebräische Weise40 vollkommen wahr, dass „die Zahl der Toren unendlich ist,“ und sind doch alle Dörfer, Häuser und Plätze darin einig, dass etwas Richtigeres gar nicht gesagt werden kann. 30. Etwas tönte nun freilich in meinem Ohr wie Scherz und wahrhaft wie köstlicher Witz, indem Du über etwas aufs heftigste klagst, weil einem bitteren Gaumen und Magen sich eben auch das Süsse in Bitteres verwandelt. Du also weinst – worüber Du auch lachen könntest –, weil unser gemeinsamer Freund41 (den Du zu einem Thessalier machst und den ich für einen Byzantiner hielt), Dich gezwungen habe, in den Mauern meiner Vaterstadt Florenz wie ein Fremder oder, wie Du gar meinst, wie ein Verbannter zu leben! Dass jener in grösster Treue und in grösster Liebe zu Dir gehandelt hat und noch handelt, das nimm für sicher! Und genau deshalb wird er allen Freunden Deines Namens, deren es zwar nur wenige, aber immerhin noch einige gibt, immer liebenswerter. 31. Schau also, ob Du ein Recht hast, auf ihn zornig zu sein, während doch wir alle, die Dich lieben, in Deinem und in unserem Namen ihm danken, weil er Dich (den man uns und den Musen Ausoniens einst raubte) zurückbringen wird, sofern irgend ein Geschick seinem Vorhaben günstig ist. Und dass das Tal von Fiesole und die Ufer des Arno Dir nicht mehr als drei Freunde beschert haben, das wundere Dich nicht länger. Es ist genug, es ist viel, es ist mehr, als ich hoffte, wenn man in meiner gewinnsüchtigen Vaterstadt drei musische Geister gefunden hat.42 32. Und sei nicht verzagt! Die Stadt ist gross und volkreich; einen vierten wirst Du entdecken, wenn Du suchst; einen fünften werde ich beifügen; er verdient es, mit dem Lorbeer aus dem Peneios- und Alpheus-Tal ist er bekränzt;43 wobei ich freilich nicht weiss, wie es kam, dass jenes Babylon jenseits der Alpen ihn uns geraubt hat.44 Scheint Dir aber wenig zu sein, wenn fünf Männer dieser Art zur einen und selben Zeit in einer einzigen Stadt zusammenkamen? Suche das anderswo! Dein Bologna, das Du ersehnst, ist zwar eine umfangreiche Gaststätte für Studierende; aber schüttle die Stadt nur tüchtig aus:45 Sie hat einen einzigen!46 Verona hat zwei, Sulmona47 einen und Mantua wiederum einen, wenn ihn der Himmel nicht von der Erde genommen hat. Deinen Feldzeichen ist er jedenfalls entlaufen und zu denen des Ptolemaios übergegangen.48 33. Und Rom, das Haupt der Welt! Sonderbar, dass es abgesehen von einem

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einzigen Einwohner dieser Art ausgeschöpft ist.49 Perugia hat einen geduldet; der könnte noch was werden, liesse er sich nur nicht gehen! Doch er hat nicht allein dem Parnass, sondern auch schon dem Apennin und den Alpen den Rücken gekehrt, pflügt nun mit seiner Feder gewinnbringendes Papier50 und streift als alter Mann durch Spanien. Andere Städte haben andere beherbergt; aber alle, die ich dort kannte, sind von unserem vergänglichen Wohnort in jene allen gemeinsame und ewige Stadt übergesiedelt. 34. Nun aber begreifst Du, was ich möchte. Halte ein, Dich über den Freund zu beklagen, weil er Dich in ein Land geführt habe, das heute nur von wenigen Liebhabern und Verehrern bewohnt sei; denn wenn da ihrer wenige sind, so doch ihrer mehr als anderswo. Oder weisst Du etwa nicht, wie ungemein selten diese Art von Menschen jederzeit auch bei Euch war? In unserem Jahrhundert ist dieser unser Freund, es sei denn ich täusche mich, schon in ganz Griechenland der einzige. 35. Ein anderer war einst mein Lehrer gewesen,51 aber kaum hatte er mich in die seligste Hoffnung versetzt, beraubte er, mitten unter den Studien sterbend, mich Säugling der Milch. Recht besehen liess er mich allerdings schon früher allein, als er zum Bischof befördert wurde, und zwar mit meiner Hilfe, da ich mehr auf seinen Vorteil als auf den meinen bedacht war. Angesichts dieser Umstände ertrage Du die Seltenheit von Freunden und verzeih diesem vorgerückten Weltalter das, was Du einem blühenden verziehen hast. Wenige gab es einst, und sehr wenige gibt es heute, und bald, so prophezeie ich, gibt es keine mehr, denen edle Studien kostbar sind. 36. Mit den wenigen solltest Du, so lange es gestattet ist, geflissentlich Umgang pflegen und nicht gar auf den Gedanken verfallen, unseren Fluss mit einem grösseren Gewässer zu vertauschen.52 Du bist ja nicht Schiffer, nicht einmal Fischer; und was, wenn das Gerücht, das ich gerne für falsch ansähe, am Ende doch wahr wäre, dass nämlich das Gespräch mit jenem Volk Dich nicht durchaus beglücke?53 Die schmale Kastalia54 hat Dir gefallen, auch der niedere Helikon. Nun mögen Dir unser Arno und unsere Hügel gefallen, wo Quellen edler Talente entspringen und süss singende Nachtigallen55 nisten. Gewiss, es sind da nur wenige, das gebe ich zu, aber wenn Du Dich, wie ich sagte, in der Umgebung und in der weiteren Gegend umschaust, sind es viele. 37. Was hoffst Du sonst in einem Volk anzutreffen? Walker, Weber und Schmiede, um zu schweigen von betrügerischen Staatsdienern, von Dieben verschiedenster Gattung und von tausenderlei Schelmereien samt allem, was von Schelmerei niemals frei ist: vom Gewerbe des Volkes, vom aufgeblasenen Handelswesen mit seiner ängstlichen Habgier, vom stinkenden Bodensatz der mechanischen Künste! Ertragen musst Du in hoher Gesinnung, dass Du gleichsam als ein Adler von Käutzchen oder als ein Löwe von Affen verlacht wirst, und sagen, was Ennius, dem Du weit überlegen bist,56 von sich gesagt hat: „Lebend flattere ich durch der Leute gebildete Münder.“

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Mögen doch ungebildete Mäuler ihre Ignoranz und ihr salzloses Geschwätz wiederkäuen! Was geht es Dich und das Deine an, ob sie einfältig sind oder spöttisch? Ihr Lob ist nichts als die geschätzte Art der Beschimpfung. 38. Doch um als der Letzte nach Begabung und Alter mich hinten anzuschliessen, soll jetzt meine Rede sich mir zuwenden. In Deinem eben beschriebenen Schicksal erbittest Du meine Hilfe! Ach Du hartes und unbarmherziges Los, ach läge es in meiner Kraft, einem so grossen Mann eine Stütze zu bieten, auf dass ich für diese eine Tat mehr als für alle erreichten und erhofften Titel auf ewig mich loben dürfte! 39. Doch ich schwöre es bei Christus, dem Dir unbekannten Gott, dass ich ausser innigem Erbarmen und treuem Rat überhaupt nichts habe, um Dir beizustehen. Was denn könnte einer für den andern erbringen, wenn er für sich selber nichts vermag? Hast Du etwa nicht vernommen, dass aus blossem Neid auf Deinen Namen Deine Schüler samt Dir zerfetzt werden und als Verrückte im Rat von Verrückten gelten?57 Wenn Dir solches in Deinem Zeitalter in der höchst bildungsbeflissenen Stadt Athen begegnet ist, wie sollte es dann, was meinst Du, heute anderen Leuten in unseren vergnügungssüchtigen Städten ergehen? 40. Als einer dieser Narren stehe eben ich selber vor dem unwissenden Volk und frage mich verwundert, weshalb. Und hätte es doch recht! Doch tut es nichts zur Sache, wie wahr die Ursache der Missgunst sei, wenn immer die Missgunst echt ist. Eine Zufluchtsstätte erbittest Du in meinem Schoss! Oh tolle Verrücktheit des Schicksals! Für Dich wäre nirgends ein Königspalast weit und glänzend genug, würde eine überragende Begabung jene Stufe irdischen Glücks erfordern, die ihren Ehren genügte! Das tut sie nicht, und darum meidet sie oft die Türme und Hallen der Ungebildeten, um lieber an einer verlassenen Hütte ihre Freude zu haben. 41. Was mich angeht, so habe ich Dich, wiewohl eines so erhabenen Gastes unwürdig, bei mir zu Hause, nämlich auf griechisch und, so weit als möglich, auch auf lateinisch,58 während ich hoffe, Dich schon bald vollständig zu besitzen, wenn Dein Thessalier59 das Begonnene weiterführt. Und um Dich an besonders geheimem Ort aufzubewahren, habe ich Dir, das nimm für sicher, höchst begierig und ehrfürchtig einen Unterschlupf mitten in meinem Herzen bereitet. Überhaupt ist meine Liebe zu Dir heller und feuriger als die Sonne, meine Hochschätzung grenzenlos und grösser als alles. 42. Soviel für Dich, mein Lehrer und Vater, wie ich es vermochte. Dich aber von der Spötterei des Volkes zu befreien, ohne damit eine Schwächung Deines einzigartigen höchsten Ruhmes zu erwirken,60 vermag ich nicht und auch kein anderer, es wäre denn der Eine, der allem Wahnsinn des Volkes ein Ende setzen kann. Obwohl es Gott möglich wäre, hat er das bisher nicht getan, und ich glaube, er wird es auch in Zukunft nicht tun. Vieles habe ich gesagt, als stündest Du gegenwärtig vor mir, doch um aus dieser sehr zwingenden Selbsttäuschung in die Wirklichkeit zurückzufinden, sage ich:

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Wie weit Du von mir entfernt bist, weiss ich. Und übrigens habe ich meine Bedenken, Du werdest diese langen Ausführungen in der Finsternis nur mit Anstrengung lesen. Dabei sehe ich allerdings, dass Du selber dort vieles geschrieben hast. 43. Lebe auf ewig wohl! Und kommst Du zu Deinem Wohnsitz zurück, bringe Orpheus, Linus, Euripides und den andern Gefährten meine besten Wünsche. Bei den Lebenden mitten zwischen den Flüssen Po, Tessin, Adda und andern an dem Ort, der nach der Meinung gewisser Gelehrter eben deshalb Mediolanum61 heisst, am 9. Oktober im Jahr 1360 des letzten Zeitalters.

Anmerkungen 1 Zu Fam. 24,12 vgl. Cesare Federico Goffis, L’epistola del Petrarca ad Omero, in: Arquà 149–164. Petrarca antwortete auf ein Schreiben „Homers“, das vielleicht von Pietro da Moglio (Muglio), Rektor der Universität in Bologna, verfasst worden war, eher jedoch von Boccaccio. Vgl. Dotti, Vita 328 f. mit weiteren Literaturangaben; auch Wilkins, Eight years 214 mit Literaturhinweisen. Zu Petrarcas Bemühungen um das Erlernen der griechischen Sprache und um den Besitz der Werke Homers vgl. vor allem Fam. 10,4,25 und 18,2; dazu Var. 25 bei Fracassetti 3,370 f. 2 Vgl. Fam. 18,2,9 ff. 3 Petr. Var. 25. Vgl. Hor. Ars. Der Übersetzer war Cicero, doch seine Arbeit ging verloren. 4 Petrarca erhielt 1354 aus Konstantinopel einen griechischen Homer von Nicholaos Sygeros; verstehen konnte er die Sprache nicht; vgl. Fam. 18,2. Zum Übersetzer vgl. unten Anm. 41. 5 Im Lateinischen: supercilium procul ambiguum et raptim vibrans seu fluctuantis come apicem. 6 Ausser Ilias und Odyssee rechnete man auch Hymnen auf Götter und andere Gedichte zu Homers Werken, übrigens auch Groteskes und Derbes wie z. B. die Schilderung eines Froschmäusekrieges und die eines Dummkopfs Margites. 7 Seneca Maior, Controv. 3, praef. 8; das selbe Zitat findet sich in Fam. 24,4,30. 8 Bekannt ist Ciceros Gedicht De consulatu suo. Was Petrarca an Prosatexten Vergils gekannt haben könnte, ist unklar. Er mag an gewisse Stellen aus Vergils Schreiben an Augustus gedacht haben, die er bei Macr. Saturn. 1,24,10–12 lesen konnte. 9 Vgl. Var. 25, Fracassetti 3,370, wo Petrarca auch Hieronymus, De temporibus. praef. zitiert. Im selben Schreiben Var. 25, Fracassetti Bd. 3,371 steht ein Hinweis auf Leo (Leontius Pilatus), der einige Verse Homers in lateinische Prosa bereits übersetzt hatte. 10 Vgl. Anm. 1. 11 Lateinisch: velut infanti; wie einem noch nicht sprechenden Kind; das Wort, sehr bewusst gewählt, hat im Deutschen keine Entsprechung. 12 Dies und manches, was folgt, ist ein Dank weniger an Homer als an den Verfasser des „Homerbriefes“; vgl. Anm. 1. 13 Kadmos, Bruder der Europa, Phöniker, Vermittler der phönikischen Schrift. 14 Der berühmte Göttersohn Herkules (Herakles) hatte zum Grossvater den Alkaios und trug daher den Beinamen Alkeides; vgl. das Personenreg. Übrigens gab es einen Lyriker aus Mytilene namens Alkaios; er war ein Zeitgenosse der Dichterin Sappho. 15 Zu Solons Bemühung um Dichtkunst vgl. Fam. 20,4,8. Solon leistete Vorarbeiten zur Sicherung der Texte Homers. Er stellte seine Dichtkunst in den Dienst seiner politischen Aufgaben, und Platon meinte Tim. 21 c, er hätte mit seiner Kunst, wäre sie zu seiner Hauptaufgabe geworden, Homer übertreffen können.

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16 Ein von Petrarca mehrfach ausgesprochener Gedanke; vgl. z. B. Fam. 11,8,31. 17 Im Lateinischen: quasi totidem alterius suorum luminum radios. Der nicht genannte andere ist gewiss Platon, den Petrarca oft neben Homer erwähnte und etwa als Sonne bezeichnete; vgl. z. B. Fam. 18,11,1; 19,17,12; 22,10,6; 5,1,3. 18 Val. Max. 9,12, ext. 3.5.6. Aus der Antike sind mehrere Homerviten überliefert. 19 Einer der grössten Komödiendichter, † 264/263 v. Chr. 20 Apuleius, Florida 16. Von Philemon wurde Verschiedenes berichtet; gemäss Val. Max. lachte er sich an einem eigenen Witz zu Tode; vgl. 9,12 ext 6; gemäss Apul. Florida 16 wurde er im Theater umsonst erwartet und schliesslich tot, ein Vorlesungsmanuskript in der Hand, zu Hause gefunden. 21 Macr. Saturn. 5,2 ff. 22 Iuv. Sat.5,2 ff. 23 Serm. 1,5,41–42. Vgl. Fam. 24,4,9. 24 Saturn. 5,3,16. Vgl. Fam. 22,2,27. 25 Phars. 9,984–985. 26 Smyrna behauptete, Geburtsort Homers zu sein. 27 Epist. 1,2,3–4 und Carm. 4,9,5–6. 28 Ov. Am. 1,8,61 und Ars am. 2,109. Iuv. Sat. 10,246. Stat. Achilleis 1,3–4. 29 Musaios, griechischer Dichter vorhistorischer Zeit, wird erwähnt Aen. 6,667; Linos, angeblich Sohn Apollons, Sagengestalt, in Ecl. 4,56–57 und 6,67; Orpheus, der berühmte Sänger vieler Sagen, in Aen. 6,119; in Georg. 4,454. 494. 545. 553. 30 Hesiod, Dichter um 700 v. Chr., erwähnt in Georg. 2,176; in Ecl. 6,70; Theokritos, 3. Jh. v. Chr. in Ecl. 6,1; vgl. Personenreg. 31 Varus (Varius), ca. 76–15, in Ecl. 6,10; 9,35; Gallus, um 40, in Ecl. 6,64; 10,10. 32 Vgl. Anm. 30. 33 Servius, In Aen. 1,8. 34 Erwähnt wurde er oben in Abschnitt 20. Petrarca nennt ihn fälschlicherweise Pampinius. 35 Thebais 12,816–820 und schon 10,445 f. 36 Verg. Ciris 65: Colophoniaco…Homero, nach einer Stadt Colophon in Lydien. 37 Lateinisch: epystole tue corpus. Gemeint ist der eine Petrarca vorliegende Brief in seinem ganzen Umfang. 38 Vgl. oben die Meinung von Horaz in Abschnitt 20. 39 Das Verhüllen, ein Wesensteil der Dichtung; vgl. z. B. Fam. 10,4,2; 10,5,12. 40 Ecclesiastes (Prediger Salomon) 1,15. 41 Leontius Pilatus, mit der Übersetzung Homers beschäftigt, von Petrarca „für einen Byzantiner gehalten“, weilte für einige Zeit in Padua, wurde aber auf Veranlassung Boccaccios im Frühling 1359 nach Florenz eingeladen, wo er darauf an der Universität Vorlesungen zur Ilias und Odyssee hielt. Während eines Aufenthalts 1363 in Venedig beklagte sich Petrarca, noch immer auf die lateinische Version der Ilias und Odysse warten zu müssen; er traf dort Leontius, den er von seiner Rückreise nach Konstantinopel nicht zurückhalten konnte. Später schilderte er ihn in Sen. 3,6,664–670. Vgl. Agostino Pertusi, Leonzio Pilato fra Petrarca e Boccaccio, Venedig-Rom 1964. 42 Im Jahr 1360 lebten dort an Freunden Petrarcas die tüchtigen Humanisten Francesco Nelli, Lapo Castiglionchio, Boccaccio. Zu denken ist wohl auch an Domenico Silvestri, der einen Lehrstuhl an der Universität für Griechisch gehabt haben soll. Leontius wurde von Boccaccio 1360 an die Universität geholt. Mit dem gebildeten Florentiner Francesco Bruni wurde Petrarca in Padua erst im September 1361 bekannt gemacht; vgl. Fam. 23,20. 43 Formulierung wie in Fam. 18,15,2 an Boccaccio. 44 Zu denken wäre an Zanobi, der sich kurz zuvor entschlossen hatte, die Stelle eines päpstlichen Sekretärs anzunehmen; doch hat er schon 1355 den Lorbeer gewonnen; vgl. Fam. 20,14,25. Vielleicht ist Francesco Bruni gemeint; vgl. Fam. 23, 20. 45 Lateinisch: funditus ut excutias.

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46 Gemeint ist Pietro da Muglio, vielleicht Verfasser des „Homerbriefes“. 47 In Verona lebten damals Petrarcas Freunde Guglielmo da Pastrengo und Rainaldo Cavalchini, zwei Lehrer von Petrarcas Sohn. Von Sulmona stammte der Freund Barbato, der am Hof von Neapel lebte. 48 Gemeint ist ein Verehrer Homers und Dichter, der in Mantua lebte, der Poesie den Rücken kehrte und zum Studium der Erdkunde und Astronomie überging. 49 In Rom lebte Lelio di Pietro Stefano dei Tosetti, der ebendort 1363 starb. 50 Petrarca dachte bei solchen Worten meist an die Arbeit zeitgenössischer Juristen; vgl. Fam. 24,1,20 f.; 20,4,21 ff. 51 Vgl. Petrarcas Schreiben an Sygeros mit der Würdigung seines Lehrers Barlaam Fam. 18,2,7–10. 52 Wen Petrarca jetzt in Wirklichkeit anspricht, ist nicht klar; wahrscheinlich nicht Pietro da Muglio, den vermutlichen Verfasser des im Namen Homers geschriebenen Briefes. Wohl auch nicht Leontius Pilatus, von dem man eine Übersetzung von Homer erwartete. Dieser, ein geborener Kalabrese, dachte allerdings schon bald an eine Übersiedlung in den Osten und schiffte sich 1362 auch wirklich mit dem Ziel Konstantinopel ein. 53 Gemeint sind wohl die Byzantiner; vgl. Anm. 50. 54 Gemeint ist die Quelle bei Delphi, die Propheten- und Sehergabe verleiht. 55 Von Dichtern ist die Rede. 56 Zitat nach Cic. Tusc. 1,15,34; vgl. Fam. 13,5,14. 57 Das erinnert an Petrarcas Klage, er werde ob seiner Verehrung für Vergil beschimpft und als Magier deklariert, allerdings weniger vom Volk als von Vertretern höchster kirchlicher Ränge; vgl. Fam. 9,5,15; 13,6,28–29. 58 Vgl. Fam. 18,2,11. 59 Vgl. oben Abschnitt 30. 60 Lateinisch: preterquamquod…laudis imminutio futura sit. Vorausgesetzt wird, dass nur Untüchtige und Ruhmlose dem Spott der Menge entgehen. 61 Der Name wäre zurückzuführen auf Medio-plano.

Fam. 24,13, an seinen Sokrates1 Schluss dieses Buches. 1. Das Werk der Familiares entstand, weil Petrarca sich dem Verlangen der Freunde beugte. 2. Dabei hat er seinen Willen zurückgestellt und seinen Ruf nicht geschont. 3. Erst der Tod wird Petrarcas Briefschreiben beenden. 4. Das Buch 24 wendet sich an Schriftsteller der Antike und ist auch sonst von besonderer Art. 5. In den früheren Büchern folgten die Briefe dem Ablauf von Petrarcas Leben. 7. Briefe, die Petrarca noch verfassen wird, sollen unter einem neuen Titel zusammengefasst werden. 8. Von einem Übermass an Freundesliebe kann Petrarca nur Schaden erwarten. (Juni 1361)

1. Von Dir der Anfang, in Dir das Ende! Du hast also, mein Sokrates,2 was Du gewünscht hast: ein aus meinen Spielereien verfertigtes Buch von grosser sprachlicher und inhaltlicher Verschiedenheit, ein Werk, das nicht ohne Grund empfindsame Ohren beleidigen wird. Da aber die Seele der Sterblichen schwankend ist und unbestimmt, auch jede ihr eigenes Wollen hat, wird vielleicht einigen von ihnen, mag auch der literarische Wert missfallen, immerhin die Vielfalt gefallen. 2. Nachsicht mögen andere üben, wenn sie sich erinnern, dass ich nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Bitten von Freunden und im Wunsch, ihnen zu gehorchen, mich zu solchem herbeiliess3 und weder fremde Meinungen, noch eigene Beschäftigungen, noch auch den Verlust an knapp bemessener, unsicherer Zeit sehr befürchtete. Somit wirst Du, wenn Dich etwas beleidigen sollte, nicht mir, vielmehr Dir selber verzeihen und zu Dir sagen müssen: „Das habe ich gewollt; und verweigern konnte jener es nicht; denn er liebte mich im Mass, als er sich selber vergass.“ Man ist eben nie ein besserer Freund, als wenn man einsieht, man schade damit dem eigenen Ruf. Denn vielen Menschen, und zwar gerade den Besten, ist ihr guter Ruf teurer als ihr Leben und ihre Habe. Und hat einer seinen Ruf dem Freund zuliebe preisgegeben, wird er auch Dinge von geringerem Wert fahren lassen, wenn die Lage es fordert. 3. Dieses Werk nun habe ich in meiner Jugend begonnen und beende es in hohem Alter, oder richtiger: setze es fort. Es ist nämlich von allen den meinen das einzige, dem nichts als der Tod letzte Hand anlegen wird.4 Denn wie könnte ich für mein Gespräch mit Freunden ein anderes Ende als das meines Lebens erhoffen? Oder welcher Tag könnte, so lange ich atme, mich unter den Freunden zum Schweigen bringen? Da ich doch vorhabe, sogar im Grab mit kaltem Mund mit ihnen zu sprechen? 4. Hier lege ich freilich eine Anordnung nicht nach der Sache sondern nach den Zeiten vor. Das gilt nicht für die letzten Briefe,5 die ich an hochberühmte Autoren der Antike gerichtet und die ich mit Rücksicht auf eine ihnen gemeinsame Neuartigkeit absichtlich am bestimmten Ort zusammengestellt habe;6 und es gilt auch nicht für den ersten Brief, der, zwar später als die Gefährten verfasst, ihnen doch

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vorangeht und damit die Rolle einer Vorrede übernommen hat.7 5. Von den andern folgen beinahe alle in der Reihe, in der ich sie verfasste. Somit wird der Leser, sofern das vielleicht von Interesse ist, die Abfolge meiner Entwicklung und den Ablauf meines Lebens erkennen können. Dabei, so betone ich, um nicht schon einmal Gesagtes zu wiederholen und es zweimal und mehrmals hinzusetzen, habe ich das am Anfang Versprochene nicht vollkommen einhalten können. Ich wollte es tun, aber nicht allein die Fülle der Gegenstände widersetzte sich dem Plan, es taten das eben so sehr ihre Mannigfaltigkeit und auch die qualvolle Zerrissenheit meines Geistes, der bisweilen angestrengt mit anderen Dingen beschäftigt war.8 6. Weil auch jetzt noch vieles auf diese Feder herein stürmt und sie in verschiedene Richtungen zerrt, ja weil auch der Lebensrest mir ungewiss und das Buch schon zu dick ist, um noch mehr zu fassen – sofern es das Mass eines vernünftigen Umfangs nicht überschreiten soll –, trenne ich die ohnehin schon überzähligen Schreiben gleicher Art von den früheren ab.9 7. Und ohne Rücksicht auf die frühere Anordnung will ich weitere Schreiben (falls mir noch etwas dieser Art überhaupt zu schreiben bleibt) in anderer Weise und unter dem Namen, den sie von meinem Alter haben sollen,10 in einen besonderen Band zusammenbinden, dies insofern als Ihr, meine Gefährten, den Wunsch hegt, es möge Euch nichts vom Meinigen entzogen werden und ich stets die Meinung hochhalte, Eure Wünsche seien den meinen vorzuziehen. 8. Etwas aber hättet Ihr mitten unter Euren leidenschaftlichen Bitten voraussehen müssen. Weil Ihr unterschiedslos all das Meine gutheisst und nicht den geringsten Verlust daran ertragen wollt, ja weil Ihr sogar das, was kaum meinen Privatbedürfnissen genügt, im Begehren nach Lob der Öffentlichkeit übergebt, werde ich ganz gegen meinen Willen in die Hände jener ausgeliefert, die – alles Fremde schlecht verdauend – nur sich selber Beifall klatschen und glücklich in ihrer hausbackenen Hochschätzung nur das Eigene bestaunen und bewundern.11 Dem Urteil solcher Leute werft Ihr mich unvorbereitet und waffenlos entgegen, Freunde! Über Eure Gefühle kann ich mich nicht beklagen, denn ich habe nichts anderes, was mir so teuer wäre. Aber es gibt wie für alle Dinge auch für die Liebe ein Mass, damit man nicht, indem man helfen will, nur schade. Viel zu leichtfertig seid Ihr mir und viel zu vorschnell! Viel zu viel gebt Ihr und viel zu viel wollt Ihr! Viel zu sehr bedrängt mich Eure Liebe! 9. Doch zum Schluss sage ich: Du ganz unbefangener Leser, wer immer Du seist, Dich bitte und beschwöre ich bei der Liebe zu den gemeinsamen Studien, Du möchtest, wenn Du um Deinen eigenen Ruf irgendwie besorgt bist, Dich nicht wegen der Vielfalt der Themen oder der Bescheidenheit der Sprache ereifern, sondern Dich an das erinnern, was ich hierüber am Anfang des ersten Teils dieses Werkes zum voraus gesagt habe. Lebe wohl! (Juni 1361)12

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Anmerkungen 1 Vgl. Fam. 1,1, worauf Petrarca selber hinweist. 2 Die vorliegende letzte Fassung des Briefes wird aus der Zeit kurz vor oder bald nach dem Tod des Freundes Sokrates stammen. Dieser starb am 8. August (1361). Vgl. Dotti, Vita 357 f. und Sen. 1,3. Vgl. auch Notizen im Überblick. 3 Fam. 1,1,10 f. 4 Fam. 1,1,45 f. Petrarca hat fast an allen seinen Werken bis zu seinem Tod gearbeitet, allerdings seltener durch Anfügungen neuer in sich geschlossener Stücke, eher durch ständiges Überarbeiten des schon Vorhandenen. 5 Lateinisch: has enim ultimas veteribus inscriptas. Es fehlen im ganzen vorangehenden Text Substantive wie epistole, litere. Nur nuge oder res gestatten einen grammatikalischen Bezug. Auch im folgenden Text ändert sich das nicht. 6 Das Kraftvollste ans Ende: so plante Petrarca schon Fam. 1,1,46. 7 Fam. 1,1 wird auf ungefähr 1350 angesetzt. Möglich, dass Petrarca an Fam. 24,1, an den Brief an Bischof Philippe von Cavaillon denkt. 8 Zu denken ist an die anderen literarischen Werke Petrarcas, aber auch an Aufgaben, die er im Dienst der Kirche und auf Bitten seiner Schutzherren leistete. 9 Mehrere Briefe, die Petrarca vor dem Juni 1361, also vor dem Abschluss der Sammlung der Familiares verfasst hat, solche zum Beispiel an Boccaccio, wurden der späteren Sammlung zugeordnet. 10 Die späten Briefe heissen Seniles. Sie sind Francesco Nelli, dem „Simonides“, gewidmet, und der erste von ihnen, das ist Sen. 1,1 mit der Widmung an Nelli wurde vor Ende 1361 verfasst. 11 Man vgl. Fam. 22,3 und dazu die Notizen im Überblick. 12 Zur Datierung vgl. Wilkins, Later years 16–17 und Dotti, Vita 360 und 361 mit Anmerkungen.

Verzeichnisse

Abkürzungsverzeichnis (a) Antike Autoren und Werke (ohne Bibel) Ambr. De obit. Sat. fr. Apul. Apol. Flor. Metam. Aristot. Eth. Nic. Metaph. Poet. Rhetor. De somn. et vig. Aug. De civ. Conf. Epist. De gratia Chr. In psalm. Quaest. Retract. Serm. Sol. De vera rel. Boeth. Cons. phil. Calc. In Tim. Cato Orat. Orig. Cic. Ac. 1 Ac. 2 De amic. (Laelius) Ad Att. Arch.

Ambrosius De obitu Satyri fratris Apuleius Apologia Florida Metamorphoses Aristoteles Ethica Nicomachea Metaphysica Poetica Rhetorica De somno et vigilia Augustinus De civitate dei Confessiones Epistulae De gratia Christi Enarrationes in psalmos De diversis quaestionibus Retractationes Sermones Soliloquia De vera religione Boethius Consolatio philosophiae Calcidius In Timaeum Cato Censor Orationes Origines Cicero Academicorum priorum libri (Lucullus) Academicorum posteriorum libri Laelius de amicitia Epistulae ad Atticum Pro Archia poeta

720 Balb. Ad Brut. Brut. Cato Deiot. De div. De dom. De fin. Hortens. De inv. De leg. Lig. Manil. Marc. Milo. De nat. deor. De off. Or. De orat. Parad. Phil. Pis. Planc. Ad Q.fr. Red. in sen. De rep. De sen. (s. Cato) Sest. Sull. Tim. Tusc. Claud. De bello gild. De 3 cons. Hon. De 4 cons. Hon. De cons. Stil. In nupt. Hon. In Ruf. Don. Epit. de Caes.

Abkürzungsverzeichnis

Pro L. Balbo Epistulae ad Brutum Brutus Cato maior, de senectute Pro rege Deiotaro De divinatione De domo sua De finibus Hortensius De inventione De legibus Pro Q. Ligario Pro lege Manilia Pro M. Marcello Pro T. A. Milone De natura deorum De officiis Orator De oratore Paradoxa Oratio Philippica In Pisonem Pro Cn. Plancio Epistulae ad Quintum fratrem Oratio post reditum in senatu De re publica De senectute Pro P. Sestio Pro P. Sulla Timaeus Tusculanae disputationes Claudianus De bello gildonico De 3. consulatu Honorii De 4. consulatu Honorii De consulatu Stilichonis In nuptias Honorii In Rufinum Donatus Epitome de Caesaribus

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Abkürzungsverzeichnis

Vita Verg. Eus. Chron. Eutr. Brev. Flor. Epit. Front. Strat. Gell. Noct. att. Greg. Magn. Dial. Hier. Comment. in Mt. Epist. Quaest. in gen. In Ruf. Tract. de Ps. Hor. Ars Carm. Epist. Epod. Sat.(Serm.) Isid. Etym. (Orig.) Iust. Epit. Iuv. Sat. Lact. Div. inst. De opif. Liv. Per. Luc. Phars. Macr. Saturn.

Vita Vergilii Eusebius Chronicon Eutropius Breviarium ! Florus Epitome de Tito Livio Frontinus Strategemata Gellius Noctes atticae Gregorius Magnus Dialogi Hieronymus Commentarius in Evang. Matthaeum Epistulae Quaestiones in libros geneseos In Rufinum. Tractatus de Psalmis Horatius Ars poetica Carmina Epistulae Epodi Saturae (Sermones) Isidorus Etymologiae (Origines) Iustinus Epitome Iuvenalis Saturae Lactantius Divinae institutiones De opificio Dei Livius, Ab urbe condita Periocha Lucanus Pharsalia Macrobius Saturnalia

722 In somn. Scip. Oros. Hist. adv. pag. Ov. Am. Metam. Pont. Rem. Trist. Pers. Sat. Plat. Phaid. Tim. Plaut. Amph. Asin. Aul. Capt. Cas. Cist. Curc. Epid. Plin. Nat. Pomp. De chorogr. Prop. Carm. Quint. Inst. Sall. Cat. Iug. Sen. Maior Controv. Sen. Benef. Clem. Dial.

Abkürzungsverzeichnis

In somnium Scipionis Orosius Historia adversus paganos Ovidius Amores Metamorphoses Ex Ponto Remedia amoris Tristia Persius Saturae Platon Phaidon Timaios Plautus Amphitruo Asinaria Aulularia Captivi Casina Cistellaria Curculio Epidicus Plinius maior Naturalis historia Pomponius Mela De chorographia Propertius Carmina Quintilianus De institutione oratoria Sallustius Coniuratio Catilinae Bellum Iugurthinum Seneca Maior Controversiae Seneca De beneficiis De clementia Dialogi

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Abkürzungsverzeichnis

Epist. Ad Lucil. Nat. quaest. Superstit. Thy. Serv. Ad Aen. Ad Ecl. Ad Georg. Vergil. Solin. Collect. Stat. Ach. Theb. Suet. De vita Caes. Caes.Aug.Calig.(etc.) Ter. Ad. Andria Eun. Haut. Phorm. Val. Max. Varro De poet. De re rust. Sat. Men. Verg. Aen. Ecl. Georg.

(s.ad Lucil.) Epistulae ad Lucilium Naturales quaestiones De superstitione Thyestes Servius Ad Vergilii Aeneida Ad Ecloga Ad Georgica Vita Vergilii Solinus Collectanea Statius Achilleis Thebais Suetonius De vita Caesarum: Caesar, Augustus, Caligula (etc.) Terentius Adelphoe Andria Eunuchus Hautontimorumenos Phormio Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia Varro De poetis De re rustica Saturae Menippeae Vergilius Aeneis Eclogae Georgica

(b) Bibel Act. Agg. Apoc. Col.

Actus Apostolorum Aggaeus Apocalypsis Ad Colossenses

724 1 Cor. 2 Cor. Dan. Deut. Eccl. Eccli. Eph. Exod. Gal. Gen. Hab. Hebr. Ier. Is. Jo. 1 Jo. Jos. Lc. Mal. 1 Mch. Mc. Mt. Num. 1 Petr. Phil. Ps. Rom. Sap. 1 Thess. 1 Tim. Tit. Zach.

Abkürzungsverzeichnis

1 Ad Corinthios 2 Ad Corinthios Daniel Deuteronomium Ecclesiastes (Prediger, Cohelet) Ecclesiasticus (Sirach) Ad Ephesios Exodus Ad Galatas Genesis Habacuc Ad Hebraeos Ieremia Isaia Evangelium secundum Johannem 1 Johannis Epistula Josue Evangelium secundum Lucam Malachias 1 Machabaeorum liber Evangelium secundum Marcum Evangelium secundum Matthaeum Numeri 1 Petri epistula Ad Philippenses Psalmorum liber Ad Romanos Sapientia 1 ad Thessalonicenses epistula 1 ad Timotheum epistula Ad Titum epistula Zacharias

(c) Werke Petrarcas Petr. Afr. Buc. carm. (Ecloga) Canz. Fam.

Petrarca Africa Bucolicum carmen Canzoniere Familiarum rerum libri

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Abkürzungsverzeichnis

De otio relig. Ps penit. De rem. utr. fort. Metr. Rer. mem. Secr. Sen. Sine nom. De sui ign. Tr. De vir. ill. De vita sol. Var.

De otio religioso Psalmi penitentiales De remediis utriusque fortunae Epistulae metricae Rerum memorandarum libri Secretum Epistulae seniles (Senilium rerum libri) Liber (Epistulae) sine nomine De sui ipsius et multorum ignorantia Trionfi De viris illustribus De vita solitaria Epistolae variae

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BISIM DBI EI GSLI IMU NAV PLMA RIS

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Bullettino dell’istituto storico italiano per il medioevo e archivio muratoriano Dizionario biografico degli Italiani Bd. 1 A ff., Rom 1960 ff. bis Bd. 68 2007 Etudes italiennes Giornale storico della letteratura italiana. Italia medioevale e umanistica Nuovo archivio veneto Publications of the modern language association of America Rerum italicorum scriptores (Muratori)

g) Tagungsakten Arquà Lombardia Petrarca Venezia

Il Petrarca ad Arquà. Atti del convegno di studi nel 6. centenario (1370–1374), Padua 1975. Francesco Petrarca e la Lombardia, Mailand 1904. 1304–1374. Beiträge zu Werk und Wirkung. F. Schalk, Frankfurt 1975. Petrarca, Venezia e il Veneto, a cura di G. Padoan, Florenz 1976.

Personenregister zu Fam. 13–24 samt Angaben der von Petrarca zitierten literarischen Werke Griechische Namen werden im Alphabet in griechischer Form gegeben. Bei Datierungen steht nur wenn nötig v. Chr. oder n. Chr. (>Proba. 21,8,6. Aelius Lampridius, s.Lampridius. Aelius Spartianus, s. Spartianus. Aemilia. Gattin von Publius Cornelius >Scipio Africanus Minor. 16,8,9. Aemilius Paullus L. Macedonicus. Feldherr (>Europa und Stammvater der >Dido. 21,8,22. Aghinolfi, Giovanni (>Kirke, Vater der >Medeia. Nimmt die >Argonauten auf. 19,3,5. Aigyptii (Aegyptii). Ägypter. 14,1,26; 15,4,4; 15,9,17–20; 21,8,5 und 14; 22,12,16; 22,14,27; 24,12,9. Aiolos (Eolus). Verwalter der Winde (>Malpaghini. Der Dichter widmet ihm sein Werk De ignorantia. † nach 1411. 23,19,1. Albertino von Cannobio. Arzt und Freund Petrarcas. Adressat von 22,12. Albornoz, Gomez (Gil, Aegidius) Alvarez. * ca.1300 in Cuenza, † 1367 bei Viterbo. Erzbischof von Toledo; Flucht vor König Pedro von Kastilien. Legat von Innozenz VI. in Italien; nach 1358 Kriegführung zur Wiederherstellung des Kirchenstaats, 1361 Allianz mit Verona, Padua und Ferrara gegen Mailand; Verfasser der „Ägidianischen Konstitutionen. 17,7,2. Aldobrandino III. d’ Este; † 1361. Herr von Ferrara und Modena, Widersteht den Angriffen der Visconti von Mailand; Liga von 1361 mit Verona, Padua. In seiner Stadt verfügt Petrarca zeitweise über ein Kanonikat. 14,4,25. Alexander, Marcus Severus Aurelius. Kaiser. * 208 in Phönizien; von seinem Vetter Kaiser Elagabal adoptiert; regiert ab 222 beraten durch den Juristen >Ulpian. Für manche Reformen tätig; auf einem Zug gegen die Germanen durch Soldaten 235 ermordet. 20,2,3; 20,4,20; 23,2,26. Alexandros der Grosse von Makedonien (>Lancellotto Anguissola (s.diesen in Bd. 1). Podestà von Como als Beamter der Visconti von Mailand; seinenen Tod notiert Petrarca in seinem VergilCodex zum 28. November 1359. Adressat von 17,6; 17,7. Anichino von Mongarda. Bekannt auch unter dem Namen Hanneken von Baumgarten oder Hans von Bongard. Neben Landau einer der gefürchtetsten Anführer von Söldnerbanden. 23,1,1. Anjou, Angiò, Carlo. * 1246; 1285–1309 König von Neapel/Sizilien, Vater des Königs Roberto, Schutzherr der Kartause von Montrieux. 16,9,12 und 17. Anjou, Giovanna. Königin von Neapel/Sizilien (>Hadrian. Übernimmt Herrschaft 138. Sichert Grenzen; sorgt für ausgezeichnete Rechtspflege und Verwaltung. Trägt den Titel pater patriae. Sein Adoptivsohn ist >Marc Aurel. † 161. 20,4,19; 22,14,33–37. Antonius Gnipho, Marcus. Geschätzter Rhetoriker in Rom; 114–64 Lehrer Ciceros. Schriftsteller und Kommentator. 24,6,10. Antonius, Marcus. Der Redner (>Philipps V. von Makedonien, nimmt aber an seinem Krieg gegen Rom nicht teil. 20,3,4. Arbakes (bei Petrarca: Arbatus). Sagengestalt, Feldherr der Meder, der das assyrische Ninive zerstörte und den verweichlichten König >Sardanapal erstach.17,3,44. Arbatus; s. Arbakes. Archias. Dichter (>Platons (>Tiberius, und verbringt deshalb sein Leben von 30 bis zu seinem Tod 33 in Haft. 24,9,3 und 6. Asinius Pollio. Redner, übt Kritik an Cicero (>Stefano il Giovane übertragen, auf den jungen Hoffnungsträger der Familie Colonna. Er fällt 1347 im Kampf gegen Anhänger des Cola di Rienzo. 20,13,25. Asklepios. Gott der Heilkunde (>Krösus; verliert gemäss Petrarca (vgl. aber Herodot) in der Entscheidungsschlacht seines Vaters seine Stummheit,

736 rettet ihn durch einen Aufschrei vor Ermordung. 18,6,7 Attalos III. König von Pergamon (>Zanobia von Palmyra auf Eroberungen ausgeht, während er an den Nordgrenzen kämpft, unterwirft aber später Palmyra. Wird auf einem Zug gegen die Perser 275 umgebracht. Gilt zu seiner Zeit als restitutor orbis. 21,8,14.

Personenregister Aurelius Alexander Severus. Geringer Herkunft. Von Elagabal (>Heliogabalus) 221 adoptiert und nach dessen Ermordung als dreizehnjähriger 222 Kaiser. Im Staatsrat seiner Mutter wirkt der Rechtsgelehrte Domitius >Ulpianus bis zu seiner Ermordung 228 und neben diesem der Rechtsgelehrte Iulius >Paulus. Verschiedene Reformen werden durchgesetzt. Ermordung durch meuternde Soldaten 235. 20,4,20. Avidius Cassius, s. Cassius.

B Bacchus. Gott des Weines (>Cornelius. Barbato da Sulmona, Marco. Sekretär des Königs >Roberto (>Giovanna; befreundet mit Petrarca, >Rinaldo da Villafranca, >Niccolò d’Alife, >Boccaccio; † Sept. 1363 oder 64. 13,6,36; 24,12,32. Adressat von 20,5; 22,3; 22,4. Barlaam aus Reggio in Kalabrien, Theologe. * Ende 13. Jh. Wahrscheinlich zuerst orthodoxen Glaubens, 1328 ff. ist er in Konstantinopel, Lehrer an der Universität und führend bei Glaubensdisputen (als Gegner der Hesychasten), 1339 wird er von Kaiser Andronikos III. wegen theologischer Streitpunkte nach Avignon gesandt. Hier ist er Griechischlehrer Petrarcas.1341 wird er in Konstantinopel verurteilt, 1342 von >Clemens VI. zum Bischof von Gerace in Kalabrien bestellt. Um 1347/48 stirbt er, und 1351 werden seine Anhänger aus der orthodoxen Kirche ausgeschlossen.18,2,7–10; 24,5,3; 24,12,35. Barrili, Giovanni. Hofmann in Neapel, (>Bussolari, zieht 1356 aus der Stadt aus und verbündet sich mit >Galeazzo Visconti. 19,18,25. Bellona. Gottheit des grausamen Krieges. 19,3,10; 19,18,11. Benedictus XII. Papst (>Karl IV. zusammen und vollzieht dessen Kaiserkrönung in Rom. 20,2,5 und 9. Bias. Richter (>Boccaccio kennen, erlangt 1360 Briefkontakt mit Petrarca, ist in Avignon unter Urban V. und Gregor XI. päpstlicher Sekretärs. Lebt später in Florenz. † nach dem 4. April 1385. Adressat von 23,20. Brutii, s. Calabri. Brutus, Albinus Decimus Iunius. Wechselt (wie M. Iunius Brutus) von den Anhängern Caesars zu den Verschwörern. Versucht nach dem Kampf um Mutina 43 vor >Antonius zu fliehen und wird trotz dem Rettungsversuch des Freundes >Terentius Servius umgebracht. 13,10,6. Brutus, Lucius Iunius. Ahnherr der Bruti (>Beccaria in die Flucht, verteidigt Pavia gegen Ansprüche des Hauses Monferrat und gegen bewaffnete Angriffe der Visconti, wehrt diese 1356 erfolgreich ab, wird 1358 besiegt, hält die Stadt zum Widerstand an, die sich aber 13. Nov. 1359 ergibt. Bussolari wird von Ordensbrüdern gefangengesetzt, nach vierzehn Jahren freigelas-

738 sen und stirbt 1380 bei seinem Bruder, dem Bischof von Ischia. Adressat von 19,18. Buta (?) Bei Petrarca ein verkommener Faulenzer. 15,4,3. Byblis. Sagenfigur aus Kreta, soll sich wegen ihrer Liebe zum Bruder aus Verzweiflung über einen Felsen gestürzt haben, worauf aus diesem eine Quelle entsprang.18,5,8. Byzantini, Reich der. 14,5,12.

C und im Griechischen K Cabassole, Philippe s. Philippe, Bischof von Cavaillon. Cacus (>Petronius getötet, der sich auch selber den Tod gibt. 13,10,6. Caepio Quintus Servilius, s. Servilius. Caesar, Iulius. Feldherr, Staatsmann (>Euandros, soll gemäss bestimmter Tradition die Buchstaben erfunden haben. 21,8,5. Karneades. Philosoph aus Kyrene, Führer einer Gesandtschaft Athens in Rom (>Bruni zur Freundschaft mit Petrarca. Wie das Haus della >Scala 1387 unterliegt er 1388 den >Visconti, stirbt 1393 als deren Gefangener in Monza. 23,20,5–6. Carrara, Giacomo der Jüngere. Herr von Padua bis 1350. Grosse Treue seines Hundes (>Catos Origines. 24,6,10. Cassius, Longinus Lucius. Gehört 54 v. Chr. zu den Anklägern des Cn. Plancius, den aber Cicero gegen den Vorwurf der Bestechlichkeit in Pro Planc.verteidigt. Cassius wird darin von Cicero angesprochen. 18,12,7. Cassius, Scaeva, s. Scaeva. Cassius, Severus. Prozessredner zur Zeit des Augustus und Tiberius, schlagfertig, sarkastisch, Verfasser von Schmähschriften gegen herrschende Sitten,wird durch Senatsbeschluss verbannt. 20,4,15. Castiglionchio, Lapo. Humanist und Jurist (>Hadrian, leitet die Juristenschule der „proculianischen“ Richtung. Konsul 129 n. Chr., bekannt vor allem als Verfasser von Digesten. 20,4,18. Ceres. Göttin (>Nebukadnez(z)ar hervorging. 22,12,22. Charles de Valois, s. Valois. Checco di Mileto dei Rossi. Kanzler der Ordelaffi in Forlì. Schreibt Gedichte, verkehrt mit Humanisten, ist befreundet mit Petrarca. Adressat von 21,3. Christiani. Christen. 12,1,5; 15,7,15; 23,11,6; 24,5,24. Chrysippos. Stoiker (>Sullas Tod reichen (von Livius benützt). 24,8,6. Claudius, Tiberius Nero Germanicus * 10 v. Chr. Kaiser 41–54. Scheu und körperlich behindert, vielfach angefeindet. Ist erfolgreich bei der Festigung von Grenzgebieten. Wird mit Schwämmen vergiftet. 22,12,16. Kleanthes. Stoiker (>Caesars, auf Korkyra des >Antonius, nach der Schlacht von Actium von >Octavian nach Rom zitiert; 30 Selbstmord durch Schlangenbiss auf der Reise (?). 18,7,3; 21,8,14; 24,10,102–103. Cloatius Verus. Erwähnt bei Gellius und Macrobius mit Hinweisen auf sakrale Ausdrücke; soll Gewährsmann für den Grammatiker Verrius Flaccus gewesen sein. 24,6,10. Cloelia, s. Claelia. Klotho. Eine der drei Parzen; sie spinnt den Lebensfaden. 20,1,2. Cola di Rienzo. Volkstribun in Rom (>Sciarra Colonna. Schüler Petrarcas. Wird Bischof von Ascoli. Adressat von 20,8. Colonna, Giacomo, Sciarra. Bruder von >Stefano il Vecchio, nahm 1303 Papst Bonifaz VIII. gefangen und floh nach Frankreich, krönte >Ludwig den Bayern 1328 in Rom. Tod 1329. Vater des >Agapito. 20,8,11. Colonna, Giacomo di Stefano il Vecchio. Bruder des Kardinals Giovanni und des Stefano il Giovane, Bischof von Lombez (>Stefano il Giovane, gefallen 1347 (>Stefano il Vecchio. Kardinal (>Sciarra. 20,8,11. Colonna, Stefanello. Sohn von >Stefano il Giovane. 1352 zusammen mit Bertoldo Orsini vom römischen Volk zum Senator bestellt, vom Papst nicht anerkannt. Rettet sich in Unruhen am 15. Februar 1353 durch Flucht. 15,1,6; 15,8,9; 16,8,4. Colonna, Stefano il Giovane. Gefallen 1347 (>Sciarra. Vorsteher von Saint- Omer. 15,8,2. Adressat von 15,7; 20,11. Colonna, Stefano il Vecchio. Haupt der römischen Grossfamilie (>Sette für Grammatik und Rhetorik. Von Petrarcas Vater und Petrarca oft unterstützt, auch mit Büchern versorgt. † 1338 in Prato. 24,1,5. Cornelia. Gattin von Pompeius dem Grossen (>Caesar und vertrat ihn zeitweise in Rom, war mit >Cicero befreundet, der ihn gegen eine falsche Anklage verteidigte, auch mit >Varro. Schloss sich nach >Caesars Tod >Octavian an. † 8 v. Chr. 24,6,10. Cornelius Gallus. Dichter, Zeitgenosse und Freund Vergils, der ihn in Eklogen und in der Georgica erwähnt. Seine Werke sind verloren. 24,12,21. Correggio, Azzo da. Liiert mit den Skaligern von Verona, vorübergehend im Besitz von Parma und damit Gastgeber Petrarcas, bleibt mit diesem liiert. 1354 nach einer Revolte gegen den Skaliger Cangrande II. verdächtigt, flieht nach Ferrara und hält sich nachher an verschiedenen Orten auf. Tod 1362 wohl in Mailand. 19,*5,9 (Anm. bei Rossi). Corvar(i)a, Abt von. Adressat von 13,12. Corvinus, Marcus Valerius, s. Valerius. Corvinus, Marcus Valerius Messal(l)a, s. Messal(l)a. Crassus, Lucius Licinius. Redner. Berühmt sein Edikt von 92 gegen die rhetores latini. Dialogpartner in Ciceros Werk de or. (>Tomyris (>Aurelianus aufgegeben. 14,1,25 und 26. Damoetas. Schlechter Flötenspieler aus der 3. Ekloge Vergils. 21,15,18. Danae. Tochter des Akrisios aus Argos, in einem Turm vor Zeus behütet, der aber als Goldregen zu ihr eindringt. 20,1,27; 24,10,107. Dandalo Andrea. Doge von Venedig (>Nisus. Siegt in einem Wettlauf; findet mit dem Freund im Streit mit Rutulern, einem Volk in Latium, den Tod. 13,10,4 ff. 15,6,6. Eurystheus. Legendärer griechischer König, hat >Herkules zu seinem Dienstmann und fürchtet diesen, weshalb er ihm schwierigste Aufgaben stellt. 21,8,8. Eusebius. Bischof von Kaisareia (>Macrobius, dem Vater nicht ebenbürtig. 23,12,31. Eutropius. Verfasser eines Geschichtskompendiums im 4. Jh. unter Iulianus Apostata und Valens; sein Breviarium blieb als Leitfaden geschätzt auch von >Hieronymus und >Orosius.17,6,4; 23,2,26. Evandrus, s. Euandros. F Fabius, Quintus Maximus Rullianus. 4. Jh. v. Chr. Unter Lucius >Papirius Cursor 325 Befehlshaber der Reiterei. Soll wegen befehlswidrigem Angriff gegen Samniter hingerichtet werden, doch rettet ihn ein Einspruch des Volkes. 22,14,42. Fabius, Quintus Maximus Cunctator. Feldherr (>Dandolo gewählt, während schwerer Unruhen zwischen Popolanen, Marine und Adel im April 1355 mit Anklagen überhäuft und enthauptet.19,9,22–29. Faltonia, Proba. Gattin eines Adelphos; dichtet um 360 n. Chr. ein sogenanntes „Flickgedicht“. Ihr Cento Virgilianus umfasst aus der ganzen Bibel eine Reihe ausgewählter Ereignisse. 21,8,6. Festus, Pompeius. Grammatiker im 2. Jh. n. Chr. Verfasser eines Wörterbuchs mit Wortdeutungen. 24,6,10. Flaccus, Fulvius, s. Fulvius. Flaccus, Gaius (richtig Granius), s. Granius. Flaccus, Horatius, s. Horatius. Flaminii. Angehörige eines plebejischen römischen Geschlechts. 24,8,4. Flavia, Domitilla. Schwester der Kaiser >Titus und >Domitianus. Ihre Enkel, Grossneffen dieser Kaiser werden von Quintilian geschult. 24,7,10. Flavius Domitianus. Grossneffe des Kaisers Domitian; s. Flavia Domitilla. Flavius Vespasianus. Grossneffe des Kaisers Domitian; s. Flavia Domitilla. Flavius Vopiscus, s. Vopiscus. Florus, Annius (Annaeus). Verfasser von Epitome (>Sulpicia erwähnt. 16,8,9. Furiae, Furien, Rachegöttinnen. 24,11,8. Fuscus, Aristius. Grammatiker und Komödiendichter, Freund von Horaz, von ihm als Schalk charakterisiert. 24,10,83.

G Galba. Servius Sulpitius. * 3 v. Chr. Rechtsstudium. Ämterlaufbahn eines Staatsmannes. Kämpfe gegen Germanen, 43 Britannienfeldzug in Begleitung des Kaisers Claudius. Dann Prokonsul in Afrika, später Statthalter in Spanien, wo er 68 Kaiser Nero den Gehorsam aufsagt. Im selben Jahr von Senat und Volk von Rom als Kaiser anerkannt, (vgl. Quintilianus), doch nach Aufständen und Verschwörungen Anfangs 69 in Rom ermordet. 20,1,3; 24,7,10. Galeotto Spinola, s. Spinola. Galli, Bewohner Galliens in der Antike: Boi, Insubri, Senoni etc. (>Nelli empfohlen. 19,6 und 19,7,4. Giovanni Aghinolfi von Arezzo, s. Aghinolfi. Giovanni von Bergamo. Rechtsanwalt, plant eine Reise nach Jerusalem. Adressat von 23,11. Giovanni Boccaccio, s. Boccaccio. Giovanni Petrarca, s. Petrarca. Giovanni Malpaghini, s. Malpaghini. Giovanni Valente. Von Petrarca nicht mit Namen genannt, kann aber wohl als Adressat der Briefe gelten, die Petrarca 1352 an den Dux (Dogen) und Rat von Genua gerichtet hat. 14,5 und 14,6. Glaukos. (Glaucus). Mythische Gestalt. Dämon, weissagender Fischer im Meer, geschildert von Ovid. 21,12,24. Gonzaga. Herrschende Familie in Mantua (>Scipio geschlagen, überwindet 207 die Alpen und vergrössert sein Heer mit Kelten, um Hannibal Hilfe zu bringen, verliert aber sein Leben am Metaurus im Kampf gegen Livius Salinator. 18,1,31. Hebraei, s. Iudaei. Hekabe (Hekuba). Zweite Gattin des >Priamos, Mutter vieler Kinder, unter denen >Hektor ihr Liebling ist. Ihn versucht sie umsonst vom Kampf mit >Achilles abzuhalten. In Legenden vielfach verändert; ob ihren Klagen und Schmähungen in einen Hund verwandelt. 20,2,2. Hektor. Troischer Held (>Menelaos, von >Paris entführt, was den zehnjährigen Troischen Krieg veranlasst. 13,8,3. Hemina, Cassius, s. Cassius. Henricus VII. Kaiser (>Alexanders des Grossen, mit dem er aufwuchs, rückt 327 mit seiner Heerestruppe in Indien ein, gründet viele Städte, wird Schwager Alexanders; † 324. Seine Freundschaft mit dem Fürsten wird Gegenstand vieler Gerüchte. 13,10,6. Herakles (Herkules). Kraftstrotzender Halbgott (>Nebukadnez(z)ar, in der Trunkenheit durch >Judith mit dem Schwert enthauptet. 21,8,21. Homeros. Griechischer Dichterfürst (>Inachos. Schutzgottheit und Zauberin der Ägypter, thronend mit Kind auf dem Schoss. 15,9,17; 21,8,5. Isokrates. Redner (>Peirithous; vergeht sich gegenüber Iuno und wird zur Strafe in der Unterwelt an ein sich drehendes Rad gebunden. 13,4,5.

J Jacobus der Ältere. Apostel, verehrt als Santiago in Compostela. 16,8,2. Jaime II. (Jacobus). Letzter König des von 1276–1343 bestehenden Königreichs Mallorca, 1343 verbannt, 1349 im Kampf umgebracht. Mallorca fällt an Aragon zurück. 15,7,12. Jakob. Sohn Isaaks (>Genuesen 1349 und später einer Liga 1352. Gegen ihn erhebt sich Johannes Palaiologos und zwingt ihn zur Abdankung. Tod als Mönch 1383. 18,2,14. Johann(es) von Luxemburg. König von Böhmen (>Hieronymus. 16,12,7; 17,10,9. Lakedaimonii. Spartaner (>Bussolari zum Kampf gegen die Visconti. Doch fällt die Stadt 1359 an Galeazzo Visconti.19,18,35. Lapo da Castiglionchio, s. Castiglionchio. Latini. Latiner (>Maria und Martha von Betanien, Freund Christi, der ihn von den Toten auferweckt. 22,12,27. Lea. Biblische Gestalt. Wie ihre Schwester Rachel Tochter Labens und Gattin >Jakobs. Gebiert ihm sechs Söhne und eine Tochter. 21,8,21. Lelio di Pietro Stefano dei Tosetti, Freund Petrarcas (>Bacchus (>Asinius Pollio. 24,9,6 und 8–9. Licinius Crassus, Lucius, s. Crassus. Licinius Crassus, Marcus. Besonders durch Reichtum bekannt (>Neoptolemos, den er bei sich versteckt und dem Odysseus herausgeben muss (>Philopoimen. Unterwirft Messenien 182. Hält auf Wahrung der Unabhängigkeit von Rom gegen >Q.Caecilius Metellus und sucht Hilfe bei den Ptolemäern. † nach 168. 15,14,22. Lykurgos. Begründer der Verfassung Spartas. (>Octavian/Augustus mit diplomatischen Aufgaben betraut, öfters dessen Stellvertreter in Rom. Schriftsteller, grosser und reicher Gönner eines literarischen Kreises, speziell junger Dichter, auch des >Horaz und >Vergil. † 8 v. Chr. 23,12,32; 24,10,77. Maecenas. Übername als Ehrung des Niccolò >Acciaiuoli. 22,6,1. Maecianus, Lucius Volusius, s. Volusius. Maedi. Medier. Volk im Süden des Kaspischen Meeres, vermag sich gegen Perser nicht zu halten und wird von Kyros 553 unterworfen.Wird zu den sich folgenden Grossreichen gerechnet, die >Daniels Traum vom Koloss mit den tönernen Füssen anzeigt. 17,3,44–45; 19,9,3. Mahommed. * um 570/580 in Arabien. Verfasser des Korans. Gründer des Islams. 15,9,17. Malabaila, Giovanni. Bischof von Treviso von 1352–1355. Denkt an die Gründung einer Kartause. 16,2,2. Malachias. Prophet. Das Buch seines Namens ist identisch mit Buch Reges 3. 6,1,24; 6,5,13. Malatesta, Pandolfo II. von Rimini. Steht vorübergehend in militärischen Diensten der Visconti, dann im Dienst der Florentiner und später des Kardinals Albornoz.1364 folgt er seinem Vater Antico in der Regierung und stirbt 1373. Er ist Liebhaber von Gedichten, vornehmlich von volkssprachlichen, und schreibt selber Sonette. Petrarca schenkt er grosse Verehrung und pflegt mit ihm Freundschaft. 23,20,1.4–6 und 8. Adressat von 22,1. Mallius, Lucius. Römischer Maler (>Boulogne. 13,1,4–10. Marius, Gaius. Gegner Sullas (>Iason, den sie später zum Gatten nimmt; dann mit grauenhafter Rache straft.19.3.6. Mercurius. Götterbote,Beherrscher mancher Künste; Erfinder der Leier. 24,10,25 (Verszählung Rossi). Messalla Corvinus, Marcus Valerius. Staatsmann und Redner (>Cincinnatus gerettet, aber für sein Versagen hart bestraft. 22,14,40. Minutius Rufus, Marcus. Dictator neben Quintus Fabius Maximus (>Correggio; flieht aus der Stadt 1354 anlässlich eines Aufstandes gegen Cangrande II. della Scala. und hält sich nachher im Dienst Azzos an verschiedenen Orten (vorzüglich in Ferrara) auf. Adressat von 19,5. Monet, Raymond. Hochgeschätzter Wirtschafter Petrarcas; er und seine Frau dienen dem Dichter mit letzter Hingabe. † 1352/1353. 13,8,8; 16,1,1.4–8 und 9; 17,5,9. Monica (Monnica). Mutter des Kirchenlehrers >Augustinus (>Nereiden, besitzt die Gabe der Weisheit und Weissagung. Warnt (bei Horaz) Paris mit einer Prophezeiung vor der Zukunft. 24,10,105. Neri, Morando.1350 ist er Podestà in Padua, dann amtete er am Hof des Dogen Andrea Dandolo in Venedig, vertritt 1354 diese Stadt vor Karl IV. in Mantua und begleitete den Kaiser dann auf seiner Romreise. Adressat von 20,1; 20,2; 21,10 und 21,11. Nero. Gaius Claudius, s. Claudius. Nero Claudius Drusus. Kaiser (>Domitians 96 zum Kaiser erhoben – adoptiert, weil kinderlos – 97 Ulpius Traianus, bemüht sich um Verminderung der Staatsschulden und fördeert soziale Institutionen, † 98. Mit ihm beginnt die Reihe sog. Adoptivkaiser, die ohne Rücksicht auf Familienzugehörigkeit als Geeignetste zu Kaisern erhoben werden. 15,14,20. Nestor. Greiser Ratgeber vor Troia (>Euryalos, rächt den Tod desselben und stirbt. 13,10,2 und 4; 15,6,6; 21,15,29. Numa Pompilius. Zweiter König von Rom (>Hippolyte. 21,8,8. Orosius, Paulus. Christlicher Geschichtsschreiber (>Colonna zu Senatoren ausrufen. Wird aber vom Papst nicht bestätigt, dann dem Volk rasch unerträglich und 1353 mit einem Steinhagel umgebracht. 15,1,6 und 11;16,8,4. Ovidius, Publius Naso. Dichter; von Augustus verbannt (>Cervidius Scaevola, befreundet mit Kaiser >Septimius Severus, unter welchem er zu hohen Ämtern aufsteigt. Wird gerühmt für praktischen Verstand und ethisches Denken, kurze prägnante Rede. Caracalla, (Bassianus) lässt ihn, weil er seinen Brudermord tadelt, 212 umbringen. 17,1,36; 20,4,19. Papirius Publius Lucius Cursor. Bewährt in Samniterkriegen. Bestraft mit Härte Quintus Maximus Rullianus >Fabius, den Anführer der Reiterei (>Boethius. 16,2,9. Parthi. Parther. Volk im Süden und Südosten des Kaspischen Meeres in dem von Arsakes I. (nicht datierbar) gegründeten Reich, das von Mithradates I. (171–138) zum Grossreich erweitert wird und unter Mithradates II. (138–87) in die Interessenssphäre der Römer eingreift. >M.Licinius Crassus bezahlt 53 einen Angriff auf Parther bei Karrhae mit seinem Leben. Caesar plant einen Feldzug dahin, wird aber vorher ermordet (>Capra empfiehlt (>Ambrosius. Zieht nach dessen Tod nach Afrika. Schreibt dort auf Anregung >Augustins eine erbauliche Lebensgeschichte des Ambrosius. 23,19,4.

754 Paulinus. 409 Bischof von Nola. Stammt aus senatorischen Kreisen in Bordeaux. Lebt 353/354–431, steht im Kontakt mit allen bedeutenden Bischöfen seiner Zeit, verficht freiwillige Armut und schenkt seinen Reichtum den Armen. 15,14,25. Paulus. Völkerapostel. (>Scaevola; Zeitgenosse des Juristen >Ulpianus, Beisitzer des Juristen >Papinianus, unter Alexander Severus (222–235) Praefectus praetorio und kaiserlicher Rat; wird in den Digesten des Corpus iuris civilis Iustinians besonders häufig aufgeführt. 20,4,20. Peisistratos. Tyrann von Athen (>Odysseus (>Septimius Severus zum Kaiser ausgerufen. 194 von Gegnern besiegt und enthauptet. 22,14,27–28.30–32.52 und 67. Petracco. Vater von Francesco Petrarca (>Phoibos den Sonnenwagen und stürzt mit diesem in einen mythischen Strom. 20,7,3. Phaidra (Phaedra). Gattin von Theseus (>Gordian ermorden und sich 244 zum Kaiser ausrufen. Kämpft an der Donau gegen Germanen und feiert Triumph in Rom; 249 verliert er bei Verona in einer Schlacht sein Leben. 20,2,3. Philippos II. König von Makedonien (>Philippos V.) wie von Rom (>Flamininus und >Caecilius Metellus). Mit 70 Jahren wird er im Kampf gefangen und vergiftet. Vgl.Lykortas. 13,4,18; 15,14,22. Phinees (Phinas). Nach Num. 25,6 ff. Priester der Israeliten, durchbohrt einen Israeliten und eine Midianiterin auf ihrem gemeinsamen Lager und wendet damit Gottes Zorn vom auserwählten Volk ab. 20,4,30. Phintias. Freund des >Damon (>Boccaccio gewinnen, ab 1360 in Florenz Vorlesungen zu halten und Homer zu übersetzen. 1365 Tod durch Blitzschlag auf der Reise und Versenkung im Meer. 24,12,1–2.30–31 und 34. Pisani. Volk von Pisa. 14,5,26;19,9,9; 20,1,20. Platon. Philosoph; Gründer der Akademie (>Scipio Aemilianus am Punischen Krieg teil, kehrt nach der Zerstörung Karthagos und dem Fall Korinths 146 ins Vaterland zurück. Sein Hauptwerk schildert Roms Aufstieg zur Weltmacht und seine folgenden Kriege von ca. 220 bis 144 in der Gegenüberstellung griechischer und römischer Ereignisse. 24,8,6. Polybios. Freigelassener des >Caligula, einflussreich unter >Claudius. Bekannt für Paraphrasen zu Homer und zu Vergils Aeneis. Ihm diktiert Seneca gewisse Schriften. 24,5,19. Polykleitos. Bildhauer (>Cato Uticensis (>Horatius. 24,1,7; 24,10,90 (Verszählung Rossi). Potheinos. Erzieher von Ptolemaios XIII. (>Pudentiana, Märtyrerin. 16,8,9. Priores. Vier ungenannte Vorsteher der Kartausen Casotto, Montrieux, Valbonne und Grande Chartreuse.16,2, 1–3 und 10; 16,2,4–5; 16,2,1–3 und 10; 16,2,8. Prisca.Verehrt als römische Märtyrerin. 16,8,9. Priscianus. Grammatiker (>Praxedis. 16,8,9. Pulice, Enrico von Costozza (Custoza) oder Vicenza. Notar in Vicenza. Disputiert 1351 mit Petrarca und Freunden über Cicero,

757

Personenregister begrüsst Karl IV. 1354 mit einem Gedicht in Hexametern stirbt nach 1354. Adressat von 24,2. Pyrrhos. König von Epeiros (>Caepio aus dem Kerker und flieht mit ihm. 13,10,5. Regulus, Marcus At(t)ilius, s. Atilius. Remus. Zwillingsbruder des >Romulus, von ihm umgebracht. 18,1,37. Rinaldo Cavalchini da Villafranca. Grammatiker humanistischer Prägung in Verona, schon früh dichtender Korrespondent Petrarcas, Lehrer von Petrarcas Sohn >Giovanni, befreundet mit >Guglielmo Pastrengo. 13,3,1; 22,11,2; 24,12,32. Adressat von 13,2. Robert VII. Graf der Auvergne und von Boulogne, Vater des Kardinals >Guy de Boulogne. 13,1,7. Roberto d’Angiò, s. Anjou. Romanae. Römerinnen. Sie begegnen Petrarca auf ihrer Pilgerfahrt nach Santiago di Compostela. 16,8,1–9.

S Sabini. Volk in Mittelitalien (>Gracchen; widersetzt sich 87 einer Ächtung des >Marius, bekleidet auch andere Staatsämter, ist 117 Konsul, 90 Lehrer Ciceros, später dessen Gesprächspartner in de rep., in de amic. und de orat. 20,4,18. Scaevola, Quintus Mucius. Lebt 140–82. Berühmt als Pontifex Maximus, bekleidet das Amt ab 115; ist hochgebildeter, unbestechlicher Rechtsgelehrter, Konsul 95 v. Chr. mit L.Licinius >Crassus, bald nach einem ersten Attentat ermordet. 17,1,36; 18,11,1; 20,4,18. Scala, della. Skaliger. Herrschende Familie in Verona, 1354 zerrissen durch Streit unter Brüdern, verwickelt in Kämpfe mit benachbarten Mächten. 19,9,10. Sciarra Colonna, s. Colonna.

Personenregister Scipio, Gnaeus Cornelius. Bruder des Publius Cornelius.16,1,3. Vgl. den folgenden Scipio Publius. Scipio, Publius Cornelius. Bruder des vorgenannten Gnaeus Cornelius Scipio und Vater des Scipio Africanus Maior. Er und Gnaeus Scipio liefern Hasdrubal 217 am Ebro eine Schlacht und nehmen 212 Sagunt ein, können aber die Karthager nicht vertreiben und fallen in Spanien. 13,4,13; 16,1,3; 23,2,25. Scipio, Publius Cornelius. Sohn des vorangehenden, Africanus Maior als Held im 2. Punischen Krieg (>Gracchus, flieht vor dem Volkszorn übers Meer und stirbt 132 in Pergamon. 18,1,31. Scoti. Schotten. Erste Versuche der Römer zur Eroberung ihres Landes 84 unter dem Statthalter Agricola. Später kämpfen die Schotten, sich selbst überlassen, gegen Angelsachsen, Dänen, Wikinger, Normannen. Der Aufbau einer anglo-normannischen Kultur findet unter König David I.(1124–1153) statt. Später folgen Kämpfe zur Abwehr englischer Ansprüche. Edward I. (1272–1307) bekräftigt solche, und trotz glänzendem Sieg der Schotten über die Engländer 1314 bei Bannockburn halten die Grenzkriege an. 22,14,2. Semiramis. Babylonische Königin (>Reginus befreit ihn und flieht mit ihm. 13,10,5. Servius. Verfasser eines Vergilkommentars (>Syphax und vermag ihn von einem Übertritt zu den Römern abzuhalten. 18,7,3. Sophron. Lebt im 5. Jh. in Syrakus. Wird geschätzt für seine Mimen, nicht zuletzt von Platon. 22,10,11. Spartani; s.Lakedaimonii. Spartianus, Aelius. Einer der verschiedenen angeblichen Verfasser der Historia Augusta (>Fulvius, Flaccus Quintus, berühmt als ehrbarste Frau ihrer Zeit, Mutter von 3 Söhnen. 16,8,9. Sulpicius Rufus Servius. Steht jahrelang in engem Kontakt mit Cicero, vielleicht identisch mit dem Dichter, den Horaz in der Sat. 1,10 erwähnt. 24,6,10. Sulpicius Severus. * um 360 in Aquitanien, † um 420. Chronist und Hagiograph, bekannt vor allem für seine Vita des hl. Martin von Tours, befreundet mit >Paulinus von Nola. Eifriger Verfechter von Askese und freiwilliger Armut. Eine Epist. erwähnt 15,14,18. Suetonius Tranquillus Gaius. Wichtig in erster Linie alsVerfasser von Kaiserbiographien (>Lucretias (>Brutus aus, um ihn vor Schergen des Antonius zu retten; wird erkannt und umgebracht. 13,10,6. Teutoni (theutones). Deutsche. 13,7,11; 17,5,13; 17,7; 19,2,2; 22,14,5; vgl. Germani. Themistokles. Staatsmann in Athen (>Calpurnius Piso. 22,14,40. Titus. Kaiser (>Helene, da sie (wie die Dioskuren) von Tyndareos abstammt. 13,8,3.

U Ulixes, s.Odysseus. Ulpianus, Domitius. Hervorragender spätrömischer Jurist aus Tyros, tätig in Rom unter >Caracalla, Heliogabalus (von diesem verbannt) und >Alexander Severus. Seine Schriften sind Digesten, Kollationen, Kommentare, Monographien. 17,1,36; 18,11,1; 20,4,20. Ulpius, Marcellus. Als Jurist Mitglied des kaiserlichen Rates von >Antoninus Pius; zu seinen Schriften gehört das Werk de officio consulis. 20,4,18. Vgl.den folgenden Namen. Ulpius, Marcellus. Vielleicht identisch mit dem vorgenannten Juristen. Statthalter von Pannonien unter >Marc Aurel und Statthalter in Britannien unter Commodus, ob seiner Strenge bei Soldaten verhasst. 20,4,18. Umbri. Umbrier. Erstes Treffen mit den Römern ca. 390. Ab Mitte 3. Jh. friedliche Romanisierung 18,1,40.

V Valens Salvius, s. Salvius. Valerianus, Publius Licinius. Kaiser. * Um 190. Als militärischer Befehlshaber in Rätien 253 von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen. Schutz der Grenzen im Westen, Kriegführung mit dem Sohn im Osten und Christenverfolgung in Kappadozien. 259 Versuch, Edessa

761 von Persern zu befreien. Gefangennahme durch Perser, später würdeloser Tod. 15,7,18. Valerius Antias. Annalist, schreibt um 100 v. Chr. und füllt mindestens 75 Bücher, wird von späteren Historikern, so von Livius, benützt. Sein Werk ist nur durch Zitate bekannt. 24,9,6. Valerius Maximus. Verfasser einer Sammlung von Exempla (>Jean le Bon. *1337; Herzog der Normandie.1364–1380 König von Frankreich. Führt den Kampf seines Vaters um den französischen Thron weiter. 22,13,2 und 8. Vgl. den folgenden Valois. Valois, Jean le Bon. König von Frankreich 1350–1364. Kämpft gegen den englischen König >Edward III. um den französischen Thron; wird 1356 entscheidend geschlagen, verbringt 4 Jahre in englischer Gefangenschaft und zahlt für seine Befreiung ein Lösegeld, das er nicht ohne Hilfe der >Visconti beschafft. In deren Auftrag reist Petrarca nach Paris. 22,13,2 und 8. Varius (bei Petrarca Varus) Rufus, Lucius. Dichter, zur Zeit des Augustus berühmt, Freund von >Vergil, von >Horaz in ars erwähnt, Verfasser von Lehrgedichten und Tragödien. Aus Zitaten bekannt. 24,12,21. Varro, Marcus Terentius. hoch gelehrter Zeitgenosse Ciceros (>Caesars Ermordung >Antonius an, kämpft in dessen Auftrag gegen die Parther, erlangt 38 dank List einen Sieg über sie, stirbt 31 vor der Schlacht von Actium. 22,5,11. Venus. Göttin der Liebe. 15,8,19; 24,10,16. Veranius Pontificalis (bei Petrarca Veratius). Begleitet >Germanicus nach Asien; ordnet 17 als Legat Kappadozien, ist 18 Statthalter in Syrien, erlebt 19 den Tod des Germanicus und bekräftigt die Anklage gegen Gnaeus Calpurnius Piso, er habe Germanicus vergiftet; erhält dafür ein Priesteramt. 24,6,10. Veratius Pontificalis, s. Veranius. Vercingetorix. Keltischer Anführer im Germanenaufstand 52 v. Chr. gegen Caesar; erliegt nach einem Kampf der verbrannten Erde der ihn umzingelnden römischen Übermacht und muss sich mit dem halb verhungerten Heer den Römern ergeben. Wird eingekerkert und 46 hingerichtet. 20,2,4. Vergilius Maro. Grösster römischer Dichter (>Augustinus. Wird von Petrarca fälschlicherweise Märtyrer genannt. 21,14,11. Vindius Verus. Spätrömischer Jurist. 20,4,18. Viridomarus. König der Insubrer, fällt 222 im Kampf gegen >Claudius Marcellus Marcus. 17,5,13. Visconti, Stadtherren von Mailand. 17,4,2. Visconti, Bernabò. 1319–1385, ist unter den drei Neffen des Bischofs >Visconti Giovanni der jüngste, dabei die treibende Kraft in der Expansionspolitik gegen eine Liga umliegender Städte und ab 1353 gegen Kardinal >Albornoz, unbekümmert um kirchliche Sentenzen. Die Heirat mit Regina della >Scala liiert ihn mit dem Hof von Verona. Er ist mit Galeazzo ein Gastgeber und Auftraggeber Petrarcas. 22,6,4. Visconti, Galeazzo. ca.1320–1378, tritt in der Regierung hinter den vorgenannten Visconti zurück. Sucht dank Heirat mit Bianca von Savoien den Rückhalt ihres Hauses.Gründet auf den Rat Petrarcas nach dem Gewinn Pavias 1364 ebendort eine Universität. 19,3,8; 19,13,3; 22,6,1 und 4; 23,8,7. Visconti, Giovanni. 1290–1354. Erzbischof und Stadtherr von Mailand, Onkel der vorgenannten Nachfolger. Entschlossener Vertreter der Interessen Mailands. Überredet Petrarca zur Niederlassung in seiner Stadt. Nimmt 1353 Genua in seine Schutzherrschaft. 16,11,9; 16,12,7–9; 17,4,5–9; 17,6,3; 17,10,9; 18,16,3; und 16–17; 19,16,13.

763

Personenregister Visigoti. Westgoten. Wandern aus dem Norden in den Süden; rücken Ende 3. Jh. n. Chr.in kleinen Scharen über die untere Donau ins römische Reich vor, ab Ende 4. Jh. in Massen. Ihr König Alarich findet Widerstand durch >Stilicho, erscheint aber nach dessen Tod vor Rom, belagert es 408 und plündert es 410, jedoch ohne entschiedenen Nutzen. 15,7,18. Volsci. Ein Volksstamm in Latium. Häufige, teils legendenhafte Kämpfe mit Rom, allmähliche Beruhigung nach dem Latinerfrieden von 338 v. Chr. 18,1,39. Volteius. Militärtribun unter Pompeius dem Grossen, treibt seinen Soldaten in einer einzigen Nacht die Todesfurcht aus. 16,12,2. Volumnius. Freund des Lucullus, der als Parteigänger des Brutus von M. Antonius erschlagen wurde, ist um diesen nach dem Tod besorgt, und will von Antonius neben Lucullus den Tod erleiden; erwähnt bei Val. Max. im Kapitel der Beispiele für Freundschaft. 13,10,5. Volusius Maecianus, Lucius. Jurist, * wohl vor 110; bekleidet hohe Ämter, ist um 160 Präfekt von Ägypten. Wirkt als Lehrer von Kaiser Marc Aurel und Mitglied seines Rates. 20,4,18. Vopiscus, Flavius. Einer der angeblichen Verfasser der Historia Augusta. Zitate aus Probus 22,14,39. Vulcatius, (Volcatius) Gallicanus. Einer der angeblichen Verfasser der Historia Augusta. Zitate aus Avidius Cassius. 22,14,32.33.34. 35–36.37.52. Vulteius, s. Volteius.

W Wenzel von Luxemburg. Sohn Karls IV, * 1361; König von Böhmen 1378–1400; † 1419. 23,2,33.

X Xenokrates. Schüler Platons (>Aurelianus zum Krieg rüstet. Er unterwirft sie 272, muss aber 273 nochmals gegen Palmyra ausziehen und zerstört es. Über Zenobias weiteres Schicksal besteht Unklarheit. 21,8,14.