Faktoren der politischen Entscheidung: Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag [Reprint 2018 ed.] 9783110825770, 9783110001228


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German Pages 461 [468] Year 1964

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
ERSTER TEIL Theoretische Grundlagen der politischen Entscheidung
Politics, ethics, religion and law
Die Maßstäbe der politischen Entscheidung
Zum Begriff des politischen Stils
Faktoren nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens
Über Entscheidungen und Formen des politischen Widerstandes in Deutschland
Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik
Staatsräson und Ideologie in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen
ZWEITER TEIL Zur Empirie der politischen Entscheidung
Oberbefehl und Regierung in der neueren Geschichte
Anfänge des deutschen Parlamentarismus
Baker v. Carr: Policy Decision und der Supreme Court
Bureaucracy and interest groups in the decision-making process of the Fifth Republic
Die Kontrolle von Regierung und Verwaltung in Großbritannien
Rechtliche Garantien der innergewerkschaftlichen Demokratie
Plebiszitäre Demokratie und Staatsverträge
Die Volksbefragung in der Schweiz
Zur Rolle der Führungspartei in einigen jungen Staaten Afrikas
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Faktoren der politischen Entscheidung: Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag [Reprint 2018 ed.]
 9783110825770, 9783110001228

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Faktoren der politischen Entscheidung

Faktoren der politischen Entscheidung

Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Gerhard A. Ritter und Gilbert Ziebura

1963 Walter de Gruyter & Co. / Berlin vormals G. J. Göschcn'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.

© Archiv-Nr. 4163 64/1 Copyright 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner · Veit öc Comp. · Printed in Germany · Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomedianisdien Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. · Satz und Drude: Thormann & Goetsch, Berlin 44.

Vorwort Den Tag, an dem Ernst Fraenkel auf der Höhe akademischer Wirksamkeit seinen 6 5. Geburtstag feiert, nehmen einige seiner Freunde, Kollegen und Schüler zum Anlaß, um ihm als Zeichen ihrer Verehrung, ihrer Dankbarkeit und ihrer Verbundenheit diese Festschrift darzubringen. Sie ehren in ihm vor allem jenen Lehrer und Forscher, ohne den die junge deutsche Politologie nicht das wäre, was sie ist. Ganz läßt sich diese Leistung nur ermessen, wenn man sich vor Augen hält, daß Ernst Fraenkel sich hauptberuflich erst in den Dienst dieser Wissenschaft stellen konnte, nachdem er das 50. Lebensjahr bereits weit überschritten hatte. Aber es bedurfte gewiß eines von der Politik entscheidend gezeichneten Lebensschicksals, damit der „Spätberufene" sich dann mit um so größerer innerer Leidenschaft und Einsatzfreude der neuen Sache verschrieb. Mit diesem persönlichen Engagement, auf das er nie, auch nicht in den schwierigsten Momenten seines Lebens, verzichtet hatte, trug er wesentlich dazu bei, der Wissenschaft von der Politik in den deutschen Universitäten zum Durchbruch zu verhelfen. Sein Weg zu dieser eigentlichen Lebensaufgabe mag lang und verschlungen erscheinen; in Wirklichkeit w a r er voll Logik und Konsequenz. Die letzten Friedensjahre des Wilhelminischen Reiches und den Kriegsausbruch erlebte Ernst Fraenkel in seiner Geburtsstadt Köln. Nachdem er in jungen Jahren seine Eltern verloren hatte, siedelte er 1 9 1 5 nach Frankfurt/M. über. Hier, im liberalen Klima dieser Stadt und in einem Hause, in dem man sich mit der Arbeiterbewegung solidarisch fühlte, empfing er die ersten prägenden Einflüsse. Diese noch sehr allgemeine Hinwendung zum Gedankengut der demokratischen Linken verstärkte sich unter dem Eindruck der Fronterfahrung und der mit wachem Geist erlebten Revolution. Auch die nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte in Frankfurt und Heidelberg begonnene Tätigkeit als Assistent bei dem bedeutenden Frankfurter Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer förderte diese Entwicklung beträchtlich. Die Ausübung des Berufs als Rechtsanwalt trennte Ernst Fraenkel nun nicht mehr von einem im Laufe der Zeit sich noch intensivierenden politischen Engagement, zuerst in der ihm besonders am Herzen liegenden Arbeiterbildung als Dozent

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Vorwort

an der Akademie der Arbeit, dann gemeinsam mit dem unvergeßlichen Franz Neumann, dem späteren Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Columbia, als Syndikus des Metallarbeiterverbandes und anderer Gewerkschaften. Nebenbei fand er Zeit für eine rege publizistische Aktivität auf arbeitsrechtlichem und sozialpolitischem Gebiet. Wie sehr ihm das Schicksal der Weimarer Republik naheging, zeigen die scharfsinnigen, von wachsender Besorgnis erfüllten Analysen ihrer Endphase, die er in den Zeitschriften „Die Justiz" und „Die Gesellschaft" veröffentlichte. Es ist keine Frage, daß er aus der Zugehörigkeit zu dem an Talenten überreichen Mitarbeiterteam der „Gesellschaft" reiche Anregungen f ü r die künftige Arbeit zog. Aus innerem Impuls konzentrierte sich Ernst Fraenkel, als Jude auch selbst zunehmend gefährdet, nach der Machtübernahme durch den N a tionalsozialismus auf die Verteidigung und Interessenvertretung politisch und rassisch Verfolgter. Dieser Anschauungsunterricht gewährte ihm frühzeitig tiefe Einblicke in die Mechanismen eines totalitären Systems, das auch dann verbrecherisch blieb, wenn es mit dem ihm eigentümlichen Zynismus Unrecht durch die formale Beibehaltung der Legalität in Recht zu verwandeln suchte. Mit seinem unbestechlichen demokratisch-rechtsstaatlichen Empfinden durchschaute Ernst Fraenkel rasch diese Zusammenhänge und beschrieb sie im „Dual State", der 1 9 4 1 als eine der eindrucksvollsten Analysen des nationalsozialistischen Totalitarismus in den Vereinigten Staaten erschien. Sein Engagement für die Entrechteten mußte Ernst Fraenkel mit der Entziehung der Zulassung als Anwalt, der die Auswanderung nach den Vereinigten Staaten folgte, bezahlen. Wie für so viele andere Leidensgenossen bedeutete die Emigration auch f ü r ihn einen neuen, schweren Anfang und harten K a m p f um Anerkennung. Aber er machte aus der N o t eine Tugend, indem er in der L a w School der Universität von Chicago das amerikanische Rechtssystem gründlich studierte. Das Schlimmste war überstanden, als 1944 eine im A u f t r a g der Carnegie Endowment verfaßte grundsätzliche Untersuchung über die rechtlichen Aspekte der militärischen Besetzung (am Fall der Rheinlandbesetzung 1 9 1 8 — 1 9 2 3 ) erschien und die amerikanische Regierung ihn im gleichen J a h r in ihre Dienste nahm. Bald darauf entsandte sie ihn nach Korea, w o er in Verbindung mit der UN-Kommission an der politischen Entwicklung des Landes mitarbeitete. Bei dieser Tätigkeit sammelte er reiche Erfahrungen, einmal im Hinblick auf die Problematik der Rezeption westlicher Verfassungsvorstellungen durch ein asiatisches Entwicklungsland; zum an-

Vorwort

VII

deren im Hinblick auf die Entstehung und Zuspitzung des Ost-WestGegensatzes bis zum Umschlag in den heißen Krieg. In Berlin, an einer anderen Nahtstelle der geteilten Welt, fand Ernst Fraenkel dann die Wirkungsstätte, die seinem Temperament am meisten entsprach und seine Kenntnisse und Erfahrungen am dringendsten brauchte. Otto Suhr, der alte Freund aus den Tagen der gemeinsamen Arbeit in der Arbeiterbildung, rief ihn 1952 an die wiedergegründete Deutsche Hochschule für Politik, und es verstand sich von selbst, daß er die Leitung der Abteilung übernahm, die sich dem Vergleich der Herrschaftsformen, dem comparative government, widmen sollte. Er gab dieser Kerndisziplin der Politischen Wissenschaft in systematischer Arbeit Umriß und Substanz, was um so höher zu werten ist, als er auf keinerlei spezifisch deutsche Traditionen aufbauen konnte. Er tat es, indem er nicht einfach Methoden und Ergebnisse der amerikanischen Politologie übertrug, sondern eigene, von der persönlichen Erfahrung untrennbare und aus den besten Quellen der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften gespeiste Fragestellungen entwickelte. Bald wurde er auf dieser Grundlage zum autoritativen Analytiker und Theoretiker dessen, was er die „autonom-pluralistische und sozial-rechtsstaatliche Demokratie" nennt. Von immer neuen Ansätzen her untersuchte er die Wechselwirkung der sie konstituierenden Faktoren, um schließlich im ständigen Vergleich zwischen der anglo-amerikanischen und kontinental-europäischen Entwicklung zu einer eigenen Theorie der Repräsentation und von dort aus des parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystems vorzustoßen. Immer stärker wurde für ihn das systematische Erfassen des Phänomens der politischen Willensbildung und Entscheidung zum zentralen und zugleich spezifischen Forschungsgegenstand der Politischen Wissenschaft überhaupt. Es kann nicht verwundern, wenn die besondere Vorliebe des Juristen in allen diesen Jahren dem Verhältnis von Recht und Politik, diejenige des passionierten Historikers den geschichtlichen Grundlagen der Politik und schließlich diejenige des Wahlamerikaners der amerikanischen Außenpolitik und grundsätzlich dem amerikanischen Regierungssystem galt, dem er ein schon heute klassisches Buch widmete. Darüber hinaus setzte er sich rastlos für den Aufbau und Ausbau der Amerikanistik in Deutschland ein, und zwar mit dem erklärten Ziel, durch wissenschaftliche Kenntnis ein vertieftes Verständnis der führenden Macht der freien Welt zu ermöglichen. So war niemand besser prädestiniert als er, das kühne Projekt der Errichtung eines Amerika-Instituts an der Freien Universität Berlin in die Hände zu nehmen.

VIII

Vorwort

Aber den Forscher Fraenkel gibt es nicht ohne den Pädagogen. In der Tat besitzt er eine seltene Ausstrahlungskraft und Überzeugungsgabe, die seine Studenten und die Hörer seiner zahllosen Vorträge weit über das Otto-Suhr-Institut hinaus in den Bann gezogen haben und ziehen. Diesen Erfolg verdankt er nicht nur seinem Temperament, sondern eben der Tatsache, daß ein engagierter Professor spricht. Eine solche Haltung aber ist nur möglich, weil die Politologie für Ernst Fraenkel nicht nur eine empirisch-deskriptive, sondern eine eminent normative Wissenschaft ist. Für ihn erhält die Analyse des Zusammenspiels staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte im politischen Entscheidungsprozeß erst dann einen Sinn, wenn der Politologe auch den Mut aufbringt, die Frage zu stellen, ob und inwieweit dieser Prozeß in der Lage ist, „zur Realisierung der Wertvorstellungen beizutragen, die den Kitt darstellen, ohne den kein politisches Gemeinwesen zu bestehen vermag". Ernst Fraenkel erhebt damit die Politologie bewußt in den hohen Rang einer, wie er es selbst genannt hat, „Moralwissenschaft", weil sie den Auftrag hat zu prüfen, ob in einem politischen Gemeinwesen jene Bedingungen erfüllt sind, um eine maximale Realisierung des Gemeinwohls zu gewährleisten. Wie viele große Vertreter der Politischen Wissenschaft zu allen Zeiten ringt er mit dem guten Staat, mit der guten Gesellschaft. Weil Ernst Fraenkel an sich und seinem Lebenswerk demonstriert, daß „Politologie kein Geschäft für Leisetreter und Opportunisten" ist, wandelt sich die Lehre in Bekenntnis und erfüllt damit ihre höchste Mission. Mit dem Wunsch, daß der deutschen Politologie die Vitalität und Schaffenskraft Ernst Fraenkels noch lange erhalten bleiben möge, verbinden die Mitarbeiter der Festschrift die Hoffnung, durch ihre Beiträge nicht nur seinem Werk die adäquate Reverenz erwiesen, sondern in seinem Sinne an der Weiterentwicklung dieser Wissenschaft mitgewirkt zu haben. Im November 1963 Gerhard A. Ritter

Gilbert

Ziebura

Inhalt I. T H E O R E T I S C H E

GRUNDLAGEN

DER

POLITISCHEN

ENTSCHEIDUNG

Hans

Kelsen

Politics, ethics, religion and law Otto Heinrich v. d.

Gablentz

Die Maßstäbe der politischen Entscheidung (Prolegomena zu einer politischen Ethik) Arnold Bergstraesser Zum Begriff des politischen Stils Wolfgang

Scheffler

Faktoren nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens Gerhard

Schulz

Uber Entscheidungen und Formen des politischen Widerstandes in Deutschland Karl Dietrich Bracher Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik Richard

Löwenthal

Staatsräson und Ideologie in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen II. Z U R E M P I R I E

Hans

DER

POLITISCHEN

ENTSCHEIDUNG

Herzfeld

Oberbefehl un.d Regierung in der neueren Geschichte Gilbert

Ziebura

Anfänge des deutschen Parlamentarismus (Geschäftsverfahren und Entscheidungsprozeß in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/49)

χ Karl

Inhalt

Loewenstein

Baker v. Carr: Policy Decision und der Supreme Court

237

Henry W. Ehrmann Bureaucracy and interest groups in the decision-making process of the Fifth Republic

273

Gerhard A. Ritter Die Kontrolle von Regierung und Verwaltung in Großbritannien Otto

294

Kahn-Freund

Rechtliche Garantien der innergewerkschaftlichen Demokratie (Betrachtungen zum englischen Recht)

335

Hans Huber Plebiszitäre Demokratie und Staatsverträge (Zum schweizerischen Staatsvertragsreferendum)

368

Max

lmhoden

Die Volksbefragung in der Schweiz

385

Franz Ansprenger Zur Rolle der Führungspartei in einigen jungen Staaten Afrikas

410

ERSTER

TEIL

Theoretische Grundlagen der politischen Entscheidung

HANS

KELSEN

Politics, ethics, religion and law One of the most discussed problems of social philosophy is the relationship between politics, ethics, religion and law. The term "politics" has different meanings. It usually means a specific science, the science dealing with the activity of state governments or of organized groups of men trying to influence this activity; in other words: that part of social science which is called political science. This science may describe and explain the activity of governments as it actually takes place in time and space; then its method is in principle the same as that of natural science interpreting facts as causes and effects. It may, however, deal with the activity of governments not as it actually is, but as it, from a moral point of view, ought to be, that is to say with the problem of good or bad, just or unjust government. Then politics is a branch of ethics, the science of morals. The object of ethics are norms, that is rules, principles prescribing a definite behavior of men in their mutual relations. In this sense ethics is a normative science. If the behavior prescribed by the norms is the specific activity of state governments, ethics assumes the character of politics; politics as part of ethics is a normative science in the sense that norms are its object. If the norms are legal norms they are the object of a science different from ethics, the legal science or jurisprudence. Norms prescribing a certain behavior constitute values: moral, political or legal values. A behavior that corresponds to a norm presupposed to be valid, that is a behavior that actually is as it ought to be, has a positive value, it is morally, politically or legally good or just or right; a behavior that does not correspond to the norm whose validity is presupposed, that is not as it ought to be, has a negative moral, political or legal value, is morally, politically or legally bad, unjust, wrong. A set or system of norms prescribing human behavior we call a normative order, a moral, political or legal order. To designate a system of moral norms also the term "morals" or "morality" is used. If the norms are legal norms we speak of "law". 1*

4

Hans

Kelsen

It is usual to speak of " m o r a l s " or " m o r a l i t y " , to characterize a certain .behavior as moral or immoral, or the activity of a government as just or unjust, as if there were only one moral or political system. This w a y of speaking implies — consciously or unconsciously — the assumption that a definite moral or political system presupposed to be valid — and it is always a definite system which is presupposed to be valid — constitutes an absolute value excluding the possibility of any other moral or political system different from the one presupposed. It is, however, of the greatest importance to be aware of the fact that there is not only one moral or political system, but that, at different times and within different societies, several very different moral and political systems are considered to be valid b y the men living under these normative systems. These systems actually come into existence b y custom or b y commands of outstanding personalities like Moses, Jesus, or Mohammed. If men believe that these personalities are inspired b y a transcendental, supernatural, that is divine authority, the moral or political system has a religious character. It is especially in this case, when the moral or political system is supposed to be of divine origin, that the values constituted b y it are considered to be absolute. I f , h o w ever, the fact is taken into consideration that there are, there were and probably always will be several different moral and political systems actually presupposed to be valid within different societies, the values constituted b y these systems can be considered to be only of a relative character. Then the judgment that a definite behavior is morally good, that the activity of a definite government or a definite legal order is just, can be pronounced only w i t h reference to one of the several different moral or political systems; and then the same behavior or the same governmental activity or the same legal order may, with reference to another moral or political system, be considered as morally bad or politically unjust. T o give an example: the statements that suicide is immoral, or that autocracy is a bad f o r m of government, or that a communist legal order is unjust or no law at all, are, as categorical propositions, unfounded. T h e y are admissible only as the hypothetical propositions: if the moral system of Christianity is presupposed to be valid according to which the life of man is a gift of G o d and that therefore G o d alone m a y terminate life, suicide is immoral; if the moral system of liberalism is presupposed to be valid according to which man ought to be free, freedom meaning self- determination, especially in the field of economic activity, such as realized within a capi-

Politics, ethics, religion and law

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talistic system, then and only then autocracy is a bad form of government, and communist law an unjust law. The value-judgment that such a social order is no " l a w " at all, presupposes the very problematical identification of the concept of law with capitalistic and democratic law. Ethics and politics as sciences can only describe the different moral and political systems, they cannot evaluate them; as sciences they cannot prefer the one to the other. I f they are dealing with a particular system they must present it not as the only possible one, but as one among many others. As sciences they can deal only with moral or political systems which, as social phenomena, as part of human life on this earth, are created by human beings. The belief of men that a moral or political system is of divine origin is a fact which scientific ethics or politics must, of course, take carefully into consideration, because this belief may be one of the causes of the effectiveness of the system concerned. But as sciences they deal with it only as with a psychological fact, they cannot present it as a scientific truth; for it refers to a transcendental, supernatural entity which is beyond the sphere to which scientific cognition is restricted, that is the sphere of human experience controlled by human reason. An unsurmountable abyss separates empirical science from metaphysical-theological speculation. That does not mean that science denies the existence of a sphere beyond the realm accessible to its cognition. True science is well aware of the fact that this realm, though it is steadily enlarged by science, is surrounded from all sides by a secret. But science is compelled to accept the fact that this secret is in the last instance impenetrable to human reason, and human reason is the only instrument to reach scientific truths. Metaphysical-theological speculation tries to fill this sphere, closed to human reason, with the products of an imagination rooted in man's wishes and fears. Science refuses to take these products for truths, although science may admit that, because of their consoling effect, they may be useful illusions. Another point of great importance is that ethics and politics as normative sciences must not be mixed up with the object of their cognition, the normative order they describe. Unfortunately the usage of language in ethics and politics favors this confusion. The term "ethics" is used not only to designate the science of morals, but also morals itself; the adjectives "ethical" and "moral" are employed as synonymous; and by "politics" not only political science, but also the moral principles pre-

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Hans

Kelsen

scribing a definite activite of governments are meant. However, science in general and ethics and politics as sciences in particular, by their very nature, can only describe, not pre scribe. That ethics and politics are "normative" sciences does not mean that these sciences issue norms, but only that norms issued by other authorities are the object of these sciences. The authority of a science is truth, and truth is not a moral or political value. There is an essential difference between the moral code called decalogue laid down in Exodus, Chapter 20, and an ethical treatise on Jewish-Christian morals. The difference consists in that the former is a prescription issued by a moral authority and binding upon Jews and Christians, whereas the latter is a description presented by somebody who has perhaps a scientific but no moral authority, and hence, as description, is not binding at all. It happens, however, quite frequently that in an ethical or political treatise statements are made which have not a merely descriptive but — according to the intention of the author — an outspoken prescriptive meaning, that the author does not restrict himself to — so to speak — mirroring norms contained in a moral or political system, but issues norms without having a moral or political authority. Asked in whose name he is prescribing a definite behavior of men or governments, his answer could only be: in the name of science. As a matter of fact, quite frequently moral or political postulates are pronounced in the name of science. This, however, is an inadmissible misuse of science. Science is the product of cognition expressed in sentence describing an object; cognition is directed at truth; it can not constitute moral or political values. Norms prescribing human behavior are the meaning of acts of will. Will is an emotional element of the human mind which has a highly subjective character, since men differ essentially with respect to that what they want, the objects of their emotions. Hence moral or political values constituted by moralpolitical norms are, in the last analysis, always subjective. Human will is a psychic phenomenon totally different from cognition, the rational element of the human mind. Scientific statements describing an object are or ought to be objective, that means: independent of the emotional element, especially of the will or wish of the subject making the statement. The description of poisonous snakes in a biological treatise is objective if it is independent of the feelings the biologist has with respect to these snakes or of his wish that they should be destroyed. The description of Communism by a political scientist is objective if it is independent of his wish to abolish or to establish this political system.

Politics, ethics, religion and law

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If moral-political norms are pronounced in the name of science, it is done in order to hide the merely subjective character of the values, constituted by these norms, and to claim for them the same objectivity which may be claimed for scientific statements. This, however, is entirely unfounded. In the name of science no moral or political values can be established. In this sense science — even ethics as a normative science — by its very nature must be free from morality; and politics, as a science, must be free from politics as a normative political system. One might say: political science should not be a political science. The paradox implied in this statement is due to the terminological confusion of a science and its object. The same is true with respect to law and the science of law. It is, unfortunately, quite usual to use this term in the double sense of a system of legal norms and of a science whose object these norms are; and to attribute to this science not only the function of describing the law as a normative order, but also the function of pre scribing a definite content of the law, which is a political function incompatible with the nature of science. Religion in the only proper sense of this term is belief in the existence of a transcendental, supernatural power which, if conceived of as a personal being, is called God. It is true that in recent literature a tendency exists to extend the definition of religion beyond the concept of a belief in God, to designate as "religion" any universal view of the world though it may not imply a belief in God, even if it has an outspoken anti-religious, atheistic character; or to speak of a religion if the intensity of the feeling with which men cling to some ideas is the same as the intensity with which a man believes in the existence of God; so that even a scientific doctrine rejecting any presupposition of a transcendental supra-natural power, such as Marxism as the economic interpretation of history, may be characterized as a "religion". It is now fashionale to speak of "secular religions", of "theology without God". This terminology is highly misleading. It makes a distinction necessary between a "secular", that is a non-religious religion and a true, that is a religious religion. The one is a contradiction in terms, the other a meaningless pleonasm. True religion, that is belief in God, is an act of faith, and faith is essentially different from knowledge. Faith is produced by wish and fear, that is by the emotional not, as knowledge, by the rational component of the human mind. The essential function of the object of

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Hans

Kelsen

faith, i. e., of God, this transcendental, supernatural power, in the belief of man, is: to govern the world according to principles of absolute justice, rewarding the good ones, punishing the bad ones, thus protecting the former against the latter. In some, not in all, religions, God is not only the supreme moral authority but also the ultimate cause, the prima causa, the creator of the universe in general and of man in particular. The doctrine of God is theology. It is the contradictory attempt to give true knowledge of what by its very nature is unknowable. The relationship between religion, or rather its doctrine, theology, and science in general, ethics and politics as sciences in particular, I have already discussed. Now I wish to make some remarks concerning the relationship between religion and the object of ethics and politics, the normative order called morals or morality. It is the question as to whether morals can be separated from religion, whether a moral order which has no religious character, a secular morality, is possible, and that means can be effective. It is a widespread opinion that a moral order cannot be effective if men do not believe that the norms of this order are the will of God and sanctioned by divine reward and punishment. This opinion, which is one of the most important arguments for the necessity of religion, is based on the assumption that human behavior, if it is in conformity with morals, is motivated by religious ideas, that is to say by the belief in a rewarding and punishing divinity. This assumption, however, is questionable. First of all, our insight into the motivation of human behavior is very limited. The immediate impulse of actions — even of our own actions — is beyond our observation; and as far as the remote causes of human actions in conformity with a moral order are concerned we must take into consideration the fact that a great part of the norms of a moral order coincide with the norms of the legal order of the same society. Omission of murder, theft, fraud, the repayment of debts is prescribed by morals as well as by law. The difference between morals and law in this respect consists only in that the latter provides for socially organized sanctions, that is coercive acts as reactions against the violations of the normative order, whereas the former does not provide for such sanctions. Since the legal sanctions are to be executed on this earth, they are nearer than the transcendental sanctions of religion; and hence the part the former play in the life of man may be more important than that of a reward in heaven and of a punishment in hell. The usual objection against this argument is: that man actually

Politics, ethics, religion and law

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can escape the earthly justice but not the justice of a divinity which man believes to be omniscient and omnipotent. However, it is an undeniable fact that many crimes are committed by men who firmly believe in God and are very far from being atheists. Their religion does not always prevent them from violating the norms of the moral code of this religion, from committing what, from the point of view of this religion, is called sin. Religion, especially Christian religion even facilitates committing sins in so far as its God is not only a just but also a merciful God, a God who condemns but also pardons the sinner who repents. If one can hope for the mercy of God, it is much easier to commit a sin forbidden by religious morals than to commit a crime forbidden by the law or by a secular morality, which do not know mercy. It is certainly to this possibility of getting pardon, of purifying oneself from the moral evil of which one is guilty, of being freed from the tormenting feeling of guilt, that religion owes its attractive power. If the relation of morals and religion is in question, we must not forget that one of the most important commands of Christian morals is: You shall not kill. War, however, is not only not prevented by this religion, it seems to be permitted by God; for Christian governments before resorting to war pray to God to assist them in this mass murder. We must not forget that in the very name of religion actions have been undertaken which from the point of view of a definite moral order are most abominable, such as the Christian crusades, the Moslem jihads, the trials for witchcraft, the burning alive of heretics by the Spanish inquisition. Since, as pointed out, a great part of the norms of a moral order coincide with the norms of the legal order valid in the same society, within a society in which religion prevails, the law would be superfluous if religion guaranteed conformity of human behavior to the moral and consequently also to the legal order, in so far as the latter coincides with the former. The fact that no such society — at least in modern times — is without law, i. e., without a social order providing for socially organized sanctions, shows that lawmakers do not consider the religious belief of the citizens as a sufficiently effective motive for legal, and that means to a great extent also for moral behavior As far as the psychological analysis of the motives of legal and moral behavior is possible, it shows that in many, if not in the majority of cases men behave in conformity with the legal or moral order not, or not in the first place, motivated by the fear of the socially organized sanctions of the law or of the transcendental sanctions of religion, but

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Hans Kelsen

because they want to get the approval or to avoid the disapproval of their fellow men. This approval and disapproval are the reactions of the members of society to behavior in conformity with or in violation of the social order, be it legal or moral. Whenever in a society a normative order regulating the mutual behavior of men comes into existence, whenever men distinguish between right and wrong behavior, the right behavior of man ought to be and actually is approved, his wrong behavior disapproved by the other members of the society. If a man omits to lie, even if a lie seems to be of immediate use to him, he usually does so, not because he fears to be submitted to some punishment in the other life, but because he knows that a liar is disregarded in this life; if a man pays carefully his debts he does so, not or not so mudi because he is afraid of the civil execution which according to the law is to be directed against him if he does not pay his debts, but because he knows that if he does not pay his debt he will be considered by his fellow men as not trustworthy and hence will lose all credit. Man wants to be esteemed, respected, appreciated by his fellow men. His Geltungstrieb ( — this is in German the technical term for this desire — ) as far as the majority of men is concerned is probably more effective than his religious beliefs. This Geltungstrieb is anyway, from a psychological point of view, sufficient to guarantee the effectiveness of a secular moral order, that is a social order which, in contradistinction to a religious moral order, does not provide for transcendental sanctions, and, in contradistinction to a legal order, does not provide for socially organized sanctions. Hence there is no reason to assume that within a society where there is no religion, no morality will exist, that social chaos will arise. There is no reason to assume that morals cannot be separated from religion; and that a positive law, in order to be effective, must — directly or indirectly — guarantee religious belief in general or the observance of a particular religion.

OTTO HEINRICH

v. d.

GABLENTZ

Die Maßstäbe der politischen Entscheidung (Prolegomena zu einer politischen Ethik)

I. Person und Gemeinwesen in der Geschichte Die politische Wissenschaft kommt nicht darum herum, eine politische Ethik zu entwickeln. Das liegt in der Natur des Objekts und in der Natur der Methode. Die politische Wissenschaft ist eine Wissenschaft vom Menschen. Sie ist eine Wissenschaft vom Staat. Und sie ist eine Wissenschaft von Ereignissen. Als Wissenschaft vom Menschen hat sie mit einer Schicht des Seins zu tun, die sich nicht nach der Seite der N a tur oder des Geistes hin auflösen läßt, mit einem Wesen, das zum Bereich der Notwendigkeit und zum Bereich der Freiheit gehört. Als Wissenschaft vom Staat — korrekter vom „politischen Gemeinwesen" — hat sie es mit sozialen Gestalten zu tun, die in vieler Hinsicht Analogien zu den organischen und zu den technischen Gestalten bieten. Constantin Frantz hat einmal sehr glücklich von der „organischen" und der „architektonischen" Seite des Staates gesprochen1. Als Wissenschaft von Ereignissen, die sich in der Zeit abspielen, gehört die politische Wissenschaft mit der Geschichtswissenschaft aufs engste zusammen. Alle Versuche, die beiden Bereiche gegeneinander abzugrenzen, laufen letzten Endes nur darauf hinaus, daß sie dasselbe Objekt unter verschiedenen Aspekten untersuchen, die eine mehr generalisierend, die andere mehr individualisierend, daß aber grundsätzliche Verschiedenheiten der Methode nicht festzustellen sind2. Erst wenn man den Menschen in der Organisation sieht, die Organisation als eine menschliche, den Menschen und sein Gemeinwesen im Ablauf der Geschichte, versteht man auch die einzelnen Elemente unserer Wissenschaft richtig. 1

des Staates, Leipzig und Heidelberg 1870,

2

Vierteljahres-

Constantin Frantz, Die Naturlehre S. 27/28.

Hans Mommsen, Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft, heft für Zeitgeschichte 1962, 4.

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Otto Heinrich v. d.

Gablentz

Der Mensch ist ein Lebewesen und muß als solches biologisch betrachtet werden. Er hat Triebe und hat Bewußtsein und muß in Bezug auf diese Elemente und ihr Zusammenspiel psychologisch untersucht werden. Aber er hat auch Selbstbewußtsein, und dazu gehört der Abstand von sich selbst und die Selbstkritik. Wenn man dem nicht nachgeht, nicht untersucht, ob und wieweit der Mensch sich selbst erfüllt oder sich selbst verfehlt, verfehlt man das Objekt der Untersuchung. Wer den Menschen nicht als frei und verantwortlich nimmt, sieht nicht mehr den Menschen im Menschen. Eine Anthropologie, die auf die Wertung des Verhaltens verzichtet, ist sachlich falsch 3 . Die Institutionen, in denen der Mensch lebt, die er selbst f ü r sich errichtet, sind keine Organismen. Das entscheidende Argument gegen die „organische Staatsauffassung", wie sie noch ein Otto v. Gierke vertreten hat 4 , ist, daß der Mensch auch außerhalb der Gruppen, zu denen er gehörte, er selbst bleibt, während ein vom Organismus getrenntes Glied verfällt. Eine abgehackte H a n d ist nur noch ein Stück Fleisch und Knochen; ein Emigrant findet einen neuen Staat, ein neues Volk, mag ihm auch immer eine seelische und geistige Narbe bleiben. An Stelle des mißverständlichen Begriffes vom „sozialen Organismus" gebrauchen wir daher jetzt den Begriff der „sozialen Gestalt", von der sich der O r ganismus als biologische, der Apparat als technische Gestalt unterscheidet5. Aber die Analogien sind nicht zu übersehen. Es läßt sich durchaus eine vergleichende Gestaltwissenschaft denken, die hinter die spezifisch biologischen und sozialen Elemente zurückgreift, die auch die technischen Gestalten einschließt. Wir sprechen ja längst ganz unbefangen von der Struktur der Gesellschaft und nehmen damit auf, was Schäffle seinerzeit unter „Bau und Leben des sozialen Körpers" verstanden hat. Dabei kommen die unverwüstlichen Tönniesschen Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft wieder zu Ehren. Wenn wir vom „Willen" einer Gruppe sprechen — und ohne solche abkürzende Sprache kommt keine Sozialwissenschaft aus — dann meinen wir einerseits den „Wesenwillen", der aus dem Unbewußten kommt (wobei man allerdings mit der Heranziehung von C. G. Jungs „kollektivem Unbewußten" etwas vorsichtiger sein muß, als Imboden 6 ), andrerseits den „Kürwillen", der 3 Wilhelm Weischedel, Aspekte der Freiheit; Otto Heinrich v. d. Gablentz, Die tische Freiheit, in: Freiheit als Problem der Wissenschaft, Berlin 1962. 4 Otto v. Gierke, Das Wesen der menschlichen Verbände, Darmstadt 1954. 5 0

Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 99. Max Imboden, Die Staatsformen, Basel und Stuttgart 1959, S. 25 ff.

poli-

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

13

den „Apparat der Daseinsvorsorge" (Jaspers) bestimmt. Aber auf beiden Seiten machen wir dieselbe Beobachtung: es bleibt menschlicher Wille. Das Unbewußte kann bewußt gemacht werden, und dann kann der Wille sich prüfen und sich ändern; er ist eben nicht ein blinder Instinkt. Der Apparat mag noch so gut konstruiert sein, er funktioniert nicht automatisch. Wenn die in ihn eingespannten Menschen nicht mehr wollen, geht er nicht mehr. Andrerseits: wenn er nicht mehr geht, weil eine neue Situation eingetreten ist, für die er nicht konstruiert war, dann können ihn die freien unvorhergesehenen Entscheidungen der Menschen wieder in Gang bringen. Die Menschen sind mehr als Sachen und sind weniger als Sachen. Die Sachgerechtigkeit einer sozialen Gestalt liegt in ihrer Persongerechtigkeit. Aber die Persongerechtigkeit findet ihre Schranken im sachlich Notwendigen. Das soziale Handeln des Menschen läuft in der Geschichte ab, die Institutionen wandeln sich in der Geschichte. Die Methode der Geschichtswissenschaft, wie jeder Sozialwissenschaft, ist die verstehende und vergleichende. Hier stimmen die Lehren von Droysen, von Dilthey und von Max Weber in allen wesentlichen Punkten überein. Wir verstehen, was der Mensch gewollt hat, wie die Institutionen gemeint waren, wir vergleichen, wie die Entscheidungen verschiedener Menschen in verwandten Situationen ausgefallen sind und sich ausgewirkt haben, wie die Institutionen verwandte Aufgaben gelöst oder nicht gelöst haben. Dabei muß die Geschichtswissenschaft den Strom der Ereignisse gliedern, also auswählen, was ihr wichtig erscheint, und dafür bedient sie sich typisierender Begriffe, die sie entweder selbst bildet oder von den generalisierenden Sozialwissenschaften übernimmt. (Wenn die meisten großen deutschen Historiker des vorigen Jahrhunderts einmal eine Vorlesung „Politik" gehalten haben, dann zeigt das ihr Bedürfnis, die eignen Begriffe zu bilden und zu erproben.) Immer wieder taucht das Problem der Zurechnung auf: welche Ereignisse hängen zusammen, hängen voneinander ab? Dabei kommt man ohne die verstehende Methode nicht aus; man muß fragen: wie verhält sich das Ergebnis zum beabsichtigten Erfolg? Das scheint zunächst eine ganz objektive Feststellung zu sein. Hitler hat Erfolg gehabt in Verhandlungen und Schlachten, seine Gesamtpolitik war ein katastrophaler Mißerfolg. Aber wie ist es mit Napoleon? Kann man von seiner Niederlage her auch seine gesamte Politik als Mißerfolg betrachten? Was hat er bedeutet für das Selbstbewußtsein der Franzosen? Was bedeuten sein Institutionen, ζ. B. der „Code civil", bis heute? Was ist denn eigentlich der Maßstab

14

Otto Heinrich v. d. Gablentz

des Erfolges? Es ist heute sehr leicht, die Stein-Legende anzuzweifeln; wir wissen, wie winzig die Städte waren, die nach seiner Ordnung verwaltet wurden, wir wissen, wie die Bauernbefreiung durch die Ablösungsbestimmungen Hardenbergs verfälscht worden ist. Aber die psychologische Wirkung für das Staatsbewußtsein des preußischen und deutschen Bürgertums — quantitativ schwer abzuschätzen, aber außerordentlich eindringlich, zum Teil gerade durch die Legende gefördert — war sie nicht vielleicht ein viel weiter reichender Erfolg? Ist die Legende einfach Fälschung oder muß man sie nicht als ein Stück fortwirkender Geschichte betrachten? Ist das „Urteil der Geschichte" das richtige oder das Urteil des Geschichtsschreibers, der sich nur an die Archive hält? Zu verstehen ist zunächst nur der „gemeinte Sinn" (Max Weber). H a t ein Politiker weiter nichts gewollt, als sich für eine bestimmte Zeit an der Macht ziu halten, dann gilt unter diesem Gesichtspunkt der kurzfristige Erfolg. H a t er Weltgeschichte machen wollen, dann muß man schon hier einen höheren Maßstab anlegen. Aber kann die politische Wissenschaft sich damit begnügen? Sie ist ja mehr als eine Wissenschaft von der Macht. Sie fragt ja nicht nur nach dem Politiker, sondern nach der Politik, nach dem Gemeinwesen, nach seiner Verfassung, nach seinem Ergehen. Unabhängig von dem moralischen Urteil über den Politiker muß sie darüber urteilen, was unter seinem Einfluß aus seinem Staat geworden ist. Sie fragt nach seiner Leistung. Zunächst gewiß nach der Leistung für Bestand und Wohlstand. John Stuart Mill sagt: „Eine Regierung muß danach beurteilt werden, was sie mit dem Volk macht." Aber er fährt fort: „Audi danach, was sie aus dem Volk macht, ob das Volk besser oder schlechter wird unter ihrer Leitung und ihrem Einfluß"7. Will man das „besser oder schlechter" ins Politische übersetzen — und Mill hat ja sicher keine Moralpauke halten wollen — dann kann es nur heißen: „verantwortungsbewußter, freiheitsfähiger oder das Gegenteil". Und tatsächlich muß unsere Frage in dieser Richtung gehen. Wir müssen fragen: wie ist es ohne diesen Staatsmann weitergegangen? Nur so gewinnen wir ein langfristiges Kriterium für seinen Erfolg. Nun führt aber die Frage nach dem Fortgang notwendig auf die Frage nach dem Fortschritt. Denn was will man aus der Fülle der Ereignisse nach dem Ausscheiden eines Staatsmannes auf ihn und sein Werk beziehen? 7 John Stuart Mill, Considerations Classics 170, S. 170.

on Representative

Government,

The

World's

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

15

Worin wirkt er weiter, was stammt aus neuen Einflüssen, die nichts mit ihm zu tun haben? Wofür kann man ihn wirklich verantwortlich machen? Nichts andres bleibt übrig, als zu fragen: wieweit hat er vorbereitet, daß sein Werk ohne ihn weiterleben kann? Das heißt: hat er für Nachfolge gesorgt, hat er eine Atmosphäre geschaffen, in der andre auf seiner Linie selbständig weiterarbeiten konnten? Das aber eben ist Mills Frage. Hier laufen die Linien zusammen: das Urteil über die sachliche Leistung ist nidit zu trennen von dem Urteil über die erzieherische Wirkung auf die Menschen, das Urteil über das Werk läuft hinaus auf ein Urteil über den Menschen: hat er sich selbst erfüllt, nicht nur, wie er selbst sich verstand, sondern wie seine Verantwortung für die Menschen war, die er zu führen sich unterfangen hat? Das Urteil über die geschichtliche Bedeutung hat denselben Maßstab, wie das Urteil über die Person und über die sachliche Leistung: die Freiheit der eignen Person und die Freiheit der Nächsten. II. Die

Persongerechtigkeit

„Politische Theorie hat es mit der Wahrheit zu tun. Die Wahrheit der politischen Theorie ist die politische Freiheit" (Franz L. Neumann 8 ). Freiheit ist der Maßstab dafür, ob eine Ordnung rechte Ordnung ist. In dem Ausdruck „rechte" Ordnung liegt schon derselbe Vorbehalt, den Neumann mit dem Wort „politische" Freiheit macht. Er hält die Mitte zwischen den Formulierungen „gerechte" Ordnung und „richtige" Ordnung. Gerechte Ordnung setzt einen absoluten ethischen Anspruch. Hier wird jedem das Seine, das ihm Zukommende, gegeben. Er stellt Ansprüche, und denen wird entsprochen. Richtige Ordnung setzt einen absoluten sachlichen Anspruch. Sie ist zweckentsprechend, sie funktioniert, sie stellt den Anspruch an den Menschen, sie unbedingt anzuerkennen. Aber die rechte Ordnung läßt etwas offen, nämlich die Mitwirkung der Geordneten als Ordnende. Und die politische Freiheit öffnet den Druck der Politik und schränkt die Freiheit ein. Wir sind in der Nähe zu Kants Definition des Rechtes als des „Inbegriffs der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" 9 . Die Abstimmung der Freiheiten — das gilt für Recht 8

Franz Neumann, The Democratic

and the authoritarian

State, Glencoe, III. 1957

S. 162. 9

Immanuel Kant, Metaphysik

der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre § B.

Otto Heinrich v. d.

16

Gablentz

und für Politik. Aber das „Problem des allgemeinen Gesetzes" sieht anders aus, ob es sich um allgemeingültige Normen handelt oder um einmalige Entscheidungen, die sich gerade nicht auf einen typischen Fall reduzieren lassen. Nur in einer völlig statischen Gesellschaft könnte beides identisch werden. Wir stehen hier vor einem Grundproblem der Rechtsphilosophie: dem inhaltlichen Naturrecht. Die Freiheit der menschlidien Person und ihre Sicherung durch das Recht ist ein Grundproblem auch der politischen Wissenschaft. Aber es stellt sich hier nicht nur als Widerstreit von Freiheitsansprüchen Einzelner, sondern auch als Widerstreit zwischen Freiheit und Ordnung, zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen. Es kompliziert sich noch, wenn zwischen dem Einzelnen und dem politischen Gemeinwesen andre Gruppen stehen: Klassen, Stände, Interessengruppen der Wirtschaft oder audi des geistigen Lebens. Da bieten sich zwei allgemeine Lösungen an. Die liberale Lösung geht aus von der Vorstellung, daß man audi diesen Widerstreit mit dem einen Maßstab der Freiheit lösen könne. Da die wohlverstandenen Interessen aller Personen und aller Einzelnen harmonierten, und die Menschen im Stande wären, ihre Interessen richtig zu verstehen, müßte die freie Konkurrenz auf dem Markte, bei politischen Wahlen und im Meinungskampf die richtige Ordnung ergeben. Aber leider stimmen die beiden Voraussetzungen nicht. Die Harmonie ist eine Fiktion und die menschliche Einsicht nicht minder. Alexander Rüstow hat diese Fiktionen einmal bis in alle Einzelheiten untersucht und entlarvt 10 . E r tat es am Beispiel des Wirtschaftsliberalismus. Aber der Liberalismus in der Politik wird auch von demselben Urteil getroffen, soweit er von einer naiv harmonisierenden Anthropologie ausgeht. Die andre allgemeine Lösung nimmt audi eine Harmonie zwischen Einzel- und Gesamtinteresse an. Aber sie geht vom Gemeinwohl aus. Nach ihr kann der Einzelne gar kein Interesse geltend machen, das nicht im Gemeinwohl bereits aufgehoben wäre. Das ist die naturrechtliche Ständeordnung. Sie geht aus von den dauerhaften Gestalten des sozialen Lebens, der Ehe und Familie, der Gemeinde, dem Kultus, von alledem, was „älter ist als der Staat" 1 1 . Audi diese Vorstellung ist unpolitisch. Macht, Trieb, Interesse kommen zwar vor, aber sie werden als sekundär betrachtet. Das Dauernde wird beinahe mit dem Ewigen identifiziert, die historische Dy10

Alexander Rüstow, Das Versagen

11

Papst Leo X I I I . , Encyklika

des Wirtschaftsliberalismus,

Kerum Novarum,

Z i f f e r 6.

Heidelberg 1950.

Die Maßstäbe der politischen

Entscheidung

17

namik wird als bloßes Wellenspiel angesehen, ein hin und her, das sich auspendelt, das keine Richtung hat und daher auch keine dauernde Wandlung verursachen kann. Das gibt ein Naturreciit, das auf Ehe, Eigentum und Obrigkeit beruht und die vorgefundenen Formen der Ehe (die patriarchalische), des Eigentums (das unbeschränkte Eigentum auch an Produktionsmitteln) und der Obrigkeit (die hierarchische) absolut setzt. Beide Lösungen erwiesen sich als unhaltbar vor dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse in der industriellen Revolution und vor dem zur selben Zeit erfolgenden Fortschritt der gesellschaftlichen Erkenntnis im Historismus. Das Naturrecht schien erledigt. An seine Stelle trat die historische Schule oder der Positivismus. Mit der Hegeischen Dialektik ließ sich die Spannung für eine Weile überbrücken, indem alles Positive historisch gerechtfertigt wurde (bei den Rechtshegelianern) oder das historisch Zeitgemäße als das allein Gültige verkündet wurde (bei den Linkshegelianern). Dann brach aber die Einheit auseinander. Friedrich Julius Stahl hatte den Mut zu einem dualistischen Ansatz: Recht und Staat beruhen auf der Spannung zwischen Person und „sittlichem Reich", die zwar komplementär auf einander bezogen sind, aber nur im Ablauf der Geschichte jeweils zum Ausgleich kommen können, ohne daß innerhalb der Geschichte die Hegelsche Synthese zu sehen wäre12. Masur spricht deswegen davon, daß Stahl versucht hätte, das „Naturrecht der historischen Schule" zu geben13. Aber auch dieser fruchtbare Gedanke führt über den formalen Charakter des Naturrechts nicht hinaus. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wurde die Frage in Deutschland neu gestellt. Der Positivismus hatte sich als unfähig erwiesen, zwischen gerechten und ungerechten Gesetzen zu unterscheiden. Nicht nur war das positive Recht in der gröbsten Weise ständig verletzt worden; viel schlimmer war die Verwirrung des Rechtsbewußtseins, indem Unrecht durch formale Legalität zu Recht gestempelt wurde14. Jetzt wußte man wieder, daß es einen Begriff der Gerechtigkeit hinter allem positiven Recht gab. Man sprach von der „Ewigen Wiederkehr des Naturrechts" 15 . Aber auch hier erfolgte ein Rückschlag. Was blieb vom Naturrecht anders übrig, als die — allerdings fundamentale — 12

Dieter Grosser, Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius

Stahls,

Opladen (im Erscheinen). 13

Gerhard Masur, Aus Briefen F. ]. Stahls, Archiv für Politik und Geschichte

3, S. 263.

2

u

Ernst Fraenkel, The Dual State, N e w Y o r k 1 9 4 1 .

15

Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, München 1947.

Fraenkel

1927,

18

Otto Heinrich v. d. Gablentz

Einsicht: der Mensch muß als Mensch ernst genommen werden? Alle Versuche, darüber hinaus „Normen des Sittengesetzes", eine „vorgegebene und hinzunehmende Ordnung der Werte" zugrunde zu legen, erwiesen sich als äußerst fraglich. Weder w a r subjektiv ein Konsensus der Juristen und der öffentlichen Meinung zu erzielen (ζ. B. über das Wesen der Ehe, über die Abtreibung u. ä.), noch ließen sich die hergebrachten Normen anders als eben mit ihrer bisherigen Leistung f ü r die Stabilität der Gesellschaft rechtfertigen 16 . Werner Maihofer hat diese Diskussion in sehr verdienstlicher Weise in einem Quellenbuch dargestellt 17 . In einer neuen Schrift versucht er nun eine eigene Lösung der Frage 18 . E r lehnt die philosophischen Begründungen des Rechtes aus einer Lehre vom Wesen des Menschen ab und möchte sie ersetzen durch eine Begründung aus der Existenz (S. 18). Die konkrete Existenz des Menschen in der Welt — der Natur und der Gesellschaft — ist f ü r ihn „das Produkt der Dialektik von N a t u r der Sache und Bestimmung des Menschen" (S. 20). E r glaubt, mit einem „existenziellen Wesensrecht" — diesen Ausdruck von M a x Müller nimmt er auf S. 20 auf — zu einem neuen Maßstab zu kommen. Durchaus im Sinne des Idealismus bezeichnet er als Bestimmung des Menschen „sich-selbst-zu-sein" (27), aber er erweitert diese Bestimmung zu der Forderung „die Welt in eine menschliche Welt zu verwandeln, wo immer er vermag" (26). Ich kann diese Forderung nicht für so neu halten. Maihofer weist selbst auf Kants Geschichtsphilosophie hin. Man könnte die Erwähnung der Schrift „Von der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (S. 16) noch um den Hinweis auf die Beurteilung der französischen Revolution im „Streit der Fakultäten" ergänzen. Wo die „sinnverstehende Analyse der Situation" (23) den Sinn herbezieht, wenn es nicht doch so etwas gibt, wie „Wesen" der Welt und des Menschen, bleibt das Geheimnis der Existenzphilosophie überhaupt. Ich vermag auch nicht zu sehen, wo seine Definition etwas Neues brächte: „Naturrecht ist der Begriff f ü r die ständig geforderte Evolution und Revolution der menschlichen Verhältnisse im Lebensalltag hin zur Gestalt einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zwischen Menschen" (50). So weit w a r der Neukantianer Stammler auch schon mit der „Gemeinschaft frei wollender Menschen" und dem „Naturrecht mit wechselndem Inhalt". Was Maihofer über die Wesensphilosophie hin" Wilhelm Weisdiedel, Recht und Ethik, Karlsruhe 1956. Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, 18 Ders., Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt a. M. 1963.

17

Darmstadt 1962.

Die Maßstäbe der politischen

Entscheidung

19

aus bringt, ist nur die existenzialistische Metaphysik von der „im Grunde unheilen, unheimlichen und unmenschlichen Welt" (37). Es gehört f ü r diese A r t Philosophie offenbar zur Menschenwürde, daß die Welt keinen Sinn haben darf, es sei denn, der Mensch setze ihn. Woher er ihn eigentlich gewinnt, und sogar für ein objektives Urteil, wie er ihn der Welt auflegen kann, wenn sie nicht dafür vorgeformt ist, das bleibt selbst bei einem sonst so sauber argumentierenden Denker wie Maihofer in dem rein stimmungshaften, ressentimenterfüllten Satz stekken: „ S o vermögen wir die Dinge heute nicht mehr zu sehen" (32). Das Ergebnis auch dieses Versuches, das Naturrecht erneuernd zu erweitern, heißt: der Mensch findet sich selbst nur in der Verantwortung für andre. Das aber wissen wir seit Plato und Aristoteles (den Maihofer auch sehr gerecht auf S. 19 zitiert) .und der Bibel. Das Korrelat zur Freiheit heißt Verantwortung 19 . Den Inhalt der Verantwortung aber finden wir nur in der Umwelt und in der Geschichte. Man konnte daran denken, ihn aus der Natur der Dinge zu gewinnen, solange die Umwelt statisch und damit die Geschichte unerheblich war. Seit aber nicht nur die gesellschaftliche Umwelt durch das Verhalten des Menschen sehr viel schneller verändert wird, als es früher geschah, sondern die Natur selber durch die Technik ständig umgewandelt wird, ist dieser Versuch, der immer fragwürdig war, offenkundig ein Unding geworden. Es bleibt also nichts übrig, als festzustellen: es gibt zwar ein überpositives Recht als Maßstab für Gesetzgebung und Justiz. „Niemand weiß etwas Gewisses von ihm, aber jeder fühlt mit Gewißheit, daß es ist" (Erik Wolf 20 ). Es ist audi gar nicht zu verwundern, daß es so ist. Die Freiheit des Menschen gilt absolut. Jeder Mensch ist Person. Wo er es selbst noch nicht weiß, kann er zum Verständnis erwachen, kann aufgeklärt werden. Es ist wirklich nicht einzusehen, weswegen einige wohlmeinende Leute, die den Wert der Freiheit für sich und ihre Umgebung klar erkennen und leidenschaftlich verteidigen, aus Angst vor Metaphysik den Vorbehalt machen, er gelte vielleicht doch nur für unseren Kulturkreis. Wenn K a n t und seine Zeitgenossen so gedacht hätten, dann wären wir selber noch nicht „aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ausgegangen". Dann gäbe es keine „Fundamentaldemokratisierung" 21 . Wir Europäer haben einige Jahrhunderte des Christentums, des Huma19

Ο . H . v . d. Gablentz, a.a.O., S. 56.

20

E r i k W o l f , Das Problem der Naturrechtslehre, Karlsruhe 1 9 5 5 , S. 1 .

21

K a r l Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus,

1958, S . J 2 . 2»

Darmstadt

20

Otto Heinrich v. d. Gablentz

nismus und der Aufklärung nacheinander gebraucht, und nur der gleichzeitige Anstoß der Philosophie, der politischen und der technischen U m wälzung hat es soweit gebracht, daß wir auch von unseren Massen voraussetzen können, daß sie etwas von Freiheit und eigener Menschenwürde wissen. Warum sollte es außerhalb der europäischen Tradition in einer einzigen Generation gelingen? Wenn aber jeder einzelne Mensch zur Entscheidung aufgerufen ist, dann kann das Recht, das ihm diese Freiheit bestätigt, nicht gleichzeitig ihm vorschreiben, wie er die damit verbundene Verantwortung ausüben soll. O b man von Naturrecht, von Vernunftrecht oder von Wesensrecht spricht, immer kann es nur formal sein. Die Natur des Menschen ist wohl verbunden mit der Natur der Dinge, aber sie geht nicht in ihr auf. Die Natiur des Menschen ist wohl geschichtlich, aber der schöpferische Charakter der Freiheit macht es unmöglich, den Inhalt der geschichtlichen Verantwortung festzulegen. So kann das Naturrecht wohl ein Kriterium zur Beurteilung politischer Entscheidungen abgeben, aber seinem Wesen nach keinen ausreichenden Maßstab. Wir müssen uns nach weiteren Kriterien in der Umwelt des Menschen und in der Geschichte umsehen. (Ich habe in der historischen Entwicklung einseitig nur die Linie der deutschen Denker verfolgt. Das Denken der Angelsachsen über Recht und Politik ist viel elastischer. Sie kommen infolgedessen erst sehr viel später an die Grenzen der Grundsätze als die Deutschen. Das case-law ermöglicht es, den Wandel der Situation zu berücksichtigen, ohne daß der Unterschied absoluter und relativer Maßstäbe jedesmal deutlich bezeichnet zu werden braucht. Die Erziehung zur politischen Eigenverantwortung und zur Fairness bringt es mit sich, daß man von vornherein im Nächsten nicht nur „den Menschen", sondern den englischen oder amerikanischen Mitbürger dieser Generation sieht und gleich aus dem ganzen Komplex persongerechter, sachgerechter und zeitgerechter Gesichtspunkte heraus entscheidet — wohin hoffentlich die Erziehung unser Volk audi bringen wird. Das bedeutet aber gerade, daß es für die begriffliche Klärung kein besseres Beispiel gibt, als die Deutschen, die nun einmal durch ihre Geschichte veranlaßt sind, so grundsatzbesessen zu sein.)

III.

Die

Sachgerechtigkeit

Zur Zeit der Weimarer Republik gab es einmal eine „Arbeitsstelle für sachliche Politik". Sie saß im Hauptquartier der Pseudokonservati-

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

21

ven, in der Motzstraße 22 in Berlin und betrieb Propaganda für den Einfluß der Unternehmer. „Sachlichkeit" hieß in den Augen dieser Leute: keine Experimente, kein Risiko, vor allem keine Änderung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse. Aber auch wo es nicht um Ideologie geht, heißt „sachlich" immer: sich an das Erprobte halten, von Wunschbildern absehen; der klassische Ort des Begriffes in der Politik ist die Wirtschafts-, besonders die Finanz- und Geldpolitik. Der klassische Anwalt der Sachlichkeit ist der Beamte. Hier trifft M a x Webers Gleichsetzung der rationalen Herrschaft und der Bürokratie wirklich zu. Wer ein Ressort zu vertreten hat und nicht die Gesamtpolitik, wer selber auf dem betreffenden Gebiet ohne persönliches Interesse ist, kann unbeschwert Anwalt der Sachlichkeit sein. Die Skala der Begründungen ist sehr breit. Sie geht von der Berufung auf die „Forderung der Dinge" (Stifter) über die nüchterne Aufzeigung des technisch Erreichbaren bis zur stumpfsinnigen Beharrung im Hergebrachten. Unsachlich ist dann je nachdem, wer mit den Dingen nicht richtig umgeht, mit dem Boden Raubbau treibt, die Menschen in eine ihnen nicht gemäße Richtung erzieht, oder wer aus Prestigegründen Baiuten hinstellt, die sich nur durch Inflation finanzieren lassen, Industriebetriebe, f ü r die kein Absatz und womöglich auch gar keine Kraftquellen da sind, oder aber einfach, wer durch Reformen „Unruhe in den Betrieb bringt". Der Begriff „ N a t u r der Sache" enthält immer etwas Statisches, denn die Sache kann man ja nur kennen, wenn man sie längere Zeit beobachtet hat, auf die Sache beruft sich nur, wer überhaupt an das Feste, Dauerhafte glaubt. Adalbert Stifter, der eben schon Zitierte, ist der edelste Anwalt dieser Sachlichkeit im deutschen Schrifttum. Die „Forderung der Dinge", von der es im „Witiko" heißt, wer sie kennte und befolgte, der täte den Willen Gottes, geht über den Bereich der Naturdinge, der Schöpfung, weit hinaus. E r schließt die Verhältnisse ein, die nicht nur f ü r Raum und Boden, Pflanze und Tier vorgezeichnet sind, sondern auch f ü r die Menschen untereinander. Der Freiherr v. Risach im „Nachsommer" rechnet es sich zur Ehre an, daß „die Ordnung der Dinge", die nach seiner Meinung ins Werk gesetzt worden war, „Bestand hatte, weil sie auf das Wesentliche ihrer Natur gegründet w a r " , weil er „auf das sah, was die Dinge nur f ü r sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war, damit sie das wieder werden, was sie waren, und das, was ihnen genommen wurde, erhalten, ohne das sie nicht sein können, was sie sind". Aber Risach sagt von sich selbst, er sei weder ein eigentlicher Staatsmann gewesen, noch ein „sogenannter guter

22

Otto Heinrich v. d.

Gablentz

Staatsdiener". Für den Staatsmann habe ihm die Fähigkeit gefehlt, den Zusammenhang des Ganzen über die Gestaltung des Einzelnen zu stellen, f ü r den Staatsdiener die Fähigkeit, etwas ohne Einsicht in den Zusammenhang zu tun. Man sieht in Risach immer das Ebenbild Metternichs. Sollte es nicht mindestens ebensosehr ein Selbstporträt Stifters sein, der sich als „Mann von Maß und Freiheit" bezeichnete, der an den Vorbereitungen für das Frankfurter Parlament mitwirkte und 1848 eine umfassende Theorie der Politik und Bildung veröffentlichte, für sich selber aber einen Posten erstrebte, so frei, wie das f ü r einen Beamten überhaupt möglich war, so begrenzt, daß er in übersichtlichem Kreise behutsam und mit Wirkung auf lange Sicht gestalten konnte. 22 Stifter weiß, daß Sachgereclitigkeit in sich einen hohen Wert verkörpert, nämlich den Wert der Ehrfurcht im Goetheschen Sinne, und daß sie f ü r den Staat sehr wichtig ist. Aber er kennt audi ihre Grenzen im Rahmen der Politik. Z w a r , was wir vorhin Persongerechtigkeit genannt haben, würde er in die Sachgereclitigkeit wohl einbeziehen, da er „zu den rechtlichen Menschen gehören" will 23 . Aber eins liegt ihm nicht: die Staatsräson. Sie liefert „nur Fassungen und nicht Gestalten". Anders ausgedrückt: wer ständig den Strom der Zeit und den Wandel der Maditverhältnisse berücksichtigen muß, kann dem Gestaltenden bestenfalls Chancen bieten. Aber eine Gestalt zu vollenden, wie das ein Künstler darf, ist dem Politiker versagt. Risach aber sieht sich selber als heimlichen Künstler. So werden die Grenzen der „ sachlichen Politik" deutlich. Auf der einen Seite führt 9ie zur ressortmäßigen Isolierung, auf der anderen Seite zur statischen Beharrung. Unter den Arbeitsbeschaffungsplänen, mit denen sich Heinrich Brüning 1932 zu befassen hatte, befand sich auch der Vorschlag eines damals hochangesehenen Unternehmers, doch einmal mit den Aufschließungsarbeiten für die künftigen Wohnungsbauten zu beginnen. Diesem Manne mußte man natürlich sagen: erst müssen wir wissen, wo die Leute arbeiten sollen, wer ihre Löhne bezahlen soll usw., ehe man den Wohnungsbau vorbereiten kann. Das Beispiel ist deshalb so aufschlußreich, weil es die Problematik jeder Planung auf lange Sicht zeigt. Eine Planung, die f ü r die gesamte Politik wirksam werden soll, kann nicht isoliert bleiben. Eine umfassende Planung wiederum legt Kräfte und Mittel in einer Weise fest, die den 22

Erik Wolf, Der Rechtsgedanke

117/8. 23

Ders., a.a.O., S. 1 1 9 .

Adalbert

Stifters, Frankfurt a. M. 1941, S. i n ,

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Entscheidung

23

Staat zur Unbeweglichkeit verurteilen kann. Es ist das Künstlerdenken im Sinne Stifters, das Ingenieurdenken, das man Moellendorff vorgeworfen hat, obwohl er sich seiner Grenzen durchaus bewußt war 2 1 , das technokratische Denken, wie wir heute sagen würden. Das Problem wird am deutlichsten, wenn ein Staat im Stadium des Aufbaus oder Wiederaufbaus ist, wie Deutschland 1 9 1 9 und 1949, wie die Entwicklungsländer heute. Hier drängt die sachliche Forderung dahin, daß auf jedem Gebiet das Zweckmäßigste geschieht, daß ζ. B. Ernährungswirtschaft, Industrieinvestitionen, Außenhandel und Konsum aufeinander abgestimmt werden, und dabei Inflation vermieden wird. Schon hier ist es mehr als eine technische Frage, ob man dabei die Methoden der Marktwirtschaft oder der Planung vorzieht. Denn es handelt sich nicht nur um die bessere Leistung, sondern auch um die A r t der daraus folgenden Einkommens-, Vermögens-, und Machtverteilung. Der Politiker muß das alles berücksichtigen. E r kann zu dem Ergebnis kommen, daß er bedenkliche Einkommens-, Vermögens- und Machtverteilung mit in den Kauf nehmen muß, um die bessere Versorgung so schnell wie möglich zu erreichen. So ist die Entscheidung in der Bundesrepublik 1949 gefallen. (Ob man sich allerdings die Konsequenzen systematisch überlegt hat, darf füglich bezweifelt werden; die heutigen Diskussionen würden dann leichter sein.) Der Politiker kann umgekehrt zu dem Ergebnis kommen, daß eine weithin illusorische Planung mit in den K a u f genommen werden muß, wenn man damit eine Integration der gesellschaftlichen Kräfte erreicht, die für den Bestand des Staates wichtiger sein kann als die bessere Versorgung des Volkes. Man hat die Politik Sukarnos mit solchen Argumenten zu verstehen versucht25. Der Technokrat wird für solch eine Unsachlichkeit kein Verständnis haben. Es gehört dazu auch schon eine gewisse Vorwegnahme des Geschichtsproblems, das hier nur angedeutet werden kann. Aber zwei Dinge lassen sich schon im Rahmen einer auf die Sache beschränkten Erörterung sagen. Erstens: Eine Planung muß vollständig sein. Das heißt nicht, daß die ganze Wirtschaft und Gesellschaft schon auf den „ R o a d to serfdom" gerät, wenn an einer Stelle geplant wird, wie uns das H a y e k glauben machen will. 26 Aber man muß alle Komponenten berücksichtigen, gerade auch diejenigen Entwicklungen abschätzen, die 24

Wichard v. Moellendorff, Konservativer

Sozialismus, Hamburg 1932, S. 137 und

130. 25 26

Die Zeit, Hamburg, 18. Jahrgang N r . 21. F. A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich o. J .

24

Otto Heinrich

v. d.

Gablentz

man nicht planen will oder kann. Hier kann wirklich das strategische Sandkastenspiel des Generalstabs ein Vorbild audi für die Politik abgeben — mit oder ohne computor. Zweitens: wer plant, muß wissen, daß er nicht für die Ewigkeit plant. Hier unterscheidet sich die politische Strategie prinzipiell von der militärischen, die immer beschränkte Aufgaben hat, während der Politiker an die zukünftigen Generationen denken muß, die vor anderen Aufgaben stehen und vermutlich auch mit anderen Gesichtspunkten an die Fortführung der Aufgaben gehen werden, die er ihnen hinterlassen muß27. Wer den Plan ablehnt, begibt sich aber auch der Möglichkeit jener Selbstkritik, die mit einer sauberen Planung immer verbunden ist. Das ist ja einer der wichtigsten Gründe für Moellendorff gewesen: er wollte die Politiker der revolutionären Illusion und die Wirtschaftler der restaurativen Illusion zwingen, rücksichtslos Bilanz zu machen28. Damit sind wir im Kern des Problems. Der Technokrat glaubt, daß er solche Bilanzen aufstellen kann. Vieles läßt sich machen, und in der Bundesrepublik ist zweifellos zu wenig gemacht worden. Ein „national budget", eine wirtschaftliche Vorausschau der wahrscheinlichen Entwicklung, ist ebenso nötig für die öffentliche wie für die private Wirtschaft. Es zeigt die Grenzen auf, innerhalb deren sich öffentliche und private Planung voraussichtlich abspielen wird. Es zeigt ebenfalls auf, daß man abwägen muß, welche Disproportionen in den Kauf genommen werden müssen, wenn man aus anderen Gründen — sei es langfristiger Wirtschaftspolitik, sei es außerwirtschaftlicher politischer Erwägungen — in diesen wahrscheinlichen Ablauf eingreifen will. Dementsprechend müssen militärische Planungen, wie diejenigen der Nato, politische Entwicklungen berücksichtigen, politische Planungen militärische. Erst die Abwägung der Gesichtspunkte gegeneinander ergibt eine verantwortliche Politik. Man kann das Risiko einer militärischen Schwäche eingehen, wenn man glaubt, daß der Gegner aus politischen Gründen seine Überlegenheit nicht benutzen wird. Man muß militärische Chancen gegen politische Gefahren aufrechnen, wie das die Amerikaner getan haben, als sie in Korea und bei Dien Bien Phu auf den Einsatz von Atombomben verzichteten. Solche Überlegungen können durch technische Planspiele zwar unterstützt, aber nicht ersetzt werden. Daß der Einsatz der Atombombe in Vietnam einen unheimlichen Vertrauensverlust für den Westen in 27

Otto Heinrich v. d. Gablentz, Politische

28

Widiard v. Moellendorff, a.a.O.,

S. 126.

Gesittung,

Köln und Opladen 1959, S. 8.

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Entscheidung

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ganz Asien zur Folge haben würde, konnten sich die amerikanischen Politiker auch vorstellen, ohne höhere Mathematik zu bemühen, wie das Kaplan tut, um ihnen die Sache nachzurechnen29. Und die Quantifizierung des Irrationalen gelingt auch hier nicht; menschliche Stimmungen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen mit Divisonen und Megatonnen. Wer es versuchen würde, verführte sich selber dazu, die Verantwortung auf einen Apparat abzuschieben. Sachgerechtigkeit ist ein unabdingbares Element der Politik, nicht nur im Sinne der mathematischen Berechnungen, auch im Sinne der einfachen Verwaltungsroutine. Stifter läßt den Freiherrn v. Risach auch hierzu alles Notwendige sagen: „Auf diese Beschaffenheit seines Personenstoffes mußte nun der Staat die Einrichtung seines Dienstes gründen. Der Sachstoff dieses Dienstes mußte eine Fassung bekommen, die es möglich macht, daß die zur Erreichung des Staatszweckes nötigen Geschäfte fortgehen und keinen Abbruch und keine wesentliche Schwächung erleiden, wenn bessere oder geringere einzelne Kräfte auf die einzelnen Stellen gelangen, in denen sie tätig sind." Wir werden heute einige Einschränkungen an diesen Formulierungen machen, die aus der Situation des absoluten Beamtenstaates geprägt sind; es gibt heute erweiterte Gewaltenteilung, parlamentarische und öffentliche Kontrolle, die einen besseren Ausgleich von Amt und Person gestatten könnten. Aber der Grundsatz bleibt: auch die persönlichen Qualitäten der Staatsbürger, der Politiker und des Stabes gehören zu den Sachen, denen man nüchtern gerecht werden muß. Genau so, wie dazu gehört, daß man mit Entscheidungen des politischen Gegners rechnen muß, die man nur in recht geringem Grade voraussehen oder gar selbst manipulieren kann. Das Urteil über den Staatsmann hängt auch davon ab, wie er diese Elemente berücksichtigt hat. Damit wird aber die von Stifter aus der Überlegung ausgeschaltete Staatsräson selber noch ein Faktor der Sachgerechtigkeit. Eben jene Einseitigkeit, deren Risach nicht fähig zu sein behauptet, nur das eigne Interesse zu sehen, die bloße Erhaltung dem Risiko der Erneuerung oder des Abkommens mit dem Gegner vorzuziehen, jenes den Betrachter so bedrückende Mißtrauen in die Vernunft und den guten Willen des Partners kann als eiskalte Sachlichkeit auch eine politische Tugend sein. (Risachs Selbstkritik zeigt ja gerade, daß Stifter diese Eigenschaften Metternichs, die ihm so fremd sind, widerwillig bewundert.) Sachgerechtigkeit kommt hier leicht in Konflikt mit 28 Morton A . Kaplan, System and Progress 1957, S. 2 0 9 — 2 1 3 .

in International

Politics, N e w Y o r k

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Otto Heinrich v. d. Gablentz

Persongerechtigkeit. Hier ist der Ort, wo der vielberedete Unterschied von Privatmoral und öffentlicher Moral am Platz ist, wo man von der tragischen Einsamkeit des Verantwortlichen sprechen darf, aber nicht mit billigem Pathos, sondern mit der ehrfürchtigen Scheu, die Max Weber am Schluß seines Vortrages „Politik als Beruf" dafür zeigt30. Unser Urteil in solchen Fällen muß aber fragen: sind denn wirklich die sachlichen und psychologischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden, ehe solche Entscheidung brutaler Sachlichkeit erfolgte? Das aber hängt davon ab, ob diese Politik aus abstrakten Grundsätzen geführt worden ist, wie von Metternich, oder einfach aus den „Erfahrungen", mit denen der Menschenverächter Menschenkenntnis zu ersetzen beliebt, oder ob sie in voller Würdigung der einmaligen Situation eben dieses Augenblicks der Entscheidung getroffen worden sind. Das Urteil über den Inhalt der Politik hängt auch davon ab, ob sie zeitgerecht ist. IV.

Die

Zeitgerechtigkeit

Von Metternich wird der Ausspruch überliefert, er sei fünfzig Jahre zu früh oder zu spät geboren. Er wußte, daß jede Epoche einen anderen Typus des Politikers verlangt, aber er glaubte auch an die Möglichkeit, den Charakter kommender Zeiten vorauszuerschauen, wobei er die Vorstellung von einem Kreislauf statischer und dynamischer Zeiten hatte. Am Urteil über Metternich scheiden sich noch heute die Geister. Für die einen ist er der große konservative Staatsmann, der, die dauerhaften Faktoren der Geschichte erkennend, Frieden und Ordnung bewahrt hat und mit der Kritik des Nationalismus Einsichten bewiesen hat, die von seinen Gegnern zum Unheil der Menschheit verleugnet wurden. Die andern werfen ihm gerade Unverständnis für den Gang der Geschichte vor. Für sie ist er der Reaktionär, der nicht nur die Unaufhaltsamkeit der Entwicklung verkannt hat, sondern — schlimmer — auch ihren Sinn, die Erweiterung der Freiheitssphäre für Menschen und Völker. Der Vorwurf der Reaktion wird nicht nur als ein politischer erhoben: er habe es falsch gemacht, sondern auch als ein moralischer: er habe eine Pflicht des Staatsmanns verletzt. Jene Pflicht, die Metternichs alter Bundesgenosse und Gegner Wilhelm v. Humboldt so formuliert hat: „Es gibt kein anderes erfolgreiches Eingreifen in den Drang der Begebenheiten, als mit hellem Blick das Wahre in der jedesmal herrschenden Ideenrichtung zu erkennen, und sich mit festem Sinn anzu30

Adolf Grabowsky,

Gedanken Uber den Staatsmann, Außenpolitik

1951.

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

27

schließen."31 Wie aber ist dieses Wahre zu erkennen? Ja, gibt es eine solche Wahrheit überhaupt? Humboldt verlangt nicht weniger, als daß der Politiker zum Geschichtsphilosophen werden müsse. Und der Politologe, der ein Urteil versucht, verlangt dasselbe von dem Politiker und von sich selber. Realistisch erscheint demgegenüber die agnostische Haltung. Sie besagt: wir wissen nicht, ob es einen Sinn der Geschichte gibt; wenn wir es wüßten, wie vermöchten wir ihn zu erkennen; wenn wir ihn erkennen könnten, wie vermöchten wir uns ihm anzuschließen? Wir müssen uns immer wieder diese drei primitiven Fragen vorlegen, wenn wir vermeiden wollen, einer Ideologie zu erliegen. Aber die agnostische Haltung läßt sich nicht vereinigen mit den Erkenntnissen, die wir bereits gewonnen haben. Wenn Politik den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang menschlichen Gestaltens zu sichern hat, dann muß es eine Ahnung über die Richtung geben, in die hin solche Zusammenhänge geordnet werden können. Mit dieser Fragestellung ist schon ein Stück der Antwort vorweggenommen: wenn die Geschichte einen Sinn hat, ja wenn auch nur ein Sinn in sie hineingewirkt werden kann, dann muß er mit der Freiheit und Bewußtheit der Menschen zusammenhängen. Hegels Satz, die Weltgeschichte sei der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, stellt das Thema auch für jedes politische Urteil. Hegel nimmt auf, was die Aufklärungsphilosophie vor ihm gelehrt hat. Condorcet mag als typischer Vertreter herangezogen werden. Er glaubt an unbegrenzte Fortschritte der Erkenntnis, der auf Erkenntnis beruhenden Materialtechnik und Sozialtechnik und der geistigen und sozialen Freiheit. Dabei schließt für ihn der Fortschritt der Freiheit schon die Fundamentaldemokratisierung ein, obgleich er den Ausdruck natürlich noch nicht gebraucht. Er rechnet mit dem Eintritt der Massen in die Geschichte, mit der schnellen Entwicklung der Kolonialvölker nach dem Muster der Europäer; es ist ihm selbstverständlich, daß Gleichheit das Ergebnis der Freiheit sein muß.32 Richtige Politik kann gar nichts anderes sein, als die unbedingte und unmittelbare Förderung jedes Freiheitsstrebens. Der Glaube an den unbedingten Fortschritt ohne Zwang führte ihn auf den Präsidentenstuhl der Nationalversammlung und machte ihn zum Opfer des jakobinischen Terrors. E r ist die reinste Verkörperung einer Idee, für die 31 Wilhelm v. Humboldt, Über i960, Werke Bd. I S. 590. 32

die Aufgabe

des Geschichtsschreibers,

M . J . A . N . de Condorcet, Esquisse d'un tableau humain, Paris 1883, II S. 54, 62—65.

historique

des progres

Darmstadt de

l'esprit

28

Otto Heinrich

ν, d.

Gahlentz

Zeitgerechtigkeit und Persongerechtigkeit zusammenfallen, ohne daß die Sachgerechtigkeit überhaupt zum Problem wird. Hier setzt Hegel ein. E r weicht der Spannung zwischen Person und Sache nicht aus. Sein System ist darum gerade eine so gewaltige, aber auch gewaltsame Leistung, weil er die Geschichtsphilosophie unterbauen muß mit der Feststellung, daß die nichtmenschliche Welt den Keim und den Zug zur Freiheit enthält, die der Mensch dann gestaltend verwirklicht. Darum beginnt die Phänomenologie mit dem Paradox, daß „alles Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken sei". 33 Ja, über dieser Vernünfligkeit des Wirklichen kommt im Verlauf seiner Deduktionen die Wirklichkeit des Vernünftigen zu kurz. Die Weltgeschichte verläuft in der Richtung der Freiheit. Ihren Lauf zu beschleunigen, erscheint mindestens so bedenklich, wie ihn zu verzögern. Die Freiheit der Person wird, vor allem in der Rechtsphilosophie und in den grundsätzlichen Abschnitten der Geschichtsphilosophie über Schicksal und Wert der Individuen, immer mehr eliminiert. Am aufschlußreichsten ist der Satz: „Das Recht des Weltgeistes geht über alle besonderen Berechtigungen; es teilt selbst diese, aber nur bedingt, sofern sie seinem Gehalte zwar angehören, aber zugleich mit Besonderheit behaftet sind" 34 . Die Freiheit ist im Hegeischen Sinne „aufgehoben". Bewahrt ist zwar ihr Inhalt, aber ihr Charakter, das Risiko der Verantwortung, ist verschwunden, wird nicht mehr gebraucht vor lauter Sachlichkeit35. So erscheint Marx durchaus als Hegels legitimer Erbe, wenn er das ganze Gewicht auf die Sachgerechtigkeit legt, aus der dann die Freiheit, das Ziel der Persongerechtigkeit, von selbst entspringen müsse. Es ist der umgekehrte Condorcet; die Spannung zwischen Sachlichkeit und Person wird zu Gunsten der Sache ideologisch wegdekretiert. Die richtige Ordnung des Unterbaus, der Produktionsverhältnisse, soll den richtigen Uberbau, also Recht und Geist, garantieren. Aus dem Hegeischen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit wird wieder der Fortschritt an sich. Das Verhältnis des gesellschaftlichen Fortschritts zur persönlichen Freiheit macht die Problematik des Reformkommunismus aus36. Dieselbe Problematik erhebt sich aber auch für die Gleichheit. Meissner stellt fest: 33

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Leipzig 1949, S. 19. Ders., Philosophie der Weltgeschichte, Leipzig 1920, Bd. I, S. 88. 35 Theodor Litt, Hegel, Versuch einer kritischen Erneuerung, Heidelberg 1953. 38 Boris Meissner, Die Auseinandersetzung zwischen dem Sowjet- und dem Reformkommunismus, Südosteuropa-Schriften Bd. 4, München 1963. 34

Die Maßstäbe der politischen

Entscheidung

29

„Ein besonders krasser Widerspruch besteht darin, daß die Verfasser des Parteiprogramms den Vollkommunismus auf der einen Seite als eine hochorganisierte Gesellschaft darstellen, auf der anderen Seite aber von einer totalen sozialen Gleichheit und der vollkommenen Einheit der gesellschaftlichen und persönlichen Interessen ausgehen" 37 . Alle drei Typen der Fortschrittsphilosophie, die naive Concorcets, die idealistische Hegels und die materialistische Marxens, führen also nicht zu den K r i terien des politischen Urteils, die wir suchten. Fortschritt der Freiheit allein ergibt keine bessere Ordnung. Fortschritt des Lebensstandards und der Gleichheit sichert nicht die Freiheit. Und Hegels Übereinstimmung mit dem Weltgeist erspart einen weiteren Maßstab, sei es einen moralischen, sei es einen materiellen, aber dafür ist sie audi inhaltsleer; wenn man nicht das ganze System annimmt, weiß man nicht, was der Weltgeist vorhat, es sei denn die Ausbreitung der Hegeischen Philosophie. Der Kommunismus ist übrigens bei einer ähnlichen Vorstellung gelandet; der Glaubenszwang der Ideologie wird wichtiger als die sachliche Leistung. Es scheint also ähnlich zu liegen, wie mit dem Naturrecht. Man weiß, daß es so etwas gibt wie einen Zeitgeist, Tendenzen des Geschichtsablaufs, denen gegenüber der Mensch ohnmächtig ist. Aber sobald wir sie fassen wollen, sobald wir ihr Verhältnis zur Freiheit feststellen wollen, entschwinden sie uns unter den Händen. Die Skepsis meldet sich auf einer höheren Ebene wieder. Ging es nicht zu weit, nach dem Sinn der Geschichte zu fragen? Kommt man nicht vielleicht weiter, wenn man nach den Kennzeichen der Epoche fragt, eine „Ortsbestimmung der Gegenwart" versucht? Allerdings, Rüstow, von dem dieser Titel stammt, setzt resolut wie irgend ein früherer Geschichtsphilosoph die Gegenwart in den Rahmen eines umfassenden Geschichtsbildes mit ganz bestimmten Vorstellungen von politischer und geistiger Freiheit, das man im Ganzen übernehmen oder ablehnen muß38. Man könnte ja aber einmal als Modell f ü r politische Möglichkeiten überhaupt eine Charakterisierung unserer Zeit aus ihren eigenen Merkmalen versuchen. Ein Kennzeichen steht fest: der organische Rhythmus des Lebens, der mindestens bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts das menschliche Dasein und Handeln bestimmt hat, ist durch einen technischen Rhythmus abgelöst. Die Erde ist 37

Ders., Fortschrittsgedanke und gesellschafllicheTransformation

in der Marxistisch-

Leninistischen Ideologie, in: Die Idee des Fortschritts, München 1963. 38

A l e x a n d e r R ü s t o w , Ortsbestimmung

1950—1957.

der Gegenwart,

3 Bde., Erlenbach-Zürich

30

Otto Heinrich v. d.

Gablentz

klein geworden, die N o t ist überwindbar, die Möglichkeiten der materiellen und geistigen Entwicklung haben jedenfalls von außen her keine Schranken mehr. Alle Spannungen zwischen dem Drittel der Menschheit, das sich dieser Errungenschaften erfreut, und den übrigen zwei Dritteln, dürften Übergangserscheinungen sein. Sie bedrohen uns im Augenblick mit dem Untergang, aber sie erscheinen prinzipiell als manipulierbar. Alle Beobachter dieses Wandels sind sich darüber einig, d a ß wir einen der entscheidenden Einschnitte der Weltgeschichte erleben. Die Kühnsten vergleichen ihn mit der ersten Verwendung des Feuers, die Zurückhaltenderen mit dem Übergang zur Seßhaftigkeit oder mindestens mit der Eroberung des Raumes durch die Reitervölker. Alles scheint „machbar" geworden zu sein39. Dann wäre also zeitgerecht jede Politik, die diese Entwicklung fördert, und reaktionär jede Politik, die sie bremst. Von einer Reihe von politischen Maßnahmen kann man heute sagen, daß sie grundsätzlich falsch geworden sind. Rassendiskriminierung ist nicht mehr durchzuhalten, wenn die Mehrzahl der Farbigen unabhängige Staaten bildet und über alle Möglichkeiten der Technik und Bildung verfügt. Nationale Isolierung, auch wenn sie im Rahmen des Kontinents erfolgt, ist aussichtslos, seit die Geschicke der Menschheit von zwei Weltmächten entschieden werden. Bauerntum und Mittelstand lassen sich nicht erhalten, wenn sie nicht dem Konsumenten dieselben Leistungen bieten, die Ausland und Großbetrieb schaffen. Traditionalismus, der sich dieser Entwicklung entgegenstellt, vertritt entweder ein Herrschaftsinteresse alten Stiles oder einen romantischen Ästhetizismus. Naturschutzparke und Museen sind bei unserem Tempo sehr wichtig geworden, um die Kontinuität der Kultur zu erhalten. Aber die Erde ist in erster Linie f ü r die Gestaltung durch den Menschen da und die Städte zum Wohnen, zum Arbeiten und schließlich auch zum Fahren und Parken. Aber die Sorge, ob der Mensch nicht seine Seele verlöre, wenn er die ganze Welt gewinnen will, und die Sorge, ob die Technik nicht auch die Reproduktion der Naturkräfte in bedenklichster Weise gefährdet, sind mit solcher Kritik nicht erledigt. Kulturkritik ist nicht an sich Reaktion. Wo ist das „Wahre" an den herrschenden Ideen? Das Zeitgemäße muß darauf geprüft werden, ob es persongerecht und sachgerecht ist. D a ß die Mehrheit der Menschen „außengeleitet" ist, braucht kein Schreckbild zu werden, denn es ist trotz entgegenstehender Ideale wahrscheinlich 3S

Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen

Zeitalters,

Stuttgart 1958, S. 15.

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

31

immer so gewesen. Aber wenn eine Erziehungspolitik diese Entwicklung bewußt fördert, müssen wir fragen, woher denn in gewandelten Situationen noch die Leitbilder selber kommen sollten. Die Gefahr einer Uberanpassung besteht wirklich, und an Überanpassung sind nicht bloß die Dinosaurier ausgestorben, sondern auch eine Reihe von sozialen Typen. In einer Situation der Nivellierung an die individuelle Besonderheit zu denken, scheint zeitgerechter zu sein, als bloß den Stimmungen der Zeit nachzugeben. Die Gefahr des Raubbaus, der Erschöpfung der Naturkräfte, besteht wirklich. Die Erosion des Bodens durch Entwaldung, durch falsche Agrartechnik, durch übertriebene Viehhaltung bedroht ernsthaft die Ernährung der Menschen. Giftige Pflanzenschutzmittel zerstören ein biologisches Gleichgewicht, dessen Bedeutung wir noch gar nicht übersehen können. Ein Kultus der unberührten Natur, ein Kultus der Primitivität ist romantisch und sentimental. Aber wenn eine Wirtschaftspolitik über den Vorteilen der Unternehmer von heute die Konsumenten der folgenden Generationen vergißt, dann ist das gewissenlos. Zeitgerechtigkeit hängt an Person- und Sachgerechtigkeit. Wie aber sollen wir zu jenem Optimum des Urteils kommen, in dem die drei Kriterien aufeinander abgestimmt werden? Ein jedes Modell hierfür wäre doch eine Utopie! Sicherlich. Aber gerade für diesen Zweck ist die Utopie da. Paul Tillich hat diese überraschende Behauptung aufgestellt40. „Ohne die vorwegnehmende Phantasie würden in der Menschheit zahllose Möglichkeiten unrealisiert geblieben sein", sagt er. „Die Utopie ist im Stande, das Gegebene umzugestalten", heißt es weiter. Aber die Utopie ist ja gerade zeitlos, wie sie ortlos ist. „Die Unwahrheit der Utopie ist, daß sie die Endlichkeit und die Entfremdung des Menschen vergißt." Jedes politische Programm ist eine Utopie; es stimmt nicht mehr, wenn sich nach langen Jahren des Kampfes die Chance ergibt, es durchzuführen. Der Sozialismus versprach den endgültigen Ausgleich von Freiheit und Gleichheit. Jetzt ist er da. Auf der einen Seite als Wohlfahrtsstaat mit allerhand recht vernünftigen Einrichtungen; aber vom neuen freien Menschen ist nichts zu spüren. Auf der andern Seite als sachbesessener kommunistischer Zwangsstaat, unmenschlich, personwidrig. War der Sozialismus jemals zeitgerecht? Ist vielleicht ein Augenblick verpaßt worden, zu dem er Person und Sache richtig hätte aufeinander einstimmen können? Das ist wieder die Frage nach einem Kriterium 40

P a u l T i l l i c h , Die politische

Ϊ95 » S· 53» 55· 1

Bedeutung

der Utopie im Leben

der Völker,

Berlin

32

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Gablentz

für den Humboldtschen Satz. Solch ein Kriterium müßte nicht nur zeigen, welche Entscheidungen in einer bestimmten Situation Aussicht auf Erfolg haben, sondern darüber hinaus, welche Entscheidungen das Optimum von Freiheit und Sachlichkeit zugleich bieten. Aus der Zeitlage und dem Zeitgeist ist es nicht zu gewinnen. Wir sind also zurückgeworfen auf Person und Sache unmittelbar. Die Beweislast ist umgekehrt. Es stimmt zwar, daß Persongerechtigkeit und Sachgerechtigkeit zusammenhängen, und zwar in der Zeitgerechtigkeit. Aber ob die Entscheidung zeitgerecht ist, läßt sich dodi nur über Person und Sache ermitteln. Wir müssen jetzt diejenigen Züge der beiden Faktoren untersuchen, die wir vorhin beiseite gelassen haben. Da ist einmal das „Naturrecht mit wechselndem Inhalt". Jedes Recht muß dem Menschen als Person gerecht werden, aber jeder Person gebührt etwas anderes und eigenes als „das Ihre". Dieses Eigene ergibt sich aus Sache und Zeit. Aber das Zeitgemäße wird zeitgerecht erst dadurch, daß es sidi an der Person bewährt. Da ist auf der anderen Seite „die Sache im Zusammenhang des Ganzen". Das technisch Richtige wird nur dann zum politisch Richtigen, wenn es in die historische Situation paßt. Aber ob es zeitgerecht ist, hängt davon ab, ob es der Sache entspricht. Die geschichtliche Situation gibt ein Kriterium ab für die Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Persongerechten und des Sachgerechten — nicht weniger, aber auch nicht mehr. Man kann wohl feststellen: dies war der richtige Moment für eine bestimmte Entscheidung. Aber die Entscheidung wird nicht richtig dadurch, daß der Moment gut abgepaßt war. Jede Geschichtsphilosophie, die von einer isolierten Zeitgerechtigkeit ausgeht, wird zu einer metaphysischen Rechtfertigung des Erfolges. Das trifft vor allem die Neuhegelianer. Jede Geschichtsphilosophie, die zwar die Persongerechtigkeit, aber nicht die Sachgerechtigkeit gelten läßt, „blamiert sich, weil sie vom Interesse verschieden ist" 41 . Das gilt ζ. B. für den dogmatischen Demokratismus und Pazifismus. Max Weber nennt das „Gesinnungsethik"; in Wirklichkeit handelt es sich nur um Ideologie. Jede Geschichtsphilosophie, die zwar die Sachgerechtigkeit, aber nicht die Persongerechtigkeit gelten läßt, wird zu einer Ideologie des Terrors. Keiner der drei Maßstäbe kann ohne die beiden anderen angewendet werden. Wovon hängt es denn aber ab, ob die Zusammenstimmung glückt? Wenn es der reine Zufall ist, dann kann unser Urteil bestenfalls die künstlerische Intuition des Politikers loben, der sich durch den 41

Karl Marx, Friihscbriflen,

hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 320.

Die Μ aß Stäbe der politischen

Entscheidung

33

Erfolg des Richtigen als Staatsmann ausweist. Das wäre nur eine verfeinerte Abart der ästhetischen Begeisterung f ü r den „großen Mann", mit der sich die deutsche Romantik von Hegel bis Stefan George das gesunde Urteil verdorben hat. Das Unbehagen an solcher Willkür hatte uns auf den schlüpfrigen Boden der Geschichtsphilosophie geführt. Aus den objektiven Vorgängen der Geschichte war aber kein Maßstab zu gewinnen. Wenn wir noch weiter fragen wollen, dann bleibt nur übrig, die Person auf ihr Verhältnis zur Umwelt und die Umwelt auf ihr Verhältnis zum Menschen zu untersuchen. Das erste tut der Existenzialismus, wenn er fordert, daß man nicht vom Menschen schlechthin, sondern vom Menschein in der Welt ausgeht. Wenn man aber dabei stehen bleibt, dann wird es vollends rätselhaft, wie dieser in die Welt „geworfene" Mensch mit einer Umwelt und einer Zeit übereinstimmen kann, die ihm grundsätzlich fremd ist. Wenn man aber nach einer Entsprechung von der anderen Seite her sucht, dann zieht man sich den Vorwurf zu, die Welt anthropozentrisch zu deuten. (Siehe die Bemerkung von Maihofer, oben S. 19). Es ist aber mit der anthropozentrischen Weltdeutung wie mit dem Werturteil. Alle die billigen Einzelanwendungen, die zur Rechtfertigung der jeweiligen Ordnung dienen, müssen hinweggefegt werden. Aber so wie man um die Wertung nach dem Maßstab der Menschenwürde nicht herumkommt, so kommt man nicht davon los, daß man sich die Welt nur menschbezogen denken kann. Anders ist die Erfahrung nicht in unserm Weltbild unterzubringen, daß wir die Welt gestalten können nach denselben Maßstäben, mit denen wir uns beurteilen, eben nach dem „Gesetz der Freiheit". Diese Erfahrung ist nicht beweisbar als Ergebnis unseres Denkens, und sie kann auch gar nicht nachträglich beweisbar sein, denn sie ist Voraussetzung dafür, daß wir die Begriffe Freiheit, Verantwortung, Schuld überhaupt benutzen können. Sie setzen eine gestaltbare, für die menschlichen Aufgaben vorgeformte Welt voraus 42 . Eben diese Erfahrung enthält aber ein Element, das jede deterministische Geschichtsauffassung aus den Angeln hebt: die Schuld, die Verfehlung. Hier setzt Paul Tillichs Philosophie des Dämonischen und des Kairos ein. E r hat sie in der offenen Situation der Weimarer Zeit entwickelt. 1926 erschien das Sammelwerk „Kairos" mit seinen eigenen grundlegenden Beiträgen „Kairos" und „Kairos und Logos" 43 . E r überträgt den Begriff der „erfüllten Zeit" aus der Theologie des Neuen Testa42 43

3

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Paul Tillich, Kairos, Darmstadt 1926.

Fraenkel

§ 83.

34

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Gablentz

ments ins Philosophische und versucht zugleich, den Sinn der eigenen Zeit von diesem Begriff her zu deuten. An der Zeit zu sein scheint ihm der Durchbruch eines religiösen Sozialismus. Gleichzeitig aber schildert er auch „Das Dämonische" 44 . Das Dämonische ist für ihn nicht die bloße Negation, sondern ein „Gegen-Positives", die Verzerrung, in der die positiven Elemente noch enthalten sind, und das gerade darum verführerische Kräfte hat. „Wenn die Zeit erfüllt ist", dann sind die Möglichkeiten da für etwas grundsätzlich Neues, aber sowohl von oben, wie von unten. Nach 33 Jahren überprüft Tillich in der Festschrift für Eduard Heimann seine alten Begriffe noch einmal45. Der Begriff des Dämonischen ist allerdings noch haltbar; er eignet sich schmerzlich genau zur Deutung des inzwischen Geschehenen. Den Begriff des Kairos ergänzt Tillich um die Feststellung, daß Kairos und Kairos-Bewußtsein zusammengehören. Dann lassen sich allerdings die beiden Begriffe sehr gut zu einer Darstellung des Nationalsozialismus kombinieren, die ich hier einmal — über Tillich hinaus — zur Prüfung seiner Begriffe versuchen möchte. Tillich sah den Kairos für einen religiösen Sozialismus gekommen. Er warnte vor den Dämonien der Zeit und nannte als letzte große Dämonie den Nationalismus. Wenn er recht hatte, dann mußte die größte Gefahr dämonischer Perversion darin bestehen, daß ein vom Nationalismus Bessener sich der Idee des Sozialismus bemächtigte und in die religiöse Sphäre vorstieß. Genau das ist geschehen. Hitler erspürte, was „an der Zeit" war, sagen wir es ganz vorsichtig: wofür die Stimmung reif war. Und er hatte den absoluten Willen des Sendungsbewußten, dem gegenüber jeder versagen muß, der nicht auch einen absoluten Halt hat. Brüning spürte wenig vom Kairos. Was er einmal sehr ernsthaft vertreten hatte von der notwendigen nationalen Erneuerung aus neuem sozialen Verständnis, das hat er nie verleugnet, aber er glaubte zu unserm Unglück, keine Zeit oder kein Recht zu haben, es in dieser Situation zu betonen. Aber er hatte den Halt in einem festen Glauben an das absolute Recht des Menschen vor Gott. Nach seinem Sturz gab es in den deutschen Regierungen nur noch Leute, die auch anders konnten. Und dieser Typus ist allerdings der Dämonie immer unterlegen. Tillichs Idee des religiösen Sozialismus griff höher, als es den Massen verständlich war. Daß er Richtiges geahnt hatte, wird dadurch bewiesen, 44

Ders., Das Dämonische, Tübingen 1926. Ders., Kairos — Theonomie — Das Dämonische, in: Festgabe für Eduard mann, 2ur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Hamburg 1959. 45

Hei-

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

35

daß es Hitler dann leicht wurde, Massen für den Götzendienst des Volkes und der Rasse zu gewinnen. Die wenigen Einsichtigen, die sich um die Vorstufe einer Verbindung nationaler und sozialistischer Ideen mühten, wie Leber, Reichwein und Schumacher im sozialistischen Lager, wie die jungen Konservativen, die sich dann im Kreisauer Kreis fanden, blieben machtlos. Das Beispiel zeigt uns wohl, daß die Idee des Kairos an eine wichtige Realität rührt. Aber die Frage bleibt offen, wie sich, um Tillichs Ausdruck zu gebrauchen, Kairos und Kairoi, die große Wende und die günstigen Gelegenheiten, unterscheiden, woran man erkennen kann, daß nicht nur die Gelegenheit für irgend eine Entscheidung günstig ist, sondern daß dieses Mal eine Wende der Epochen anhebt. Heimann hat daher vorgeschlagen, den Begriff doch im theologischen Bereich zu lassen und nur auf die eine Wende, das Erscheinen Jesu Christi, anzuwenden. Es scheint mir, daß wir über die Antinomie des Begriffes „zeitgerecht" auch hier nicht hinausgekommen sind. Tillich spricht jetzt von einem „Rhythmus der Geschichte" und führt einleuchtende Beispiele an. Aber er bleibt auch diesmal den Beweis schuldig, daß man nach objektiven Kriterien- und gar in die Zukunft hinein-Episode und Epoche unterscheiden kann. V. Person und Leistung Das Ergebnis ist unbefriedigend. Aber einen wesentlichen Schritt sind wir weitergekommen. Die Vorstellungen, daß die Geschichte einen Sinn hat, daß die Welt auf den Menschen und seine Kultur hin vorgeformt ist, sind des billigen Optimismus entkleidet, der grade tiefe Denker immer dazu getrieben hat, diese Vorstellungen überhaupt anzuzweifeln. Der Begriff des Dämonischen scheint mir eine glückliche neue Fassung der alten Erfahrung von der Tragik aller Geschichte zu sein. Unser Urteil über den zeitgerechten Charakter einer Entscheidung bleibt berechtigt. Es ist weder ein bloß moralisches Urteil, wie man es über die Personengerechtigkeit haben darf, noch ein bloß logisches, wie es zur Sachgerechtigkeit gehört. Aber es ist auch kein ästhetisches der sinnvollen, aber zweckfreien Freude über Harmonie oder Würde einer Gestalt. Es ist ein Urteil sui generis. Es geht aus von der eigenen Erfahrung historischer Verantwortung. Der Urteilende, Gelehrter historischer und politologischer Schulung oder Politiker, weiß von sich selber, daß es Abschnitte in der Geschichte gibt, große und kleine. Er weiß, aus 3'

36

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der Beobachtung oder aus dem eigenen Erfolg und Scheitern, was es heißt, den Augenblick zu nutzen oder zu verfehlen. Er weiß um das Risiko des eigenen Heiles, das der Verantwortliche eingeht, wenn er sich der Verantwortung stellt. „Der Handelnde ist immer gewissenlos", dieses Goethewort wird im Lichte der Tragik wohl von jedem Schatten des Zynismus befreit, und nach dem Handeln kommt der Augenblick, wo der Handelnde selber sein Gewissen befragen muß und wo die andern verpflichtet sind zum Urteil. N u n bleiben aber noch zwei schwere Brocken übrig. Der eine hängt mit der Persongerechtigkeit zusammen. Wenn ein Satz feststeht, dann ist es der, daß kein Mensch zum bloßen Mittel für einen noch so hohen Zweck gebraucht werden darf. Man darf keine Menschen opfern; ein Opfer muß freiwillig sein. N u n gibt es kaum eine große politische Entscheidung, in der nicht auch der gewissenhafteste Staatsmann sich gezwungen sieht, Menschen zu opfern, ohne sie nach ihrer Zustimmung zu fragen. Das Opfer des physischen Lebens im Kriege ist nur der deutlichste Fall. Ein Vertrauen zu täuschen, eine Verantwortung abzuschieben auf einen Unschuldigen — immer wieder tauchen solche Versuchungen auf, und immer wieder kommt die Frage, ob ohne ein solches Unrecht die einmal übernommene Verantwortung f ü r das Ganze getragen werden kann. Das ethische Urteil ist in solchen Fällen eindeutig. Aber reicht es aus? Wenn es in der Kollision zwischen sachlicher und personeller Verantwortung keine Lösung gibt, wenn der Politiker keinen Ausweg sieht, als eine der beiden Verantwortungen zu verleugnen, dann kann das Urteil nur noch fragen: hat er sich dieser N o t gestellt, hat er selber das Opfer des Gewissens auf sich genommen? Wenn er es getan hat, dann handelt es sich um Tragik; das Urteil kann nur mit Ehrfurcht gesprochen werden. Wer ein solches O p f e r bringt, der weiß auch, daß er irgendeinmal zu sühnen hat. Das ist das Problem des Widerstandsrechts, das logisch nicht aufgeht. Gegen Kants Feststellung: es könne kein Recht auf Rechtsbruch geben,40 gibt es keinen Einwand. Aber es kann — und Kant läßt das durchscheinen — eine Pflicht zum Rechtsbruch geben; sie ist verbunden mit der Verantwortung, das Recht wiederherzustellen. Und das geht schwerlich ohne ein Sühneopfer ab. Zur historischen Verantwortung gehört die Opferbereitschaft. Wer sie nicht hat, der verfehlt alle drei Maßstäbe. Das zweite Problem ergibt sich aus der Sachgerechtigkeit. Keine 46

Kant, Metaphysik

der Sitten, Rechtslehre, II. Teil, § 49, Allgemeine Anmerkung A.

Die Maßstäbe

der politischen

Entscheidung

37

Sache ist bloßes Objekt. Wenn man es lange übersehen konnte in Zeiten des Uberschusses an Naturkräften und -schätzen, heute weiß man es: die Natur spielt mit in Technik und Wirtschaft, also audi in der Politik. Nicht bloß ein Stückchen Erdkrume, nicht bloß ein bißchen Wasser aus unerschöpflichem Vorrat verbrauchen wir, sondern den ganzen Haushalt der Natur wandeln wir um — behutsam pflegend oder ausbeuterisch zerstörend. Wir können das Objekt nicht lassen, wie es ist, es wandelt sich unter unseren Händen — so oder so. Wenn wir bisher davon ausgingen, daß der Maßstab für das richtige Umgehen mit den Dingen darin läge, daß man sie auf lange Sicht für die richtige Benutzung durch den Menschen bereit stellte, dann wird das heute zweifelhaft. Denn das setzt eine relativ statische Technik und einen relativ klaren Überblick über die Folgen unserer Eingriffe voraus. Heute aber wissen wir weder, in welcher Weise künftige Generationen über die Naturschätze verfügen werden, noch wissen wir, welche Nebenwirkungen ungeahnter Art und Größe unser gegenwärtiger Gebrauch haben kann. Wir kennen die Größen nicht, die wir in eine Gewinn- und Verlustrechnung einzusetzen hätten. Wir können nicht mehr den Umweg über den Menschen als Verbraucher benutzen, wir müssen unmittelbar fragen: was ist sachgerecht, nicht für die Zwecke, sondern für das Bestehen der Dinge. Im Umgang mit Lebewesen, im Umgang mit dem Boden ist ein Maßstab dafür erarbeitet worden. Er heißt: Kultur, und das heißt: Pflege. Jetzt verstehen wir das ganze Schwergewicht von Stifters Satz: „ohne das die Dinge nicht sein können, was sie sind." Wladimir Solowjow hat dafür den adäquaten philosophischen Ausdruck gefunden: „Die Materie besitzt ein Anrecht darauf, durch den Menschen vergeistigt zu werden47. Der Garten ist das eine Symbol dafür. Er ist keine eigenständige Natur, er ist das Ergebnis einer vom Menschen hervorgebrachten Wandlung. Aber die Dinge sind darin zu ihrem höheren Recht gekommen. Die Welt ist menschlicher geworden, und sie hat ihre Ordnung behalten. Die Skulptur wäre ein anderes Symbol: aus dem formlosen Stein ist herausgeholt worden, was in ihm steckte. Der Bildhauer weiß, daß es eines Zusammenwirkens mit der Materie bedarf, wenn das Werk gelingen soll. Es ist dieselbe Haltung der Ehrfurcht, die wir vom Urteilenden verlangten, wenn er vor der Tragik steht, die wir vom Politiker verlangten, wenn er einen andern glaubt opfern zu müssen; diesmal ist es die „Ehrfurcht vor dem, was 47

Wladimir Solowjow, Die Rechtfertigung

des Guten,

Stuttgart 1922, S. 435.

38

Otto Heinrich v. d. Gablentz

unter uns ist." Ehrfurcht als Maßstab der Wirtschaftspolitik, das mag zunächst sehr verstiegen klingen. A b e r es wird höchste Zeit, daß wir uns daran gewöhnen, ehe das Wasser überall untrinkbar wird und die Luft erstickend. In unserm theoretischen Zusammenhang aber bedeutet diese Steigerung der Ansprüche: unser Urteil geht aus von der Leistung des Politikers und es w i r d von Stufe zu Stufe mehr ein Urteil über den Menschen. D a m i t ist nun auch das Stück Wahrheit in ihm aufgenommen, das in jener so fragwürdigen Bewunderung des „großen Mannes", der G r ö ß e als solcher, steckte. Jedes Urteil über das Tun, wenn es tief genug greift, wird zu einem Urteil über das Sein. W i r haben vorhin die Frage nach dem E r f o l g auf ein Nebengleis geschoben. Wenn man v o m langfristigen E r f o l g spricht, hat man noch nicht einmal das Ergebnis der H a n d l u n g deutlich bestimmt. John Stuart Mills Kriterium trifft noch besser, als er selber ausgedrückt hat. Was eine Regierung aus den Menschen macht, ist nicht nur das Ergebnis ihres Tuns, sondern mindestens so sehr das der seelischen und geistigen Atmosphäre, die sie um sich verbreitet. Eine solche Atmosphäre, eine Vertiefung und Reinigung des Menschen wird oft mehr v o n einem Mißerfolg ausgehen, als von einem Erfolg. A l l e Kulturen sind voll von der Erfahrung, d a ß O p fer reinigen. W i r haben die H i l f e — ja vielleicht ist das große W o r t hier das allein sinngemäße — den Segen erlebt, der v o m Martyrium und Bekenntnis der Widerstandskämpfer ausging. Unser Urteil über die politische Entscheidung wird alle Stufen durchlaufen müssen, die w i r hier gezeichnet haben. Es wird fragen müssen nach der Personengerechtigkeit, nach der Sachgerechtigkeit, nach der Zeitgerechtigkeit. A m Ende entscheidet die Frage nach dem Menschen: hat er sich selbst erfüllt, indem er nicht sich selbst suchte, sondern diente?

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Zum Begriff des politischen Stils Als politischen Stil verstehen wir die Erscheinungsweise des politischen Verhaltens. Die Frage nach dem Stil rückt zugleich Motive des Handelns und seinen Vollzug in den Blick. Darum kann sie den Zusammenhang beider zu fassen helfen und ihre Diskrepanz sichtbar machen. Am handelnden Menschen erkannt, ist der Stil Ausdruck eines Wesens. Er erscheint im politischen Verband also stellvertretend, d. h. symbolisch für eine sozial geltende Art und einen dominierenden Charakter. Diese Eigenschaft teilt dem politischen Stil Bedeutung mit für den Zusammenhalt des politischen Verbandes selbst. Politik und Staat sind in die Härte sachlich notwendiger Entscheidungen gestellt, wie sie das Zusammenleben unter Menschen erfordert. Der normsetzende wie der verstehende Geist, sei er jeweils gut oder schlecht, hat bestimmenden Anteil an ihrem Aufbau und ihrem Tun. Insofern an der Physiognomie des Tuns seine Gesinnung abzulesen ist, insofern also der politische Stil aussagekräftig und verständlich wird, kann sich der Untertan oder der Bürger ihm fügen oder ihm sich zu entziehen suchen. An dieser zwischen Mitwirkung, Abstand und Gegnerschaft oszillierenden Entscheidung wirken Verständnis mit neben Furcht und Hoffnung. Der Blick auf den politischen Stil legt daher eine Art des synoptischen Sehens nahe, die das Engagement des eigenen Daseins an der Politik mit ihrem Verständnis verbindet. Könnte diese Sehweise durch das Wissen um die politischen Strukturen, die kulturellen Uberlieferungsformen und die personalen Kräfte, die stilbildend wirken, bereichert werden, so wäre für den Zusammenhalt von Gesellschaft und Staat, für die Klärung der Möglichkeiten des politischen Willens und für seine Festigung einiges gewonnen. Zunächst aber sollten wir uns grundsätzlich darüber verständigen, was wir unter Stil verstehen wollen. Denn gleich dem Stilverständnis gegenüber der Kunst, also in der Ästhetik, eröffnet das Wort Stil in der Politik zunächst zwei verschiedene Auffassungsweisen des Stilbegriffs, die charakterisierende und die bewertende.

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Die charakterisierend ordnende Absicht der Stil-Analyse wurde für unser historisches Bewußtsein maßgebend. Die Kunstwissenschaft hatte gegenüber den bildenden Künsten ζ. B. jene grundlegend zusammenfassende Gliederung von Epochen nach Stilmerkmalen an der Geschichte der griechischen Kunst als Archaik, Klassik und Hellenismus oder — von der abendländischen Kunstgeschichte her rückwärts bezeichnend — als Barock abgelesen. Dabei hatte sie das Typische einer historischen Folge zugerechnet. Diese verstehende Deutung der Epochenstile kreuzt sich dann aber zum Beispiel in der Literaturanalyse mit einem Stilbegriff, der an den Gattungen des dichterischen Schaffens gebildet ist, dem epischen, dem lyrischen, dem dramatischen Stil. Weiterhin sprechen wir im Bereich der Künste von Kulturstilen, wenn wir etwa am Beispiel der indischen Plastik oder der chinesischen Zeichnung auf die Eigenart jeder der beiden Hochkulturen gegenüber der abendländischen abheben, von Nationalstilen, wenn wir ζ. B. die französische, die englische, die deutsche Variante der Gotik in einen Zusammenhang mit der Geschichte der Nationenbildung zu bringen suchen. Ja, wir übertragen diesen Stilbegriff auf das Wirtschaftliche, wenn wir innerhalb der abendländischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von dem charakteristisch englischen, französischen, deutschen oder amerikanischen Wirtschaftsstil sprechen und können in der Tat zur Erklärung solcher Verschiedenheiten typische Verhaltensweisen und Ordnungsformen heranziehen, etwa die Sozialgeschichte des englischen Adels, die Familienordnung des französischen Bürgertums, die genossenschaftliche Tradition in der deutschen Wirtschaftsgeschichte, die Frontierbewegung in der amerikanischen. Und schließlich wird der Kenner des künstlerischen Erzeugnisses der eigentümlichen Handschrift des schöpferischen Künstlers gewahr, die sein Werk als Einheit sichtbar macht und zugleich mit der charakteristischen Personalität zusammendenkt, aus der sich die Urheberschaft dieser Einheit herleitet. Die Anwendung dieses auf das Charakteristische ausgehenden Stilbegriffs auf die Politik führt zu einer analogen Verzweigung. Der zentrale Gegenstand des Politischen ist die Entscheidung, die für einen politischen Verband gefällt wird und gilt. Das Zustandekommen der Entscheidung wie ihre Durchführung setzt Ordnungen voraus, vermöge deren der politische Wille zur Bildung gelangt, die von ihm gesetzten Akte vollzieht oder aber im Vollzuge scheitert. Diese Ordnungen selbst besagen also schon Grundlegendes für den Stil des politischen Handelns. Die seit der griechischen Antike gebräuchliche grobe Einteilung der Herrschaftsformen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie ist zwar durch

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die Erweiterung unserer historischen und kulturmorphologischen Kenntnisse, ja durch den geschichtlichen Verlauf selbst differenziert worden. Aber eben die Einfachheit dieser Grundeinteilung macht einen für uns wichtigen Sachverhalt umso deutlicher, nämlich die Eigenschaft des Ordnungsgerüsts, auf dem die Verfahren der Entscheidung beruhen, bis zu einem gewissen Maß bestimmend zu wirken für das politische Verhalten. Ich sage, bis zu einem gewissen Maß. Denn die klassische Staatsformenlehre und ebenso die vergleichende Untersuchung von Herrschaftsordnungen oder Führungssystemen erschließt zwar Grundtypen in dem Sinne, in dem sich Max Weber Idealtypen gebildet hat. Von ihnen aus lassen sich schon logisch die Fragen entwickeln, die auf die unabdingbaren Konsequenzen jeder dieser Ordnungsarten hinleiten. Historisch gesehen hat jede dieser Ordnungen einen jeweils eigenen für sie als Typus wesentlichen Legitimationsgrund, ein eigenes soziales Selbstverständnis von Uber- und Unterordnungen, ein prinzipiell eigenes Verhältnis zwischen Mitbestimmung und Gehorsam, Bindung und Freiheit. Diese Verschiedenheit der Ordnungen hat für jedes System die Folge, eine spezifische Regierungslehre und eine ihm gemäße spezifische Tugendlehre zu erzwingen. Die Leidenschaft, mit der alle Kontroversen über die Staatsform geführt werden, ist nur aus diesen Konsequenzen der Gestalt des Führungssystems auf Selbstverständnis und Daseinsführung der Regierenden wie des Bürgers, des civis überhaupt zu erklären. Montesquieu hat im III. und IV. Kapitel des ersten Buches des Esprit des Lois über den Zusammenhang von politischer Ordnungsform, Erziehung und Tugendlehre bleibend Nachdenkenswertes gesagt, über die Zugehörigkeit von Bürgertugend, Ehrgefühl und Furcht zu dem republikanischen, dem monarchischen und dem despotischen System: Comme il faut de la vertu dans une republique, et dans une monarchic, de l'honneur, il faut de la CR ΑΙΝΤΕ dans un gouvernement despotique: pour la vertu, eile n'y est point necessaire, et l'honneur y seroit dangereux. Uber die Bedeutung der normativen Verhaltensqualitäten für die „Vollständigkeit" des jeweiligen Systems im Unterschied vom tatsächlichen Verhalten: Tels sont les principes des trois gouvernements: ce qui ne signifie pas que, dans une certaine republique, on soit vertueux; mais qu'on devroit l'etre. Cela ne prouve pas non plus que, dans un Etat despotique particulier, on ait de la crainte; mais qu'il faudroit en avoir: sans quoi le gouvernement sera imparfait.

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. . . Les lois de l'education seront done differentes dans chaque espece de gouvernement. Dans les monarchies, elles auront pour ob jet l'honneur; dans les republiques, la vertu; dans le despotisme, la crainte. Bei der Erörterung der republikanischen Tugend ist ihre Definition als Vaterlandsliebe und deren Identität mit der Liebe zur Gleichheit entscheidend. Sie wird als politische Tugend, und zwar als eine dauernde Unterordnung der selbstbezogenen Eigeninteressen unter das Gemeininteresse bezeichnet: . . . il faut observer que ce que j'apelle la vertu dans la republique est l'amour de la pätrie, c'est-a-dire l'amour de l'egalite. Ce n'est point une vertu morale, ni une vertu chretienne, c'est la vertu politique;. . . C'est dans le gouvernement republicain que l'on a besoin de toute la puissance de l'education. La crainte des gouvernements despotiques nait d'elle-meme parmi les menaces et les chätiments; l'honneur des monarchies est favorise par les passions, et les favorise a son tour: mais la vertu politique est un renoncement a soi-meme, qui est toujours une chose tres penible. On peut definir cette vertu, l'amour des lois et de la patrie. Cet amour, demandant une preference continuelle de l'interet public au sien propre, donne toutes les vertus particulieres; elles ne sont que cette preference. Cet amour est singulierement affecte aux democraties. Dans elles seules, le gouvernement est confie ä chaque citoyen. Or, le gouvernement est comme toutes les choses du monde: pour le conserver, il faut l'aimer. Bei näherem Zusehen ergibt sich freilich eine erhebliche Variationsbreite innerhalb jeder der drei Typen Montesquieus, und zwar in der historischen Folge wie im epochalen Vergleich. Der Nutzen der typologischen Betrachtung beruht darauf, daß konstitutive Momente geklärt werden, daß also die „Anatomie" des Typus quasi deutlich wird, ohne die Individualität zu verdecken. Die Reform als das im angelsächsischen Bereich dominierende Moment der Verfassungsentwicklung steht im Gegensatz zu der auf dem europäischen Kontinent maßgebenden Form der Revolution und ebenso zu der für mehr als ein Jahrhundert lateinamerikanischer Geschichte und jetzt für die arabischen Länder charakteristischen des Staatsstreichs. Jeder Ordnungstypus hat zudem kulturregionale, ja nationale Varianten. Und schließlich sind auch diese Varianten von politisch führenden Personen her im einzelnen geprägt, von Personen, die ihr Eigenes bei der Begründung oder bei der Erfüllung von Systemen der politischen Entscheidung mit

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einbringen. Sie sind stilbildend, sie begründen oder bestimmen Überlieferung. Die verstehende Stilanalyse des politischen Verhaltens erstreckt sich also vom Verständnis des bedingenden Ordnungstypus eines politischen Verbandes bis zur Erfassung der personalen Gestalt eines oder mehrerer für ihn bestimmend wirksamer Menschen. Damit sind wir aber beinahe unbemerkt schon an die Grenze des bewertenden Aspekts des Stilbegriffs gelangt. In der Praxis unseres Verhaltens zu Werken der Kunst und der Literatur hat er in der Gegenwart scheinbar eine größere Bedeutung als im theoretisch-historischen Bewußtsein. Es könnte uns zu denken geben, daß die Ästhetik zum mindesten innerhalb eines charakteristischen Stiltypus die bessere Verwirklichung der Grundcharakteristika von der schlechteren unterscheidet und eben davor auch im Falle eines künstlerischen Individualstils sich nicht scheut. Die charakterisierende Verwendung des Stilbegriffs tendiert zum bestimmten Artikel: Ein Werk als expressionistisch bezeichnen heißt, es allgemein einem Typus zurechnen. Es als stilfremd beurteilen stellt die Charakteristika, die es hat in Beziehung zu dem weiteren Bereich eines herrschenden Regional- oder Epochalstils wie etwa gotische Grundformen im Stil der italienischen Frührenaissance fremd erscheinen. Dagegen von einem Kunstwerk oder gar von dem Gesamtverhalten eines Menschen mit unbestimmtem Artikel zu sagen, es „habe Stil" oder es sei stillos, läßt das Charakterisierende beiseite zugunsten der Hervorhebung einer Wertqualität. „Der Stil (ruht) auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern es uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen." Dieser von Goethe formulierte Begriff des Stils ist unabhängig gehalten vom historisch Charakteristischen, denn hier soll das Wort „den höchsten Grad bezeichnen, welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann." Ein solches Bedürfnis, über das nur Charakterisierende hinaus zu einer Bewertung zu gelangen, ist gerade im Bereich des Politischen dem Gebrauch des Wortes eigentümlich. Ein guter Monarch, eine vorzügliche Ritterschaft, eine ausgezeichnete Abgeordnetenkammer sind innerhalb einer bestimmten Ordnung als qualitativ diese Ordnung gut erfüllende Individuen und Gruppen eben durch diese Adjektiva bewertet. O f t wird diese bewertende Arbeit deutlicher in der Negation. Eine Wissenschaft vom Politischen, welche die kritische Verwirklichung dieser Notwendigkeit der Bewertung nicht zu vollziehen suchte, würde den an sie als praktische Wissenschaft zu stellenden Anforderungen nicht gerecht.

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Das heißt aber, daß mit dem qualifizierend verstandenen Begriff des politischen Stils nicht nur die Analyse des Zusammenhanges zwischen Führungssystem, Selbstverständnis und praktischer Erfüllung des Grundschemas erstrebt wird, sondern ebenso die Bewertung des Verhaltens selbst möglich gemacht werden soll. Beide Aspekte, der charakterisierende und der bewertende greifen dabei ineinander. Ein Beispiel: Das praktische Verhältnis einer Mehrzahl von Parteien zueinander ist gebunden an Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Grundordnung. Von ihr aus wird eine Pluralität von Parteien erst möglich und zwar gleichgültig, in welchem Maße die Parteibildung je von weltanschaulich-ideologischen, ökonomisch-sozialen oder regionalen Interesseninterpretationen ausgeht. Die Abweichungen untereinander, ja die insbesondere bei Wahlen offensichtlich werdenden Gegensätze zwischen ihnen sind gebunden an die fortdauernde Homogenität in bezug auf den Vorgang der Entscheidung selbst. Im freiheitlichen Rechtsstaat soll sie friedlich durch die Abstimmung vollzogen werden anstatt kämpferisch durch die ideologische Negation des parteipolitischen Gegners, in der seine Vernichtung auf dem Wege der Proskriptionsliste oder des Bürgerkriegs schon angelegt ist. Das politische Führungssystem des freiheitlichen Rechtsstaats verlangt also von allen Parteien Tugenden des Verhaltens, die ihm entsprechen. Also ist Wachsamkeit nötig gegenüber der Ausübung grundsätzlich wichtiger Institutionen wie der Grundrechte und der sie sichernden öffentlichen Organvollmachten, d. h. aber ι. Verständnis des Rechts und der Achtung vor ihm, z. Ausgleich der Gegnerschaft mit der Homogenität zwischen den Parteien, 3. Konstruktive Auseinandersetzung über die Rangordnung der Zielvorstellungen, die für die Innenpolitik wie für die Internationale Politik maßgebend sein sollen und sein können, ergo auch Bereitschaft zu Diskussion, Verständnis und Neubewertung. Inwiefern diese Minima von Anforderungen an den politischen Verhaltensstil der freiheitlichen Demokratie in der Weimarer Republik unerfüllt blieben, ist heute eindeutig sichtbar. Die innere Zerstörung dieses Staatswesens begann nicht erst mit dem sogenannten Präsidialkabinett Brüning, sondern mit der Absolutsetzung der extremen Programmatik von rechts und links. Ihr folgte ungehindert die Abschließung dieser absolut kämpfenden Gruppen gegen die anderen und die Ausbildung eines ihnen in seiner Unbedingtheit gemeinsamen antifreiheitlichen Verhaltens-Stils. Der Name der Partei wurde von der kommunistischen wie der faschistischen Kampfgruppe zwar beibehalten, aber

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ihr Wesen wurde von Grund aus verwandelt. Sie wurde ausführendes Organ eines Führungswillens. Für das Verhalten beider dieser sogenannten Parteien war das Prinzip der Feindschaft zum maßgebenden Kriterium erhoben worden. Dies hatte den Versuch zur Folge, die sogenannten „Systemparteien", d. h. die politischen Träger des freiheitlichen Rechtsstaats verächtlich zu machen und jeweils einen Gehorsamsverband innerhalb des Staates zu begründen, um mit ihm zu gegebener Zeit die Macht zu „ergreifen", sei es durch Gewalt oder mit dem Mittel der plebiszitären Abstimmung, dem dann die Gewaltanwendung folgte. Mit anderen Worten: die politischen Gruppen waren in autoritärem oder freiheitlich-rechtsstaatlichem Stil gegeneinander angetreten lang vor dem Austrag dieser Gegensätze in der Bürgerkriegsatmosphäre der letzten Jahre der Weimarer Republik. Daß dies möglich war, ist nicht nur unserem Mangel an Einsicht in die Daseinsfolgen einer System-Änderung, d. h. aber dem Mangel an einer zureichenden politischen Bildung zuzuschreiben, sondern in vielleicht höherem Grade der ungleichen Stärke des moralischen Anspruchs, der von Seiten der Verteidiger des freiheitlichen Rechtsstaats und dessen, der von seiten der beiden „Systemgegner" an den Einzelnen gestellt wurde. Die von der Demokratie erhobene moralisch-politische Forderung hatte damals keine ausreichende Kraft der Überzeugung. Damit berühren wir das Problem der politischen Gesittung. Es erweist sich als zentrale Frage des politischen Stils. Die Entscheidung und ihre Durchführung als Erfordernisse der Politik verlangen freilich die Wirksamkeit von Menschen, wie sie „sind". Eine totale Umschaffung des Menschen, wie sie einst die geistige Kühnheit Fichtes erdacht hatte, übersteigt ohnehin schon die Möglichkeiten des Erzieherischen schlechthin. Sie brächte uns außerdem in die Gefahr, uns von den unumgänglichen Wandlungen zu weit zu entfernen, denen ökonomisch und sozial unser Dasein und also unsere politische Aufgabe ausgesetzt ist. Diese Einschränkung ändert freilich nichts an der Notwendigkeit, für den Ordnungstypus zu erziehen, dem man sich verpflichtet weiß und in seinem Sinn verständlich und integrierend tätig zu sein, wenn man als Politiker oder Staatsmann durch Handeln und Rede vorbildlich und wegweisend wirken will. Dabei ist nun die Grundauffassung des Politischen und seiner Beziehung zur Daseinsführung überhaupt entscheidend. Folgt Politik ihren eigenen Gesetzen oder steht sie im leitenden, ordnenden und verwaltenden Dienst der Daseinsführung der ihr anvertrauten Menschen? In wel-

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chem Grade ist Politik durch den Z w a n g der egozentrischen menschlichen A r t und ihrer sachlichen und psychischen Folgen notwendig verurteilt, „gebrochen" zu bleiben? In welchem Grade ist ihr durch Einsicht in die Rangordnung der urteilsbildenden Momente zu helfen? Welche Rolle kommt gerade hier der Gesittung, d. h. dem ethisch zu rechtfertigenden Stil des Verhaltens zu? Rudolf Smend hat in einer sehr beachtenswerten Kritik der spezifisch deutschen Interpretation des Zusammenhangs von Ethik und Politik hervorgehoben, es sei „ein Krankheitszustand, wenn man in einer aufgegebenen Lebenstätigkeit, in einer so lebenswichtigen wie der Politik daran zweifelt, gleichzeitig das sachlich Richtige und das sittlich Richtige tun zu können". Kaum brauchen wir in unserem Zusammenhang hinzuzufügen, daß unsere deutsche historische Erfahrung des 20. Jahrhunderts, und nicht allein die mit dem Nationalsozialismus gemachte, die Möglichkeit einer von der sogenannten Individualethik abgesonderten politischen Handlungslehre nachdrücklich widerlegt. Diese Trennung w a r aus der Geschichte der Staatsraison hervorgegangen und oft wurde sie von Historismus und Soziologie in einer methodisch auf die sogenannten Realitäten, in Wirklichkeit auf vorgefaßte Meinungen den verengenden Blick richtend entwickelt und angewandt. Die Verfassung des freiheitlichen Rechtsstaats beruht aber auf einer ethisch eindeutigen, ζ. B. im Grundgesetz umschriebenen Auffassung des Menschen als zur Mündigkeit bestimmt, und zwar auch zur politischen. Hierbei werden die Schwierigkeiten nicht verkannt, die einer Verwirklichung dieser A r t des politischen Dienstes sich widersetzen, und zwar zunächst von Seiten der Unvollkommenheit des Menschen als Typus schlechthin. Im Besonderen zeigt sich die Schwierigkeit aber an Vermögen und Neigung des Einzelnen und der sozialen Gruppen, auf ihrem Eigeninteresse „kämpfend" zu bestehen, statt es zum wohlverstandenen Eigeninteresse durch seinen einsichtigen Ausgleich mit dem Gesamtinteresse zu erheben; ferner an der situationsbedingten Notwendigkeit, zu Entscheidungen zu gelangen, die weniger Zeit haben, als zur Erlangung der Einsicht in ihre Umstände und Folgen nötig ist; schließlich an der Eigenart der modernen Politik, zugleich Staatspolitik und Weltpolitik zu sein und eben darum schon mehr Wissen voraussetzen zu müssen, als vom politischen Urteil je zuvor gefordert war. Dieses Sachwissen ist unentbehrlich für die Entscheidung. Aber es genügt allein keineswegs zum Urteil über ihre Richtigkeit. Keine Entscheidung ergibt sich nur aus der sogenannten Sache, ohne Rückgriff auf

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das Gebotene, die ethische Norm. Weder sie selbst noch das Nachdenken über sie ist widerlegbar durch ihre Verletzung. Wohl aber kann die Einsicht in die Gründe ihrer Schwäche zu ihrer Kräftigung beitragen. Der Staatsmann, ja der politisch Denkende schlechthin, bleibt dazu bestimmt, Mittler zwischen dem Rechten und dem Möglichen zu sein. II Fassen wir das bisher Entwickelte noch einmal in anderer Weise zusammen: ι. Politik besteht in der Bildung und dem Vollzug des Willens eines Verbandes. Darum ist politisches Verhalten ein Gruppenverhalten, mit anderen Worten, Führung und Gehorsam, Entscheidung und Kritik stehen in einem Ergänzungsverhältnis zueinander. In jedem Falle wird Handlungsfähigkeit der Verbandsorgane verlangt. 2. D a der Verbandswille sich nach bestimmten, sei es traditionalen oder gesatzten Entscheidungsregeln bildet, die man Verfassung nennt und ebenso nach entsprechenden Verfahrensregeln ins Werk gesetzt wird, ist das politische Verhalten dem Kriterium der Verfassungsmäßigkeit unterworfen. Von diesem Kriterium aus stellt sich dann nicht nur die Frage, ob es den Rechtsregeln entspricht, sondern auch die weitere, ob es praktisch dem Geiste oder der Gesinnung der Verfassung entspricht. Ein Komitee des Senats der U S A hat s. Zt. das politische Verhalten des Senators MacCarthy als einem Senator der Vereinigten Staaten nicht anstehend bezeichnet, es hat also den Stil seines Verhaltens verworfen. Das Bestehen eines Kriteriums war für dieses nicht juristische, sondern moralische Urteil die Voraussetzung, das der zum Ende einer politischen Karriere führenden Kritik die Bahn geöffnet hat. 3. Innerhalb der traditionalen oder gesatzten Verfahrensregeln, die aus der Verfassung oder der Willensordnung des Verbandes hervorgehen, ist ein weiter Spielraum für die Entfaltung eines guten oder schlechten Verhaltensstils gegeben. Er bringt Volkseigenarten und Persönlichkeitsmerkmale zur Geltung und bildet durch sie weiter am Verbandsverhalten. Die Verhaltensweisen des totalitären Staates waren unter Stalin, Mussolini und Hitler trotz des gleichen Grundtypus des politischen Systems jeweils verschieden, und zwar infolge verschiedener Ideengehalte, Nationalcharaktere und Persönlichkeitsmomente. Verschiedenheiten in der praktischen Gestaltung des freiheitlichen Rechtsstaates gehen andererseits unbeschadet der im Willenssystem gefestigten, durch Grundrechte, Gewaltenteilung und Föderalismus geschützten unabdingbaren Arcana ebenso

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aus verschiedenen Ideengehalten, Nationaleigentümlichkeiten und Persönlichkeitsmomenten hervor. 4. Jedes politische System verlangt, begünstigt und pflegt also ein ihm entsprechendes Verhalten. Z u jedem gehören ergo bestimmte Tugenden und Untugenden. Folglich ist mit jedem System ein Verhaltenspostulat verbunden. Und zwar richtet es sich auf alle seine Glieder, es greift über das Juridische hinaus und fordert auf zu Verständnis und Nachachtung eines Verhaltenstypus, der die dem System zugrunde liegende Wertordnung praktisch fördert. Eine politische Tugendlehre muß demgemäß quasi als Erweiterung einer typologisch vergleichenden Verfassungslehre entwickelt werden. Die Ausbildung der zur Einsicht in diese Zusammenhänge erforderlichen politisch-sozialen Einbildungskraft ist ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung wie des Zusammenhalts innerhalb des politischen Verbandes, also seiner Integration. Beide bringen tatsächliches Verhalten in Beziehung zu den Institutionen und zu den Verhaltensnormen, und zwar zu den juristisch gesicherten wie den moralisch zu fordernden. Noch einmal sei auf Montesquieus Einblick in diese Beziehung von Ordnung, Stil und Erziehung verwiesen. 5. Sobald schließlich die Konsequenzen des Staatshandelns und des staatlichen Ordnungssystems f ü r die Daseinsführung im Verbände auch in Bereiche eingehen wird, die nicht im engeren Sinne politisch sind, zeigt sich der Charakter der politischen Grundfragen, insofern er das Ordnungssystem als solches transzendiert. Den Staat eigengesetzlich verstehen zu wollen im Sinne der Theorie, die von Macchiavellis Principe ausgegangen ist, bedeutet nicht etwa nur eine Möglichkeit des Denkens unter anderen, sondern ist deshalb eine falsche Denkrichtung, weil sie den Zusammenhang des Daseins verdeckt, in dem der politische Verband seinen Sinn erfüllt. Die historisch-philologische Kritik des Macchiavellismus hat denn auch die von einer politisch-taktischen Gelegenheitsschrift des Macchiavelli ausgegangene Denkbewegung als solche in ihrer Einseitigkeit verstehbar gemacht. Im folgenden Jahrhundert wurde diese Theorie durch die Staatsphilosophie des Thomas Hobbes systematisch ergänzt, ausgehend von der Einsicht in die Egozentrik der Individuen und der Notwendigkeit des herrschaftlichen Zwanges zur Herstellung der politischen Gemeinschaft. Über jede Negation des Macchiavellismus wie der Grundlagen und der Konsequenzen des Hobbesschen Denkens hinaus ist aber eben vom Nachdenken über den politischen Stil noch mehr verlangt als die Einsicht in den Zusammenhang politischer Institutionen mit den Normen der Daseinsführung und der in sie

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einweisenden Erziehung. Vielmehr führt es zu der Frage nach dem richtigen politischen Stil. Für ihre Beantwortung ist aber nicht nur ein verstehendes, sondern ein verbindliches Bewußtsein letzter Normen unentbehrlidi. III Wenden wir uns darum zu der Frage jenes Verhaltensstils, welcher der Grundkonzeption des freiheitlichen Rechtsstaats gemäß ist. Wir versuchen ihre Beantwortung vorzubereiten durch einen nochmaligen kurzen Hinweis auf den Zusammenhang von Stil und Führungssystem, treten in sie ein mit Andeutung einer Kritik tatsächlichen Verhaltens am Beispiel von Konflikten der politischen Entscheidung und berühren schließlich in der gebotenen Kürze analoge Probleme der Internationalen Politik. Das Führungssystem des parlamentarisch regierten freiheitlichen Rechtsstaates beruht auf drei verfassungsrechtlich gesicherten Institutionen der Führungsauslese und der Willensbildung, der politischen im engeren Sinne, der wirtschaftlich-sozialen und kulturell-normativen. Sie haben soziologische und ethische Konsequenzen, von denen Bestand und Leistungsfähigkeit der Ordnung in dem gleichen Maß abhängt wie von der formalen Funktionsfähigkeit der Institutionen selbst. Diese drei Bereiche sind in einer der Demokratie eigentümlichen Weise ineinander verschränkt: Die politische Willensbildung, ihre Exekutiv-Vollmacht und deren parlamentarische wie richterliche Kontrolle, die den Staatseingriff beschränkende Ordnung der Unternehmensführung und der ihr zugeordneten sozialen Wirtschaftskontrolle, schließlich die durch die Presse-, Vereins- und Religionsfreiheit gesicherten Bereiche des Denkens, dessen Wirkung auf das politische Verhalten selber sich bestimmend erstreckt: Sie alle zusammen bilden die institutionellen Grundlagen der freiheitlichrechtsstaatlichen Ordnungsform. Der politische Stil, in dem gedacht und gehandelt wird, entscheidet darüber, in welcher Weise der Sinn dieser Institutionen sich verwirklicht. Gehen wir ihnen im einzelnen nach, so zeigen sich Maßstäbe, die uns befähigen, diesen Sinn zu verstehen und den Stil des sie de facto beherrschenden Lebens einer konstruktiven Kritik zu unterwerfen. Der Gesamtzusammenhang des freiheitlichen Rechtsstaates würde es freilich nötig machen, diese Erwägungen auszudehnen auf seinen gesamten Bereich. Der Wähler, die Partei, der Abgeordnete, die Fraktion, das Parlament, die Regierung, die Beamtenschaft, die Verteidigungskräfte — sie 4

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alle bilden den Umkreis des Politischen im engeren Sinne der inneren Bildung und Durchführung des politischen Willens. In verschiedenen Etappen des Entscheidungsvorganges von der ersten Gesetzesvorbereitung bis hin zur Kritik des abgeschlossenen Prozesses wirken gesellschaftliche Gruppen und Organe der öffentlichen Meinung auf ihn ein. Solche Wirkungen gehen auch aus von jenen Gruppeninteressen, die prinzipiell in das Mit- und Gegeneinander von Unternehmer und Arbeitnehmervertretungen gestellt sind. Audi alle diese Gruppenwirkungen vollziehen sich in einer gewissen Abhängigkeit von dem Pegelstand des öffentlichen politischen Bewußtseins. Für dies aber ist schlechthin entscheidend der Grad der vorhandenen und entwickelbaren Vorstellungen vom modernen Dasein überhaupt und der zu ihrer Glaubwürdigkeit erforderlichen Kenntnisse und wertklaren Einsichten. Durch sie wird eine Unterscheidungsfähigkeit erzogen, die gemeinsam mit der Charakterstärke des Festhaltens an letzten Maßstäben die innere politische Kraft des Staatsvolkes ausmacht und die Qualität seines politischen Stils bestimmt. Wir alle, nicht nur die Regierung, nicht nur die Kritik, sind mitverantwortlich für sie. Um diese These zu erläutern, wollen wir nach einzelnen Richtungen des öffentlichen Lebens hin Fragen stellen und Probleme andeuten. Von dem Wähler, also von dem juristisch Mündigen, von welchem die Staatsgewalt ausgeht, ist im Sinne der freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung zu verlangen, daß er urteilsfähig entscheidet. Ist er ausreichend unterrichtet und erzogen, um sein formales Recht auch politisch sinnvoll auszuüben? Er wählt zwischen Parteien und vermöge des geltenden Wahlrechts mit der einen seiner beiden Stimmen zwischen Persönlichkeiten. Je mehr die ideologischen Bestimmungsgründe seiner Entscheidung im Vergleich zu einst zurücktreten, desto stärker wird das Urteil von Belang, das er über die politische Persönlichkeit, die sich zur Wahl stellt, und die er während der Ausübung ihres Amtes beobachtet hat, zu bilden vermag. Schon jetzt hat die Tendenz zur Persönlichkeitswahl die sogenannte Massendemokratie, wie sie aus der Honoration-Demokratie entstanden war, in Richtung auf eine andere Art der Urteilsbildung zu verwandeln begonnen. Die koordinierende Leistung der Parteien und Fraktionen zwischen den Interessen der Gruppen und der Einzelnen wird hier ergänzt durch die personale Wirksamkeit und Bewährung des Politikers selbst. Aber wer stellt sich zur Wahl bzw. wer wird zur Wahl gestellt? Die Entscheidung hierüber treffen Parteiorgane und zwar bestenfalls unter

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dem Gesichtspunkt der maximalen Erfolgschance in der Wahl. Dieser Gesichtspunkt braucht nicht übereinzustimmen mit der optimalen Eignung des Kandidaten. Meist wird über die Kandidatenaufstellung der Partei von Gruppen bestimmt, die kleiner sind, als es ihrer Aufgabe entspräche. Ebenso sehr bringt der Gesichtspunkt des maximalen Wahlerfolges Residuen ins Spiel, die aus konstitutionellen Formen der Vergangenheit oder aus provinziellen Vorstellungen von der Politik stammen, aber in der heutigen Lage keinen Platz mehr haben. Schnell und oft überraschend reagiert der Wähler, wenn es sich um die Verneinung des bisher Unterstützten handelt. Er hat einen Anspruch darauf, vom Politiker einerseits entlastet, andererseits überzeugt zu werden. Wird er zu seiner Unzufriedenheit entlastet oder gar irregeführt, so muß er sich früher oder später zur Negation seiner bisherigen Entscheidung entschließen. Im Wahlkampf wird um ihn geworben. Es wäre richtig, wenigstens im Groben festzustellen, welche Faktoren in diesen politischen Entscheidungsepochen bestimmend wirken, d. h., welcher Anteil der Ideologie und dem Gruppenhabitus, welcher der Persönlichkeit, welcher der Werbung, welcher der Pflege von Vorurteilen oder Ressentiments, ζ. B. also der Verketzerung des Gegners zuzuschreiben ist. Auch Formen des Wahlkampfs können einen Stil pflegen, der aus vergangenen Situationen entstanden ist. Und eben diese Art der Unwahrheit kommt bei unseren eigenen oft vor. Die zunehmende Bedeutung der Persönlichkeit im Wahlvorgang wird durch die technischen Mittel des Fernsehens gefördert, und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten der Urteilsbildung könnten fruchtbar sein. Aber während der Legislaturperiode ist der Wähler ebenso oft überrascht, in der eigenen Partei oder Fraktion Konflikte zu beobachten, wie umgekehrt zwischen den Abgeordneten verschiedener Parteien Zusammenarbeit. Seine mangelnde Einsicht in den tatsächlichen Vorgang der demokratischen Willensbildung macht ihm dann die Partei unglaubwürdig und unterstützt seinen generell gegen sie gerichteten Affekt. Politische Bildung könnte hier und in anderen Schwierigkeiten der frei j heitlich-rechtsstaatlichen Ordnung Abhilfe vorbereiten. Aber mehr als je zuvor verlangt sie heute nach diszipliniert erarbeitetem Wissen, statt nur nach gutem Willen und einer zwar vielleicht praktischen, aber doch immer beschränkten Erfahrung. Vor allem bedarf der Staatsbürger der Hinführung zum Verständnis der Politik, einschließlich des Parteiwesens, bevor er in der Partei selbst zu wirken sich entschließen kann. . 4»

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Aufgabe und Leistung des Abgeordneten wird heute eher gewürdigt als im Zeitalter der Weimarer Republik. Freilich werden die Anforderungen, die an einen guten Stil der Mandatsausübung zu stellen sind, nicht häufig erfüllt. Dies hat seinen Grund gerade auch darin, daß sie außerordentlich hoch sind. Denn der Abgeordnete vollzieht seine Aufgabe entweder als Mitglied einer in der Regierung oder einer in der Opposition befindlichen Fraktion gegenüber dem Kabinett, er wirkt mit bei der Koordination der Momente, die für den Fraktionswillen maßgebend werden und bei ihrem Ausgleich mit den sachlichen Erfordernissen der Politik. Die Teilnahme an internationalen Organisationen, ja die grundsätzliche Tiefe und die weltweite Ausdehnung des heute zum politischen Urteil erforderlichen Horizonts führen ihn notwendig über seinen provinziellen Ursprung hinaus. Als Vertreter seines Wahlkreises erfüllt er nur einen geringen Teil seiner Aufgaben, auch als Spezialist auf einem begrenzten Gebiet der Gesetzgebung ist es für ihn schwer und oft sogar fragwürdig, mit dem Fachexperten aus der Ministerialbürokratie konkurrieren zu wollen. Die von ihm verlangte Qualität ist die Fähigkeit zum politischen Gesamturteil, zur Abwägung der politischen Prioritäten und zur Durchsetzung der optimalen unter den gegebenen Möglichkeiten des Handelns. Mit der nach diesen Gesichtspunkten sich in den Fraktionen, in der Ausschuß arbeit und im Kabinett sich vollziehenden Auslese kreuzt sich aber in der parlamentarischen Demokratie die Notwendigkeit, im Sinne der Machterhaltung der eigenen Partei den Wählerinteressen entgegen zu kommen. Ob eine Partei und ob ein Staatsmann das egozentrische Interesse von Gruppen und Einzelnen in das wohlverstandene Eigeninteresse, das mit dem Gesamt-Interesse identisch gedacht werden kann, zu verwandeln vermag, besagt Wesentliches über seinen politischen Stil. Damit berühren wir die Erziehungsaufgabe, die andererseits dem Abgeordneten gegenüber seinen Wählern, ja gegenüber der Bevölkerung seines Wahlkreises gestellt ist. Auf die Dauer kann er auch seine repräsentative Vollmacht sich nur erhalten, wenn er in Ergänzung der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens den Kerngruppen der Wählerschaft durch periodisch sich wiederholende Begegnung Einblick in den Vorgang und die Probleme der Politik zu geben versteht. Der Stil dieses erzieherischen Aspekts seiner Arbeit und vor allem ihre Glaubwürdigkeit wird mitentscheidend nicht nur über seine Laufbahn, sondern über die Festigkeit des freiheitlich-rechtsstaatlichen Systems selbst. Lassen wir uns mit diesen Hinweisen auf einige innenpolitische Pro-

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Stils

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bleme der Kunst des politischen Verhaltens und seiner Bewertung genügen. Sie könnten beliebig erweitert werden. Fragen wir indessen nach den guten Stilqualitäten der politischen Entscheidung, wie sie grundsätzlich dem Ordnungssystem des freiheitlichen Rechtsstaats gemäß wären. Unsere eigene Erfahrung mit der Geschichte unserer Innenpolitik in diesem Jahrhundert hat den Vorrang der Homogenität grundlegender rechtsstaatlicher Auffassungen vor der Gegnerschaft auf das klarste erkennbar werden lassen. Hieraus ergibt sich die Ablehnung prinzipieller Feindschaft zwischen Parteien und Gruppen, die den parlamentarischen Rechtsstaat erhalten zu wollen bereit sind. Politik besteht nicht in der Entscheidung zwischen Freund und Feind, sondern in der friedlichen Herbeiführung eines Kompromisses von Interessen und Auffassungen. Es muß sich möglichst annähern an ein gemeinsames Interesse. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Gesamt-Interesse, die Forderung der Klarheit über die Mittel, die notwendig sind zur Erhaltung eines Systems der Freiheit, die Forderung der Fairneß gegenüber dem Gegner und der Kraft, Niederlagen hinzunehmen. Der H a ß als Kampfmittel ist ad absurdum geführt. Der Stil der Rhetorik ist zu messen an ihrer Glaubwürdigkeit und Uberzeugungskraft in der politischen Analyse der Rangordnung der politischen Prioritäten und an der Weite ihres entwerfenden Vermögens. Niemals ist ein parlamentarischer freiheitlicher Rechtsstaat ein vollkommenes Staatswesen. Aber er kann das optimale sein, wenn ihm seine Handlungsfähigkeit erhalten bleibt und die Integration des Staatsvolkes in den politischen Verband durch den guten politischen Stil aller Beteiligten möglich wird. Die Anforderungen, die sich von hier aus an die Kritik stellen, sind besonders groß. Der politische Kritiker bedarf der Sachkenntnis, um sein Amt ausüben zu können. Um diese Sachkenntnis zu erlangen, bedarf er des berechtigten Vertrauens der Experten und der Politiker selbst ebenso sehr, wie des Mutes zu seiner eigenen Überzeugung. Ein guter politischer Stil der Kritik beruht zwar auf der grundrechtlich gesicherten Freiheit der Meinungsäußerung. Sie schließt aber politisches Verantwortungsbewußtsein als selbstverständliche Forderung in sich ein. Die Ausübung dieser Freiheit im konstruktiven Sinne wirkt stilbildend auf die öffentliche Meinung. Allzuoft haben wir in unserer Geschichte geschwankt zwischen Servilität und Unbedingtheit der kritischen Opposition. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten das richtige Maß zu finden, heißt an der Entfaltung eines guten politischen Stils arbeiten.

54

Arnold

Bergstraesser

Aber auch im Bereiche der internationalen Politik ist der Stil des Urteils und des Handelns der Einwirkung grundlegender Wandlungen ausgesetzt. Die Entstehung eines weltpolitischen Zusammenhangs, die beherrschende Stellung zweier außereuropäischer Weltmächte in ihm und die Durchdringung außenpolitischer Fragen mit gesellschaftspolitischen Gegensätzen machen die Entwicklung eines neuen Stils der Internationalen Politik notwendig. Er kündigt sich an in den internationalen Organisationen, in den viele Länder verbindenden Bündnissystemen, in der sich steigernden Einwirkung auswärtiger Zentren der Machtbildung auf die innenpolitische Meinung. In der aktuellen Lage der Bundesrepublik, ja des Westens überhaupt, steht ein politisches Weltbild der Zukunft in Auseinandersetzung mit einem gegnerischen weltrevolutionären Bilde dieser Zukunft. Aber diese Auseinandersetzung selbst ist zugleich ein Kampf um den Vollzug einer friedlichen Ordnung, und verlangt daher sowohl Festigkeit im Eigenen wie Einsicht in das Fremde. Sie verlangt Festigkeit und Verhandlungsbereitschaft. Die Probleme der internationalen Politik haben sich grundlegend verändert seit der national-staatlichen Ordnung im Stile des alten europäischen Gleichgewichts. Dort, wo sich heute ein neuer weltpolitischer Stil entwickelt, im Sinne einer guten Gesittung einzuwirken, ist eine der vornehmsten Aufgaben, die dem politischen Denken und Handeln der Gegenwart gestellt sind. Wir sind ausgegangen von der Unterscheidung des charakterisierenden und des bewertenden Stilbegriffs. Wir haben dann gesehen, daß der politische Stil in Zusammenhang steht mit dem Ordnungstypus, dem gemäß die Bildung und der Vollzug des politischen Willens vor sich geht. Wir haben betont, daß die Ordnungssysteme der Politik nicht allein bestimmte charakteristische Arten des Regierungshandelns, sondern ihnen zugehörige Arten politischer Tugenden fordern und entwickeln und stießen dabei auf das Problem der politischen Gesittung. Die Konflikte der politischen Geschichte können sich vorbereiten in dem Wandel der Auffassung des Menschen und seiner sozialen und politischen Rolle, insbesondere auch des Verhältnisses von Über- und Unterordnung. Es kann sich eine neue Herrschaftsform vorbereiten durch einen Widerspruch zwischen der praktisch geübten und der gesellschaftlich und zwar oppositionell sich durchsetzenden politischen Gesittung. Solchen Konflikten nachzugehen, die für Entstehung und Verlauf von Revolutionen und Staatsstreichen entscheidend sein können, ist unentbehrlich für die Wissenschaft von der Politik. Eben deshalb muß sie das Ganze der wirtschaftlichen, sozialen, geistigen und im engeren Sinn politischen Daseinsführung

Zum

Begriff

des politischen

Stils

55

im Auge behalten und vor allem den Zusammenhang von politischem Ordnungssystem und politisch-gesellschaftlichem Stil. Der moderne freiheitliche Rechtsstaat mit parlamentarischer Regierungsform ist vermöge eines solchen Konflikts, dem mit dem „Ancien Regime" — und nicht nur in Frankreich auf dem Wege der Revolution, sondern ebenso in England auf dem der Reform — entstanden. Sein Bestand hängt davon ab, ob er aus der modernen Industriegesellschaft staatsbürgerliche Tugenden entwickeln kann, die den Sinn der ihn ausmachenden Institutionen in ihrer Ausübung fördern, dadurch, daß sich für sie wie für die Daseinsführung des Einzelnen und der Gruppen Wissen und Verständnis entfaltet. Das Kriterium der politischen Verhaltenskunst im freiheitlichen Rechtsstaat ist zu finden in dem menschlichen Sinn der ihn begründenden Institutionen. Ein Verständnis dieser Art und eine solche Kraft des politischen Verantwortungsbewußtseins werden uns bewahren vor falschem Autoritätsglauben, vor dem Mißverständnis der Freiheit als Willkür und zugleich vor politischer Mutlosigkeit. Es wird uns fähiger machen, unseren Teil zu leisten an dem Versuch, eine Zukunft vorzubereiten, die des Menschen würdig ist.

WOLFGANG

SCHEFFLER

Faktoren nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens In seinem Vorwort zu H. R. Trevor-Ropers Aufsatz über Hitlers Kriegsziele weist Hans Rothfels mit Nachdruck darauf hin, daß es nur erwünscht sein kann, „die Auffassung von dem bloßen Opportunisten Hitler, von der „nihilistischen" (Rauschning) Revolution um der Revolution willen, überhaupt immer wieder die Unterschätzung des Inhaltlichen in Hitlers Programm zu berichtigen."1 Sowohl vom Standpunkt der wissenschaftlichen Erforschung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems als auch angesichts der seit einigen Jahren in Gang gekommenen öffentlichen und nichtöffentlichen Diskussion über das Geschehen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 in Deutschland erweist sich diese Forderung als nur zu berechtigt. Von der Quellenlage aus betrachtet, ist die Frage um so qualifizierter, da wir seit dem Erscheinen des sogenannten Zweiten Buches von Hitler, neben Mein Kampf, den Tischgesprächen und den letzten Monologen aus dem Jahre 1945, in der Lage sind, das Gedankengerüst der verhängnisvollsten Erscheinung der deutschen Geschichte wesentlich umfassender analysieren zu können. Die Rauschningschen Gespräche mit Hitler und die Fülle des überlieferten dokumentarischen Materials der Herrschaftspraxis runden das entstehende Bild ab. Die Frage nach dem Kerngehalt nationalsozialistischen Denkens, die zwangsnotwendig zur Analyse Hitlerscher Vorstellungen führt, erweist sich aber auch immer wieder hinsichtlich des Standes der nichtwissenschaftlichen öffentlichen und nichtöffentlichen Diskussion als erforderlich. Der Nationalsozialismus hat zweifellos sowohl vor 1933, in den Jahren seiner Herrschaft und auch in gewissen Grenzen nach seiner Niederwerfung davon profitiert, daß weite Kreise die Vorstellungen und Ziele seiner Herrschaft verkannt haben. Nur so ist es zu erklären, daß zwischen den nach 1945 erbrachten Forschungsergebnissen und den Vorstellungen vieler Menschen in Deutschland ein immer wieder zu kon1

Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 8. Jhrg. (1960), S. 121

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrschaftsdenkens

57

statierendes Mißverhältnis besteht. Gerade die Analyse mancher vor deutschen Gerichten heute auftretenden Fragen bestätigt immer wieder diese Feststellung. 13 Schließlich erweist sich unsere Fragestellung als gleichermaßen berechtigt, betrachtet man die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Erforschung totalitärer Systeme überhaupt, jener Staatsgebilde also, die Gerhard Leibholz mit Recht als „ d a s politische Phänomen" des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. 2 Es besteht wohl keine Notwendigkeit, besonderen Nachdruck auf den Nachweis legen zu müssen, warum die politische Wissenschaft sich dieses „Phänomens" als Studienobjekt besonders anzunehmen hat, steht doch die Untersuchung der Regierungssysteme neben der Erörterung des Gesamtbereiches der politischen Theorie, des Gebietes der internationalen Beziehungen und der vergleichenden Lehre der Herrschaftsformen im Mittelpunkt ihrer Studien. Eine fast noch dringendere Notwendigkeit, sich mit dieser Staatsform gerade hier in Deutschland zu beschäftigen, folgt logischerweise aus der Tatsache, daß das eine der drei wichtigsten in unserem Jahrhundert aufgetretenen totalitären Systeme das nationalsozialistische Regime w a r und daß außerdem ein Teil des nach 1945 gespaltenen Deutschen Reiches im Wirkungskreis des bedeutendsten Gebildes dieser A r t in unserer Zeit liegt. Alle drei Beispiele totalitärer Herrschaft — das bolschewistische Rußland, das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland — haben sowohl zur Zeit ihres Bestehens als auch nach dem Zusammenbruch des faschistischen und des nationalsozialistischen Systems zu umfangreichen Erörterungen und Analysen über die Gründe ihres Entstehens und der Wirklichkeit ihrer Herrschaftspraxis geführt, ohne daß wir heute von einer auf reichen empirischen Forschungsergebnissen basierenden, festgefügten und wissenschaftlich einwandfreien Theorie des Totalitarismus sprechen können. K a r l Dietrich Bracher hat diese Problematik der sogenannten Totalitarismusforschung nachdrücklich umrissen, als er in seiner Einleitung zur Untersuchung über die nationalsozialistische Machtergreifung feststellte: „Das Phänomen des totalen Staates bietet einer exakten, allgemeingültigen Definition beträchtliche l a Die in manchen Urteilen bei den zahlreichen Prozessen gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher in den letzten Jahren zum Ausdruck gekommene Doppelbödigkeit der ihnen zugrunde liegenden Rechtsauffassung kommt einer schleichenden Rechtskrise be-

denklich nahe. 2 Gerhard Leibholz, Das Phänomen Probleme

der modernen

Demokratie;

des totalen Staates,

Karlsruhe 1 9 5 8 , S. 225

abgedruckt in:

Struktur-

Wolfgang

58

Scheffler

Schwierigkeiten. So zahlreich die Versuche sind, von verfassungsrechtlichen, soziologischen oder politikwissenschaftlichen Kategorien her zu einer generellen Bestimmung zu kommen, so wenig können sie doch befriedigen. Es zeigt sich auch hier, daß man nicht vorweg von Definitionen ausgehen kann, ohne der geschichtlich-politischen Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität Gewalt anzutun. Erst auf dem empirischen Weg historisch differenzierender Bestandsaufnahme und durch die Analyse konkreter Erscheinungsformen werden bestimmte Grundelemente totaler Herrschaft erschlossen, die allgemeine Aussagen über Bedingungen, Wesen und Grenzen des Totalitarismus erlauben." 3 In der folgenden Untersuchung soll der Versuch gemacht werden, die konstanten Merkmale nationalsozialistischer Herrschaftsvorstellungen herauszuarbeiten, um damit audi die Besonderheit des nationalsozialistischen Totalitarismus anzudeuten. 4 Legt man diese Merkmale der Praxis des „Dritten Reiches" zugrunde, finden die wichtigsten Erscheinungsformen nationalsozialistischer Herrschaft ihren theoretischen Standort in der Hitlerschen Vorstellungswelt. Die Betrachtung und Analyse der sogenannten Weltanschauung des Nationalsozialismus hat zu allen Zeiten den Beobachter in gewisse Verlegenheit gestürzt. Das „Ideengemisch" Hitlerscher Vorstellungen erwies sich als Phänomen sui generis, und bis heute sind alle Versuche gescheitert, eine in sich geschlossene, wissenschaftlich haltbare geistesgeschichtliche Ableitung herzustellen. Genauso wie es sich als irrig herausstellte, das totalitäre Gebilde nationalsozialistischer Prägung als monolithischen Block zu betrachten, führten die vielen Versuche, Hitler als das Endergebnis der deutschen Geistes- und politischen Geschichte anzusehen, in die Irre. 5 Zwar lassen sich von vielen bedeutenden Denkern des deut3

Karl Dietrich Bracher u. a., Die nationalsozialistische

Machtergreifung;

Opladen

1960, S. 5 4

Es muß betont werden, daß damit keineswegs eine Vollständigkeit in der Be-

trachtung erreicht werden soll. Die Abhandlung soll vielmehr Ansätze zu einer umfassenderen Untersuchung über den nationalsozialistischen Staat, insbesondere über den Platz, den die antisemitische Politik in ihm einnahm, liefern. 5

Das prominenteste Beispiel der letzten Jahre ist zweifellos das Buch von William

L. Shirer, Aufstieg

und Fall des Dritten

Reiches;

Köln 1961. Audi Raul Hilberg geht

in seiner Ableitung des Antisemitismus in Deutschland von ähnlichen Voraussetzungen aus und wird dadurch dem Rassenantisemitismus nationalsozialistischer Prägung nicht gerecht (Raul Hilberg, The Destruction

of the European

Jews;

Chicago 1961). Bereits

E v a G. Reichmann hat in ihrer Untersuchung, Flucht in den Haß (Frankfurt a. Main, o. J., S. 219 ff.) auf den Wandel der Auffassungen in dieser Hinsicht nachdrücklich hingewiesen.

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrscbaflsdenkens

59

sehen Geisteslebens des 19. Jahrhunderts mit Leichtigkeit Stellungnahmen und Abhandlungen zur Misere des deutschen politischen Lebens zusammenstellen, die sich zumeist in pervertierter Form auch im Nationalsozialismus nachweisen lassen. Es war ja gerade auch das Bestreben des nationalsozialistischen Denkens, eine konstruierte Kontinuität als wissenschaftlich erwiesen hinzustellen, und viele Betrachter zeigten sich später im übertragenen Sinne als Opfer dieses propagandistischen Anspruches. Die Negierung einer direkten geistigen Ahnenreihe bedeutet jedoch nicht, den Nährboden nicht zu untersuchen, auf dem das Denken Hitlers gedeihen konnte. Es besteht kein Zweifel, daß bestimmte Ideen der deutschen Geistes- und der politischen Geschichte dem Entstehen eines agressiven Nationalismus überaus förderlich waren. Auserwähltheit und Missionsglaube, der Glaube an die Notwendigkeit eines starken Staates, Untertanenmentalität, idealistische Geschichtsschau, Ubersteigerung des Nationalstaatsgedankens, die Ideologie der Wehr- und Kriegervereine usw. umschreiben aber viel eher den Nährboden, auf dem der Nationalsozialismus gedeihen konnte als irgendwelche künstlichen Konstruktionen. Die vulgarisierten, f ü r den Massenkonsum propagandistisch wirksam gemachten Vorstellungen, Denkweisen und Forderungen eines unerfüllten Nationalismus führen direkt in das Zentrum nationalsozialistischen Denkens. Dieser vielschichtige, aus der historischen Situation sich ergebende Prozeß hätte vermutlich niemals derartig gefährliche Dimensionen annehmen können, wäre nicht von Hitler der Versuch gemacht worden, aus Utopien und Banalitäten politische Konsequenzen zu ziehen. Seine unbestritten demagogische Leistung bestand vor allem darin, sich zum Ausdruck und zum Erlöser aus einer vielfältigen Krise zu machen, die das Gesamtgeschehen der Weimarer Republik entscheidend bestimmte. Die Identifizierung zumeist unbestimmter nationaler Wunschvorstellungen, der Sehnsucht nach einer Erlösung aus der verwirrenden Situation der nationalen Katastrophe von 1 9 1 8 usw. m i t den Zielen und den Erfolgen der N S D A P erklärt das Mißverständnis vieler, die zwar den 30. Januar 1933 geistig mit vorbereiten halfen, mit dem Nationalsozialismus selbst jedoch nur in loser Verbindung standen und nach 1933 zum Teil in Opposition zu ihm gerieten. 6 Das viel 6 Vgl. die umfangreiche Literatur zum Problemkreis der konservativen Revolution und des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Zeit, insbesondere: Armin Möhler, Konservative Revolution in Deutschland 1918—1933, Stuttgart 1950; Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen, München und Wien, o. J. und Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München

60

Wolfgang

Schefflet

zitierte Versagen der Weimarer Republik liegt in erster Linie in der Nichtbewältigung dieser Bewußtseinskrise, zu der die äußeren politischen Schwierigkeiten die Begleitumstände lieferten. So vage die Hitlerschen Denkvorstellungen sind, so frappierend ist es zu sehen, wie die Grundfaktoren seiner Gedanken in konsequenter Folgerichtigkeit sein Handeln beherrschen. Es ist ein Gemeinplatz festzustellen, daß die nationalsozialistische Weltanschauung sich in ihrem irrationalen Gehalt vom rational konzipierten Gerüst der marxistischen Lehre unterscheidet. Streicht man aber die opportunistischen Verbrämungen, die aus tagespolitischen Notwendigkeiten sich ergebenden Anpassungen der nationalsozialistischen Weltanschauung, die in verhängnisvoller Weise von den meisten als das Primäre angesehen wurden, weg, so ergeben die übrigbleibenden „konstanten" Faktoren das Grundgerüst der nationalsozialistischen Lehre, die durch das Handeln Hitlers eine verblüffende Folgerichtigkeit erfährt, ohne daß damit über den Wahrheitsgehalt dieser Faktoren auch nur das geringste gesagt ist. 7 Das derartig reduzierte Gedankengut enthält einige wenige Richtlinien, die sich ebenso durch ihren utopischen Charakter wie auch durch die ihnen innewohnende Brutalität und Simplizität auszeichnen: das von vulgärdarwinistischen Vorstellungen getragene Rassenbewußtsein und die sich daraus ergebende Forderung auf Begründung einer völkischen Neuordnung der staatlichen Verhältnisse sowie der zur Sicherung des völkischen Staates als notwendig erachtete Anspruch auf Neuverteilung des europäischen Gebietes (Lebensraum-Theorie). Diese Faktoren beherrschen Theorie und Praxis des Nationalsozialismus, und von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet ist die Herrschaftspraxis verständlich und erklärbar. In ihnen liegt der totalitäre Anspruch begründet, mit dem der Nationalsozialismus an die Neuordnung des deutschen Staates nach dem 30. Januar 1933 heranging. Dem widerspricht auch nicht die notorische 1963. Wichtige Einblicke f e r n e r bei W a l t e r B u ß m a n n , Politische Monarchie 7

und Weimarer

Republik,

Historische

Zeitschrift,

Band

Ideologien

zwischen

190 ( 1 9 6 0 ) , S . 55 ff

G e s a m t d a r s t e l l u n g e n z u r n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g sind überraschen-

der Weise selten; v g l . A l l a n B u l l o c k , The S a m m e l w e r k : The Third Machtavellismus,

Reich, L o n d o n

i n : Vierteljahreshefte

Political

Ideas

of Adolf

in

Hitler,

1 9 5 5 , S . 3 5 0 ff.; E r w i n F a u l , Hitlers für

Zeitgeschichte,

2. J h r g .

dem Üher-

( 1 9 5 4 ) , S . 344 ff.,

s o w i e die ü b e r a u s wichtigen U n t e r s u c h u n g e n v o n M a r t i n B r o s z a t , v o n denen hier nur g e n a n n t seien: Der Nationalsozialismus, zweitem

Buch i n : Vierteljahreshefie

S t u t t g a r t i 9 6 0 u n d Betrachtungen

für Zeitgeschichte,

d e r älteren L i t e r a t u r ist a m b e d e u t s a m s t e n F r a n z N e u m a n n , Behemoth, and Practise of National

Socialism,

zu

Hitlers

9. J h r g . ( 1 9 6 1 ) , S. 4 1 7 ff. V o n

Toronto, N e w York, London

1944.

The

Structure

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrschaflsdenkens

61

Scheu der nationalsozialistischen Führer, ihr Programm allgemein verständlich niederzulegen. Die 25 Punkte vom 24. Februar 1920 haben nach 1933 zu keinem Zeitpunkt den verbindlichen Aussagewert eines Parteidogmas besessen.8 Berücksichtigt man ferner den opportunistischen und manipulatorischen Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, so ergeben sich letztlich, gemessen am Hitlerschen Denken, audi keine Widersprüche, die nicht mit der Dehnbarkeit irrationaler, mythischer Werte vereinbar sind. Genauso wie nach dem Verfliegen erster Illusionen die „zum weitaus größten Teile aus germanischen Elementen" bestehenden Nord-Amerikaner, 9 die als „junges, rassisch ausgesuchtes V o l k " 1 0 für Europa geradezu eine Gefahr darstellten, zu einer kulturunfähigen Nation herabgewürdigt werden 1 1 , so wandeln sich die aus rassischem Doktrinarismus geführten Angriffe auf die Japaner in die Bewunderung für eine heroische Nation. Das ist zwar, an normalen Maßstäben gemessen, widersprüchlich genug, nicht aber nach den jederzeit durch den „Führer" neu zu gebenden Interpretationen seiner Weltanschauung. In der nationalsozialistischen Rassenlehre erreichte ein mehr als hundertjähriger Prozeß, die Geschichte nach pseudobiologischen Gesichtspunkten zu erklären, seinen Höhepunkt. Dabei ist Hitler weniger als Vollender dieser Lehre in theoretischer Hinsicht, sondern vielmehr als Kompilator der verschiedensten Richtungen anzusehen, der das Wunschgebilde artreiner Rassen in die politische Realität umzusetzen versucht und die rassische Geschichtsschau in vulgarisierter Form zur Grundlage seines Handelns macht. Über seine genauen Kenntnisse der Werke der verschiedenen Rassentheoretiker, wie überhaupt über sein literarisches Wissen besteht keine Klarheit. Auch ein nur allgemeiner Überblick wird sich schwerlich herstellen lassen. Der Versuch, auf Grund eines veröffentlichten Gesprächs mit Dietrich Eckart einen Ansatz zu finden, zeigt, ebenso wie die Analyse von „Mein K a m p f " , eher an, daß der Führer der N S D A P seine Kenntnisse aus zweit- und drittklassigen Schriften bezogen 8

Damit soll die Bedeutung des Parteiprogramms jedoch nicht unterschätzt werden.

N u r ist es, trotzdem sidi in ihm audi Programmpunkte befinden, die zum konstanten Gedankengut des Nationalsozialismus gehören, nach 1933 zunehmend in den Hintergrund getreten. Die in ihm enthaltenen „sozialistischen" Forderungen waren ohnehin bereits vor dem 30. Januar 1933 bedeutungslos geworden. 9

Adolf Hitler, Mein Kampf,

10

Hitlers

Zweites

11

Hitlers

Tischgespräche,

Buch,

78—84. Aufl., 1 9 3 3 , S. 3 1 3

Stuttgart 1 9 6 1 , S. Bonn 1 9 5 1 , S. 58

125

Wolfgang

62

Scheffler

h a t . 1 2 N i c h t d e s t o w e n i g e r ist d i e g e i s t i g e V e r w a n d t s c h a f t z u d e n H a u p t v e r t r e t e r n der Rassentheorie, G o b i n e a u u n d vornehmlich H . St. C h a m berlain,

unverkennbar.12*

Trotz mancher

entwicklungsbedingter

Unterschiede gehen

alle

drei,

Gobineau, C h a m b e r l a i n u n d H i t l e r , v o n einem mythischen Rassebegriff aus, der n u r

subjektiv

bestimmbar

ist u n d j e d e r R a t i o n a l i t ä t

wider-

spricht. D e r H e r m a n n G ö r i n g zugeschriebene berüchtigte Ausspruch „ w e r J u d e ist, b e s t i m m e i c h " , ist in d e r T a t k e i n e n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e E r f i n dung, sondern

die Konsequenz

des m a n i p u l a t o r i s c h e n

Charakters

des

Rassebegriffs. I s t d e r A u s g a n g s p u n k t a u c h ü b e r a l l d e r gleiche, n ä m l i c h d i e k u l t u r e r z e u g e n d e O m n i p o t e n z des w e i ß e n ( a r i s c h e n ) R a s s e k e r n s , d e r , v o n d e r G e f a h r d e r B l u t s v e r m i s c h u n g b e d r o h t , sich m i t d e r F r a g e d e r

Degene-

r a t i o n u n d des U n t e r g a n g e s k o n f r o n t i e r t sieht, s o w a n d e l t sich d i e H a l tung v o m neau)

13

klassenbedingten

Geschichts- u n d Kulturpessimismus

über den A u s w e g aus d e m Völkerchaos mittels radikaler

(GobiÜber-

1 2 Ernst Nolte hat in seiner Analyse einer ziemlich unbekannten Schrift von Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin — Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler and mir, die in der 1. Auflage 1924 im Hoheneichen-Verlag, München, erschien, eine Zusammenstellung der im Gespräch vornehmlich verwandten Literatur abgedruckt, „deren Kenntnis offenbar eine selbstverständliche Voraussetzung bildete". An hauptsächlichen Werken sind erwähnt: 1. Otto Hauser, Geschichte des Judentums; 2. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftslehen; 3. Henry Ford, Der internationale Jude; 4. Gougenot des Mousseaux, Der Jude, das Judentum und die Verjudung der christlichen Völker; 5. Theodor Fritsdi, Handbuch der Judenfrage; 6. Friedrich Delitzsch, Die große Täuschung. Außerdem spielten Bibelkenntnisse eine bedeutende Rolle, wie auch die Protokolle der Weisen von 7,'ion als bekannt vorausgesetzt werden können. Ernst Nolte, Eine frühe Quelle Hitlers Antisemitismus, Historische Zeitschrift, Bd. 192 ( 1 9 6 1 ) , S. J99 f. Das jetzt erschienene umfangreiche und wichtige W e r k : Der Faschismus in seiner Epoche (München 1963) vom selben Autor erreichte den Verf. erst nach Abschluß dieses Manuskriptes und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden. 1 2 a Für die Entwicklung der Rassentheorien und des Antisemitismus, wie sie Hitler vorfand, spielten zweifellos eine ganze Anzahl weiterer Autoren eine bedeutende Rolle

(Renan, Lapouge, Dühring u.a.). Nur muß man sie im Gesamtzusammenhang der zu behandelnden Ideen betrachten und nicht nur nach der jeweils für notwendig befundenen Motivierung in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus einordnen. Solange es jedoch eine eingehende Analyse der Ideen Hitlers, insbesondere seines Buches Mein Kampf, die über die Herausarbeitung der allgemeinen Grundsätze hinaus auch ihre spezifische Einordnung in das entsprechende Gedankengut der Zeit vornimmt, nicht gibt, unterliegt die jeweilige Hervorhebung einzelner Autoren immer einer gewissen Willkür. 13

Essai sur l'inegalite

des races

humaines,

1853—1855

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrschaflsdenkens

63

windung des Judentums als Hauptfeind der arischen Rassereinheit und des Allheilmittels einer antichristlichen, arteigenen Religion (Chamberlain) 14 zur rassischen Kampfideologie Hitlerscher Prägung. Während Gobineau sich noch in den Gedankengängen des von den revolutionären Ereignissen überrannten und enttäuschten Aristokraten erschöpft, für den die Geschichtsbetrachtung gleichbedeutend mit dem Abstieg der durch rassische Vermischung degenerierten (arischen) Rasse der Aristokratie ist und der auch noch einen Ausgleich zwischen Rassenmythos und christlicher Religion zu schaffen versucht, so ist Chamberlains rassische Geschichtsschau universaler und durch den betont antijüdischen Affekt aggressiver. Traten Gobineau und Chamberlain noch mit dem Anspruch auf, mittels angeblicher wissenschaftlicher Exaktheit ihre Theorien untermauert zu haben, so konnte Hitler, als er begann, sich sein Weltbild zu formen, sich nicht nur auf diese beiden Hauptvertreter des Rassenmythos, sondern ebenso auf den ganzen Bereich rassisch-völkischer Utopisten wie auch den der antisemitischen Fanatiker stützen. Theorie und radikale Terminologie15 waren vorgeformt, hatten in populärer Form Verbreitung gefunden und wurden von ihm zur politischen Lehre gestaltet. Der Rassebegriff wurde zum zentralen Ordnungspunkt seines Denkens und zum Integrationsfaktor seines politischen Programms. „Ich als Politiker brauche einen Begriff, der es erlaubt, die bisher auf geschichtlichen Zusammenhängen beruhende Ordnung aufzulösen und eine ganz neue antihistorische Ordnung zu erzwingen und gedanklich zu unterstützen", sagte er zu Rauschning. „Mit dem Begriff der Rasse wird der Nationalsozialismus seine Revolution bis zur Neuordnung der Welt durchführen." 16 Hitler gab zwar zu, daß er sich des unwissenschaftlichen Charakters dieses Begriffes bewußt war, wie er sich ebenso auch über die „rassische Zerrissenheit" des deutschen Volkes im klaren war; da er aber den Überlegenheitswert des „Ariers" proklamierte, sah er auch den Ausweg für das deutsche Volk, dem er trotz jahrhundertelanger Vermischung noch den größten Reinheitsgehalt an „arischer Substanz" zuschrieb. Der Wert eines Volkes wird für ihn durch den Rassewert repräsentiert. 17 „Die Be14

Die Grundlagen

15

ζ. B. Eugen Dühring, Die Judenfrage

des 19. Jahrhunderts,

1. Aufl., München 1899 als Racen-,

Sitten- und

Culturgeschickte,

Karlsruhe 1881. 16

Hermann Rauschning, Gespräche

Wien, New York, o. J., S. 219 17

Hitlers

Zweites

Buch, S. 65 ff.

mit Hitler;

4. unveränderter Nachdruck, Zürich,

Wolfgang

64

Scheffler

deutung des Blutswertes eines Volkes wird allerdings erst dann restlos wirksam, wenn dieser Wert von einem Volk erkannt, gebührend geschätzt und gewürdigt wird. Völker, die diesen Wert nicht begreifen oder mangels eines natürlichen Instinktes nicht mehr empfinden, beginnen ihn damit auch sofort zu verlieren . . . Daher ist auch jeder vorhandene rassische Wert eines Volkes so lange wirkungslos, wenn nicht gar gefährdet, als nicht ein Volk bewußt sich seiner erinnert und ihn mit aller Sorgfalt pflegt, seine gesamten Hoffnungen aber in erster Linie auf ihn stützt und auf ihn aufbaut." 1 8 Mit dieser spekulativen Aussage eröffnete sich Hitler nicht nur jede Interpretationsmöglichkeit, sondern verwies in letzter Konsequenz auch jeden im nationalsozialistischen Sinne noch so gut gemeinten Versuch, auf Grund derartiger Theorien rassenbiologische Untersuchungen vorzunehmen, vollends in den Bereich der Utopie. Nicht umsonst lehnte Hitler schon bald nach seinem Machtantritt die wissenschaftlichen Diskussionen über die Rassendefinition ab. Eine Klarstellung konnte auch nicht in seinem Interesse liegen, da es ihm letztlich nicht um objektive Begriffe, sondern um mythische Werte ging, deren Inhalt wissenschaftlicher Betrachtung a priori entzogen war. Aus der Einteilung der Menschheit in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer 19 ergab sich konsequenterweise die Führungsrolle des „Ariers" (Kulturbegründer), da in ihm der Rassewert sich am reinsten zeige. 20 Mit dieser Konstruktion war die Führungsrolle der arischen Rasse für alle Ewigkeit gesichert, da ja das Bewußtsein des Rassewertes die allein gültige Qualifikation für Hitler ausmachte. Zugleich repräsentierte die auf Grund des Rassewertes erfolgte Kulturbegründung und Kulturerhaltung audi den Ausdruck der größeren Chancen im Lebenskampf der Völker. 2 1 D a Hitler die Geschichte als Ablauf von Rassenkämpfen betrachtete, erhielt der Anspruch der arischen Rasse auch seinen substantiellen Charakter: ewiger Kampf zur Erhaltung der Rasse. 22 18

ebenda

19

Mein

20

ebenda

21

Hitlers

22

„Denn jegliche kulturelle T a t ist in Wahrheit

Kampf, Zweites

S. 318 Buch,

S. 65 die Besiegung . . . einer bisher

bestandenen Barbarei. J e größer . . . die inneren K r ä f t e eines Volkes in dieser Richtung sind, um so stärker auch die unzähligen Möglichkeiten zur Lebensbehauptung allen Gebieten des Lebenskampfes." (Hitlers Zweites

auf

Buch, S. 6 5 ) — oder: „Die Bluts-

vermischung und das dadurch bedingte Senken des Rassenniveaus

ist die

alleinige

Ursache des Absterbens alter Kulturen; denn die Menschen gehen nicht an verlorenen

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrscbafisdenkens

65

Das Dogma des ewigen Kampfes ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil der nationalsozialistischen Ideenwelt. Jeder Erfolg wird als Ausgangspunkt eines neuen Kampfes angesehen23, und in diesem Sinne hat die Erziehung der Partei zu erfolgen: „Die Bewegung hat grundsätzlich ihre Mitglieder so zu erziehen, daß sie im Kampfe nicht etwas lässig Auferzogenes, sondern das selbst Erstrebte erblicken. Sie haben die Feindschaft der Gegner mithin nicht zu fürchten, sondern als Voraussetzung zur eigenen Daseinsberechtigung zu empfinden." 24 Alle Elemente des Vulgärdarwinismus vereinigen sich bei Hitler zur Untermauerung der These vom blutsmäßig bedingten Herrschaftsanspruch der arischen Rasse. Der „gesunde Selbsterhaltungstrieb" ist nur eine Umschreibung für das Prinzip des ewigen Kampfes. Auch hier kann Hitler seinen Optimismus aus der eigenen Rassendefinition ableiten. Da der Stärkere gesetzmäßig siegen muß und dies nur dem rassenmäßig reinsten Typ gelingen kann, ist audi hier dem Arier die Zukunft sicher. Rassenmythos und Kampfdogma führen schließlidi zu zwei der wichtigsten Konsequenzen des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruches, der Einteilung der Menschheit in höher- und minderwertige Rassen und zur Fixierung des Rassenfeindes im Antisemitismus. Beide Prinzipien haben ihn zu den größten Verbrechen unserer Zeit geführt. Der grenzenlosen Verherrlichung des arischen Menschen entsprach die Verächtlichmachung aller nichtarischen Gruppierungen, wobei in der Praxis die Behandlung der während des Krieges beherrschten Länder in Osteuropa die Illustration zur Lehre vom Herrenmenschen erbrachte. Diese Lehre beinhaltete nidit nur die Unterordnung der minderwertigen Rasse, sondern barg in sich zugleich die Möglichkeit, andere Weltanschauungen mit dem Odium der rassischen, d. h. naturgesetzlichen Minderwertigkeit zu versehen. Damit erfuhr die eigene Position auch in politischer Beziehung die pseudo-rationale Untermauerung. Von hier aus ist auch die Ansicht des Nationalsozialismus begründet, mit der Durchsetzung seiner Weltanschauung eine Weltrevolution herbeizuführen. Der Bolschewismus ist für ihn a priori minderwertig, da seine Träger nicht zum arischen Rassebereich gehören. In der Lehre vom Herrenmenschen finden gerade die Grundsätze zur Behandlung der „Fremdvölkischen" ihre theoretische Rechtfertigung. Eine „vernünftige" deutsche BesatzungsKriegen zugrunde, sondern am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem reinen Blut zu eigen ist." Mein Kampf, S. 324 23 Hitlers Zweites Buch, S. 77 84 Mein Kampf, S. 386 5

Fraenkel

66

Wolfgang

Scheffler

politik war daher nicht möglich, da sie den Grundlagen nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens widersprochen hätte. 25 Eine völlige Verwirklichung der Hitlerschen Vorstellungen hätte die Wiedereinführung der Sklaverei als Staatsprinzip bedeutet. Es besteht kein Zweifel, daß der manische Judenhaß zum immanenten Bestandteil des nationalsozialistischen Rassedogmas gehörte. Für Hitler war mit der rassischen Weltanschauung die antisemitische Komponente systemnotwendig. Die lückenlose Dokumentation dieses Hasses von den frühesten bisher bekannt gewordenen Äußerungen Hitlers bis zum politischen Testament vom 29. April 1945 26 hat vielfach zu der Annahme geführt, daß der Antisemitismus d e r Kern im Hitlersdien Denken gewesen sei. Es würde vermutlich in den Bereich der Spekulation führen, Betrachtungen darüber anzustellen, ob das antisemitische Denken Hitler zu seinem Rassedogma geführt hat oder umgekehrt. Beide Faktoren sind auf das engste miteinander verbunden und bedingen sich für Hitler 25

I n d e n Tischgesprächen

(S. 71 ff.) f i n d e t sich e i n e ü b e r a u s c h a r a k t e r i s t i s c h e

Zu-

sammenfassung der Hitlerschen Prinzipien über die B e h a n d l u n g der „ M i n d e r w e r t i g e n " , d . h . d e r O s t v ö l k e r . Sie s i n d d e r n a c h t r ä g l i c h e K o m m e n t a r z u r A k t e n n o t i z v o m 16. J u l i 1941, in d e r d i e Z i e l s e t z u n g d e r d e u t s c h e n B e s a t z u n g s p o l i t i k w u r d e : beherrschen, verwalten u n d ausbeuten. verbrecher

vor

dem

Internationalen

( D e r Prozeß

Militärgerichtshof,

gegen

Bormanns

niedergelegt

die

Hauptkriegs-

D o k . L-221, Bd. X X X V I I I ,

S. 88) D a ß m a n sich ü b e r d i e „ e r w ü n s c h t e n " F o l g e n i m k l a r e n w a r , z e i g t d i e B e m e r k u n g G ö r i n g s : „ I n d i e s e m J a h r w e r d e n in R u ß l a n d

z w i s c h e n 2 0 u n d 30

Millionen

M e n s c h e n v e r h u n g e r n . U n d vielleicht ist d a s g u t so, d e n n gewisse V ö l k e r m ü s s e n d e z i m i e r t w e r d e n . " ( Z i t i e r t n a c h A l e x a n d e r D a l l i n , Deutsche

Herrschaft

in Rußland,

Düsseldorf

1958, S. 133) D i e f r ü h e s t e Z u s a m m e n f a s s u n g d i e s e r U n t e r d r ü c k u n g s p o l i t i k g i b t H e i n rich H i m m l e r in s e i n e r D e n k s c h r i f t v o m Fremdvölkern

Frühjahr

( a b g e d r u c k t in Vierteljahreshefle

1940 über

für

die B e h a n d l u n g

Zeitgeschichte,

5. J h r g .

von

[1957],

S. 1 9 6 ff.) 28

H i t l e r schrieb a m 16. S e p t e m b e r 1 9 1 9 in e i n e m B r i e f , d e r i h m z u r B e a n t w o r t u n g

v o n s e i n e m V o r g e s e t z t e n ü b e r g e b e n w o r d e n w a r , a n e i n e n g e w i s s e n A d o l f G e m l i c h u. a. „ D e r A n t i s e m i t i s m u s a u s r e i n g e f ü h l s m ä ß i g e n G r ü n d e n w i r d seinen l e t z t e n finden

in d e r F o r m v o n P r o g r o m e n

[sie!].

Ausdruck

D e r Antisemitismus der Vernunft

jedoch

m u ß f ü h r e n z u r p l a n m ä ß i g e n gesetzlichen B e k ä m p f u n g u n d Beseitigung der Vorrechte des J u d e n , d i e er n u r z u m U n t e r s c h i e d d e r a n d e r e n z w i s c h e n u n s l e b e n d e n

Fremden

besitzt ( F r e m d e n g e s e t z g e b u n g ) . Sein letztes Ziel aber m u ß u n v e r r ü c k b a r die E n t f e r n u n g der

Juden

überhaupt

sein."

( V i e r t e l j a h r e s h e f t e für

Zeitgeschichte,

7. J h r g .

[1959],

S. 2 0 4 ) . D e r l e t z t e S a t z d e s z w e i t e n T e i l s d e s p o l i t i s c h e n T e s t a m e n t s v o m 29. A p r i l 1945 l a u t e t : „ V o r a l l e m v e r p f l i c h t e ich d i e F ü h r u n g d e r N a t i o n u n d d i e G e f o l g s c h a f t zur

peinlichen

Einhaltung

der

Rassegesetze

gegen den W e l t v e r g i f t e r aller V ö l k e r , J o s e p h T e n e n b a u m , Race

and

Reich,

und

zum

unbarmherzigen

das internationale J u d e n t u m . "

Widerstand

( a b g e d r u c k t in

N e w Y o r k 1956, A n h a n g z u S. 3 9 8 )

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrschaflsdenkens

67

gegenseitig. Genauso steht der Millionenmord am europäischen Judentum im engsten Zusammenhang mit den gleichermaßen grausamen und rücksichtslosen Unterdrückungs- und Ausrottungsmaßnahmen gegen die polnische und russische Bevölkerung. Das Judentum war sowohl von der Theorie als ewiger Rassefeind des arischen Menschen wie auch in der Umsetzung in die politische Praxis als jüdische Weltverschwörung immanenter Bestandteil des Rassenkampfes. Mit der gleichen Konsequenz, mit der Hitler sich in die rassische Geschichtsschau hineinsteigerte, mußte die Verteufelung des Feindes zunehmen. Deshalb hat die in Deutschland zumeist unterschwellig vorhandene Judenfeindschaft zwar eine nicht zu übersehende Voraussetzung geschaffen, die zur vielfach stillschweigenden Hinnahme der antisemitischen Maßnahmen nach 1933 führte, sie ist aber nicht das auslösende Moment f ü r den Millionenmord gewesen. Aus der Judenfeindschaft ergab sich gleichermaßen die antichristliche Haltung des Nationalsozialismus. Die Religion war, wie viele andere Faktoren, für die Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus nur ein Mittel, das zweckmäßigerweise auf die Brauchbarkeit im völkischen System hin untersucht wurde. Im Kern mußten jedoch Rassedogma und Antisemitismus allein durch die Negierung des Gleichheitsgrundsatzes zur Ablehnung christlicher Grundsätze führen, ganz abgesehen von der Unvereinbarkeit religiöser und menschlicher Totalitätsansprüche. 27 Trevor-Roper, der zur Zeit der Abfassung seines Vortrages über H i t lers Kriegsziele 28 das Zweite Buch Hitlers nicht kannte, wurde durch die Veröffentlichung dieses Buches vollauf in seinen Thesen bestätigt, die f ü r manche seiner Zeit überspitzt klangen. Bei der Betrachtung der Haderschen Ziele war er davon ausgegangen, daß dem Hitlersdien Denken eine vollständig durchkonstruierte politische Philosophie zugrunde liege. 29 Soweit diese Thesen sich auf die im Hitlerschen Denken innewohnende Konsequenz beziehen, liefert das Zweite Buch die etwa noch nötigen Erläuterungen und Zusammenfassungen, wie überhaupt Hitler in ihm eine Zusammenfassung und Präzisierung seiner Weltanschauung, vornehmlich auf außenpolitischem Gebiet, gibt. Die außenpolitische Ergänzung zum Rasseglauben mit der sich daraus ergebenden völkischen Herrschaftsordnung erfolgt durch die Lebens27 28 20

Vgl. Rauschning a. a. O., S. 50 ff.; Tischgespräche, passim. Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 8. Jhrg. (1960), S. 121 ff. Vgl. die zutreffenden Betrachtungen von H a n s H e r z f e l d in:

für Zeitgeschichte, 5·

8. Jhrg. (1960), S. 310 ff.

Vierteljahreshefte

68

Wolfgang

Scheffler

raumtheorie. Hitler definierte: „Politik ist die Kunst der Durchführung des Lebenskampfes eines Volkes um sein irdisches Dasein. Außenpolitik ist die Kunst, einem Volke den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern. Innenpolitik ist die Kunst, einem Volke den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten." 30 Hier wird offensichtlich, warum diese Theorie ebenfalls zu den am besten nachweisbaren Zielen des Nationalsozialismus gehört. Die Vermehrung und Sicherung der Rassesubstanz als oberster Grundsatz des Herrschaftsanspruches der arischen Rasse verlangt die Bereitstellung des dafür als notwendig angesehenen Raumes. Völlig zu unrecht hat man Hitler als Revisionisten angesehen, und er selbst hat diese Ansicht immer wieder entrüstet von sich gewiesen. Nach seiner Weltanschauung war es völlig widersinnig, die Wiederherstellung der Grenzen von 1914 zu fordern, da diese dem Herrschaftsanspruch des Herrenmenschen gar nicht entsprechen konnten. Es war überaus verhängnisvoll, daß die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes die aus der Identifizierung von Volk und Rasse sich ergebende Pervertierung nationaler Ziele und Wünsche nicht erkannte. 31 Daß die Erfüllung der Lebensraumtheorie für Hitler nur in der Annektierung östlicher Gebiete lag, ist weithin bekannt, er hat nie ein Hehl daraus gemacht. Die Ansicht, daß der Rußlandkrieg ein Fehler gewesen sei, wird dem Hitlerschen Konzept ebensowenig gerecht wie die weit verbreitete Auffassung, daß seine Politik doch im ganzen richtig gewesen wäre, hätte er nur nicht die jüdische Bevölkerung verfolgt. Hier wird das ganze Maß an Unkenntnis über den eigentlichen Inhalt der nationalsozialistischen Ideenwelt offenbar. Zugegebenermaßen hing der Erfolg der von Hitler nach dem 30. Januar 1933 verfolgten Politik davon ab, bis zu welchem Grade es ihm gelang, den Kern seiner politischen Vorstellungen zu verdecken. Es konnte ihm daher nur recht sein, daß die Enthüllungen in „Mein K a m p f " von den meisten seiner Zeitgenossen im In- und Ausland — soweit man sie überhaupt zur Kenntnis nahm — nicht ernst genommen wurden. Erst nach Zweites

Buch, S. 62

30

Hitlers

31

Dies trifft gerade audi f ü r das politische D e n k e n des deutschen Widerstandes

zu. H e r z f e l d bemerkt hierzu: „ F ü r das tatsächliche K r ä f t e v e r h ä l t n i s v o n

National-

sozialismus u n d W i d e r s t a n d ist es leider a u d i zutreffend, d a ß diese g a n z e G e d a n k e n welt [d. h. die U n t e r s t ü t z u n g der vermeintlichen Revisionspolitik H i t l e r s ; d. V e r f . ] spätestens seit 1940 nur noch ,akademisdies Interesse' besessen h a t . " (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte,

a. a. O., S. 314)

Faktoren nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens

69

dem Kriege ist der Betrachter in die Lage versetzt worden, anhand der überlieferten Unterhaltungen im engsten Kreise und durch die Konfrontation mit den dokumentarischen Unterlagen die Kontinuität seiner Herrschaftsvorstellungen, für die der Verlauf der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands überdies Hinweise zur Genüge gezeigt hatte, für die ganze Zeitspanne seines politischen Handelns nachzuweisen. Bis zu einem gewissen Grade war die Doppelgleisigkeit seiner Intentionen in der politischen Praxis ein kennzeichnendes Merkmal des nationalsozialistischen Systems. Es wäre reizvoll, die These des „Doppelstaates", wie sie von Ernst Fraenkel in seiner bis heute gültigen Analyse des nationalsozialistischen Systems, vornehmlich für die Zeit vor 1939, vorgenommen wurde, im übertragenen Sinne auf die hier erörterte Problemlage anzuwenden.32 Der Mißbrauch nationaler Ideen, die psychologisch überaus geschickte Ausnutzung der komplizierten Bewußtseinslage der politischen Vorstellungen und Empfindungen im deutschen Volk hatten zweifellos entscheidend dazu beigetragen, den schlechthin rückschrittlichen Charakter des Systems für viele zu verhüllen. Dem Gesamtgeschehen von 1933 bis 1945 ist, gemessen an den konstanten Faktoren des Hitlerschen Gedankengutes, die Folgerichtigkeit nicht abzusprechen. Die Stabilisierung des ökonomischen Bereiches diente einmal der Befriedung der innerpolitischen Situation und schuf andererseits die unerläßlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung einer expansiven Politik. Die Beseitigung der als diskriminierend empfundeilen militärischen Beschränkungen des Versailler Vertrages konnte das verletzte Selbstbewußtsein heilen und zugleich die Tür für einen schrankenlosen Aufbau der bewaffneten Streitkräfte öffnen — gleichermaßen eine conditio sine qua non für die Erreichung der angestrebten Ziele. Gerade die erste Rede Hitlers vor hohen Generälen am 3. Februar 1933 s 3 zeigt, ebenso wie beispielsweise die Denkschrift für den Vierjahresplan34 und die Hoßbach-Niederschrift35 für die folgenden Jahre, mit welcher Konsequenz Hitler vom ersten Tag seiner Herrschaft an den ihm vorschwebenden Ideen folgte. Unterlag die außenpolitische Zielsetzung, bedingt durch die jeweilige 32

Ernst Fraenkel, The Dual State, A Contribution to the Theory of Dictatorship, London, N e w York, Toronto 1941. 33 Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, ζ. Jhrg. (ΐ954)> S. 432 ff· 34 Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 3. Jhrg. (19J5), S. 184 ff. 35 Friedrich Hoßbadi, Zwischen Wehrmacht und Hitler 1934—>93^> Wolfenbüttel, Hannover 1949, S. 207 f f .

70

Wolfgang

Scheffler

politische Situation, bei Beibehaltung des „Endzieles" (Lebensraumgewinnung im Osten) gewissen taktischen Schwankungen, so gilt dies in ähnlicher Weise für den innenpolitischen Bereich, ohne daß auch hier die vorgezeichneten Grundideen aufgegeben worden wären. Allein die Schaffung der Voraussetzungen für den völkischen Staat, der mit großer Intensität propagiert und an vielen Punkten in Angriff genommen wurde, bedurfte längerer Zeit, als sie Hitler im Frieden zur Verfügung stand. Die vornehmlichste und am leichtesten zu erreichende Konzentration konnte in der antisemitischen Komponente erzielt werden: in der sich in verschiedenen Stufen vollziehenden Diffamierung, Ausschaltung und Vertreibung des deutschen Judentums mit allen sich daraus ergebenden mittelalterlichen Unterdrückungsmaßnahmen. 36 Von dieser Ebene aus war auch der erzielte Erfolg bei der Durchdringung des Volkes mit antisemitischem Gedankengut am nachhaltigsten. Die Popularisierung und Praktizierung „rassehygienischer" Maßnahmen unter dem Motto „Förderung der Volksgesundheit" bis zur Durchführung der Euthanasie 37 als Vorstufe zur „Endlösung der Judenfrage" waren gleichermaßen Etappen auf dem Wege zur Vollendung des völkischen Staates. Das Schwergewicht aller Maßnahmen mußte jedoch auf den großangelegten, alle Spielregeln totalitärer Propaganda umfassenden Versuch gerichtet sein, das Volk durch „erzieherische" Maßnahmen auf die völkische Lösung vorzubereiten. „Blut und Boden"-Mythos, Förderung des Volkstumsbegriffes, Durchdringung des Erziehungsbereiches mit rassenbiologischen Theorien sind nur einige von vielen Beispielen. Jedoch konnte erst ein fortschreitender Umerziehungsprozeß letztlich dem Nationalsozialismus die zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlichen — geistig und praktisch — „qualifizierten" Kräfte heranbilden. Was im eigentlichen Sinne des Wortes der Begriff „völkischer Staat" bedeuten sollte, nämlich ein nicht am herkömmlichen Begriff des Volkes, sondern am Rassedogma orientiertes Staatswesen, kann am besten bei den Idealvorstellungen der SS betrachtet werden. Die Entwicklung der SS, sowohl vom personellen Gesichtspunkt als audi von der Weiterentwicklung der Hitlerschen Vorstellungen durch Himmler und die SS-Bürokratie während des Krieges aus gesehen, führte immer deutlicher zur Heranbildung des nationalsozia36 Vgl. hierzu den Überblick des Verf. in Judenverfolgung im Dritten Reich, 3. A u f l . Frankfurt, Zürich, Wien 1961, S. 23 ff. 37 Vgl. hierzu die Dokumentation von A. Mitscherlich und F. Mielke Medizin ohne Menschlichkeit, Frankfurt i960.

Faktoren

nationalsozialistischen

Herrschaflsdenkens

71

listischen „reinrassigen Herrenmenschen". Solange aber diese Elite nicht für alle Bereiche des staatlichen Lebens zur Verfügung stand, war der nationalsozialistische Staat auf eine Vielzahl traditioneller Einrichtungen angewiesen und zu Kompromissen gezwungen. Mit dem Beginn des Krieges verlagerte sich zudem das Schwergewicht mehr und mehr zur Verwirklichung der Lebensraum-Theorie, wobei dieser Vorgang dann auch die Möglichkeit zur Forcierung der Umerziehung im Sinne des Rassedogmas bot. Die SS war nicht nur durch die Machtkonzentration, vor allem während des Krieges, immer mehr zum wichtigsten Faktor unter den politischen Kräften im nationalsozialistischen Staat geworden, sondern besaß audi für die Weiterbildung und Praktizierung der „Weltanschauung" eine Schlüsselstellung. Parallel zur Vernichtung des europäischen Judentums vollzog sich in ihren Ämtern die Planung für eine nach dem Rassedogma zu erfolgende völkische Neuordnung Europas. Vornehmlich in den Plänen und Ideen des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS sollte die Realisierung des völkischen Reiches vorbereitet werden. Hier wurde die Übernahme mythischer Werte als Grundlage einer künftigen politischen Ordnung bis zur letzten Konsequenz verwirklicht.38 Ohne einer nachträglichen künstlichen Systematisierung, die der Wirklichkeit vor 1945 nicht entspricht, das Wort zu reden, kann man bei der Gesamtbetrachtung des nationalsozialistischen Gedankengutes und des danach praktizierten Herrschaftssystems von einer Doppelgleisigkeit im Denken und Handeln sprechen. Ähnlich wie der „Normenstaat" vordergründig den Anschein der Rechtskontinuität wahrte, während der „Maßnahmenstaat" dort in Erscheinung trat, wo die bisherigen Rechts- und Staatsvorstellungen der politischen Führung nicht mehr adäquat erschienen, diente die nationale Variante dem Nationalsozialismus als Mittel zur Volksführung im traditionellen, wenn auch nationalistisch übersteigerten Sinne. Ihre eigentliche Bedeutung erhalten diese allgemeinen Parolen (Beseitigung des Versailler Friedensvertrages, Wiederherstellung eines starken, einigen deutschen Reiches usw.) jedoch erst, wenn man sie an den konstanten Faktoren des Hitlerschen Denkens, die sich für die Gesamtzeit seiner Herrschaft nachweisen lassen, mißt. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Faktoren der Hitlerschen 38 Neben den im Prozeß gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt vorgelegten Materialien sind die Erinnerungen des finnischen Arztes Felix Kersten, die teilweise in seinem Buch Totenkopf und Treue, Hamburg o. J., veröffentlicht sind, eine Quelle von unschätzbarem Wert für das Himmlersdie Denken.

72

Wolfgang Scheffler

Vorstellungen — der Kerngehalt nationalsozialistischen Herrschaftsdenkens — nach seinen Prämissen ein geschlossenes Bild ergeben. Der auf der Ungleichheit der menschlichen Rassen aufgebaute Herrschaftsanspruch des arischen Herrenmenschen erforderte den systemnotwendigen Gegner (das Judentum), der als ewiger Feind dieses Anspruchs angesehen wird, die Förderung und Entwicklung des arischen Rassewertes, die Eroberung des als existenznotwendig angesehenen Lebensraumes und damit die Unterwerfung der darin lebenden, als rassisch minderwertig deklassierten Bevölkerung. Die Bewährung des nach diesen Gesichtspunkten aufgebauten völkischen Herrschaftssystems und seine Behauptung in einer durch Rassekämpfe geprägten Welt sollten sich im ewigen Kampf um die Erhaltung der Rassesubstanz zeigen. Der Versuch, diese Theorien in die Praxis umzusetzen, die in ihnen enthaltene Brutalität und die verhängnisvolle Verwechslung nationaler Begriffe und Wünsche mit den durch das Rassedogma geprägten Zielen Hitlers sollten zu unabsehbaren Konsequenzen führen. Manche Äußerungen Hitlers lassen die Vermutung zu, daß er sich der Haltlosigkeit seiner Begriffe bewußt war. In allen seinen Handlungen und Überlegungen blieb er jedoch konsequent der Gefangene seines von ihm zur Weltanschauung erhobenen Rassedogmas.

GERHARD

SCHULZ

Über Entscheidungen und Formen des politischen Widerstandes in Deutschland"' Erscheinungen, Entstehung und Strukturen des Totalitarismus bieten der politischen Forschung ein ebenso lohnendes wie weites Untersuchungsfeld, das sich von außerordentlich vielen Standorten aus einsehen läßt und eingesehen wird. Gelegentlich werden auch die Aspekte des Widerstandes gegen den totalitären Staat in den Kreis der Betrachtungen einbezogen. Stellt man die Frage nach dem Ziel solcher Überlegungen, so zeichnet sich alsbald das Streben nach dreifacher Einsicht ab: in die Erscheinungsformen und inneren Qualitäten des Widerstandes, in seine Möglichkeiten und Chancen innerhalb des totalitären Staates und schließlich, doch keineswegs zuletzt, in den Charakter der totalitären Herrschaft und seiner künftigen Entwicklung, soweit sie einigermaßen einschätzbar erscheint — im Aspekt eben dieser Möglichkeiten und Chancen, über die der Widerstand verfügt, vorausgesetzt, daß überhaupt welche vorhanden sind, die er zu nützen vermag. I Wir haben es auf deutschem Boden bis heute lediglich mit einem einzigen Beispiel politischen Widerstandes im totalitären Staat zu tun, über das eine hinreichende Menge von Nachrichten Kunde, wenn auch keine völlig lückenlose Auskunft gibt und das auch in repräsentativen historischen Darstellungen behandelt worden ist: die deutsche Widerstandsbewegung gegen Hitler bis zum 20. Juli 1944. Gerhard Ritter, dem die größte und eindringendste Darstellung, in seiner Biographie Carl Goerdelers, zu danken ist, hat zu dem Urteil gefunden, es habe keine ernsthafte Möglichkeit gegeben, die Front der nationalsozialistischen Machthaber von innen her aufzubrechen.1 Es sei unmöglich gewesen, gegen die „revolutio* Dieser Beitrag ist die verkürzte und mit Anmerkungen versehene Fassung einer öffentlichen Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin am 2. November 1960. 1 Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Vorrede zur dritten Auflage, Stuttgart 1956, S. 13.

74

Gerhard Schulz

liäre" Hitlerbewegung eine „antirevolutionäre" Volksbewegung in Gang zu bringen. Was die Widerstandsbewegung auch immer unternahm und zu unternehmen versuchte, es blieb immer ein Sprung ins Dunkle ohne irgendeine realistische Aussicht. Sie habe infolgedessen niemals einen echten Machtkampf geführt. Sie konnte ihn nicht führen, weil sie zwangsläufig machtlos gewesen sei. Ihre politische Leistung dürfe daher auch nicht mit den üblichen Maßstäben politischer Historie gemessen werden. Sie sei ein „Aufstand des Gewissens" gewesen. Eben dies aber begründe ihren einmaligen geschichtlichen Rang. Ritter stellt drei denkbare verschiedene Möglichkeiten des politischen Widerstandes im nationalsozialistischen Totalstaat dar: Er unterscheidet vom Mord am Gewaltherrscher, dem er keine sonderliche Chance einräumt, die innere Aufspaltung, die fortschreitende Zersetzung des Systems, die aber wohl auch die Beseitigung Hitlers zur Voraussetzung gehabt hätte, und schließlich die Volkserhebung gegen die Gewaltherrschaft auf breiter Grundlage. D a er all diesen Möglichkeiten keine Erfolgsaussicht einräumen möchte, weil er im Grunde jeder von ihnen ebenso abhold ist, wie es der Held seiner Darstellung, wie es Carl Goerdeler war, bleibt nur eine Deutung der historischen Tatsache der innerdeutschen Fronde gegen Hitler möglich. Sie wird zur reinen „Entscheidung des Gewissens", zur demonstrativen Distanzierung einer Elite vom nationalsozialistischen Totalstaat aus höchsten Motiven, jedoch ohne reale politische Grundlage. 2 Diese Deutung überhöht die menschlichen Motive des Widerstandes. Sie entlastet einen Teil der Deutschen von der Verantwortung an den verheerenden und schrecklichen Taten des nationalsozialistischen Regimes. Aber sie setzt den Maßstab des politischen Erfolges außer K r a f t . II In Westdeutschland sind politischer Widerstand und Attentat vom 20. Juli schon frühzeitig ausgiebig gewürdigt, wenn auch erst nach und nach von der historischen Forschung untersucht worden. Auch Juristen und Theologen haben sich an der Diskussion beteiligt und sie zu einer grundsätzlichen Erörterung über den Widerstand und das Widerstandsrecht ausgeweitet. 3 Evangelische Autoritäten haben beides als religiösen 2 Vgl. das Urteil von Carl J . Friedrich u. Zbigniew K. Brzezinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge Mass. 1956, S. 288. 3 Hierzu: Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt. Bericht über die Tagung der Hochschule für Politische Wissenschaften München und der Evangelischen Akademie

Politischer

Widerstand

in

75

Deutschland

und sittlichen Kampf gegen den Nihilismus und den „großen A b f a l l " vom Christentum 4 bejaht. Die Haltung der Bekennenden Kirche in den Jahren 1934 bis 1945 wurde zum Orientierungszentrum der neuen Auseinandersetzungen im Protestantismus der Nachkriegszeit. Der Mord des Diktators und Tyrannen freilich blieb auch jetzt noch strittig und einer moralischen Rechtfertigung im Grundsätzlichen ledig. Hierin berühren sich die Stellungnahmen von evangelischer Seite mit denen aus der katholischen Kirche, deren Entscheidungslinie im nationalsozialistischen Totalstaat im übrigen weit weniger kompliziert verlaufen ist als die des Protestantismus in der Vielfalt seiner kirchlichen Traditionen und Organisationsformen. Die Thesen Walter Künneths, daß „die ethische Möglichkeit eines aktiven Widerstandes nicht gleichbedeutend mit ethischer Rechtfertigung" sei — darum warte „diese Gewaltanwendung wie jedes politische Tun auf Gottes gnädigen Zuspruch, der allein Vollmacht und eine innere getroste Gewißheit in schweren Entscheidungen zu schenken" vermöge, 5 daß „das objektive Recht zum Widerstand nicht ablesbar", daß aber „subjektiv die Widerstandspflicht als politische Verantwortung gegeben sei", haben die Dialektik protestantischer Theologie in außerordentlicher Weise angeregt. Nach Künneth bleibt der gewaltsame Widerstand „eine Frage des gewissenhaften Ermessens, der persönlichen Entscheidung. Sein Tutzing,

hersg. v. Bernhard Pfister und Berhard Hildmann, Berlin 1 9 5 6 ; und die Dis-

kussionsberichte in: Die Vollmacht

des Gewissens,

hersg. v. d. Europäischen Publikation

e. V., München 1 9 5 6 , Neuaufl. i960. Das Ringen innerhalb der evangelischen Kirche um die Fragen des Widerstandsrechts hat sidi in einer umfangreichen Literatur niedergeschlagen, die hier nicht aufgeführt oder erfaßt werden kann. Eine eingehende E r örterung der konfessionellen Stellungnahmen zu den Problemen des Widerstandsrechts findet sich bei M a x Pribilla, S. J., Deutsche

Schicksalsfragen.

Rückblick

und

Ausblick,

Frankfurt a. M . 1 9 5 0 , S. 2 8 7 ff.; ein Überblick über die evangelischen Positionen bei Walther Künneth, Politik

zwischen

Dämon

und Gott.

Eine

christliche

Ethik

des

schen, Berlin 1954» S. 285 ff.; und vom gleichen Verfasser in konziser Form: Das standsrecht

als theologisch-ethisches

Problem,

München 1 9 5 4 . Die reformierte Haltung

ist begründet worden von H . J . I w a n d und Ernst W o l f , Entwurf

eines Gutachtens

Frage

Kirche,

des Widerstandsrechtes

nach evangelischer

Lehre,

in: Junge

Ihre

Auseinandersetzung

über

Obrigkeit

und

Widerstandsrecht,

und die juristische Untersuchung von Johannes Heckel, Lex 4

V g l . Walther Künneth,,

suchung

über die Begegnung

Der

zwischen

große

Abfall.

Nationalsozialismus

1947· 5

Künneth, Das Widerstandsrecht,

Eine

S. 1 8 .

caritatis,

zur

1 9 5 2 , H . 7/8,

S. 1 9 2 ff. Über die Ausgangspunkte bei Luther neuerdings Carl Hinrichs, Luther Münzer.

PolitiWider-

und

Berlin 1 9 5 2 ;

München 1 9 5 3 .

geschichtstheologische und Christentum,

UnterHamburg

Gerhard Schulz

76

Vollzug begründet aber noch keine ethisch-religiöse Rechtfertigung. Erfolg oder Mißerfolg sind ohne ethische Relevanz. Das Unternehmen eines aktiven Widerstandes ist daher prinzipiell auf die Botschaft von der justificatio impiorum angewiesen".6 Diese Thesen öffnen die theologische Diskussion für den politischen Charakter der Entscheidung zum gewaltsamen Widerstand und binden sie zugleich an den höchsten Maßstab der sittlichen und religiösen Verantwortung, stellen also die Frage des freien Ermessens in den Raum größter sittlicher Tiefe. Neben diesen Thesen ist die sich auf die rechtsstaatliche Bindung aller Obrigkeit berufende Behauptung eines „Rechtes zum Aufruhr" bekanntgeworden, die beispielsweise Bischof Berggrav aufgestellt hat,7 der mit der norwegischen Resistance verbunden war. Sie kehrt wieder in Karl Barths Gutheißung der „bewaffneten Erhebung" gegen ein seiner Aufgabe „nicht mehr würdiges und gewachsenes Regiment", die von der Christengemeinde „zu unterstützen und unter Umständen sogar anzuregen" sei,8 und hat teilweise Anerkennung, aber auch Widerspruch gefunden. Wenn diese Thesen auch weit voneinander abweichen, so kommen sie letztlich doch einer stärkeren Einschaltung der Kirche in den Bereich politischer Entscheidungen unter dem Eindruck totalitärer Erfahrungen zugute. Helmut Thielicke hat dies in der Forderung ausgedrückt: Die Kirche habe „wirklich Gericht und eben nicht Moral zu predigen".9 Die hierin angedeutete allgemeine Hinwendung der Kirche zur Politik, um in den Stand zu gelangen, wirklich „Gericht predigen" zu können, wird freilich nicht im Kreise der theologischen Erörterungen allein erfolgen können. Der historisch bedeutsame Widerstandskampf der Bekennenden Kirche will indessen verstanden werden als eine gegen die Bedrohungen des einzelnen durch den totalitären Staat gerichtete „Bewegung des Glaubens und zwar in dem Sinn, daß die zur BK zählenden Menschen, von der Macht des christlichen Glaubens bewegt, nichts anderes wollen als das, was den Inhalt dieses Glaubens bestimmt, unbedingt ernstnehmen".10 Demgegenüber will die Forderung nach «dem „Gericht-Predigen" vor der Christengemeinde offenbar noch weiter in den politischen Raum vor• Künneth, Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt, S. 99. Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch, Hamburg 1946, bes. S. 274. 8 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, III/4, Zürich 1 9 5 1 , S. 514 ff. 9 Helmuth Thielicke, Die evangelische Kirche und die Politik. Ethisch-politischer Traktat über einige Zeitfragen, Stuttgart 1953, S. 65. 10 Künneth, Der große Abfall, S. 228. 7

Politischer

Widerstand,

in

Deutschland

77

stoßen und sich wohl auch nicht allein auf die Begegnung mit dem Totalitarismus beschränken. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob Diskussionen über das Grundsätzliche des Widerstandsrechts — so groß auch der Ertrag an theologischen Einsichten und an ideengeschichtlichen Erkenntnissen sein mag — zu unserer Aufklärung über die wesentliche Beziehung zwischen politischem Widerstand und Totalitarismus Entscheidendes beizutragen vermögen. Ein frühzeitiges, aber heute kaum noch sonderlich beachtetes Erzeugnis dieser Diskussionen ist die Tatsache gewesen, daß zwei deutsche Länder der Bundesrepublik, Hessen und Bremen, Bestimmungen in ihre Verfassungen aufgenommen haben, die dem Staatsbürger unter gewissen Voraussetzungen ein genau umrissenes Recht oder sogar eine Pflicht zum Widerstand zuweisen. 11 Doch damit ist im Grunde noch nicht gar viel entschieden. Audi die Verfassung des zur sowjetischen Besatzungszone Deutschlands gehörenden, später aufgehobenen Landes Brandenburg vom 3 1 . Januar 1947 enthielt ein Widerstandsrecht gegen Gesetze, „die gegen Moral und Menschlichkeit verstoßen", 12 ohne daß irgendeine praktische Folge hieraus bekanntgeworden wäre. Es kommt offenbar doch nicht nur darauf an, ob ein allgemeines Widerstandsrecht konstatiert oder verbrieft wird oder nicht. Derartige Fixierungen enthalten keine wirkliche, das heißt jederzeit wirksame Garantie. Der Widerstand gegen das Aufkommen des totalitären Staates ist vor allem anderen ein politisches Problem, letztlich eine Frage des Machtkampfes. Audi die Frage, ob es ein Recht zum Tyrannenmord gibt, wird sich einer allgemeinen Beantwortung entziehen. Im Falle des nationalsozialistischen Totalstaates ist jedenfalls kein anderer Weg einer Entwicklung 11 Artikel 1 4 7 der hessischen Verfassung vom Dezember 1946 kennt nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern audi eine Widerstandspflicht: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht. Wer von einem Verfassungsbruch oder einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, hat die Pflidit, die Strafverfolgung des Schuldigen durch Anrufung

des Staatsgerichtshofs zu erzwingen . . . " Ähnlich Artikel 1 9 der Verfassung Bremens vom 21. Oktober 1 9 4 7 : „Wenn die in der Verfassung Bremens festgelegten Mensdienredite durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden, ist Widerstand jedermanns Recht und Pflidit." Vgl. auch C. Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes gegen verfassungswidrige fassungsrecht, Tübingen 1950.

im neuen deutschen

Ver-

Artikel 6 Absatz 2, zit. nach Herbert v. Borch, Obrigkeit und Widerstand. politischen Soziologie des Beamtentums, Tübingen 1953, S. 2 1 1 .

Zur

12

Ausübung

der Staatsgewalt

78

Gerhard

Schuh

des politischen Widerstandes glaubwürdig geworden außer dem einer Beseitigung Hitlers, die sich nach Lage der Dinge nicht anders denn als eine gewaltsame denken ließ. Ungleich wichtiger als der Ertrag der Debatten späterer Jahre ist die lebendige Entscheidung der Handelnden, soweit sie wirklich zum Handeln entschlossen waren. In diesem Falle wird die Instanz der konkreten Entscheidung auch die letzte Instanz bleiben müssen, an die sich das Urteil der Historie wendet. III Noch ein zweiter Einwand muß gegen die Erörterung eines allgemeinen Widerstandsrechts in Verbindung mit unserem Problem erhoben werden. Man kann den totalitären Regimen, die eine Umwälzung allen bisherigen Staatsdenkens und aller Staatstheorien darstellen, nicht mit Rückgriffen auf das auf vortotalitären Staatslehren beruhende Widerstandsrecht begegnen. Das Widerstandsrecht selbst ist älter als die mittelalterlichen und neuzeitlichen Staatstheorien. Mittelalterlichen Auffassungen zufolge bestand, wie Otto Brunner nachgewiesen hat, zwischen Rechtsordnung und Gewaltanwendung ein äußerst intimes Verhältnis. Gewaltanwendung konnte sowohl Störung wie Herstellung des Rechts sein; ein dauerhafter Rechtszustand aber war nicht denkbar ohne die Macht, mit Mitteln der Gewalt die defensio zu üben. Die mittelalterlichen Verhältnisse beruhten auf einer Vielfalt von eigenständigen Gewalten, die sich keineswegs durch eine nach modernen Begriffen entwickelte Trennung von öffentlich-rechtlichen — also vom Staat abgeleiteten — Rechtsverhältnissen und privatrechtlichen Beziehungen erfassen läßt. Brunner hat von den Fehde und Widerstand übenden lokalen Gewalten gesagt, sie verhielten sich „zueinander, . . . in einer Weise . . . ,als ob' sie Völkerrechtssubjekte wären". 13 Wir wissen, daß Fehderecht und Fehdeübung entscheidende Formen mittelalterlichen Rechtslebens, nämlich selbsttätige Regelungen von Rechtsbeziehungen waren, die sich erst in einem langwierigen, der Entwicklung des modernen Völkerrechts nicht unähnlichen Vorgang bis zur gewaltfreien Normierung politisch-sozialer Beziehungen emporbildeten. Die Ausbildung von Gerichtsbarkeit und objektivem Recht vollzog sich im Rahmen der Herrschaft, innerhalb des Bereiches der sich in Schutz und Schirm äußernden Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen zur Territorialsungsgeschichte Südostdeutschlands, 2. A u f l . 1941, S. 147. 13

und

Verjas-

Politischer Widerstand

in Deutschland

79

Vogtei des Herrn, die Brunner als den Kern der Herrschaft bezeichnet hat. In früher germanischer Zeit w a r Herstellung des Rechts gleichbedeutend mit K a m p f , der schließlich in Gestalt der Fehde ausgetragen wurde, aber an ein Mindestmaß von Bedingungen und Eröffnungsregeln gebunden war. Neben der Fehde stand der Rechtsgang vor Gericht, in seiner ursprünglichen Form ebenfalls K a m p f , der durch den Rechtsspruch nicht mit Notwendigkeit beendet, sondern häufig in der Form offener Fehde fortgeführt wurde; allerdings machte Widerstand gegen das Urteil den Empörer zum Feind der Gesamtheit. Das Recht wurde durch Gewalt erfüllt. Hans Fehr sagt: „Das Recht sollte Wirkungen äußern." 14 Psychologische Ursache dieses Zustandes war die Subjektivität des Rechtsempfindens, das sich erst allmählich an christliche und kirchliche Anschauungen binden ließ. Das Gefühl in der eigenen Brust und die Verhältnisse innerhalb der größeren sozialen Einheit traten in fortgesetztem Streit, im K a m p f , in gewaltsamen Auseinandersetzungen, die mit dem Überlegenheitsbewußtsein einer Seite endeten, in Beziehungen zueinander. Die nachweisbare Uberzeugung von der Heiligkeit und von der selbsttätigen Wiederherstellung des Rechts, die Fritz Kern hervorgehoben hat, 15 zwingt jedoch, nicht nur die Gewaltnatur, sondern auch die Rechtsnatur dieser Auseinandersetzungen zu erkennen. Entscheidend ist das Kennzeichen der „Gerechtigkeit" des einzelnen, der Subjektivität des Rechtsanspruchs, was nach Mitteis „Überzeugungsrecht" genannt worden ist. Jeder einzelne vermochte die Rechtmäßigkeit jedes Handelns anzuzweifeln und sich dagegen aufzulehnen. Erst in der Durchsetzung gegen konkurrierende Gewalten konstituierte sich dauernde Herrschaft. Der „ K a m p f und das Recht" ist nichts anderes als ein heuristischer Aspekt des Prozesses „der Verdichtung und Steigerung der Herrenrechte". 16 Fehdeverbote ließen sich erst verwirklichen, als die streitenden Parteien gezwungen werden konnten, einen Rechtsweg einzuschlagen, d. h. wenn eine übergeordnete Instanz sie hierzu zu zwingen vermochte, wie es zuerst in den hochorganisierten Staatswesen des hohen und späten Mittelalters gelang, in den Normannenstaaten, in Sizilien und in England, später in Deutschland mit dem Funktionieren des Reichskammergerichts im Verlaufe des 16. Jahrhunderts. In der nächstfolgenden Phase ging 14

H a n s Fehr, Das Recht in der Dichtung, Berlin 1 9 3 1 , S. 5 2 1 .

15

F r i t z K e r n , Recht und Verfassung

18

Brunner, S. 395.

im Mittelalter:

Hist. Zeitschr., Bd. 1 2 0 / 1 9 1 9 .

80

Gerhard Schulz

dann die Landfriedensgesetzgebung in der Form rechtlicher Begrenzungen der Fehdeausübung durch Schaffung eines Fehderechts, danach in der Ausbildung von Strafrecht und Gerichtsverfahren vor sich. Dieser Gewinn an Elementen einer objektiven, fixierten Rechtsordnung, die die Gewaltanwendung durch rechtliche Schlichtung ersetzten, lief mit der Beschränkung lokaler Einzelgewalten und mit der Ausbildung der Landesherrschaft einher. Die Bindung subjektiver Rechtsvorstellungen an objektive Rechtsgrundsätze und die zunehmende Einhegung und schließlich Ersetzung gewaltsamer Auseinandersetzungen durch Verfahrensvorschriften und endlich den Rechtsprozeß wurde freilich durch die formale Hilfe der nachhaltig auf die Umbildung der Rechtsvorstellungen zurückwirkende Rezeption römischer Rechtsbegriffe begünstigt. Die moderne Auffassung von der souveränen Staatsgewalt, die Max Weber als Monopol legitimer Gewaltanwendung charakterisiert hat, wertet die eigenmächtige Gewalthandlung ex auctoritate privata als Rechtsbruch und macht sie zum Objekt des Strafrechts. Dies folgt aus einer mehr oder minder vollständigen Identifikation von Staat und positiver Rechtsordnung einerseits, was Otto v. Gierke als „Verstaatlichung des positiven Rechts" bezeichnet hat," und von außerstaatlicher Gewalt und Unrecht anderseits. Bei diesem Übergang aus dem Zustand der Selbsthilfe in den einer staatlichen Rechtsordnung hat sich indessen ein Sonderfall des ursprünglichen Fehderechts der Staatsgewalt gegenüber erhalten: die Absage an den Landesherrn, die das obwaltende Treueverhältnis löste, ohne Ehrund Rechtlosigkeit des Absagenden nach sich zu ziehen, in der Form der anerkannten facultas resistendi, die gelegentlich die Form einer jus resistendi annahm. Dieses Widerstandsrecht blieb als Selbsthilfe gegenüber dem Monopol legitimer Gewalt bestehen, falls der Herrscher von sich aus die staatliche Rechtsordnung nicht mehr aufrechterhielt. An die Stelle der versagenden Rechtspatronage des Landesherrn trat dann wieder die Selbsthilfe des älteren Zustands. Sie füllte die Lücke in der Gesamtheit der Rechtsbeziehungen, die durch erkennbares oder vermutetes Verschulden das patronagepfliditigen Herrn entstand; der Herr büßte die Legitimität seiner Herrschaftsgewalt ein. Eines der bekanntesten Beispiele der schriftlichen Fixierung eines solchen Widerstandsrechts hat Fritz Kern in dem Sachsenspiegel Eicke von Repgows im Anschluß an die Ho17

Otto v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie, 4. Ausg. Breslau 1929, S. 291.

Politischer Widerstand

in Deutschland

81

meyersche Textausgabe gefunden. 18 Ein noch berühmteres, in seinem Gehalt an formalen Grundsätzen ungleich bedeutsameres Beispiel ist uns aus England in der Magna Charta von 1 2 1 j überliefert. Soldi eine Verbriefung des Rechts schuf keineswegs neue oder originäre Rechtsverhältnisse; doch die existierenden wurden systematisiert, katalogisiert, womöglich enumeriert und formalisiert. Aber das ursprüngliche Rechtsbewußtsein, das Gefühl für die Existenz einer umgreifenden natürlichen, dauerhaften Grundlage der verbrieften Rechtssätze blieb von dieser Formalisierung unberührt. Dieses Widerstandsrecht ist also weit älter als die neuzeitlichen Staatstheorien und die Lehren vom Tyrannenmord, deren lange Reihe mit den monachomachischen Autoren der Reformations- und Gegenreformationszeit begann. Sie säumen den Weg des souveränen absolutistischen Staates, den die Bindung des Fürsten lediglich an Gott und an die Staatsräson, jedoch in einer Weise, die von seinem eigenen Ermessen keineswegs unbeeinflußt blieb, charakterisiert. Recht und Problem des Widerstandes erscheinen im absolutistischen Staatsdenken auf immer enger werdenden Raum zusammengedrängt. Auf der einen Seite entwickelte sich die Lehre vom allmächtigen Staat und allmächtigen Herrscher legibus absolutus, schon früh ausgeprägt bei Machiavelli wie bei Hobbes, dem idealen Gegenpol zu den monachomachischen Thesen über den Tyrannen- und Herrschermord. Die Volkssouveränitätslehren dagegen nahmen ein förmliches Recht zur Revolution in ihr System auf. Daneben bildete sich eine Linie der positiv rechtlichen Eindämmung und Eingrenzung der Herrschaftsgewalt aus, die schließlich im konstitutionellen Rechtsstaat der Neuzeit den Sieg davontrug. Die Aufgabe, das Prinzip des Rechtsschutzes im Sinne der Rechtsstaatsidee durchzuführen, fiel mehr und mehr ausschließlich der konstitutionellen Theorie zu. Der Rechtsstaat des repräsentativen Verfassungssystems indessen benötigt kein Widerstandsrecht; denn er integriert die legitime und freie Opposition in die politische Ordnung. Infoldedessen darf jede Erörterung des Widerstandsrechts, solange diese Ordnung intakt ist, ruhen. Sie schafft zu dauerhafter Statik, zu wohlgeordnetem Ruhezustand tendierende Rechtsverhältnisse, die sogar die ungeheure Dynamik der im Gefolge der Industrialisierung aufgekommenen Klassendifferenzierungen und -gegensätze zu überbrücken, zu binden oder zu neutralisieren trachten. 18

V g l . F r i t z K e r n , Gottesgnadentum

Zur Entwicklungsgeschichte

der

Leipzig 1 9 1 4 , S. 1 6 7 u. 3 7 2 ff. 6

Fraenkel

und Widerstandsrecht

Monarchie

(Mittelalterliche

im frühen Studien,

Mittelalter.

Bd. I,

H . 2),

82

Gerhard Schulz

IV Das verhältnismäßig kurze Erlebnis der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, das mit dem Umsturz von 1918/19 begann, hatte nach allem, was aus heutiger Sicht zu sagen ist, bei weitem nicht ausgereicht, um das Bewußtsein von der Notwendigkeit der liberalen Freiheiten und zugleich die Bereitschaft zum Widerstand gegen ihre drohende Beseitigung allseitig und fest zu verankern. Der totalitäre Staat des Nationalsozialismus wurde nicht zuletzt möglich infolge der mangelhaften Leistungen eines dezidierten politischen Widerstandes, d. h. eines planenden und vorsorgenden Widerstandes, der sich zielbewußt zum Schutze der bestehenden Verfassungs- und Rechtsordnung der vorhandenen politischen Kräfte und Institutionen bediente. Im wesentlichen unbehindert, glitt der parlamentarische Verfassungsstaat in den verfassungslosen totalitären Maßnahmenstaat hinüber, ohne daß an den entscheidenden Wendepunkten vorbereitete und ausreichende antithetische Kräfte wirksam gewesen wären. Diese Tatsache läßt sich gewiß zum Teil aus dem Eindringen der Ideologie des totalen Staates in die intellektuellen Schichten erklären, schließlich aus der wachsenden Anhängerschaft des charismatischen Führers und aus der um sich greifenden Verwechselung des bloß Brutalen und Amoralischen mit politischer, sich selbst rechtfertigender Macht, schlechthin aus der Dekomposition der Formen des Politischen. Doch hier besteht nicht nur ein Problem der Aspekte und Standorte. Sowohl die widerspruchslos hingenommenen Modifikationen in der Handhabung der Diktaturermächtigung des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Reichsverfassung von Weimar als auch die Annahme des Ermächtigungsgesetzes wie das einschneidende und entscheidende Ereignis der Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses des Reichstags am Tage zuvor 19 — um nur die wichtigsten Stationen zu nennen — führt dem historisch Betrachtenden in eklatanter Weise die Schwäche des politischen Widerstandes im Vorfeld der totalitären Herrschaft vor Augen. Sobald wir aber von der Errichtung der totalitären Herrschaft, von der „Machtergreifung" in ihrem Erfolgsstadium sprechen, gewinnt das Problem des Widerstandes eine gänzlich neue Qualität. Kannte der par" Karl Dietrich Bracher, Stufen der nationalsozialistischen Machtergreifung (Bracher, Sauer, Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933I34), 2. A u f l . Köln u. Opladen 1962, S. 158 f .

Politischer

Widerstand

in

Deutschland

83

lamentarisdie Verfassungsstaat liberal-demokratischer Prägung, in dem der konstitutionelle Rechtsstaat kulminierte, das legitime, sich in geordneten Bahnen abspielende Verhältnis eines Kampfes der Opposition gegen die Regierung, so zwingt der totalitäre Staat durch die Vernichtung jedweder Opposition, sogar jedes potentionellen Ansatzes oppositioneller Handlungen die politischen Gegenkräfte zum Untertauchen in den Untergrund und zum Aufbau des heimlichen, „illegalen" politischen Widerstandes, dem das Ziel einer Beseitigung des totalitären Regimes — bereits um der eigenen Existenz willen — den letzten, wirklichen Sinn verleiht. Der totalitäre Staat ist eine politische Organisation ganz und gar neuer Art, der jedweder Rückgriff auf vortotalitäre Formen, Normen und Staatstheorien inadäquat ist. Noch fehlt uns eine umfassende Theorie des totalitären Staates.20 Doch auch unabhängig vom Stande der Theorie erwächst aus der Reflexion der Vergangenheit das unvermeidliche Bestreben, angesichts der totalitären Ausartungen von Staatsorganisationen innerhalb der Geschichtsperiode, in der wir leben, von einem Regulativ auszugehen, das den politischen Widerstand regelmäßig in die Untersuchung und Erklärung des Totalitarismus einbezieht. V Auf dem Boden der deutschen Zeitgeschichte entsteht nun aber ein Problem besonderer Art. Es folgt aus der Begegnung und den problematischen Beziehungen verschiedener, miteinander unvereinbarer Widerstandsbewegungen. Es dürfte kaum einen anderen größeren Ausschnitt unserer zeitgeschichtlichen Ereigniszusammenhänge geben, der wie der 20. Juli 1944 die Problematik des Widerstandes gegen den totalitären Staat freilegt und mit der vielfach gebrochenen politischen Realität des gegenwärtigen Deutschlands verbindet. Die Tatsache der nicht nur geographischen Teilung Deutschlands schlägt sich in keinem anderen Abschnitt der Zeitgeschichte so stark und deutlich nieder. Seitdem Allen Welsh Dulles, während des Krieges Leiter des amerikanischen militärischen Nachrichtendienstes in der Schweiz, zum ersten Male der Weltöffentlichkeit ausführliche Mitteilungen über die deutsche Verschwörung vor dem 20. Juli 1944 unterbreitet hat,21 die in einigen Hinsichten Ähnlichkeit mit den Resistance-Organisationen besaß, in 20

Als einer der wütigsten Ansätze hierzu darf die Darstellung von Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzezinski gelten. 21 Allen Welsh Dulles, Germany's Underground, New York 1947; deutsche Ausgabe unter dem Titel: Verschwörung in Deutschland, Zürich 1948. 6"

Gerhard

84

Schulz

vielen anderen jedoch ganz andere Züge aufwies als die nationalen Untergrundbewegungen in den Ländern, die während des Krieges von deutschen Truppen besetzt waren,22 seit diesem Zeitpunkt hat auch die Publizistik der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands die anfänglich kurzerhand ignorierte Existenz eines nichtkommunistischen Widerstandes im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland mehrfach, schließlich sogar unter Einschaltung sowjetrussischer Historiker erörtert. Von einigen besonderen Zufallsinformationen abgesehen, bedienten sich die ostdeutschen Autoren des Tatsachenmaterials, das durch westdeutsche und wenige ausländische Veröffentlichungen bekannt wurde und das sie im einzelnen wie im allgemeinen einer mehr oder minder systematischen Umdeutung unterzogen. Sie folgten der Tendenz, die Verschwörung, die zum Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 führte und mit ihm endete, einem negativen, sogar einem vernichtenden Urteil zu unterwerfen, sie als volksfeindliche Verschwörung, als „Palastrevolution" unter den Machthabern,23 als verzweifelten Selbstbehauptungsversuch einer „militaristisch-imperialistischen" Clique oder als eine „von den regierenden Kreisen der USA und Englands mit Hilfe der amerikanischen Spionage organisierten" Aktion24 vor der deutschen Öffentlichkeit zu diskriminieren, die Ereignisse also so zu deuten, daß eine Unterscheidung zwischen totalitärem Regime und dem politischen Widerstand hinfällig oder doch unerheblich wird. Neuerdings werden nun einzelne Ausnahmen zugestanden, die einige der an der Verschwörung beteiligten Persönlichkeiten in ein besseres Licht setzen. Die wichtigste betrifft die Person des Attentäters, Graf Stauffenberg.25 Hierbei spricht nicht nur Sympathie für den jungen entschlossenen 22 Einige wichtige Aspekte, wenn auch noch keinen vollständigen Oberblick bietet jetzt das veröffentlichte Symposion: European Resistance Movements 1939—!945· First International Conference on the History of the Resistance Movements held at LiegeBruxelles-Breendonk 14—17 September 1958, Oxford/London/New York/Paris i960. 23

So schon Albert Norden in der Weltbühne, Juli 1947, auch in der Täglichen Rundschau vom 20. Juli 1949; später noch Otto Winzer, Der Friedenskampf der Kommunisten in Deutschland und die Verschwörung vom 20. Juli 1944.' Einheit, 9. Jg./i954, S.686 ff. 24

M. Guss, Die amerikanischen Imperialisten als Inspiratoren der Münchener Politik (Ubersetzung aus dem Russischen: Amerikanskie imperialisty vdochnovikli mjunchenskoy politiki), Berlin (Ost) 1954, S. 223. 25

Am deutlichsten neuerdings in der von einem Autorenkollektiv des Instituts für Deutsche Militärgeschichte unter der Leitung von Oberst W. Stern veröffentlichten Darstellung: Zur Vorgeschichte der Verschwörung vom 20. Juli 1944, Berlin (Ost) 1960, S. 88 ff.

Politischer

Widerstand

in

85

Deutschland

Offizier mit, der das Sprengstoffattentat ausführte und schon mit dieser, jeder möglichen Mißdeutung enthobenen Handlung eine schlechthin revolutionäre Position bezog, sondern auch die Vermutung einer außenpolitischen Ostorientierung des Obersten und nicht zuletzt die Behauptung, daß er in Beziehung zu Kommunisten gestanden habe, die in Dresden eine Widerstandszelle bildeten. Wer nun aber die angebliche Ostorientierung des Attentäters in den Vordergrund rückt, untergräbt damit die These von der angeblichen Organisation des Attentats durch den amerikanischen Nachrichtendienst. Eine auf Präzision hinsteuernde Differenziation erwies sich daher selbst f ü r die grobschlächtigste Publizistik als notwendig. Seit der deutsch-sowjetischen Historiker-Konferenz, die im November 1957 in Leipzig stattfand, ist daher die Praxis zu beobachten, grundsätzlich zwei Gruppen innerhalb der gesamten Verschwörung zu unterscheiden: ein negativ beurteiltes „rechtes" und ein positiv bewertetes „linkes" Lager. 26 Während die letzte Gruppe, wie gesagt wird, „die Rettung der deutschen Nation zum Ziel" hatte, wird die andere kurzerhand als eine A r t Vorkommando einer neuen, einer „klerikal-militaristischen Diktatur" bezeichnet.27 Eine reale Grundlage dieser Aufteilung wird in der Feststellung deutlich, daß es innerhalb der Verschwörung keine Homogenität gegeben habe. Das ist freilich eine These, deren Bedeutung sich nicht übersehen läßt. Immerhin ist in den letzten Jahren die Abwandlung der ursprünglich vertretenen Version unverkennbar. Wurde die Verschwörung anfänglich ignoriert, später ironisch und abwertend behandelt, wurden dann einzelne Persönlichkeiten aus diesem Urteil ausgenommen, so widerfährt 26

Eine bedingte Hervorhebung und Absetzung der Persönlichkeit Graf Stauffen-

bergs von der „Mehrheit" der Verschwörer unter der Führung Goerdelers läßt sich in dem Diskussionsbeitrag von G. N . Goroschkowa erkennen, der den Charakter der Verschwörung an ihren außenpolitisdien Orientierungsversuchen zu messen versucht. Die außenpolitischen

Pläne

Geschichtsschreibung:

der Verschwörer Probleme

des 20. Juli

der Geschichte

1944

des zweiten

im Lichte der Weltkrieges.

westdeutschen Protokoll der

wissenschaftlichen Tagung in Leipzig vom 25. bis 30. November 1 9 5 7 , hersg. v. d. Kommission d. Historiker der D D R und der U d S S R , Bd. II, Berlin (Ost) 1 9 5 8 , S. 39a f. u. 40a. Leicht differenzierend, jedoch allgemein abwertend, war das Urteil über die Verschwörung schon früher bei Anton Ackermann, Legende 1944:

Einheit,

Tägliche

Rundschau,

durch die westdeutsche 27

des Charakters

Geschichtsschreibung:

der Verschwörung

Probleme

der Geschichte

S. 3 7 9 — 3 8 7 . W. Stern, Zur

über den 20. über den 20.

Jult Juli,

N r . 1 6 7 vom 20. Juli 1 9 4 9 ; grundsätzlich und allgemein negativ

Wilhelm Ersil, Zur Verfälschung krieges,

und Wahrheit

2. Jg./i947, H . 1 2 ; auch Albert Norden, Die Wahrheit

Vorgeschichte

der Verschwörung,

S. 96 f.

vom 20. Juli

1944

des zweiten

Welt-

86

Gerhard

Schulz

heute einem größeren Kreis dieses Schicksal einer ausgezeichneten Bewertung. Bemerkenswert ist, daß dies für kurze Zeit sogar für einen großen Teil des Kreisauer Kreises galt, der dann aber wieder dem anfänglichen Verdikt unterworfen worden ist.28 Hinter der neuerdings manipulierten Bewertung der Verschwörung zum 20. Juli verbirgt sich jedoch nichts anderes als das aufschlußreiche Phänomen eines historischen Legitimierungsbedürfnisses der sogenannten „ D D R " , das sich einerseits mit der Tatsache auseinanderzusetzen hat, daß die stärkste, auch außerhalb Deutschlands weithin bekannt gewordene, durdi Mißerfolge geschlagene und am Ende sehr dicht an einem umwälzenden Erfolg vorbeioperierende politische Widerstandsbewegung im nationalsozialistischen Staat keine kommunistische Beteiligung und keine wirklich nennenswerte Verbindung zu kommunistischen Kreisen oder zum Moskauer Nationalkomitee Freies Deutschland aufweist. 29 Anderseits reichten die kommunistischen Widerstandszellen im Deutschland der nationalsozialistischen Zeit, will man von der einzigen Ausnahme, der sogenannten „Roten Kapelle", absehen,30 an Umfang und Bedeutung nicht im entferntesten an eine ähnliche Größenordnung heran, 28

Hans Dress/Wilhelm Ersil, Die volksfeindliche

und das nationale

Rettungsprogramm

der KPD:

Konzeption

des Kreisauer

Staat und Recht,

Kreises

9. Jg./i96o, S. 1 1 0 5

bis 1 1 3 4 . Die Autoren folgen hierin der gleichen Methode, die Hans Dress schon vorher zu dem gleichen Zweck und mit ähnlichem Ergebnis Goerdeler gegenüber angewandt hatte: Die

Verfassungspläne

schichtsschreibung:

Probleme

Goerdelers der Geschichte

in der

nochmals in dem Aufsatz: Der antidemokratische fassungspläne

Goerdelers:

Zeitschrift

für

Darstellung

des zweiten

der

westdeutschen

Weltkrieges,

und reaktionäre

Charakter

Geschichtswissenschaft,

Ge-

S. 405—409; und der

Ver-

5. J g . / i 9 5 7 , S. 1 1 3 4

bis 1 1 5 9 . Die dort ebenfalls angekündigte Behandlung von Plänen der „Gruppe Popitz, Hasseil usw.", die offenbar in ähnlicher Weise angelegt werden sollte, ist jedoch nicht erschienen. 29

Freies

Stern, S. 92 f.; vgl. hierzu auch G. Ritter, Carl Goerdeler, Deutschland.

Sowjetunion 30

Das Nationalkomitee

1943—194s,

und

der Bund

S. 548; Bodo Scheurig,

Deutscher

Offiziere

in

der

München i960, S. 55 ff. u. S. 146.

Vgl. Hans Rothfels, Die

deutsche

Opposition

gegen

Hitler.

Eine

Würdigung,

revidierte Ausgabe Frankfurt/M.-Hamburg 1 9 5 8 , S. 1 7 ; die schärferen, auf Distanzierung zwischen „Roter Kapelle" und „Widerstandsbewegung" bedachten Urteile von Fabian v. Schlabrendorff, Offiziere

gegen Hitler,

bearbeitet von Gero v. S. Gaevernitz,

Zürich-Wien-Konstanz 1 9 5 1 , S. 96 ff.; auch Ritter, Carl deutschen Veröffentlichungen: O.Winzer, Zwölf Krieg. 194S,

Ein Beitrag

zur Geschichte

Goerdeler,

Jahre

Kampf

der Kommunistischen

Partei

S. 1 0 6 f. Von ost-

gegen

Faschismus

Deutschlands

1933

und bis

2. Aufl. Berlin 1955, S. 193. Dort ist audi ein Auszug aus der Urteilsbegründung

des Reichskriegsgerichts abgedruckt.

Politischer Widerstand

in Deutschland

87

was angesichts der Stärke, die die Kommunistische Partei vor ihrer Zerschlagung besaß, zunächst verwunderlich erscheinen mag. Alle Staaten Kontinentaleuropas, die während des Krieges von den Truppen der totalitären Zentralmächte, Deutschland und Italien, besetzt waren, besitzen eine Tradition der Restistance, die zum großen Teil, wenn auch in mannigfachen Abstufungen, zu staatstragenden Traditionen geworden sind — in den Ländern des Ostblocks unter der Dominanz ihres zweifellos starken kommunistischen Bestandteiles, in den anderen Ländern, nach Übergängen, unter stärker ausgeprägten nationalen Vorzeichen. In Deutschland dagegen herrschten von Grund auf andere Bedingungen, da kein nationaler Aufstand gegen einen von außen gekommenen Bedrücker und gegen eine Besatzung ausgelöst werden konnte, sondern eine im einzelnen problemreiche Erhebung gegen den Staat zustande kommen mußte, nachdem die Geheime Staatspolizei durch Feststellung, Kontrolle und Ausschaltung vollständiger Kategorien potentieller Staatsgegner — soweit sie sich nicht zur Emigration entschlossen hatten — eine nahezu perfekte präventive Unterdrückung aller Regungen einer Opposition zu erreichen bestrebt war. Hervorragende Politiker der linken Parteien, darunter die kommunistischen Funktionäre der großstädtischen Industriegebiete, wurden im Verlauf der ersten Jahre verhaftet, verurteilt, in Konzentrationslager verbracht und für die Dauer des nationalsozialistischen Regimes festgehalten. Selten gelangte einer von ihnen in den Genuß einer günstigen Sonderbehandlung. Derlei Fälle bildeten nur wenige Ausnahmen von der allgemeinen Regel. Der kommunistische Widerstand verfügte von Anfang an über keine nennenswerten Entfaltungsmöglichkeiten, da er der führenden Köpfe beraubt war, die sich nicht sofort ersetzen ließen. Hinzu trat die wechselvolle Haltung der sowjetischen Politik wie der Internationale vor und wieder nach ihrem großen Aufschwung während des spanischen Bürgerkrieges. Eine im Auftrag des Oberreichsanwaltes noch während des Reichstagsbrandprozesses gefertigte, offenbar wegen ihrer Ergebnisse dann aber für den internen Dienstgebrauch sekretierte vierzigseitige „Denkschrift über die kommunistischen Umsturzbestrebungen in Deutschland" verzeichnet entgegen allen anderen Behauptungen nationalsozialistischer Führer im auffälligen Unterschied zu den Vorjahren nicht ein einziges ernsthaftes Ereignis, das den Rückschluß auf einen organisierten kommunistischen Widerstand erlaubt. Für das Frühjahr und den Sommer des Jahres 1933 ist, von Schlägereien und Schießereien abgesehen, die angesichts des rigorosen Vorgehens der SA und SS kaum Wunder nehmen,

Gerhard

88

Schulz

ü b e r h a u p t keine g e w a l t t ä t i g e kommunistische A k t i v i t ä t festgestellt w o r den.31 D a ß

die radikalste, prononciert

„antifaschistisch"

gebende

Partei

in

revolutionäre,

Deutschland,

sich seit

ohne

langem

vorbereiteten

W i d e r s t a n d z u leisten, a u s g e s c h a l t e t w u r d e u n d d a ß d a s J a h r 1 9 3 3 solches d e r k o m m u n i s t i s c h e n

P a s s i v i t ä t w u r d e , stellt i n d e r T a t

ein

einen

ebenso erstaunlichen w i e problematischen S a c h v e r h a l t der Zeitgeschichte d a r . 3 2 D e r k o m m u n i s t i s c h e W i d e r s t a n d s e t z t e erst i n d e n s p ä t e r e n J a h r e n ein u n d n a h m d a n n n a c h d e m A n g r i f f a u f d i e S o w j e t u n i o n

verhältnis-

m ä ß i g r a s c h g r ö ß e r e A u s m a ß e a n . D i e B e h a u p t u n g eines k o m m u n i s t i s c h e n A u t o r s , „ i m Unterschied z u allen anderen P a r t e i e n " h a b e die K o m m u nistische P a r t e i D e u t s c h l a n d s „ g e g e n ü b e r d e m H i t l e r r e g i m e n i e e i n e P o s i t i o n des A b w a r t e n s b e z o g e n , d e n K a m p f niemals eingestellt. D e r illegale K a m p f

gegen die

Naziherrschaft...

der K o m m u n i s t e n in

Deutsch-

l a n d " sei „ t r o t z a l l e r O p f e r n i e v ö l l i g z u m E r l i e g e n g e k o m m e n , 3 3

31

Vgl. Gerhard Schulz, Die Anfänge

Sauer, Sdiulz,

Die nationalsozialistische

des totalitären

Maßnahmenstaates

Machtergreifung),

S. 527.

und Einzelheiten vgl. jetzt Siegfried Bahne, Die Kommunistische in: Das Ende der Parteien

1933,

Für

Partei

diese

(Bracher, Hintergrund Deutschlands,

hersg. v. Erich Matthias u. Rudolf Morsey, Düsseldorf

i960, S. 691 ff., 699 ff. 32

Bezeichnenderweise berichten selbst die jetzt in Ostdeutschland erschienenen Dar-

stellungen aus dem Jahre 1 9 3 3 keine einzige Tatsache, die auf eine organisierte kommunistische Tätigkeit schließen ließe. Das gilt im besonderen auch für den Versuch einer umfassenden Dokumentation von Zeugnissen des kommunistischen Widerstandes von Walter G . Schmidt, Damit antifaschistischen

Deutschland

Widerstandskampf

lebe. Ein Quellenwerk

1933—1945,

Berlin

1958,

über den

deutschen

die außer

kleinen

Aktionen, teilweise lokalen streikartigen Protesten ohne politischen Hintergrund für die Jahre 1 9 3 3 und 1 9 3 4 vorwiegend Berichte über Vorkommnisse zusammenträgt, die in die Kategorie der Verfolgung, jedoch ganz und gar nicht in die des politischen Widerstandes fallen. 33

Winzer, Einheit,

antifaschistischen bleme

9. Jg./l954, S. 679; vgl. Heinz Schumann, Die Behandlung

Widerstandskampfes

der Geschichte

des zweiten

in der westdeutschen Weltkrieges,

Geschichtsschreibung:

des Pro-

S. 3 4 1 — 3 5 4 . Einige vorsichtige Andeu-

tungen über das Zwischenstadium kommunistischer Inaktivität an anderer Stelle bei Winzer, Zwölf

Jahre

Kampf

gegen Faschismus

und Krieg.

Danach „brauchte es [nach

der nationalsozialistischen Machtergreifung] eine gewisse Zeit, um die teilweise zerschlagenen und abgerissenen Verbindungen zwisdien den leitenden Organen und den unteren Organisationen der K P D unter den neuen Bedingungen des hemmungslosen Terrors und der völligen Illegalität wiederherzustellen". W . sudit die Schuld hieran dem Umstand zuzuschreiben, daß sich „eine gewisse organisatorische Schwäche der K P D besonders schwerwiegend bemerkbar machte, . . . nicht etwa eine zahlenmäßige Schwäche . . . Gemeint ist die schwache Verankerung der Partei in den Betrieben und in den Gewerkschaften" (S. 36 f.). Sehr deutlich auch Werner Plesse, Zum antifaschistischen

Wider-

Politischer Widerstand

in Deutschland

89

Behauptung mag vielleicht auf der Ebene persönlicher Uberzeugungen zutreffen; sie läßt sich jedoch aus der Zeit der Anfänge des nationalsozialistischen Totalstaates keineswegs belegen. Eine Reihe von jüngeren ostdeutschen Veröffentlichungen monographischen Charakters bemüht sich, einzelne kommunistische Widerstandszellen und Diskussionszirkel der späteren Zeit in das Licht der Aufmerksamkeit zu rücken.34 Für keine einzige dieser Gruppen ist indessen für die Zeit vor den sowjetischen Siegen und der Endphase des Krieges eine über örtliche Erscheinungen hinausreichende Tätigkeit nachgewiesen worden. Dies lag bereits in der Abgeschlossenheit der einzelnen Zellen begründet. Die spätere Bedeutung dieser örtlichen Konspirationen von Gesinnungsgenossen stand offenkundig in Abhängigkeit von den militärischen Erfolgen der Sowjetunion. Der politische Widerstand, soweit er zweckvoll auf Änderung der politischen Verhältnisse ausgehende Aktionen anstrebt, wird allerdings, wenn die Eigenheiten totalitärer Institutionen und Strukturen in Rechnung gezogen werden, nur dann Erfolg versprechen, wenn er von Persönlichkeiten oder Gruppen gestützt oder getragen wird, die in einem größeren Umfange vor Verfolgung gesichert sind, zumindest aber nicht in die Kategorien der organisierten Verfolgung gehören. Er kann nur von Gruppen ausgehen, die über die Möglichkeit zu langfristiger vorausschauender Planung verfügen, von Gruppen, die die Fähigkeit zur aufbauenden Konspiration besitzen und die über Einfluß oder Wirkungsbereiche innerhalb der Hierarchie von Funktionen und Ämtern des totalitären Regimes, letztlich auch über Machtmittel verfügen. Wer im totalitären Staat Verfolgter ist, kann in der Regel keinen politischen Widerstand mehr leisten. Gemeinhin ist nicht das, was in einem Betrieb oder in einer Straße geschieht, Politik bzw. politischer Widerstand. Diese Bezeichnung meint in erster Linie die Beeinflussung oder Beherrschung größerer Zusammenhänge. In bezug auf das totalitäre System wird man standskampf in Mitteldeutschland (1939—1945): Zeitschrift für Geschichtswissenschafi, II. Jg./ I 954> bes. S. 816. 34 So die Darstellung über mehrere Dreier-Gruppen: Gertrud Glondajewski/Heinz Schumann, Die Neubauer-Poser-Gruppe. Dokumente und Materialien des illegalen antifaschistischen Kampfes (Thüringen 1939 bis 194}), H . 1 6 der Schriftenreihe „Beiträge zur Geschichte und Theorie der Arbeiterbewegung", hersg. vom Institut f. Marxismus-Leninismus beim Z K der S E D , Berlin 1957; Gerhard Nitzsche, Die SaefkowJacob-Bästlein-Gruppe (1942 bis 194}), H . 18 d. gleichen Schriftenreihe, Berlin 1 9 5 7 ; Ilse Krause, Die Schumann-Engert-Kresse-Gruppe (Leipzig 1943 bis 194s), H . 22, Berlin 1960.

90

Gerhard

Schulz

nur eine wesentliche Änderung, wenn nicht eine Beseitigung des Regimes oder zumindest nicht von vornherein aussichtslose Versuche, dies zu erreichen, hiermit in Beziehung setzen können. Man wird daher mit der Ausnahme des Sonderfalls einer in völliger Auflösung befindlichen totalitären Struktur kaum je einen Aufbau politischer Aktionen von unten nach oben annehmen dürfen. Beide Formen des Widerstandes haben jedoch miteinander gemeinsam, daß sie nicht bei der Behauptung eines status quo oder eines herkömmlichen Besitzstandes oder einer geistigen oder religiösen Haltung verharren — unabhängig von politischen Zielen und von Zwecken im institutionell-politischen Bereich, wie es vom Widerstand der Kirchen weitgehend gilt, 35 sondern daß sie, um gestörte Grundlagen der Existenz wiederherzustellen, zur entschiedenen Tätigkeit gegen die regierende Macht schreiten. Es steht außer Frage, daß es im Deutschland des Nationalsozialismus im Grunde nur eine einzige Bewegung der erstgenannten Art gab, die in der Tat auffällig heterogene Ursprünge hatte und dennoch letztlich als eine Einheit angesehen werden darf auf Grund des Umstandes, daß die verschiedenen Gruppen, Zirkel, Konventikel und Klubs des politischen Widerstandes dank vielfältiger persönlicher Beziehungen und infolge der Tätigkeit verschiedener Vermittler in mehr oder minder enge Verbindung 15

Zum kirchlichen Widerstand K . D. Bracher, Anfänge der deutschen Widerstandsbewegung: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, Berlin 1958, S. 3 7 5 — 3 9 $ . Es ist gewiß berechtigt, ihn historisch als den Auftakt des „ersten fühlbaren Widerstandes von ausgreifender Wirkung" anzusehen (Bracher, S. 387). Doch dieser Widerstand der Kirchen und der kirchentreuen Bevölkerung, die Überwindung der durch den Anspruch des totalitären Staates auf jeden einzelnen hervorgerufenen „Glaubenskrise" durch Rückkehr zum und Beharrung im Kirchenglauben, hat selbst noch nicht unmittelbar mit der konspirativen politischen Widerstandsbewegung zu tun, mögen auch einige Persönlichkeiten (ζ. B. Dietridi Bonhoeffer) beiden Richtungen des Widerstandes angehört haben. Vgl. auch Hans Buchheim, Glaubenskrise im Dritten Reich, Stuttgart 1 9 5 3 . Zusammenfassung und Wiedergabe der Zeugnisse des evangelischen Kirchenkampfes im Kirchlichen Jahrbuch für die evangelische Kirche in Deutschland 1933—194}, Gütersloh 1948; bei Wilhelm Niemöller, Kampf und Zeugnis der Bekennenden Kirche, Bielefeld 1948; in den kirdiengeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet: Karl Kupisch, Quellen zur Geschickte des deutschen Protestantismus ι8γι—1945 (Quellensammlung zur Kulturgeschichte, hersg. v. Wilhelm Treue, Bd. 14), Göttingen-Berlin-Frankfurt 1960, S. 2 5 1 ff.; ferner Heinrich Hermelink, Kirche im Kampf, Stuttgart 1950; und W. Niemöller, Die evangelische Kirche im Dritten Reich, Bielefeld 1 9 5 6 ; für den Widerstand der katholischen Kirche zusammenfassend Johannes Neuhäusler, Kreuz

und Hakenkreuz,

2 Bde. 1946.

Politischer Widerstand

in Deutschland

91

zueinander gerieten und am Ende in irgendeiner Weise in die Vorbereitung der Tat vom 20. Juli 1944 einbezogen wurden. Die Einheit dieser Widerstandsbewegung liegt also letztlich in der Eigenart der Verknüpfungen ihrer Zirkel, Gruppen und Persönlichkeiten mit dem Anschlag dieses Tages begründet, von dem viele von ihnen vorher keine genaue oder überhaupt keine Kenntnis hatten. VI Die westdeutsche Literatur sieht überwiegend — am deutlichsten und fast einschränkungslos Gerhard Ritter—in den in vielen Schriften niedergelegten Absichten und Gedanken Goerdelers die geistige Grundlage des Widerstandes, der zur Tat des 20. Juli 1944 führte. Und in wahrscheinlich noch höherem Maße wird das Schicksal Carl Goerdelers als Sinnbild und Symbol dieses Widerstandes betrachtet. Eine kritische Auseinandersetzung1 mit den einzelnen Bestandteilen dieser Widerstandsbewegung ist bishör nahezu gänzlich unterblieben. Sie hätte sich nach Lage der Dinge, da sidi die letzten persönlichen Entscheidungen, aber auch ihr Vorraum in den meisten Fällen der historischen Einsicht entziehen, auf unsicherem Boden bewegen müssen. Zudem war angesichts der Größe des Opfers und im Hinblick auf den guten Klang vieler Namen zunächst einzig die innere Einkehr und der ehrende Generalnekrolog angemessen, jedenfalls für die Nachlebenden geziemender als kritische Analysen. Im Laufe der Jahre entstand dann eine schwer zu durchdringende Patina der Pietät, die die ostdeutsche Literatur zur Wiederstandsbewegung in freilich leicht durchschaubarer Absicht zu zerstören bemüht ist. Goerdeler hat ohne Zweifel rasch und geschickt die Chance erfaßt, die sich ihm dank seiner persönlichen Verbindungen zu den unter polizeistaatlicher Aufsicht und Kontrolle stehenden einzelnen opponierenden Kreise, Gruppen und Persönlichkeiten bot. In der durchaus zielbewußten politischen Absicht, den politischen Widerstand zu einer Einheitsfront zusamenzufassen, bezog er die Position des Werbers und Mittlers zwischen den Gruppen und Parteien, deren Kreise er fortgesetzt weiter zu ziehen bestrebt war. Seine Beredsamkeit und seine Überzeugungskraft kamen dieser Rolle, die er sich aneignete, ohne Zweifel sehr zugute. Goerdelers Geschäftigkeit wurde jedoch auch mit Mißfallen und Unbehagen bemerkt. Häufig und heftig kritisierte ihn Popitz, mit dem er seit 1931 in enger, wenn auch Wechsel voller Verbindung stand. In anderen Kreisen stießen die Pläne Goerdelers auf Skepsis und Wider-

92

Gerhard.

Schulz

stand. In manchen Fällen dürfte auch persönliches Mißtrauen gegenüber dem unentwegten Eifer dieses selbsternannten Geschäftsführers des Widerstandes zur unverblümten Ablehnung des von ihm vertretenen Anliegens geführt haben.36 Doch trotz seiner unermüdlichen und höchst riskanten Tätigkeit hat Goerdeler die kämpfende Opposition gegen Hitler aus dem Dämmerlicht der Verschwörung, in dem sie ihre Existenz führen mußte und das seinem eigenen Naturell so wenig behagte, nicht herausführen können. In den kritischen Tagen des Juli 1944 zählte Goerdeler selbst nicht mehr zu den unmittelbar beteiligten Akteuren. D a die entscheidenden Ereignisse, die das Attentat auszulösen hatte, in einem Fehlschlag endeten, der mangelhafte Vorbereitungen, Gedankenlosigkeit und auch zweideutige Haltungen enthüllte, kamen die für später angesetzten Pläne, auf die Goerdeler einen großen Teil seines Interesses und seiner Bereitschaft verwandt hatte, niemals mit der Wirklichkeit in Berührung. * Das politische Problem, dem sich die deutsche Widerstandsbewegung als erstem gegenüber sah, ließe sich in etwa mit der Frage bezeichnen, wie eine Ablösung der Führung des nationalsozialistischen Totalstaates und seine planmäßige Überleitung in geordnete Rechtsverhältnisse vor sich gehen könne. Es ist bekannt, daß hierüber verschiedene Meinungen bestanden. Während der ersten Kriegsjahre entstanden jedoch Pläne, die darauf hinzielten, als erstes ein starkes, militärisch gestütztes autoritäres Regiment, mit überwiegend ziviler Spitze aufzurichten und zumindest bis zur völligen Liqidierung der Uberreste der nationalsozialistischen Parteiherrschaft aufrechtzuerhalten." Uber den Fortgang der politischen Entwicklung bestanden weitgehende Meinungsverschiedenheiten, die niemals gänzlich geklärt wurden. Die Frage der Wiederherstellung der Monarchie spielte zeitweilig eine Rolle, 38 blieb angesichts des Fehlens 36

Vgl. Paul Weymar, Konrad

Adenauer.

Die

autorisierte

Biographie,

München

1955» S. 196. 37 Die wichtigsten und zuverlässigsten Zeugnisse hierzu sind das von Ulrich v. Hasseil nach Beratung mit Beck, Goerdeler und Popitz verfaßte Regierungsprogramm von Anfang 1940 und die von Popitz nach Beratung im gleichen Kreise mit Planck und Jessen gemeinsam verfaßten Handhabungen, namentlich sein vorläufiges Staatsgrundgesetz, beide abgedruckt bei U. v. Hasseil, Vom anderen Deutschland. Aus den 4. Aufl. Zürich 1947, S. 305 ff. nachgelassenen Tagebüchern 1938—1944, 38 Am stärksten offenbar bei Goerdeler, Vgl. dessen geheime Denkschrift für die Generalität vom 26. März 1943 (Ritter, S. 607), auch den bei Ritter, S. 583, abgedruckten Entwurf eines Aufrufs des „deutschen Kronprinzen" an Armee und Volk. Er ist von einem der gewerkschaftlichen Verbindungsmänner Goerdelers, Jakob Kaiser, einem

Politischer

Widerstand

in

93

Deutschland

eines geeigneten Thronkandidaten aber von untergeordneter Bedeutung. Große Schwierigkeiten bereitete auch das Problem der künftigen Wirtschaftsverfassung. Die Erörterungen des Kreisauer Kreises, dem Konservative, evangelische Theologen, katholische Sozialtheoretiker und Sozialdemokraten angehörten, befaßten sich mit ihm.39 Weniger bekannt ist, daß in dem Kreis um Beck und Goerdeler, bei dem lange Zeit die Führung der Verschwörung lag, Popitz nicht wesentlich andere Auffassungen vertrat,40 während Goerdeler auf einer Rückkehr zu den wirtschaftsständisch-reichsreformerischen Bestrebungen der Zeit des Ausganges der Weimarer Republik bestand.41 Diese Haltung Goerdelers ist offenbar unter allen Gründen der wichtigste gewesen, der die Trennung zwischen Berlinern und Kreisauern zu einer dauerhaften werden ließ, aber audi im Laufe des Jahres 1943 zur Lockerung der Beziehungen innerhalb der Berliner Verschwörergruppe führte, in der Goerdelers Anspruch auf die Führung einer künftigen Reichsregierung ebenfalls nicht mehr unbestritten blieb. Die Verhältnisse nach dem Kriege haben sich in der Bundesrepublik anderen A u t o r zugeschrieben worden. Historischer Rückgriff auf die Endphase der Monarchie und Stil stimmen indessen in Denkschrift und E n t w u r f überein. Die T a t sache ist überdies unerheblich, da das Wesentliche der persönlichen Zukunftsvorstellungen Goerdelers ohnehin in der Denkschrift enthalten ist. 39

V g l . T h e o d o r Steltzer, Von

deutscher

Politik.

Dokumente,

Aufsätze

und

Vor-

träge, hersg. von Friedrich Minssen, F r a n k f u r t / M . 1949, bes. S. 160 ff. 40

Ein deutliches Zeugnis ist ein von P o p i t z in der Mittwochsgesellschaft am 2. J u n i

1 9 4 3 gegebener Bericht über die Arbeiten einer von ihm ins Leben gerufenen und geleiteten Arbeitsgemeinschaft zur künftigen Sozialordnung (Protokolle der Mittwochsgesellschaft im Bundesarchiv zu Koblenz, K l . E r w . 1 7 9 — 3/1042. Sitzung, Photokopie im Friedrich Meinecke-Institut). V g l . die Bemerkungen von Hans H e r z f e l d , Popitz.

Ein Beitrag

und Verfassung.

zur Geschichte

des deutschen

Beamtentums:

Forschungen

Johannes zu

Staat

Festgabe f ü r Fritz H ä r t u n g , Berlin 1 9 5 8 , S. 348 f. Bemerkenswert ist

die Eintragung von Hasseil am 4. August 1 9 4 3 über ein gemeinsames Gespräch mit P o p i t z und dem zu den Kreisauern vermittelnden Trott zu S o l z : „ E i n e im Grunde unnötige Schwierigkeiten bringt in diesen Meinungsausgleich der Begriff Sozialismus' — auch ein Kuckucksei, das der Nationalsozialismus ins deutsche Nest gelegt hat. ,Sozial' ist anrüchig geworden. A b e r schließlich soll es auf Worte nicht ankommen." Hassell, S. 264. 41

Ritter, S. 289 ff. Wenn R . (S. 294) sagt, daß Goerdeler einen „Arbeiterstaat" er-

richten wollte, so verkennt er C h a r a k t e r und H e r k u n f t der in dieser F o r m keineswegs neuen ständischen Ideen. V g l . hierzu Hassell, S. 237 f . , mit dem persönlichen Urteil des ehemaligen Botschafters: Goerdeler, f ü r den er bezeichnenderweise den Decknamen P f a f f e r f a n d , sei „doch eine A r t R e a k t i o n ä r " ; auch die Mitteilungen Eugen Gerstenmaiers hierzu, bei Hassell, S. 303 f . ; ferner Ritter, S. 3 5 2 f .

94

Gerhard

Schulz

stärker und rascher zur parlamentarischen Demokratie hin entwickelt, als es irgendeiner der zunächst ins Auge gefaßten Pläne der am politischen Widerstand beteiligten Persönlichkeiten und Kreise vorgesehen hätte. Die wirtschaftliche Entwicklung in Westdeutschland aber hat jede Bahn des Vorausgesehenen und Vorgesehenen verlassen und innerhalb der freien internationalen Marktwirtschaft einen Stand der Entwicklung und einen Wohlstand erreicht, die keine einzige der überlieferten Zukunftsäußerungen aus den Bezirken des Widerstandes auch nur in Formen vager Ahnungen angedeutet hat. Als Resultat der hier nur angedeuteten, vielfach verschlungenen, sich teilweise mit den Jahren lockernden, teilweise intensivierenden Verbindungen bietet sich am Ende ein fast amorphes Bild. Von den anfänglich ziemlich fest umgrenzten Zirkeln, deren Entstehung oder Ansätze in die Vorkriegszeit zurückreichen, blieb nach manchen Veränderungen nicht mehr viel übrig. In den späteren Stadien ihrer Geschichte geriet die Verschwörung gegen die totalitäre nationalsozialistische Herrschaft in schärfere und grundsätzliche politische Gegensätze, die die Kreise des Anfangs nach und nach zu lockern und neue Fronten zu bilden begannen. Es soll an dieser Stelle nicht weiter von den zahlreichen Gruppen und abgestuften Verbindungen die Rede sein, sondern als Merkmal des politischen Widerstandes festgehalten werden, daß im Stadium der planenden, der vorbereitenden Aktion bereits wesentliche Zukunftsfragen erörtert wurden in der Absicht, sie, soweit voraussehbar, bereits zu entscheiden. Es liegt in der Natur der Sache, daß hierbei die heimliche, im Verborgenen entwickelte Vorgeschichte der Entscheidungen Spannungen, Gegensätze und wohl gar Feindschaften zutage fördert. Wenn politischer Widerstand nur dort möglich ist, wo der allgemeine, womöglich zwangsweise erzeugte Konformismus durchbrochen wird und die Bereitschaft zu einer Tat von umstürzendem Ausmaß entsteht, so darf doch nicht angenommen werden, daß stets nur wahlverwandte Köpfe und vergleichbare Gruppen erwachen und sich zu entscheiden wissen. Welcher Art die grundsätzlichen Differenzen zwischen Berlinern und Kreisauern und die ihnen zugrunde liegenden Ursachen waren, ist mehrmals angedeutet, kaum eingehend untersucht worden. Ulrich von Hassel spricht von „Alten" und „Jungen" und deutet das Generationenproblem an.42 Später wurde diese Art der Scheidung abgewandelt und auf die 42

Hasseil, S. 236 f.

Politischer Widerstand in Deutschland

95

gesamte Widerstandsbewegung ausgedehnt.43 Bisher ist wenig Rücksicht auf die soziologische Zusammensetzung des Verschwörerkreises genommen worden. Wir begegnen in einem für europäische politische Verhältnisse recht auffälligem Maße keinem .einzigen Literaten, Schöngeist oder Schriftsteller. Gewiß befanden sich hochgebildete Persönlichkeiten mit weiten Interessen und literarischen Neigungen in diesem Komplott oder standen dem engeren Kreise der Verschwörer nahe; ihr Ansehen begründet nicht zum wenigsten auch das hohe Ansehen des Widerstandes. Wir finden hohe Beamte und Offiziere, Diplomaten, Juristen, Gelehrte, Universitätsprofessoren, Geistliche und Gewerkschaftsführer und Parlamentarier aus der Zeit der Republik, eine im spezifischen Sinne aus den deutschen politischen Verhältnissen emporgewachsene Elite also; es fehlen Journalisten — wenn die zeitweilige Redakteurstätigkeit Julius Lebers außer Acht bleibt — schlechthin die „Intellektuellen" des in anderen europäischen Ländern im politischen Leben so zahlreichen Typs. Innerhalb des Widerstandes dürften schon in den Beziehungen zwischen diesen derartig voneinander verschiedenen Gruppen überaus unterschiedlichen Herkommens und wechselnder sozialer Bedeutung in der wechselvollen Geschichte dieses Jahrhunderts beträchtliche Spannungen enthalten gewesen sein. Einem Bündnis zwischen Sozialisten, Generälen, Beamten, Gelehrten und Diplomaten haftet wohl immer der Charakter der Improvisation der Not an, die nur auf Zeit Bestand hat. VII Die Versuche des Widerstandes vor dem Kriege und während des Krieges, mit den Alliierten in Verbindung zu treten, schlossen den Gedanken einer Ostorientierung keineswegs vollständig aus. Die Beziehungen und Verbindungen zu Sowjetrußland wurden aber niemals praktiziert, sondern nur im Theoretischen, wenn auch nach der Hinzuziehung Graf Friedrich Werner Schulenburgs, des letzten Botschafters in Moskau, in durchaus greifbarer Form erörtert.44 Doch niemals hatte das „MühleSpiel" zwischen Ost und West, wie Hassell es nannte, den Sinn eines „Doppelspiels".45 Sowohl die Angaben von Allen W. Dulles, die den 43

Sebastian Haffner, Beinahe. Die Geschichte des 20. Juli 1944: Neue Auslese, 2. Jg./ I 947> H . 8; auch Margaret Boveri, Der Verrat im 20. Jahrhundert, Bd. II: Für und gegen die Nation (Rowohlts deutsche Enzyklopädie), Hamburg 1956, S. 13 ff. 44 45

Hassell, S. 267. Hassell, S. 271. Bezeichnend ist audi die Eintragung vom 15. August

1943:

96

Gerhard.

Schulz

quellenkritischen Sinn des Historikers vor keine leichte Aufgabe stellen, wie das Tagebuch Ulrich von Hassells, der beiden hervorragendsten Quellen zum deutschen Widerstand, die wir bisher besitzen, lassen deutlich werden, daß der Berliner Verschwörerkreis in erster Linie Verbindung zu den westlichen Alliierten suchte. Es ist allerdings zweifelhaft, ob zu diesem oder gar schon zu einem früheren Zeitpunkt das volle Ausmaß der Verschwörung bei den Alliierten bekannt war. Heute ist bekannt, daß innerhalb der Wehrmacht das Vermächtnis des ermordeten Schleicher die Grundlage der im Verlaufe der Jahre nach und nach Gestalt gewinnenden Fronde bildete.46 Sie wuchs langsamer in den Jahren einer scheinbaren inneren und äußeren Beruhigung und Mäßigung, etwa von 1935 bis 1937, stärker in Zeiten der kritischen Zuspitzung der politischen Lage, oder der Verschärfung des inneren Terrors, vor allem im Herbst 1938 und unmittelbar vor und nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Da ohne aktive Beteiligung der bewaffneten Macht innerhalb des totalitären Staates an einen Regimewechsel nicht zu denken war, blieb die Entwicklung der Verschwörung dauernd von Vorgängen und personellen Entwicklungen innerhalb der Wehrmacht abhängig. Man würde hieraus aber eine falsche Folgerung ziehen, wollte man sie nur als eine im wesentlichen auf das Militär begrenzte Offiziersverschwörung ansehen. Die Haltung des Ende 1933 verabschiedeten Chefs der Heeresleitung, Freiherr von Hammerstein, mehr noch die vorsichtige politische Tätigkeit, die der spätere Generalmajor Oster, bald gemeinsam mit anderen leitenden Offizieren der Abwehr, teils unter Duldung, teils gefördert durch seinen Amtschef Canaris, seit 193 j entfaltete, bildeten wirkungsvolle Anfänge. Noch bedeutsamer wurden später die kritische und seit dem Sommer 1938 entschieden oppositionelle Haltung des Generalstabschefs Beck, dann die geschickte Personalpolitik seines Nachfolgers Halder, die ausgewählte antinationalsozialistische Generalstabsoffiziere an wichtige Kommandostellen und „ . . . ein anständiges staatsbewußtes Deutschland . . . muß in seiner Lage alle Chancen ausnutzen. Es gibt eigentlich nur noch diesen einen Kunstgriff: Entweder Rußland oder den Angloamerikanern begreiflich zu machen, daß ein erhalten bleibendes Deutschland in ihrem Interesse liegt. Tatsächlich liegt eine gesunde europäische Mitte im Interesse sowohl des Ostens wie des Westens. Ich ziehe bei diesem Mühlespiel das westliche Ziel vor, nehme aber zur N o t auch die Verständigung mit Rußland in Kauf. Trott ganz mit mir einig, die anderen aus theoretisch-moralischen Gesichtspunkten, die ich an sich verstehe, bedenklich, aber langsam sich überzeugend" (S. 262). 46

Vgl. Helmut Krausnick, Vorgeschichte

gegen Hitler:

Die Vollmacht

des Gewissens,

und Beginn

des militärischen

bes. S. 239 ff.

Widerstandes

Politischer

Widerstand

in

Deutschland

97

vor allem in die wichtigsten Abteilungen des Oberkommandos des Heeres berief, so daß außer der Abwehr und der Leitung des Wehrwirtschaftsamtes auch die Leitung wichtiger Stellen der Nachrichtenabteilung, des Generalquartiermeisteramtes, der Organisationsabteilung, der Abteilung Heerwesen, des Allgemeinen Heeresamtes beim Befehlshaber des Ersatzheeres und das Amt des Waffenchefs der Artillerie in den Händen der Verschwörer lagen. Schließlich die umsichtige Vorbereitung eines Putsches innerhalb des Heimatkriegsgebietes durch General Olbricht, den Chef des Allgemeinen Heeresamtes, seit Frühjahr 1940, die Vorbereitung und versuchte Ausführung mehrerer Führerattentate durch den ersten Generalstaboffizier und mehrere Offiziere des Stabes der Heeresgruppe Mitte seit der Jahreswende 1941/42, die Ausarbeitung des letzten Putschplanes durch Oberst v. Tresckow im Spätsommer 1943 in Berlin und dann Vorbereitung und Ausführung des entscheidenden, in die Geschichte eingegangenen Attentates durch Oberst Graf Stauffenberg, der zu dieser Zeit Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres war, alle diese Daten geben die Stationen einer militärisch organisierten und mit militärischen Mitteln operierenden Verschwörung gegen Hitler und sein Regime wieder.47 Sie dürfen indessen nicht vergessen lassen, daß zahlreiche Verbindungslinien in die zivilen Zentren des Widerstandes führten. Von der systematischen Verfolgung nicht erfaßte und von den unmittelbaren Folgen der Vorgänge der nationalsozialistischen Machtergreifung und Gleichschaltung frei gebliebene Persönlichkeiten, Kreise und Kräfte gehörten ebenso zum Widerstand wie die schütteren Reste einer Elite aus den zerstörten großen Parteien und Gewerkschaften der Weimarer Republik. Die Wehrmacht blieb vor unmittelbaren Eingriffen der Geheimen Staatspolizei lange Zeit abgesichert. Und auch führende Kreise der Wirtschaft durften sich vor ihnen einigermaßen sicher fühlen. Diese umgrenzten Prärogativen autonomer Mächte innerhalb des totalitären Systems behaupteten sich bis in die ersten Kriegs jähre. Gewiß hatten Männer wie Beck, Hassell und Goerdeler in den politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1937 bis 1938 ihre Ämter verloren. Ihren auf ihrem Amtsprestige beruhenden, freilich von zahllosen Imponderabilien bedrohten Einfluß hatten sie jedoch behalten dank des Umstandes, daß Männer ähnlicher oder gleicher Gesinnung in ähnlichen oder ver47

Neben den jüngeren Darstellungen von Krausnick und Ritter hierzu vor allem F. v. Schlabrendorff, S. 47 ff., und die zahlreichen Personalangaben bei Eberhard Zeller, Geist der Freiheit. Der zwanzigste ]uli, München o. J . 7 Fraenkel

98

Gerhard

Schulz

gleichbaren Ämtern zu finden waren. Und der Einfluß Hassells und Goerdelers wurde durch Interessenten und Institutionen im Bereiche der Wirtschaft, durch Industrielle wie Robert Bosch und Freiherr v. Wilmowsky, denen audi an der Aufrechterhaltung ausländischer Verbindungen gelegen war, verstärkt und unterstützt. Die Beziehungen der Wirtschaftler mit dem politischen Widerstand nahmen übrigens innerhalb der Nachforschungen der Gestapo einen solchen Umfang an, daß schließlich, wie aus dem überlieferten Bericht des an diesen Untersuchungen beteiligten SS-Obersturmbannführers Dr. Kiesel bekannt geworden ist, der um die Produktivität der Kriegswirtschaft besorgte Reichsminister Speer jeden Eingriff unterband, weil er von einer Verhaftungswelle schlimmste Auswirkungen befürchtete.48 Der totalitäre Staat mußte wohl oder übel die Existenz einer weitverzweigten Opposition dulden. Sein staatspolitisches Zwangssystem war nahe an das Ende seiner Möglichkeiten wie seiner inneren Widersprüche angelangt; denn eine konsequente Anwendung seiner Methoden hätte im Bereich der Wirtschaft die Grundlagen seiner Existenz zerstört. Die Zahlen der Verfolgungen und Verluste im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944, die bekannt geworden sind, sind ebenso erstaunlich wie schrecklich. Insgesamt wurden 7000 Verhaftungen vorgenommen; die Zahl der Hinrichtungen allein während der ersten Monate nach dem 20. Juli betrug nach einem Bericht der britischen Admiralität auf Grund erbeuteter deutscher Unterlagen 498 ο.49 Dem Bericht des SS-Obersturmbannführers Kiesel zufolge befanden sich 700 Offiziere unter den Hingerichteten. Die Ehrentafel der Toten des 20. Juli 1944 in der Berliner Hinrichtungsstätte verzeichnet u. a. die Namen von 18 Generälen, darunter zwei Generalfeldmarschällen, zwei Generalobersten und sechs kommandierenden Generälen, einem Admiral und aus dem Kreis der Politiker, der ehemaligen und der noch amtierenden hohen Beamten, die eines Staatspräsidenten, zweier Minister, zweier Staatssekretäre der Reichskanzlei, zweier Botschafter, eines Gesandten, eines Oberpräsidenten, zweier Regierungspräsidenten, von vier Universitätsprofessoren, des Chefrichters des Heeres, eines Reichsgerichtsrates, außerdem von vier Gewerkschaftsführern, sechs sozialdemokratischen und Zentrumspolitikern, drei katholischen Geistlichen und einem evangelischen Pfarrer. 48

SS-Bericht

über den 20. Juli.

Dr. Georg Kiesel: Nordwestdeutsche 49

SS-Bericht,

Aus den Papieren des

SS-Obersturmbannführers

Hefte, 2. J g /1947, Nr. 2, S. 31, auch S. 2 1 .

S. 33; H . Rothfels, S. 178.

Politischer Widerstand

in Deutschland

99

Im Gebiet der Bundesrepublik ist dieses Opfer, zu dem die politische Widerstandsbewegung infolge des Fehlschlages des Attentats aus unvorhergesehenen Ursachen wurde, durch eine umfangreiche Literatur gewürdigt worden. Mehr oder minder deutlich hob sie vor allem jenes Moment hervor, das Ulrich v. Hasseil am 19. August 1943 in seinem Tagebuch mit der Antwort auf „die unerhört schwierige Hauptfrage" ausdrückte, ob es nicht schon zu spät sei und ob man nicht doch die Katastrophe „ablaufen lassen" sollte: „Trotz allem ist es schon aus sittlichen Gründen für die deutsche Zukunft erforderlich, wenn auch nur irgendwelche Möglichkeit und Aussicht besteht, noch vorher den Versuch zu machen." Und er fügte eine unabhängig von allen Erfolgschancen existierende Begründung hinzu: „Vor allem wesentlich: dadurch ermöglichtes sofortiges Gerichtsverfahren gegen die Parteiverbrecher."50 Unter den unendlichen Nöten des der Katastrophe zutreibenden totalitären Staates war doch die Not des patriotischen Bewußtseins am größten, einem Volk zuzugehören, in dem Männer die Macht besaßen, die sich der schlimmsten Schandtaten schuldig gemacht hatten, die sich überhaupt nur denken lassen. Allein die entschlossene Selbsthilfe eines entschiedenen und aktiven Widerstandes konnte das zerstörte Recht wiederherstellen. In dieser Situation erlebte die Verschwörung ihren letzten und entscheidenden Auftrieb durch den 36jährigen Oberstleutnant Claus Graf Schenk v. Staufenberg. Vergeblich war von der militärischen Seite der Verschwörung versucht worden, Tresckow durch Ernennungs zum Stabschef beim Chef des Allgemeinen Heeresamtes, General Olbricht, in eine Position zu bringen, in der er in etwa den ausgefallenen Oster ersetzt hätte. Die Personalien der Generalstabsoffiziere waren Ende 1942 aus der Zuständigkeit der Zentralabteilung beim Chef des Generalstabes in die des Chefadjutanten des Führers und Oberbefehlshabers übergegangen, was in diesem Falle zur Folge hatte, daß nicht Tresckow, dem man bereits mißtraute, sondern der den Verschwörern bis dahin wenig bekannte Graf Stauifenberg in diese Stellung versetzt wurde. Von nun an wird die Tätigkeit einer neuen, beispiellos dynamischen K r a f t in den Reihen der Verschwörer spürbar. Die nach dem Herkommen und Bildungsweg des Angehörigen eines uradeligen Geschlechts, des Zöglings des esoterischen Kreises um Stefan George und des Generalstäblers in dem dreifach verwurzelten Bewußtsein einer Elitezugehörigkeit und eines verpflichtenden Auserwähltseins geprägte Persönlichkeit Graf Stauffenbergs 50



Hasseil, S. 267.

100

Gerhard

Schulz

gewann beinahe mühelos die Rolle eines wirklichen Führers der Verschwörung. Für den Zustand der durch das Auftreten Stauifenbergs unter den Verschwörern entstand, erscheint charakteristisch, daß es keine Bedenken und keinen Widerstand gegen ihn gab. Dort, wo Spannungen und Gegensätze herrschten, wurde nun der neue aktive Mann der Stunde akzeptiert, der in seiner gewinnenden, geschickten und souveränen Menschenbehandlung Vertrauen gewann und Zuversicht verbreitete und zugleich durch äußeren Charme und bezwingende Jugendlichkeit f ü r sich einnahm. Überraschend schnell baute Stauffenberg aus der größeren Fronde gegen Hitler in kühnem und sicherem Zugriff ein gänzlich neues Aktivitätszentrum, eine A r t Exekutive der Konspiration auf, ohne hierbei die Verbindung mit irgendeiner Gruppe ernsthaft aufs Spiel zu setzen. Noch vor Übernahme seiner Chefstellung, im September 1943, tauchte er überraschend in Berlin auf, wo er aus den Händen Tresckows die ausgearbeiteten Putschpläne entgegennahm und gemeinsam mit ihm und einem jungen Major in aller Verborgenheit die letzten und abschließenden Arbeiten leistete.51 Goerdeler wurde zwar nach wie vor von Generaloberst Beck gestützt, aber er mußte seine große Rolle als Geschäftsführer der Widerstandsbewegung aufgeben. Er wurde vor der Gestapo gewarnt und förmlich gedrängt, Berlin zu verlassen, 52 so daß Graf Stauffenberg in den letzten Tagen vor dem 20. Juli das Terrain nahezu allein beherrschte und nach Beratungen in dem engsten Kreise seiner Vertrauten schließlich das Attentat selbst ausführte, gegen das Goerdeler so lange Bedenken gehegt und das er später nach dem Fehlschlag der Tat Graf Stauffenbergs sogar „radikal verleugnet hat". 53 Stauffenberg wollte die „deutsche Erhebung" auslösen, nach einem von Zeller überlieferten Wort aus seinem Munde „eine große Fahrt" beginnen, die in weit tiefere Schichten reichen sollte als die „Revolutionen" von 1 9 1 8 und 1933. 5 4 Ein Autor, Gisevius, hat diese Formulierungen Zellers zu Polemiken gegen Stauffenberg, Trott zu Solz und Leber benutzt. 55 „Gisevius erzählte 51 52 53 154

Zeller, S. 1 7 5 f. Ritter, S. 408. Ritter, S. 416.

Zeller, S. 1 5 8 . Hans Bernd Gisevius, Bis zum bitteren Ende. Vom Reichstagsbrand bis zum 20. Juli 1944, Hamburg i960, S.450, mit dem schärfsten Urteil gegen Stauffenberg, Trott, Leber und die Tat vom 20. Juli: „Denn nicht die Einheit der Tat, sondern der Zwiespalt der Überlegungen bestimmte den dramatischen Ablauf dieses Schicksalstages." 55

Politischer

Widerstand

in

Deutschland

101

mir", so hören wir von Dulles, „daß Stauffenberg mit dem Gedanken spielte, eine Revolution der Arbeiter und Soldaten herbeizuführen. E r hoffte, die Rote Armee würde ein nach dem russischen Muster organisiertes Deutschland unterstützen." 56 Das heißt doch wohl nichts anderes, als daß Gisevius Dulles vor Graf Stauffenberg und seinen Gefährten warnte. Daß Stauffenberg eigene politische Pläne in seine Position als Motor und als K o p f der Verschwörung mitbrachte, darf gewiß als sicher gelten. Auch lassen sich Zeugnisse dafür anführen, daß er in Anbetracht der rapiden Verschlechterung der politischen und militärischen Lage Deutschlands im Sommer 1944 und der zunehmenden Tätigkeit kommunistischer Zellen die alte Konzeption aufzugeben bereit war, die darauf hinauslief, nach Beseitigung Hitlers eine sich nur allmählich, Schritt f ü r Schritt lockernde Militärdiktatur mit halbziviler Spitze aufzurichten. In dieser Lage scheint es ihm darum zu tun gewesen zu sein, den politischen Widerstand zu einer Volksbewegung auszuweiten, um dem Regimewechsel an der Spitze die revolutionäre Legitimation einer von zuverlässigen Kadern ausgelösten und gesteuerten Volkserhebung zu sichern. Die Wege, die er einschlug, waren andere als die, die der im Kreise seiner bürgerlichen Vorstellungswelt befangene Goerdeler gewählt hatte. Durch die Einschaltung neuer Kreise der nunmehr rasch wachsenden Untergrundbewegung, die auch die erneute Aktivierung schon früherer gelegentlicher Verbindungen zu kommunistischen Gruppen 57 einschloß, 56

Dulles, S. 238. Über Verbindungen mit Beppo Römer 1 9 4 1 , den Nikolaus v. Halem als Attentäter gewonnen und dem er eine Scheinstellung verschafft hatte, Schlabrendorff, S. 95 f. Römer, Hauptmann des ersten Weltkriegs, einer der Führer des Freikorps Oberland, hatte schon zur Zeit der oberschlesischen Kämpfe ein bemerkenswert gutes Verhältnis zu den Kommunisten. 1 9 2 3 Schloß er sich nicht wie der größte Teil seiner ehemaligen Freikorpsangehörigen Hitler und Röhm an, sondern ging er seine eigenen Wege, die ihn später zur K P D führten. Zunächst gründete er den Bund „Alt-Oberland". 1 9 3 1 beteiligte er sich an dem von Graf Alexander Stenbock-Fermoor gegründeten Scheringer-Komitee, das Männer wie Ludwig Renn, Lion Feuchtwanger, Frank Thieß, Friedrich Hielscher, Ernst Glaeser, Claus Heim, Bruno v. Salomon und Bodo Uhse vereinigte. 1 9 3 2 redigierte er den kommunistischen „Aufbruch", ein „Kampfblatt im Sinne Scheringers, geschrieben von ehemaligen Offizieren und nationalen Aktivisten". Vgl. jetzt Otto Ernst Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart i960, S. 92 ff., 298 ff., 427. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde R. für längere Zeit in ein Konzentrationslager verbracht. Wieder freigelassen, gründete er die illegale Organisation R A S („Revolutionäre Arbeiter und Soldaten") und stand wiederholt in Beziehung zu kommunistischen Widerstandszellen, seit 1 9 4 1 in Verbindung mit Robert 57

102

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Schulz

wurde freilich eine Richtung eingeschlagen, deren Endpunkt sich kaum in vollem Maße voraussehen ließ. Dieser Entschluß war gewiß ein Akt der Vorsorge zur Selbstbehauptung; denn die militärische Lage an den Fronten, namentlich an dem seit Juni unter einer schweren Krise leidenden mittleren Ostabschnitt war inzwischen vollkommen unsicher geworden. Überdies ließ die allgemein bekannt gewordene Tätigkeit des Nationalkomitees Freies Deutschland in Rußland, dem auch in der Schweiz — dort um den ehemaligen Staatssekretär im preußischen Innenministerium Abegg und den Schauspieler Wolfgang Langhoff gruppiert58 — und sogar in Mexiko ähnliche Komitees gleichen Namens zur Seite traten, den Eindrudk. entstehen, daß nunmehr von Moskau aus eine Politik der Sammlung nationaler, auf die Beseitigung der nationalsozialistischen Herrschaft ausgehender Kräfte in die Wege geleitet wurde. Die Westmächte gerieten daher mit dem immer wieder hervorgekehrten Grundsatz, daß für Deutschland nur ein Friedensschluß mit allen Alliierten möglich sei, diplomatisch in Verzug. Der Drude der sich überstürzenden Ereignisse an der Front und der sich verengende Spielraum für eigenes Handeln machen den zweiseitigen Kampf der Gruppe um Stauifenberg verständlich. Allen Dulles gibt den Wortlaut eines im April 1944 von Trott veranlaßten Memorandums von Schultze-Gaevernitz an ihn wieder, das einen sehr deutlichen Bericht über die Lage der Widerstandsbewegung enthält und mit den Sätzen Uhrig, dem Urheber illegaler kommunistischer Organisationen in den Berliner Betrieben. Bis zu seiner erneuten Verhaftung Anfang 1 9 4 2 bildete R. mit Uhrig und Budeus

den Dreier-Führungskopf

einer

Organisationen. Vgl. Nitzsche, Die A.Schmidt, Damit Erinnerungen

Deutschland

der wichtigsten

illegalen

Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe,

kommunistischen S. 29;

lebe, S. 405 fr.; Harald Pölchau, Die letzten

eines Gefängnis-Pfarrers,

Walter Stunden.

Berlin (Ost) 1949. In diese Zeit fällt die V e r -

bindung zu Nikolaus v. Halem. — Römers Aussagen in der Gestapo-Haft hatten zahlreiche Verhaftungen in der kommunistischen Untergrundbewegung zur Folge, die zu mehr als 80 Todesurteilen führten. Sie führten aber auch zur Verhaftung und späteren Hinrichtung Haiems und Mumm v. Schwarzensteins und lenkten den Verdacht der Gestapo auf Frh. v. Guttenberg von der Abwehr. Als Guttenberg dann aus einem nebensächlichen Anlaß heraus verhaftet wurde und ihn Oster zu decken versuchte, ließ sich auch der Sturz des Generals nicht mehr aufhalten. 58

Die veröffentlichten Zeugnisse über die Tätigkeit dieses Komitees sind gering

an Zahl. Über Grundsätze, Ziele und leitende Persönlichkeiten unterrichtet die vom Zentralvorstand in Zürich herausgegebene Broschüre: Die land, gegründet

im August

1943,

sprache von Wolfgang Langhoff, Die Zürich/New York 1 9 4 5 .

Bewegung

Freies

Deutsch-

vom Juli 1 9 4 5 ; ferner die im Drude erschienene A n Bewegung

Freies

Deutschland

und ihre

Ziele,

Politischer Widerstand in Deutschland

103

beginnt: „Es gibt in Deutschland ein kommunistisches Zentralkomitee, das die kommunistische Tätigkeit in Deutschland leitet und zusammenfaßt. Dieses Komitee steht in Verbindung mit dem ,Nationalkomitee Freies Deutschland' in Moskau und wird von der russischen Regierung unterstützt . . . Von Rußland kommen dauernd konstruktive Ideen und Pläne für den Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege. Diese Pläne und Ideen werden von den Kommunisten vor allem durch gut organisierte Flüsterkampagnen im deutschen Volk verbreitet. Im Vergleich dazu haben die demokratischen Länder der Zukunft von Zentraleuropa nichts zu bieten."59 Gerhard Ritter hat die treffende Situationscharakterisierung durch Trott hervorgehoben.60 Daß die Verschwörung durch die Entwicklung der inneren wie der äußeren Lage immer mehr aus einer grundsätzlich prowestlichen Haltung in eine ihr keineswegs willkommene Alternative zwischen Washington-London und Moskau hineingedrängt wurde, hatte schließlich auch Hassell erkannt, der im Austausch mit Trott stand. Unter diesen Umständen kann Trotts Botschaft an Dulles vom April 1944 nur als Mahnung aufgefaßt werden. Sie war nicht als Absage an den Westen, sondern als dringende Warnung angesichts der russischen Erfolge aufzufassen, als Hinweis auf die politische Bedeutung, die Deutschland, namentlich der deutschen Arbeiterschaft, im Falle eines Auseinandergehens der westlichen und des östlichen Alliierten zukommen müsse. Eine andere Stelle dieses Dokuments lautet: „Die deutschen Sozialistenführer betonen, daß es höchst wichtig ist, dieses Vakuum so schnell wie möglich auszufüllen, um dem sich immer mehr verstärkenden kommunistischen Einfluß entgegenzuwirken. Das Abgleiten der extremen Linken hat verblüffende Ausmaße angenommen und wächst ständig an Bedeutung. Wenn es so weiter geht, so müssen die deutschen Arbeiterführer befürchten, daß die Demokraten den Frieden verlieren werden, selbst wenn sie audi einen militärischen Sieg erringen, und daß die augenblicklich in Zentraleuropa vorhandene Diktatur nur gegen eine neue vertauscht werden wird." Es ging jetzt allein darum, wie Dulles schreibt, „die deutschen arbeitenden Klassen für eine gemäßigte und geordnete Wiederaufbaupolitik zu gewinnen . . . " Die Wünsche, die Trott im Namen der „deutschen Arbeiterführer" erhob, waren gewiß bescheiden. Sie verlangten einige allgemeine Erklärungen, die die künftige Selbstorganisa59

Dulles, S. 1 8 5 ; vgl. auch Zeller, S. 1 9 3 f. u. 3 4 9 f . ; quellenkritisdi hierzu Ritter,

S. 546. 60

Ritter, S. 3 8 2 .

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Schulz

tion der deutschen Arbeiterschaft, eine Garantie für eine künftige Selbstregierung Deutschlands und die sofortige Aussparung dicht besiedelter Zonen aus den Zielgebieten alliierter Bombardements betrafen. Der entscheidende Satz dieser Mitteilung dürfte dieser sein: „Dem engen Kontakt, der zwischen den deutschen Kommunisten und Rußland besteht, sollte ein ebenso lebhafter Kontakt zwischen der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung und den fortschrittlichen Mächten des Westens die Waage halten. Ein lebhafter Gedankenaustausch sollte begonnen werden." 61 Es bleibt zweifelhaft, ob dieses Memorandum maßgeblichen westalliierten Stellen vorgelegen hat. Den Gang der alliierten Vergeltung hat es jedenfalls nicht beeinflußt. Nach der alliierten Landung in Frankreich und nach einem schweren Zusammenstoß mit Goerdeler entschlossen sich Leber und Reichwein, die schon im Oktober 1943, also zur Zeit des drohenden Zerfalls der Verschwörung, mit illegalen kommunistischen Führern zusammengetroffen waren, zur entscheidenden Zusammenkunft mit dem geheimen kommunistischen Zentralkomitee am 22. Juni. Sie führte zu der Vereinbarung, daß in die künftige Regierung auch Kommunisten aufzunehmen seien. Man verabredete ein weiteres Treffen mit den kommunistischen Führern Saefkow und Jacob f ü r den 4. Juli, an dem audi Graf Stauffenberg teilnehmen sollte. Doch an diesem Tage verhaftete die Gestapo Reichwein, am nächsten Leber und eine große Anzahl von Kommunisten, darunter die beiden Führer. 62 Einige Tage später begann Goerdeler seine wochenlange Flucht durch Deutschland, um einer bevorstehenden Verhaftung zu entgehen. Jetzt blieb nur noch eine rasche und entschlossene Tat möglich, wenn die Widerstandsbewegung nicht ihren endgültigen Zerfall riskieren wollte — unter dem Druck der Verhältnisse, ohne ausreichende Zeitwahl und ohne Rücksicht auf sichere Erfolgschancen. Die Frage lautete nicht 61

Dulles, S. 1 8 6 f.

62

Ritter, S. 3 9 2 ; eingehend auch Emil H e n k , Die Tragödie

zur politischen

Vorgeschichte,

Walter A . Schmidt, Damit

des 20. Juli. Ein

Beitrag

z. erw. A u f l . Heidelberg 1 9 4 6 ; von ostdeutscher Seite

Deutschland

lebe,

S. 4 1 5 ; und Nitzsche, S. 69. D o r t w i r d

der Beginn einer Verbindung „führender Berliner Sozialdemokraten" zu kommunistisdien Kreisen schon auf Oktober 1 9 4 3 angesetzt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hiermit der A n f a n g der Beziehungen Lebers und Reichweins zu den illegalen Kommunisten gemeint ist. Seit dieser Zeit datiert auch beider Entschiedenheit

zum Handeln

in

Verbindung mit G r a f Sauffenberg, das im Gegensatz zur H a l t u n g des Kreisauer Kreises stand. Im übrigen fällt auf, w i e sehr die von T r o t t und Dulles übermittelte und vermutlich mit Leber abgesprochene Schilderung der Entwicklung unter der Arbeiterbevölkerung und den Fremdarbeitern mit der Darstellung bei Nitzsche übereinstimmt.

Politischer Widerstand in Deutschland

105

mehr, wer bei der Entscheidung über Zeitpunkt und Durchführung des Staatsstreiches den Ausschlag geben würde, Goerdeler oder Graf Stauifenberg, sondern allein noch: wie Stauffenberg, der alle Fäden in seiner Hand zusammengezogen und mit seinem kleinen Stabe allein noch zu entscheiden und gleichzeitig zu handeln vermochte, das Attentat ausführen und die Erhebung der beteiligten Militärs gleichzeitig auslösen sollte. Eine Rollenverteilung unter zuverlässig eingespielten Mitverschworenen fand nicht mehr statt. So löste denn die Tat des 20. Juli, in unmittelbarer Nähe eines greifbaren Erfolges, eine Folge mangelhafter, schlecht vorbereiteter Abläufe aus, die in einem völligen Fehlschlag endeten. VIII Unmittelbar nach Bekanntwerden des Attentats hegte man sowohl auf russischer Seite wie im Nationalkomitee Freies Deutschland übertriebene Hoffnungen auf den Ausgang des Aufstandsversuches. Doch nachdem der Fehlschlag offenkundig geworden war, blieben auch die Stimmen unter den Kommunisten nicht aus, die über dieses Ergebnis frohlockten. Fern vom Hauche der Ereignisse wurde nun die Interpretation gefunden, eine ideologisch dirigierte Version, die die Verurteilung der gescheiterten Handelnden selbstverständlich machte. Die nichtkommunistische Widerstandsbewegung w a r gleichgültig, ja schädlich geworden, da sie um ein H a a r dem nunmehr weit höher gesteckten Ziele des Endsieges der Roten Armee zuvorgekommen wäre. N u r ein einziger Widerstand wird anerkannt: die mit unbeirrbarer Konsequenz festgehaltene, in ihren offenen und illegalen Formen vertretene und verteidigte Kontinuität der kommunistischen politischen Aktion. Diese Betrachtungsweise kennt kein Gegenüber oder Gegeneinander von totalitärer und nichttotalitärer Welt, im Grunde auch kein Gegenüber von nationalsozialistischem und nichtnationalsozialistischem Deutschland, sondern nur Klassenkampf und „Faschismus", der hier zum Komplexbegriff f ü r das Endstadium der nichtkommunistischen Gesellschaft in Deutschland wird. Ihm steht die Darstellung und Deutung der teils von ausländischen Plätzen gesteuerten, teils in der Sowjetunion organisierten Kampfes der illegalen K P D gegenüber, der kommunistischen Untergrundkaders und schließlich auch des Nationalkomitees Freies Deutschland gegen den Staat der nationalsozialistischen Diktatur. Für diesen Kampf werden alle Attribute des nationalen Willens, der nationalen Selbsterhaltung, der Freiheit, der Demokratie und der liberalen Welt in Anspruch genommen.

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In der Tat bewies die aus der Legalität verdrängte und zum Widerstand entschlossene K P D in der Emigration einen klaren Blick für ihre Chance, sich mit Hilfe der Volksfrontidee auf der sogenannten „nationalen Plattform" zur führenden und entscheidenden K r a f t innerhalb jedes Widerstandes gegen den nationalsozialistischen Totalstaat zu erklären. Ihre schwungvoll-pathetischen Kundgebungen klingen auch heute noch wie verheißungsvolle Programme einer neuen, befreienden Macht; und manche ihrer Parolen erinnern von Ferne an die brisante K r a f t des Kommunistischen Manifests. Während eine an Umfang und theoretischem Gehalt zunehmende Literatur die Wege der sozialdemokratischen Führer in der Emigration säumte und von einer bis in letzte Tiefen, aber audi in die Unsicherheiten des politischen Selbstbewußtseins hineintauchenden Diskussion Zeugnis ablegte, während im Lande selbst nur sehr vorsichtig erst in kleinen Zirkeln kritische Gedanken über das totalitäre System des nationalsozialistischen Staates Platz zu greifen begannen und sich einzelne kirchliche Gruppen zur entschlossenen Verteidigung der Freiheit des Glaubens und des Bekenntnisses entschlossen, künden bereits die kommunistischen Programme von einem zum äußersten entschlossenen Aktivismus, der die Entscheidung zum Sturze des Regimes in die Bevölkerung Deutschlands hineinzutragen versuchte. „Zögern wir nicht länger! Tragen wir gemeinsam die großen Losungen des antifaschistischen Kampfes durch das Land!", heißt es in dem Aufruf der Brüsseler Reichskonferenz der K P D „An das werktätige deutsche V o l k " vom Oktober 1935. Was mit „Erhaltung des Friedens", „Wiederherstellung der demokratischen Volksfreiheiten" und „Volksfront gegen die Hitlerdiktatur" einstweilen noch etwas undeutlich umrissen wurde, suchte dieBerner Reichskonf erenz von 1939 am Vorabend des die Verhältnisse vorübergehend umkehrenden HitlerStalin-Paktes mit antifaschistischer demokratischer Programmatik auszufüllen. Forderungen wie die nach Aufhebung aller „volksfeindlichen Gesetze", Wiederherstellung aller persönlichen und politischen Freiheiten für alle Bürger ohne Unterschied der Herkunft, des Standes, der Rasse und der Religion, nach Glaubens- und Gewissensfreiheit, Organisations-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Lehre, der Forschung und der künstlerischen Gestaltung sowie Garantie des freien, gleichen und direkten Wahlrechts und nicht zuletzt der bekundete Wille, mit allen Gegnern des Nationalsozialismus gemeinsam den Kampf für Rechte und Freiheiten des deutschen Volkes in einer künftigen Republik zu führen, mußten geeignet erscheinen, als ein allgemeines Kampfprogramm gegen den totalitären Staat zu dienen. Womöglich noch stärker trat diese Ten-

Politischer Widerstand

in Deutschland

107

denz einige Jahre später in dem Aktionsprogramm des keineswegs ausschließlich von Kommunisten gegründeten Nationalkomitees Freies Deutschland von 1943 hervor, das eine Reihe von Prinzipien enthielt, die so oder ähnlich auch von Politikern anderer Richtungen ohne Bedenken unterschrieben werden konnten und audi formuliert worden sind. Man wird nicht an der Tatsache vorbeigehen dürfen, daß den feierlichen Proklamationen und Manifesten des von Kommunisten dirigierten Widerstandskampfes die Merkmale eines demokratischen Grundrechtskatalogs anhaften. Ihren Wortlaut könnte man in der Tat, käme es nur auf die Worte an, ein „nationales Rettungsprogramm" nennen. Man wird allerdings von keinem Programm irgendeiner der Widerstandsgruppen gegen den Nationalsozialismus sagen können, daß es weniger verpflichtende K r a f t enthielt als die kommunistischen Erklärungen. In der Zeit, da die brutale Gewalt der herrschenden Macht jedwede legale politische Opposition ausschloß, galt auch hier die Berufung auf allgemeine Menschen- und Bürgerrechte als der Weisheit letzter Schluß. Doch nirgendwo wurde schneller und bereitwilliger auf der ganzen Linie Verrat am papiernen Bekenntnis geübt als in diesem Sektor des Widerstandes nach der Eroberung der Macht im östlichen Teile Deutschlands mit Hilfe der sowjetischen Besatzungstruppen. So konnte das Paradoxon Wirklichkeit werden, daß das freiheitlichste und demokratischste Programm einer Widerstandsgruppe und die ungestörte Kontinuität totalitärer Herrschaft mit zeitweiliger Anwendung neuer Zwangsmittel in unmittelbarem Zusammenhang stehen. IX Es ist gewiß nicht möglich, den Begriff des totalitären Systems in gleicher Weise auf das Deutschland der nationalsozialistischen Zeit wie auf den Teil Deutschlands anzuwenden, in dem die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands eine bis auf den heutigen Tag mit äußerer Hilfe gefestigte, im Innern jedoch als Unterdrückung empfundene und erlebte Herrschaft ausübt. Sobald man von der äußeren Ähnlichkeit der Effekte, der unübersehbaren Vernichtung an menschlichen Werten und an Besitztümern absieht, bleiben Unterscheidungen am Platze. Ein System, das planmäßige Menschenvernichtungen in seine Herrschaftspraxis einbezieht, ist nicht dasselbe wie ein System, das sich auf eine planmäßige und gewaltsame Umwälzung der Gesellschaftsordnung richtet, um eine oligarchische Herrschaft dauernd zu begründen. Folgerungen in bezug

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auf die Möglichkeiten des politischen Widerstandes lassen sich daher nicht aus einem einfachen Verweis auf die Formen, die aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bekannt sind, entwickeln. Wer nach Vergleichbarem sucht, entdeckt zunächst vor allem Differenzen. Die offenkundig wichtigsten seien hier hervorgehoben: Bevorzugte Ansatz- und Ausgangspunkte des politischen Widerstandes im nationalsozialistischen Totalstaat waren die Amts- bzw. Kommandobefugnisse hoher Beamter und Offiziere, gepaart mit den persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, die eine konspirative Organisation voraussetzt. Die Voraussetzungen lagen in der Existenz und dem Standesprestige sozialer Restgruppen, das innerhalb gewisser Grenzen auch im totalitären Staat die Pflege als verbindlich empfundener Vorstellungen und Werte eines aristokratischen Milieus oder einer gehobenen bürgerlichen Gesellschaft erlaubte und das auch nach dem Amtsverlust Rang und Einfluß behauptete. Es gab also Stufen und Kreise einer „NichtGleichschaltung". Der totalitäre Staat neigt dazu, den aus hoher Stellung Entfernten zu diskriminieren, um seinen Einfluß zu bringen oder ihn zu isolieren oder gar zu töten. Im allgemeinen geht es in ihm nicht wie im Rechtsstaat zu, der dem politischen Beamten aus politischen Gründen einen ehrenvollen Abschied gewährt. Es liegt aber auf der Hand, daß dies eben gerade dort, wo eine differenzierte hierarchische Ordnung oder zumindest in erheblichen Restbeständen lebendige Ordnung nicht mehr existiert und eine auf ein vollkommenes soziales Nivellement gerichtete Staats- und Gesellschaftsumwälzung im Gange ist, ungleich leichter geschieht, da hier eine Zerstörung des sozialen Persönlichkeitsprestiges annähernd unproblematisch ist, weil es sich nicht mehr auf standesartige oder gruppenmäßige Sonderungen gründet, die längst der Auflösung anheimgefallen sind. Das entscheidende Kriterium des historischen politischen Widerstandes bleibt jedoch, daß er nicht nur an Gewesenes anzuknüpfen oder Gewesenes wiederherzustellen suchte. Gewiß wollte er auch dies in einem gewissen Umfange erreichen; doch jede der beteiligten Gruppen wollte zugleich auch mehr. Die Erfahrungen der totalitären Periode hatten nahezu jeden der zur Tat Entschlossenen wesentlich verändert. Die Diskussionen kreisten um die Zukunft, um das Kommende, nicht nur um die Realität, sondern auch um die Utopie, die zeigen soll, „was gerecht sei".63 Der Widerstand der Kirchen und seine belebenden Wirkungen auf den poli63

So ein Ausspruch v o n Popitz in der Mitrwochsgesellschaft am 2. Juni 1 9 4 3 .

Politischer

Widerstand

in

Deutschland

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tischen Widerstand sind keineswegs Zufall. Sie bezeugen Ausformung und Aufbruch einer geistigen Bewegung der Opposition, die unter dem Druck der Strukturen totalitärer Staatsorganisation schlechthin nur Widerstand sein konnte, auch wenn ihm noch keine politische Absicht zugrunde lag. Doch der geistige Aufbruch blieb keineswegs auf Kirchen und kleinere weltanschauliche Gruppenbildungen beschränkt. Er charakterisiert auch die Verschwörung innerhalb des politischen Widerstandes. Zwischen Verrat und politischem Widerstand erscheinen die Ubergänge und Nuancen mannigfach und fürs erste scheinbar schwankend. Doch wir sind imstande zu ordnen und zu werten, solange es eine Trennungslinie gibt, die uns zeigt, was rechtens ist. Widerstand gegen die bedrückende, totale Gewalt der systematischen Inhumanität, das Streben nach Selbsterlösung vom Druck des immer wieder und unaufhörlich Erlebten ist Recht. Doch Verrat, wenn er wirklich bloß gemeiner Verrat ist, bleibt nach unserem Dafürhalten Unrecht audi im X X . Jahrhundert. Das Gemeinsame des gesamten Widerstandes ist die entschlossene und vollkommene Abkehr von den Grundlagen der unter totalitärer Herrschaft stehenden politischen und sozialen Gegebenheiten, wenn auch mit ständigem Blick auf die außenpolitische bzw. die militärische Entwicklung, ja sogar in der starken Hoffnung auf ausländische Unterstützung und die mögliche Antizipation einer denkbaren politischen Neuformation, teilweise bis zur Stärke einer „Revolution" im ideellen Sinne. Das Erfülltsein des einzelnen vom Bewußtsein des Rechtes seiner Sache gegen den totalitären Staat verleiht ihr die höhere Gültigkeit. Es ist nicht zu bestreiten, daß sich hierbei teilweise in einer für manchen Betrachter gewiß überraschenden Weise das Verharren in überlieferten Vorstellungsweisen und Wertungen als Urteilsmodus bewährte, der heraufdämmernde Gefahren zu begreifen und ihnen zu begegnen erlaubte. Der Begriff der Kollaboration als Gegensatz zu dem der Resistance ist, auf dieses wie auf jedes andere totalitäre System bezogen, hinfällig und nichtig, sofern beide nicht im Nachhinein von Grund auf einander entgegenstehende, sich aus einer vergangenen totalitären Periode herleitende Parteiungen fixieren wollen. Im ausgebildeten totalitären System ist ein jeder in irgendeiner Weise einmal Kollaborateur. Das System, das alles und jeden erfaßt und einordnet, gibt jedem, der nicht zum Außenseiter der Gesellschaft werden will, einen Stellenwert. Lediglich Gradunterschiede können bestehen. Unter totalitärer Herrschaft trägt ein jeder in irgendeiner Form dazu bei, daß das Regime existiert, sofern es sich nicht um die Ausgeschlossenen handelt, die der Staat bekämpft oder ver-

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nichtet. Unter den Ausgeschlossenen können dann wohl zwei Gruppen entstehen: jene, die ihr Schicksal in irgendeiner Form widerspruchslos zu ertragen versuchen oder aus dieser Kategorie hinaus- und wieder in die totalitäre Gesellschaft zurückstreben, und jene, die den Kampf mit dem totalitären Staat aufnehmen. Da sie ausgeschlossen sind, bestehen für sie nur beschränkte Möglichkeiten, einen solchen Kampf mit einer auch nur vagen Aussicht auf Erfolg zu führen. Wie diese Voraussetzungen beschaffen sind, ist wohl von der Individualität des totalitären Systems abhängig. Doch das Prinzip ist letztlich gleichermaßen erkennbar. Der Widerstand gegen das totalitäre Regime scheint sich, nach dem, was bekannt ist, in zwei Formen abzuspielen, die für zwei verschiedene Gruppen in Betracht kommen: Persönlichkeiten, die größeren Einfluß in der Hierarchie der Funktionen ausüben, welche das System geschaffen hat, können Intentionen abwandeln oder gar aufheben. Sie mögen manipulieren, wirkliche Effekte und beabsichtigte Ziele von Maßnahmen voneinander trennen und ihre Ubereinstimmung verhindern. Je höher sie in der Hierarchie von Funktionen stehen, desto schwieriger wird es sein, in ihrer Tätigkeit Widerstand und Fraktionssinn — „Fraktionismus", wie der neuerdings aufgekommene Ausdruck einer totalitären Partei lautet — zu unterscheiden. Dieser Umstand hat einige Verwirrung in die Historie der deutschen Widerstandsbewegung in der Zeit des Nationalsozialismus hineingetragen; und er wird aller Voraussicht nach auch in Zukunft Unklarheiten verursachen. Die Masse der Bevölkerung wird nichts anderes tun können, als die Summe ihrer Tätigkeit, die letztlich Mitwirkung an der Aufrechterhaltung totalitärer Herrschaft ist, auf das geringste Maß des für den einzelnen Notwendigen zu beschränken, soweit er sich auf diese Weise nicht der Gefahr aussetzt, als eminenter Sonderfall, als „Saboteur" oder „Diversant" entdeckt, verurteilt und ausgesondert zu werden. Doch auch dies verlangt bewußte Entsagungen: Verzicht auf Aufstieg, Verzicht auf Beförderung, Verzicht auf Karriere, Verzicht auf Freizeit, ja vielleicht sogar auf ausreichende Ernährung und Kleidung. Die Skala der Versuchungen, die sich jedem Menschen im täglichen Leben darbieten, ist ungeheuer groß und ergreift von den natürlichen und selbstverständlichen Veranlagungen Besitz. Sie bemächtigt sich sogar einzelner Tugenden, die sie freilich entwertet und in einer dem totalitären Regime nutzbaren Weise umwandelt. All dies ist nur durch Kraft und Stärke menschlicher Haltungen aufzufangen, die doch wohl einer religiösen Profundität bedürfen, um dauernd wirksam und der Größe des Vorhabens gewachsen zu sein und

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in

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angesichts derer der einzelne letztlich mit sich allein ist. Eben aus diesem Grunde werden die Kirchen als Mächte, die solche Haltungen bewirken oder doch vorbereiten können, von jedem totalitären Regime bekämpft werden, soweit sie sich nicht ihrer Autonomie entledigen und sich ihm unterwerfen. Umgekehrt kann man an diesem Kampf gegen die Kirchen den Grad der Perfektionierung des Totalitarismus ablesen. Er bekämpft sie nicht als Mächte des politischen Widerstandes, die sie selten oder gar nicht oder nur in höchst unzureichender Weise sind, sondern als Institutionen, die Macht haben über menschliche Seelen und sie zu stärken vermögen, bis sie reif werden zum Widerstand, der in seiner letzten und stärksten Form immer politische Qualität besitzen wird. Man muß die gesamte Sozialstruktur einer totalitären Herrschaft erfassen, um die Möglichkeit der Entsagungen, die Wirkungen und Tragweiten des Widerstandes und um seine Grenzen, kurz: um den denkbaren Aufwand und den möglichen Effekt ermessen zu können. Es wird schlechthin eine neue Theorie erforderlich, die wohl vieles von einer negativen Staatslehre an sich haben könnte. Die Erfahrungen der Vergangenheit in den Jahren des Nationalsozialismus und die fortgesetzte Konfrontation mit der Existenz eines totalitären Regimes und seines Rückhaltes im angrenzenden Weltteil totalitärer Systeme werden, so scheint es, sich weder im Rahmen vor Vorstellungen einer herkömmlichen bürgerlichen Moral noch mit Hilfe doktrinärer Begriffe bewältigen lassen. Sie fordern aber auch einen neuen politischen Habitus des Menschen in der Mitte Zentraleuropas. X Man wird nicht folgern können, daß die Chancen eines Widerstandes innerhalb des totalitären Staates nach unserer bisherigen Einsicht künftig sonderlich groß sein werden. Die vom Totalitarismus jedweder Prägung freie Welt wird sich daher in erster Linie mit dem Gedanken zu befassen haben, wie dem Totalitarismus in seinem Vordringen und seinen Anfängen Widerstand zu leisten sei. In diesem Zusammenhang gesehen, war es letztlich ein Ereignis von weltgeschichtlich epochaler Bedeutung, daß in der Stadt des nationalsozialistischen Reichsparteitages der Internationale Militärgerichtshof der alliierten Besatzungsmächte zusammentrat und in den wesentlichen Normen, die den Prinzipien seiner Anklage zugrunde lagen, einer völkerrechtlichen Rechtsidee in fundamentaler Weise zur Geltung verhalf. Es wäre eine hoch einzuschätzende Leistung

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Gerhard

Schulz

der Rechtsidee, wenn in jedem Falle von Grund auf verurteilungswürdiger Taten in der großen Politik eine gleiche Schärfe des juristischen Urteils walten würde. Doch dies bleibt einstweilen Utopie. Der völkerrechtliche Rechtsschutz ist in ersten Anfängen begriffen; und man wird die Anfänge trotz der Organisation der Vereinten Nationen und wegen der ihr zugrunde liegenden, aus der Praxis der auswärtigen Beziehungen entstandenen Konzeption, totalitäre und parlamentarischrepräsentative Staaten miteinander zu vereinigen, nicht überschätzen, jedenfalls nicht die Hoffnungen auf sie beschränken dürfen. Die Bereitschaft zum aktiven Widerstand gegen jede Bedrohung liberaler Rechte und Freiheiten wird nach wie vor das gravierende Moment zugunsten ihrer Erhaltung und Behauptung sein müssen. Sie ist jederzeit belangvoll und entscheidend, weil nirgends auf der Welt ein völlig intakter „idealtypischer" Rechts- und Verfassungsstaat existiert und offenbar liberale und totalitäre Tendenzen und jeweils in nach der einen oder anderen Seite überwiegenden Mischungsverhältnissen auftreten, so daß die Problematik des Widerstandes gegen den Totalitarismus in der Welt, in der wir leben, keineswegs nur auf den Kampf gegen die erklärten totalitären Systeme beschränkt werden darf. Schwierigkeiten besonderer Art bieten allerdings die Verhältnisse in Ostdeutschland. Ein auf den Trümmern eines vernichteten totalitären Systems errichteter totalitärer Staat weiß sich in größerem Maße vor dem Rückgriff auf älteres Recht sicher, wenn auch nicht vor dem Anspruch auf allgemeine Menschenrechte, sobald und solange diese in der umgebenden Welt in einer weithin überzeugenden Weise geltend gemacht werden. Daher sind Recht und soziale Ordnung der umgebenden Staaten in besonderer Weise der kritischen Prüfung ausgesetzt. Sie müssen im ideellen Sinne nicht nur für die Zwecke ihrer eigenen Staaten ausreichen; sie müssen auch den Blick der Menschen aus dem totalitären Bereich aushalten und — in welcher Form auch immer — dem Widerstand Anhalt, Anregung und Auftrieb geben im Sinne einer moralischen Festigung und einer Lockerung oder gar Auflösung des totalitären Konformismus. Auch das totalitäre System vermag nicht ohne Rücksicht auf die Bevölkerung, nicht ohne die zuverlässigen Dienstverrichtungen des Heeres großer und kleiner Funktionäre und der Massen des innerhalb seines Wirtschaftsprozesses Tätigen zu existieren. Aus diesem Grund sucht es politischen Konformismus und soziale Konformität mit allen nur erdenklichen Mitteln zu sichern, zu festigen und fortgesetzt zu kontrollieren. Auch in dieser Hinsicht gibt es einen technischen „Fortschritt" und gibt

Politischer Widerstand

in Deutschland

113

es Perfektionierung. Solchen Zwecken dient der umfangreiche Apparat politischer Agitation und allgemeiner Propaganda, dienen von Zeit zu Zeit veranstaltete pseudoplebiszitäre Demonstrationen, die die erdrükkende Ubermacht der einheitlichen Volksmeinung dartun sollen; und diesem Zweck dienen die vielschichtigen Kontrollen jeder einzelnen Person von der organisierten heimlichen Beobachtung bis zur individuellen Beobachtung und zwangsweisen Eliminierung aus dem sozialen Zusammenhang. Nichtsdestoweniger bleibt die Entstehung autonomer Kreise innerhalb der total konformistischen Gesellschaft, bleibt ihre innere A u f spaltung eine zwar grundsätzlich vorsorglich, aber nicht immer konkret zuverlässig vermiedene Gefahr, die selbst das totalitäre Regiment dazu bringt, den Anschein einer pseudolegitimen Motivation seiner Maßnahmen und Direktiven sorgsam aufrechtzuerhalten und f ü r sukzessive, planmäßig vorbereitete Entwicklungen Sorge zu tragen. Denn jeder Bruch, jede überraschende Wendung kann kritische Erscheinungen heraufbeschwören, die kontrollierte Konformität unsicher machen oder gar zerstören und womöglich nur noch die rücksichtslose Anwendung der Machtmittel als einzigen Ausweg übrig lassen. Auf lange Sicht werden sich diese Gefährdungen der totalitären Herrschaft vielleicht durch Beschränkung der Bildungs- und Informationsmöglichkeiten und durch Regie und planmäßige Direktion der Erziehung von vornherein begrenzen und beschränken, wenn nicht sogar einmal gänzlich ausschalten lassen. Doch die unmittelbare Gewaltanwendung bleibt auch f ü r das totalitäre System, auf die Dauer gesehen, eine ultima ratio, die angesichts der latenten Drohung fraktionsartiger Aufspaltungen in der diktatorischen Staatsspitze zweckmäßigerweise auf begrenzte, übersichtliche Objekte und auf kurze Zeitabschnitte beschränkt wird. Nach der Distanzierung Jugoslawiens vom sogenannten Ostblock der totalitären Staaten, nach dem Tode Stalins und dem vorläufigen Ende der Einmann-Diktatur im Kreml, seit dem 17. Juni 1953 in Ostdeutschland, den Posener Ereignissen und vor allem seit dem ungarischen A u f stand im Herbst 1956 hat sich das Antlitz der totalitären Systeme des europäischen Ostens in mehr als einer Hinsicht geändert, so daß es heute nicht mehr angängig erscheint, in undifferenzierter Weise vom Gewaltsystem der kommunistischen Staaten zu sprechen. Auch dort existiert im Grunde ein formaler consensus, der freilich durch die festgelegte ideologische „Linie" von Propaganda und offiziell ausgewiesener Politik einer stark wirksamen Vorausbestimmung unterliegt und in einem hohen Grade vom Aktionszentrum der Diktatur manipuliert wird. Er beruht auf dem 8

Fraenkel

114

Gerhard Schulz

geplanten, kontrollierten, gesteuerten und durch Gewaltandrohung erzeugten Konformismus. Infolgedessen beginnt das Problem des Widerstandes mit dem der individuellen Autonomie in der konformistischen totalitären Gesellschaft. W o die zentrale Kontrolle und Regie aller sozialen Bereiche, auch des Wirtschaftslebens vorherrscht, bedeutet sie für den einzelnen entweder bewußten Verzicht auf alle Lebensambitionen der Normalität, das Ausweichen an die Peripherie der Gesellschaft, wenn nicht gar in Konzentrationslager oder Gefängnisse — oder ihre Abschirmung und Tarnung durch opportune Vorbehalte, die den Rückzug in den breiten Strom allgemeiner Reaktionsweisen jederzeit ermöglichen. Das eine ist der nächste Weg des innerhalb des totalitären Systems in die Rolle eines nur Erleidenden und Erduldenden Gedrängten, das andere die des in der Funktionenhierarchie Aufgestiegenen. Der eine wie der andere Fall aber setzt die Kraft zum Scheitern, ohne moralisch vernichtet zu werden, voraus, verlangt Bereitschaft zur Askese, die wohl immer nur als Ausnahme, nicht als Regel angenommen werden darf, sofern der allgemeine soziale Standard nicht so tief absinkt, daß die allgemeinen Lebensumstände sowie Umfang und Art des Konsums den Abstand zwischen erzwungener und autonomer „Askese" belanglos werden lassen. Bei den Intellektuellen des totalitären Regimes, deren Gewohnheiten und Tätigkeiten, deren gesamte Atmosphäre Soziabilität und Publizität verlangen, wird man sie wohl nicht eher und häufiger finden als bei der im technischen Vollzug tätigen Intelligenz.

KARL DIETRICH BRACHER

Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik Die Frage nach dem Verhältnis von Innen- und Außenpolitik bezeichnet gleichsam eine Nahtstelle aller wissenschaftlichen Bemühungen, die dem Wesen des Politischen und seinen konkreten Erscheinungsformen gewidmet sind. Politische Wissenschaft ist in Forschung und Deutung den beiden großen Manifestationsbereichen des Politischen zugewandt: der Gestaltung eines Gemeinwesens mit der Entfaltung und Bändigung der Macht von innen, und seinem Ausgreifen, seinen Beziehungen und seiner Behauptung nach außen. Im spannungsreichen Verhältnis der beiden Bereiche liegt von jeher ein Grundproblem aller Untersuchungen, die den Motiven politischen Handelns, politischer P l a nung und Entscheidung nachgehen. Innen- und Außenpolitik pflegen nicht in klarer sachlicher und begrifflicher Scheidung, sondern in enger, nach ihrem spezifischen Gewicht im Rahmen des Gesamtvorgangs schwer abschätzbarer Verflechtung und Wechselwirkung aufzutreten. I Die neuere deutsche Geschichte ist durch eine konfliktreiche Spannung zwischen Innen- und Außenpolitik und einseitige Scheinlösungen dieser Spannung in besonderem Maße bestimmt worden. Gerade in einer Epoche, in der ihre Problematik durch die revolutionäre U m wandlung der Staatsgebilde, durch die soziale Expansion und die politische Emanzipation der Gesellschaft mit voller Schärfe aufzubrechen begann, ist in Deutschland die Doktrin vom Primat der Außenpolitik besonders autoritativ formuliert worden, auch wenn dann erst Dilthey den Terminus selbst geprägt hat. In seinem berühmten „Politischen Gespräch" hat Leopold v . R a n k e 1 8 3 6 , zwischen den Revolutionen also, aber in einer Zeit, die epochengeschichtlich als Restaurationsperiode verstanden wird, die These ausgesprochen: „ D a s M a ß der Unabhängigkeit gibt einem Staate die Stellung in der Welt; es legt ihm zugleich die Notwendigkeit auf, alle inneren Verhältnisse zu dem Zwecke einzu8*

Karl Dietrich

116

Bracher

richten, sich zu behaupten. Dies ist sein oberstes Gesetz." Daß Ranke diese Auffassung schon zuvor (1833) seinen Studien über die „Großen Mächte" der europäischen Staatengeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts zugrunde gelegt hat, läßt erkennen, wie sehr sie aus der Anschauung vom Charakter der vorrevolutionären Kabinettspolitik erwachsen ist 1 . Die Formulierung des Primats der Außenpolitik in dieser allgemein verbindlichen Art und ihre Übertragung auf zeitgenössische und künftige Politik macht zugleich die Hindernisse deutlich, die der Verbindung von Geschichte und Politik, der Diagnose und Prognose der Politik mit den Mitteln geschichtlicher Erkenntnis, dem Ubergang von distanzierter Geschichtsbetrachtung zur Formulierung auch für die Gegenwart gültiger Einsichten und Prinzipien entgegenstehen; die Problematik einer vorwiegend historisch orientierten Politiklehre ist unbestreitbar. Es ist auch kein Zufall, daß in der Berliner Antrittsvorlesung, die Ranke in demselben Jahr 1836 „Uber die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik" hielt, letztere wohl als Disziplin anerkannt, aber recht skeptisch behandelt worden ist2. Die Definition des Staatszweckes, die hier im Rahmen einer theoretisch die Politik abwehrenden, dann jedoch praktisch wesentlich mitbestimmenden Geschichtswissenschaft gegeben wurde, hat ihr Teil zu einer Vernachlässigung der innenpolitischen Aspekte ausgerechnet im Zeitalter gesteigerter sozialer und verfassungspolitischer Dynamik beigetragen. Das scheint die Bedenken jener Kritiker zu bestätigen, die meinen, daß die rückwärtsgewandte Begründung der historischen Maßstäbe die Wirkung des Geschichtsbilds auf das politische Denken und Handeln der Gegenwart fragwürdig mache. Das Gewicht solcher Verknüpfung erwies sich dann audi rasch an dem programmatischen Bekenntnis, mit dem Bismarck im entscheidungsvollen Jahr 1866 vor dem preußischen Abgeord1

Vgl. dazu besonders Heinrich Heffter, Vom Primat

rische Zeitschrift Gesellschaftsform

der Außenpolitik,

in:

Histo-

1 7 1 (1951), S. 2 ff. Zur allgemeinen Problematik ferner Hans Rothfels, und

Auswärtige

Außenpolitik,

in: Außenpolitik

Außenpolitik,

ebenda

Politik,

Laupheim 1 9 5 1 ; ders. Vom

I (1950), S. 2/4 S.; Sinn und Grenzen

6 (1955), S. 277 fr.; Carl J . Friedrich, Das Ende

Primat

der

des Primats

der

der

Kabinetts-

politik,

ebenda 1 (1950), S. 20 ff.; K. D. Bracher, Außen- und Innenpolitik,

Politik

(hrsg. E. Fraenkel u. K . D. Bracher), Frankfurt/M. 1959, S. 30 ff.; W.W.Schütz,

Organische 2

Außenpolitik,

in: Staat und

Stuttgart 1951, S. 25 ff.; 60 ff.; 102 ff.

Leopold v. Ranke, Geschichte

schaften, Stuttgart 1940, S. 1 1 5 ff.

und Politik,

Ausgewählte Aufsätze und Meister-

Betrachtungen über den Primat der

117

Außenpolitik

netenhaus den Primatsanspruch aufgenommen hat: „Mir sind die auswärtigen Dinge an sich Zweck und stehen mir höher als die übrigen" 3 . Die Forderung nach Unterordnung der staatlichen Gestaltung unter den obersten Zweck der Behauptung hatte zugleich jene folgenschwere Überzeugung von dem Vorrang des außenpolitischen vor dem innenpolitischen Freiheitsbegriff zur Konsequenz, die der Wendung des deutschen Liberalismus von der Verfassungsbewegung zur militärisch bestimmten Einigung im Bismarck-Reich das Gepräge gegeben hat. Die Gegenposition finden wir besonders plastisch in dem Versuch Wilsons vertreten, bei den Friedensverhandlungen von 1 9 1 9 die Geschichte des 19. Jhdts. auf weltpolitischer Ebene zu korrigieren und sich dem Zeitalter der Revolutionen mit einer „neuen Diplomatie" anzupassen. Als der amerikanische Präsident, der schon im ersten seiner „vierzehn Punkte" vom Januar 1 9 1 8 für die Abschaffung der Geheimdiplomatie eingetreten war, sich mit seinen Weltfriedens- und Reformidealen auf den Weg nach Paris machte, wurde ihm die eigens f ü r diesen Anlaß geschriebene Studie des englischen Historikers C. K . Webster über den Wiener Kongreß überreicht; Wilson jedoch weigerte sich, sie zu lesen. Unter dem Eindruck der verhängnisvollen Rolle von Geheimabkommen und -Verhandlungen glaubte er, niemand, der m i t den durch diesen

Weltkrieg hervorgerufenen revolutionären Problemen zu tun hätte, könne irgend etwas von der Diplomatie des vorangegangenen Jahrhunderts lernen4. Es w a r ausgerechnet ein früherer Professor der Geschichte und Staatswissenschaften, der so sprach. Die gutgemeinten Illusionen in dieser Anschauung, aber auch ihre gefährlich utopischen Elemente und schließlich ihre Konsequenzen einer Radikalisierung der Außenpolitik, die mit in den Strom innerer Revolutionierung hineingerissen wurde, sind in der jahrzehntelangen Wilson- und Versaillesdiskussion allzu nachdrücklich herausgestellt worden, um weiterer Erörterung zu bedürfen 5 . Wir stehen vor der Tatsache, daß diese „neue Diplomatie" lange nach Ranke und Bismarck in einer Zeit, da die soziale und politische Revo5

Nach Rothfels, Sinn und Grenzen, aaO., S. 277.

* Gordon A . Craig, Deutsche Staatskunst von Bismarck bis Adenauer,

Düsseldorf

i960, S. 7 f.; vgl. audi Ernest R . May, The World War and American Isolation 1914

bis

1917, Cambridge/Mass. 1959, S. 387 ff.; C . John Martin, International Propaganda, Minneapolis 1958, S. 1 7 2 ff. 5

Dazu jetzt besonders Ernst Fraenkel, Das deutsche Wilsonbild,

Amerikastudien

5 (i960), S. 66 ff.

in: Jahrbuch

für

118

Karl Dietrich Bracher

lutionierung schon viel weiter und gewaltsamer fortgeschritten war, so nachdrücklich wie die alte Primatsthese an den Realitäten des innenund außenpolitischen Machtkampfes gescheitert ist; es wird nun wieder weithin, so in den Schriften George Kennans und in Ernst Fraenkels kritischen Analysen der „öffentlichen Meinung", die Rückkehr von der lärmenden Volkstribunenpolitik zur alten Kunst der unabhängigen Sachdiplomatie gefordert 8 . So scheint die Frage nach dem Gewicht der innen- und außenpolitischen Komponenten staatlichen Handelns offener denn je. Seit sich Historie und politische Theorie mit dem Problem auseinandergesetzt haben, in welchem Verhältnis äußere und innere Politik eines Staates zueinander zu verstehen seien — und alle Zeiten bewußten politischen Denkens hat dies beschäftigt —, bestand nie ein Zweifel über ihre enge wechselseitige Beziehung. Aber während die vorrevolutionäre Epoche und eine ihr zugewandte traditionelle Auffassung dazu neigte, in den innerstaatlichen Vorgängen vorwiegend eine Funktion des außenpolitischen Geltungs- und Behauptungswillens eines Staates, der „Staatsräson" im Sinne der geistesgeschichtlichen Analyse Friedrich Meineckes zu erblicken 7 , hat die Erweiterung der sozialen und wirtschaftlichen Bereiche besonders seit der französischen Revolution zu einer stärkeren Beachtung, teilweise auch zu einer Überbewertung der innenpolitischen Triebkräfte geführt. Wir stehen damit vor der allgemeineren Frage, welches Gewicht bestimmte historische Konstellationen in diesem Zusammenhang besitzen, welchen Einfluß soziale und ideelle Wandlungen gegenüber dem Primatsproblem ausüben. II Die Politik unseres Zeitalters ist geprägt durch Spannung und wechselseitige Abhängigkeit im Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Sichtbar im Aufstieg der Soziologie als einer Gegenwartswissenschaft, die den Rahmen der traditionellen Staatswissenschaften gesprengt hat und auch Politik und Staat unmittelbar der gesellschaftswissenschaftlichen Analyse unterwirft, hat sich der Bereich sozialer Bewegungs- und 6 George F. Kennan, Rußland, der Westen und die Atomwaffe, F r a n k f u r t / M . 1958, S. 35 ff.; Realities of American Foreign Policy, London 1954, S. 16 ff.; 43 ff.; 93 ff·; Amerikas Außenpolitik 190ο—iyfo, Zürich 19J2, S. 77 ff.; 105 ff. Ernst Fraenkel, Öffentliche Meinung und internationale Politik, Tübingen 1962.

Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, Neuausg. München 1957, S. 3 ff.; 16 ff.; 451 ff. (Ranke) u. a. 7

Betrachtungen über den Primat der

119

Außenpolitik

Machtbeziehungen in einem Maße ausgedehnt, daß er über den ihm zugemessenen innerstaatlichen Raum längst hinausgestoßen ist. Der Siegeszug der Gesellschaft ging einher mit dem Aufstieg der modernen Demokratie, die den gewandelten Bedingungen in der Beziehung von Regierung und Regierten gerecht zu werden suchte, indem sie dem Pluralismus der Interessen und Bindungen Einfluß und Wirkung gestattete, sie im Kompromiß zu verbinden, zu integrieren und das Ergebnis zum Maßstab politischen Handelns zu machen suchte. Wo dies nicht rechtzeitig gelang, haben Revolutionen das ausgehöhlte Staatsgehäuse zum Einsturz und den vorgeblichen Primat der Gesellschaft zum Durchbrach gebracht. Es erscheint für diese Einsicht fast sekundär, ob das im Namen der liberalen, der sozialistischen oder auch einer nationalistischvölkischen Ideologie geschah, die ja ebenfalls, wie das nationalsozialistische Postulat vom Primat des Volkes über den Staat bezeugt, in dieser Richtung ihre Stoßkraft und ihren erfolgreichen Umsturz ansetzte und letztlich nicht minder entschieden der Doktrin vom Eigenwert des Staates entgegenwirkte. Die deutsche Überzeugung vom Primat der Außenpolitik, die audi den ersten Weltkrieg hindurch die überfälligen inneren Reformen vor sich herschob, ja, ihnen geradezu ein außenpolitisches Ventil zu schaffen suchte8, war damit 1 9 1 8 aufs entschiedenste angefochten. Die innenpolitische Dynamik beanspruchte nach diesem bis dahin größten Zusammenprall außenpolitischer Machtansprüche, nach diesem offensichtlichen Scheitern der alten Diplomatie einen verstärkten Einfluß auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Freilich hat sich auch diese Entwicklung keineswegs geradlinig, nicht einmal logisch konsequent vollzogen. In Reaktion darauf, aber auch in Konsequenz der Mobilisierung der Gesellschaft war der rationale Staatsbegriff zu einem gefühls-intensivierten „Mythos vom Staat" fortgetrieben worden 9 , der Erfüllung und Selbstwiderlegung im Phänomen des totalen Staates gefunden hat. Auf der anderen Seite wird man auch die interessenpolitischen Voraussetzungen der Vorweltkriegs-Außenpolitik und ihre Bedeutung für die rüstungsund kriegspolitische Zuspitzung nicht verkennen dürfen. Die endlosen Debatten über die Kriegsursachen haben dies, weil sie von einem vor8

V g l . Arthur Rosenberg, Die Entstehung

S. 73 fF.; jetzt Fritz Fischer, Griff

der deutschen Republik,

nach der Weltmacht, Düsseldorf

506 ff.; zur kritischen Diskussion K . D . Bracher, Vorspiel

Berlin

der Katastrophe,

politische Literatur 7 (1962), H . 6. 9

1928,

1 9 6 1 , S. 178 ff.;

Ernst Cassirer, Vom Mythos des Staates, Zürich 1947, S. 184 ff.; 360 ff.

in:

Neue

120

Karl Dietrich

Bracher

wiegend diplomatisch oder personal bestimmten Bild der Außenpolitik ausgingen, lange zu wenig berücksichtigt10. So hat sich die Überzeugung von einer Eigengesetzlichkeit der Außenpolitik als dem Kerngehalt der Staatsräson älterer Form oder der nationalen Selbstverwirklichung neuerer Prägung auch in der Zwischenkriegsperiode weithin behauptet, ja, um schwerwiegende neue Argumente und Antriebskräfte verstärkt. Besonders im Aufstieg geopolitischer Betrachtungsweisen war der Primatsgedanke seit Beginn unseres Jahrhunderts auf scheinbar wissenschaftliche Weise modernisiert, der sozialen und ökonomischen Expansionsbewegung angepaßt worden. Hier wurde ein durch geographisch-strategische Raumkonzeptionen begründeter Determinismus entwickelt, demzufolge Außenpolitik als Expansions- und Herrschaftsanspruch auf lange Sicht unausweichlichen Raumgesetzen zu folgen hatte. Der nationalsozialistische Lebensraumbegriff und die Exzesse Hitlerscher Ostpolitik und Herrschaftsplanung sind mit ihrem Anspruch auf weltpolitische Notwendigkeit ohne diese pseudowissenschaftliche Bestätigung eigenmächtiger außenpolitischer Neuordnungspläne kaum zu denken 11 . Aber gerade die geopolitische Begründung des außenpolitischen Primats besaß zugleich ihre innenpolitische Kehrseite: für Karl Haushofer, der seinen Weg als Militärstrategielehrer begonnen hat, und vor allem für Hitler selbst war die geopolitisch begründete Expansion eine Funktion der inneren Neuordnung im Sinne des völkischen, also überstaatlichen Selbsterhaltungstriebes, der sich hier zwar notwendig nach außen verlängert, jedoch mit Staatszweck, Staatsräson als einem Wert per se nicht mehr identisch war. Dasselbe gilt auch, mutatis mutandis, von der Verwandlung der russischen Expansionstradition in die bolschewistische Annexions-, Satelliten- und Militärraumpolitik, die stets mit der inneren Begründung weltrevolutionärer Zwangsläufigkeit, mit der Transponierung des Klassenkampfes auf die außenpolitische Ebene einherging 12 . 10

ImperialisDazu neben Fischer (aaO., S. 20 ff.) schon George W. F. Hallgarten, mus vor 1914, 2 Bde. München 1951 (erweiterte Neuaufl. 1962) mit einer Fülle von Material und interessanten, wenn auch zugespitzten methodologischen Überlegungen zum Problem. 11 Vgl. die sachkundige Bilanz der Geopolitik von Peter Schöller, in: Erdkunde 11 (1957), S. 1 ff.; 12 (1958), S. 3 1 3 ff.; 13 (1959), S. 88 ff.; ferner K. D. Bracher, W. Sauer, G. Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, 2. Aufl. Köln - Opladen 1962, S. 226 ff. mit der Literatur. Eine Fundgrube bietet vor allem die Zeitschrift für Geopolitik (1924 ff.) selbst. 12

Dazu besonders Elliot R. Goodman, The Soviet

Design for α World

State, N e w

Betrachtungen

über den Primat

der

121

Außenpolitik

Die Zermürbung der klassischen Staatsphilosophie und Staatsmetaphysik durch den Ansturm der Gesellschaft hat also sowohl in der pluralistischen Grundkonzeption der Demokratie wie zugleich in der totalitären Ideologie der rassen- oder klassenkämpferisch bestimmten Diktaturen ihren — jeweils besonderen — Ausdruck gefunden. Es w a r in jedem Fall zugleich das Ende der Vorstellung von einer „autonomen Außenpolitik". Wie das nationalstaatliche, so ist audi das außenpolitische Primatsprinzip im Weltgegensatz demokratischer und totalitär-diktatorischer Herrschaftsformen zerbrochen oder doch überlagert worden durch eine soziologisch und ideologisch begründete Dynamik, die die staatlichen Grenzen überspringt oder gar sprengt 13 . Auf der einen Seite ist die Erscheinung des Parteienstaates, der sich in der westlichen Demokratie durchgesetzt und auf seine Weise die Aushöhlung der klassischen Staatsmetaphysik offenbart hat 14 , Ausdruck einer innenpolitisch orientierten Verschiebung der politischen Willensbildung. Auf der anderen Seite wirkt die Eigendynamik der gesellschaftlichen Kräfte auf einen veränderten Stil und Charakter außenpolitischen Denkens und Handelns hin. Innenpolitisch entstandene und angetriebene Ideologien gehen quer durch die Staaten, wirken vertikal, lockern die horizontale K r a f t des Nationalbezugs; sie stellen den bislang unumstößlichen Begriff der Souveränität in Frage, ja, lassen ihn in den Augen zeitgenössischer Völker- und Staatsrechtler als „Mythos" 1 5 oder gar „Erzfiktion" 1 " erscheinen, und sie relativieren selbst das Axiom der Loyalität des Bürgers gegenüber dem Staat. Der „Verrat" ist im 20. Jhdt. nicht mehr unmoralische Ausnahmeerscheinung 17 ; Begriff und Erscheinung der WiderY o r k i 9 6 0 , S. 50 ff.; 3 2 6 ff. u . a . ; Emanuel Sarkisyanz, Rußland

und der

Messianismus

des Orients,

Tübingen 1 9 5 5 , S. 168 ff.; Jean-Baptiste Duroselle (Hrsg.), Les

Europeennes

de l'U.R.S.S.,

Power

in Soviet

Malenkov,

Politics,

Frontieres

Paris 1 9 5 7 ; v g l . auch Zbigniew K . Brzesinski, Ideology London 1 9 6 2 , S. 97 ff.; H u g h Seton-Watson, Von

München 1 9 5 5 , S. 3 1 j ff.; W o l f g a n g Leonhard, Sowjetideologie

Lenin

and bis

heute, F r a n k -

furt/M. 1 9 6 2 , S. 1 3 5 ff. 13

Gerhard Leibholz, Ideologie

des 20. Jahrhunderts,

und Macht in den zwischenstaatlichen

in: Strukturprobleme

der modernen

Demokratie,

Beziehungen

Karlsruhe 1 9 5 8 ,

S. 2 3 2 ff. 14

Ders., Der Strukturwandel

15

So R.»M. M a c l v e r , Macht und Autorität,

16

Philipp Jessup, Α modern

F . A . v . d. Heydte, Zur in: Die öffentliche 17

der modernen

Law for Nations,

Problematik

Verwaltung

Demokratie,

ebenda, S. 78 ff.

F r a n k f u r t / M . 1 9 5 3 , S. 286.

der Begriffe

N e w Y o r k 1 9 5 2 , S. 2 5 ; 5 8 ; vgl. auch Völkerrecht

und auswärtige

Gewalt,

1 9 5 3 , S. 585 ff.

Zugespitzt und im einzelnen anfechtbar, aber im prinzipiellen A n s a t z treffend

Margret Boveri, Der Verrat

im 20. Jahrhundert,

Hamburg 1957.

122

Karl Dietrich

Bracher

standsbewegung, Resistance im umfassendsten Wortsinn bezeichnen mehr als eine Revolte, sie drücken jetzt die innenpolitisch angesetzte Abwertung eines allgemeinen Primatsanspruchs des Staates aus, an dessen Stelle das gewünschte oder abgelehnte politische „System", die transitorische „Herrschaftsform" oder die politische Zweckgemeinschaft tritt. Auch wir selbst haben uns, sei es unbewußt, diese Anschauung längst zu eigen gemacht, so beharrlich am alten Begriffs- und Wertsystem festgehalten wird. Wie anders wäre der nationalsozialistische Staat oder seine sowjetzonale Verlängerung mit der ganzen Problematik der Legalität der von ihm ausgehenden Hoheitsakte und Existenzansprüche, zugleich der Legitimität des Widerstandes dagegen zu verstehen; wie wäre aber auch die Tatsache zu erklären, daß zuvor schon der Rechtsstaat der Weimarer Republik gerade von Kreisen, die zäh am absoluten Staatsbegriff festhielten, demgegenüber betont als „System" abgewertet wurde, bis schließlich die „nationale Erhebung" von 1933 sich ausdrücklich als Durchbruch einer seit Jahren bestehenden inneren „Gegenregierung" verstanden wissen wollte 18 . Das ist kein spezifisch deutsches, auf den Aufstieg des Nationalsozialismus und seinen Zusammenbruch beschränktes Phänomen. Die marxistische und kommunistische Entsprechung dieser allgemeinen Entwicklung, greifbar in der Ideologie vom Klassenkampf, vom Zusammenschluß der „Proletarier aller Länder" und vom Absterben des Staates unter der „Diktatur des Proletariats" ist augenfällig. Aber auch die westlich-demokratische Gegenbewegung hat, und sei es nur als Notbund gegen die totalitäre Bedrohung, seit Wilsons Weltbefriedungsideen und Roosevelts Kreuzzugsgedanken die klassische Machtstaatspolitik von innen her und zugleich ideologisch zu überwinden gesucht. In dem Schlagwort: „to make the world safe for democracy", mit dem der amerikanische Sendungsgedanke aus seinen christlich-religiös verwurzelten Ursprüngen im Neu-England des 17. Jhdts. säkularisiert hervorgetreten ist, drückt sich die tiefe Überzeugung aus, daß Demokratie nicht nur als politische, sondern als Lebensform begriffen werden müsse19. Auch hier wird wie im Marxismus, wenngleich in inhaltlich diametralem Sinne, Innenpolitik zur Außenpolitik erklärt, und der paradoxe Begriff des „Weltbürgerkrieges" (world civil war), dem Sigmund Neumann und 18

Vgl. Gert Rühle, Das Dritte Reich, Bd. I, 3. Aufl. Berlin 1934, S. 17. Vgl. Clinton Rossiter, Seedtime of the Republik, N e w York 1 9 5 3 ; K. D. Bracher, Providentia Americana, Ursprünge des demokratischen Sendungsbewußtseins in Amerika, in: Festgabe für Eric Voegelin, München 1962, S. 30 ff. 19

Betrachtungen

über den Primat der

Außenpolitik

123

Gerhard Leibholz nachgegangen sind20, drückt diesen Prozeß der Übersetzung von Innen- in Außenpolitik und der Ablösung zwischenstaatlicher durch überstaatliche Fronten plastisch aus. Dahinter stehen eben nicht isolierte geistige Konzeptionen, sondern darin sind zugleich alle sozialen und politischen Faktoren der modernen Massengesellschaft am Werk. Schließlich hat auch der Prozeß einer ständig beschleunigten Technisierung und Vereinheitlichung der Welt in erster Linie die Wirkung, die Grenzen zu verwischen und sie einmal in die Innenpolitik, dann wieder in die Außenpolitik zu verlegen. Der Begriff und Bereich des Staates, in dem die Staatslehre „die oberste Zusammenfassung aller sozialen Kräfte zur friedlichen Ordnung und zur gemeinsamen Bewältigung der äußeren Daseinsaufgaben" erblickt21, rückt dadurch in die relativierende Sicht der Sozialwissenschaften22, und die politische Wissenschaft selbst strebt über den historisch begrenzten Staatsbegriff hinaus, auf die Erfassung jener im Fluß befindlichen Wirklichkeit vor-, außerund überstaatlicher Prozesse politischer Bewegung und Gestaltung, die der modernen Welt das Gepräge geben. III Dies ist freilich keine völlig neuartige Erscheinung, die nur unserem Jahrhundert zugehörig wäre. Wie Aristoteles die Verfassungsentwicklung aus sozialen Faktoren zu erklären gesucht hat, so war auch die Spannung und Vertauschung von Innen- und Außenpolitik als ein Grundelement politischen Bewegungswillens schon in der Leidensgeschichte der griechischen Polis wirksam. Wir fassen sie im Widerstreit des Autonomieideals der Stadtstaaten mit dem frühen Aufkeimen eines griechischen Gemeingefühls gegenüber den „Barbaren", aber auch in der außenpolitischen Wirkung innenpolitischer und sozialer Konflikte schon im Zeitalter der Tyrannis, dann im peloponnesischen Krieg; die unvergleichliche Analyse des Bürgerkriegscharakters innergriechischer Außenpolitik durch Thukydides hat sie schonungslos enthüllt. Am Ende stand die Zerreibung und Überhöhung des Autonomieideals durch Alexander 20

Sigmund Neumann, The International Civil War, in: World Politics I (1949), S. 33 ff21 Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: Festgabe für Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 271. 22 Martin Drath, Zur Soziallehre und Rechtslehre vom Staat, ihren Gebieten und Methoden, ebenda, S. 41 ff.

124

Karl Dietrich

Bracher

d. Gr. und im Hellenismus, die bezeichnenderweise dann besonders von der deutschen Historiographie des 19. Jhdts. (Droysen) als Überwindung des inneren Partikularismus gefeiert wurde. So w a r die Verflechtung von Innen- und Außenpolitik sowie die Bedeutung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Emanzipation f ü r den Wandel ihres Verhältnisses, war das Primatsproblem schon am Eingang abendländischer Geschichte und Politik, in der Frühzeit europäischer Staats- und Gesellschaftsgestaltung eindrucksvoll und beispielhaft demonstriert 23 . In neuem Zusammenhang, noch klarer in der Abfolge der verschiedenen Aspekte kehrt das Problem in der römischen Geschichte und Politik wieder. Der inneren Verursachung des Aufstiegs Roms zur Führung Italiens, sichtbar in der primär moralischen Selbstbegründung des römischen Staatsgedankens im republikanischen Ethos, folgte mit der Ausweitung der tatsächlichen Herrschaft im letzten Reifestadium und in der Krise der römischen Republik jene Wendung zur außenpolitischen Missionsidee und zum Weltherrschaftsgedanken, die der griechische Emigrant Polybios in erste Form gefaßt, die augusteischen Reichstheoretiker dann vollendet haben. Aber auch bei Polybios und in der stoischen Fassung der römischen Weltherrschaftsphilosophie w a r die innere Begründung des Imperiums betont: auf das Ideal der gemischten Verfassung und ihrer Kontroll- und Gleichgewichtsfunktion 24 (das dann auch von Montesquieu und den Vätern der amerikanischen Verfassung wiederaufgenommen wurde) w a r hier der Aufstieg und der Anspruch Roms gestellt; sie allein bewahrt vor dem weltgeschichtlichen Gesetz des Verfalls, der ebenfalls aus der inneren Verfassung des Staates abgeleitet wird. Und auch die weitere Entwicklung der imperialen Herrschaftsideologie und ihre cäsaristische und augusteische Verwirklichung begleitete, vielfach in sehnsüchtiger Anknüpfung an die älteren Ideale innerer Integrität und Freiheit, an das „eigentliche" Rom der vorkaiserlichen, vorimperialen Zeit, die Kritik eines Dekadenzdenkens, das hinter dem Primat der imperialen Politik den Mangel an innerer Fundierung der Politik beklagte: von Tacitus über Juvenal ging die Kontinuität dieser inneren 23

Vgl. den etwas zugespitzten Versuch einer Parallelisierung des altgriechisdien mit

dem europäischen Bürgerkrieg bei Hans Erich Stier, Grundlagen schen Geschichte, 24

und Sinn der

griechi-

1945.

Dazu grundlegend Kurt v. Fritz, The Theory

quity, New York 1954.

of the Mixed

Constitution

in

Anti-

Betrachtungen

über den Primat der

Außenpolitik

125

Selbstkritik bis hin zu ihrer christlichen Umprägung in der Staatsphilosophie Augustins25. Damit war freilich am Vorabend der Katastrophe des römischen Imperiums zugleich ein neues Element in die Wirklichkeit getreten, war die Identität von Staat und Gesellschaft, von Religion und Politik auf einer höheren Ebene proklamiert. An die Stelle des nationalreligiösen Staatsgefühls rückte der Impuls einer Universalreligion, die einerseits die Innenpolitik überstaatlichen Bezügen, anderseits die Außenpolitik innermenschlich-religiösen Motiven und Formeln unterwarf. Die römische Universalmonarchie hatte diesen Prozeß längst vorbereitet, im Romgedanken des Mittelalters ist er religiös-christlich gefaßt fortgesetzt worden. Mittelalterliche Politik ist mit ihrer Verbindung von gesellschaftlich-feudalen und kirchlich-ideellen Antrieben gerade deshalb stärker als die Politik jeder anderen Epoche durch ihre innere Begründung gekennzeichnet: die Kreuzzüge oder die Kolonisationsbewegung, so hoch man ihre wirtschaftlichen Aspekte einschätzen mag, aber auch der Dualismus Kaiser—Papst erscheinen durch den Vorrang ideeller und sozialer Triebkräfte vor dem staatlichen Machtdenken bestimmt; der Begriff des Staates selbst, für das Mittelalter überhaupt umstritten und jedenfalls eigener Prägung 26 , erfährt erst durch die geistige wie gesellschaftliche und ökonomische Revolution der Renaissance, durch die Rückbesinnung auf die antike Kultur und Politik, zugleich aber auch durch die Ausweitung der Kenntnisse und der Phantasie im Zeitalter der materiellen Entdekkungen und der geistigen Emanzipation von den kirchlichen und sozialen Bindungen der mittelalterlichen Welt jenen Wiederaufschwung, der die moderne Welt begründet und das Problem des Uberstaatlichen in der Geschichte neu gestellt hat 27 . Auch die Konfessionsspaltung, in sich wesentliche Folge jenes Wandlungsprozesses, hat auf seine Beschleunigung hingewirkt; sie hat zugleich in den Kriegen der Reformation und Gegenreformation ein Beispiel für die fortdauernde, in säkularisierter Form dann in unserer Zeit wieder aufgebrochene Erscheinung 25

Vgl. K . D . Bracher, Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen

Kai-

serzeit, Diss. Tübingen 1948; F. G . Maier, Augustin und das antike Rom, Diss. Tübingen 1 9 5 1 ; J o h . Straub, Augustins Sorge um die regeneratio imperii, in: Unser Geschichtsbild, München 1954, S. 73 ff. 26

Es sei nur an die Kontroversen um Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittel-

alters, 5. Aufl. Weimar 1955, erinnert. 27

Vgl. zusammenfassend Werner N ä f , Das Überstaatliche baden 1954, S. 5 ff.

in der Geschichte, Wies-

126

Karl Dietrich Bracher

überstaatlicher, innen- und geistespolitisch begründeter Weltkonflikte gesetzt. Zunächst aber war in dem Eigenständigkeitsanspruch der säkularisierten Staats- und Fürstenpolitik und in den ihr zugeordneten Herrschaftslehren von Machiavelli und Bodin zu Fichte und Hegel der Selbstzweck politisch-staatlichen Handelns begründet. Es bleibt dabei eigentümlich, „daß das Dogma des allgenügsamen Staates erst in der Neuzeit aufkam, w o die gegenseitige Abhängigkeit der Staaten so viel eindeutiger ist als je zuvor 28 . U m den Schlüsselbegriff der Staatsräson haben sich sowohl die politischen Theorien wie die Herrschaftspraxis des absolutistischen Staates gruppiert, und die Studien Meineckes, Dehios 29 , N ä f s haben eindringlich sichtbar gemacht, wie stark die Überzeugung von der Eigengesetzlichkeit der äußeren Politik als einer „Reziprozität von Egoismen 30 auch die Staatsanschauung des 19. und 20. Jhdts., das Hegemonial- und Gleichgewichtsdenken der neueren Zeit noch bestimmt hat. Hier lag die klassische Begründung eines Primats der Außenpolitik, wie er als allgemeines „Gesetz" auf Mittelalter und Antike nicht anwendbar erscheint. A m wenigsten traf dies auf England zu, w o Beschränkung des Monarchen durch die Gesellschaft zur Tradition und anderthalb Jahrhunderte vor dem Zusammenbruch des europäischen Absolutismus schon zum Inhalt einer Revolution geworden war. Es bestimmte jedoch die kontinentaleuropäische Entwicklung, w o vom Primat der militärischen Macht aus erst der Weg zum modernisierenden innerstaatlichen Umbau, zur Rationalisierung der Verwaltung, zur gelenkten Wirtschaftspolitik beschritten und, soweit er nicht wie in Frankreich revolutionär abgebrochen wurde, als Reform von oben und von außen vollendet wurde. Der Staatsindividualismus nach außen entsprach dem Obrigkeitsstaat mit bürokratischer Verwaltung, der Machtstaat dem Administrativstaat. Auch das Zeitalter des revolutionären Nationalismus hat noch weitgehend daran festgehalten, daß das politische Leben vornehmlich in der Machtäußerung nach außen, in der Selbstbehauptung gegenüber anderen Staaten beschlossen, daß die Innenpolitik davon abgeleitet sei und außenpolitische Bedürfnisse und Aktionen entscheidend auf die innerstaatlichen Ereignisse und Einrichtungen zurückwirkten. Doch hat man zugleich überzeugend nachgewiesen, wie stark schon die vorrevolutio28

R . M. Maclver, Regierung im Kräftefeld der Gesellschaft, Frankfurt o. J . (amerik. u. d. T.: The Web of Government, N e w Y o r k 1947), S. 341. 29 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948. 30 N ä f , aaO., S. 7.

Betrachtungen

über den Primat der

Außenpolitik

127

nären Ansätze und Triebkräfte des Nationalismus von der inneren, der religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Emanzipationsbewegung ausgingen und wiederum auf die innere Umgestaltung von Politik und Gesellschaft zurückwirkten 31 . Nationalismus und Demokratie entwickelten sich Seite an Seite, und noch heute vollzieht sich — sichtbar in Asien und Afrika — die staatliche Neugestaltung im Zeichen eines integrierenden Nationalismus, dessen innere Funktion besonders wichtig erscheint. So bestätigte sich erneut die alte Erkenntnis, die schon in der antiken Lehre von der gemischten Verfassung lebendig war, dann die Postulate der Gewaltentrennung, der Freiheitsrechte, des pluralistischen Parteienstaats bestimmt hat: die Erkenntnis von der „antithetischen Natur des sozialen Lebens" 32 , die gerade ihrer innenpolitischen Verwirklichungsmöglichkeiten bedarf und auf die Dauer nicht vom vermeintlichen Primat außenpolitischer Machtentfaltung und der Utopie innenpolitischer Harmonisierung überdeckt werden kann, wie es dann mit letzter Konsequenz in den autoritären und totalitären Herrschaftsformen versucht wurde. Es ist zum allgemeinen Erfahrungsgut geworden, daß moderne Revolutionen aus einer Verdrängung der Innenpolitik wachsen und, wie am Ende der Weimarer Republik auch Brüning und Papen mit ihrer Hoffnung auf Bewältigung der Krise erfahren mußten, durch außenpolitische Erfolge nicht endgültig aufgehalten werden können. Die französische Revolution erscheint als der große Kreuzungspunkt, an dem diese neue Verschiebung der Akzente am sichtbarsten geworden ist. Auf dem europäischen Kontinent war die Kabinettspolitik des Absolutismus, die sich auf eine relative Geschlossenheit der aristokratischen Führungsschicht stützen konnte, mit der Ausbildung des rationalistischen Verwaltungsstaates freilich selbst schon deutlich auf eine stärkere Interdependenz von innerer und äußerer Politik hindrängte, durch die Anschauung einer primär innenpolitischen Umwälzung und ihrer Folgen für die Entfesselung auch einer Außenpolitik neuen Stils entscheidend angefochten. Napoleonischer Cäsarismus und Imperialismus, kulturell oder „völkisch" begründeter Nationalismus, demokratisch-liberale Emanzipations- und Verfassungsbewegung, aber auch die darauf reagierende Restaurationspolitik waren nur verschiedene Seiten einer Revolutionierung des Verhältnisses von Außen- und Innenpolitik. Der 31

Vgl. besonders Hans Kohn, The Idea of Nationalism, N e w Y o r k 1948, S. 1 1 9 ff. So Dietridi Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 2. Aufl. Zürich 1944, S. 1 2 7 . 32

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Prozeß reicht vom überstaatlichen Sendungsgedanken der großen Revolution über die Forcierung der Volksideologie und die Betonung des innen- vor dem außenpolitischen Freiheitsgedankens bis hin zum vorübergehenden Erfolg, dann zum Scheitern der Restaurationsbewegung, das zuletzt noch im Sturz des zaristischen Rußland und des wilhelminischen Deutschland besiegelt wurde. Wie verschieden der konkrete Gehalt und die herrschaftspolitischen Auswirkungen der ideologisch-überstaatlichen Prinzipienpolitik auch sein mochten, die auf der einen Seite durch die Revolution und Napoleon, auf der anderen durch die Heilige Allianz und Metternich bezeichnet w a r : immer haben sie ein scheinbar unaufhaltsames Vorrücken der innenpolitischen Fronten und Impulse in die zwischenstaatliche Politik zur Folge gehabt. Dieser Prozeß ist freilich aus seinen kontinentaleuropäischen Voraussetzungen allein nicht zu begreifen. Der Einfluß angelsächsischer Verfassungs- und Herrschaftsentwicklung seit der glorreichen Revolution (wirksam schon in Montesquieus von der Analyse der englischen Verfassung angeregter Staatsphilosophie), schließlich der Eindruck und die direkte Wirkung der davon abgeleiteten amerikanischen Emanzipationsund Unabhängigkeitsbewegung haben im Kreis der Ursachen der französischen Revolution und der sie vorbereitenden politischen Philosophie, zugleich für die Neukonzeption der Innenpolitik und ihrer Stellung gegenüber der äußeren Machtpolitik eine kaum überschätzbare Bedeutung erlangt. Freilich geht der Versuch Gerhard Ritters (Freiburg) zu weit, mit fast geopolitischen Argumenten einem kontinentalen Typus der Machtpolitik den „insularen" Sonderfall, übrigens mit dem Odium der Utopie, gegenüberzustellen 33 : die Einsicht in die Bedeutung der Interdependenz beider Entwicklungstendenzen wird dadurch verfehlt. Wohl hat man sich in fast eintöniger Wiederholung immer wieder darauf berufen, daß selbst ein englischer Historiker des 19. Jhdts. (Robert Seeley) dem positivistischen Zeitalter entsprechend die geradezu mechanistische Formel geprägt habe: „Der Grad der Freiheit innerhalb eines Staates wird immer umgekehrt proportional sein dem Grad des Druckes, der auf seinen Grenzen lastet" 34 . Von ähnlichen Auffassungen ging auch die Frontierhypothese F. J . Turners und seiner Schule aus, nach deren einflußreicher Doktrin (1890) die amerikanische Demokratie vor allem ϊ3

Gerhard Ritter, Machtstaat und. Utopie, 3. Aufl. 1943, Neuauflage München 1948. So mit vielen anderen auch die zitierten Schriften von Hans Rothfels — und besonders schon Otto Hintze (vgl. v. Anm. 53). 34

Betrachtungen

über den Primat

der

Außenpolitik

129

durch das pionierhafte Verschieben der Grenzen der Zivilisation und ihre Rückwirkung auf die innere Formung und Gestalt der Vereinigten Staaten entstanden und erstarkt sei; die offene Grenze scheint in der Tat als Sicherheitsventil für die innere Dynamik gewirkt, das Ende der inneramerikanischen Expansion zugleich das Ende der Isolationspolitik und den Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik postuliert zu haben35. Aber das Wesentliche ist, daß auch solche Theorien vom Wert der inneren Freiheit, Demokratie ausgingen und die außenpolitischen Faktoren dieser Wertvorstellung zuordneten. Auch die Tatsache, daß um die Jahrhundertwende das Werk eines amerikanischen Admirals über den Einfluß der Seemacht auf die Geschichte3' oder englische und amerikanische Theorien über die geographische Verursachung der Politik weiten Widerhall gefunden haben, widerspricht dem nicht; davon ist ja eben eine deutsche, kontinentale Geopolitik ausgegangen, die den Ausgangspunkt ins Gegenteil verkehrt hat37. Selbst wenn man von den vielfältigen Wechselbeziehungen absieht, die „kontinentalen" und „insularen" Typus stets verbunden haben, so wird doch das Wesen der Innenpolitik durch solche äußerliche Typisierung nicht erfaßt. Der Aufstieg der Demokratie und die Verschiebung im Verhältnis von Innenund Außenpolitik ist keine Funktion der Geopolitik, mag sie auch in geisteswissenschaftlichem Gewände einhergehen. IV Eine kritische Betrachtung wird solchen Spekulationen gegenüber dem Struktur- und Funktionswandel der inneren Politik in ihrem Verhältnis zur Staatspolitik nach außen vor allem auf drei Ursachenreihen zurückführen, die in enger wechselseitiger Beziehung die gesamte abendländische Welt erfaßt haben: i. Geistig auf den Prozeß der Säkularisation, der übrigens, wie immer wieder nachgewiesen wurde38, nicht in der Abwendung vom Ghri35 Dazu K. D. Bracher, Der Frontiergedanke: Motiv des amerikanischen Fortschrittsbewußtseins, in: Zeitschrift für Politik 2 (1955), S. 228 ff. 3e Alfred Thayer Mahan, The Influence of Sea Power upon History, Boston 1890 (deutsch Berlin 1896). 37 Vgl. oben Anm. 1 1 ; dazu noch besonders die Schriften des englischen Geographen Sir Haiford J . Madeinder, Democratic Ideals and Realities, London 1919, S. 150 ff. sowie sdion sein Essay, The Geographical Privot of History, in: Geographical Journal 23 (1904), S. 421 ff. 38 Vgl. Friedrich Delekat, Über den Begriff der Säkularisation, Heidelberg 1950; ferner die Bemerkungen bei G. Leibholz, Strukturprobleme, aaO., S. 142 ff. u. a.

9

Fraenkel

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stentum, sondern gerade in dem optimistischen Glauben an die vollständige Verchristlichung der Welt seinen Ursprung hat und erst im Scheitern dieses Glaubens die Antibewegung hervorgetrieben hat. Der Prozeß ist, wie an der Transformation vieler Begriffe und Vorstellungen nachzuweisen ist, auch in der modernen Demokratie noch keineswegs abgeschlossen; so sehr aber die religiös-christlichen Wurzeln und Elemente besonders audi im angelsächsischen Typus noch fortdauern, so ist seine Konsequenz doch ein politischer Emanzipationsprozeß, als dessen äußerer Aspekt der Aufstieg des souveränen Nationalstaates und des Nationalismus, als dessen innerer Aspekt der Durchbruch des politischen Liberalismus und der Demokratie erscheint. 2. Soziologisch auf den gesellschaftlichen Strukturwandel, der sich vom Kapitalismus zum Imperialismus, von ständischen zu egalitären Ordnungsvorstellungen vollzieht und zugleich mit dem Aufstieg des modernen Sozialismus ein neues Spannungsfeld von national und international begründeter Zukunftspolitik hervorbringt. 3. Materiell schließlich auf die technologische Revolution, die von der ständig beschleunigten Ausweitung der materiellen Kultur und der Bevölkerungszahl bis hin zum Wandel der Kriegstechnik audi einem neuen Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Staat den Weg gebahnt hat. Dem entspricht übrigens auch, daß Begriff und Erscheinung des „Militarismus" nicht mehr, wie noch Gerhard Ritter versucht, als staatlichaußenpolitisches, sondern gerade charakteristisch als gesellschaftlich-innenpolitisches Problem zu fassen sind39. Daß das Gewicht dieser Wandlungen besonders in Deutschland lange nicht hinreichend eingeschätzt wurde, erscheint als eine der Folgen jener bewußten, selbstbewußten Trennung vom westeuropäisch-amerikanischen Staats- und Gesellschaftsdenken, die aufs engste mit dem „Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise der deutschen Entwicklung" zusammenhängt und zu dem folgenschweren Nachhinken der deutschen Innenpolitik hinter dem Aufstieg der Demokratie geführt hat40. Das gilt für den gewiß starken, doch rasch abgebogenen Widerhall auf die amerikanische und französische, aber auch schon auf die englische 39

Dazu besonders Wolfgang Sauer, in: Staat und Politik, aaO., S. 181 ff.; ders., in: Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 3. Aufl. i960, S. 238 ff. 40 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: Deutschland und Westeuropa, Laupheim 1948, S. 14 fr.; vgl. S. 28: „Der kleine Vorsprung, die deutsche Sonderform des aufgeklärten Fürstenstaates, führte in eine Sackgasse".

Betrachtungen

über den Primat

der

131

Außenpolitik

Revolution". Über die tieferen Gründe, die zu diesem „Gefalle" 4 2 in der Ausbildung des Staats- und Volkstypus geführt haben, ist hier nicht zu handeln; es genügt gewiß audi nicht, auf die Entwicklung des aufgeklärten Absolutismus und auf die Güte der deutschen Verwaltung hinzuweisen und zu konstatieren, alle deutschen Demokratisierungsbewegungen seien lediglich „Reflexbewegungen auf draußen vollzogene Revolutionen gewesen, die des 20. Jhdts. . . . uns sogar aufoktroyiert worden" 43 . Aber tatsächlich wurde nach demkurzen Aufschwung und dem abrupten Abbruch (1848) eine Beschränkung der deutschen Geschichtsund Staatswissenschaft auf eine bloße Zweiteilung der Politik in Außenund Verwaltungspolitik vorherrschend: man hielt entgegen der tatsächlichen Entwicklung von Gesellschaft, Parteiwesen und öffentlicher Meinungsbildung am absolutistischen Schema fest, wobei die Außenpolitik den Primat, Verwaltung die Hilfsfunktion behielt und die expandierende Realität der Innenpolitik mit ihrem Bestimmungs- oder doch Mitbestimmungsanspruch weitgehend ausgeklammert wurde. In dieser Frontstellung wurde audi der erste Weltkrieg als große Bewährungs- und Entscheidungsprobe des Primatsproblems durchgekämpft und von fast allen deutschen Betrachtern auch so empfunden und kommentiert, ohne daß freilich — und darin liegt das erst eigentlich Verhängnisvolle — die geschichtliche Entscheidung von 1 9 1 8 bewältigt und zu einer Revision des Axioms genützt worden wäre: in der Dolchstoßlegende war zwar der mögliche Einfluß innenpolitischer D y namik konzediert, aber eben ganz ins Negative gerückt. Und der Weg der Weimarer Republik entfernte sich auch darin rasch von den Ansätzen einer demokratischen Neuordnung, daß er mit der „überparteilichen" Betonung der Versailles- und Reparationskritik, mit der an vordergründigen Ursachen haftenden Revisionspropaganda und schließlich mit dem erneuten außenpolitischen Primatsdenken gegenüber den inneren Ursachen der Wirtschafts- und Staatskrise die innere Konsolidierung der pluralistischen Demokratie und die drängenden Probleme 41

V g l . schon Hermann Wätjen, Die erste englische

Meinung

in Deutschland,

französische

Revolution,

Revolution

und die

Heidelberg 1 9 0 1 . Ferner Jacques D r o z , Deutschland

öffentliche und

die

Paris 1 9 4 9 , und seinen V o r t r a g desselben Titels, Wiesbaden

1955· 42

Stadelmann, aaO., S. i j .

43

So in einer nicht ressentimentfreien Auseinandersetzung mit dem angelsächsischen

Reeducation-Konzept I. W . Mannhardt, Politik Schicksalswege 9"

deutscher

Vergangenheit,

und

Düsseldorf

Geschichte

in heutiger

1 9 5 0 , S. 460.

Sicht,

in:

132

Karl Dietrich

Bracher

politischer und sozialer Stabilisierung vernachlässigte. Von der Nachwirkung Treitschkes, der Innenpolitik als „inneres Parteileben" stets abgewertet hat, spannt sich der Bogen über die Fehlreaktion der 'Weltkriegsgeneration bis zu jener teils begeisterten, teils resignierten Hinnahme einer völligen Auslöschung freier Partei- und Gesellschaftspolitik, die das „Dritte Reich", audi darin Vollstrecker eines Jahrhunderts schiefer Fragestellungen, vollendet hat. In diesem Zusammenhang hat sich zugleich auch der Rüdszug einer um die Mitte des 19. Jhdts. in Deutschland noch durchaus lebendigen, der verfassungs- und gesellschaftspolitischen Problematik aufgeschlossenen Staatswissenschaft vor den äußeren Erfolgen des Bismarckreiches schwerwiegend ausgewirkt. Es sei nur ein Beispiel herausgehoben, das dies Dilemma eindringlicher veranschaulicht als eine Aufzählung der vielen deutschen Theoretiker und Praktiker des Primats der Außenpolitik. Selbst ein allen Problemen und Fragestellungen modemer Verfassungs- und Wirtschaftssoziolagie so aufgeschlossener Historiker wie Otto Hintze hat noch ein Jahr vor Ausbruch des ersten Weltkriegs die Abhängigkeit innerstaatlicher Einrichtungen von außenpolitischen Bedürfnissen und Ereignissen uneingeschränkt betont. Im Unterschied zu seinen zeitgenössischen Kollegen hat er sich zwar um eine Modernisierung der Staatswissenschaft seiner Zeit bemüht, indem er die Dynamik der Innenpolitik ins Blickfeld auch der Historie rückte. Aber diese Dynamik blieb auch für Hintze, der sich hier scharf von der Sozialforschung Roschers oder Schmollers absetzte, von der Außenpolitik bestimmt, die als Machtpolitik der inneren Gestaltung der Verfassungsverhältnisse Möglichkeiten und Grenzen zuwies. So kritisierte er die früheren Staatswissenschaftler, die „zunächst mehr die Ideen der sozialen Gerechtigkeit hervorgehoben haben als die der nationalen Macht, die doch zu allen Zeiten für den Staat der oberste Gesichtspunkt gewesen ist" 44 . Hier traf er sich besonders in der wissenschaftlichen Publizistik des ersten Weltkrieges mit der allgemeinen Auffassung von der deutschen Sonderlage auch in der Primatsfrage, die sich gern auf Seeleys zitierten Satz berief, ohne freilich seine schon angedeutete Kehrseite zu berücksichtigen. Es sei daran erinnert, daß auch Friedrich Mainecke noch in einem 44

Otto Hintze, Staat und Verfassung, 2. erw. Aufl., Göttingen 1962, S. 18 (mit der Einleitung von Fritz Härtung). Das Seeley-Zitat wird besonders im Aufsatz Machtpolitik und Regierungsverfassung, aaO., S. 433 ff. als „Beweis" verwendet.

Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik

133

Aufsatz von 1 9 1 ο betonte, „die innere Politik (habe) ihr Gesetz zu empfangen von der auswärtigen Politik", so sehr er inzwischen schon zu der Einsicht gelangt war, daß dies eine konstruktivere Innenpolitik voraussetze: „Gelingt es nicht", so schrieb er damals unter dem Einfluß von Friedrich Naumanns sozialliberaler Reichskonzeption, „die ganze Stoßkraft der Nation und aller ihrer Schichten zu vereinigen und die inneren Spaltungen, die sie bedrohen, zu überwinden, so werden wir innerlich schwach am Tage der Entscheidung dastehen. Die heutige innere Politik der Konservativen aber, die auf einen mit den Waffen des Polizeistaates geführten latenten Bürgerkrieg gegen die Sozialdemokratie hinausläuft, zerreißt uns, statt uns zu verbinden" 45 . Anders als Meinecke, der von da aus als große Ausnahmegestalt zum Vernunftrepublikaner fand, hat Hintze in all seinen späteren Äußerungen entsprechend der frühen Überzeugung, „daß nur ein kraftvoller Staat, nur eine starke monarchische Gewalt zur Durchführung sozialer Reformen imstande sei"4", die Außenpolitik als erste und letzte Instanz bewahrt. Sein starker Trieb zur Innenpolitik und seine wichtigen Erkenntnisse auf diesem Gebiet kollidierten mit der Verehrung des preußischen Beispiels, das gewiß als starkes Argument für die Primatstheorie erscheinen mußte; neuere Untersuchungen haben freilich gerade auch hier das Gewicht der sozial- und wirtschaftspolitischen Bedingungen und ihren Einfluß auf die Ausbildung des preußischen Staates überzeugend nachgewiesen47. So aber erscheint selbst die fruchtbare Problemstellung des Zusammenhangs von Machtpolitik und Verfassungsentwicklung, die Hintzes gesamtes Werk beherrscht, zuletzt doch als ein beharrliches Rückzugsgefecht. In einer Studie über „Staatenbildung und Verfassungsentwicklung" hatte er mit bemerkenswerter Aufgeschlossenheit schon 1902 betont, „daß es in erster Linie die soziale Struktur eines Volkes sei, die seine politische Verfassung bedingt"; aber sogleich korrigierte er sich, indem er unter Berufung auf Ranke die allgemeine, revolutionäre Wandlung durch die an Beispielen aus früheren Jahrhunderten orientierte Formel aufzuheben suchte: „ I n der Geschichte dominiert die äußere Politik der Staaten, und in der politischen Theorie merkt man gewöhnlich nichts von ihr" 48 . 45 Friedrich Meinecke, Politische Schriften und Reden, Darmstadt 1958, S. 40 f. « Hintze, aaO., S. 18. 47 Vgl. Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, The Prussian Experience 1660—181 f , Cambridge/Mass. 1958 48 Hintze, aaO., Bd. I, S. 34 ff.

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Trennung von Geschichte und politisch-sozialer Analyse also audi hier, so fruchtbar die Einsichten sind, die aus solcher bis auf M a x Weber freilich höchst vereinzelter Fragestellung f ü r die politische Theorie wie zugleich f ü r die historische Forschung hätten erwachsen können. In dieser Weise leitete Hintze die griechische Demokratie aus dem souveränen Nebeneinander äußerlich geschlossener Stadtstaaten, das römische K a i sertum und den Cäsaropapismus aus der weltweiten Ausdehnung des Imperiums, schließlich den ständischen Feudalismus und die Entwicklung von Repräsentativverfassungen aus dem Dualismus Kaiser—Papst und dem dadurch gewährten inneren Bewegungsraum ab. Und so blieb er auch bei der These stehen, daß Weltreiche stets eine despotische Ordnung entwickelten, freiere Verfassungen von dem gleichberechtigten Nebeneinander souveräner Staaten abhängig seien und also geo- und außenpolitische Faktoren den inneren Trieb- und Bewegungskräften doch erst die entscheidende Form gäben: kein Zufall, daß er den Anschluß an die damals entstehende Geopolitik gesucht und — wie die Berufung auf Ratzel beweist — gefunden hat49. So verharrt auch Hintze wie schon Ranke und seine Nachfolger in einer historischen Anschauung, die das Phänomen der modernen, nachrevolutionären Innenpolitik relativiert, weil sie ihre „klassischen Beispiele" aus dem 17. und i 8 . J h d t . nimmt und z . B . entschieden glaubt, daß „die Ausbildung der ständischen Verfassung eine von selbst eintretende Begleiterscheinung der territorialen Staatsbildung ist", oder daß es die „geographisch-politische Situation" sei, die England die Ausbildung eines Militarismus kontinentaler Prägung erspart hat50. Dem entspricht die wenig später formulierte These, daß „alle Staatsverfassung . . . ursprünglich Kriegsverfassung, Heeresverfassung", staatlicher Zusammenhang „in erster Linie auf Abwehr und Angriff gerichtet" sei51 und erst später audi eine zivile Differenzierung eintrete. Und die politische Folgerung ist auch hier im Sinne des Primatsprinzips, daß „eine Kontinentalmacht wie Preußen . . . ihre bewaffnete Macht nicht von den Beschlüssen wechselnder Parlamentsminoritäten abhängig machen" konnte 52 : also Rechtfertigung des preußischen Verfassungskonflikts und der Zurückdrängung des parlamentarischen Prinzips durch geographisch-außenpolitische Momente, getreu 49

AaO.,

S. 45, Anmerkung I.

60

AaO.,

S . 4 6 ; 48 f .

51

Staatsverfassung und Heeresverfassung,

52

AaO.,

S. 78.

aaO., S. 53.

Betrachtungen

über den Primat

der

Außenpolitik

135

der Überzeugung, daß der Druck auf Deutschlands Grenzen die innenpolitische Freiheit beschränken müsse53. Die Gegenwirkung der modernen Sozialwissenschaft gegen die Fatalisierung eines allgemeinen Gesetzes des Primats der Außen- und MiLitärpolitik ist seit der Fortschrittsphilosophie der Aufklärung vielfach und machtvoll hervorgetreten: in der Klassenphilosophie von Karl Marx, in Comtes Zivilisationstheorien, in Herbert Spencers Lehre von der Ablösung des kriegerischen durch den industriellen Typus der Gesellschaft, in Max Webers staats- und kultursoziologischer Typenlehre. Wohl am schwächsten freilich in Deutschland, wo historisches und politisches Denken sich davon weitgehend abgeschirmt und notfalls auf eine strikte Trennung der Bereiche zurückgezogen hat. Es blieb die Uberzeugung, daß gemäß dem altrömischen Beispiel weltpolitische Ausdehnung einen Staat zur absoluten Militärmonarchie hinführe; es blieb die geopolitische Erklärung des englischen und amerikanischen Gegenbeispiels; und es mußte deshalb auch die Meinung bleiben, der Ausgang des ersten Weltkriegs als die größte Widerlegung der Legende von der Unterlegenheit demokratischer Außen- und Militärpolitik sei auf irreguläre Weise zustande gekommen. Die deutsche Entwicklung hat diese beharrliche Überzeugung zunächst in der Überlegenheit des nationalsozialistischen Herrschaftswillens über das Experiment von Weimar scheinbar noch einmal bestätigt, dann freilich um so nachhaltiger widerlegt. V Wenn man die komplizierten Zusammenhänge, die zwischen der Dynamik moderner Innenpolitik und der Entwicklung der zwischenstaatlichen Machtpolitik bestehen, im Blick auf den gegenwärtigen Stand der Problematik zu überschauen sucht, so gelangt man mitten in den Weltgegensatz unseres Jahrhunderts. Auch die Primatsfrage scheint sich in der „bipolaren" Welt auf die Alternative einer demokratischen oder einer diktatorisch-totalitären Lösung des Problems zuzuspitzen. Für die moderne Diktatur, die auf ihre Weise die Welttendenz politischer und sozialer Emanzipation zu bewältigen sucht, ist der innenpolitische Ausgangspunkt des Machterwerbs und der Machtbehauptung nicht weniger bestimmend als für die Demokratie. Die besondere, der totalitären Herrschaft eigene „Lösung" des Primatsproblems liegt im Ablauf, in der Gewichtsverteilung und in der Zielsetzung des politischen Prozesses. 53

AaO.,

S. 439.

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Altes Staatsräson-Denken, neuere Volkssouveränitäts-Ideologie und moderner sozialer Imperialismus gehen hier im Zeichen pseudoreligiöser Weltanschauung eine schwer entwirrbare Verbindung ein, die jeweils nur am konkreten Ablauf der Herrschaftspraxis bestimmt werden kann. Tatsächlich beruht totalitäre Politik mehr als die irgendeiner anderen Herrschaftsform auf dem engen Zusammenhang, ja, der Identität von innen- und außenpolitischer Machtentfaltung: in dem Sinne, daß der in alle Sphären vordringenden „Erfassung" und Gleichschaltung der Bevölkerung nach innen die letzlich grenzenlos gedachte Ausweitung des Herrschaftsbereichs nach außen entspricht. Das charakterisiert mit der faschistischen und nationalsozialistischen auch die sowjetische Ausprägung des Totalitarismus; neben den innenpolitischen Parallelen totalitärer Herrschaftspraxis bietet das sowjetimperialistische Konzept mit der Endvorstellung der Weltrevolution der vergleichenden Betrachtung durchaus Anhaltspunkte, die auch auf die faschistische und nationalsozialistische Theorie des Imperialismus zutreffen. Besonders aber gilt dies für das funktionale Verhältnis von Innen- und Außenpolitik in der Praxis totalitärer Herrschaft. Als geschichtlich abgeschlossenes, quellenmäßig zuverlässig durchdringbares Phänomen erscheint dafür das nationalsozialistische Beispiel besonders instruktiv. Schon im Ansatz des Nationalsozialismus steckt jene bewußte Verbindung von nationalen und imperialen Tendenzen, die dann für die Entwicklung und Verwirklichung der nationalsozialistischen Ideologie so ungemein charakteristisch war. Dazu kam der Anspruch eines nationalen „deutschen Sozialismus", in dem der Gedanke der totalen inneren Einheit des Volkes fortentwickelt und dann in der Form des „Sozialimperialismus" nach außen gewendet wurde54. Man hat es hier in der Tat mit einem zentralen Element der expansionistischen Herrschaftspolitik des Nationalsozialismus zu tun. Wir verstehen unter Sozialimperialismus den politisch und zugleich ökonomisch begründeten Manipulationsvorgang, durch den mit Hilfe einer intensiven psychologischen Propaganda die sozialen Emanzipations- und Bewegungskräfte innerhalb des Staates auf die äußere Expansion und die Steigerung des nationalideologischen Prestigegefühls abgelenkt werden; dadurch können innere Mängel überdeckt, Widerstand und Bewegungsbedürfnis gegen das innere Zwangssystem kompensiert und zum Werk54

Dazu mit den Nachweisen K. D. Bracher, Machtergreifung,

aaO., S. 220 ff.

Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik

137

zeug äußerer Machtpolitik verkehrt werden. Auch dies ist gewiß kein gänzlich neues Phänomen. Ähnliche Ablenkungs- und Manipulationstendenzen hatten schon die deusche Wendung vom innen- zum außenpolitisch bestimmten Freiheitsbegriff vor dem Eindruck der Bismarck'schen Primatspolitik bestimmt. Gewiß hatte der Ausgang des ersten Weltkriegs, der von des Kaisers „Ich kenne keine Parteien m e h r . . . " bis zur Annexionismusideologie wesentlich auf eine Verdrängung der überfälligen innenpolitischen Reformen zielte, einen tiefen Einschnitt gesetzt. Das Scheitern der wilhelminischen „Innenpolitik durch Außenpolitik" hatte die Weimarer Republik erst möglich gemacht. Aber hinter der Konstruktion der parlamentarischen Demokratie war zugleich mit der Abneigung gegen die Wirklichkeit des Parteienstaates und den Pluralismus gesellschaftlich-politischer Willensbildung das Verlangen nach Überwindung aller sozialen und politischen Gegensätze in einer monolithischen, nach außen gewandten Ordnung stark geblieben. Wie sich dann radikale Ideologien und wirtschaftliche Interessen mit autoritären Restaurationsneigungen in Wissenschaft und Publizistik zu einer neuerlichen Anfälligkeit für Parolen verbanden, die im Sinne der Vorweltkriegstradition die innere Einheit und Geschlossenheit im Dienst der äußeren Selbstbehauptung, der Revision, ja, eines deutschen Führungsanspruchs forderten: das gehört unmittelbar zu den Bedingungen der 'nationalsozialistischen Machtergreifung. Der Zusammenbruch der Weimarer Republik, ihr Versagen vor der Wirtschaftskrise und der inneren Radikalisierung ist nicht ohne den Fehlglauben an den Vorrang außenpolitischer Probleme auch in einer schweren inneren Krise zu erklären. Und so hat auch die keineswegs vom Nationalsozialismus erfundene Idealisierung von Einheit, Ordnung, Volksgemeinschaft und ihre einseitige Beziehung auf außenpolitische Machtentfaltung entscheidend zu Hitlers Erfolg beigetragen. Die westliche Gegenpolitik hat diesen Zusammenhang verkannt und lange gemeint, Innen- und Außenpolitik eines totalitären Systems getrennt beurteilen, ihr getrennt begegnen zu können. Schon Verlauf und Erfolg der russisch-sowjetischen Revolution waren dadurch wesentlich bestimmt. Wir wissen inzwischen, wieviel außen- und kriegspolitisches Primatsdenken zur russischen Katastrophe von 1 9 1 7 beigetragen hat55: 55 Vgl. Ζ. Α. B. Zeman, Germany and the Revolution in Russia, London 1958 (dazu Erwin Hölzle, in: HZ 187 [1959], S. 405 f.); Werner Hahlweg, Lenins Rückkehr nach Rußland 1917, Leiden 1957; George F. Kennan, Amerika und die Sowjetmacht, 2 Bde., Stuttgart o. J .

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deutscherseits die Unterstützung Lenins im berühmten Transport des Revolutionärs durch Deutschland, alliierterseits das verhängnisvolle Bestreben, die junge und schwache russische Demokratie Kerenskis, die sich nur durch einen Friedensschluß innenpolitisch hätte behaupten können, im Krieg zu halten — mit dem Ergebnis der Katastrophe. Eine Parallele mit dem Schicksal der Weimarer Republik ist gewiß nicht zutreffend. Aber die Verspätung westlicher Konzessionen an die deutsche Demokratie und das Bestehen auf den Versailler Vertragsfiktionen erscheint doch wesentlich als eine Folge der Unterschätzung der innenpolitischen Krisen- und Revolutionssituationen im Deutschland der frühen dreißiger Jahre. Hitler hat es geschickt verstanden, solche Illusionen zu bestärken. Obgleich die nationalsozialistische Weltanschauung trotz ihrer Unklarheit und Inkonsistenz nie einen Zweifel an ihrem expansionistischen Grundprinzip gelassen und das geopolitische Argument früh zur These vom Recht der stärkeren Völker auf erweiterten Lebensraum entwickelt hatte, ist Hitler doch die Täuschung weitgehend gelungen. Er hat zwar in seiner berühmten Düsseldorfer Rede vor Wirtschaftsführern (Januar 1932) und erneut wenige Tage nach Regierungsübernahme vor den Militärbefehlshabern programmatisch die innere Konsolidierung anfangs ganz in den Vordergrund gestellt und der Außenpolitik zunächst die Aufgabe der Abschirmung zugeschrieben. Friedensreden, Elastizität, feierliche Verträge ausgeredinet mit dem Vatikan und mit einem der ersten Opfer, Polen, dienten diesem Zweck. Doch ist die Vollendung der inneren Machtergreifung stets im Blick auf den gewaltsamen Ausgriff forciert und dann auch konsequent, schrittweise seit 1935, massiv seit 1938, in den Planungen aber seit Beginn der NS-Herrschaft der Politik des totalen Kriegsstaates eingeordnet worden. Der Stalin-Hitlerpakt von 1939 hat diese Tendenz rücksichtslosen Primatsdenkens scheinbar eindeutig bestätigt. Die neuerliche Totalwendung von 1941 beweist jedoch, daß dieser Pakt bloßes Mittel zum Zweck war; die innenpolitischen und ideologischen Grundlagen nationalsozialistischer Expansionspolitik waren damit keineswegs aufgegeben. Uberhaupt enthält das deutsch-sowjetische Verhältnis zwischen den Kriegen die ganze Skala der Möglichkeiten, die der Manipulierung des Primatsproblems in autoritären und totalitären Staaten gegeben sind: zunächst das Streben nach Durchbrechung der außen-, wirtschafts- und militärpolitischen Isolierung in der Ära der Weimarer Republik, aber auch noch in der nationalsozialistischen Zeit wiederholt der Versuch einer Unterscheidung

Betrachtungen über den Primat der

Außenpolitik

139

von innenpolitischer Vernichtung des Kommunismus und außenpolitischer Koexistenz. Die diplomatischen Akten machen deutlich, daß ganz entgegen den nachträglichen Versuchen russischer Politiker und Historiker, den Westmächten alle Verantwortung für den Erfolg der nationalsozialistischen Konsolidierung aufzubürden, auch nach 1933 von sowjetischer Seite viele Anstrengungen zur Fortsetzung der deutsch-russischen Zusammenarbeit gemacht wurden. Die totalitäre Taktik des Primats innenpolitischer Konsolidierung hat die sowjetische Rapallo- und Völkerbundpolitik bestimmt, sie wird dann etwa aus einem Bericht Molotows an sein Z K vom 23. 1. 1933 deutlich, in dem die außenpolitische Wirkung der (innenpolitischen) Fünfjahrplan-Politik nachdrücklich betont wird 56 , und sie gipfelt schließlich in der triumphierenden Uberzeugung von der Überlegenheit einer totalitären Außenpolitik, die eben, wie es Ribbentrop während der Vorbereitung des Stalin-Hitlerpaktes dem sowjetischen Geschäftsträger gegenüber ausgedrückt hat, anders als in Demokratien auf die „schwankende öffentliche Meinung keine Rücksicht zu nehmen" brauchte57 — wenn sie einmal die innere Gleichschaltung perfektioniert und die Mittel zum Ausgriff gewonnen hat. Drei charakteristische Merkmale totalitärer Lösung des Primatsproblems treten in diesem Beispiel deutlich hervor. Die innenpolitische Verursachung der nationalsozialistischen Herrschaftspolitik ist im Vorgang der Machtergreifung und Machtbefestigung vorgezeichnet. Dahinter steht ein außenpolitischer Herrschaftsgedanke, der die innere Gleichschaltung, die Beseitigung aller Kontrollen und Hemmungen, den Einsatz und dann die schrittweise Abstoßung der alten Diplomatie der „Fachleute" nur als Vorstufe und Vorbedingung imperialer Machtpolitik betrachtet und benutzt. Trotzdem aber kann — drittens — von einem Primat der Außenpolitik im klassischen Wortsinne nicht gesprochen werden. Im Gegenteil! Hier geht es nicht mehr um die bloße Behauptung oder Erweiterung des Staates, um die Prinzipien von Staatsräson und Staatssouveränität, sondern in Pervertierung der Idee der Volkssouveränität gemäß dem pseudodemokratischen Zuschnitt der totalitären Diktatur um eine Revolution in Permanenz, die ständig totalitäre Innenpolitik nach außen, totalitäre Außenpolitik nach innen transponiert. So ist dafür gesorgt, daß das soziale und politische Bewegungsbedürfnis stets Betätigung und Ablenkung findet — aber 5

· Soviet Documents on Foreign Policy, V o l . I I I , London 1 9 5 3 , S. 1 .

57

Nazi-Soviet

Relations 1939—'941,

Washington 1948, S. 38.

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Bracher

eben im Sinne eines innenpolitisch unumschränkten Machthabers und einer Totalität beanspruchenden Ideologie der Rassen- oder Klassenherrschaft. Die stalinistische Nachkriegspolitik, aber audi die scheinbar gemilderte Form der Chruschtschow-Diktatur demonstrieren mit ihrem verwirrenden Wechsel von innen- und außenpolitischen Initiativen diesen bedeutsamen Aspekt totalitärer Herrschaftstechnik kaum minder eindrucksvoll, auch wenn hier die Nuancen der Verflechtung noch nicht so eindeutig bestimmt werden können58. VI Ungleich schwerer ist das Gegenbild demokratischer Bewältigung des Problems zu fassen. Gewiß ist es ein Ergebnis unserer Betrachtung, daß gerade im Aufstieg der modernen Demokratie wie schon in der Ausbildung ihrer geschichtlichen Frühformen die Verstärkung innenpolitischer Dynamik zum Ausdruck drängt. Aber es wurde deutlich, wie das schon seit der Erfahrung der griechischen Tyrannis kaum minder von der Ausbildung diktatorischer und totalitärer Herrschaftsformen gilt. Das Moment der Unterscheidung liegt im Ausgangspunkt, in der Abfolge und im endgültigen Gewicht der verschiedenen Faktoren, die innere Politik auf äußere übersetzen, Außenpolitik auf Innenpolitik zurückwirken lassen. Man hat dies in die Formel gefaßt: „Die autokratischen Staatsformen bieten dem Volk Halt von außen, die Demokratie verlegt die haltgebenden Momente in die Psyche des Einzelnen" 59 . Nun hält sich freilich mit verständlicher Hartnäckigkeit die These, Demokratien seien eben wegen ihrer umständlichen, beständigen Schwankungen ausgesetzten Praxis innerstaatlicher Willensbildung ungeschickt, unzuverlässig, wenig erfolgreich in der Führung auswärtiger Politik — ein Vorwurf, mit dem sich schon James Bryce in seinem klassischen Werk über die modernen Demokratien auseinandergesetzt hat60. Der Forderung nach Stetigkeit, Fachkenntnis und Verschwiegenheit stehen Labilität, Dilettantismus, Öffentlichkeitsbedürfnis in der Demokratie gegenüber. In der Tat hat auch die moderne Politik der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die zwischenstaatlichen Beziehungen anders als die inneren Angelegenheiten nicht von großen Versammlungen und ständig wechselnden Volksbeauftragten behandelt werden können: Diplomatie 58 59 60

Vgl. Ferdinand Hermens, Der Ost-West-Konflikt, Frankfurt/M. 1961, S. 23 ff. Dietrich Schindler, aaO., S. 14 5. James Bryce, Moderne Demokratien, Bd. III, München 1926, S. 36 ff.

Betrachtungen

über den Primat

der

Außenpolitik

141

als Kunst der Fachleute und Kontinuität der Außenpolitik in der Hand einer stabilen Zentralgewalt scheinen dem Wesen der Demokratie zu widersprechen. Im inneren Kampf gegen absolute Herrschaft entstanden und durchgesetzt, stellt das demokratische Prinzip die einheitliche Willensbildung stets neu in Frage; Aufspaltung der Loyalitäten ist die Folge, Unterlegenheit gegenüber der scheinbar geschlossenen, rascher aktionsfähigen Politik der Diktaturen der Preis innerer Freiheit. Wir stehen hier zugleich vor dem allgemeineren Problem, wie Demokratie und Autorität miteinander zu versöhnen seien"1. Aber zwei Einwände, die unmittelbar auf den Kern des demokratischen Lösungsversuchs der Primatsfrage hinführen, sind gegen eine solche Argumentation zu erheben. Erstens bleibt zu unterscheiden zwischen der effektiven Durchführung der Politik und ihrer primären Begründung und Bestimmung. Die Demokratie hat hier den „Demokratiesierungsprozeß" bewußt aufgehalten, sie hat in Wahrheit stets viel eher als Diktaturen den Bereich der Fachleute respektiert. Indem die auswärtige Gewalt schon von Locke und Montesquieu, von Rousseau, Hegel, aber auch Jefferson der Exekutive zugeordnet wurde' 2 , hat sich die Demokratie lediglich die Grundentscheidung nach ihrer innenpolitisch bestimmten und kontrollierten Willensrichtung vorbehalten. — Ein weiterer Gesichtspunkt erscheint nicht minder wesentlich. Legt nicht die Einsicht in die Unteilbarkeit aller Politik zugleich den Gedanken nahe, daß demokratische Innenpolitik als ständig neu in Konflikt und Kompromiß vollzogener Ausgleich der Interessen, als realistische Lösung der „Antithetik sozialen Lebens" durchaus audi Vorbild und Antrieb für einen neuen Stil außenpolitischer Konfliktlösung sein könnte? Dem innerstaatlichen Recht ist das Völkerrecht, dem Grundrechts- und Kompromißgedanken der Schieds,gedanke und die Forderung nach Einschränkung der Souveränität auf bestimmte Grundrechte des Staates nachgefolgt,03 und das Zusammenrücken der Welt verlangt, wie einst 61

Vgl. Sigmund Neumann, Permanent

Revolution,

N e w York 1942, S. 307 ff.; Dolf

Sternberger, Autorität, Freiheit und Befehlsgewalt, Tübingen 1959. 62 Dazu Wilhelm Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik,

in:

Veröffent-

lichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehre 12 (1954), S. 130 ίί., sowie Eberhard Menzel, ebenda, S. 180 ff.; weitere Hinweise in der Diskussion (S. 221 ff.) über die rechtspolitischen Tendenzen und Probleme im Verhältnis der Gewalten bei der Formierung der Außenpolitik. 63 Vgl. die völkerrechtliche Literatur bei Heinrich Körte, Grundrechte der Staaten im Völkerrecht der Gegenwart, in: Festschrift für Herbert Kraus, Kitzingen 1954. S. 244 ff.

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Bracher

im innerstaatlichen Bereich, neue Formen zwischen- und überstaatlichen Interessenausgleichs. Auch die Technik des politischen Kompromisses stößt gewiß auf Grenzen, wenn sie als Grundprinzip der Demokratie zugleich an der Parallelität von zwischenmenschlichem und zwischenstaatlichem Verkehr und Zusammenleben festhält. Das schwierige Problem, wie weit Selbstbehauptung, wie weit Kompromiß in der Ost-West- und insbesondere in der Wiedervereindgungsfrage am Platze sei, setzt hier ein gegenwärtiges Beispiel. Aber das wesentliche Merkmal scheint auch hier, daß im demokratischen Kompromißprinzip nicht mehr die Staatsräson, sondern das Grundaxiom menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung die erste Rolle spielt: erneut also, in Inhalt und Konsequenz, das Hinüberwirken innenpolitischer Werte in die zwischenstaatliche Machtpolitik und das Aufrichten überstaatlicher Maßstäbe auf dem Grund fortgeschrittener zwischenmenschlicher Erfahrung. Und auch hier bestätigt sich die Erkenntnis, daß die politische Gestaltung der rechtlichen Fixierung vorangeht, auch wenn häufig die institutionelle Form noch des Inhalts ermangelt: Völkerbund, U N O , europäische, supranationale Einrichtungen sind Beispiele. Freilich bleibt in der Einschränkung der Beschlußfähigkeit und Verbindlichkeit, im Grundsatz der Einstimmigkeit für alle wesentlichen Fragen (Völkerbund) und im Vetoprinziip ( U N O ) der „Mythos der Souveränität" unangetastet, ja, erst recht legitimiert."4 So wenig dies Problem in seinem ganzen, auch moralischen Gewicht hier behandelt werden kann, so gewiß spielt es bei der Behauptung von der Unterlegenheit demokratischer Außenpolitik eine wesentliche Rolle. Die Berlinkrise und die ihr folgenden Verhandlungen haben ihr neue Argumente geliefert. Angesichts der verschärften Diskussion, die der pluralistische Westen dem „monolithischen" Osten gegenüber nicht immer glücklich geführt hat, erhob sich allenthalben die Mahnung, der Westen solle nicht in vielen Reden und Kontroversen Pläne und mögliche Konzessionen vorher schon preisgeben; man dürfe jetzt nicht auf parlamentarische Debatten drängen und Opposition nicht aus der innenpolitischen in die außenpolitische Sphäre verlegen. (Darauf gründete wesentlich audi die Kritik am Deutschlandplan der S P D oder am vorweg erklärten Atomversuchsverzicht des Labour-Schattenkabinetts.) Die 64 Maclver, Regierung, aaO., S. 373; vgl. zum folgenden Ernst Fraenkel, öffentliche Meinung aaO.; J . B. Duroselle, Der Einfluß der Massen auf die Außenpolitik, in: Masse und Demokratie, Erlenbadi-Zürich 1957, S. 55 ff.

Betrachtungen über den Primat der

Außenpolitik

143

Außenpolitik müsse also gegen das Hin und Her innenpolitischer Machtkämpfe abgeschirmt werden, ja, man müsse wieder den Weg zur klassischen Geheimdiplomatie finden, um der Krise gewachsen zu sein. Aber es bleibt das Gegenargument: die demokratische Kontrolle der Politik ist nach innen und außen unteilbar, und ihr Wesen liegt stets in der Möglichkeit und Durchsetzbarkeit freier Meinungsbildung. Tatsächlich ist das Dilemma nur scheinbar. Nicht nur kann man darauf hinweisen, daß gerade radikal-demokratische Verfassungsformen wie das Schweizer Gesetzgebungsreferendum keineswegs eine radikale, eher eine konservative Politik begünstigt haben.65 Im äußersten Krisenund Kriegsfall hat in unserem Jahrhundert auch stets eher die Demokratie als ihr Widerpart eine erfolgreiche Lösung gefunden. Diese überraschende Erfahrung zweier Weltkriege gibt, selbst wenn sie noch nichts über die endgültige Fähigkeit sowjetischer Manövrierkunst aussagt, einen Hinweis auf die Oberflächlichkeit des Erfolgsarguments auch in der Frage des Verhältnisses von Gesellschafts- und Staatsform zur A u ßenpolitik. Wir erinnern ferner an das Beispiel der dritten französischen Republik seit 1870: die Demokratie hat hier im steten Blick auf das deutsch-französische Problem mehr Konsistenz bewiesen als das autoritär-plebiszitäre Regime des dritten Napoleon, aber auch als die militärisch-bürokratischen Monarchien Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands; der Zusammenbruch von 1940 hat wohl die militärischen Grenzen eines fast isolierten Frankreich gezeigt, nicht aber, wie das rasche Erstarken der Resistance beweist, die Demokratie selbst widerlegt. Noch weit eindrucksvoller ist die Verbindung von innerer Emanzipation und Bestimmung der Außenpolitik in England. Die Nichtanerkennung der Sezession im amerikanischen Bürgerkrieg war ein Entschluß, der gegen den Willen der englischen Oberschicht der breiten öffentlichen Meinung und, wie man sagen muß, der politischen Vernunft Rechnung trug. Die imponierende Geschlossenheit und Effektivität demokratischer Politik im ersten Weltkrieg; aber auch die Bedeutung der Appeasementpolitik gegen Hitler, durch die — wie immer man ihre umstrittenen Umstände beurteilen mag — doch jedenfalls Hitler schließlich offen ins Unrecht gesetzt und, nachdem alle Vermittlungsversuche gescheitert waren, die Friedensneigung der englischen Öffentlichkeit in entschiedene Kriegsbereitschaft verwandelt wurde; schließlich der Einfluß der inneren Auseinandersetzung auf den raschen Abbruch des Suez«5 Schindler, aaO., S. 145 f.

144

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Unternehmens: all das sind Beispiele für die enge Verbindung beider Bereiche und zudem Beweise für die Fragwürdigkeit der Legende von der Unterlegenheit demokratischer Außenpolitik. Vor -allem aber erscheint die Geschichte der Vereinigten Staaten als klassisches Beispiel innenpolitischer Orientierung, die wesentlich auch die Leitung der Außenpolitik beherrscht hat. Während überall sonst die Parlamente nur „kontrollierenden Anteil" 6 * an der Außenpolitik der Regierung nehmen, ist hier auch der Senat aktiv eingeschaltet.67 Das ging trotz ständigem Wechsel des Personals gut, solange die Politik der Isolation und der amerikanischen Hemisphäre den weltpolitischen Gegebenheiten entsprach: die politische Dynamik verwirklichte sich in der Ausdehnung der inneren Grenzen, in der Frontierbewegung, in der raschen industriellen Emanzipation und in der Abmndung und Abschirmung des Kontinents gegen europäischen Kolonialismus und inneramerikanische Auseinandersetzungen. Das 20. Jhdt. hat diese Sicherheit des innenpolitischen Primats nun freilich ernsthaft erschüttert und auch zu Verschiebungen in der Bestimmung der Außenpolitik geführt.68 Der weltgeschichtliche Entsdiluß des Kriegseintritts von 1 9 1 7 war, so sehr er der gewandelten Situation und dem Weltkriegscharakter der Auseinandersetzung entsprach, nur durch die deutschen Mißgriffe in der Seekriegsführung und ihre Wirkung auf die inneren Kräfte und die öffentliche Meinung Amerikas möglich geworden. Deshalb auch der neuerliche Rückzug aus der Weltpolitik, der verhängnisvolle Verzicht auf eine Beteiligung am Völkerbund, die Zurückhaltung gegen Hitler und schließlich die Tatsache, daß wohl nur der japanische Uberfall auf Pearl Harbour — wie immer man die Details beurteilen mag — Roosevelt die neuerliche Hinwendung zur aktiven Kriegspolitik ermöglichte. Erst die Konfrontierung mit der auch innenpolitischen Drohung des Bolschewismus nach dem Ausfall des Schutzwalls Europa, erst die bipolare Weltkonstellation nach 1945 hat, noch immer weitgehend innenpolitisch und gesellschaftsideologisch motiviert, Amerika in die Funktion einer „Weltββ

Scheuner, aaO., S. 228.

67

D a z u den vergleichenden Überblick v o n Werner Krauss, Die

Kontrolle der Außenpolitik,

in: Außenpolitik

parlamentarische

6 ( 1 9 5 $ ) , S. 5 1 3 ff.; vgl. auch Ernst-Otto

Czempiel, Der diplomatische Dienst der Vereinigten

Staaten zwischen Tradition

und

Spezialisierung, in: Politische Vierteljahresschrifi 3 (1962), S. 63 ff.; sowie besonders Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 68

K ö l n - O p l a d e n i960, S. 289 ff.

Zusammenfassend E b e r h a r d Menzel, Gegenwartsprobleme

der Auswärtigen

walt in den Vereinigten Staaten, in: Festschrift H. Kraus, aaO., S. 259 ff.; 303.

Ge-

Betrachtungen

über den Primat

der

Außenpolitik

145

macht wider Willen" versetzt.69 Die Probleme einer solchen unwillig betriebenen Politik liegen auf der Hand iund sind oft kritisch beleuditet worden: neben der beständigen Drohung eines neuen Rückzugs der amerikanischen öffentlichen Meinung in die Innenpolitik ist es vor allem die mit verschiedenem Glüdk operierende Auslandshilfe und Stützpunktpolitik, die sowohl im süd- und mittelamerikanischen Kontinent wie in Asien und dem vorderen Orient zu heftigen Reaktionen und Rückschlägen geführt hat. Kaum geringere Probleme ergeben sich auch, wie die jüngste Entwicklung um das Frankreich de Gaulies zeigt, für die amerikanische Bündnispolitik. Und doch besitzt die innenpolitische Verwurzelung der amerikanischen Außenpolitik, zumal nach der Modifizierung durch die Erfahrung der beiden Weltkriege, zwei Vorzüge, die ihre Nachteile entschieden aufzuwiegen scheinen. Sie verbürgt das festere Fundament einer Zweiparteien-Außenpolitik, die dem äußeren Gegner weniger Chancen einer inneren Aufspaltung als die europäische Szenerie bietet. Und sie ist eher geeignet, der ideologisch abgestützten Außenpolitik eines totalitären Staates zu begegnen als ein Primatsdenken alten Stils, das sich in der Ära des „Weltbürgerkriages" seiner Rückensicherung längst nicht mehr sicher sein darf. Wohl ist die Policy of liberation im Sinne einer demokratischen, also innen- und freiheitspolitisch begründeten Wiederherstellung rechtsstaatlicher Ordnung in der sowjetbeherrschten Welthälfte rasch wieder einer Bescheidung auf die Eindämmungs-(Containment)Politik gewidien. Die Ära Dulles hat die Grenzen erfahren, die dem Glauben an die innere Umformung außenpolitischer Konstellationen gesetzt sind. Doch bietet, allen Schwierigkeiten, Fehlern und Rückschlägen zum Trotz, die Außenpolitik der Vereinigten Staaten gerade dank ihrer vielkritisierten Verschmelzung mit innenpolitischen Primatsansprüchen, einen Anknüpfungspunkt für alle Bestrebungen und Versuche, im Angesicht des atomaren Krieges doch noch die Ansätze zu kräftigen, die der Gedanke einer Weltfriedensordnung gerade aus der Anschauung 69

Ernst Fraenkel, USA - Weltmacht wider Willen, Berlin 1957, S. 10 ff. Für die Versuche einer bewußten machttheoretischen, „realistischen" Fundierung der amerikanischen Außenpolitik im Rahmen der internationalen Politik ist hier besonders auf die Bücher von Hans J . Morgenthau hinzuweisen: ζ. B. Dilemmas of Politics, Chicago 1958; Politics among Nations, 3. Aufl. N e w York i960; vgl. Kenneth Β. Thompson, Political Realism and the Crisis of World Politics, Princeton i960, sowie zusammenfassend (mit Bibliographie) Gottfried-Karl Kindermann, Philosophische Grundlagen und Methodik der Realistischen Schule von der Politik, in: Wissenschaftliche Politik, Freiburg/Br., 1962, S. 2 J I ff. 10

Fracnkel

146

Karl Dietrich Bracher

der innenpolitischen Kompromiß- und Ausgleichstechnik entwickelt hat: Völkerbund und U N O waren die Zeichen, europäische und atlantische Gemeinschaft die Partialversuche. Zwischen die westlichen und östlichen Manifestationen des Primatsproblems hat sich nun noch die Emanzipationsbewegung der „jungen Nationen" Asiens und Afrikas geschoben. Ihre verfassungs,- sozial- und wirtschaftspolitische Konsolidierung erscheint vielfältig überlagert von Nationalstaats- und Souveränitätsideologien, wie sie die älteren Staaten vor dem Zeitalter der Weltkriege entwickelt hatten. 70 Aber die Ähnlichkeit hat ihre Grenzen in der Tatsache, daß der Nachholprozeß hier in gewaltiger Beschleunigung und schon unter dem Eindruck des Dilemmas geschieht, in das die Kabinetts-, Revolutions- und Nationalismuspolitik Europas 50 Jahre davor geführt hat. Es steht im Zeichen einer gegenüber der Vorkriegswelt grundlegend veränderten Situation der Interdependenz der internationalen Politik, der sich schließlich mit der Idee der äußeren Staatsräson auch der Gedanke der Volkssouveränität und der Weltbefriedung durch innenpolitische Emanzipation mehr und mehr ein- oder gar unterzuordnen scheint.11 In der Tat finden sich die neuen Staaten, trotz rasch und überschwenglich bekundetem Bekenntnis zu einem „Neutralismus" neuen und eigenen Stils, sogleich in den innenpolitisch-ideologisch begründeten, außenpolitisch ausgetragenen Weltgegensatz von Kommunismus und Demokratie hineingerissen; sie sind ohne Anlehnung an eine Machtpolitik, die mit den äußeren audi die inneren Einflüsse geltend macht, gar nicht existenzfähig. Selbst Indien und Ägypten tragen hier kein überzeugendes Eigenprofil; und in Jugoslawien, das als kommunistisches System mit „blockfreier" Außenpolitik alle Einsichten zeitweilig auf den Kopf zu stellen schien, ist die persongebundene Lösung besonders untypisch und wohl auch transitorisch. Unsere Betrachtung muß also mit einer Reihe von Fragezeichen enden. Sie registriert die Tendenz zu übernationalen und überstaatlichen Lösungen, zu größeren Wirtschafts- und Militäreinheiten, zur innenpolitischen Durchdringung und Überhöhung der Außenpolitik, zum zwischenstaatlichen Kompromiß innerhalb innenpolitisch-ideologisch geprägten Fronten und schließlich sogar zum Koexistenz- und Statusquo70

V g l . jetzt auch Richard Löwenthal, Staatsfunktionen

und Staatsform in den Ent-

wicklungsländern, in: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1 9 6 3 , S. 164 ff. 71

V g l . Hans W o l f g a n g K u h n , Begriff und Problem der weltpolitischen

Interdepen-

denz, in: Wissenschaftliche Politik, Freiburg/Br. 1962, S. 237 ff.; F. O . Czempiel, Interdependent und Allgemeinwohl,

in: Frankfurter

Hefte 18 (1963), S. 1 0 1 ff.

Betrachtungen

über den Primat

der

Außenpolitik

147

Gedanken zwischen diesen Fronten. Wir stellen fest, daß die Art zwischenstaatlicher Auseinandersetzung freilich noch keine Parallele zum Ausgleich des innerstaatlichen Pluralismus bietet, solange an den Leitbildern der vollen Souveränität noch festgehalten wird; daß mithin die Primatsfrage, die nur durch einen Ausgleich der Staatsegoismen nach dem Vorbild der zwischenmenschlichen Kompromißpraxis in der Demokratie aufgehoben würde, ungelöst fortbesteht. Mit dem Phänomen der Macht bleibt auch der Austrag von Gegensätzen Wesen und Inhalt der Politik. Aber Macht ist nicht böse an sich, sondern im Verhältnis ihrer Anwendung, und so steht auch der Modus der politischen Auseinandersetzung in der Demokratie, auf eine höhere Ebene verwiesen, zugleich als Vorbild zwischenstaatlicher Beziehungen. Für eine politische Wissenschaft, die nur im Raum der freiheitlichen Demokratie existieren kann, weil nur diese Herrschaftsform eine kritische Analyse ihrer eigenen Elemente zuläßt, bedeutet dies Problem noch mehr als für Historie oder Soziologie, auch für Staats- und Völkerrecht. Sie kann sich nicht bei der Beschränkung auf einen der Aspekte bescheiden, wie sich der Historiker im Zweifelsfall vorwiegend für die äußere Politik der Staaten, der Soziologe für die inneren Prozesse der Gesellschaft, der Jurist für die rechtlichen Normen der Politik zu interessieren pflegt. So wird diese Wissenschaft sich, auch um ihres eigenen Profils willen, stärker als bisher in konkreten Untersuchungen um vertiefte Einsicht in das Verhältnis und den Ubergang zwischen der inneren und der äußeren Politik bemühen müssen. Sie wird dabei von der Grundfrage aller Politik ausgehen: kommt politische Dynamik und Macht, kommt politische Ordnung als Ausgleich und Kraftentfaltung eher von oben und außen zustande, wie es das Credo der Diktatur — Politik als Zwang — seit alters und mit viel Überzeugungskraft verkündet, oder ist nicht innere Freiheit, politische Willensbildung von innen und unten seit der Erneuerung des demokratischen Gedankens und inmitten der Anfechtung pseudodemokratischer Diktaturen auch der tragende Grund einer konstruktiven Außenpolitik, die auf den Menschen und den Wert der Person hic et nunc statt auf großartig-iunmenschliche Zukunftsideologien bezogen ist? Hier ist auch der Wissenschaftler gerufen, Stellung zu nehmen und die weiteren Konsequenzen zu bedenken, die im Primatsproblem stecken. Schließlich bleibt bis zur Gegenwart das Fazit bedenkenswert, das James Bryce am Ende des ersten Weltkrieges ziehen konnte: „Die Versuchungen und Fallstricke, denen die diplomatischen Methoden und Ab10*

Karl Dietrido

148

BraAer

sichten in oligarchisch ,und despotisch regierten Staaten zu ihrem Verderben ausgesetzt sind, unterscheiden sich vielfach von den Versuchungen, vor denen eine Volksregierung auf der Hut sein muß. In diesen Fällen aber und in manchen anderen haben sie sich als die gefährlicheren erwiesen." Bryce schließt seine Betrachtung mit der Mahnung, es gelte, die inneren Fundamente auswärtiger Politik durch politische Bildung und Aufklärung der Völker zu verbreitern und ihr dadurch wahre Festigkeit zu geben: „Unwissenheit ist das ganz große Hindernis." 72 Mehr denn je dürfte für die heutige Situation gelten, daß die Behauptung freiheitlicher Demokratie gegenüber der Verführungskraft totalitärer Gegner, aber auch der Gefahr autoritärer Unterwanderung steht und fällt mit der Einsicht, daß gute Innenpolitik auf lange Sicht die beste Außenpolitik verbürge. Im Licht dieser Erkenntnis sind audi die neuerlichen Versuche und Vorschläge zu sehen, einem praktisch unumschränkten Existenzrecht des Staates diie Verfassung, einer absolut gesetzten Staatsräson die inneren Freiheitsrechte unterzuordnen, wie sie die jüngsten Bemühungen um ein weitreichendes Notstandsrecht hervorgebracht haben. In ihnen kehrt die These vom Primat der Außenpolitik wieder, die im Zeitalter des Weltbürgerkriegs, nach den Erfahrungen der Weltkriege, im Zeichen des Wettstreits zwischen verschiedenen Gesellschaftsordnungen und der globalen Interdependenz aller Politik keine Daseinsberechtigung mehr besitzt. Die Bundesrepublik ist den darin liegenden Gefahren besonders ausgesetzt: nicht nur aufgrund ihrer besonderen außenpolitischen Lage, sondern nicht weniger angesichts der „versäumten Reform" eines Staates, dessen Innen- und Gesellschaftspolitik nach wie vor durch außenpolitisches Primatsdenken beeinträchtigt wird, so wenig das Deutschlandproblem dadurch gelöst werden kann 73 . Außenpolitik durch gute Innenpolitik schließt weder Geheimdiplomatie noch klare Planung der auswärtigen Angelegenheiten aus. Aber es hält sie unter Kontrolle und gibt dem Bürger die Gewißheit: tüa res agitur. Ohne diese Gewißheit verlöre Politik ihren Sinn, zuerst und zuletzt dem Menschen zu dienen.

72 73

Bryce, aaQ., Bd. III, S. 5 1 ; S. 54. Vgl. Ο. H. v. d. Gablentz, Die versäumte Reform, Köln-Opladen i960; K. D.

Bracher, Die zweite Demokratie Demokratie

aaO., S. 128 ff.

in Deutschland

— Strukturen

u. Probleme,

in:

Die

RICHARD

LÖWENTHAL

Staatsräson und Ideologie in den sowjetisch-chinesischen Beziehungen Jeder Versuch zur Analyse der Faktoren, welche die außenpolitischen Entscheidungen kommunistischer Mächte bestimmen, muß an das Problem von zwei Seiten herangehen: von den „nationalen Interessen" und von der „Ideologie". Beide Zugänge sind im strikten Sinne komplementär: Keiner von ihnen vermag isoliert zu präzisen, geschweige denn zu befriedigenden Resultaten zu führen. Was nationales Interesse ist, ist schon innerhalb demokratischer Staaten Gegenstand umstrittener Deutungen; im Lichte der Ideologie einer herrschenden totalitären Partei nimmt dies Interesse völlig neue Züge an. Umgekehrt kann ein System ideologischer Grundsätze je nach der Situation des Staates, dessen Herrscher sie anzuwenden suchen, ganz verschiedene außenpolitische Konsequenzen haben. Nichtsdestoweniger führen die beiden Zugänge zu zwei verschiedenen Gruppen von Daten, die für die außenpolitischen Entscheidungen relevant sind. Die Analyse des „nationalen Interesses" kann vernünftigerweise alle jene Elemente in der Situation eines Staates erfassen, die von der Eigenart und den spezifischen Vorstellungen seiner herrschenden Gruppe im gegebenen Augenblick unabhängig sind — seine Geographie, Bevölkerungsstruktur und wirtschaftlichen Hilfsquellen, die Mächtekonstellation, die ihn umgibt, die Fähigkeiten und Charaktereigenschaften seiner Einwohner usw. Die „ideologische" Analyse andererseits sollte sich nicht auf die Auslegung der klassischen Schriften und programmatischen Dokumente der herrschenden Partei beschränken, sondern diese zu dem Selbsterhaltungsinteresse des Regimes in Beziehung setzen und ihre praktische Bedeutung an Hand dieses Maßstabes zu beurteilen suchen. Wenn die beiden Zugänge so aufgefaßt werden, so kann es in der Tat nützlich und sogar notwendig sein, jeden für sich zu benutzen — nicht, um sich damit zu begnügen, sondern als vorbereitende Schritte zu einer realistischen Synthese.

150

Richard

Löwenthal

Chinesische und russische

Nationalinteressen

Wenden wir diese isolierende Methode auf die nationalen Interessen Rußlands und Chinas an, so erscheint es höchst unwahrscheinlich, daß ein Bündnis zwischen Rußland und einem starken, geeinigten China jemals zustande gekommen wäre, wenn nicht beide Staaten unter kommunistische Herrschaft geraten wären: ihre „reinen" nationalen Interessen sind tendenziell entgegengesetzt. Rußlands Großmachtinteresse mag eine chinesische Regierung erfordern, die stark genug ist, um den Übergriffen anderer Mächte auf ihrem Territorium eine Grenze zu setzen, zumal in Zeiten, wo Rußland allein nicht in der Lage wäre, solche Übergriffe zu verhindern; aber Rußlands Interesse erfordert bestimmt kein China, das selbst eine Großmacht ist. Die Sowjets haben vor 1927 Regierungen von Teilen Chinas und von 1936 bis 1945 eine schwache Nationalregierung unterstützt, um die japanische Machtexpansion auf dem asiatischen Festland einzudämmen, und sie haben nach 1946 zum Teil deshalb für Mao Tse-tung Partei genommen, um der Ausbreitung des amerikanischen Einflusses entgegenzutreten. Aber sie haben damals die Schaffung eines starken, unter kommunistischer Herrschaft geeinten Chinas nicht erwartet und allem Anschein nach auch nicht gewünscht; sie hielten die diplomatischen Beziehungen mit Tschiang Kai-schek bis zum Vorabend seiner Vertreibung vom Festland aufrecht und führten mit ihm sogar noch Verhandlungen über die Grenzprovinzen. Umgekehrt stand Chinas nationales Interesse traditionell im Gegensatz zu denen aller der Mächte, die seinerzeit in einem Wettlauf um Einflußsphären und Vorrechte Chinas Schwäche ausgebeutet hatten, einschließlich Rußlands; und im Maße wie der britische und französische Einfluß in Ostasien zurückging, wurde Rußland nach Japan zur wichtigsten Gefahr f ü r die Einheit Chinas. N u r die Vereinigten Staaten konnten auf Grund ihrer geographischen Entfernung und ihrer Tradition einer Politik der „offenen Tür" als Chinas „natürliche" Verbündete gegen die Nachbarmächte erscheinen. Auch das sowjetisch-chinesische Bündnis, das als ein Ausdruck der ideologisch bestimmten gemeinsamen Bedürfnisse der beiden kommunistischen Regime geschaffen wurde, hat die Rolle des „reinen" Nationalinteresses als eines Konfliktfaktors nicht beendet. Dies zeigte sich in Stalins Versuch, die russischen Vorrechte in der Mandschurei und den russischen Einfluß in Sinkiang aufrechtzuerhalten — ein Versuch, den erst seine Nachfolger 1954 unter chinesischem Druck aufgaben — und in den späteren Bemü-

Sowjetisch-chinesische

Beziehungen

151

hungert der Chinesen, erneut in der Mongolischen Volksrepublik Einfluß zu gewinnen, die prompt auf sowjetischen Widerstand stießen; es zeigte sich auch neuerdings in der bitteren Rivalität beider Mächte um den maßgebenden Einfluß auf das kommunistische Regime in Nordkorea. Versucht man abzuschätzen, wie sich das relative Gewicht dieses Konfliktfaktors entwickelt hat und weiter entwickeln wird, so kommt man zu dem Schluß, daß er akut wurde, als China nach einer langen Periode des Bürgerkriegs und der internationalen Machtlosigkeit zum erstenmal wieder als Machtfaktor auftauchte; daß er zeitweise latent wurde in der Periode von 1954 bis 1957, als nämlich Rußland die Konsolidierung des neuen China schon als Tatsache akzeptiert hatte, während andererseits Chinas Großmachtehrgeiz noch nicht begonnen hatte, ernsthaft in Erscheinung zu treten; und daß er neuerdings unter dem Eindruck der sichtbaren Zunahme dieser Ambitionen eine neue Aktualität gewonnen hat. Das Kennzeichen dieser neuen Phase ist, daß der Interessengegensatz sich nicht mehr auf die Grenzgebiete von Korea bis Sinkiang beschränkt, sondern sich zu einem grundsätzlichen sowjetischen Widerstand gegen die Expansion Chinas als asiatische Macht und gegen sein potentielles Hineinwachsen in eine Weltmachtrolle erweitert hat. Sowohl die russische Politik, Indien als ein Gegengewicht gegen China auf dem asiatisdhen Festland zu erhalten, wie die chinesischen Anstrengungen, Indiens Machtlosigkeit zu beweisen, sind neben ihrer teilweisen Motivierung durch Meinungsverschiedenheiten über die weltweite kommunistische Strategie (die weiter unten erörtert werden sollen) auch Ausdruck dieses unmittelbaren Gegensatzes der nationalen Interessen; und das gleiche gilt f ü r Moskaus offenkundige Entschlossenheit, China solange wie möglich am Eintritt in den „Atomklub" zu hindern 1 . Und schließlich ist der russische Widerstand gegen ein schnelles Anwachsen der chinesischen Macht offenbar einer der Hauptfaktoren, welche die wirtschaftliche, militärische und diplomatische H i l f e der Sowjets für das kommunistische China seit Jahren beschränkt haben. Aus dem Gesagten folgt, daß der Gegensatz der nationalen Interessen um so akuter werden muß, je mehr es den Chinesen gelingt, sich eine un1

In der Polemik, die der Unterzeichnung des Versuchsstopabkommens vom 25. J u l i

1963 folgte, hat die Sowjetregierung diese Entschlossenheit bestätigt und begründet, und Peking hat enthüllt, daß Moskau sich seit J u n i 1959 geweigert hat, C h i n a Atombomben oder technische Daten zu ihrer Herstellung zu liefern. V g l . „ T h e Origin and D e velopment of the Differences between the Leadership of the C P S U and ourselves", NCNA,

Sept. 5, 1963.

Richard

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Löwenthal

abhängige Machtbasis aufzubauen — es sei denn, daß eines Tages ein Punkt erreicht wird, an dem Rußland sich mit einem grundsätzlichen Wandel im Kräfteverhältnis der beiden Mächte abfinden muß. Die Rückschläge, die Peking bei seinen Bemühungen um schnelle Industrialisierung erlitten hat, lassen es als unwahrscheinlich erscheinen, daß ein solcher Punkt schnell erreicht, und als zweifelhaft, ob er überhaupt eintreten wird; umgekehrt tendiert die bemerkenswert erfolgreiche Ausdehnung der chinesischen Einflußsphäre in Asien — sowohl unter nichtkommunistischen wie unter kommunistischen Ländern — dazu, eine entsprechende Expansion des Gebiets herbeizuführen, in dem sowjetische und chinesische Politik in direktem Gegensatz zu einander stehen. Gemeinsame Ziele — gemeinsame

Feinde

In seinem Ursprung war das russisch-chinesische Bündnis also völlig ideologisch bedingt: es wurde als Ergebnis der Machtergreifung der K P Chinas geschlossen — einer Partei, die sowohl aus prinzipiellen Gründen wie aus Selbsterhaltungstrieb entschlossen war, sich in der Weltpolitik „an eine Seite anzuschließen"2. Die siegreichen Kommunisten Chinas waren keine Satellitenpartei — sie wurden nicht von Sowjetagenten geführt, und direkter sowjetischer Unterstützung verdankten sie wenig; doch ihre Parteistruktur und ihre politischen Vorstellungen waren im wesentlichen am bolschewistischen Vorbild orientiert. Sie setzten sich das Ziel, China im Ebenbilde der Sowjetunion umzuschaffen, wenn auch teilweise unter Benutzung anderer Methoden, und mit den Sowjets in der Förderung des Fortschreitens der „Weltrevolution", also in der Hilfe für die Ausdehnung der kommunistischen Parteiherrschaft auf weitere Länder, zusammenzuarbeiten. Im Kampf für dies gemeinsame Ziel mußten sie auf den Widerstand der gleichen Feinde stoßen — der „imperialistischen" Mächte unter Führung der Vereinigten Staaten. Bis auf den heutigen Tag sind die gemeinsamen ideologischen Ziele, mit denen beide Parteien ihre Herrschaft legimitieren, und die durch die Verfolgung dieser Ziele hervorgerufenen gemeinsamen Feindschaften der wesentliche Zement des Bündnisses. An dieser Stelle ist ein Hinweis notwendig: So gewiß die Ideen und die Struktur des kommunistischen Parteiregimes in China weitgehend von 2

Die Formel stammt aus Mao Tse-tungs Artikel „Über die volksdemokratische

Diktatur", der zum 28. Gründungstag der K P Chinas am 1. 7. 1949, drei Monate vor der Proklamierung der chinesischen Volksrepublik, veröffentlicht wurde. Deutsch in Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie, 15. 7. 1949.

Sowjetisch-chinesische

Beziehungen

153

dem sowjetischen Vorbild und daneben von dem gemeinsamen marxistischleninistischen Erbe und den gemeinsamen Bedürfnissen moderner totalitärer Macht bestimmt wurden, so gewiß waren die beiden Parteiregime niemals identisch. Vielleicht lag es teilweise an dem Einfluß der Tradition chinesischen politischen Denkens, das stets mehr Gewicht auf die Weisheit und Staatskunst der herrschenden Gruppe als auf die institutionellen Formen legte; gewiß spielte die Erfahrung der chinesischen Kommunisten eine Rolle, daß sie sich gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit im Bürgerkrieg behauptet und nach Jahrzehnten des Kampfes und schwersten Opfern triumphiert hatten — Tatsache ist, daß sie seit langem den „subjektiven Faktor" noch stärker betont haben als die Bolschewiki: sie glauben noch stärker an die Macht des revolutionären Willens, unter Anwendung der „richtigen" Denkmethode die objektiven ökonomischen Bedingungen umzugestalten, und an die Notwendigkeit, das Bewußtsein der Massen dementsprechend umzuformen. Die Verschiedenheiten im Arbeitsstil und im inneren Klima der beiden herrschenden Parteien, die sich daraus ergeben, enthielten von jeher eine Möglichkeit divergierender ideologischer Entwicklung; doch sie haben tatsächlich nicht zu ideologischen Konflikten geführt, solange ihre praktischen Auswirkungen auf Unterschiede in den Methoden und im Tempo beschränkt blieben, mit denen jede von ihnen die eigene Gesellschaft umzuwälzen suchte. Stalin hat niemals versucht, den Chinesen Vorschriften f ü r den A u f b a u des eigenen Staates zu machen, wie seinerzeit den Jugoslawen; und Mao erlaubte sich keine Andeutung von Kritik an den sowjetischen Methoden, solange Stalin lebte. Nach Stalins Tod aber wurde die Anerkennung des Redits jeder herrschenden kommunistischen Partei, selbst die geeigneten institutionellen Formen und das geeignete Tempo f ü r die Annäherung an das gemeinsame Ziel unter gegebenen nationalen Bedingungen zu bestimmen, bald zum Glaubenssatz der von Chruschtschow verkündeten offiziellen sowjetischen Lehre. Die Schlußfolgerung scheint daher begründet, daß der erste chinesisch-sowjetische ideologische Streit über innerpolitische Fragen — die Debatte über die Volkskommunen und die Vorbedingungen des Fortschritts zur „höheren Stufe" des Kommunismus um die Jahreswende 1958/59 — niemals ausgebrochen wäre, wenn nicht schon vorher außenpolitische Meinungsverschiedenheiten die Harmonie getrübt hätten. Man kann auch nicht behaupten, diese außenpolitischen Meinungsverschiedenheiten seien „rein ideologischen" Ursprungs gewesen. Gewiß enthält der Begriff der „Weltrevolution" jene grundlegende Zweideutigkeit, daß er die Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft durch die terri-

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Richard Löwenthal

toriale Expansion des sowjetischen Vaterlandes oder durch den Sieg unabhängiger Revolutionen bedeuten kann; Stalins begrenzte und zögernde Unterstützung für den Kampf der chinesischen Kommunisten um die Macht war ja nur ein Ausdruck seiner entschiedenen Festlegung auf die erstgenannte Auffassung. Aber er hatte Maos Sieg als vollendete Tatsache akzeptiert; und nach Stalins Tod hatten seine Erben, und insbesondere N. S. Chruschtschow, eindeutig ihre Überzeugung demonstriert, daß ein harmonischer, paralleler Vormarsch von unabhängigen kommunistischen Mächten und Bewegungen grundsätzlich möglich sei. Tatsächlich wurde von 1954 an ein erhebliches Maß von harmonischer Zusammenarbeit verwirklicht, vor allem auch während der schweren ideologischen Krise, die den Sowjetblock und die kommunistische Weltbewegung 1956/ 57 erschütterte3. Wir sind mithin zu der Schlußfolgerung berechtigt, daß der „rein ideologische" Faktor, den historisch bedingten Verschiedenheiten des ideologischen Stils zum Trotz, hauptsächlich zugunsten der Einheit gewirkt hat und daß der „ideologische Streit" erst aus der verschiedenen Wirkung des gemeinsamen Kampfs gegen den Westen auf die verschiedene nationale Lage der Sowjetunion und des kommunistischen China und aus ihren verschiedenen Auslegungen der Ideologie im Lichte dieser verschiedenen Lagen entstanden ist.

Verschiedenheit

der Situation im gemeinsamen

Kampf

Die Verschiedenheiten der Situation der beiden Mächte, auf die es hier ankommt, betreifen ihr wirtschaftliches Entwicklungsniveau, ihre militärische Sicherheit und ihren Spielraum für diplomatische Manöver. Auf Grund dieser Verschiedenheiten hat der gemeinsame Konflikt mit dem westlichen Bündnissystem zu einer ziemlich einseitigen materiellen Abhängigkeit Chinas von Rußland und zu verschiedenen Konzeptionen von jener Strategie gegenüber den Vereinigten Staaten, den kolonialrevolutio3

D i e jetzige chinesische D a r s t e l l u n g , wonach der K o n f l i k t sich im Gegenteil a n d e r

G e h e i m r e d e Chruschtschows auf dem 20. P a r t e i t a g u n d dem sowjetischen

Verhalten

gegenüber P o l e n u n d U n g a r n entzündete, k a n n nicht die Tatsache verschleiern, d a ß alle

damaligen

Meinungsverschiedenheiten

durch

weitgehende

Berücksichtigung

der

chinesischen Ratschläge seitens der sowjetischen F ü h r u n g beseitigt w u r d e n . Ihre nachträgliche Oberbetonung durch die chinesischen K o m m u n i s t e n — in dem auf S. Anm.

1 zitierten A r t i k e l — dient dem propagandistischen A p p e l l an eine

iji,

Nachhut

des Stalinismus in R u ß l a n d u n d O s t e u r o p a , mit d e r P e k i n g sich 1 9 J 6 / 5 7 durchaus nicht identifizierte.

Sowjetisch-chinesische

Beziehungen

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nären Bewegungen und den größeren blockfreien exkolonialen Nationen geführt, die im Interesse jeder der beiden Mächte liegen würde. Wirtschaftlich hat die Sowjetunion eine Stufe der industriellen Entwicklung erreicht, auf der weiterer Fortschritt in jeder gewünschten Richtung nur noch davon abhängt, welchen Zielen sie den Vorrang geben will: sie ist heute in der Lage, wesentliche Verbesserungen ihrer rückständigen Landwirtschaft und des Lebensstandards ihrer Völker zu erzielen, oder den Rüstungswettlauf im erforderlichen Tempo fortzusetzen, oder ihren kommunistischen Alliierten oder den blockfreien Mächten massive Entwicklungshilfe zu gewähren — wenn sie sich auch nicht leisten kann, all diese Dinge zugleich zu tun. China dagegen ist noch auf einer frühen Stufe seines Kampfes um Industrialisierung, der wegen des niedrigeren Ausgangsniveaus und des stärkeren Bevölkerungsdrucks noch wesentlich schwieriger zu sein scheint als selbst im Falle der Sowjetunion unter Stalin. Ein erster Versuch, mit originellen Methoden einen industriellen „Sprung nach vorn" ohne massive Auslandshilfe zu erreichen, ist zusammengebrochen; doch kann China auf Grund seines Konflikts mit dem Westen von den fortgeschrittenen westlichen Nationen keine nennenswerte Kapitalhilfe erwarten. Militärisch ist die Sowjetunion eine der beiden Weltmächte. Ihre Führer können sich dank ihrem Besitz von Wasserstoffbomben und interkontinentalen Raketen in hinreichender Zahl vor einem planmäßigen Angriff ihrer Feinde praktisch sicher fühlen und sehen eine Gefahr für ihre nationale Sicherheit nur in der unvorhergesehenen und unbeabsichtigten escalation eines lokalen Konflikts. China hat keine selbständige Abschreckungswaffe und keine Aussicht, sie in naher Zukunft in wirksamem Umfang zu erwerben, da ein paar Atombomben dafür heute nicht mehr ausreichen. Ohne die breite Basis einer allseitig entwickelten und zuständigem technologischem Fortschritt befähigten modernen Rüstungsindustrie mag China zwar als die führende regionale Macht Ost- und Südasiens weiterhin seine unterentwickelten Nachbarn in Schrecken halten, aber es kann nicht zu einer Weltmacht werden, die ihre eigene Sicherheit gegen alle Gegner schützen kann. Die Erreichung dieser Stufe hängt mithin von der Lösung des Problems der chinesischen Industrialisierung ab, die, wenn überhaupt, erst in längerer Frist möglich ist. Diplomatisch ist die Sowjetregierung nicht nur von fast allen Staaten anerkannt und hat einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen inne, sondern wird auch von ihren Gegnern als notwendiger Partner für immer neue Verhandlungen angesehen. Sowohl die

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Sowjetunion wie die Vereinigten Staaten sind sich bewußt, daß sie neben ihren entgegengesetzten Interessen im Ost-West-Konflikt auch ein gemeinsames Interesse an der Vermeidung des Atomkrieges haben, und die Bemühungen, durch Verhandlungen die Formen des Konflikts unter Kontrolle zu halten, sind die logische Folge dieser Erkenntnis; sie werden dadurch erleichtert, daß die zwischen beiden umstrittenen Gebiete, so wichtig sie einer oder beiden Weltmächten erscheinen mögen, nicht Teil ihres nationalen Territoriums sind. Dagegen ist die kommunistische Regierung Chinas von den Vereinigten Staaten und den meisten ihrer Verbündeten nicht anerkannt und wird durch deren Einfluß von den Vereinten Nationen ferngehalten; überdies dreht sich ihr unmittelbarer Konflikt mit den Vereinigten Staaten — um deren Schutz für die nach amerikanischer Auffassung legitime Regierung der Republik China — nach kommunistischer Auffassung um die widerrechtliche Besetzung eines Teils des chinesischen nationalen Territoriums, der Insel Taiwan, durch die Vereinigten Staaten. Während daher diplomatische Beziehungen mit dem Feind für die Sowjets eine der natürlichen Formen sind, in denen sich ihr Konflikt mit ihm abspielt, haben sie im Arsenal der Chinesen fast keinen Platz. Einseitige Abhängigkeit

innerhalb des Bündnisses

Die Sowjetunion ist also das einzige Land, von dem ein kommunistisches China die Kapitalhilfe erwarten kann, deren es für seine Industrialisierung dringend bedarf. Sie ist das einzige Land, das ein kommunistisches China vor der angeblichen Gefahr eines amerikanischen oder amerikanisch inspirierten Angriffs wirksam schützen kann, oder das ihm die modernen Waffen liefern kann, um seine Forderungen auch gegen amerikanischen Widerstand durchzusetzen. Und sie ist die einzige Großmacht, der das kommunistische China die Vertretung seiner Interessen in diplomatischen Verhandlungen mit dem Feind und besonders auch in den Vereinten Nationen anvertrauen kann. Auf all diesen Gebieten ist die Abhängigkeit nicht nur vollständig, sondern auch weitgehend einseitig: Rußland ist nicht wesentlich auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China angewiesen; Chinas militärische Stärke trägt bestenfalls indirekt zur Sicherheit der Sowjetunion bei, insofern sie einen Teil der Energien des Feindes ablenkt und vor allem, indem sie die Errichtung einer proamerikanischen Regierung an Rußlands Ostgrenze verhindert; und Chinas politischer Einfluß in einigen asiatischen Ländern hat sich zwar teilweise als für die sowjetische Diplomatie nützlich, doch keineswegs als unentbehrlich erwiesen.

Sowjetisch-chinesische

Beziehungen

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Nun ist es einleuchtend, daß gegenseitige Abhängigkeit unter Verbündeten zwar ein mächtiges Band ihrer Einheit bildet, daß aber einseitige oder doch kraß ungleichmäßige Abhängigkeit der hier beschriebenen Art zugleich ein Faktor der Einheit und ein Grund für Konflikte ist, weil sie zu scharfen Meinungsverschiedenheiten über den Platz führt, den die Interessen der schwächeren Macht auf der Vorrangliste ihres stärkeren Verbündeten einnehmen sollten. Wirtschaftlich stößt sich die Dringlichkeit des chinesischen Bedarfs an Kapitalhilfe an der russischen Neigung, dem Rüstungswettlauf die erste und der Verbesserung des Lebensstandards im eigenen Lande die zweite Stelle zuzuordnen und selbst dem Werben um die blockfreien Nationen den Vorzug vor der Hilfe an China zu geben, das, eben weil es kommunistisch ist, nicht mehr umworben zu werden braucht. Militärisch stößt sich die chinesische Forderung nach bedingungsloser sowjetischer Unterstützung des Drucks auf Taiwan an der sowjetischen Empfindlichkeit für die Risiken des Atomkriegs und der dadurch bedingten Taktik, keine örtliche Offensive über den Punkt hinaus zu verfolgen, an dem eine ernste Gefahr einer escalation auftritt. Diplomatisch stößt sich das chinesische Verlangen, vor allen Verhandlungen zwischen Rußland und dem amerikanischen Feind voll konsultiert zu werden, an dem sowjetischen Bedürfnis, in bestimmten kritischen Augenblicken schnell, und daher ohne viel Rücksicht auf die Zustimmung oder das Prestige der Chinesen, eine Entspannung herbeizuführen. Das Ergebnis war in den letzten Jahren eine Reihe von Enttäuschungen für China auf jedem dieser Gebiete.

Strategische

Meinungsverschiedenheiten

Die Verschiedenheiten der Situation der beiden kommunistischen Großmächte haben nicht nur eine einseitige Abhängigkeit des kommunistischen China von der Sowjetunion und die dementsprechenden Spannungen hervorgebracht, sondern haben auch dazu geführt, daß beide Mächte die Außenwelt von verschiedenen Standorten aus verschieden interpretierten und daher für ihren gemeinsamen Kampf verschiedene strategische Vorstellungen entwickelten. Insbesondere liegt den Sowjets mehr daran, das Risiko des Atomkriegs unter Kontrolle zu halten, teils weil sie materiell mehr zu verlieren haben und teils weil sie tatsächlich mehr Kontrolle darüber besitzen. Demgegenüber sind die Chinesen in Anbetracht der enormen Größe ihres Landes und ihrer Volkszahl und ihres niedrigen Entwicklungsgrades und in Ermangelung einer selbständigen Abschrek-

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kungswaffe eher geneigt, das Risiko als erträglich anzusehen und zugleich den Standpunkt einzunehmen, daß es nicht von ihnen abhängt. Aus ähnlichen Gründen ist es für die Sowjets natürlich, die Koordination ihrer diplomatischen Beziehungen zu feindlichen wie neutralen nichtkommunistischen Mächten mit der Ausnutzung revolutionärer Bewegungen anzustreben; dagegen führt die größere Beschränktheit der diplomatischen Möglichkeiten der Chinesen dazu, daß diese die Manöver der sowjetischen Diplomatie mit skeptischem Mißtrauen betrachten und sich in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) auf die Waffe der Revolution verlassen. In den Augen der Sowjets sind die Vereinigten Staaten zugleich die Führungsmacht des feindlichen Lagers, das durch eine zweckentsprechende Mischung von nuklearer Erpressung, Hilfe für revolutionäre Bewegungen, wirtschaftlichem Wettbewerb und Verhandlungsangeboten im jeweils geeigneten Zeitpunkt desorganisiert werden soll, und der Partner in dem Bemühen, zu verhindern, daß der Kampf in eine nukleare Katastrophe ausmündet. In den Augen der chinesischen Kommunisten sind die Vereinigten Staaten ebenfalls die Führungsmacht des feindlichen Lagers, nicht aber der Partner in irgendwelchen diplomatischen Bemühungen; stattdessen werden sie auch als der unmittelbare nationale Feind empfunden — als die Stütze der „Gegenrevolution" in einem Bürgerkrieg, der noch nicht lange zurückliegt, als der tiefverhaßte Gegner in dem noch frischer erinnerten blutigen Koreakrieg und als die Macht, die einen Teil von Chinas nationalem Territorium besetzt hält. Die Rollen, die in der Dämonologie der Sowjets von den Interventionsmächten von 1918 bis 1920, von den hitlerdeutschen Eindringlingen im letzten Weltkrieg und von den Vereinigten Staaten von heute gespielt werden, sind so im Weltbild der chinesischen Kommunisten alle in der Gestalt eines einzigen imperialistischen Monstrums, eben der Vereinigten Staaten, konzentriert. Daraus folgt, daß die Aussicht, bei diesem Monstrum etwas durch Diplomatie zu erreichen, als Null erscheint; die Gefahr, es zum militärischen Eingreifen zu provozieren, erscheint dagegen als unvermeidlich, aber nicht allzu erschreckend — schließlich hat das Pekinger Regime ein solches Eingreifen schon überlebt. Für die Sowjets sind die revolutionären Bewegungen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern —die einzigen tatsächlich nutzbaren revolutionären Bewegungen der Welt von heute — zugleich eine Kraftquelle, die sie in ihr Strombett leiten wollen, und eine Quelle von Risiken, die sie kontrollieren müssen: sie sind nur zu gern bereit, solche Bewegungen zu unterstützen, aber sie bestehen auf der Wahrung ihrer Entscheidungs-

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freiheit darüber, bis zu welchem Punkt sie jeweils gehen können. Für die Chinesen, die sich militärisch weniger sicher fühlen, erscheint die Häufung bewaffneter Konflikte in fernen Erdteilen eher als eine Verminderung ihrer direkten Gefährdung, weil sie den Gegner zur Zersplitterung seiner Kräfte zwingt. Ihre Bereitschaft zur Unterstützung solcher Bewegungen ist daher durch keinerlei Gedanken an ein Risiko beschränkt, nur durch die technischen Grenzen ihrer Aktionsfähigkeit — Grenzen, die freilich außerhalb Asiens weit enger sind, als der Ton ihrer Propaganda vermuten ließe. Für die Sowjets ist es ein wünschenswertes Ziel, einige der blockfreien Nationen auf ihre Seite zu ziehen, sei es zeitweise durch die Förderung von Konflikten zwischen diesen Nationen und einzelnen westlichen Großmächten, oder dauernd durch die Stärkung des kommunistischen Einflusses in ihren Regierungen. Aber wo dies nicht gelingt, ist auch das Umwerben wirklich neutraler und unabhängiger Nationen durch Wirtschaftshilfe vom sowjetischen Standpunkt der Mühe wert, nicht nur, um zu verhindern, daß diese Länder auf die westliche Seite hinübergleiten, sondern auch im Rahmen der sowjetischen Bemühungen, die Politik der Gegenseite durch den Druck der Weltmeinung innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen zu beeinflussen. Das stetige Werben um neutrale Stimmen in jeder einzelnen Streitfrage des Ost-West-Konflikts ist eine Konsequenz der Tatsache, daß die Russen ihre Diplomatie in einem weltweiten kontinuierlichen Feld betreiben, in dem jede Verschiebung eines Elements alle anderen beeinflußt. Für die Chinesen dagegen erscheint Hilfe an die Neutralen nur in dem Maße gerechtfertigt, wie sie aufhören, Neutrale zu sein — sei es, daß sie in einen akuten Konflikt mit einer westlichen Großmacht geraten, daß sie in zunehmendem Maße von innen her unter kommunistische Kontrolle kommen, oder daß sie in die abhängige Pufferzone inkorporiert werden, die China im Bereich seiner regionalen militärischen Vorherrschaft aufgebaut hat. Hilfe für wirklich unabhängige neutrale Staaten, die sich die Freiheit bewahren, Unterstützung von Osten und Westen zugleich anzunehmen, erscheint dagegen den chinesischen Kommunisten als unverantwortliche Verschwendung der beschränkten Hilfsquellen des Blocks; und Versuche, die Maschinerie der Vereinten Nationen zu benutzen, um mit Hilfe neutraler Stimmen die Ziele des kommunistischen Blocks zu fördern, sind in ihren Augen zwecklos und zum Scheitern verurteilt. In dem besonderen Fall Indiens, dessen Politik von Peking als das Haupthindernis für die Ausdehnung seiner asiatischen Einflußsphäre angesehen wird, erscheinen alle sowjetischen

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Richard

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Kredite demgemäß als direkte Hilfe für Chinas Feind; die Sowjets dagegen sehen in Chinas Angriffen auf Indien die Gefahr, daß eine wichtige neutrale Macht unnötig ins westliche Lager gedrängt wird. Ideologische

Rivalität

Es ist normal, daß die Partner eines Bündnisses verschiedene Dringlichkeitsskalen und strategische Auffassungen haben; es ist ebenso normal, daß 9ie darüber immer wieder Kompromisse schließen, solange der Konflikt mit dem gemeinsamen Feind wichtiger ist als diese Meinungsverschiedenheit. Wo aber ein Bündnis ausschließlich in der gemeinsamen Ideologie von herrschenden totalitären Parteien wurzelt, da nehmen die Meinungsverschiedenheiten, die aus den Unterschieden ihrer Situation entstehen, naturgemäß die Form verschiedener Auslegungen dieser Ideologie an; und sobald ein solcher „ideologischer Streit" sichtbar geworden ist, wird eine pragmatische Lösung der zugrunde liegenden politischen Differenzen bedeutend erschwert. Denn in einem totalitären Parteiregime hängt ja die Autorität der Führer davon ab, daß ihre Auslegung der Ideologie allgemein anerkannt wird; jeder offene Zweifel an der „Richtigkeit" dieser Auslegung hat daher die Wirkung eines direkten Angriffs auf die Führung, und in erster Linie auf den Führer. Daraus folgt, daß vom Augenblick eines solchen offenen Angriffs an die gemeinsame Ideologie, die das Bündnis erst begründete, auch zu einem ernsten Konfliktfaktor zwischen den Verbündeten wird. Um solche Wirkungen zu vermeiden, werden die Partner eines ideologischen Bündnisses sich normalerweise große Mühe geben, ihre Meinungsverschiedenheiten geheim zu halten; und dies war tatsächlich bei den russisch-chinesischen Meinungsverschiedenheiten noch während des größten Teils des Jahres 1958 der Fall: damals konnten westliche Forscher das Bestehen solcher Differenzen nur indirekt erschließen. Auf Grund der einseitigen materiellen Abhängigkeit des kommunistischen China von der Sowjetunion machten die chinesischen Kommunisten jedoch die Erfahrung, daß die sowjetischen Führer ihren geheimen Mahnungen und Warnungen wenig Beachtung schenkten; und andererseits mag die Krise im Sowjetblock von 1956/57 und die Rolle, die Mao Tse-tungs intakte Autorität bei ihrer Uberwindung spielte, die Auffassung in Peking gefördert haben, die Sowjets wären ihrerseits für die Aufrechterhaltung ihrer Führerrolle in der kommunistischen Weltbewegung von Pekings ideologischer Unterstützung abhängig geworden. Ein ideologischer Angriff vor dem Forum

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dieser Weltbewegung muß den Chinesen so als die einzig wirksame Waffe erschienen sein, um auf ihre sowjetischen Verbündeten einen Druck auszuüben; sie probierten sie vorsichtig und tastend gegen Ende 1958 aus und haben sie seit dem Winter 1959/60 mit zunehmender Kühnheit verwandt. Das Ergebnis dieses chinesischen Entschlusses zur ideologischen Herausforderung waren die wohlbekannten Debatten über die Fragen, ob fortgeschrittene Länder allein den Aufbau des Kommunismus vollenden könnten, ob es möglich sei, den Krieg noch während des Fortbestehens imperialistischer Mächte aus dem Leben der Menschheit zu verbannen, ob der Imperialismus ein „Papiertiger" oder ein Tiger mit „echten atomaren Zähnen" sei, ob die nationalen Befreiungsbewegungen der K o lonialvölker der „Generallinie" der „friedlichen Koexistenz" oder die Diplomatie der Koexistenz der „Generallinie" des „antiimperialistischen K a m p f e s " untergeordnet werden müsse, sowie über die Beziehungen mit der „nationalen Bourgeoisie" in den exkolonialen Ländern und über die Chancen der Kommunisten, in manchen Staaten mit „friedlichen Methoden" die Macht zu ergreifen. Der Verlauf der Diskussion zeigte, daß die chinesischen Kommunisten sich nicht damit begnügen konnten, einfach ihre konkreten außenpolitischen Meinungsverschiedenheiten mit den Sowjets in die Sprache der Ideologie zu übersetzen, sondern daß sie die dadurch bestimmten Thesen zu einem geschlossenen Lehrgebäude vereinigen mußten, das sich auf ihre eigene revolutionäre Erfahrung und auf jene Eigenarten des chinesischen kommunistischen Denkens stützte, die dieser Erfahrung entspringen. Zu diesen Strukturmerkmalen der chinesischen Version der kommunistischen Doktrin gehört der Glaube an die Macht des von richtiger theoretischer Erkenntnis geleiteten revolutionären Willens, ungünstige materielle Vorbedingungen zu überwinden, an die Möglichkeit des Sieges entschlossener Völker auch über technisch überlegene Bewaffnung im modernen Krieg, und an das Prinzip der „ununterbrochenen Revolution" im Inneren und nach außen. Auch wenn die Propaganda dieser „sino-trotzkistischen" Variante des Marxismus-Leninismus zunächst nur als ein Mittel gedacht war, um einen Druck auf die sowjetische Außenpolitik auszuüben, so drängte doch ihre innere Logik zur Erhebung des eigenen Anspruchs auf ideologische Führung des Bündnisses und der kommunistischen Weltbewegung. Doch solche ideologische Rivalität muß, wenn sie aufrechterhalten wird, notwendig zum Schisma führen; dieser Ausgang konnte nur vermieden werden, wenn eine von beiden Seiten kapitulierte oder wenn beide sich entschlossen, den Streit von der ideologischen Ebene auf die pragmatische 11

Fraenkel

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zurückzuverlegen, auf der allein Kompromisse möglich sind. Eine solche Rückverlegung würde offenbar im Interesse der Sowjetunion als der stärkeren Macht liegen, die dadurch von dem ständigen ideologischen Druck ihres schwächeren Verbündeten befreit würde; und der ausdrückliche sowjetische Verzicht auf die „führende Rolle" auf der Weltkonferenz der kommunistischen Parteien von i960 in Moskau lief tatsächlich auf den Vorschlag einer solchen Lösung hinaus — auf eine Beendigung der ideologischen Debatte im Interesse der Bewahrung der Einheit durch Duldung von Meinungsverschiedenheiten und pragmatische Kompromisse. Das Interesse der chinesischen Kommunisten war weniger eindeutig: fanden sie sich zu einer Rückkehr zum Pragmatismus bereit, so verloren sie ihr bestes Druckmittel gegenüber den Sowjets; schlugen sie aber das Angebot aus und setzten den ideologischen Kampf auf die Gefahr eines Schismas hin fort, so riskierten sie, jegliche sowjetische Unterstützung zu verlieren — mindestens bis zu dem erträumten Tage, an dem die sowjetischen Führer kapitulieren und den Rücktritt N . S. Chruschtschows erzwingen würden. Die Logik des Schismas Im Verlauf des Jahres 1961 zeigte der offene Streit über Albanien und die Verteidigung von Stalins Andenken durch Peking, daß die Bereitschaft der Sowjets zur Duldung von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Weltbewegung an der Grenze ihrer eigenen imperialen Herrschaftssphäre in Osteuropa ihr Ende findet, und daß die chinesischen Kommunisten den Erfordernissen fortgesetzten ideologischen Kampfes gegenüber den Chancen eines Kompromisses den Vorzug gegeben haben; wir können nur aus diesem Verhalten schließen, daß sie an die Möglichkeit geglaubt haben müssen, Chruschtschow in nicht allzu ferner Zukunft zu stürzen, und vielleicht noch daran glauben. Das Resultat dieser Entscheidung war ein Zustand, in dem zwar beide Seiten weiterhin ihre Entschlossenheit zur Wahrung von Einheit und Bündnis beteuerten, dabei aber jeweils Vorstellungen von Einheit entwickelten, die selbst miteinander unvereinbar waren. Die Chinesen bestanden auf der Wiederherstellung der Einheit durch kompromißlosen leninistischen Kampf um die Reinheit der ideologischen Prinzipien. Die Russen boten dagegen Einheit auf der Grundlage der Tolerierung von Meinungsverschiedenheiten unter allen bona fide Kommunisten an, zu denen sie seit 1962 auch wieder die Jugoslawen rechnen. Die Russen verlangten, beide Seiten sollten sich zur Nichtein-

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mischung in den Parteien und Machtsphären verpflichten, die von der anderen kontrolliert werden — eine kommunistische Form des Grundsatzes cuius regio, eius religio; die Chinesen sahen ihre einzige Chance darin, den Fraktionskampf in jede Bastion ihres Gegners hineinzutragen. Damit ist das fraktionelle Schisma im gleichen Maße zur Tatsache geworden, in dem ein solches Schisma in der russischen Sozialdemokratie vor 1914 zwischen Bolschewiki und Menschewiki bestand: die formale Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Rahmens und das Bekenntnis zu „gemeinsamen Prinzipien" — die in diametral entgegengesetzter Weise ausgelegt werden — verhindert nicht mehr den organisierten ideologischen Kampf zwischen konkurrierenden Führungen, die ihre respektive Politik in völliger Unabhängigkeit voneinander bestimmen. Eine solche Entwicklung ist irreversibel, so viele „Einigungskonferenzen" auch aus taktischen Gründen und auf Wunsch der vielen unglücklichen Bruderparteien, die einer Entscheidung ausweichen möchten, versucht werden mögen, sie könnte nur rückgängig gemacht werden, wenn einer der Führer mit all seinen Anhängern stürzte und seine Nachfolger vor der Autorität der Rivalen ideologisch kapitulierten. Doch eine solche Kapitulation, die nach der Natur ideologischer Kämpfe unwahrscheinlich ist, wird nahezu unmöglich, wo die Autorität jedes der beiden Rivalen die Grundlage der Herrschaft über mächtige Staaten ist. Gerade weil für jede herrschende kommunistische Partei die Handhabung der offiziellen Doktrin eine wesentliche Machtquelle darstellt, müssen wir damit rechnen, daß das Schisma erhalten bleibt, nachdem es einmal diese Stufe erreicht hat. Doch die Logik des Schismas drängt nun beide Seiten dazu, ihre Politik immer unabhängiger zu gestalten und für ihren ideologischen Gegensatz immer tiefere Begründungen zu suchen. Außenpolitisch haben die Chinesen mit wachsendem Erfolg eine unabhängige Machtsphäre in Asien aufgebaut. Sie haben sich die ideologische Anhängerschaft von Nordkorea und Nordvietnam gesichert; sie haben sich in Nepal, Kambodscha und Burma eine Pufferzone geschaffen und den indischen Widerstand gegen diese Entwicklung durch militärische Einschüchterung gebrochen; sie treten als aktive Rivalen der Sowjets um Einfluß auf Indonesien auf. Die Sowjets haben ihrerseits ihre erhebliche Wirtschaftshilfe an Indien auch auf dem Höhepunkt des „Grenzkonflikts" fortgesetzt und haben damit die Feinde ihrer chinesischen Verbündeten offen und direkt unterstützt. Hinter den strategischen Meinungsverschiedenheiten im gemeinsamen Kampf gegen den Westen, die ursprünglich zum ideologischen Schisma 11*

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führten, werden so die grundlegenden Unterschiede des „reinen" nationalen Interesses erneut sichtbar. Auf der ideologischen Ebene mag zwar jede von beiden Seiten in kritischen Augenblicken den umworbenen schwankenden Parteien äußere taktische Konzessionen machen, doch der innere Ausbau der konkurrierenden Lehrgebäude hat die Tendenz, die Gegensätze zu vertiefen. Die Sowjets, einmal in die „menschewistische" Position gedrängt, betonen immer stärker die wirtschaftlichen und technischen Vorbedingungen f ü r den Ubergang zum Kommunismus im Inneren und die Rolle des wirtschaftlichen Wettbewerbs als des Faktors, der auf lange Sicht den Konflikt mit der kapitalistischen Welt entscheiden w i r d ; so zitieren sie jetzt Lenin als Kronzeugen f ü r den P r i m a t wirtschaftlicher Aufgaben nach der Machtergreifung 4 . Die chinesischen Kommunisten, die ihren Weg zur Industrialisierung durch Mangel an Kapitalhilfe zur Zeit blockiert finden und deren Expansionsmöglichkeiten sich auf die asiatischen Nachbarländer konzentrieren, während sich ihre ideologische Anziehungskraft als auf die kommunistischen Parteien und nationalrevolutionären Bewegungen der unterentwickelten Welt begrenzt erweist, entfernen sich mehr und mehr von dem marxistischen Glauben an die Mission des industriellen Proletariats: Sie proklamieren, der „Brennpunkt der weltpolitischen Widersprüche" befinde sich heute in Asien, A f r i k a und Lateinamerika, und der Sieg der nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Kontinenten werde auch f ü r den Sieg des internationalen Proletariats entscheidend sein5. Es ist, als wollten die Chinesen die historische Mission, die M a r x dem modernen Proletariat zuschrieb, auf jene wirtschaftlich unterentwickelten und überwiegend farbigen Völker übertragen, die Arnold Toynbee als das „äußere Proletariat" der westlichen Zivilisation bezeichnet hat; schon warnen die Sowjets vor der Tendenz, den Klassenkampf der Industriearbeiter durch den Rassenkampf der Farbigen zu ersetzen 6 . Je mehr Chruschtschow die marxistischen Elemente in Lenins Denken wiederentdeckt, um so mehr 4

Siehe Chruschtschows Bericht vor der Plenarsitzung des Zentralkomitees der K P d S U am 19. 1 1 . 1962, Prawda, 20. 1 1 . 5

„Mehr über die Differenzen zwischen Genossen Togliatti und uns", Peking 1963

(deutsche Übersetzung des Leitartikels der Pekinger „Roten Fahne" N r . 3/4 vom 4. 3. 1963, insbes. S. 36/37, 5 1 — 5 3 . „Ein Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung", K P C h an das Z K der K P d S U 6 Siehe den offenen Brief 14. 7. 1963, mit der Antwort

Peking vom 14. des Z K auf den

1963 (deutscher T e x t des Briefs des Z K der 6. 1963), insbes. S. 1 4 / 1 5 . der K P d S U an alle Parteimitglieder, Prawda, Brief des chinesischen Z K .

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Beziehungen

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suchen die Chinesen die letzten Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Version des Leninismus und dem klassischen Marxismus zu zerstören: Unter der Zerreißprobe des russisch-chinesischen Konflikts beginnt die leninistische Ideologie, in ihre marxistischen und ihre nichtmarxistischen Elemente zu zerfallen. Die Zukunft des Bündnisses Wenn es wahr ist, daß das chinesisch-sowjetische Bündnis ausschließlich auf der „ideologischen" Solidarität der herrschenden kommunistischen Parteien beruht, müssen wir dann nicht erwarten, daß das ideologische Schisma zum Bruch des Bündnisses führt? Die Schlußfolgerung ist naheliegend, aber nicht zwingend, weil ja das Schisma den gemeinsamen Konflikt beider Regime mit der nichtkommunistischen Welt nicht beseitigt hat. Für die sowjetischen ebenso wie für die chinesischen Kommunisten bleibt der imperialistische Feind die einzige unmittelbare Bedrohung ihrer Herrschaft. Dagegen sehen die chinesischen Kommunisten die gegenwärtigen sowjetischen Führer nur als ein Hindernis für den Fortschritt des Weltkommunismus und die Schuldigen an der ungenügenden Unterstützung an, die sie für die Verfolgung der eigenen Ziele empfangen haben; und die Sowjets mögen die chinesische Kampagne als eine Gefahr für ihre internationale Autorität und eine Störung ihrer Politik ansehen, nicht aber als eine physische Bedrohung ihrer Macht. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir die — unwahrscheinliche, aber für die Berechnungen der kommunistischen Führer als Eventualität noch immer wichtige — Annahme machen, die Streitkräfte Tschiang Kai-scheks würden mit amerikanischer Unterstützung einen massiven Landungsversuch auf dem chinesischen Festland unternehmen; in einem solchen Falle würden die Sowjets Mao Tse-tung trotz all ihrer Konflikte mit ihm unterstützen müssen, weil es ihr vitales Interesse bleibt, die Errichtung eines proamerikanischen Regimes an ihrer Ostgrenze zu verhindern. Die Überlegung zeigt, daß dem ideologischen Schisma zum Trotz gemeinsame „ideologische" Interessen der beiden Regime auch heute noch bestehen; doch sie scheinen nur ausreichend, um das Bündnis allenfalls als eine Art Rückversicherungsvertrag für extreme — und objektiv unwahrscheinliche — Fälle gemeinsamer Bedrohung aufrechtzuerhalten. Ein solches „Bündnis in Reserve" ist weit davon entfernt, eine erfolgreiche Koordinierung der Außenpolitik der beiden kommunistischen Mächte zu ermöglichen oder auch nur noch ernstgemeinte Versuche zu

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Sowjetisch-chinesische

Beziehungen

soldier Koordinierung zu veranlassen; im Gegenteil, die beiden Mächte sind offen bestrebt, zwei kommunistische Lager aufzubauen, deren Politik sich voneinander unabhängig entwickelt und deren Doktrin immer verschiedener wird.

ZWEITER

TEIL

Zur Empirie der politischen Entscheidung

HANS

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Oberbefehl und Regierung in der neueren Geschichte Die deutsche Diskussion über das Verhältnis von Oberbefehl und Regierung in der neueren Geschichte geht in der Regel von einem idealen Ausgangspunkt aus, dem berühmten Buch: „Vom Kriege". Clausewitz hat als Summe der von ihm überblickten Kriegsgeschichte das Gesetz der Einheit von Politik und Heerführung in der Kriegsleitung als eine auch die Entscheidung der Strategie bestimmende Grundregel mit aller Strenge formuliert. Friedrich der Große, der zugleich Regierungsoberhaupt, Träger der Politik und Heerführer war, stellt für die von seinen Anregungen ausgehende Betrachtung Ideal und Ausgangspunkt der historischen Entwicklung zugleich dar. Aber schon für das Ancien-Regime, für die Epoche der absoluten Monarchie, ist es höchst zweifelhaft, ob diese Formel, die in der Person des Monarchen die Einheit von Heerführung und Politik garantiert sieht, die Wirklichkeit der Dinge nicht allzusehr vereinfacht. Ludwig XIV. mit Louvois als Kriegsminister, mit seinen wirklich bedeutenden Generalen wie Turenne wirft bereits ein sehr viel komplizierteres Problem auf, als es bei Friedrich dem Großen vorliegt. In der idealtypischen Gestaltung gehören Marlborough und Prinz Eugen zu den größten Feldherrngestalten der Epoche; aber sie haben unter komplizierten und ständig wechselnden Verhältnissen zwischen Politik und Heerführung arbeiten müssen. Karl XII. ist vollends ein paradoxes Beispiel dafür, daß in der gleichen Person fast eine Art von Schizophrenie zwischen dem Heerführer und der Politik eintreten und Spannungen erzeugen kann, deren Schärfe von keiner Parallele der modernen Zeit übertroffen wird. Dazu kommt ein zweiter Gesichtspunkt von größtem Gewicht: Zweifellos hat die Technisierung des Krieges und die Ausdehnung des ihm dienenden Apparates eine unermeßliche Komplizierung des Problems bewirkt, wie der militärische Oberbefehl in einheitlicher Schaltung mit der Politik geführt werden kann, deren Fortsetzung die Kriegsführung nach Clausewitz nur sein darf. Wenn der Feldherr nicht

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zugleich politischer Kopf sein sollte, war ja der Verfasser des Buches „Vom Kriege" ohne Zögern bereit, den Feldherrn unter die Oberleitung des Regierungschefs, unter den unbedingten Primat der Politik also, zu stellen. Die Lösung dieser Aufgabe ist zweifellos durch die Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts so erschwert worden, daß der idealen Forderung der Einheit der Kriegsleitung ganz überwältigend ein Pluralismus der Praxis entgegensteht. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß Clausewitz der Führer und Theoretiker der Moderne geblieben ist, an den in mancher Beziehung selbst noch die totalitäre Kriegslehre — von Lenin und Stalin bis zur Gegenwart der Sowjetunion — anknüpft. Aber ebenso wenig darf man sich täuschen lassen durch die normal üblichen Schemata der Verfassungsgeschichte, die seit 1945 die Diskussion in Deutschland beherrschen. Aus ihnen könnte man für die Staaten der Demokratie ein sehr einfaches Bild ableiten: entweder ist es das Staatsoberhaupt oder es ist der verantwortliche Leiter der Regierung, entweder der Präsident oder der Ministerpräsident, der als Oberbefehlshaber auch im Kriege die führende Rolle spielt. Damit erscheint dann der Primat der Politik in der Diskussion über das Verhältnis von Militär und politischer Leitung grundlegend — wenigstens optisch — gesichert zu sein. Die Praxis, ganz gleichgültig ob die Präsidentenlösung oder die Ministerpräsidentenlösung (des Regierungschefs) vorherrscht, weist dagegen ein ganz anderes Bild auf. Erstens einmal führen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Zahl und Gewicht der von der Kriegsführung zu lösenden Aufgaben überall zu der Konsequenz, daß zusammenfassende Gremien zur Sicherung des Kontaktes von militärischer und politischer Leitung notwendig werden. Die bekanntesten Beispiele sind das berühmte Committee of Imperial Defence in England seit 1904 und der Conseil Superieur de la Defence Nationale der 3. Republik in Frankreich. In diesen Gremien der Vermittlung und der Kontaktsicherung zwischen Heerführung und Politik werden von der militärischen Seite der Generalstabschef und der Oberbefehlshaber — wenn sie nicht als Anwärter für den Oberbefehl im Kriegsfall in der Person des Generalstabschefs identisch sind — mit den beteiligten wichtigsten Ressorts der Regierung, die von der zivilen Seite her Kriegsvorbereitung und Kriegsplanung tragen, zusammengefaßt. Auch der Historiker ist im allgemeinen geneigt, das englische Committee of Imperial Defence als die Idealorganisation in Friedenszeiten

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anzusehen. Aber dies im Friedensjahrzehnt von 1904 bis 1 9 1 4 sehr erfolgreich arbeitende Committee hat 1 9 1 4 überhaupt keine Rolle gespielt, weil der amtierende Kriegsminister, Lord Kitchener, von dessen technischem R a t die Regierung zunächst abhängig war, mit dieser Institution nicht arbeiten wollte und es vorzog, das Instrument der Kriegführung völlig zu improvisieren. Das ist nun sicher ein extremes Beispiel. Man kann im ganzen wohl sagen, daß die Demokratie zu übereinstimmender, grundsätzlicher Anerkennung des Primats der Politik gelangt ist; aber hinter dieser Fassade der Verfassungsform verbergen sich erst die Schwierigkeiten der Praxis. In den Vereinigten Staaten sind diese praktischen Schwierigkeiten mit der Frage der persönlichen Qualifikation des Präsidenten für die Aufgabe einer wirklichen Ausübung des Oberbefehls verknüpft. K a n n er tatsächlich politische und militärische Gesichtspunkte in seiner Person vereinigen? Dieses Problem schafft eine Lage, die zu ganz verschiedenen Folgen zu führen vermag. Die vielleicht eleganteste Lösung des Problems in der modernen Geschichte ist die Lösung Englands mit seiner ungeschriebenen Verfassung, in der niemals ein zwingendes Bedürfnis eingetreten ist, die Verfassungstradition über Bord zu werfen, daß der Inhaber der Krone formell Träger des Oberbefehls ist. Tatsächlich hat er ihn spätestens seit dem Burenkriege niemals mehr ausgeübt, sondern hat diese Rolle stillschweigend dem Premierminister überlassen. Blickt man freilich auf die Erfahrung der beiden Weltkriege, so ergibt sich auch f ü r Frankreich und England, daß die Praxis eines theoretisch scheinbar tadellos konstruierten Oberbefehls selbst in dem gleichen Staate zu den allerverschiedensten Folgen in der Wirklichkeit des Krieges führen kann. Im Falle Frankreichs besteht f ü r die Jahre vor 1 9 1 4 heute kein Streit mehr, daß der Primat der Politik sich in der Kriegsplanung durchgesetzt hatte. Joffres Vorschläge f ü r eine präventive Invasion Belgiens sind in ihrer ausgearbeiteten Form von der Regierung aus Rücksicht auf das Bündnis mit England konsequent und mit Erfolg abgelehnt worden. Blickt man aber in die Praxis der ersten Kriegsjahre ( 1 9 1 4 — 1 9 1 7 ) , dann ergibt sich f ü r die Heeresleitungen J o f f r e , Nivelle und Petain, daß — wie überwiegend auch in England — die politischen Regierungschefs durch die technische Unentbehrlichkeit der Soldaten in eine Lage versetzt wurden, in der sie von diesen abweichende Ideengänge nicht durchzusetzen vermochten. In Frankreich trat dann das merkwürdige Paradox ein, daß während des letzten Kriegsjahres 1 9 1 8

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in dem Verhältnis von Clemenceau und Foch durch die Stärke der Persönlichkeit eines diktatorähnlichen Regierungschefs sich tatsächlich eine Abhängigkeit der obersten Heeresleitung so lange herausstellt, als sie keine überzeugenden Erfolge zu verzeichnen hat. Sie braucht bis in den Sommer 1 9 1 8 hinein die Deckung des Ministerpräsidenten, der letzten Endes auch bei Kriegsende durch seine robuste Energie seine führende Rolle weiter behauptet. Noch komplizierter liegt das Problem in der gleichzeitigen englischen Geschichte während des I.Weltkrieges. Das englische Berufssoldatentum hat zweifellos im ganzen Verlauf dieses Krieges keine Persönlichkeit von durchschlagender Kraft, weder im Heer noch in der Flotte, zu verzeichnen. Prüft man die Gewichte, so ist zumindest unter L l o y d George die Stoßkraft der Führung auf der Seite der politischen Persönlichkeit weit überlegen. Aber gerade weil hier in der Theorie der Primat der Politik auch von den Militärs nie angezweifelt wurde, ist die Entwicklung überaus lehrreich. Durch die Fachkompetenz des Soldaten wurde schon die eigentümliche Rolle Sir Henry Wilsons in der Vorbereitung des Kontinentalkrieges mit weitreichenden Konsequenzen der Bindung an Frankreich ermöglicht. Es ist bekannt genug, daß die Regierung die Dinge bis 1 9 1 1 in der Hauptsache einfach geschehen ließ, weil sie sich auf die politischen Konsequenzen dieser militärischen Fragen vorzeitig so wenig festlegen wollte, wie dies etwa auf deutscher Seite in der Frage des Schlieffenplanes zwischen Reichskanzler und Generalstabschef bis 1 9 1 4 ebenfalls — vielleicht in noch stärkerem Maße — der Fall war. Es ist in beiden Staaten genau dieselbe Zurückhaltung der politischen Leitungen, die einen sehr beachtenswerten Gradmesser f ü r das außerordentliche Gewicht des modernen Soldaten als Fachmann bedeutet. Die Schwierigkeit, die es dem Zivilisten der modernen Zeit bereitet, die militärischen Fragen ernsthaft zu durchdringen und zu beherrschen, wird durch die Kriegsgeschichte des 1 . Weltkrieges immer wieder durchgreifend bestätigt. Liddel H a r t hat in zahlreichen Büchern das Duell über die Kernfragen der englischen Strategie behandelt: Die Alternative zwischen Kontinentalstrategie nach deutschem Vorbild oder Umfassung des Gegners von den Flanken — von der Peripherie her —, gestützt auf die Beherrschung der Meere durch die englische Flotte. Man kann sagen, daß seit dem Beginn des Kabinettes L l o y d George (Ende 1 9 1 6 ) die gesamte politische Leitung Englands sich weitgehend — wenn nicht konservativ-parteipolitische Motive das durchkreuzten — in dem

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Wunsche einig war, die großen opferreichen Schlachten des Stellungskrieges in Frankreich fortan zu vermeiden. Wenn man sich nun nach dem Grunde fragt, aus dem diese Strategie (Flandernschlacht von 1 9 1 7 ) bis 1 9 1 8 fortgesetzt wurde, so stellt sich heraus, daß die Politiker nicht imstande waren, sich gegen die Fachkompetenz der Militärs mit gutem Gewissen durchzusetzen. Sie haben infolgedessen die parlamentarische Schlacht über ein so kompliziertes und so gefährliches Problem durchweg gescheut und sind ihr aus dem Wege gegangen. Noch lehrreicher ist für die ganze Ambivalenz des Problems vielleicht noch die Geschichte des 2. Weltkrieges. Leider verbietet es der Raum, hier näher auf die im hohen Grade fesselnde amerikanische Literatur einzugehen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß das Werk eines aus Deutschland stammenden amerikanischen Historikers, das Buch von Alfred Vagts 1 über Diplomatie und Militär im 19. und 20. Jahrhundert, die größte Materialsammlung zu unserem Fragenkreis überhaupt bietet. Charakteristischerweise ist es ein Deutscher, der, mit der Problematik der deutschen Geschichte nach 1 9 1 8 belastet, in die Vereinigten Staaten kam und dort der Schwiegersohn von Charles Beard wurde, der sehr entschieden die These von der Diktatur der Militärs im Pentagon vom 2. Roosevelt bis zur McArthur-Krise, also bis zur Gegenwart hin, vertritt. Diese Zuspitzung geht zweifellos zu weit. Denn die Strategie der amerikanischen Kriegsführung im 2. Weltkriege wurde zwar in den Grundzügen stets durch den fachmännischen R a t des Generalstabschefs G.Marshall bestimmt. Aber die Entscheidung hat doch in letzter Instanz beim Präsidenten, bei Roosevelt, gelegen. Die Verbindung dieser beiden Männer stellt im Grunde das schlagende Beispiel einer durchaus legitimen und korrekten Zusammenarbeit von Politik und Militär dar, in der beide Teile sich mit verhältnismäßig großer Konsequenz gegenseitig gedeckt haben. Noch darüber hinaus scheint die Rolle Winston Churchills in der englischen Kriegsführung des 2. Weltkrieges seit der Krise des Sommers 1940 eine nahezu ideale Verkörperung der von Clausewitz geforderten Einheit von Politik und Kriegführung in einer einzigen Persönlichkeit darzustellen. War in ihm nicht jene Verkörperung des zugleich politischen und militärischen Führers einer Nation gegeben, von der man in Deutschland seit 1 9 1 4 so sehnsüchtig geträumt hat? Heute gewähren 1 Alfred Vagts, Defence and Diplomacy. Relations, N e w York 1956.

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die beiden Bände der Tagebücher seines Generalstabschefs Lord A l a n brooke Einblick in die Realität der Diskussion des politischen Führers mit seinem übersprudelnden Ideenreichtum und des Generalstabschefs, der unter dem Z w a n g zur technisch nüchternen Begrenzung den Einfällen des Premierministers entgegentreten mußte. Diese Wirklichkeit aber ist nicht die der idealen Einheit v o n Politik und Kriegführung, sondern zeigt, daß die Geschichte der Jahre 1 9 4 2 — 1 9 4 5 von ständigen Reibungen erfüllt war. Das Ergebnis ist die Feststellung stärkster Bindung auch eines genial-impulsiven politischen Führers an den ihm Schranken setzenden Rückhalt des militärisch technischen Fachkönners. Die Auseinandersetzung mit dem theoretisch überzeugenden und grundsätzlich zweifellos zutreffenden Ideal der Einheit v o n Politik und Kriegsführung weist in der Wirklichkeit also Komplikationen auf, die zu stärkster Individualisierung in jedem praktischen Falle geführt haben. D a z u tritt schließlich in der modernen Welt noch eine weitere Schwierigkeit, die sich ebenfalls bereits im I.Weltkriege, im Lager der Mittelmächte wie der Entente, angemeldet hat. D e r moderne Krieg ist schon seit 1914 in aller Regel ein supranationaler K r i e g gewesen. Während man bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts gewöhnt war, den Koalitionskrieg sozusagen als Ausnahme von der Regel und als Minusfall gegenüber dem überlieferten Bild des idealen Krieges anzusehen, ist dies Verhältnis in der Praxis der modernen Geschichte im Grunde umgekehrt worden. Die Zusammenarbeit mehrerer Staaten und damit das Problem der audi für eine Koalition notwendigen, relativen oder absoluten, Einheitlichkeit der Führung unter weitgehendem Verzicht auf die Souveränität der einzelstaatlichen Entscheidungen stellt die Regel, nicht mehr die Ausnahme der modernen Kriegführung dar, und es besteht vorläufig wenig Aussicht, daß die Technisierung des Krieges durch das hypermoderne Mittel von Operation Research auch diese schwierige Frage zu einem rechnerisch lösbaren Schattenproblem machen sollte. G e w i ß stellt sich auch für diesen Bereich die unheimliche Frage, ob der Historiker nicht nur als geisteswissenschaftlicher Luxusfreund vergangener Dinge überholte Probleme diskutiert, die dann nur noch historischer Selbstzweck wären — in Wirklichkeit ist dies bis heute noch nicht der Fall. D a z u ist das Problem des Koalitionskrieges mit der Notwendigkeit der Koordinierung unter den verbündeten Staaten schon seit dem 1. Weltkriege nicht mehr auf das militärische Gebiet beschränkt, sondern u m f a ß t auch die ganze Breite der Rüstungswirtschaft, der Ver-

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sorgung der Völker, der Verbindung aller Kontinente über die Meere, der Koordination und der einheitlichen Verfügung über den Schiffsraum der Welt, der Übereinstimmung oder wenigstens der notdürftigen Angleichung in Bewaffnung und Ausrüstung der Heere. Ich brauche nur daran zu erinnern, daß die Amerikaner ihre Luftwaffe noch im Jahre 1 9 1 8 in der Hauptsache mit englischen Flugzeugen ausrüsten mußten. Die Forderung der Einheit des Oberbefehls in der K o a lition stellte sich schon damals als ein Problem ersten Ranges, dessen Lösung im Lager der Mittelmächte niemals recht geglückt ist, während es im Lager der Entente bis 1 9 1 7 aufgeschoben und erst 1 9 1 8 durch die Koordination der Westfront unter Foch in letzter Stunde gerade noch in genügendem Ausmaß gelöst wurde. Es hat diejenige Form, die für unsere Diskussion und unsere Problematik in der Gegenwart Bedeutung besitzt, eigentlich erst im 2. Weltkrieg erhalten. Denn es unterliegt kaum einem Zweifel, daß die damals von den Gegnern des Nationalsozialismus gefundene Lösung — die Zusammenfassung der Generalstabschefs in N e w Y o r k , der Joint Chiefs of Staff — eine nahezu ideale Lösung dargestellt hat — trotz der dauernden Kontroversen zwischen Seekrieg- und Landkriegführung, die vor allem zwischen der amerikanischen Marineführung und dem amerikanischen Generalstab über die Relation zwischen dem Ostkrieg gegen Japan und der Weststrategie Marshalls gegen Deutschland geführt wurden. Wenn man sich die Schwierigkeit der Aufgabe klarmacht, wird man zugestehen müssen, daß diese Lösung eine in erstaunlichem Maße funktionsfähige Vereinheitlichung der obersten Kriegsleitung erreicht hat. Freilich sollte man auch nicht übersehen, wie weit harte reale Kräfteverhältnisse, die Bindung der schwächeren Koalitionsglieder an das stärkste Mitglied der Koalition, bis zur Abhängigkeit Englands von den Vereinigten Staaten, dazu beigetragen haben, dieser Lösung den Weg zu bereiten. Das ganze Tagebuch Alanbrookes ist ja erfüllt von dem einen großen Klagelied, daß die Engländer trotz ihrer seit 1904 gereiften, besseren Generalstabsausbildung aus diesem Grunde hilflos an den Wagen der amerikanischen Strategie gebunden gewesen seien. Diese Problematik wirkt sich trotz der scheinbar so idealen K o n struktion aus bis in die harten Kontroversen über strategische Einzelentschlüsse, von denen der Konflikt Montgomery gegen EisenhowerPatton am bekanntesten geworden ist. Auch rückblickend ist man in England noch heute überzeugt, daß im Herbst 1944 die englische Idee des beschleunigten massierten Vorstoßes auf dem linken Flügel, der

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Nordseeküste entlang, wahrscheinlich die bessere Lösung gewesen wäre. Aber angesichts des tatsächlichen Kräfteverhältnisses .innerhalb der Koalition stellt dies sozusagen nur ein Beispiel f ü r die Begrenzung des rein militärischen rationalen Elementes in der Strategie des Koaltionskrieges dar, weil die bessere Generalstabsidee in diesem Ringen ganz simpel von der schwächeren K r a f t vertreten wurde. All diese Komplikationen der Oberbefehlsfrage wird man also ebenso gut wie die Problematik des demokratischen Weges in der Praxis — auch wenn er noch so anerkannt sein mag — in Rechnung ziehen müssen f ü r die Fragen, die sich der Gegenwart in Deutschland stellen. N u r so wird die notwendige Distanz f ü r ein möglichst unbefangenes und objektives Urteil erreichbar sein. Das ist um so wichtiger, weil die ganze deutsche Diskussion seit 1945 von den Belastungen der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ausgegangen ist. Wir sind stets in Gefahr, von diesen Hypotheken unserer Vergangenheit übermäßig belastet zu werden, wenn wir uns nicht vor Augen halten, daß die Schwierigkeiten des Problems auch im Lager der Sieger des 1 . wie des 2. Weltkrieges durchaus aufgetreten sind. Halten wir uns diese Parallelen der allgemeinen Geschichte nicht vor Augen, isolieren wir die deutsche Geschichte, so besteht unleugbar die Gefahr, das Gewicht ihrer negativen Seiten einseitig zu übersteigern. In der deutschen Geschichte hat der Glaube an die Vorzüge der einheitlichen Führung und Verantwortung durch den Monarchen dahin geführt, daß sie im ersten Weltkriege die absolute Vorherrschaft des militärischen Sachverstandes über den militärischen auf den politischen Bereich ausdehnte, ein Prozeß, der mit der Katastrophe von 1 9 1 8 endete. Ein kurzes Zitat ist vielleicht geeignet, den inneren Zusammenhang der deutschen Entwicklung über die kritisch zu betrachtenden Details hinaus scharf zu beleuchten. Bethmann-Hollweg hat, wie dies schon in Meineckes Erinnerungen berichtet ist — das Original des fraglichen Briefes konnte leider nicht mehr aufgefunden werden — im N o vember 1 9 1 7 , als das Duell von Brest-Litowsk zwischen Heeresleitung und politischer Leitung auf seinem Höhepunkt stand, einmal einen Brief an dem ihm nahestehenden Historiker geschrieben, in dem er die Ursache seines eigenen Scheiterns dahin zusammenfaßte: er sei der überwiegenden Stärke der konservativen Machtstellung in Preußen erlegen; diese sei schlechthin zum Schicksal der deutschen Geschichte geworden. Und der Empfänger dieses Briefes, Meinecke, der ebenfalls mitten in diesem Ringen gestanden hatte, legte sich auch für die eigene Nieder-

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läge die Frage vor, ob diese These Bethmanns nicht in einem gewissen Sinne richtig sei.2 Damit ist die f ü r das Verständnis der deutschen Geschichte entscheidende Frage gestellt, wie sich das Verhältnis der allgemeinen Ursachen und der individuellen, der personellen Faktoren zueinander stellt. Ist der deutsche Weg in die Katastrophe ein Weg gewesen, über dessen Richtung und Tragweite die Schwächen einzelner Persönlichkeiten, die Verkettung einzelner Ereignisse oder große allgemeine, bestimmende Kräfte und Voraussetzungen der deutschen und preußischen Vergangenheit entschieden haben? An dieser Stelle kann die historische Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die 1807 beginnt, 1 8 1 9 einen tiefen Einschnitt hat und 1820 mit der endgültigen Etablierung des Militärkabinetts der preußischen K ö nige an einem bedeutsamen Wendepunkt angelangt ist, nicht im einzelnen geschildert werden. Der Problemkreis unserer Betrachtung hat auch in der Vorgeschichte des Aufbaues der Bundeswehr wieder größtes Gewicht besessen. Denn in der Vorbereitung und Beratung dieses Aufbaues stand die ganze Frage des traditionellen, historischen Verhältnisses zwischen Oberbefehl und politischer Leitung zur Debatte. Es handelte sich ganz grundlegend um das Problem, ob es ein militärisches Sondergebiet gibt, das die Lösung seiner Aufgaben abseits von politischen Kategorien verlangt, oder ob es sich bei aller Eigenart des militärischen Gehorsamsverhältnisses und des Disziplinproblems im Heere — unter voller Berücksichtigung des sachverständigen Urteils im militärischen Bereiche — eben doch um einen Fragenkreis handelt, der generell von politischen Kategorien her behandelt werden muß. Letzten Endes und grundsätzlich hat sich ,in diesen Erörterungen durchgesetzt, daß die Armee doch nur ein Teil der Exekutive ist, daß sie in ihrem tieferen eigenen Interesse keine andere Lösung erwarten kann und erwarten sollte, als daß sie als Teil der Exekutive überhaupt behandelt wird. Es muß früher eine keineswegs leichte Aufgabe gewesen sein, diese Auffassung erfolgreich durchzusetzen; denn ihr standen in der Tat 100 Jahre deutscher Geschichte entgegen, ehe es zu der verfassungsmäßigen Regelung der Novelle vom 19. März 1956 zum Grundgesetz kommen konnte, durch die die Befehls- und Kommandogewalt nach Art. 65a in Friedenszeiten dem Bundesminister f ü r Verteidigung zusteht, um im 2

F r . Meinecke, Straßburg,

1949. S. 2 3 4 . 12 Fraenkel

Freiburg,

Berlin,

lyor—1919.

Erinnerungen,

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Kriegsfalle an den Regierungschef, den Bundeskanzler, überzugehen. Es mußte nicht nur eine Last von 100 Jahren historischer Tradition in Deutschland ausgeräumt werden, sondern es waren auch Probleme zu beantworten, die nach ihrem Wesen in der Tat von größter Schwierigkeit sind. Dazu trat eine sehr eigentümliche Lage, durch die die schließlich gewählte Lösung: der politisch verantwortliche Regierungschef als Spitze der Kriegsgliederung in den Jahren von 1 9 4 9 — 1 9 5 6 und bis zur Gegenwart noch auf ein zusätzliches Widerstreben stoßen mußte. Dies Unbehagen wurde in Deutschland dadurch wachgerufen, daß, nachdem wir dank schweren geschichtlichen Erfahrungen endlich entschlossen waren, mit dem Personenkult des Führergedankens Schluß zu machen, sich plötzlich eine ganz paradoxe Situation herausgebildet hatte. Alle Schwierigkeiten drängten sich wieder einmal um eine keineswegs allgemein beliebte Persönlichkeit zusammen. In dieser Situation war f ü r alle Beteiligten die Vorarbeit f ü r den Sieg der sachlich gegebenen Lösung keineswegs leicht. Wenn sie sich doch durchgesetzt hat, so stimmt diese Erfahrung etwas skeptisch gegen die -häufig vorgetragene Argumentation, man könne in diesem Zeitalter der Massenpolitik überhaupt nicht mehr an Politik als rationales Geschäft außerhalb des K a m p fes der blinden Interessen glauben. Die Entwicklung, in der sich diese jüngste Lösung des Oberbefehlsproblems durchgesetzt hat, spricht eigentlich im hohen Grade f ü r die zwingende Kraft, die die Konsequenz einer geschichtlich zur Lösung reif gewordenen Situation unter Umständen besitzen kann. Es ist sehr lehrreich, sich einmal die Argumente zu vergegenwärtigen, durch die man zu dem Schluß kam, daß nicht der Bundespräsident des Grundgesetzes, sondern der Bundeskanzler als Träger der Verantwortung die sachlich gegebene Lösung für das Problem des Oberbefehls darstelle. Man mache sich nur einmal klar, wie schwierig die Dinge lagen, wenn man an die Enttäuschung über den Reichspräsidenten der Weimarer Zeit dachte, der 1925 plötzlich selber ein Soldat w a r : im Besitz von Art. 48 der Verfassung und im Besitz des Verordnungsrechtes. Dagegen halte man den in seiner Durchschlagkraft absichtlich so viel schwächer gestellten Bundespräsidenten des Grundgesetzes von 1949 und vergleiche ihn mit dem in seiner Macht so außerordentlich verstärkten Bundeskanzler. Dieser mußte schon durch den Wandel der Verfassungslage zum schwarzen Peter des Machtverdachtes werden — auch ohne die Hintergründe der Parteikonstellation, wie sie sich bis 1956 entwickelt hatte. Hält man sich das vor Augen, so kann man sich

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eigentlich nicht des Eindruckes erwehren, daß hier der Zwang sachlicher Gesichtspunkte in einem gewissen Sinne so unerbittlich wie ein Rechnungshof der Geschichte gearbeitet hat. Was aber die Erfahrung der deutschen Geschichte eindringlich bestätigt, ist doch wieder die Warnung vor der Neigung zu glauben, daß mit der institutionellen Form, also mit einer vernünftig gefundenen Sachlösung, bereits die Probleme als solche gelöst sind, während die A u f gabe, die Formeln mit Leben zu erfüllen, nun eigentlich erst beginnt. Der Verfasser gehört schon durch sein Geburtsjahr 1892 einer recht törichten Generation an, die das nicht vorausgesehen hat, was ihr zwischen 1 9 1 4 und 1945 alles zustoßen sollte. Sogar Persönlichkeiten wie M a x Weber, Friedrich Meinecke und Ernst Troeltsch, die 1 9 1 8 und 1 9 1 9 f ü r die Vertrauensdiktatur in der Demokratie plädierten, sind von heute gesehen stärksten Irrtümern unterlegen. Nicht nur Bethmann hat in seinen Erinnerungen das berühmte Geständnis niedergeschrieben, er habe sich nicht in die Kriegsplanung (Schlieffenplan) und in die Durchführung der militärischen Kriegsleitung einmischen dürfen, da er ja trotz der Majorsuniform bei Hoffesten militärisch nur Dilettant, nicht Fachmann gewesen sei. Es ist eine sehr ernste Tatsache, daß die in diesem Geständnis sich spiegelnde Verfassungskonstruktion des Bismarckreiches von den besten K ö p f e n Deutschlands vor 1 9 1 4 — obwohl sie dem Resultat der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert zum Teil durchaus kritisch gegenüberstanden — mit weitgehender Ubereinstimmung gutgeheißen wurde. Man war überzeugt, daß gerade in der Frage des Oberbefehls die deutsche Lösung mit ihrer monarchischen Spitze den Regelungen der gleichzeitigen Demokratie sachlich überlegen sei. Man muß gerade angesichts dieses Urteils der Generation von 1 9 1 4 darauf hinweisen, daß wir bei aller Selbstsicherheit der historischen K r i tik an unserer jüngsten Vergangenheit in unserem Fragenkreis heute vor einem wahren Trümmerfeld stehen. Es ist sehr lehrreich, daß das deutsche Staatsrecht vor 1 9 1 4 in der Person eines so führenden Staatsrechtslehrers wie Laband vor der Entwicklung der militärischen Sachautonomie schließlich völlig kapituliert hat. Laband 3 ist bereit gewesen, auf Grund dieser Sachautonomie des ganzen militärischen Bereiches die Forderung des blinden Gehorsams nicht nur anzuerkennen, sondern so 3

Paul Laband, Die Kommandogewalt

Juristenztg.,

zeichnung, Berlin 1 9 1 1 . 12'

und die Kabinettsordre

von 1828.

1. II. 1 9 1 4 . — Frh. Marshall v. Bieberstein, Verantwortlichkeit

Deutsche

und Gegen-

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weit zu steigern, daß er anläßlich der Zabern-Krise 1911 erklärte, die Zivilbehörden hätten auf die im Elsaß entstandene bedauerliche Lage im militärischen Bereich in ihrem Verhalten Rücksicht nehmen müssen. Einspruch gegen diese Kapitulation hat damals einzig und allein Marschall v o n Bieberstein mit der These erhoben, daß die ganze Sphäre der Militärautonomie, die sich unter dem Vorzeichen der K o m m a n d o gewalt des preußischen Königs und indirekt damit des deutschen K a i sers ausgebildet hatte, eigentlich verfassungswidrig sei. Die Forderung der allgemeinen Gegenzeichnung aller A k t e des Monarchen sei seit dem Heereskonflikt einfach durch eine Verfassungskonvention in tatsächlicher Entwicklung außer K r a f t gesetzt worden. Er ist damit völlig wirkungslos an dem vorherrschenden Respekt des Zivils v o r der militärischen Welt abgeprallt. W i r wissen heute, daß das letzte Ergebnis die komplette Anarchie gerade auf militärischem Gebiete gewesen ist. Es würde hier zu sehr in das Detail führen, wenn die Entwidklung des Militärkabinettes, die Herausnahme aller Personalfragen aus dem Bereich dessen, was überhaupt noch in K o n t a k t mit dem politischen Leben steht, im einzelnen erörtert werden sollte. Das gleiche gilt für die Emanzipation weiterer militärischer Stellen: dem Militärkabinett folgte die Immediatstellung des Generalstabes nach, die durch die Erfolge Moltkes in den Kriegen v o n 1866 und 1870 de facto bereits entschieden war, wenn auch die formelle Bestätigung erst etwas später erfolgte. Eben dahin gehört die Immediatstellung der kommandierenden Generale mit ihrem Recht auf direkte Berichterstattung an den Monarchen und auch die von der ausländischen K r i t i k vielleicht überschätzte Immediatstellung der Militärattaches, soweit sie Flügeladjutanten waren. A l s solche besaßen auch sie die Möglichkeit eines direkten Briefwechsels mit dem Monarchen, der zumindest in einem Falle, auf dem Marinegebiet, allerdings sehr weitgehende historische Folgen gehabt hat. Der gleiche Prozeß wird seit 1890 auch generell auf die Marine ausgedehnt, obwohl durch ihre spätere Entstehung als Bundes- und Reichsmarine hier seit 1867 noch ein Feld unbefangener Entwicklung hätte vorliegen können. Auch hier bildet sich aber unter und durch Wilhelm II. ein Nebeneinander von Reichsmarineamt unter dem Staatssekretär, Admiralstab, Oberkommando der Marine und Marinekabinett heraus. D e r letzte Kaiser der Dynastie Hohenzollern aber ist als Persönlichkeit den Koordinationsaufgaben, die Wilhelm I. wirklich oder angeblich gelöst hat, sicher in keiner Weise gewachsen gewesen. A b e r selbst, wenn man annimmt,

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Wilhelm II. wäre nicht Wilhelm I I . gewesen, würde man sich noch die sehr ernsthafte Frage stellen müssen, ob eine normale, durchschnittliche Persönlichkeit, die unter Umständen das Amt eines englischen Königs oder eines Präsidenten ausgefüllt haben würde, überhaupt noch der Aufgabe hätte gewachsen sein können, die aufgestauten Kräfte des konservativen Widerstandes in Preußen-Deutschland zu bändigen. Der Historiker wird sich bei kritischer Erwägung der Schwierigkeiten kaum in der Lage fühlen, auf diese Frage eine positive Antwort zu geben. Was sich also aus dem Verlauf der preußischen und deutschen Geschichte ergab, war die Tradition einer von der Politik gelösten Sachautonomie des Militärs, die sich bis 1 9 1 8 mit einem solchen Schwergewicht behauptet und durchgesetzt hat, daß die Aufgabe, von dieser Tradition loszukommen, auch zwischen 19x8 und 1933 einfach nicht gelöst worden ist, vielleicht nicht gelöst werden konnte. Die Rezeptur der Weimarer Verfassung ist ursprünglich sicher einwandfrei gewesen, aber die konkrete Geschichte zeigt gerade in der Zwischenkriegszeit, wie weit die institutionelle Ordnung durch das Schwergewicht fortwirkender historischer Kräfte ausgehöhlt werden kann. Denn es steht ja zweifellos fest, daß in der Weimarer Verfassung die Stellung des Reichswehrministers, der Zivilist sein konnte und lange genug Zivilist war, als führende, verantwortliche Persönlichkeit genügend festgelegt worden war. Blickt man aber heute auf das konkrete Verhältnis zwischen Reichswehrminister und Chef der Heeresleitung, zwischen Geßler und Seeckt, so besteht gar keine Frage, daß aus Gründen, die man mit einem verschiedenen Maß scharfer Kritik beurteilen kann, deren Konsequenzen aber objektiv eindeutig festzulegen sind, die Verschiebung des Schwergewichts in diesem verfassungsmäßigen Sinne nicht geglückt ist. Diese Situation mußte sich seit 1925 natürlich durch die Wahl eines repräsentativen Soldaten der Überlieferung zum Reichspräsidenten, durch die Wahl Hindenburgs, noch in einer 1 9 1 9 schwer vorauszusehenden Schärfe weiter komplizieren. Es ist wahrscheinlich das größte Paradox dieser deutschen Entwicklung, daß der Primat des Politischen zum ersten Mal durch den Nationalsozialismus durchgreifend erzwungen wurde. Denn mit seiner Diktatur wurde die umgekehrte Usurpation auch des einwandfreien militärischen Sachbereiches durch die politische Führung zu einer in ihren Folgen ebenso verhängnisvollen Tatsache. Die Gesetzgebung der Nachkriegszeit stand wirklich vor der Aufgabe, in allen grundsätzlichen Fragen vom Fundament aus eine Neuorientierung zu vollziehen. Und

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Hans

Herzfeld

das mußte in einem Gespensterkampf geschehen, in dem die Tradition der deutschen Vergangenheit heraufbeschworen wurde, obwohl von dieser Tradition, was die Oberbefehlshaber anging, letzten Endes nichts mehr für die Gewinnung eines festen Standpunktes zu erhoffen war. Man konnte und durfte nur noch von den sachlichen Gesichtspunkten ausgehen. Zum Schluß möchte ich nur noch ergänzend auf die weitere Schwierigkeit hinweisen, daß die Errichtung der Bundeswehr erst durch ihre Verflechtung mit der Problematik der E V G von 1 9 5 0 — 1 9 5 4 und dann sofort durch die Eingliederung in die N A T O kompliziert worden ist. Ihre Existenz begann in der f ü r die moderne Lage des Problems typischen Doppelschichtung eines nationalen Heeres, dem von A n f a n g an auch eine überstaatliche und übernationale Aufgabe zufiel. Man kann heute bereits diskutieren, ob diese supranationale Seite der Verflechtung über die einzelnen Staatsgrenzen hinaus im Bereich der militärischen Sachfragen nicht größeres Gewicht besitzt als die ganze Diskussion der verfassungspolitisch zweifellos wichtigen innerstaatlichen Fragen. Das Sachgesetz des übernationalen militärischen Rüstungsproblems, das die Souveränität des einzelnen Staates mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und in bescheidenen Resten audi Großbritanniens zum Schattenbild macht, steht in einem permanenten Konflikt mit der Notwendigkeit, daß die Aufgaben der überstaatlichen Integration doch noch immer in jedem einzelnen Staate auf innerpolitischem Felde zum Austrag gebracht werden müssen. Die Fragen der Dienstzeitdauer, die Fragen der technischen Ausrüstung, die Fragen des Grades, in dem die Armee noch national bleiben kann oder sich ganz dem Gesetz der übernationalen Zusammenarbeit fügen muß, alle diese Fragen stellen ein überaus kompliziertes Organisationsfeld dar, in dem die nationalstaatliche, innenpolitische Seite mit der supranationalen Seite so stark verflochten ist, daß es fast unmöglich erscheint zu sagen, welche Seite die stärkere Wirkungskraft besitzt. Die Konstruktion des Nordatlantikpaktes behandelt das Verhältnis von ziviler und militärischer Seite in einer Weise, die alles einwandfrei im Sinne des Primats der Politik ordnet. Der Nordatlantik-Rat, in dem die Minister jährlich zweimal zusammentreten sollen, ist dem ständigen Ausschuß der Militärs in N e w Y o r k übergeordnet. Darüber kann theoretisch nicht der geringste Zweifel bestehen. Wenn man sich aber einmal die Kompetenzausdehnung der N A T O auf militärischem Gebiete klarmacht, wird freilich erst der ganze Umfang der sachlichen Schwierigkeiten deutlich. Die N A T O ist

Oberbefehl und Regierung in der neueren Geschichte

183

zuständig für die Vereinheitlichung von Organisation, Ausbildung und Ausrüstung, für die Bearbeitung der Verteidigungspläne, der Kriegspläne. Sie besitzt entscheidendes Gewicht f ü r die Summe der Aktionsmöglichkeiten in Krieg und Frieden, für die Errichtung der gemeinsamen Infrastruktur, ohne die heute eine Kriegführung überhaupt nicht mehr möglich ist, für die Organisation der Nachschubsysteme und das Radarproblem. Die Verteidigungsakademie der N A T O in Paris ist Träger der Angleichung in der Generalstabsausbildung. Die N A T O greift bis in den rüstungswirtschaftlichen Bereich durch die Notwendigkeit einer tiefgehenden Abstimmung der einzelstaatlichen Rüstung aufeinander. Kurz, die militärische Notwendigkeit diktiert ihr Gesetz auf weiten Gebiete des innerstaatlichen Lebens und seiner politischen Entscheidungen. Der in der Vergangenheit so umfassende militärische Oberbefehlsbegriff ist seit langem durch die tatsächliche Wirkung der modernen Entwicklung Gegenstand eines ständigen Substraktionsprozesses 4 geworden. Durch das Budgetrecht der Parlamente wurde die Volksvertretung, ob mit E r f o l g oder ohne Erfolg, zu einem nicht mehr auszuschaltenden Faktor der Heeresentwidklung. Damit wurde audi in Deutschland die Organisationsgewalt als Funktion des Oberbefehls praktisch zum ersten Mal aus dem militärischen Bereich heraus in den Kreis der politischen Diskussion versetzt. Die Frage der Militärgerichtsbarkeit ist ebenfalls, audi in Deutschland schon unter Wilhelm II. (1896/97), im Sinne einer weitgehenden Mitwirkung des Reichstages entschieden worden, der jedenfalls dieses Gebiet aus der Autonomie des rein militärischen Bereiches weitgehend auszugliedern vermochte. Heute muß man sich fragen, ob der Substraktionsprozeß des im Bereich der innerstaatlichen Diskussion umstrittenen Oberbefehls nicht zwingend zu der Frage drängt, was vom Oberbefehl des Bundeskanzlers im Kriegsfalle tatsächlich noch übrig bleiben wird. Wird er nicht notwendig in den ersten fünf Minuten eines Krieges an den Oberbefehl der N A T O übergehen? Aus Gründen des Gewichtes, das eine funktionierende Armee im Frieden nun einmal besitzt, darf man sicherlich die innerstaatliche Problematik der Oberbefehlsfrage keineswegs leicht nehmen. Aber man sollte sich darüber klar sein, daß die Argumente, mit denen die Regelung der 4

Ich verdanke diese Formulierung Herrn Senatspräsident a. D . D r . Eberhard Barth

— München, durch dessen sachkundige E r f a h r u n g und reifes Urteil über die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart ich vielfach Anregung und Belehrung erhalten habe.

184

Huns

Herzfeld

Frage im Kriegsfall umstritten wird, weitgehend den Charakter eines Schattenkampfes an sich tragen, solange sie sich überwiegend oder ausschließlich auf dem Boden des einzelstaatlichen Lebens bewegen. An diesem Punkte, dem Schnittpunkt der einzelstaatlichen und der überstaatlichen Seite der modernen Heere, scheint heute eigenlich die schwierigste Problematik der Oberbefehlsfrage zu liegen. Die historische Argumentation mag nach der innenpolitischen Seite hin heute noch wichtig sein; aber sie ist in der Gefahr, für den Ernstfall über den so intensiv debattiert wird, zur blassen Theorie herabzusinken.

GILBERT

Z I E B U R A

Anfänge des deutschen Parlamentarismus 1 Geschäftsverfahren

und Entscheidungsprozeß in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/49

I. Die historische

Hypothek

Selten begann ein Parlament seine Tätigkeit unter so ungünstigen Voraussetzungen wie die erste deutsche Nationalversammlung. Als sie am 18. Mai 1848 zusammentrat, durchströmte die große Mehrheit der Abgeordneten zwar das Hochgefühl der neu und, wie sie glaubten, definitiv eroberten nationalen Souveränität. Paradoxerweise war es aber eben diese Situation scheinbar unbegrenzter Freiheit, die sie nun, da die konkrete, konstruktive parlamentarische Arbeit die Revolution ablösen sollte, vor die schwierigsten Probleme nicht nur doktrinärer und verfassungspolitischer, sondern auch praktischer Natur stellte.2 Plötzlich aus allen Einzelstaaten des disparaten Deutschen Bundes zusammengewürfelt, kannten sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Abgeordneten untereinander nicht, und hier sowie in der Tatsache, daß die Märzereignisse die Parteien beträchtlich radikalisiert hatten,3 lag der Grund für das „fast animalische" Mißtrauen,4 mit dem sich „Revolutionäre" und die als „Reaktionäre" verschrienen Anhänger eines gemäßigten Konstitutionalismus gegenüberstanden.5 Unter solchen Umständen konnte von 1

Dieser Beitrag

entstand aus einem Habilitationsvortrag, der am αι. Juli 1 9 6 2

vor der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin gehalten wurde. 2

Vgl. das Zeugnis vieler Abgeordneter, ζ. Β. B. Beseler, Erlebtes

1809—1Ö59> Berlin 1884, sungswerkes

1848—49,

Nationalversammlung, 3

Bd. I, Hannover 1 8 5 6 , S. 1 1 2 ;

für Politik,

Bd. I V , igij,

Rudolf Haym, Die

Lage beim Zusammentritt

des

Verfasdeutsche

Vorparlaments,

Parlament

in Briefen

und

Tage-

Ambrosch, Rümelin, Hallbauer, hrsg. von L. Bergsträsser, Frankfurt/M. a929,

S. 172. 5

Erstrebtes

S. 620.

Vgl. das Zeugnis Hallbauers in Das Frankfurter

büchern,

und

des deutschen

Bd. I, Frankfurt/M. αδ48, S. 8 f.

L. Bergsträsser, Die parteipolitische

in Zeitschrift 4

S. 58 f.; Karl Jürgens, Zur Geschichte

W. Zimmermann, Die deutsche Revolution,

Karlsruhe 1 8 5 2 , S. 640 f.

186

Gilbert

Ziebura

einem Konsensus, jener fundamentalen Bedingung sinnvollen parlamentarischen Wirkens, keine Rede sein. Daher wog es um so schwerer, daß etwa zwei Drittel der Abgeordneten, in der Hauptsache Preußen und Österreicher, über keinerlei parlamentarische Erfahrung verfügten 6 und ihre höchst naiven, den Mangel an politischer Reife offenbarenden Anschauungen über parlamentarisches Geschäftsverfahren durch Idealismus kompensieren zu können glaubten.7 Und selbst diejenigen, die sich als Wortführer der liberalen Opposition im Vereinigten Preußischen Landtag oder in den mittel- und süddeutschen Landtagen bereits einen Namen gemacht hatten, konnten mit den Praktiken, die sie in den heimatlichen Miniaturkammern mit ihren beschränkten Befugnissen, ihrem naturgemäß engen politischen Horizont und ihren daher nur rudimentär entwickelten Geschäftsmethoden angewandt hatten, nun in dieser ihnen immens erscheinenden und ganz anders strukturierten Versammlung herzlich wenig anfangen. Aber sie mußten in einem viel tieferen Sinne umlernen, wollten sie sidi der neuen Situation gewachsen zeigen. Mit seinem parlamentarischen Experiment war der vormärzliche Liberalismus in den Einzelstaaten gescheitert; nirgendwo war es ihm gelungen, mit den Mitteln parlamentarischen Kampfes die Strukturen des bürokratischen Polizei- und Bevormundungsstaates ernstlich zu erschüttern und so die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Entwicklung zum bürgerlichen Verfassungsstaat zu schaffen.8 Selbst nach dem Stoß von 1830, der die liberalen Kräfte aufrüttelte und ihnen wenigstens vorübergehend die Initiative gab, verstanden sie es auf die Dauer nicht, gewisse Anfangserfolge im systematischen Angriff auszubauen oder auch nur die in den Verfassungen enthaltenen Möglichkeiten auszunutzen. Gegenüber dem bald einsetzenden starken antiparlamentarischen Kurs der sich immer wieder konsolidierenden und in autokratische Methoden zurückfallenden traditionellen Herrschaftsgewalten vermochten sie sich nicht zu behaupten.9 6

K. Biedermann, Mein

Leben

S. 3 5 9 ; H.Rosenberg, Rudolf

und

Haym

ein Stück Zeitgeschichte, und

die

Anfänge

Bd. I, Breslau 1886,

des klassischen

Liberalismus,

Beiheft 3 1 der H Z , München 1 9 3 3 , S. 1 2 8 . 7

Vgl. ζ. B. die Rede Jakob Grimms während der Debatte über die Geschäftsord-

nung; Stenographischer

Bericht

Nationalversammlung,

hrsg. v. F. Wigard, Leipzig 1848, Bd. I, S. 1 6 6 (Zit. St.

8

E. R. Huber, Deutsche

über die Verhandlungen Verfassungsgeschichte

S.317. 9 Ebd., Bd. II, Stuttgart i960, S. 3 1 — 3 4 .

der deutschen seit 178g,

constituierenden Ber.).

Bd. I, Stuttgart 1 9 5 7 ,

Anfänge

des deutschen

187

Parlamentarismus

Wie nicht genug unterstrichen werden kann, verdankten die Regierungen ihre übermächtige Position in erster Linie dem für die deutsche Verfassungsentwicklung so verhängnisvollen „monarchischen Prinzip", das im Art. 57 der Wiener Schlußakte von 1820 ausdrücklich in der Absicht formuliert worden war, jedes Zugeständnis an Volkssouveränität und Gewaltenteilung, jede Schmälerung fürstenstaatlicher Tradition im Sinne der "autorite preexistante du roi" auszuschalten und das damit die Kammern von vornherein in eine subalterne Stellung degradieren mußte.10 Für diese Regierungen, von den Beschlüssen und Pressionen der Bundesversammlung (1824, 1832) notfalls kräftig angetrieben, waren, wie Werner Conze es treffend formuliert, „die parlamentarischen Vertretungen kaum mehr als einmal vorhandene, leider nicht zu beseitigende Übel, zeitraubend, wenig nutzbringend und politisch gefährlich". 11 Daher belastete es ihr gutes obrigkeitliches Gewissen in keiner Weise, wenn sie im Laufe der Zeit ein ganzes Arsenal schikanöser und teilweise sogar illegaler Maßnahmen entwickelten, um der als Staatsfeind Nr. 1 angesehenen und dementsprechend behandelten Opposition das Rückgrat zu brechen und ganz allgemein, wie Heinrich v. Gagern 1827 an seinen Vater schrieb, „die Stände in den Augen des Volkes in Mißkredit zu bringen und zu entwürdigen". 12 Das vom Fürsten in diskriminierender 10

V g l . F r a n z Schnabel, Deutsche

Geschichte

im neunzehnten

Jahrhundert,

Bd. I I ,

Freiburg 1 9 4 9 2 , S. 8 3 f., S. 2 6 6 , S. 26g f . ; viel zu positiv in der Beurteilung E . K a u f mann, Studien

zur Staatslehre

des monarchischen

Prinzips,

jetzt in Gesammelte

Schrif-

ten, Bd. I, Göttingen 1 9 6 0 , S. 1 — 4 9 ; ganz im Sinne Stahls H . O . Meisner, Die vom

monarchischen

Prinzip

im Zeitalter

der Restauration

und des Deutschen

Lehre Bundes,

Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, H e f t 1 2 2 , Breslau bes. S. 1 9 8 f., S. 206, 208, 2 1 5 ; G . Jellinek, Regierung Leipzig 1 9 0 9 , S. 7 — 1 9 ; O . Hintze, Das monarchische Verfassung,

in Staat

und

Verfassung,

und Parlament Prinzip

in

und die

1913,

Deutschland, konstitutionelle

hrsg. v . F . H ä r t u n g , Leipzig 1 9 4 1 , S. 3 5 6 ff.;

Huber, α. α. Ο., I, S. 6 5 1 — 6 5 6 . 11

und

W . Conze, Das Spannungsfeld Gesellschaft

im deutschen

von Staat und Gesellschaft

Vormärz

1815—1848,

im Vormärz,

Industrielle

Welt

1,

in Staat Stuttgart

1 9 6 2 , S. 2 2 0 . 12

Deutscher

Liberalismus

im Vormärz,

tingen usw. 1 9 5 9 , S. 7 9 ; J . D r o z , Les

bearb. v . P. Wentzke u. W . Klötzer, G ö t -

revolutions

allemandes

de 1848,

Paris

1957;

S. 3 7 f. Eine Strukturgesdiichte des deutschen Parlamentarismus fehlt leider; einige H i n weise geben L . Bergsträsser, Geschichte buch der Politik,

deutschen Parlamentarismus, mus in Deutschland, stehung

und

Zeitgeschichte,

des Parlamentarismus

in Deutschland,

in

Berlin-Leipzig 1 9 2 0 3 , Bd. I, S. 3 2 9 — 3 3 6 ; ders., Die Problematik München 1 9 5 a ; ders., Die Entwicklung

Geschichte

Entwicklung

und Politik,

des

in Deutschland,

Beilage zum „ P a r l a m e n t " , B. 28/60, S. 449—-456.

in Aus

des

Parlamentaris-

Bd. 1 3 , Laupheim 1 9 5 4 ; W . T r e u e ,

des Parlamentarismus

Hand-

Politik

Entund

188

Gilbert

Ziebura

Absicht und nur allzu oft willkürlich gehandhabte Einberufungs-, Vertagungs- und Auflösungsrecht; das Verbot oder die strikte Reglementierung der Öffentlichkeit der Kammerdebatten sowie der Parlamentsberichterstattung; 13 die Manipulierung der Wahlen im gouvernementalen Sinne; 14 das Verbot politischer Versammlungen, ja jeden Kontaktes zwischen Abgeordneten und ihren Wählern und vor allem der rücksichtslose Kampf gegen die besonders gefährliche, weil sachkundige liberale Minorität in der Beamtenschaft, die man weitgehend dadurch lahmzulegen wußte, daß bewährten liberalen Beamten, falls sie für ein Abgeordnetenmandat kandidierten, der Urlaub verweigert wurde 15 — das waren einige der probatesten, fast immer wirksamen Mittel, die zwar von Zeit zu Zeit die öffentliche Meinung in Erregung setzten, gegen die sich die liberale Opposition aber als ohnmächtig erwies. In fast allen Kammern kam es auf diese Weise zu starken Mehrheiten aus gouvernemental gesinnten Staatsbeamten und Adligen. 16 Hinzu kam überall das der Exekutive ver13

Erst in den vierziger Jahren wurden die scharfen Bestimmungen in dieser Hin-

sicht gelockert. In Preußen ζ. B. durften die Protokolle der Provinzialstände ab 1841 in der Presse gedruckt werden. Eigene Berichte über die Debatten durften die Zeitungen aber auch dann noch nicht bringen. V g l . Art. 59 der Wiener Schlußakte von 1820. D a z u Ruth Kühnemann, Die große Presse und das erste deutsche Parlament.

Phil. Diss. Leip-

zig 1933, S. 5 f.; L. Bergsträsser, Geschichte

in

10. A u f l . , Deutsches 14

Handbuch

der Politik,

der politischen

Parteien

Deutschland,

Bd. 2, München i960, S. 63.

Vgl. das aufschlußreiche Zeugnis des Freiherrn du Thil: „. . . sobald Privatleute,

exzentrische oder egoistische Parteiführer die Wahlen in ihrem Sinne durch Intrigen und sogar Bestechung lenken, die Regierung, die doch in unserem gebildeten Zeitalter in der Regel die beste, aber auch die besonnene Freundin des Volkes ist, die Rolle einer einfältigen dupe spielen würde, wenn sie solchem Treiben müßig zusehen wollte. Sie findet sich in den Zustand der N o t w e h r versetzt, sie ist genötigt, um ihre Existenz oder Autorität zu erhalten, sidi derselben W a f f e n zu bedienen, mit welchen sie angegriffen w i r d . " Denkwürdigkeiten Staatsministers schichtsquellen 15

Freiherrn

du Thil

des ig. Jahrhunderts,

W . Conze, a.a.O.,

aus dem

Dienstleben

1803—1848,

des

Hessen-Darmstädtischen

hrsg. v. H . Ulmann, Deutsche

Ge-

Bd. 3, Stuttgart u. Berlin 1921, S. 485.

S. 134, 228; Huber, a.a.O.,

I, S. 368 f. Diese Maßnahme

wurde sogar auf pensionierte Beamte angewendet, wie der Fall Jaup in Hessen-Darmstadt (Wahl v o m Herbst 1847) zeigt. V g l . R . C . T h . Eigenbrodt, Meine aus den Jahren 1848,184g

Erinnerungen

und 1850, hrsg. v. L. Bergsträsser, Darmstadt 1914, S. 19 f.,

336. 16

Vgl. das o f t zitierte Beispiel Hessen-Darmstadt, D r o z , a. a. O.,

S. 37; Huber,

a . a . Ο . , II, S. 446; I, S. 383. A m 3. Juni 1814 schrieb H . v. Gagern an seinen V a t e r : „ D i e neue hessische Kammer wird womöglich noch schlechter werden als die frühere, d. h. noch mehr Staatsdiener und noch weniger unabhängige Leute." Deutscher lismus im Vormärz, a. a. O., S. 243.

Libera-

189

Anfänge des deutschen Parlamentarismus

fassungsmäßig zustehende Recht, in die inneren Angelegenheiten der Kammern einzugreifen, was, aus Furcht vor Fraktionsbildung, bis zur Festsetzung der Sitzordnung ging. Den Kammern wurde die Wahl des Präsidenten und die Aufstellung der Geschäftsordnung verwehrt. Die Geschäftsordnung etwa der Zweiten württembergischen Kammer vom 23. Juni 1821 wurde im wesentlichen von königlichen Kommissaren ausgearbeitet und bedurfte auf jeden Fall, wie überall sonst auch, der monarchischen Zustimmung. 17 Selbst das ohnehin begrenzte Gesetzespetitionsund Budgetrecht wurde umgangen und ausgehöhlt, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. So verwundert es nicht, wenn dieser „Pseudokonstitutionalismus" 18 die radikaleren Kräfte in die außerparlamentarische Agitation und die konstitutionellen Liberalen in die Resignation trieb. „Das ständisdie Wesen in Deutschland", schrieb Heinrich v. Gagern 1838, 1 9 „ich muß sagen das kleinständische..., kommt immer mehr in Verfall. Die württembergisdie Opposition, Pfizer, Schott, Uhland, Römer werden, indigniert über den Gang der Verhandlungen und überzeugt, daß, wo das demokratische Prinzip dem monarchischen und servilaristokratischen . . . so ganz machtlos und von Gott verlassen gegenübersteht — wie dies in Deutschland bundesverfassungsmäßig ist —, immer nur leeres Stroh gedroschen werden würde, mit Eklat ihre Demission geben." Und Robert Blum beklagte in einem Brief vom 3. November 1845 a n Johann Jacoby die Ohnmacht des sächsischen Landtages, wenn er wütend schrieb: „Unsere Kammer ist gut, aber sie erzielt natürlich nichts. Solange der deutsche Minister einer ganzen Kammer auf alle ihre Mehrheitsbeschlüsse mit Unverschämtheit sagen kann: ,Es bleibt alles beim Alten, car tel est notre plaisir!', solange bleibt das ganze Kammerwesen eine heillose Spiegelfechterei."20 Freilich lag die Schuld an diesem lamentablen Zustand des deutschen Ständewesens nicht allein bei den Regierungen. Schon die ihm eigentümliche Struktur mußte den Altliberalismus daran hindern, zum Zuge zu 17

V g l . Württembergische Zweite Kammer, Beilage 3 7 2 , 1 9 0 9 .

18

H u b e r , α. α. Ο., I I , S. 436.

19

Deutscher Liberalismus im Vormärz, a. a. O., S. 200 f.

20

H . B l u m , Robert

Blum.

Ein Zeit- und Charakterbild f ü r das deutsche V o l k ,

Leipzig 1 8 7 8 , S. 2 1 3 f . ; vgl. auch C u r t G e y e r , Politische Parteien und kämpfe in Sachsen bis zum Ausbruch des Maiaufstandes 1848—49, ähnlich der gemäßigte M a x Duncker, Zur Geschichte der deutschen in Frankfurt,

Berlin 1 8 4 9 , S. X .

Verfassungs-

Leipzig 1 9 1 4 , S. 1 5 ; Reichsversammlung

190

Gilbert

Ziebura

kommen. Indem er aus Angst vor dem „Pöbel" das aktive und passive Wahlrecht in engen Grenzen hielt, 21 beschnitt er auf gefährliche Weise seine eigene soziale Basis. Auch im Bürgertum selbst fehlte es an einer echten, zum politischen Engagement bereiten und befähigten „Staatsgesellschaft"; 22 gerade breite bürgerliche Kreise legten gegenüber den Kammern eine philisterhafte Indifferenz an den Tag. Aus der tiefen Aversion des frühen Liberalismus gegenüber jeder Form von Organisation innerhalb wie außerhalb der Kammern 2 3 mußte sich notwendigerweise eine nur tastende, schüchterne Taktik ergeben. Viel schwerer wog aber die Ungewißheit und Zwiespältigkeit der liberalen konstitutionellen Doktrin, aus der tatsächlich nicht viel mehr als eine bloße „Opportunitätspolitik" 2 4 resultieren konnte. Indem der gemäßigte Liberalismus den fundamentalen Gegensatz zwischen monarchisch-konstitutioneller Verfassung im Sinne des Art. 57 der Wiener Schlußakte und parlamentarisch-konstitutioneller Verfassung nicht erkannte, 25 ihn durch seine Sympathien mit dem falsch verstandenen englischen Regierungssystem nur noch mehr verwischte, 26 indem er mit der ihm eigenen Naivität hoffte, durch die „Geltendmachung sittlicher Gesinnung... dem Königtum die politische Macht stückweise abkaufen" zu können und indem er schließlich an die Macht historisch gewordener Institutionen glaubte, setzte er seinen taktischen Möglichkeiten von vornherein enge Grenzen. 27 In der Tat war die konstitutionelle Doktrin des deutschen Frühliberalismus, wie schon Georg Jellinek erkannt hat, „himmelweit" 28 von den Vor21 Vgl. Theodore S. Hamerow, The Elections to the Frankfurt Parliament, in Journal of Modern History, Bd. X X X I I I , März 1 9 6 1 , S. 1 7 ff. (mit genauen Zahlen). 22 W. Conze, a. a. O., S. 225 f. 23 Ebd., S. 233. Allerdings begann bei einigen, etwa H. v. Gagern, die Notwendigkeit einer Parteibildung zu dämmern. Vgl. L. Bergsträsser in Zeitschrift für Politik, Heft 2, 1960, S. 1 4 5 ff. 24

Vgl. die hervorragende Analyse von Hans Rosenberg, a. a. O., S. 1 0 8 — 1 1 0 . Ebd., S. 1 1 3 ; E. Angermann, Robert von Mohl 1 7 9 9 — 1 8 7 5 , Politica, Bd. 8, Neuwied 1962, S. 396 f. M Die falsche Interpretation beruhte nicht zufällig auf einer Überschätzung der königlichen Prärogative. Vgl. dazu Th. Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus, Stuttgart 1 9 2 8 ; W. Hock, Liberales Denken im Zeitalter der Paulskirche, Droysen und die Frankfurter Mitte, Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 2, Münster 1 9 5 7 ; Angermann, a. a. O., S. 398f. 25

27

Vgl. einen Brief des jungen Heinrich v. Gagern an seinen Vater (1827), in dem er schreibt, daß „das rechte Maß zu finden, eine Aufgabe der Klugheit" sei. Deutscher Liberalismus, a. a. O., S. 80. 28 G. Jellinek, a. a. O., S. 1 1 f.

Anfänge

des deutschen

191

Parlamentarismus

Stellungen etwa der französischen Liberalen jener Jahre entfernt, und weder Rotteck noch Welcker, nicht einmal Dahlmann ahnten audi nur, daß ausgerechnet der Ultraroyalist Chateaubriand bereits 1 8 1 6 in seiner "Monarchie selon la C h a r t e " eine komplette Theorie des parlamentarischen Regierungssystems entworfen hatte. 29 Nichts ist in diesem Zusammenhang symptomatischer als das monumentale W e r k Robert von Mohls über die Ministerverantwortlichkeit, 3 0 in dem die Ministeranklage im Falle einer Verfassungsverletzung mit einer formaljuristischen Akribie ohnegleichen, die Idee der politischen Ministerverantwortlichkeit aber nicht einmal als theoretische Möglichkeit erörtert wird, was nur geschehen konnte, weil, wie Mohl sehr viel später selber zugab, 3 1 das Wesen des parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland noch in den dreißiger Jahren völlig unbekannt w a r . Dieses Eingeständnis ist um so schwerwiegender,

als Mohl

während

eines längeren Aufenthaltes in

Paris

( 1 8 2 3 / 2 4 ) nicht nur Chateaubriand persönlich kennengelernt, sondern auch Theorie und Praxis des damaligen französischen Regierungssystems gründlich studiert hat. 3 2 Wenn ihm der Parlamentarismus dennoch weder als Begriff noch in der Wirklichkeit begegnete, 33 wenn er also den W a l d 29

V g l . dazu J . Barthelemy, L'introduction

Louis XVIII 30

et Charles

R . v . Mohl, Die

vertretung,

du regime parlementaire

en France

sous

X, Paris 1 9 0 4 . Verantwortlichkeit

der Minister

in Einherrschaften

mit

Volks-

Tübingen 1 8 3 7 ; vgl. dazu Angermann, a. a. O., S. 45.

31

R . v . Mohl, Lebenserinnerungen

32

Angermann, a. a. O., S. 25, 395, Anm. 2.

33

D e r These Angermanns {ebd., S. 395 f.), daß es an der in Deutschland sehr ein-

1 7 9 9 — 1 8 7 5 , Bd. I , Stuttgart 1 9 0 2 , S. 269 f.

flußreichen, aber „ n a i v e n " , weil „zu konstruierten", „zu wirklichkeitsfremden" und f ü r die Theorie des Parlamentarismus zu wenig ergiebigen Lehre Benjamin Constants gelegen habe, wenn die deutschen Autoren in diesem Punkte nicht vorankamen, können w i r nicht zustimmen. Einmal w a r Constant nur einer unter vielen Autoren, die sich in Frankreich mit dem parlamentarischen Regierungssystem beschäftigten. Es bleibt erstaunlich, wie wenig die von Chateaubriand, Vitrolles, Guizot, Villemain, R o y e r - C o l l a r und Thiers geführten Debatten (vgl. M . Prelot, Precis

de droit

constitutionnel,

Paris

1 9 5 5 3 , S. 1 1 3 ff.) in Deutschland ein Echo fanden. Z u m anderen ist es z w a r richtig, daß Constant durch seine Konzeption v o m " p o u v o i r neutre" des Königs den Parlamentarismus formell nicht konsequent vertreten konnte; dennoch hat er dessen wesentliche Elemente erkannt und in aller Klarheit dargelegt (vgl. Α . M . D o l m a t o w s k y , Der mentarismus

in der Lehre

Benjamin

Constants,

in ZGStW,

menheit" der Lehre Constants betonend, H a n s L . R u d i o f f , Die Entstehung der parlamentarischen

Regierung

in Frankreich,

Parla-

63, 1 9 0 7 ; die „ U n v o l l k o m der

Theorie

ebd., 62, 1906). Denn auch in seinem

System w a r es ausgeschlossen, daß ein Ministerium gegen den ausdrücklichen Willen der Mehrheit v o m K ö n i g hätte gehalten werden können; natürlich schon gar nicht, wenn sie nach A n w e n d u n g des Auflösungsrechtes wieder in die K a m m e r zurückgekehrt wäre.

192

Gilbert

Ziebura

vor lauter Bäumen nicht sah, wird damit offenbar, welche Welten den frühen Liberalismus in Deutschland von diesem Phänomen trennten. Erst unmittelbar vor der Revolution hat Mohl einige Unterschiede zwischen den repräsentativen Systemen in Deutschland, England und Frankreich erkannt.34 Dabei hatten Friedrich von Gentz und später Friedrich Julius Stahl mit der Klarsicht der Gegner dargelegt, daß landständische und repräsentative Verfassung unvereinbar sein müssen, weil der letzteren die Volkssouveränität zugrunde liegt.35 Wenn Dahlmann diese Unterscheidung als „Karikatur" abtat, und zwar mit dem für frühliberales Staatsdenken charakteristischen Argument, daß die Staatsordnung weit über die Bevölkerung hinausreiche und so mit der Volkssouveränität nichts zu schaffen habe,36 dann war er es, der die Begriffe verwirrte. Denn wirkliche Parlamentarisierung setzt nun einmal voraus, daß wenigstens ein gewisses Maß an Vergesellschaftung des Staates akzeptiert wird; aus seinem Persönlichkeits- und Freiheitsdenken, aus seinem Begriff des objektiven, neutralen, die sittliche Idee verwirklichenden Staates heraus lag dem Altliberalismus kein Gedanke so fern wie dieser.37 Das Ideal blieb weiterhin der autoritär-bürokratische Staat als Herrschaftsinstanz, sofern er sich den liberalen Vorstellungen vom Rechtsstaat anpaßte.

II. Ausarbeitung der Geschäftsordnung Im Mai 1848 schien diese historische Hypothek wie weggeblasen. Ganz plötzlich, fast über Nacht, 38 wurde das parlamentarische RegierungsG e r a d e das, was die frühkonstitutionelle Lehre in Deutschland nicht zu lösen verstand, nämlich den Dualismus von E x e k u t i v e und Legislative, hat Constant mit seiner H a r monie-Lehre überwunden. 34

In ZGStW

recht, Völkerrecht

3, 1.846, S. 4 5 1 — 4 9 5 ; etwas umgearbeitet, wieder abgedruckt in Staatsund Politik,

B d . I, Tübingen i 8 6 0 , S. 3 3 — 6 5 ; vgl. dazu Angermann,

a. a. O., S. 56 f., S. 402 f f . ; audi Th. Wilhelm, a. a. O., S. 1 4 3 f f . 35

Fr. Gentz, Über

tativ-Verfassungen Nation, 36

Unterschied

zwischen

( 1 8 1 9 ) , in Wichtige

Urkunden

landständischen

für den Rechtszustand

und der

Repräsendeutschen

auf den Grund

The German

Idea

und das Maß

der gegebenen

Zu-

Leipzig 1 8 4 7 2 , S. 1 1 6 f.

Grundsätzlich dazu Th. Schieder, Die

Staat und Gesellschaft 38

den

Mannheim 1 8 4 4 .

F. C . Dahlmann, Die Politik,

stände zurückgeführt, 37

den

im Wandel

of Freedom,

Krise

des

bürgerlichen

Liberalismus,

in

unserer Zeit, München 1958 u. bes. Leonard Krieger,

Boston 1 9 5 7 ; schon Η . Rosenberg, a. a. Ο., S. 1 2 3 .

D e r Hinweis Jellineks (a. a. O., S. 20, A n m . 1 ) , daß die Geschichte dieses W a n -

dels noch ganz ungeklärt ist, gilt bis auf den heutigen T a g . Es müßten nicht nur die

Anfänge

des deutschen

193

Parlamentarismus

system als die natürlichste Sache der Welt von jedermann akzeptiert, den hochkonservativen General v. Radowitz eingeschlossen,39 wie die Debatte um die Einsetzung einer provisorischen Zentralgewalt bald zeigte. Allerdings gingen die Meinungen, wie unten dargelegt wird, über das, was man unter parlamentarischem Regierungssystem verstand, stark auseinander, und viele dachten, sei es aus Unkenntnis, sei es aus Berechnung, keineswegs daran, alle Konsequenzen aus ihrer leichtfertigen Konversion ä la mode zu ziehen. Immerhin mußte sich die Akzeptierung nun nicht nur in der auszuarbeitenden Verfassung, sondern zunächst in der nüchternen Praxis der parlamentarischen Arbeit konkretisieren. Auch hier waren alle Fesseln der Vergangenheit gefallen; niemand konnte der Nationalversammlung das Recht streitig machen, sich in völliger Autonomie ihre Geschäftsordnung selbst zu geben. Die neu gewonnene Freiheit war so übermächtig, daß die erste Sitzung unter der Leitung eines unfähigen Alterspräsidenten im Chaos und in der Konfusion endete. „Es konnte", heißt es in einem zeitgenössischen Bericht, „wohl keiner der Abgeordneten die Paulskirche mit den Gefühlen verlassen, unter denen er sie betreten hatte. Der Mangel an parlamentarischem Anstand und Schicklichkeitsgefühl (von Takt, Würde und Selbstbewußtsein nicht zu reden) hatte sich in der Versammlung in so auffallender Weise kundgegeben, daß sich niemand, der davon Zeuge war, der Scham erwehren konnte." 40 Unter diesen Umständen mußte der Geschäftsordnung eine geradezu vitale Bedeutung zukommen. Aber woran sollte man sich bei der Ausarbeitung halten? Der bloße Rückgriff auf die in den einzelstaatlichen Versammlungen entwickelten Normen kam schon wegen ihrer Uneinheit„Märzministerien" systematisch daraufhin untersucht werden, inwieweit hier das parlamentarische Regierungssystem praktiziert wurde, sondern ob und in welcher Form es kurz vor und während der Revolution gefordert worden ist, wie es in Baden der Fall gewesen zu sein scheint. Vgl. Ludwig Häusser, Denkwürdigkeiten badischen Ende

Februar

Freiherrn vom

1848

bis Mitte Mai 184g,

von Blittersdorff,

Staat,

von

Mannheim 1850, S. 32 ff.; Aus der Mappe

des

Bücher

Bd. III, S. 2 3 1 f f . Diese Hinweise bei Herbert

Staatsdenken

im ig. und 20. Jahrhundert,

der

in Baden

Mainz 1849, S. 48; vgl. K. S. Zachariae, Vierzig

Heidelberg 1 8 3 9 — 4 3 ,

Schmitt, Das vormärzliche Baden

zur Geschichte

Mannheim 1 8 5 1 , S. 7 1 ; G . B. Berr, Die Bewegung

Revolution,

und die Revolution

Verfassung-

von 184814g

in Baden,

und verwaltungsgeschichtliche

in

Studien,

Bd. 2, Karlsruhe 1950, S. 34. 39

St. Ber. I, S. 376.

40

Deutsche

Parlaments-Chronik.

Ein politisches Schulbuch fürs Deutsche

Volk,

hrsg. v. J . Meyer, Bd. I, Hildburghausen 1848, S. 209; vgl. R. Haym, a.a.O., S. 9 f. 13 Fraenkel

I,

194

Gilbert

Ziebura

lichkeit nicht in Frage. Tatsächlich hatte man, freilich stets in sehr verwässerter Form, in Hannover englische, in Baden französische Geschäftsmethoden zu imitieren versucht, während in den anderen Kammern die verschiedenartigsten Mischformen praktiziert wurden. 41 Wie unausgegoren die Vorstellungen waren, wie sehr man noch herumexperimentierte, geht z.B. aus einem — gescheiterten — Versuch Mittermaiers hervor, der, vom "Committee of the Whole House" des englischen Unterhauses beeindruckt, als Präsident der badischen Kammer die Beratungen der Ausschüsse in Gegenwart aller Kammermitglieder stattfinden ließ (die sogar in die Ausschußberatungen eingreifen durften!), um auf diese Weise zu erreichen, daß alle Abgeordneten gleichmäßig vorbereitet in die öffentliche Debatte eintreten.42 Andererseits sprach sich Dahlmann, ein begeisterter Verehrer des englischen Regierungssystems, gegen die Übernahme der englischen Form der Ausschußbildung aus, weil im Gegensatz zu England, wo Anhänger der Regierung und Opposition automatisch je die Hälfte der Ausschußmitglieder stellen, in Deutschland dieser ausgeprägte Sinn für Minoritätenschutz nicht vorhanden sei.43 So war es ein Glück für die Versammlung, daß sie in dem berühmten Staatsrechtslehrer Robert v. Mohl in ihrer Mitte einen hervorragenden Geschäftsordnungsexperten besaß. Robert v. Mohl, der die Gefahr eines ungeordneten Geschäftsgebarens befürchtete, war nicht der Mann, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Vielleicht als einziger unter seinen Fachkollegen hatte er die Bedeutung des parlamentarischen Geschäftswesens erkannt.44 Nun veröffentlichte er aus eigener Initiative noch vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung einen mit Kommentaren versehenen Geschäftsordnungs-Entwurf, 45 Frucht langer Reflexionen und konkreter „Selbstanschauung" der großen europäischen Parlamente, wie er nicht ohne Stolz in der Einleitung sein Unternehmen rechtfertigte. Tatsächlich hatte er bereits 1828 als 29jähriger Dozent Hamiltons „Parlamentarische Logik" in deutscher Ubersetzung veröffentlicht, eine Art 41

V g l . den A r t . „Geschäftsordnung" v . Mittermaier in Staatslexikon

v . Rotteck u.

Welcker, 1 8 4 7 2 , B d . V , S. 643—654. 42

Ebd., S. 6 5 1 .

43

F. C . D a h l m a n n , a. a. O., S. 1 5 3 ff.

44

V g l . später R . v . M o h l , Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaft

(Nachdruck i 9 6 0 ) , B d . I, S. 309 f . ; J . Redlich, Recht und Technik des englischen

1855 Parla-

mentarismus, Leipzig 1 9 0 5 , S. 779. 45

R . v . Mohl,

Vorschläge

Reichstages, Heidelberg 1 8 4 8 .

zu

einer

Geschäftsordnung

des

verfassungsgebenden

Anfänge

des deutschen

195

Parlamentarismus

Leitfaden f ü r den Parlamentarier, von dessen zynischem Machiavellismus er sich später ausdrücklich distanzierte. 46 Sein großer Lehrmeister aber w a r Jeremias Bentham, dem er eine schier grenzenlose Bewunderung entgegenbrachte. 47 Als eine der besten Schriften des englischen Utilitaristen betrachtete er aber dessen "Essay on political tactics", 48 die erste, ursprünglich auf Mirabeaus Veranlassung f ü r die Constituante verfaßte Rationalisierung des englischen Parlamentsrechtes, ein Buch, das eine große Verbreitung fand, indem es Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst in französischer, dann unter dem Titel „Tactik oder Theorie des Geschäftsganges in deliberirenden Volksständeversammlungen" 1 8 1 7 auch in deutscher Übersetzung erschien und die Hauptquelle für die Rezeption englischer parlamentarischer Methoden auf dem Kontinent wurde. 49 Mohl mußte aber bald erkennen, daß dieser Rezeption, obwohl sie ihm sehr am Herzen lag, Grenzen gesetzt waren. Es ist höchst aufschlußreich zu sehen, daß er in dem Maße, wie er der spezifischen Situation der ersten deutschen Nationalversammlung gerecht zu werden versuchte, auch gezwungen war, stärker auf das französische Vorbild zurückzugreifen. Das Ergebnis war eine zwangsläufig etwas konstruierte, aber dennoch durchaus eigentümliche Amalgamierung englischer und französischer parlamentarischer Methoden. 50 Die Struktur des Präsidiums ist französisch; um der Gefahr einer übermächtigen Stellung des Präsidenten vorzubeugen, wird er nur f ü r vier Wochen gewählt, ist aber wiederwählbar. Das Legitimationsverfahren stammt aus englischer Quelle, weil es Mohl am besten geeignet erschien, die von ihm gefürchtete nachträgliche Anfechtung der Sitzberechtigung, jene W a f f e einer skrupellosen Mehrheit gegen die Minderheit, auszuschalten. Für die Bildung der Ausschüsse mußte er mit den gleichen Argumenten wie schon Dahlmann schweren Herzens das englische Verfahren verwerfen: um des Minoritätenschutzes willen soll entweder der Gesamtvorstand der Versammlung die Ausschüsse unter Berücksichtigung der „wesentlichsten Meinungen" auswählen, oder diese 46

Ders., Lebenserinnerungen,

a.a.O.,

S. 7 7 7 ;

gespräch.

α. α. Ο., I, S. 2 5 7 ;

Anm. 1 ;

vgl. auch J . Redlich,

neueste deutsche Ausgabe William Gerard Hamilton, Das

Bemerkungen

über

den

Glanz

und die Schäbigkeit

der

Beweise.

Streit-

Übers, u.

hrsg. v. Gerd Roellecke, Heidelberg 1962. 47

Vgl. u. a. Gesch. u. Lit. d. Staatswiss.,

48

Ebd.,

49

Vgl. J . Redlich, a. a. O., S. 780—790.

50

Vgl. dazu, allerdings fehlerhaft, J . Hatschek, Das Parlamentsrecht

Reiches,

13"

a. a. Ο., I, S. 26, 232 f.

S. 3 1 0 .

Berlin 1 9 1 5 , S. 9 3 — 9 7 .

des

Deutschen

196

Gilbert

Ziebura

Aufgabe fällt, nach französischem Vorbild, den fünfzehn „Abteilungen" zu, d. h. den alle vier Wochen durch das Los zustande kommenden zahlengleichen Zusammenschlüssen der Abgeordneten. Die Existenz solcher Abteilungen sollte vor allem aber die Bildung von Fraktionen verhindern, die Mohl wie alle Altliberalen als „Beweis von unfertiger staatlicher Erziehung" 5 1 radikal ablehnte. 52 Die Zuständigkeit der Ausschüsse wird streng begrenzt, um jede Machtusurpation zu verhindern; 53 mit Behörden oder einzelnen Persönlichkeiten außerhalb der Versammlung dürfen sie nur mit ausdrücklicher Billigung des Plenums in Berührung treten, eine Maßnahme, die allerdings nicht das von Mohl sehr nachdrücklich geforderte Enqueterecht ausschließt. „Es ist", bemerkte er in seiner scharfen Art dazu, „eine der größten Unfähigkeits- und Unwissenheits-Sünden der bisherigen deutschen Ständeversammlungen, daß sie dieses natürliche, ja notwendige Recht gar n i e . . . in Anwendung brachten. Welche trostlose Geistlosigkeit liegt in der Ansicht, einer vorbereitenden Stelle aus formellen Bedenklichkeiten das Recht streitig zu machen, sich über ihre Aufgabe mündlich belehren zu lassen von Sachverständigen." 54 Die Verhandlung wird so organisiert, daß sowohl die Überrumpelung durch unerwartete Anträge wie die Verzögerung der Plenardebatte durch nicht rechtzeitiges Vorliegen der Ausschußberichte verhindert wird. Die Redeordnung gestaltete Mohl in allzu großem Optimismus großzügig: auf der Rednerliste eingeschriebene Redner können bis zu einer halben Stunde sprechen; ist die Rednerliste erschöpft, beginnt die freie Verhandlung ohne Zeitbeschränkung. Sie kann allerdings wie in Frankreich jederzeit f ü r geschlossen erklärt werden; wenn 20 Abgeordnete den „Schluß der Debatte" fordern, muß der Präsident darüber abstimmen lassen. Alles in allem glaubte Mohl, auf diese Weise in seinem Vorschlag die Gerechtigkeit der englischen mit der Handlichkeit der französischen, auf rasche Beschlüsse abzielenden Ordnung verbunden zu haben. 55 51

R. v. Mohl, Encyklopädie

d. Staatswissenschaften,

nahme auf Treitschke); früher schon in Staatsrecht

1 8 7 2 2 , S. 654 (unter Bezugdes

Königreichs

Tübingen 1 8 2 9 — 3 1 , Bd. I, S. 7 2 3 , Anm. 9. Vgl. Art. „Organisation" im

Württemberg, Staatslexikon

y. Rotteck u. Welcker. 52

Erst unter dem Eindruck seiner Erfahrungen im ersten wilhelminischen Reichstag

wandelte er seine Auffassung und akzeptierte die Fraktionen als notwendiges Übel. Vgl. Mohl, Lebenserinnerungen,

II, S. 1 7 0 ; Angermann, a. a. O., S. 436.

53

J . Hatschek, a. a. O., S. 92.

54

R. v. Mohl, Vorschläge,

55

Vgl. audi zum folgenden Kurt Schauer, Der

Vom Geschäftsverfahren

S. 38.

des Frankfurter

Parlaments,

Einzelne

und

die

Gemeinschaft.

Frankfurt/M. 1 9 2 3 , S. 1 6 ff.

Anfänge

des deutschen

Parlamentarismus

197

Aber die definitive, am 29. Mai angenommene Geschäftsordnung 56 orientierte sich, wie die Zeitgenossen nicht ohne Unmut feststellten, 57 noch stärker zum französischen Vorbild hin. Schon bei Mohl lag die Führung der Geschäfte ausschließlich beim Plenum; daher genossen die Abgeordneten ein hohes Maß an Redefreiheit und eine uneingeschränkte Freiheit der Antragstellung. Gegen den naheliegenden Mißbrauch dieser Freiheiten baute die definitive Geschäftsordnung neben dem vierwöchentlichen Präsidentenwechsel, dem Debatteschluß durch einfache Abstimmung und den Dringlichkeitsanträgen jetzt zwei weitere, freilich bescheidene zusätzliche Sicherungen ein: die Unterstützung der Unteranträge durch 20 (später 50) Abgeordnete (§ 29) und die geschlossene Rednerliste (§ 36). Aber durch andere Bestimmungen wurde die Bewegungsfreiheit des Plenums noch vergrößert. Die sog. „selbständigen Anträge" blieben frei; den Abteilungen wurde, im Gegensatz zur Mohlschen Konzeption, jetzt so gut wie ausschließlich die Wahl der Ausschüsse und dazu noch die Vorberatung der Anträge überlassen, natürlich auf Kosten der Ausschüsse. Auch die Legitimationsprüfung, für die Mohl einen besonderen Ausschuß vorgesehen hatte, wurde Sache der Abteilungen und in letzter Instanz wiederum des Plenums. Eine solche Geschäftsordnung setzt, um funktionsfähig zu sein, ein bereits diszipliniertes und strukturiertes Plenum voraus; sie ist außerstande, dieses Werk der Disziplinierung von sich aus zu vollbringen.

III.

Rationalisierung der Plenarverhandlung

Sofort zeigte sich in der Tat, daß diese Geschäftsordnung dem elementaren, die Versammlung erschütternden Rede- und Antragsfieber, das auch die persönliche Autorität Heinrich v. Gagerns mit den wenigen, ihm zu Gebote stehenden Mitteln nur mühsam dominierte, nicht gewachsen war. 5 8 Erschrocken klagten die einsichtigen Abgeordneten über die Gründ56

T e x t in St. Ber., I, S. 1 6 3 ff.; v g l . K . Schauer, a. a. O., S. 1 8 — 2 1 .

57

V g l . H . Laube, Das

G . Cohen, Die Verfassung

erste

deutsche

Parlament,

und GO des englischen

B d . I, Leipzig 1 8 4 g , S. 2 2 0 f . ;

Parlaments,

H a m b u r g 1 8 6 1 , schrieb

sein Buch, um dem Vordringen der französischen Geschäftsmethoden in Deutschland entgegenzuwirken. Angermanns A u f f a s s u n g (a.a.O.,

S. 62), daß Mohls Entwurf

mit

nur wenigen Änderungen angenommen w u r d e , entspricht nicht den Tatsachen. 58

D e r zügige Verlauf der Debatten und besonders der Abstimmungen hing nicht

zuletzt von den Fähigkeiten

des Präsidenten ab. Nach allgemeiner Meinung

war

v. Gagern nicht unparteilich und leidenschaftslos in der Führung der Geschäfte. V g l .

198

Gilbert

Ziebura

lichkeit und Umständlichkeit der Debatten, über den völligen Mangel an Disziplin und Konzentration und überhaupt an Einsicht in die Erfordernisse parlamentarischer Taktik, wenn sie etwa feststellen mußten, daß sich bei der Beratung über die Errichtung der provisorischen Zentralgewalt 189 Abgeordnete in die Rednerliste eingetragen hatten.59 Die Anträge, oft 30 bis 40 in einer Sitzung, konnten vom Präsidenten bald nicht mehr vorgelesen werden; „alles", schrieb der Abgeordnete v. Raumer, „vom Größten und Wichtigsten bis zum Kleinsten und Unbedeutendsten, wird zur Sprache gebracht."60 Tausende von Petitionen gingen ein; es schien, als öffneten sich nun alle Schleusen, um den angestauten Hoffnungen und Erwartungen freien Lauf zu lassen. Die Abgeordneten komplizierten die Lage, weil ihr Verantwortungsbewußtsein und ihre Bekenntnisfreude sie dazu verleitete, ihrer persönlichen Meinung ein allzu großes Gewicht zu geben und weil sie in ihrem Hang zum Perfektionismus61 nicht merkten, daß das Bessere oft der Feind des Guten ist. Die zähflüssige, nicht endenwollende Debatte über die Grundrechte trieb manchen Abgeordneten zur Verzweiflung, 62 provozierte aber auch eine erste Welle erfrischender Selbstkritik. 63 Vor allem weckte sie nun die Erkenntnis von der absoluten Notwendigkeit der Fraktionen als Instrument zur Rationalisierung des parlamentarischen Verfahrens, eine Erkenntnis, die Rümelin in die bemerkenswerten Worte kleidete: „So lange der deutsche Grundtrieb, die Individualität, sich in solcher Weise geltend macht, so lange jeder Abgeordnete meint, er müsse bei jeder wichtigen Sache sprechen, damit seine Wähler, Freunde und Verwandten seinen III, S. 2290 f.). Dagegen war Simson ein idealer

die Kritik des Abg. Grävell (St. Ber.,

Präsident; scharfsinnig und gewandt beherrschte er sicher das Geschehen im Plenum. Vgl. R. v. Mohl, Lebenserinnerungen, deutsche

Parlament,

innerungen Paulskirche, 59

α. α. Ο.,

II, S. 6 2 — 6 4 ; H . Laube, Das

erste

Bd. III, Leipzig 1 8 4 9 1 , 1909 2 , S. 1 9 0 — 1 9 3 ; K. Biedermann,

aus der Paulskirche,

Leipzig 1849, S. 2 7 8 — 2 8 1 ; Heller, Brustbilder

aus

Erder

Leipzig 1849, S. 2 2 — 2 4 .

Vgl. V .

Valentin, Die

S. 6 7 — 7 2 ; ders., Geschichte

erste der

deutsche

deutschen

Nationalversammlung,

Revolution

von

München

1848—49,

1919,

Bd. II, Berlin

1 9 3 1 , S. 1 7 , 2 3 f.; K . Schauer, a. a. O., S. 24 ff. 60

F. v. Raumer, Briefe

aus Frankfurt

und Paris

1848—49,

Leipzig 1949, Bd. I,

S. 67, 168. 61

Vgl. etwa Moritz Mohl, St. Ber.,

II, S. 1 0 3 6 ; G. Rümelin, Aus der

Paulskirche,

hrsg. v. H . R . Schäfer, Stuttgart 1892, S. 1 . 62

Cramers an Bartels (Brief vom 1 3 . Juli 1848), Bundesarchiv (zit. BAF)

Frank-

furt Z S g 2/32. 63

Vgl. etwa Mevissen, in Joseph Hansen, Gustav

Lebensbild

%8ΐζ—i8gg,

v. Mevissen.

Berlin 1909, Bd. II, S. 399, 435 u. f.

Ein

rheinisches

Anfänge

des deutschen

199

Parlamentarismus

Namen in den Protokollen und Zeitungen lesen, so lange nicht die in einer großen Versammlung unumgängliche Sitte herrscht, daß die Hauptfragen in den Klubs durchgesprochen und die Ansichten jeder Partei nur durch einen oder zwei Redner vertreten werden,... so lange wird auch kein gedeihlicher, der Ungeduld des Volkes und den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechender Gang der Verhandlungen möglich sein."64 Es war natürlich kein Zufall, wenn der erste Vorstoß mit dem Ziel, die Stellung der Fraktionen zu legalisieren, von der Linken ausging. Bereits in den Sitzungen vom 19., 20. und 22. Juni 65 während der Debatte über die Errichtung der Zentralgewalt beantragte der Abgeordnete Rüge, daß die zahllosen Amendements in den Fraktionen vorberaten, dabei reduziert und schließlich — als deren offizielle Meinung deklariert — erneut eingebracht werden sollten. Rüge verfolgte damit nicht nur das Ziel einer Vereinfachung der Debatten, sondern wollte die „unorganisierten" Abgeordneten zwingen, sich einem der sich nun bildenden „Klubs" anzuschließen. Er ging sogar so weit, die Zahl der möglichen Meinungen auf vier zu begrenzen, entsprechend den großen Tendenzen: äußerste Linke, Linke (Blum-Trützschler), linke Mitte (Schoder etc.) und Mehrheit des Verfassungsausschusses. Die von diesen Gruppen bezeichneten (drei oder sechs) Redner sollten den Vorzug haben. Diese Vorschläge wurden immerhin einer Diskussion für wert befunden. Der Abgeordnete v. Lichnowsky von der rechten Mitte begrüßte den Antrag Ruges, weil er dazu beitragen würde, daß „die Parteien sich mehr zeigen, besser festsetzen und nicht in zehnerlei Fraktionen auseinandergehen, und bei jeder Frage in verschiedenen Schattierungen spielen". Aber er stand mit dieser Auffassung doch noch recht isoliert da. Man einigte sich in einer überaus konfusen Debatte zwar, daß sieben (!) Hauptrichtungen je zwei Redner bezeichnen sollten; zu einer dominierenden Aktion der sich gerade erst bildenden Fraktionen war es jedoch noch zu früh. Es wurde sogar ein ausdrücklicher Protest gegen die Bildung von „Parteien" angemeldet.66 Dennoch bereiteten solche Debatten67 die Geister darauf 84

G. Rümelin, a.a.O.,

S. 26. Vgl. im gleichen Sinne Vogt, St. Ber.,

II, S. 1 0 3 7 ;

H . v. Gagern, ebd., I, S. 1 2 2 ; R . B l u m , ebd., I, S. 468; V.Valentin, Die erste Nationalversammlung,

deutsche

a. a. O., S. 27.

65

St. Ber., I, S. 385, 396 f. 466—470; vgl. H . Laube, α. α. Ο., I, S. 244.

60

St. Ber., I, S. 473.

67

Ein in der Sitzung vom 18. Juli 1 8 4 8 von dem Abgeordneten Münch eingebradi-

ter Antrag, die Wahl der Redner grundsätzlich durch die Fraktionen vornehmen zu lassen {ebd.,

II, S. 98g, 993), kam nicht zur Abstimmung, da er nicht die vorgeschrie-

200

Gilbert

Ziebura

vor, bald das als selbstverständlich zu akzeptieren, was sie jetzt noch zu verbrennen bereit waren. Auch alle anderen nun einsetzenden Reformversuche scheiterten zunächst daran, daß man sich nicht durchringen konnte, den Schwerpunkt der Arbeit vom Plenum in die Ausschüsse zu verlagern. 68 Den ersten Sieg auf dem Wege zur Selbstüberwindung und Selbstdisziplin errang die Versammlung am 18. Juli, als sie auf Empfehlung des Geschäftsordnungsausschusses einen Antrag (Ruhwandl) annahm, der die Zulässigkeit selbständiger Anträge davon abhängig machte, daß sie vor der Ubergabe von mindestens 1 0 Abgeordneten mitunterzeichnet wurden. 69 Dem Gegenargument Stedmanns, daß die Freiheit der Antragsteller nicht eingeschränkt werden dürfe und daß es dem „parlamentarischen T a k t " der Versammlung gelingen würde, die Flut der Anträge einzudämmen, schenkte man bereits keinen Glauben mehr. So gelang es, wenigstens die Anträge krasser Einzelgänger auszuschalten. Aber ein Antrag Bassermanns, der den offensichtlichen Mißbrauch der sehr zeitraubenden namentlichen Abstimmung verhindern wollte (allerdings nicht ohne handfeste taktische Hintergedanken!), mußte am gemeinsamen Widerstand sowohl der minoritären Linken, die auf dieses beliebte Mittel des Drucks (über den Appell an die öffentliche Meinung) und oftmals der Obstruktion nicht verzichten wollte, wie auch der ultramontanen Rechten (Lassaulx) scheitern.70 Die bedeutend weitergehenden Anträge der Abgeordneten Lette und Biedermann, 71 die darauf abzielten, die Grundrechtsdebatte durch ein streng reglementiertes Einbringen der Verbesserungsanträge zu beschleunigen, setzten sich ebensowenig durch wie der besonders radikale Antrag Schoders, 72 der tatsächlich dazu geführt hätte, bene Zahl von 50 Unterschriften aufwies. Ebensowenig Glück hatte Vogt (Gießen) mit seinem Vorschlag (ebd., II, 1 0 3 7 ) , Anträge sollten erst dann eingebracht werden, nachdem sie in den Fraktionen genügend Unterstützung gefunden hätten. A m weitesten ging ein Antrag Eisenmanns (ebd., Grundreditsentwurf

III, S. 1 6 2 6 f.), wonach im Plenum über einen

debattiert werden sollte, über den sich die Fraktionen vorher

bereits geeinigt haben. In seinem Bericht monierte der Verfassungs-Ausschuß, daß „private Vereinigungen" sich nicht an die Stelle des Plenums setzen dürften! 68

K. Schauer, a. a. O., S. 34.

69

St. Ber., II, S. 987 fr.; K. Schauer, a. a. O., S. 37 f.

70

Vgl. dazu v. Raumer, α. α. Ο., I, S. 2 1 3 .

71

St. Ber., II, S. 1 0 3 5 — 1 0 3 8 ; vgl. K . Schauer, a. a. O., S. 3 8 — 4 3 .

72

St. Ber.,

II, S. 1 2 6 1 ff., 1 2 7 1 . Schoder wollte, daß Mehrheits- und Minderheits-

anträge ohne Diskussion zur Abstimmung gebracht würden.

Anfänge

des deutschen

Parlamentarismus

201

wie v. Raumer spöttisch kommentierte, 73 die Abgeordneten in „Pythagoräer" zu verwandeln, „das heißt, ihnen unbedingtes Schweigen aufzuerlegen und die Redefreiheit lediglich in die Ausschüsse zu verlegen". Die Mehrheit der Versammlung ließ sich auf solche „Extremisten" nicht ein. Die Situation änderte sich schlagartig nach der ersten Ernüchterung, die durch den Abschluß des Malmöer Friedens eintrat. Die Mehrheit zog sofort die richtige Schlußfolgerung, wenn sie sich nun mit aller Macht bemühte, das Verfassungswerk möglichst schnell unter Dach und Fach zu bringen. Der entscheidende Umschwung fand bereits in der Sitzung vom I i . September statt. 74 Der Abgeordnete des rechten Zentrums, Bassermann, eröffnete den Angriff mit einem Antrag, der darauf abzielte, daß vor Beginn der Beratung eines jeden Artikels der Grundrechte das Plenum entscheiden sollte, ob eine Aussprache stattzufinden hätte; fiel die Entscheidung negativ aus, sollten das Mehrheits- und gegebenenfalls die Minderheitsgutachten des Verfassungsausschusses (und die korrespondierenden Anträge anderer Ausschüsse) sofort zur Abstimmung gebracht werden. In einem zweiten Antrag wurde der Verfassungsausschuß „zur beschleunigten Vorlage des noch rückständigen Teils der Verfassung" aufgefordert. Ohne Schwierigkeiten wurde die Dringlichkeit des Antrags anerkannt. Die nun einsetzende leidenschaftliche Debatte enthüllte die grundsätzliche politische Strategie, die die Mehrheit mit diesem Antrag zu inaugurieren beabsichtigte. Dem gemäßigten Liberalismus lag die Schaffung der Einheit schon immer mehr am Herzen als die Formulierung der Freiheitsrechte. Jetzt schien es, wie Bassermann auch ohne Umschweife erklärte, allerhöchste Zeit, die Debatte über die Grundrechte zu beenden, da es um so schwieriger sein wird, das Definitivum der Verfassung zustande zu bringen, je länger es auf sich warten läßt. Die Abgeordneten Vogt (Gießen) und Schoder (Stuttgart) kamen der Wahrheit ziemlich nahe, wenn sie der Mehrheit unterstellten, daß sie die Minderheit entmachten wollte und daß es ihr um die möglichst schnelle Errichtung einer definitiven Regierungsgewalt (mit dem Akzent auf „Gewalt") vor der Verkündung der Grundrechte ging. Das verfahrenstechnische Mittel zur Erreichung dieses Zieles aber war die Entmachtung des Plenums zugunsten des Verfassungsausschusses, in dem das gemäßigte Zentrum ebenfalls über eine sichere Mehrheit verfügte. Die Linke brauchte 73

v. Raumer, α. α. Ο., II, S. 455 ff.; v. Lidinowsky, St. Ber., III, S. 1630.

74

Ebd., III, S. 1968—1985.

202

Gilbert

Ziebura

dagegen das Plenum für die Durchsetzung oder zumindest Propagierung ihrer Ansichten, und sie hatte schließlich das größte Interesse daran, daß die Grundrechte nicht nur beschlossen, sondern auch verkündet wurden. In diesem Sinne formulierte der Abgeordnete Schoder seinen Antrag, während vier weitere Abgeordnete der Linken (Fetzer, Vogt, Tafel, Wigard) dem Bassermannschen Antrag die Spitze durch ein Amendement abzubrechen suchten, nach dem auch die unterstützten Zusatzanträge aus dem Plenum zur Abstimmung gebracht werden sollten. Als auch v. Vincke im Namen der Rechten erklärte, daß der Bassermannsche Antrag zum „Geschäftsterrorismus der Versammlung" führen würde, weil der Verfassungs-Ausschuß unbeschränkte Vollmachten zur Fertigstellung der Verfassung unter Ausschaltung des Plenums erhalten würde, war dessen Schicksal besiegelt. Dafür wurde ein Vermittlungsantrag des Abgeordneten Schneer angenommen, der die Eröffnung einer Debatte über die Grundrechtsartikel davon abhängig machte, daß sie von mindestens 100 Abgeordneten gefordert wird; ist diese Bedingung jedoch nicht erfüllt, sollen neben dem Mehrheits- und den Minderheitsgutachten des Verfassungsausschusses auch solche Zusatzanträge zur Abstimmung gebracht werden, die die Unterstützung von 20 Abgeordneten finden. Trotz dieser erheblichen Abschwächung der Bassermannschen Intentionen bedeutete auch die Annahme des Schneerschen Antrags eine „grundsätzliche Abwendung von der breiten Plenardebatte" 75 und damit von jener individualistischen Konzeption parlamentarischer Arbeit, wie sie dem Altliberalismus so teuer war. Der Machtverlust des Plenums mußte nun automatisch zu einer Machtsteigerung der Ausschüsse führen, und der Zwang, für jeden Antrag 20 Unterschriften aufzubringen, mußte die Stellung der Fraktionen begünstigen. Und tatsächlich war der Herbst 1848 die große Zeit der Fraktionen, die nun, entgegen den Absichten Mohls, die Einrichtung der Abteilungen überflüssig machten,76 ja langsam, aber unwiderruflich sogar die Ausschüsse in den Schatten stellten und die Gestaltung des Geschäftsverfahrens energisch in die Hände nahmen.77 Damit war der Umschwung von der Honoratioren-Versammlung 75

Treffend bei K . Schauer, a. a. O., S. 46 f. Vgl. Die Gegenwart, Bd. V , 1850, S. 184. Der Mißerfolg der Abteilungen ist von Mohl später zugegeben worden. Lebenserinnerungen, I I , S. 65. 77 Ebd., S. 66. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß die Geschichte des Entscheidungsprozesses in der Paulskirche eine Geschichte ihrer Fraktionen ist. Vgl. L. Bergsträssers Vorwort zu Das Frankfurter Parlament in Briefen, a.a.O., S. 1 1 ; vgl. auch H . Laube, α. α. Ο., I, S. 242. 76

Anfänge

des deutschen

203

Parlamentarismus

zum modernen Parlament französischen Typs vollzogen. Und obwohl manches Mal, wie Anfang 1849 anläßlich der österreichischen Frage, ein Rückfall in die alte Form der entfesselten Plenardebatte vorkam, 78 war die Herrschaft der Fraktionen nicht wieder rückgängig zu machen. IV.

Entstehung, Organisation und Taktik der Fraktionen

Die Erkenntnis von der Unerläßlichkeit der Fraktionen ging bei einigen einflußreichen und weitschauenden Abgeordneten Hand in Hand mit einer erstaunlich präzisen Vorstellung von der Funktion dieser Gebilde, wenn Droysen bereits Ende Mai 1848 im Hinblick auf einen von Mevissen geplanten Zusammenschluß der gemäßigten Konstitutionellen schrieb: „Man vereinigt sich, im engeren Kreise die gemeinsame Tätigkeit zu verabreden, zu organisieren, durch konzentrische Bemühung möglichst wirksam zu machen. Drei Mitglieder des Vereins (etwa Gagern, Mevissen und noch ein dritter) sind mit der Leitung, Vorbereitung, Berufung usw. betraut. Sie haben insonderheit für die Kontinuität der gemeinsamen Operationen, für die stete Gelegenheit zu der anregenden und sich gegenseitig regulierenden Wechselwirkung der Genossen des Vereins zu sorgen. Die Zwecke des Vereins fordern folgende wesentliche Richtungen: 1) Die Presse angehend, bestimmen die Leiter die jedesmal zu besprechenden Fragen, veranlassen die betreffenden Mitglieder zu schreiben, sorgen für Blätter unserer Tendenz usw. 2) Die parlamentarische Taktik angehend, veranlassen sie bei jeder irgend wichtigen Verhandlung Zusammenkunft, Meinungsaustausch, Verständigung, gemeinsames Operieren. 3) Die parlamentarische Strategie betreifend, bilden sie das Hauptquartier, in dem alle Projekte niedergelegt und vorberaten werden. Besonders sorgen sie, daß die Vereinten nicht durch den Zufall oder die Operation des Gegners allein sich ihre Bestrebungen diktieren lassen, sondern positiv und selbständig vorbedenkend nach dem sicheren Ziele zustreben."79 Allerdings bestand gerade bei den gemäßigten Konstitu78

Vgl. Das Frankfurter

Parlament

in Briefen,

a. a. O., S. 7 6 ; Jürgens, a. a. O., I I / i ,

S. 250. 79

J.Hansen, α. α. Ο., I, S. 5 6 1 f.; II, S. 3 7 9 f f . ; L. Bergsträsser, Parteien

in Preußische

Jahrbücher,

von

1848,

Bd. 177, 1919, S. 196. Mevissen beabsichtigte, mit v. Becke-

rath ein "Comite directeur" aus 20 bis 30 Personen zu bilden. Die erste vorbereitende Zusammenkunft bei Jürgens, auf der die Organisation der Fraktion und des Comite directeur besprochen wurde, fand bereits am 22. Mai statt. Vgl. Aktenstücke zeichnungen

zur Geschichte

von ]. G. Droysen,

der Frankfurter

Nationalversammlung

aus dem

hrsg. v. Rudolf Hübner, Berlin u. Leipzig 1924, S. 8 1 2 .

und

Auf-

Nachlaß

Gilbert

204

Ziebura

tionellen die geringste Chance auf Verwirklichung dieser anspruchsvollen Konzeption, da bei ihnen über die Form der anzustrebenden Verfassung die größte Verwirrung herrschte und damit eine gemeinsame programmatische Plattform fehlte. Wenn Droysen aus dieser Not eine Tugend zu machen versuchte, indem er kurzerhand alle die künftige Verfassung betreifenden Fragen aus dem Fraktionsprogramm ausschaltete und nur an die großen Prinzipien („Freiheit, Einheit und Macht Deutschlands") und an die allgemeine Frontstellung gegen Republikaner („Anarchisten") einerseits und äußerste Rechte („Pessimisten") andererseits appellierte, so war auch mit diesem Kunststück zunächst nicht weiterzukommen. Alle Bemühungen, selbst wenn sie von so erfahrenen, zielstrebigen und organisatorisch begabten Abgeordneten wie Mevissen, Jürgens, 80 Bassermann, Mittermaier oder Biedermann ausgingen, endeten in der vollkommensten Konfusion. 81 Denn bei diesen Zusammenkünften fanden sich aus oft rein zufälligen Motiven die ungleichartigsten, ja in der Regel politisch noch gar nicht festgelegten Abgeordneten ein, die sie sofort wieder auseinandersprengten, was dazu führte, daß die Masse dieser Mittelgruppe zunächst in einem „schwankenden, halbflüssigen Zustande" verblieb. 82 Dieser ersten Phase so hilflos und skurril anmutender Versuche setzte die Debatte über die Bildung der provisorischen Zentralgewalt definitiv ein Ende. 83 Im Lichte der dabei auftauchenden grundsätzlichen Probleme schieden sich die Geister; ein jeder war gezwungen, Position zu beziehen. Naturgemäß formierten sich zuerst die Minoritäten. Sie hatten schon während der Debatte über den Raveaux'schen Antrag begriffen, daß strikte Zusammenfassung und rationaler Einsatz der Kräfte schlechterdings lebensnotwendig waren; in ihnen steckte, wie Haym nicht ohne Neid feststellen mußte, eine „adstringirende Kraft". Außerhalb der Organisation gab es für sie kein Heil, wenn sie von der alten Regel profitieren wollten, daß der Angriff die beste Verteidigung ist. Hinzu kamen 80

Vgl. das Zeugnis eines Gegners W. Zimmermann, a. a. O., S. 596.

81

R. Haym, α. α. Ο., I, S. 42.

82

W. Zimmermann, a.a.O.,

S. 359 fr.; ders., Erinnerungen,

S. 5 8 5 f . ; K . Biedermann, Mein a.a.O.,

Leben,

a.a.O.,

I,

S. 3 — 1 0 . Zu dem Durcheinander der verschie-

denartigsten Meinungen im Weidenbusch bemerkte Biedermann sarkastisch, daß dagegen „das Reden mit fremden Zungen am Pfingstfest ein wahrer Spaß gewesen sein muß". Ebd., S. 10. 83

R. Haym, α. α. Ο., I, S. 38 f.; ders., Ausgewählter

Briefwechsel,

berg, Berlin 1930, S. 42; H. Laube, α. α. Ο., I, S. 222, 247.

hrsg. v. H. Rosen-

Anfänge

des deutschen

205

Parlamentarismus

zwei in dieser Lage unschätzbare Vorteile: das Vorhandensein eines relativ homogenen Programms sowie ausgeprägter und unumstrittener Führerpersönlichkeiten. So organisierte Robert Blum, von einer Gruppe ihm blind ergebener sächsischer Abgeordneter wirksam unterstützt, die republikanisch-demokratische Linke im Deutschen Hof.81 Die Fraktion praktizierte im Plenum bald eine fast makellose Disziplin und wirkte mit Hilfe eines eigenen Kampforgans (zuerst „Reichstagsblatt", dann „Reichstagszeitung") sogar publizistisch nach außen.85 Aber wie so oft ging der Prozeß der inneren Konsolidierung der Fraktion nicht ohne das Opfer einer Spaltung ab: Elemente um Zitz, Rüge, v. Trützschler, Vogt (Gießen), denen Blum nicht weit genug ging und die dessen wachsende Autorität mit Eifersucht erfüllte, bildeten bereits Ende Mai auf der äußersten Linken den Donnersberg und gelobten, bei der Wahrung der Fraktionsdisziplin noch mehr Selbstverleugnung und Unterordnung an den Tag zu legen; tatsächlich galt als Mitglied nur derjenige, der das Fraktionsstatut unterzeichnet hatte. 86 Auf der äußersten Rechten errichtete der energische, von Anfang an eine klare Konzeption und Taktik vertretende General v. Radowitz im konservativ-katholischen Steinernen Haus ein regelrechtes autoritäres Regiment.87 Sobald im Plenum eine wichtige Abstimmung stattfand, berichtet ein zeitgenössischer Beobachter, „blickt er um sich und kommandiert wie ein Feldherr die Scharen ringsum mit ,Sitzenbleiben!' oder ,Aufstehen!' Sie folgen aufs Wort." 8 8 Später, 84

T r o t z wichtiger Vorarbeiten L . Bergsträssers gibt es keine befriedigende, das

reiche im F r a n k f u r t e r Bundesarchiv vorhandene Nachlaß-Material benutzende Arbeit über die Fraktionen der Paulskirche. I m Gegensatz zur A u f f a s s u n g Bergsträssers (Das Frankfurter

Parlament

in Briefen,

a, a. O., S. 1 3 ) gibt es dort Bruchstücke von F r a k -

tionsprotokollen. Z u r Bildung des Deutschen H o f s vgl. ζ. B . W. Appens, Die versammlung

zu Frankfurt

Ο. E. Sutter, Die Linke 85

a. M. 1848/49,

in der Paulskirche,

V g l . V . Valentin, Frankfurt

National-

J e n a 1 9 2 0 , S. 3 5 ; unergiebig und f e h l e r h a f t F r a n k f u r t / M . 1 9 2 4 , S. 14 ff.

am Main und die Revolution

von 1848/49,

Stuttgart

u. Berlin 1 9 0 8 , S. 2 5 3 — 2 5 7 . Dieses Blatt soll 1 8 4 9 eine tägliche A u f l a g e von 1 6 0 0 Stück gehabt haben. V g l . H . K r a u s e , Die demokratische Frage, 88

Partei

von

1848

und

die

W. Zimmermann, a, a. O., S. 6 4 1 — 6 4 5 . Dieser A u t o r , der selbst zum Donners-

berg gehörte, datiert die Spaltung auf den 27. Mai 1848. V g l . W. Wichmann, würdigkeiten 87

aus der Paulskirche,

Denk-

H a n n o v e r 1 8 8 8 , S. 1 2 3 .

Erstes Zeugnis in einem Brief an seine F r a u v o m 25. M a i 1 8 4 8 , in J . v. R a d o -

witz, Nachgelassene

Briefe

und Aufzeichnungen

hrsg. v. W. Möring, Dt. Geschichtsquellen

zur Geschichte

des 1 9 . Jhdt.,

der Jahre

1848—1853,

Bd. 2, Stuttgart-Berlin 1 9 2 2 ,

S. 52. 88

soziale

F r a n k f u r t / M . 1 9 2 9 , S. 98, A n m . 1 .

A . Meissner in „Kölnische

Zeitung",

zit. Die Gegenwart,

I V , 1 8 5 0 , S. 235.

206

Gilbert

Ziebura

während der Septemberereignisse, trat an die Stelle des Steinernen Hauses das Cafe Milani unter der nicht minder autoritären Führung v. Vinkkes, der sein Verbleiben in der Nationalversammlung sogar davon abhängig gemacht hatte, daß ihm eine Gruppe von Gesinnungsgenossen „unbedingt Heeresfolge" leistete.89 Sie spurte so gut, daß die Fraktion „in den meisten Fällen nichts weiter als eine vierzigmal vervielfältigte Stimme" ihres Führers war. „Er soll", fährt der bissige Verfasser der „Brustbilder" fort, „kurz mit den Getreuen zu Werke gehen und es als Vorsitzender an Zurechtweisungen, gebieterischen Bemerkungen und das Wort abschneidenden Zwischengriffen nicht fehlen lassen. Die Mannszucht, die von der Partei Vincke gehalten wird, ist auch in der Tat die strengste — keine Stimme, die hinüber- und herüberschwankt — kein mit einer anderen Partei liebäugelnder Blick — jede Bewegung der Dreißig bis Vierzig wie eines Mannes." 90 Es entsprach einer gewissen politisch-psychologischen Logik, wenn sich als nächste Fraktion ein linkes Zentrum bildete. Ein erster Versuch scheiterte, weil er zu früh stattfand: da man sich über die Natur der anderen Parteien nicht einigen konnte, vermochte man auch nicht die eigene Position zu definieren.91 Aber das Bedürfnis nach einer „Scharnierfraktion", einer „Ubergangspartei" zwischen der manchem allzu intransigent und übermäßig diszipliniert dünkenden Linken und der amorphen Masse der gemäßigten Konstitutionellen war so unwiderstehlich, daß der zweite Versuch, von Raveaux und anderen (Schott, Zell, Wurm, Schoder, Vischer, Lette usw.) energisch vorangetrieben, zur Bildung des Württemberger Hofes führte.92 Zu einem derartigen Typ von Fraktion gehört es aber, daß sie schnell zur Hochburg der Unentschlossenen, Schwankenden und allerhand widerspruchsvoller Elemente zu werden pflegt. So sammelten sich auch hier Gesinnungsrepublikaner und Vernunftsmonarchisten, eben alles, was sich von der Rechten wie der Linken abgestoßen fühlte, „jene unsterblichen Parlamentarier", wie V. Valentin treffend schreibt, „die aus der Not des Gewissens die Tugend der Taktik zu machen verstehen". Diesen Mangel an innerer Kohäsion versuchte man 89

Ambrosch in Das Frankfurter

90

Heller, a. a. O., S. 91, 1 0 7 ; W. Appens, a. a. O., S. 39.

91

Am 6. Juni 1848 im Weidenbusch. Vgl. Nachlaß Theodor Paur, Tagebuch

der Paulskirche, 92

Parlament

in Briefen,

a. a. O., S. 29 f.; 35. aus

BAF ZSg 1/149.

Vgl. H . Laube, α. α. Ο., I, S. 2 4 1 ; zum folgenden R. Haym, α. α. Ο., I, S. 1 5 1 f.;

V . Valentin, Gesch.

d. deutschen

Rev.,

α. α. Ο., II, S. 23.

Anfänge

des deutschen

Parlamentarismus

207

durch besonders intensive parlamentarische Aktivität zu kompensieren.93 Obwohl sich ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl bildete,94 widerstand das Konglomerat nicht der Einführung der Fraktionsdisziplin: Anfang August, einen Monat nach der Gründung der Fraktion, schied der linke Flügel um Venedey, Raveaux, die beiden Simon, Schoder und Reh aus.95 Da die Gruppe sich nicht entschließen konnte, dem Deutschen Hof beizutreten, weil er ihrer Meinung nach zu viel „unreines Wasser" enthielt (d. h. Personen, die der eigenen „moralischen Überzeugung" nicht entsprachen) und sich im Plenum „nicht würdig und anständig genug" verhielt, gründete sie kurzentschlossen eine neue Fraktion, die Westendhall. Hier legte man besonderen Wert auf charakterliche Integrität gemischt mit politischer Zuverlässigkeit; gegen H. Simon vertraten Venedey und Paur in dieser Hinsicht einen streng puristischen Standpunkt, auch wenn die zahlenmäßige Stärke der Fraktion darunter leiden sollte. Dennoch war die Flügelbildung nicht auszuschalten. „Seitensprüngen", besonders bei Abstimmungen über Grundrechtsartikel, stand man nachsichtig gegenüber, was eine relative Unabhängigkeit der persönlichen Meinung ermöglichte. Aber hier lag auch der Todeskeim: als man sich Ende 1848 außerstande sah, die Frage des Beitritts zum Märzverein zur Parteifrage zu erheben, zerfiel die Fraktion. 96 Der Rest des Württemberger Hofes löste sich auf, nachdem nun auch der rechte, „staatsmännischgouvernementale Flügel" um R. v. Mohl, Biedermann, Riesser, Wernher v. Nierstein, Widenmann, Rümelin nach dem Malmöer Waffenstillstand eine eigene Fraktion gegründet hatte, den Augsburger Hof. Angesichts ihrer bescheidenen Mitgliederzahl gewann diese Fraktion der „künftigen Reichsminister und Beamten" 97 bald eine unverhältnismäßige Bedeutung in der Nationalversammlung. Zusammengesetzt aus hochqualifizierten, auf sachliche Arbeit bedachten Persönlichkeiten, die so gut wie alle deutschen Länder vertraten, bedurfte es nicht einmal bindender Fraktions93

Gerade aus dem Württemberger Hof stammten viele Vorschläge (Schoder) zur

Rationalisierung der Plenardebatte. 94

(BAF

Vgl. das Zeugnis von Schott in einem Brief an seine Frau vom 25. Juni 1 8 4 8 ZSg

1 / 1 2 ) : „Die Zeit, die ich in dieser Gesellschaft zubringe, ist mir die liebste.

Hier werden die gediegensten Verhandlungen gepflogen, und in dieser Partei ist gewiß der Quantität nach mehr Vaterlandsliebe konzentriert, als in allen anderen zusammen." 95

Vgl. zum folgenden Nachlaß Schott (ebd.),

aber Nachlaß 96

L. Bergsträsser in Das Frankfurter

Jürgens, a. a. O., I I / i , S. 270 f. 97

Briefe vom 29. Juli u. 5. Aug.; bes.

Paur (a. a. O.), Tagebucheintragungen vom 3. u. 4. Aug. 1848.

Hallbauer in ebd., S. 18g.

Parlament

in Briefen,

a.a.O.,

S. 1 5 4 , 3 2 4 ;

Gilbert

208

Ziebura

beschlüsse, um zu einer schnellen und sicheren Willensbildung zu kommen trotz großen Respekts vor der Unabhängigkeit der persönlichen Meinung.98 Keine Fraktion hat so begeisterte Zeugnisse veranlaßt wie diese, wenn etwa Arneth schrieb: „Fast täglich brachte ich wenigstens die späteren Stunden des Abends, wenn Frau und Kind zur Ruhe gegangen waren, in dem Kreise dieser Männer in anregender Besprechung der parlamentarischen Angelegenheiten zu. Im Verkehre mit ihnen konnte man seine eigenen Ansichten klären und dabei lernen, sie in maßvoller Form, aber doch auch wieder mit Nachdruck zu vertreten. Denn niemand kam es in den Sinn, das, wofür er selbst gestimmt war, Anderen als Richtschnur auferlegen zu wollen. Jede, auch die schüchternste Stimme wurde wohlwollend angehört und nach ihrem inneren Werte bemessen, so daß auch Ängstliche und minder Redegewandte sich bald heimisch fühlten in dem Club und immer mehr ihre frühere Scheu ablegten, ihren Meinungen offen Ausdruck zu geben."99 Die Herausbildung dieses Systems von Fraktionen sowie die schweren Rückschläge, die die gemäßigten Konstitutionellen während der Debatte über die provisorische Zentralgewalt wegen des Fehlens einer koordinierten Konzeption und Taktik einstecken mußten, bewogen sie, sich im Kasino nun auch eine freilich recht lockere Organisation zu geben. Aber es dauerte eine Weile, bis sie lernten, ihre Machtstellung nicht durch mangelhafte Geschlossenheit nutzlos zu verspielen. Noch bei der Festsetzung der Modalitäten der Wahl des Erzherzogs Johann, die ihrer Meinung nach laut Zusatzantrag „im Vertrauen auf die Zustimmung der Regierungen" stattfinden sollte, konnten sie sich nicht durchsetzen, obwohl dieser Zusatzantrag in einer Vorversammlung fast einstimmig angenommen worden war. Aber was hilft es, wenn der Zusatzantrag zu spät eingebracht wurde und die gemäßigten Konstitutionellen bei der Abstimmung dann auch noch zerfielen! Verzweifelt schrieb Haym seinem 98

K.Biedermann, Mein

Leben,

I, S. 366; H.Laube, a.a.O.,

a.a.O.,

III, S. 1 6 f.

Landsmannschaftliche Zusammensetzung: Österreich 8 (8), Preußen 8 (6), Bayern 10 (11), Sachsen 3 (3), Württemberg 3 (—), Baden 1 (—), Oldenburg 1 (α), Hessen-Darmstadt 2 (2), Kurhessen 1 (1), Mecklenburg 4 (1), Hamburg 3 (3), Bremen 1 (—), Detmold χ (1), Anhalt 1 (—), Schleswig-Holstein 3 (1); Zahlen in Klammern nach G. Eisenmann, Die Parteyen und Mitgliederverzeichnisse,

der teutschen

Reichsversammlung.

Ihre Programme,

Erlangen 1848, S. 32. Vgl. audi Κ. Biedermann,

Statuten Erinne-

rungen, a. a. O., 3 1 9 ff. 99

Alfred Ritter v. Arneth, Aus meinem

ähnlich R. v. Mohl, Lebenserinnerungen,

Leben,

Bd. I, Stuttgart 1893, S. 2 1 6 f f . ;

α. α. Ο., II, S. 70 f.

Anfänge

des deutschen

209

Parlamentarismus

Freund Hansemann am 27. Juni: „Die Partei ist völlig desorganisiert, um nicht zu sagen demoralisiert. Selbst Leute wie Römer, Mathy und Bassermann stimmten heute, der Vereinbarung uneingedenk, mit der Linken für den einfachen Satz (freilich mit Nachbehalt einer Erklärung zu Protokoll!!): ,Die Nationalversammlung wählt den Reichsverweser.' Nur 100 und einige 30 Stimmen blieben treu und stimmten Nein. Das einzige, was wir durchgesetzt haben, ist der Name Reichsverweser statt Präsident." 100 Immerhin stellten diese Kämpfe um die Zentralgewalt für das Kasino einen Klärungsprozeß dar, nicht zuletzt auch in programmatischer Hinsicht. Noch immer konnte man sich nicht die Annahme eines festen, mehr oder weniger abstrakten Prinzips als eines integrierenden Faktors leisten; aber man wußte doch wenigstens, daß es zwischen der ausschließlichen Machtvollkommenheit der Nationalversammlung einerseits und der strikten Vereinbarung mit den Regierungen andererseits „taktvoll und besonnen mitten hindurchzusteuern" galt. 101 Das bedeutete naturgemäß eine pragmatische, sich „nach den Erfordernissen des konkreten Lebens" richtende Taktik, wie sie im kontinentaleuropäischen Bereich stets für derartige Mittelfraktionen charakteristisch blieb. Der Individualismus der zahlreichen ausgeprägten Persönlichkeiten (insbesondere der die Fraktion allzu dominierenden norddeutschen Professoren) erschwerte den Willensbildungsprozeß; in der Tat mußte er täglich neu erkämpft und behauptet werden, ohne allen Belastungsproben standzuhalten. Während der Grundrechtsdebatte gewann die Fraktion zweifellos an „moralischer K r a f t " , und die Notwendigkeit, das Ministerium zu unterstützen, zwang zu einer gewissen Disziplin. Auch die Abspaltung einiger Querköpfe, die sich im Landsberg zusammenschlossen, um ihrer Lust an größerer taktischer Unabhängigkeit besser frönen zu können, stärkte die innere Geschlossenheit des Kasino. 102 Durch einen Vertrag mit der „Oberpostamtszeitung" vom 29. Juni 1848 schuf sich die Fraktion sogar ein eigenes Organ, mit dem sie eine beträchtliche Wirkung auf die öffentliche Meinung auszuüben verstand. 103 100

R. Haym, Ausgewählter

Briefwechsel,

a.a.O.,

S. 49 f.; audi S. 5 1 ; H . Laube,

α. α. Ο., I, S. 2 2 3 f. 101

Vgl. zum folgenden R . Haym, a.a.O.,

ter Briefwechsel,

I, S. 248; K . Biedermann, Erinnerungen, 102

I, S. 45 f., 55 f., 1 5 3 ; ders.,

R. Haym, a.a.O.,

a. a. O., S. 1 7 3 f.

I, S. 1 5 4 f.; Heller, a.a.O.,

S. 309 f. 103

BAF

Ausgewähl-

a. a. O., S. 54; Jürgens, α. α. Ο., I, S. 1 x 5 f.; 1 1 9 ; H. Laube, a. a. O.,

ZSg 2/72; H . Laube, α. α. Ο., I, S. 260.

S. 1 1 4 ; K.Biedermann,

a.a.O.,

210

Gilbert

Ziebura

Unter dem Einfluß der blutigen Ereignisse des 18. September stabilisierte sich das bis dahin noch fluktuierende, doch nun aus acht deutlich gesonderten Fraktionen bestehende System. 104 Vom Spätherbst ab gingen sie sogar dazu über, in regelmäßigen Abständen Mitgliederlisten zu veröffentlichen. 105 Was zu ihrer Bildung und gegenseitigen Abgrenzung geführt hatte, waren weder soziale noch landsmannschaftliche, sondern so gut wie ausschließlich ideologische Differenzen, die sich am schärfsten am Prinzip der Volkssouveränität und, eng damit verbunden, an der Interpretation der Revolution entzündeten. Was die landsmannschaftliche Zusammensetzung der Fraktionen betrifft, lassen sich nur sehr bescheidene Unterschiede feststellen 106 : die Linke (Westendhall, Deutscher Hof, Donnersberg) war etwas stärker gemischt als die Rechte und Mitte (Milani, Kasino, Landsberg), in der die Preußen ein leichtes Übergewicht besaßen, während die (zahlenmäßig insgesamt schwächere) Gruppe der Österreicher nirgends dominierte und im Landsberg und Deutschen Hof nicht vertreten war. Sowohl die nord- und mitteldeutschen Staaten wie insbesondere die Bayern (Milani 7, Kasino 1 1 , Landsberg 3, Württemberger Hof 4, Augsburger Hof 1 1 , Westendhall 6, Deutscher Hof 3, Donnersberg 5) waren erstaunlich gleichmäßig auf alle Fraktionen verteilt; Württemberg, Baden und Sachsen stellten ein etwas größeres Kontingent in den Linksfraktionen. Erst später, als die österreichische Frage in den Mittelpunkt der Debatten rückte und die Fraktionen zu einer Umgruppierung zwang, spielte das landsmannschaftliche Element eine wichtigere Rolle. Bezeichnenderweise herrschte in den Fraktionen eine größere Homogenität bezüglich der sozial-beruflichen Herkunft ihrer Mitglieder, was sogar so weit ging, daß das Fluidum der Fraktionssitzungen stark davon geprägt wurde. 107 Das Cafe Milani, in dem die Aristokraten den Ton angaben, war nicht zufällig der eleganteste 104

G. Rümelin, a. a. O., S. 1 2 0 f. Heller, a. a. O., S. 190, Anm. Die Angaben über die Mitgliederzahl der Fraktionen schwanken, da zu jeder Zeit Aus- oder Obertritte stattfanden. Stand Ende 1848: Steinernes Haus 1 7 (—), Cafe Milani 40 (40), Kasino 1 3 6 (119), Landsberg 44 (40), Augsburger Hof 40 (38), Rest Württemberger Hof 45 (47), Nürnberger Hof (Abspaltung vom Deutschen Hof) 12 (—), Wcstendhall 50 (41), Deutscher Hof 50 (45), Donnersberg 40 (47), fraktionslos — (146). Angaben in Klammern bei Eisenmann, a. a. O., S. 1 3 , 1 8 f., 24, 27, 32, 36, 42, 46 f. 105

106

Nach Eisenmann, a. a. O. Zum folgenden vgl. W. Wichmann, a. a. O., S. 1 3 0 ff. (davon abschreibend K . Biedermann, Erinnerungen, a. a. O., S. 1 6 8 — 1 7 4 und W . Appens, a. a.O., S. 37 f.); Das Frankfurter Parlament in Briefen, a. a. O., S. 1 5 9 f. 107

Anfänge des deutschen Parlamentarismus

211

und vornehmste Raum der Stadt; hier legte man Wert auf die Beobachtung „feingeselliger" Umgangsformen. Essen oder auch nur Rauchen war während der Fraktionssitzungen streng verpönt. Im Kasino war die Zigarre, nicht aber Essen und Trinken zugelassen; die Sitzungen verliefen nach strengem parlamentarischen Ritus. Die Formen lockerten sich um so mehr, je weiter links die Fraktionen standen. Von der Westendhall ab wurde beim Debattieren kräftig geraucht, gegessen und getrunken; wenn das Thermometer stieg, legte man Rock und Halskragen ab. Hier wurde vom Platze aus gesprochen, kurz und bündig, und es ging oft hoch dabei her. Die beiden Linksfraktionen, die den Kontakt zum Volk brauchten und als Mittel der Pression benutzten, verwandelten ein- bis zweimal in der Woche die Fraktionssitzungen in öffentliche Kundgebungen, um ihre Thesen und Stellungnahmen zu propagieren. Bezüglich der internen Organisation der Fraktionen ergibt eine Analyse der Statuten das bemerkenswerte Ergebnis, daß sie überall, wenigstens in der Theorie, so gut wie die gleiche war, was darauf hindeutet, daß man in allen Lagern eine allgemein gültige Konzeption vom Wesen der Fraktion entwickelt hatte. 108 Uberall waren die Mitglieder verpflichtet, beabsichtigte selbständige oder Verbesserungsanträge sowie Interpellationen an die Minister vor deren Einbringung im Plenum einer Beratung in der Fraktion zu unterwerfen: im Cafέ Milani, in der Westendhall und im Deutschen Hof mußte die Mehrheit der Fraktionsmitglieder zustimmen, in den Fraktionen des Zentrums mindestens 20 Mitglieder. Ausnahmen von dieser Regel waren für unvorhergesehene Fälle besonders im Verlauf der Plenardebatte vorgesehen; auch dann war in den Flügelfraktionen auf der Rechten und Linken die Zustimmung des Fraktionsvorstandes einzuholen, eine Bestimmung, die die Fraktionen der Mitte nicht kannten. Wurde eine Frage zur sog. „Parteifrage" erhoben, und zwar entweder mit einer Zweidrittel-Mehrheit der in der FraktionsSitzung Anwesenden (Milani, Kasino, Landsberg, Augsburger Hof, Württemberger Hof) oder mit einfacher Mehrheit (Westendhall, Deutscher Hof), durfte die Minderheit der Fraktion im Plenum nicht gegen die Mehrheit stimmen, hatte aber in den meisten Fraktionen das Recht, sich der Stimme zu enthalten — eine interessante Vorform der Fraktionsdisziplin. Alle Fraktionen bestimmten im voraus ihre Redner fürs Plenum, insbesondere dann, wenn ein Antrag zur Parteisache erklärt worden war. Ebenso besaßen alle Fraktionen einen für vier Wochen gewähl108

14 !

T e x t e bei Eisenmann, a. a. O.; vgl. auch W. Widimann, a. a. O., S. 1 2 3 — 1 2 6 .

212

Gilbert

Ziebura

ten Vorstand, der in der Regel f ü r die Durchführung geordneter Sitzungen verantwortlich war, nur im Deutschen Hof hatte er die ausdrückliche Befugnis, die parlamentarische Taktik im Plenum zu leiten. Außerdem stand einer Reihe von Vorständen (Milani, Kasino, Westendhall) das Recht zu, die Bildung von Spezialausschüssen oder die Ernennung von Berichterstattern vorzuschlagen, sofern die Versammlung nicht die Wahl durch Stimmzettel beschließt. Alle Statuten enthielten Vorschriften über Beurlaubungen, Aufnahme und Ausschluß. Ein Beitrag mußte im Kasino, Landsberg, in der Westendhall und im Deutschen H o f gezahlt werden. Das leider nur bruchstückhaft erhaltene Protokoll der Sitzungen der oppositionellen Westendhall 109 vermittelt doch ein lebendiges Bild vom inneren Leben einer Paulskirchenfraktion. Mit bewunderungswürdiger Gründlichkeit und Hingabe wurden die f ü r die bevorstehende Plenarsitzung der Nationalversammlung vorgesehenen Tagesordnungspunkte sowohl in sachlicher wie in taktischer Hinsicht vorbereitet und Anträge und Interpellationen seitens bestimmter Mitglieder der Fraktion vorbesprochen und schließlich sorgfältig formuliert. Um ihre Schlagkraft zu erhöhen, schuf sich die Fraktion eine A r t Exekutivorgan: in Ergänzung zum Statut wurde beschlossen (Sitzung vom ι o. August), daß drei gewählte Mitglieder „berechtigt seien, in Fällen, wo es nicht möglich ist, mit den Mitgliedern der Gesellschaft zu beraten, nicht nur Anträge zu stellen und zu verteidigen, sondern auch Beschlüsse der Gesellschaft selbst abzuändern". Freilich waren die Mitglieder der Fraktion in solchen Fällen nicht gebunden. Mit der Disziplin hatte man bisweilen seine liebe Not, wie ζ. B. der Fall Raveaux zeigt. Dessen Entschluß, die Ernennung zum Gesandten der Zentralgewalt in der Schweiz anzunehmen, mißbilligte die Fraktion mit dem Argument, daß „im K a m p f gegen das Ministerium eine geschlossene Parteitaktik unumgänglich nötig ist". Damit aber war es unvereinbar, wenn ein Fraktionsmitglied „seinen Namen und seine Talente den Gegnern auch nur in einem einzigen Falle widme. Es macht hiervon die Stellung eines Gesandten keine Ausnahme, denn der Gesandte ist Ausdruck des politischen Systems der von ihm vertretenen Regierung." Raveaux kümmerte sich nicht darum, eine Haltung, die keineswegs zum Ausschluß führte (Sitzung vom 29. August). Bald mußten sogar Maßnahmen beraten werden, um einen besseren Besuch der Fraktionssitzungen zu erreichen (Sitzungen vom 2. und 17. Oktober). Andererseits lehrt das Protokoll, wie o f t die Fraktion als Filter für un109

Für die Sitzungen vom 5. Aug. bis 3 1 . Okt. 1848, BAF

ZSg 2/74.

Anfänge des deutschen

Parlamentarismus

213

besonnene Anträge und als Blitzableiter f ü r emotionale Reaktionen der Abgeordneten diente. 110 Obwohl die Fraktionen vom Spätsommer ab als quasi offizielle Träger des Willensbildungsprozesses anerkannt wurden," 1 sah das Bild in Wirklichkeit doch weniger eindeutig aus. Es kam nicht nur immer wieder vor, daß Abgeordnete ohne Wissen ihrer Fraktionen bisweilen schwerwiegende und folgenreiche Anträge stellten 112 und damit den Gang der Debatten trotz aller fraktionellen Planung und interfraktionellen Absprachen 1 1 3 in Verwirrung brachten. E t w a ein Fünftel der Abgeordneten blieb aus Protest gegenüber jeder Ein- und Unterordnung den Fraktionen fern. Im Gegensatz zu Chateaubriand, f ü r den das parlamentarische Regierungssystem nur unter der Voraussetzung der E x i stenz zweier streng voneinander geschiedener Parteien (Regierungspartei und Opposition) funktionieren konnte und der daher die sog. "opposition de conscience", also die Rechtfertigung politischen Einzelgängertums durch den Rückgriff auf das Gewissen des Abgeordneten, mit ebenso sarkastischen wie treffenden Worten verurteilte, 1 1 4 huldigte diese Gruppe 110

Vgl. auch v. Raumer, α. α. Ο., I, S. 58. In der Sitzung v. 1 4 . September erklärte v. Gagern ausdrücklich, daß er bei der Aufstellung der Rednerliste die von den Fraktionen eingereichten Vorschläge berücksichtigen würde. St. Ber., I I I , S. 2044. Der Protest Marecks (Graz), daß damit die fraktionslosen Abgeordneten, namentlich die sog. „Stegreifsprecher", benachteiligt würden, führte zu der Bemerkung des Sekretärs Biedermann, daß Parteilisten nicht bevorzugt würden. Ebd., S. 2164, 2165. 111

112

Vgl. G. Rümelin, a. a. O., S. 84. Vor wichtigen Debatten oder Abstimmungen legten die gesinnungsverwandten Fraktionen eine gemeinsame Marschroute fest. Es kam sogar vor, daß man mit dem Gegner verhandelte, „besonders wenn es galt, für einen zu erwartenden heißen Strauß die Kampfessitte und die Art der Waffen im voraus zu verabreden, damit nicht durch unritterliches Wesen die gemeinsame Waffenehre der Versammlung vor den Augen der Welt beschimpft werde". In solchen Fällen vermittelte dann eine Fraktion der Mitte. K.Biedermann, Erinnerungen, a.a.O., S. 168 f.; Das Frankfurter Parlament in Briefen, a. a. O., S. 1 5 9 ; Protokoll Westendhall, Sitzung v. 28. Aug., 1 7 . Sept., 1 . Okt. 114 "L'idee que j'avais du gouvernement representatif me conduisait a entrer dans l'opposition; l'opposition systematique me semble la seule propre a ce gouvernement. L'opposition, surnommee de conscience, est impuissante. La conscience peut arbitrer un fait moral; eile ne juge point d'un fait intellectuel. Force est de se ranger sous un chef appreciateur des bonnes et des mauvaises lois. N'en est-il pas ainsi? Alors tel deputi prend ses betises pour sa conscience et la met dans l'urne. L'opposition dite de conscience consiste a flotter entre les partis, ä ronger son frein, a voter meme selon l'occurence pour le ministere, a se faire magnanime en rageant; opposition d'imbecillite mutine chez les soldats, de capitulations ambitieuses parmi les chefs. Tant que 113

214

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weiterhin der altliberalen, individualistischen Konzeption vom Abgeordneten. Der Abgeordnete Paur (Westendhall) begründete seine Aversion gegenüber der Fraktionsdisziplin mit dem klassischen Argument, daß letztlich nicht die Partei die Hauptsache sei, „sondern die Rücksicht auf das Beste der Nation, wie es nach der Einsicht jedes Einzelnen aufgefaßt wird. Die Seele einer Partei muß frei sein, nicht gebunden durch äußerliche Bestimmungen." Oder noch schärfer: „Jedes Statut ist ein verfängliches, durch und durch falsches und pflichtwidriges." 115 Selbst ein überzeugter Verfechter der Fraktionsdisziplin wie Eisenmann empfand sie als ein Opfer. 116 Dennoch waren selbst in dieser Gruppe Konversionen möglich, wie das Beispiel des Abg. und Historikers v. Raumer zeigt. Auch ihm war zunächst „alles Partei- und Klubwesen" ein fast physisches Greuel; die Vorstellung, daß die Plenardebatte nur frei sein müsse, um zu guten Ergebnissen zu führen, besaß für ihn den Wert eines Dogmas. Als er aber später leidenschaftlich für die Durchsetzung des preußischen Erbkaisertums kämpfte, wurde auch ihm angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse der Notwendigkeit der Fraktion bewußt; er engagierte sich nun mit Leib und Seele im Weidenbusch und wachte mit Argusaugen, daß jede Zersplitterung der Stimmen vermieden würde. 117 Trotz dieser im Individualismus verharrenden Minderheit beherrschten die Fraktionen nach den Septemberereignissen den Verlauf der Arbeit in der Nationalversammlung noch stärker als vorher. Die zweite Lesung der Grundrechte ging nicht zuletzt deshalb so schnell und fast reibungslos über die Bühne, weil alle Entscheidungen bereits vorher in den Fraktionen gefallen waren und das Plenum sich praktisch mit dem Abstimmen begnügen konnte. 118 Entscheidender noch war, daß die Fraktionen der Mehrheit seit dem tiefen Schock, den die Septemberereignisse bewirkt hatten, von der Furcht vor einem erneuten Aufflackern der Revolution erfüllt waren und daher danach trachteten, sich schärfer von der Linken l'Angleterre a ete same, eile n'a jamais eu qu'une opposition systematique, on entrait et Ton sortait avec ses amis. En quittant le portefeuille, on se plajait sur le banc des attaquants." Memoires d'Outre Tombe, V I I I , S. 472, zit. bei J . Barthelemy, a. a. O., S. 1 4 8 f., Anm. 2. 115

Nachlaß Paur, a. a. O., Tagebucheintragungen v. 5., 7., 10. Aug. 1848.

116

G. Eisenmann, a. a. O., S. 7.

117

v. Raumer, a.a.O.,

I, S. 36, 59 f., 104, 1 1 5 f., 126, 164; II, S. 1 6 1 f., 202 f.,

3 1 4 , 452 f. 118

G. Rümelin, a. a. O., S. 136.

Anfänge

des deutschen

Parlamentarismus

215

abzusetzen und zugleich das Verfassungswerk schneller voranzutreiben. 119 Dieses Ziel konnte nur erreicht werden, wenn es gelang, die Kräfte zu konzentrieren und gegenüber dem Druck und den Störungsversuchen der Linken fast so etwas wie eine Einheitsfront des langsam in konservativere Bahnen zurücklenkenden Bürgertums zu errichten.120 So entschlossen sich die Fraktionen des Zentrums (Kasino, Landsberg, Augsburger Hof), den ersten interfraktionellen Ausschuß in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus ins Leben zu rufen, die sog. Neunerkommission aus je drei Delegierten jeder Fraktion. 121 Dieses in sich wiederum von den Vertretern des „kompakten und energischen"122 Augsburger Hofes dominierte Führungsgremium stand in permanenter Fühlung zum Reichsministerium und war einige Zeit hindurch praktisch dessen parlamentarisches Organ. Hier wurden ohne vorherige Instruktion alle wichtigen Fragen vorberaten und erst dann den einzelnen Fraktionen unterbreitet; Interpellationen wurden nur nach Absprache mit dem betreffenden Minister eingebradit. Die Kommission entwickelte eine beträchtliche taktische Schlagkraft, und die Ersetzung Schmerlings durch Gagern war in der Hauptsache ihr Werk. 123 Da bei den Abstimmungen im Plenum in der Regel auch die stark hofierte Rechte 124 sowie vereinzelte Stimmen aus der gemäßigten Linken hinzukamen, verfügte dieser Block in den letzten Wochen des Jahres 1848 über eine sichere Mehrheit von 60 bis 80 Stimmen. 125 Um die schwankenden und unselbständigen Mitglieder der Mehrheit stärker zu „indoktrinieren" und besser nach 119

CPC, Nr. 4, 12. Dez. 1848. So fürchtete Haym, der neben Duncker und G. Beseler die treibende Kraft in diesen Bemühungen darstellte,. daß „das Schicksal der Girondisten auch das unsrige sein wird", wenn es nicht zu dieser Disziplinierung der Mehrheit kommen sollte. H. Rosenberg, a. a. O., S. 142. 120

121 Vgl. zum folgenden K.Biedermann, Erinnerungen, a.a.O., S. 39—42; Jürgens, α. α. Ο., I, S. 428, 447; R. Haym, a. a. O., S. 1 5 5 ff.; H. Rosenberg, a. a. O., S. 1 4 1 f.; Das Frankfurter Parlament in Briefen, a. a. O., S. 40ff., 50 f.; H. Laube, a. a. O., III, S. 6 — 1 7 , 34; L. Bergsträsser, Parteien von 1848, a. a. O., S. 208. X22

Das Frankfurter Parlament in Briefen, a. a. O., S. 188. K . Biedermann, Mein Leben, α. α. Ο., I, S. 368 f.; G. Beseler, a. a. O., S. 79 f.; R. Haym, α. α. Ο., II, S. 1 2 8 — 1 3 1 ; L. Bergsträsser, Parteien von 1848, a. a. O., S. 207; Ernst Bammel, Gagerns Plan und die Frankfurter Nationalversammlung, in Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 1948, Bd. I, Heft 1, S. 8 f. 123

124 Sehr aktiv in dieser Richtung war Duncker. Vgl. M. Duncker, Politischer wechsel, hrsg. v. J . Schultze, Berlin 1923, S. 4; vgl. audi G. Beseler, a.a.O., R. Haym, α. α. Ο., I, S. 157 f., H. Laube, a. a. O., III, S. 34 f. 125

Die Gegenwart,

I X , 1855, S. 160.

SchriftS.y^f.;

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außen zu werben, wurde die „Centren-Parlamentskorrespondenz" gegründet, deren erste Nummer am 7. Dezember als lithographiertes Blatt erschien. 126 Auch hier entsandten die drei Fraktionen je drei Mitglieder in die Redaktion. Auf diese Konzentration der konservativen und gemäßigt konstitutionellen Elemente reagierten die Linksfraktionen (Donnersberg, Deutscher Hof und ein Teil der Westendhall), indem auch sie sich im Dezember im Märzverein127 zusammenschlossen, ohne jedoch bis zur völligen Fusion zu schreiten, nun allerdings mit dem Ziel, eine Parteiorganisation im Lande zu bilden. Mit ihrer H i l f e glaubte man, von außen wirksamer gegen das geplante Verfassungswerk vorgehen zu können. Im Hinblick auf die österreichische Frage beschloß der Märzverein (oder Vereinigte Linke) am 28. Dezember, in geschlossener Front vorzugehen und einen einzigen Antrag einzubringen. 128 Zwischen dem 4. März und 25. Mai 1849 erschien eine eigene, von K a r l Vogt herausgegebene „Parteikorrespondenz" (L.P.C.), 1 2 9 mit deren H i l f e die Meinungsbildung innerhalb der Fraktion wie vor allem aber in den örtlichen Organisationen gefördert werden sollte. 130 Diese Polarisierung der Fraktionen um die Mitte (plus Rechte) einerseits und die Linke andererseits führte, wenigstens f ü r kurze Zeit, zu einem durchaus funktionierenden Zweiparteiensystem, das allerdings der durch die österreichische Frage hervorgerufenen Belastungsprobe nicht widerstand und auch gar nicht widerstehen konnte, weil es auf Grund von Kriterien entstanden war, in die der preußisch-österreichische Konflikt nicht hineinpaßte. Aber audi die neue, am 18. Dezember gegründete, vornehmlich aus Ultramontanen und Partikularisten bestehende Fraktion der Großdeutschen, der Pariser Hof, praktizierte bald trotz konfessioneller, landsmannschaftlicher und sozialer Gegensätze eine fast „mechanische Disziplin", die so weit ging, daß vor Beginn jeder Sitzung gedruckte Stimm129

Letzte Nummer vom 25. Mai 1849 (Nr. 1 5 3 ) ; vgl. Jürgens, a.a.O.,

I, S. 429 f.;

441 f. 127

Vgl. R. Haym, α. α. Ο., II, S. 1 3 6 — 1 4 0 .

128

Das Frankfurter

Parlament

in Briefen,

a. a. O., S. 2 1 5 .

129

BAF ZSg 2/68, 83 Blatt. 130 £)je Korrespondenz sollte an etwa 250 demokratische Zeitungen blätter verschickt werden, von denen nach L. Bergsträsser (Entstehung lung der Parteikorrespondenzen in Deutschland im Jahre 1848/49, in schaft, 8. Jg., 1 9 3 3 , S. 22, Anm. 18) wahrscheinlich über 50 tatsächlich den sind.

und Wochenund EntwickZeitungswissenbeliefert wor-

Anfänge

des deutschen

217

Parlamentarismus

Zettel verteilt wurden. 1 3 1 Der H a ß gegenüber der Möglichkeit eines preußischen Erbkaisertums wirkte Wunder an Disziplin und drängte sogar ideologische Bedenken zurück, wenn sich die Chance einer Koalition mit der Linken bot. Angesichts dieser Taktik gerieten die Kleindeutschen mehrfach in arge Bedrängnis, und zwar um so mehr, als sie zunächst große Mühe hatten, ihre Heerscharen neu zu formieren. Bald setzte sich die Erkenntnis durch, daß nur ein neuer organisatorischer Zusammenschluß imstande war, die Mehrheit zu erobern. Auf Initiative Biedermanns (im Namen der alten Neunerkommission 132 ) f a n d im Lokal d :s Weidenbusch am n . Januar 1849 eine erste Versammlung statt; am 20. Januar bereitete man schon in einer geheimen Sitzung die bei der Durchsetzung der Erblichkeit anzuwendende Taktik vor, so daß sich langsam neue Zuversicht und Entschiedenheit bemerkbar machten 133 . Ende Januar hatten sich die beiden neuen Hauptparteien bereits scharf gegeneinander abgegrenzt. 134 Unter dem Eindruck der sich am 1 5 . Februar in der Mainlust konstituierenden großdeutsch-linken Koalition und der damit akut gewordenen Gefahr einer Verwerfung oder wenigstens Aufweichung des in erster Lesung angenommenen Verfassungsentwurfs sowie in der Absicht, möglichst viele Abgeordnete der Linken (deren rechter Flügel zum Zünglein an der Waage geworden war) zu sich herüberzuziehen, wurde zwei Tage später beschlossen, das bisherige Provisorium in eine feste Organisation zu verwandeln: es entstand die Fraktion des Weidenbusch,135 Hier fanden sich die Fraktionen der ehemaligen Mehrheit mit einigen Splittergruppen von links (um Reh = Neuwestendhall) und von rechts (um Vincke). Die Tatsache, daß der ursprüngliche Verfassungsentwurf und damit die Einheits-, nicht jedoch die Freiheitsfrage im Vordergrund stand, erleichterte die Einigung auf ein Programm und erhöhte die taktische Schlagkraft der Fraktion. An der Spitze stand ein für vier Wochen gewählter neunköpfiger Vorstand, in dem die ein olncn Fraktionen vertreten waren. Versammlungen fanden nun wieder regelmäßig statt, 131

K . Biedermann, Erinnerungen,

gens, a.a.O., Briefen,

a. a. O.,

S. 6 8 — 1 1 0 ; ziemlich demagogisch

I I / i , S. 25 f., 2 8 — 3 1 , 34 f., 3 7 f., 42 f.; Das Frankfurter

a.a.O.,

S. 61 f.; R. Haym, a.a.O.,

Parlament

II, S. 1 4 1 ff.; H. Laube, a.a.O.,

Jürin III,

S. 226 f. 132

K . Biedermann, Mein Leben,

α. α. Ο., I, S. 370.

133 CPC,

N r . 38, 2 1 . Jan. 1 8 4 9 ; Jürgens, a. a. O., I I / i , S. 419.

134

CPC,

N r . 47, 30. Jan. 1849.

135

Ausführliche Schilderung ebd.,

Nr. 64, 18. Febr. 1849; vgl. audi R.

α. α. Ο., II, S. 2 8 4 — 2 8 7 ; Jürgens, α. α. Ο., II/2, S. 6 8 — 7 1 .

Haym,

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in der Zeit vor der letzten Entscheidung, der Wahl des Kaisers, täglich, ja sogar zweimal täglich.136 Die Fraktion zählte bald über 200 Mitglieder, hatte aber Schwierigkeiten mit der Disziplin, so daß die taktische Einheitlichkeit in zäher, von Krisen und Niederlagen unterbrochenen Arbeit verbessert werden mußte. 137 In der wichtigen Veto-Frage etwa konnte keine interne Ubereinstimmung der Ansichten erzielt werden. Mangelhafte Konzessionsbereitschaft gegenüber der Linken führte trotz sorgfältigster Vorbereitung der Taktik zur Verwerfung des Welckerschen Antrags (21. März). Nachdem der sich darauf ergebene moralische Tiefpunkt 138 überwunden und das erbliche Kaisertum durchgesetzt war, errang die Fraktion dank strikter Disziplin, geschickter Taktik (wozu das Bündnis mit der Heinrich-Simon-Gruppe gehörte139) und zäher Energie einen Sieg, der sich freilich allzu bald als Pyrrhus-Sieg erweisen sollte. V. Ausschußwesen und

Interessenvertretung

Auch die Bedeutung der Ausschüsse ging in der Praxis bald weit über das hinaus, was ihnen die Geschäftsordnung zugebilligt hatte. In der Sitzung der Nationalversammlung vom 7. November 1848 wurde auf Empfehlung des Geschäftsordnungs-Ausschusses ein Antrag Eisenmanns angenommen, der den Ausschüssen das Recht gab, Sachverständige und Zeugen vorzuladen und zu vernehmen sowie mit Behörden in Verbindung zu treten ohne ausdrückliche Genehmigung durch das Plenum, was ihnen bis dahin auf Grund des Art. 24 der G O untersagt war. 140 Die Tatsache, daß es sich bei den meisten und wichtigsten Ausschüssen (insgesamt 16) um permanente, nicht aber ad-hoc-Ausschüsse handelte, mußte zwangsläufig ebenfalls dazu führen, ihr Gewicht zu vergrößern. 141 Die 1 3 β K. Biedermann, Mein Leben, α. α. Ο., I, S. 372. Das Statut der Fraktion wurde (in der Sitzung v. 24. Febr. 49) als Zeichen der Einigkeit „rasch und ohne ernsthaften Widerspruch nach dem Vorschlage der Kommission" angenommen. CPC, N r . 7 1 , 25. Febr. 1849. 1 3 7 Vgl. y. Raumer, α. α. Ο., II, S. 333 f., 346; Das Frankfurter fen, a. a. O., S. 302, 303.

Parlament

in

Brie-

1 3 8 Zur Stimmung im Weidenbusch in der Sitzung am Abend des 2 1 . März vgl. R. Haym, α. α. Ο., II, S. 3 3 6 — 3 4 1 ; K. Biedermann, Das erste deutsche Parlament, Breslau 1898, S. 69—74; H. Laube, a. a. O., III, S. 285—288. 139 vgl. jetzt dazu Ernst Bammel, Der Pakt Simon-Gagern und der Abschluß der Paulskirchenversammlung, in Festschrift für L. Bergsträsser, Aus Geschichte und Politik, Düsseldorf 1954, S. 57—87.

140 141

St.Ber., IV, S. 3 1 3 8 f. Die wichtigsten Ausschüsse hatten 30, die meisten anderen 1 5 Mitglieder.

Anfänge

des deutschen

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Parlamentarismus

wichtigste Quelle ihrer Macht aber ergab sich daraus, daß das Recht der Gesetzesinitiative ausschließlich bei der Nationalversammlung lag. Die Ausarbeitung und Formulierung der Gesetzentwürfe war also im wesentlichen Sache der Ausschüsse, und sie verteidigten dieses Privileg eifersüchtig gegenüber allen Eingriffen seitens der Zentralgewalt. Gegen diese Front der Ausschüsse konnte sich nur der aktive und energische Handelsminister Duckwitz durchsetzen, der nach der Regierungskrise Anfang September die Weiterführung seines Ministeriums davon abhängig machte, daß ihm im Bereich des Handels und der Schiffahrt die Gesetzesinitiative eingeräumt würde, da er anderenfalls die ihm notwendig erscheinende „organische Einheit" dieser Gesetzgebung nicht garantieren könnte. Der volkswirtschaftliche Ausschuß mußte sich dieser Ansicht wohl oder übel anschließen, betonte in seinem Bericht aber, daß die Nationalversammlung „durch die vorstehend erteilten Aufträge in keiner Weise das ihr zustehende Recht der Initiative gefährdet wissen will". 1 4 2 Hinzu kam, daß die Ausschüsse die hemmend wirkende Schwerfälligkeit ihres Geschäftsverfahrens schnell überwanden. Eine nachteilige Folge der Wahl der Ausschußmitglieder durch die Abteilungen, nämlich die Kumulierung von Ausschußsitzen, konnte mit der Zeit im Interesse einer schnelleren und wirksameren Arbeit ausgeschaltet werden. Ein anderer Zweck dieses Wahl Verfahrens, der darin bestand, die Zusammensetzung der Ausschüsse nach rein fachlichen Gesichtspunkten zu gewährleisten, wurde weitgehend erreicht. So verwundert es nicht, wenn sich bereits seit Beginn der Beratung über die Grundrechte die Anträge und Empfehlungen der Ausschüsse dank ihrer klaren Fassung, geschickten Vertretung und durchdachten Formulierung immer mehr durchsetzten. 143 Die Änderung der Geschäftsordnung etwa war ausgeschlossen ohne das Plazet des GO-Ausschusses. Als unerläßlich für die Organisation der Plenardebatte erwies sich der Prioritäts- und Petitionsausschuß, 144 der die enorme Flut der Anträge und Petitionen vorzusichten und die Reihenfolge der Behandlung vorzuschlagen hatte; auf Antrag Bassermanns beschloß die Versammlung sogar, ihm die Entscheidung über die Priorität zu übertragen. 145 Seiner energischen Intervention ζ. B. war es zu verdanken, wenn der Antrag des Abg. Simon (Trier) auf Bildung eines Aus112

Vgl. St.Ber.,

keiten aus meinem

III, S. 2 2 1 4 ff.; V I , S. 4 1 9 3 — 4 2 2 3 ; A . Duckwitz, öffentlichen

Denkwürdig-

Lehen von 1 8 4 1 — 1 8 6 6 , Bremen 1 8 7 7 , S. 85 f.

143

Vgl. K . Schauer, a. a. O., S. 56—62.

144

St. Ber., I, S. 1 8 2 f., 202 f.

145

F. D. Bassermann, Denkwürdigkeiten

1811—1S55,

Frankfurt/M. 1926, S. 1 5 7 .

220

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schusses für ςΐϊε Errichtung der provisorischen Zentralgewalt sowie die Einsetzung eines Ausschusses für das Schulwesen vom Plenum akzeptiert wurden. 1 4 6 Natürlich gab es audi schon damals Rivalitäten und Machtk ä m p f e zwischen den Ausschüssen, etwa zwischen dem volkswirtschaftlichen und dem Verfassungs-Ausschuß, weil der erstere von der Sache her stärker unitarisch, der zweite mehr föderalistisch eingestellt war. 1 4 7 Es war auch nur allzu natürlich, wenn sich eine Hierarchie der Ausschüsse herausbildete; zur „Elite" gehörten die bereits erwähnten Ausschüsse, während andere sich mit einer geringeren Rolle begnügen mußten, der völkerrechtliche Ausschuß, weil er schlecht informiert wurde, 1 4 8 der Schulausschuß, weil der Vorsitzende nichts taugte. A m Beispiel des für seine Aktivität besonders berüchtigten 149 volkswirtschaftlichen Ausschusses, dessen Protokoll vollständig erhalten ist, 1 5 0 läßt sich der interne Entscheidungsprozeß eines Paulskirchenausschusses besonders anschaulich demonstrieren. Zusammengesetzt aus führenden Vertretern des Wirtschaftslebens (etwa Mevissen, der als Vertrauensmann der Kölner Handelskammer fungierte 1 5 1 ) und der nationalökonomischen Theorie (etwa Moritz Mohl), entwickelte sich dieser Ausschuß zu einem regelrechten „ökonomischen und sozialpolitischen Sonderparlament", 1 5 2 dessen Diskussionen sich durch besondere Gründlichkeit auszeichneten. U m die Arbeiten zu beschleunigen, bildete er sieben Abteilungen, denen jeweils ein bestimmtes Sachgebiet zugeteilt wurde. 1 5 3 Auf 14e St. Ber., I, S. 1 8 2 ; Sitzungsprotokoll des Prioritäts- und Petitionsausschusses, BAF NV 75, Sitzung v. 29., 30. Mai, 1 7 . J u n i 1848. 147 γ . Valentin, (Geschichte der deutschen Revolution, α. α. Ο., II, S. 1 6 ) , kritisiert, daß sich der Verfassungsausschuß nicht stärker gegenüber dem Prioritäts- und volkswirtschaftlichen Ausschuß durchzusetzen vermochte.

v. Raumer, α. α. Ο., I, S. 53. F. D . Bassermann, a. a. O., S. 1 5 7 . 150 BAF NV 10. Insgesamt 1 1 3 Sitzungen zwischen dem 25. Mai 1848 und dem 28. April 184g. Die folgende Schilderung beruht im wesentlichen auf diesem Protokoll. 1 5 1 Hansen, α. α. Ο., I, S. 561, 529 f. Die A u f f a s s u n g Biedermanns (Das erste deutsche Parlament, a. a. O., S. 39 f.), daß „weder die einzelnen noch die Parteien durch persönliche oder Standesinteressen geleitet" wurden, und daß kein Anlaß zur „Geltendmachung (von) Berufsinteressen" vorhanden war, entspringt eher dem Wunsch nach einer nachträglichen Idealisierung der Paulskirche als nüchterner Analyse. 148

149

152 y 153

Valentin, Geschichte

der deutschen Revolution,

a.a.O.,

II, S. 15.

1 . L a n d - und Forstwirtschaft; 2. Gewerbe und B e r g b a u ; 3. H a n d e l , Schiffahrt und Zollwesen; 4. Innere Kommunikationsmittel (Post, Eisenbahn, K a n ä l e , Binnenzölle); 5. Geld-, Kredit- und Bankwesen; ö . M ü n z e , Maß, Gewicht; 7. Allgemeine Arbeiterverhältnisse, Auswanderung, Ansässigmachung, Freizügigkeit.

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des deutschen

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221

der Grundlage der von den Abteilungen erarbeiteten Referate fand die Beschlußfassung im Plenum des Ausschusses statt. In der Sitzung vom 3 1 . Mai 1848 wurde die Einrichtung eines statistischen Büros beschlossen. Ende Juni erhielt der Ausschuß einen promovierten „Hilfsarbeiter", der an den Sitzungen teilnehmen durfte, aber zur „stengsten Diskretion" verpflichtet war. Das Verhältnis zum Handelsministerium gestaltete sich zunächst sehr distanziert; nicht nur alle mit der Verfassung zusammenhängenden Fragen, sondern auch die „Fundamentalgesetzgebung" wollte sich der Ausschuß vorbehalten; der Minister selbst durfte nur in seiner Eigenschaft als „Sachverständiger" gehört werden und auch dann nur auf Wunsch des Ausschusses. Diese Position mußte später beträchtlich aufgeweicht werden. 1 5 4 Sehr schnell wurden, insbesondere zur Vorberatung des Zollgesetzes, Sachverständige der Einzelregierungen buchstäblich herbeizitiert; 155 die Regierungen reagierten zwar mißmutig, entsandten aber ihre Vertreter dennoch. 156 Bei der Ausarbeitung des Gesetzes zur Regulierung der Flußzölle tagten in zwei Sitzungen (18., 2 1 . August) nicht weniger als 21 Vertreter von fast ebensovielen Regierungen, durchweg hohe Regierungsbeamte, gemeinsam mit dem Ausschuß; sie hatten laut Protokoll die Aufgabe, ihre Ansichten über die Entwürfe des Ausschusses mitzuteilen, und zwar „sowohl, was die bereits proponierten Bestimmungen f ü r die künftige Reichsverfassung als auch den vom Ausschuß vorgelegten Entwurf eines provisorischen Gesetzes f ü r die A u f hebung der Flußzölle betrifft". Daß dieses Verfahren, das ja gefährlich nahe an die Anerkennung des Vereinbarungsprinzips führte, auf Widerspruch stieß, zeigt eine in der Sitzung vom 2 5. August vom Abg. Dieskau zu Protokoll gegebene Erklärung, wonach „er sich zu keiner Zeit mit der Abhörung der Regierungssachverständigen einverstanden erklärt habe". Aber je mehr die Regierungen zu Kräften kamen, desto geringer wurde ihr Interesse, mit dem volkswirtschaftlichen Ausschuß zusammenzuarbeiten; es ist kein Zufall, wenn das Protokoll vom September ab die Anwesenheit von Regierungsvertretern nicht mehr erwähnt. Ebenso frisch und ohne den geringsten Anflug von „Verbandsprüde154

Vgl. die Konferenz mit Duckwitz im Ausschuß am 10. N o v . 48.

155

R. Haym, Ausgewählter

156

Aus dem Protokoll geht nicht hervor, ob der Ausschuß diese Regierungsver-

Briefwechsel,

a. a. O., S. 56 u. Anm. 1.

treter wirklich gehört hat. Nach Duckwitz (α. α. Ο., S. 97) fand cine gemeinsame Sitzung nicht statt. Daraufhin holte Duckwitz die Bevollmächtigten in sein Ministerium und arbeitete mit ihnen die Zollgesetzgebung aus.

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rie" (Fraenkel) bemühte sich der Ausschuß um eine konstruktive Mitarbeit der beruflichen Interessenverbände. Es war durchaus üblich, daß Mitglieder des Ausschusses, wenigstens privat, aber auch in offiziellem Auftrag, an den zahlreichen Kongressen dieser Verbände teilnahmen, etwa an der Generalversammlung hessischer Gewerbetreibender (Anfang Juni 1848) in Offenbach. Zum Zweck der Erarbeitung des allgemeinen deutschen Zolltarifs wurden die Meinungen des „Gewerbe- und Handelsstandes" mit Hilfe einer sorgfältig formulierten Enquete ergründet. Diese Taktik mußte der Ausschuß schon deshalb anwenden, um den Berufsverbänden, die Ausschuß und Nationalversammlung mit ihren Petitionen bestürmten, Wind aus den Segeln zu nehmen. Wie weit die Verbände zu gehen entschlossen waren, zeigt die Eingabe der Kaufmannscompagnie zu Wismar, die die Hinzuziehung von Sachverständigen bei allen Verhandlungen über den Zolltarif verlangte. Die „Kaufmannschaften" von Stolp und Stettin forderten sogar das Stimmrecht (!) für ihre Vertreter im Ausschuß, was natürlich abgelehnt wurde. Auch Vertreter des Handwerks baten den Ausschuß darum, an der Ausarbeitung der Gewerbeordnung mitwirken zu dürfen. Dennoch entstanden große Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Ausschusses darüber, wer einzuberufen sei und zu welchem Zeitpunkt, während der Abg. Osterroth die Zulässigkeit solcher Vernehmungen von „Sachverständigen" grundsätzlich in Frage stellte. Schließlich wurde der ganze Komplex auf Vorschlag Eisenstucks einer Kommission zur Prüfung überwiesen, was — wie so oft — einer Beerdigung erster Klasse entsprach. Nach dem Protokoll hat es den Anschein, als seien Vertreter der Berufsverbände nicht sehr häufig vorgeladen worden. Allerdings verlor das Problem viel von seiner Bedeutung, nachdem das Handelsministerium die Gesetzesinitiative an sich gerissen hatte; bezeichnenderweise beschloß der Ausschuß in seiner Sitzung vom 10. Januar 1849, die Ergebnisse der ziemlich erfolgreichen Zolltarifenquete dem Ministerium zur Verwendung zu übermitteln. Eine höchst interessante Debatte fand in der Sitzung vom 17. Januar über eine Petition statt, die die Einberufung eines „sozialen Parlaments" (also einer allgemeinen Vertretung der Berufsverbände) vor der definitiven Abfassung der Gewerbeordnung verlangte. Einigen Ausschußmitgliedern erschien diese Idee verlockend: handelte es sich bei einem solchen „sozialen Parlament" nicht um eine Art von perfektionierter Enquete? Könnten durch eine derartige gemeinsame Beratung aller Gewerbetreibenden (wozu auch die Unternehmer gezählt wurden) nicht die wider-

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Parlamentarismus

223

streitenden Interessen ausgeglichen, vielleicht sogar überhaupt vermieden werden? Würde man damit nicht erreichen, den starken und schädlichen Einfluß gewerblicher Interessen auf politische Wahlen abzuschwächen? Gegenüber solchen, bis heute nicht abschließend beantworteten Fragen überwog schließlich aber doch die Skepsis an der Möglichkeit einer Harmonisierung der Interessen durch die Berufsverbände, und es setzte sich die Ansicht durch, daß es vernünftiger sei, die Meinung dieser Verbände mit dem Mittel der „indirekten Enquete" zu ergründen (Sitzung vom I i . Februar). Dagegen verbrauchte der weniger bedeutsame Marine-Ausschuß einen guten Teil seiner K r a f t und Intelligenz damit, seine Autorität über die zahlreichen, im Sturm der Marinebegeisterung überall (besonders an der Nord- und Ostseeküste) entstandenen Marinekomitees durchzusetzen, die fröhlich auf eigene Faust wirkten und sogar Schiffe in eigener Regie bauten. 157 Die größten Schwierigkeiten hatte der Ausschuß mit dem wichtigsten dieser Komitees, das in Hamburg bestand (Godeffroy) und in höchst dilettantischer Weise sogar versuchte, eine Schiffsexpedition gegen Dänemark ins Werk zu setzen. Viel schneller als im volkswirtschaftlichen Ausschuß erkannte man im Marine-Ausschuß, daß die vom Abg. Gevekoht mit allem Nachdruck verlangte Konzentrierung und Koordinierung der Mittel auf das geplante Werk nur von einer Exekutivbehörde bewältigt werden könnte. Selbst Detailprobleme (Erstellung von Plänen und Karten, Anheuerung des Personals usw.) wollte der Ausschuß aus naheliegenden Gründen nicht in seine Kompetenz einschließen. Da er die Schaffung eines Marineministeriums nicht erreichen konnte, setzte er sich mit um so größerer Energie für die Errichtung einer Marineabteilung im Kriegsministerium ein. Die Sache ging nicht recht voran, was wohl auch daran lag, daß sich der Ausschuß nicht darüber einigen konnte, ob an der Spitze der neuen Behörde ein Minister, Staatssekretär oder Fachbeamter stehen sollte (Sitzung vom 7. September). 158 Schließlich wurden Anfang Oktober die Marineangelegenheiten 157 y g L

zum

f 0 l g e n ( J e n J a s Protokoll des Marine-Ausschusses, BAF

NV

97.

iss Aus dem Antragsentwurf Jordans zur Errichtung eines Marinedepartements: „Ob es sich mit dem Wesen des konstitutionellen Systems vertrage, dem verantwortlichen Chef des Marinedepartements in Rücksicht auf die eigentümliche, zunächst rein schöpferische Aufgabe, ausnahmsweise eine festere, von den Majoritätsschwankungen minder abhängige Stellung einzuweisen, das wagt der Ausschuß, so wünschenswert es ihm erscheint, nicht unbedingt zu bejahen. Jedenfalls aber wird die Stellung der ihm zunächststehenden Beamten.. . eine dauernde, von jedem Ministerwechsel durchaus

224

Gilbert

Ziebura

dem Handelsministerium unterstellt. Um sich das Wohlwollen des Ausschusses zu erhalten und zugleich kompetente Mitarbeiter zu gewinnen, berief Duckwitz kurz entschlossen führende Ausschußmitglieder; tatsächlich wurden die Abg. Kerst und Wilhelm Jordan am 15. November 1848 zu Ministerialräten ernannt. 159 Über das Problem aber, ob ins Ministerium eingetretene Abgeordnete weiterhin im Ausschuß verbleiben dürften, wurde kein Beschluß gefaßt (Sitzung vom 7. November). Auf Grund dieser Personalunion wirkten Ausschuß und Behörde in engster Zusammenarbeit f ü r die Errichtung einer deutschen Flotte. Aber die Stoßkraft der Berufsverbände richtete sich nicht nur gegen die Nationalversammlung oder einzelne Ausschüsse; auch die Abgeordneten selber wurden mit sog. „Adressen" buchstäblich bombardiert. In diesen Resolutionen lokaler Organisationen an den Repräsentanten des Wahlkreises geizte man nicht mit Lob oder Tadel. In der Tat wurde dessen Aktivität in der Nationalversammlung mit der größten und fast immer kritischen Aufmerksamkeit verfolgt, wobei es freilich o f t genug vorkam, daß sich die in den Adressen formulierten Forderungen widersprachen. 160 Einen besonders intensiven Eifer entwickelten dabei die konfessionellen Gruppen, so die deutsch - katholischen Gemeinden, 1 6 1 dann die katholischen Pfarrer bzw. die zahllosen Piusvereine — eine A r t Vorform der Katholischen Aktion — mit ihrer Zentrale in Mainz, die während der Debatte über die Grundrechte (Verhältnis Kirche— Staat) einen wahren Petitionssturm auf die Nationalversammlung organisierten. 162 Die Piusvereine hatten es sehr leicht, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, da die katholisch-kirchlichen Interessen von einer auf Betreiben des Fürstbischofs von Breslau gegründeten interfraktiounabhängige und nur durch die zu ermittelnde praktische Tüchtigkeit bedingt sein müssen." (Sitzung v. 1 2 . Sept. 48) 159

Mitteilung von Dr. Latzke ( B A F ) .

160

Vgl. ζ. B. R. Haym, Ausgewählter

161

Vgl. etwa Aus dem Nachlaß

1848, 162

Briefwechsel,

von Karl

Mathy.

a. a. O., S. 70, 78 f. Briefe

aus den Jahren

1846

bis

hrsg. v. Ludwig Mathy, Leipzig 1898, S. 296. L. Bergsträsser in Das Frankfurter

die Pius-Vereine ders., Studien

Parlament

zur "Vorgeschichte

S. 1 3 2 ff. Vgl. jetzt K . Repgen, Klerus

und Politik

politischen Leben des Revolutionsjahres. In Aus

in Briefen,

a. a. O., S. 4 2 1 . Über

der Zentrumspartei, 1848. Geschichte

Tübingen 1 9 1 0 ,

Die Kölner Geistlichen im und

Landeskunde,

Fest-

schrift für Franz Steinbach, Bonn i960, S. 1 3 3 — 1 6 5 . Repgen stellt fest, daß die PiusVereine als Organisatoren der rheinischen Petitionen der ersten und zweiten Welle (Juni u. August 48) nicht in Frage kommen; vielmehr lag die Initiative bei den Pfarrern, die für Unterschriften aus ihren Gemeinden sorgten.

Anfänge des deutschen

Parlamentarismus

225

nellen Abgeordnetengruppe, dem „Katholischen Verein" unter Führung des Gen. v. Radowitz und August Reichenspergers, nachdrücklich wahrgenommen wurden, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Auf dem ersten Kongreß der Piusvereine in Mainz (August 1848) waren Delegierte dieser Abgeordnetengruppe zahlreich vertreten, und der Abg. Döllinger gab in ihrem Auftrag eine Übersicht über deren parlamentarische Tätigkeit. 163 Was den Katholiken recht war, war den Bauern und Lehrern billig. Die Bauern kamen nicht zum Zuge, weil die Radikalität ihrer Forderungen (Abschaffung aller feudalen Privilegien und Aufhebung aller Fronverpflichtungen164) bisweilen selbst über das hinausging, was die Linke in der Nationalversammlung vertrat. Besser stand es um die Lehrer, deren Forderungen (Befreiung von der kirchlichen Aufsicht) in der Richtung der Bemühungen des Schulausschusses lagen. 165 Besonders stark aber war naturgemäß der Druck der Handwerker auf die Nationalversammlung. Sie waren ja mit den Bauern die Träger der Revolutionsbewegung gewesen, befanden sich aber weiterhin am Rande des wirtschaftlichen Bankrotts und der sozialen Deklassierung und Proletarisierung. 166 Je länger die Paulskirche tagte, um so mehr wuchs ihr Mißtrauen, denn sie merkten, daß ihre Interessen mit den Zielen der Nationalversammlung kollidierten. Während die Vertreter des liberalen Großbürgertums auf Grund ihrer Interessen und Ideologie für ein laissez-faire-Regime eintraten, sahen die Handwerker das Heil ihres Standes in einem primitivreaktionären, antikapitalistischen Programm, in dem sie die Wiederbelebung des Gildensystems, den Kampf gegen Mechanisierung und Industrialisierung vertraten. Zahllose Versammlungen der verschiedensten Handwerkerorganisationen 167 verabschiedeten scharf gefaßte Resolutionen in diesem Sinn, um die Paulskirche damit zu bestürmen. Ihren Höhepunkt fand diese Bewegung in dem deutschen Handwerkerkongreß, der vom 14. Juli bis 18. August 1848 im Frankfurter Römer tagte, Vertreter 163

L. Bergsträsser, Parteien von 1848, a. a. O., S. 203 f.; Jürgens, a. a. O., I I / i , S. 48 ff.; Frans Schnabel, Der Zusammenschlug des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848, Heidelberg 1 9 1 0 , S. 57—63, 70—78, 80—89, 98 f. 164 Theodore S. Hamerow, Restoration, Revolution, Reaction. Economics and Politics in Germany 181$—ι8γι, Princeton 1958, S. 159. iss y g i_ Nachlaß Paur, a. a. O. ιββ Vgl. zum folgenden Theodore S. Hamerow, The German Artisan Movement 1848—184p, in Journal of Central European Affaires, Juli 1 9 6 1 , S. 1 3 5 — 1 5 2 . 167

15

Ebd., S. 138 f .

Fraenkel

226

Gilbert

Ziebura

aus 24 Ländern vereinigte und eine Art professionelles „Gegenparlament der Armen" zu sein versuchte. Hier wurde ein gemeinsames Programm formuliert und eine streng hierarchisierte Gesamtorganisation der Handwerker gegründet mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Interessen dieser Klasse gegenüber der Nationalversammlung, in ihren Augen ein „Parlament der Besitzenden", zu vertreten. Als sie merkten, daß von dieser Seite keine Unterstützung zu erwarten war, sympathisierten sie mit den konservativen Elementen.168 Ganz entgegengesetzt war die Reaktion der freilich noch in den Anfängen steckenden Organisationen der Arbeiter. Von einem Druck des „Zentralkomitees der Arbeiterverbrüderung" war nichts zu spüren. Zwar entsandte der Berliner Gründungskrongreß der Arbeiterverbrüderung eine Adresse an die Nationalversammlung; aber die Antwort des Abg. Karl Nauwerk zeigt doch, wie weit die Paulskirche von den in diesem Text ausgesprochenen Hoffnungen entfernt war. 169 Aber Anfang 1849 unternahm die Arbeiterverbrüderung Schritte, um auf die Versammlungen der Einzelstaaten einzuwirken mit dem Ziel, staatliche Hilfe für die Assoziationen zu erhalten. Es scheint, als habe die junge Arbeiterbewegung die durch den Parlamentarismus sich eröffnenden Möglichkeiten schnell erkannt, bejaht und vielfach zu nutzen verstanden. 170 Schließlich und endlich verschmähten die Interessenverbände keineswegs, sich direkt an die Minister zu wenden. Für den Handelsminister Duckwitz, der natürlich besonders betroffen war, muß deren Aktivität zu einem wahren Alptraum geworden sein, wenn er in seinen Erinnerungen folgendes bezeichnende Klagelied anstimmt 171 : „In dieser Periode [September—Dezember 1848] wurde ich entsetzlich geplagt durch Deputationen aus allen Teilen Deutschlands, die ihre Wünsche und Anliegen mir vorzutragen wünschten. Es war schwerlich ein Industriezweig, ein Berg- und Hüttenbau-, Schiffer- und Handwerkerverein in Deutschland vorhanden, der nicht seine Vertreter nach Frankfurt gesandt hätte, um sich bei dem Handelsminister ,hören' zu lassen. Am eifrigsten waren dabei die Schutzzöllner und die Freihändler. Ich konnte mit völliger Sicherheit darauf rechnen, daß, wenn eine Deputation von Schutzzöllnern ihre Aufwartung gemacht hatte, unfehlbar eine halbe Stunde später 168

Ebd., S. 1 4 6 f. Frolinde Baiser, Sozial-Demokratie Stuttgart 1962, Quellenband, S. 503 f. 169

170 171

Ebd., Textband S. 1 2 7 ff. Duckwitz, a. a. O., S. 92.

1848/49—1863,

Industrielle

Welt

Bd. 2,

227

Anfänge des deutschen Parlamentarismus

eine Deputation von Freihändlern sich melden ließ, als wenn sie es für nötig hielt, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Die Herren hielten die Erfüllung ihrer Wünsche für das Wichtigste, was aus der Neugestaltung Deutschlands hervorgehen könne; alles andere schien ihnen ganz gleichgültig zu sein. Keiner bedachte, daß die Zeit doch wahrlich nicht dazu angetan war, Extreme im Zollwesen zur Geltung zu bringen, sondern daß es sich zunächst und vor allem nur darum handeln könne, das so ungeheuer aufgeregte Deutschland nur erst einmal unter einen Hut und unter ein Dach zu bringen... Von solchen Erwägungen wollte aber niemand etwas wissen, ich mußte daher, unbekümmert um die Schreier, selbständig meinen Weg gehen." VI. Imperatives

Mandat und öffentliche

Meinung

Dieser Druck der Berufsverbände einerseits sowie der zahllosen zumeist liberal-konstitutionellen oder demokratischen Wählervereinigungen172 andererseits, der uns heute durch seine offene und direkte, ja naive Form und durch seine Selbstverständlichkeit frappiert, war so stark, daß sich viele Abgeordnete mit dem Problem des imperativen Mandats auseinanderzusetzen gezwungen sahen. In der Tat waren die schon erwähnten Adressen oft nichts anderes als Vertrauens- oder Mißtrauenskundgebungen.173 Häufig kam es zu schweren Konflikten, weil sich der Abgeordnete nach rechts entwickelt hatte, während seine Wähler (zumindest ein Teil davon) stärker in linkes Fahrwasser gerieten. So kam es, daß die „Volksvereine" in Südwestdeutschland nach der Annahme des Malmöer Waffenstillstands einen regelrechten Hetzfeldzug gegen Mohl, Fallati und Mathy organisierten und die Wähler aufforderten, deren Mandat zu kündigen. In einer Adresse aus Herrenburg hieß es, daß Fallati „durch sein Verhalten von dem Standpunkt der im guten Kampf längst bewährten Abgeordneten Württembergs abgewichen sei und daß er die gewiß nicht unbillige Rücksicht auf das Rechtsgefühl und die politische Gesinnung des Heimatlandes vermissen lasse". Natürlich lehnten die betroffenen Abgeordneten jede Form des imperativen Mandats entrüstet ab, gewiß nicht nur aus ideellen Gründen, sondern nicht zuletzt audi 1,2

V g l . H a n s K r a u s e , Die demokratische Partei von 1848

und die soziale

Frage,

F r a n k f u r t / M . 1 9 2 9 , S. 1 1 7 — 1 4 5 . 173

V g l . Das Frankfurter

a. a. O., S. 68 u. Anm. 2. 15»

Parlament

in Briefen,

a.a.O.,

S. 3 2 5 ; E.

Angermann,

228

Gilbert

Ziebura

und gerade darum, um gegenüber diesem Druck von links ein gutes Gewissen bewahren und hinter diesem Schild die Staats- und Verfassungskonzeption des Bürgertums unangefochten durchsetzen zu können. So schrieb Fallati seinen Wählern, daß sie kein Recht zur Kündigung seines Mandats hätten; immerhin legte er sein Mandat im württembergischen Landtag nieder, allerdings mit dem Hinweis darauf, daß keine formelle Verpflichtung dazu vorliege. 174 Und der Abgeordnete Degenkolb schrieb in seinem Bericht an den Bürgerverein zu Eilenburg: „ . . . Noch habe ich keinen Zweifel, daß ich im Sinne der großen Mehrheit meiner Wähler handle; vom Bürgerverein habe ich kein Mandat empfangen und keins in seine Hände niederzulegen. Verantwortlich bin ich nur Gott, meinem Gewissen und dem Gesamtvaterlande. Würde ich von der Majorität meiner Wähler aufgefordert, mein Mandat zurückzugeben, so würde ich nicht untersuchen, ob diese ein Recht dazu haben oder nicht, sondern ob eine Verzichtleistung in deren wahrhaften Interessen sein würde." 1 7 5 Typischer aber waren die Argumente v. Raumers, der wie E. Burke das imperative Mandat aus dem Begriff der Repräsentation ablehnte; für ihn war es ein Kampfmittel der direkten Demokratie, das nur zu den Zuständen von 1793 führen kann.176 Dieser Druck der Wähler erzeugte einen Gegendruck der Abgeordneten und später der Fraktionen, die in detaillierten und regelmäßigen Berichten ihre Positionen und ihre Taktik erläuterten und rechtfertigten, um Kritik zu entschärfen und die lokale öffentliche Meinung bei der Stange zu halten. 177 Welche Bedeutung dabei insbesondere den offiziellen, von den Fraktionen herausgegebenen „Korrespondenzen" zufiel, hat L. Bergsträsser hinlänglich gezeigt.178 Diese Blätter wirkten in hohem Maße meinungsbildend, da sie von der Lokalpresse ausführlich zitiert wurden. So hat etwa das Organ der Erbkaiserlichen, die „ C P C " , entscheidend die Haltung der norddeutschen Presse beeinflußt. Man braucht keine weiteren Beispiele zu zitieren. Aus unserer Untersuchung folgt ein174

Vgl. K . Bach, Johannes Fallati als Politiker, Tübingen 1922, S. 49. Beilage N r . 44 zum Eilenburger Wochenblatt 1848, in Nachlaß Degenkolb BAF ZSg α/8. 176 ν. Raumer, α. α. Ο., II, S. 352. Vgl. E. Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat; Redit und Staat 2 1 9 — 220, Tübingen 1958, S. 12. 177 L. Bergsträsser, Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, a. a. O., S. 10. 178 Vgl. dazu ders., Entstehung und Entwicklung der Parteikorrespondenzen, a. a. O. Über die „Flugblätter", das offiziöse Kampforgan der Konservativen vgl. Jürgens, α. α. Ο., I, S. 1 6 5 — 1 7 9 . 175

Anfänge

des deutschen

229

Parlamentarismus

deutig, daß 1848 — wie es Hans Rosenberg treffend formuliert hat 1 7 9 — „die ganze deutsche Nation, vertreten durch alle ihre Stämme, Klassen und Stände, in die politische Arena eintrat und als mobilisierte Masse sich aktiv an dem Ringen der K r ä f t e , an Aktion und Reaktion, an dem Aufeinanderprallen der Doktrinen und Interessen zu beteiligen begann. . . . Von 1848 ab gibt es in Deutschland eine durch politische Gesinnungsund Parteiverbände, wirtschaftliche Interessenorganisationen und soziale Gruppen vertretene ,öffentliche Meinung' im Sinne der Öffentlichkeit der Meinung' und der ,Meinungen in der Öffentlichkeit'." Die Revolution hatte die vorher doch noch weitgehend geschlossene Gesellschaft in eine offene verwandelt, und die bloße Existenz eines gesamtnationalen Parlaments, auch wenn es nicht alle sozialen K r ä f t e repräsentierte, gestattete es, den pluralistischen Charakter der Gesellschaft aufrechtzuerhalten und f ü r ein politisches Ziel zu mobilisieren. Es gereicht der ersten deutschen Nationalversammlung zur Ehre, wenn sie sich diesen gesellschaftlichen Einflüssen gegenüber geöffnet zeigte, sie aufnahm, durch den Filter der Ausschüsse und Fraktionen reinigte und schließlich in den Entscheidungsprozeß einfügte, ohne dabei auf eine eigenständige Wirkung nach außen zu verzichten. Das aber, was Carl Schmitt und seine Epigonen als die sogenannten „geistesgeschichtlichen Grundlagen des Parlamentarismus" 1 8 0 zu definieren glaubten, insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit der „freien Debatte" als Ort der Willensbildung, hat es in der Wirklichkeit der ersten deutschen Nationalversammlung, von den unglücklichen ersten Wochen abgesehen, nicht gegeben. Das Plenum eines echten Parlaments w a r schon damals kein elfenbeinerner Turm, in dem man sich von der Weisheit der Argumente überzeugen läßt, sondern Stätte harten Kampfes zwischen handgreiflichen Interessen, die sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versuchen und die dennoch zuletzt auf das allgemeine Wohl hin orientiert werden müssen. Mit H i l f e der zur Gesellschaft hin offenen Ausschüsse und Fraktionen hat die Paulskirchenversammlung ihren internen Entscheidungsprozeß so rationalisiert, daß, zumindest in technischer Hinsicht, dieses Ziel erreicht werden konnte. 181 179

H . Rosenberg, a. a. O., S. 1 1 6 f.

180

Carl

Schmitt, Die

geistesgeschichtliche

Berlin 1 9 2 6 , 1 9 6 1 3 ; Heinrich Triepel, Die

Lage

des

Staatsverfassung

heutigen

Parlamentarismus,

und die politischen

Par-

teien, Berlin 1 9 2 7 . 181

D i e These ( K . Schauer, a. a. O., S. 77), daß die A r t der Geschäftsführung mit-

Gilbert Ziebura

230

VII. Verhältnis zur Zentralgewalt Die Bildung des Kabinetts v. Leiningen verlief bereits genau nach den Regeln des parlamentarischen Regierungssystems. Noch vor Ankunft des Erzherzogs v. Österreich, dem als Reichsverweser offiziell das Recht der Ministerernennung zustand, hatte sich die Führungsgruppe des Kasino schon auf die vorzuschlagenden Persönlichkeiten geeinigt. 182 Schwierigkeiten traten erst auf, als sich das Kasino entschloß, die Mehrheit nach links auszudehnen und eine Koalitionsregierung mit dem (noch nicht gespaltenen) Württemberger Hof einzugehen, denn diese Fraktion stellte nun natürlich ihre Bedingungen (einen Minister und zwei Unterstaatssekretäre nach einigem H i n und Her). 1 8 3 Als sie erfüllt wurden, kam das Kabinett zustande, ohne daß der Reichsverweser dabei eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Kaum hatte sich die provisorische Zentralgewalt installiert, erfaßte die Abgeordneten, besonders auf der Linken, das Interpellationsfieber. Dabei war nirgends die Form, in der die Interpellation stattfinden sollte, festgelegt. Nach einem zu Recht mißglückten Vorstoß v. Gagerns, der die Interpellation von einem Beschluß der Nationalversammlung abhängig machen wollte, 1 8 4 wurde die Frage dem Geschäftsordnungs-Ausschuß überwiesen. Dessen Berichterstatter v. Lindenau schlug in der Sitzung vom 28. Juli vor, 1 8 5 daß die schriftlich formulierte, den Gegenstand und die Veranlassung angebende Interpellation einen Tag vor der nächsten Plenarsitzung beim Präsidenten eingereicht werden muß; dieser teilt sie dem betreffenden Minister sofort mit. Die Interpellation wird vor Eintritt in die Tagesordnung verlesen und muß dann genau wie ein Antrag von mindestens 20 Abgeordneten unterstützt werden. Ist diese Voraussetzung erfüllt, gibt der betreffende Minister die gewünschte Erklärung entweder sofort ab oder er bestimmt den Tag, an dem dies geschehen soll, oder er gibt die Gründe an, warum er zur Abgabe der Erklärung nicht imstande ist. Ob nach Abgabe der Erklärung eine weitere Debatte stattfinden soll, hat das Plenum zu entscheiden. Für Bassermann ging dieses Verfahren viel zu weit; er malte in bewegten Worten die Gefahr sdiuldig w a r am Scheitern der Paulskirche, kann nicht entschieden genug zurückgewiesen werden. 182

Hansen, α. α. Ο., II, S. 401, 403 f.

183

K.Bach,

184 185

a.a.O., S.j8ff. St. Ber., II, S. 950 f.

Zum folgenden ebd., I I I , S. 1 2 5 3 — 1 2 6 0 .

Anfänge

des deutschen

Parlamentarismus

231

einer Selbstregierung durch die Versammlung an die Wand. Die Linke dagegen, von einigen Mitgliedern der Mitte unterstützt, kritisierte, daß der Ausschußentwurf das Interpellationsrecht zu stark einschränken würde. Schließlich ging der nur wenig modifizierte Antrag des GO-Ausschusses durch: in der definitiven Fassung kann die Interpellation jederzeit im Plenum ohne besondere Motivierung vor der Tagesordnung verlesen werden. Eine zweite Änderung bestand darin, daß nach der Erklärung des Ministers eine weitere Debatte über den Gegenstand nur dann stattfindet, wenn ein von der Versammlung als dringend anerkannter Antrag gestellt wird. Es handelte sich also um einen Sieg derjenigen, die das Interpellationsrecht erleichtern, jedoch in seinen politischen Auswirkungen einschränken wollten. Da die Abstimmung über eine Resolution am Ende der Interpellationsdebatte nicht vorgesehen war, handelte es sich weniger um eine Interpellation im vollen Sinn des Wortes als um eine bestimmte Form der Anfrage. Obwohl ausgiebig „interpelliert" wurde, war die praktische Wirksamkeit dieses Kontrollinstrumentes doch bescheidener Natur. Zwar beschwerte sich der Handelsminister Duckwitz in seinen Erinnerungen, 186 daß die Interpellationssucht mit zur Schwächung der Exekutive nach innen und nach außen beigetragen habe; aber an anderer Stelle schilderte er sarkastisch, wie er die Interpellationen in einer Schublade sammelte und solange aufbewahrte, bis ihre Gegenstände veraltet oder vergessen waren. Die „improvisierten, müßigen, unanständigen" Interpellationen187 (d. h. diejenigen, die von der Linken kamen) gerieten bei der Mehrheit bald in Verruf, und die CPC hatte nicht Unrecht, wenn sie schrieb: „Der heutige Ertrag der Interpellationen war wieder ein überaus dürftiger. Die Kraft derselben ist durch den allzu häufigen Gebrauch abgenutzt, ein Umstand, der um so bedenklicher ist, als er das Ministerium der Gefahr aussetzt, die Achtung vor einem Kraftmittel zu verlieren, das, bei weiser Anwendung, das Gleichgewicht zwischen Ministerium und Parlament zu erhalten und herzustellen so trefflich geeignet ist."188 So verwundert es nicht, wenn man immer wieder auf Klagen von Abgeordneten (besonders der Linken) stößt, daß ihre Interpellationen einfach nicht beantwortet werden. 189 Schließlich konnte die Mehrheit einem 186

Duckwitz, a. a. O., S. 83 u. 1 0 1 ; vgl. auch K . Bach, a. a. O., S. 53.

187

H . Laube, a. a. O., I I I , S. 7 ff.

188

CPC, N r . 3, 9. Dez. 1848.

189

Vgl. z . B . St. Ber., I I I , S. 1608; eine Rechtfertigung Mohls, ebd., S. 1 6 1 9 .

Gilbert

232

Ziebura

besonders hartnäckigen Interpellanten leicht das Handwerk legen. Wenn nämlich die Beantwortung einer Interpellation als ungenügend erachtet wurde, mußte ja, sollte eine weitere Debatte stattfinden, ein dringender Antrag gestellt werden. Stand die Mehrheit geschlossen hinter dem interpellierten Minister, war es nicht schwer, die Dringlichkeit des Antrags zu Fall zu bringen, so daß das Manöver in der Regel im Sande verlief. 190

VIII.

Selbstverständnis

des

Parlamentarismus

Dennoch ist es evident, daß alle diese Bemühungen um eine Ausgestaltung des Geschäftsverfahrens im Sinn des parlamentarischen Regierungssystems eher der N o t der Stunde entsprangen als einer echten Konversion zu diesem Regime, wie eine genauere Analyse der Debatte über die Errichtung der provisorischen Zentralgewalt zeigt. 191 In Konsequenz ihrer These von der absoluten Souveränität der Nationalversammlung verlangte die Linke ein Konventregime, d. h. die eindeutige Unterordnung der Exekutive unter die Legislative, ein Regime also, das mit dem klassischen Parlamentarismus, der ja ein Gleichgewicht der Gewalten zu schaffen versucht, nichts zu tun hat und im Ausschußbericht (aus der Feder Dahlmanns) auch ausdrücklich verworfen wurde. Nach Robert Blum war nur eine Regierung in Form des Vollzugsausschusses in der Lage, das Volk vor „Übergriffen", vor der Gegenrevolution zu schützen, weil nur dann die Gewähr gegeben ist, daß eine möglichst intime Ubereinstimmung von öffentlicher Meinung, Versammlung und Exekutive besteht. In jedem anderen Fall war für ihn die Verantwortlichkeit der Minister eine „leere Phrase". D a für die Linke die Nationalversammlung der einzige effektive Machtträger war, konnte sie schwerlich einsehen, warum eine so konzipierte Regierung schwach sein sollte, wie es die Rechte ihr vorwarf. „Wollen Sie eine kräftige Centralgewalt begründen, so fußen Sie dieselbe in dem Rechtsboden der Revolution, in dem Rechtsboden des vollberechtigten Volkes, der Selbstherrschaft der N a t i o n " (Venedey). Dann war es nur folgerichtig, wenn nicht nur die Einheit der Zentralgewalt, sondern auch die Verantwortlichkeit ihres Chefs gefordert wurde: für die Linke lag hier der Unterschied zwischen Republik und konstitutioneller Monarchie. So schlug Vogt (Gießen) die Konstruktion des amerikanischen Präsidenten vor, von der er aber in Wahrheit keine Ahnung 190 191

Vgl. den Fall des Abg. Vogt, ebd., III, S. 1718. Zum folgenden ebd., I, S. 357—557.

Anfänge

des deutschen

Parlamentarismus

233

hatte, wenn er als Heilmittel gegen die Gefahr der ministeriellen Instabilität eine Mischung aus strafrechtlicher und politischer Verantwortlichkeit anpries, die gegebenenfalls nach Ablauf der Amtsperiode wirksam werden sollte(!). Im Munde der Rechten klang das Bekenntnis zur Ministerverantwortlichkeit nun gänzlich unglaubwürdig. Ihrer Meinung nach sollten der oder die Führer der Zentralgewalt in letzter Instanz von den Einzelregierungen ernannt werden. Wie die Verantwortlichkeit von Ministern, die einerseits aus der Mehrheit der Versammlung hervorgehen, andererseits vom Repräsentanten der Einzelregierungen ernannt werden, praktisch funktionieren sollte und zwar insbesondere dann, wenn der doch sehr naheliegende Fall eines Konflikts zwischen der Mehrheit und den Einzelregierungen eintrat — darüber schwieg man sich beharrlich aus. Die Masse der konstitutionellen Liberalen schließlich hatte die größte Mühe, einen wesentlichen Schritt über ihr vormärzliches Staatsdenken hinaus zu vollziehen. Hier liebte man es, im Vagen, Unverbindlichen zu bleiben und für die zu errichtende Zentralgewalt zu fordern, sie sollte „weder ausschließlich in Bedientenstellung zur Nationalversammlung stehen, noch andererseits einen selbständigen und unnahbaren Platz über der Nationalversammlung einnehmen." 192 Dieses Ziel glaubte man mit Hilfe der nur leicht im Sinn Constants abgewandelten traditionellen Theorie des Konstitutionalismus zu erreichen, nach der zwar die Minister, nicht jedoch der Chef der Exekutive verantwortlich sind. In dieser Linie lag dann auch der Ausschußbericht. Nach dieser Konzeption galt, wie in der älteren Theorie, das verantwortliche Ministerium als Bindeglied zwischen Versammlung und unverantwortlichem Oberhaupt, das nur handeln kann, wenn es die Minister durch die Gegenzeichnung erlauben. Sobald man aber auf das Problem der konkreten Ausgestaltung der ministeriellen Verantwortlichkeit zu sprechen kam, herrschte die größte Verwirrung. Nur ein Redner (Gumbrecht) verlangte — bezeichnenderweise als eine Art Konzession gegenüber der Linken — für die Versammlung die Befugnis, einen Minister durch das Mißtrauensvotum zum Rücktritt zu zwingen; aber sein Vorschlag fand kein Echo. Gagern, dessen „kühner Griff" dann die Mehrheit zur Einheit der Zentralgewalt konvertierte, war in dieser Frage der Ministerverantwortlichkeit genau so verschwommen wie die anderen Konstitutionellen, wenn er erklärte: 182

R . Haym, Ausgewählter S. 1 3 2 u. f.

Briefwechsel,

a. a. O., S. 44; H . Rosenberg, a. a. O.,

234

Gilbert

Ziebura

„Das, was wir staatsrechtliche Verantwortlichkeit nennen, das ist die rechtliche Folge der Contra-Signatur. Diese Verantwortlichkeit hat man aussprechen wollen in der bestimmtesten Weise. Daß es aber außer dieser Contra-Signatur und ihrer rechtlichen Folge auch eine andere, nicht staatsrechtliche Verantwortlichkeit gebe, der niemand entgeht, die Geltendmachung jener staatsrechtlichen Verantwortlichkeit aber eine schwierige i s t , . . . das leuchtet ein. Wer auch an die Spitze der künftigen Zentralgewalt gestellt werden mag, er wird in unserer Zeit sich und seine Taten verantworten müssen, auch wenn diese dem Criminalrecht nicht verfallen." Angesichts dieser gewollten oder ungewollten Unklarheiten und um nicht ein zusätzliches Element der Spaltung in die Mehrheit zu tragen, blieb nichts anderes übrig, als eine genaue Formulierung dessen, was man unter Ministerverantwortlichkeit verstand, zu vertagen. Dieses Ausweichmanöver rief sofort den mißtrauischen Schoder vom linken Zentrum auf den Plan, der beantragte, daß ein Ausschuß einen Entwurf f ü r ein „Gesetz über die Verantwortlichkeit der Minister" vorlegen sollte. Dieser Antrag wurde zwar angenommen, sogar ein spezieller Ausschuß ins Leben gerufen; aber das Gesetz kam nicht zustande. 193 Unter dem Druck einer Interpellation Eisenstucks an den Ausschuß vom 1 7 . August übermittelte Mittermaier seinen Bericht einen Tag später dem Präsidenten der Nationalversammlung, aber die Grundrechtsdebatte lieferte einen von der Rechten begierig aufgegriffenen Vorwand, die Behandlung des Berichts im Plenum zurückzustellen. Wie verworren die Vorstellungen waren, zeigt eine lange, höchst konfuse Debatte (Sitzung vom 7. September) über die an sich schon unsinnige Frage, ob ein zurückgetretenes Ministerium verpflichtet sei, Beschlüsse der Nationalversammlung auszuführen. Dabei fällt auf, daß eine objektive Auseinandersetzung über das Verhältnis von Exekutive und Legislative von vornherein ausgeschlossen war, weil alle Fraktionen sich nicht davon lösen konnten, es in Funktion zu den Bedürfnissen ihrer augenblicklichen Taktik zu sehen: man war um so parlamentarischer, je mehr man hoffte, damit den eigenen Interessen zu dienen. Die Debatte endete wie das Hornberger Schießen: alle Anträge, sogar der auf Ubergang zur Tagesordnung, wurden zurückgezogen. Etwas später ging der Entwurf des Gesetzes über die Ministerverantwortlichkeit mit zahllosen Zusatzanträgen an den Ausschuß zurück. Nach einer erneuten, wiederum von Mittermaier dilatorisch beantworteten In103

Vgl. St.Ber.,

III, S. 1574 f., 1597, 1816, 1922—1926; V, S. 3508; IX, S. 6638 f.

Anfänge des deutseben

Parlamentarismus

235

terpellation verläuft die Spur im Sande, um erst unmittelbar vor dem Ende der Nationalversammlung noch einmal aufzutauchen. Es verwundert nicht, wenn jetzt, da praktisch nur noch die Linke in der Versammlung saß, der Entwurf des Abg. Wedekind (Sitzung vom i 8 . M a i 1849) eine f ü r damalige Verhältnisse sehr radikale Form der Ministerverantwortlichkeit vorsah und somit sicherlich dazu beitrug, dieses Institut für die Zukunft zu diskreditieren. Jedoch abgesehen von dieser speziellen Frage der Ministerverantwortlichkeit hatte die Mehrheit der Paulskirche schon lange vorher ausdrücklich und definitiv mit dem parlamentarischen Regierungssystem gebrochen. Die Argumente, mit denen sie auf die Ereignisse in Preußen (Berufung des Ministeriums Brandenburg, Verlegung der preußischen Nationalversammlung nach Brandenburg) reagierte, offenbarten in aller Deutlichkeit, wie weit die „folgenreiche Rückbildung der konstitutionellen Staatslehre im konservativen Sinne" 1 9 4 bereits gediehen war. Der Krone wurde jetzt f ü r den Fall, daß die „Freiheit der Versammlung bedroht w a r " , das Recht zu deren Verlegung zugebilligt. 195 Der von Zachariä verfaßte Bericht des „Ausschusses für das Verhältnis der deutschen Reichsversammlung und der Zentralgewalt zu den Einzelstaaten" konzedierte der Krone weiterhin nicht nur die absolute Befugnis, die „verantwortlichen" Minister zu ernennen, sondern ein Mißtrauensvotum seitens der Kammermehrheit gegenüber einem in Bildung begriffenen Ministerium zu ignorieren. Die Auswirkungen solcher Thesen wurden durch den Wunsch kaum eingeschränkt, daß die Krone besorgt sein müsse, sich mit solchen Ministern zu umgeben, die in der Lage wären, eines Tages eine Mehrheit zu gewinnen. Ganz allgemein ging die Tendenz dahin (vgl. den Zusatzantrag v. Lindes), wieder eine größere Unabhängigkeit der Krone bei der Ernennung, Leitung und Entlassung der Minister zu akzeptieren. Welcker feierte die Segnungen der Ordnung und des „Rechtsstaates", d. h. eines rechtlichen Zustandes „in den Formen der heutigen Gesellschaft". Wie alle anderen genügte auch ihm die staatsrechtliche Verantwortlichkeit der Minister. Im Namen der Rechten sprach v. Vincke der Kammer in einer konstitutionellen Monarchie das Recht ab, dem Ministerium den Weg, den es gehen will, vorzuzeichnen; sie darf nur billigen oder mißbilligen, nicht aber „gängeln". Diese Rückwendung zum traditionellen Konstitutionalismus besaß nicht nur als solche einen Wert für 104

H . Rosenberg, a. a. O., S. 1 5 3 .

195

V g l . St. Ber., V , S. 3267—3480.

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Gilbert

Ziebura

die Paulskirchenmehrheit; sie bot darüber hinaus den immensen Vorteil, das Ausweichen vor einer Kraftprobe mit Preußen, die ja weder im Interesse noch in den machtpolitischen Möglichkeiten dieser Mehrheit lag, zu kamouflieren, indem man den Konfliktsfall einfach durch die Bestätigung der monarchischen Prärogative aus der Welt schaffte. Nun stand auch nichts im Wege, den provozierenden Akt der Auflösung der preußischen Nationalversammlung durch die Regierung Anfang Januar 1848 einzustecken.196 Wie Hans Rosenberg überzeugend gezeigt hat, 197 zerbrach die politische und moralische Substanz des liberalen Bürgertums, weil es die weit überschätzte Gefahr durch die „rote Anarchie" mehr fürchtete als die effektive, aber verharmloste Bedrohung durch die wiedererstarkte Reaktion. Es erkaufte Ordnung und ökonomische Sicherheit mit dem hohen Preis der Aufgabe einer politischen Machtstellung, die es nur mit Hilfe eines konsequent weiterentwickelten Parlamentarismus hätte erobern können. Der kontinentaleuropäische Parlamentarismus war nun einmal, wenigstens in seiner ersten, dualistischen Phase, das Herrschaftsinstrument einer klassenbewußten Bourgeoisie. Das deutsche Bürgertum hat diesen Zusammenhang lange überhaupt nicht und dann erst begriffen, als es zu spät war, weil sich inzwischen die sozialen und politischen Verhältnisse tiefgreifend gewandelt hatten.

108

Ebd., V I , S. 4427—4444.

197

So Hans Rosenberg, a. a. O., S. 1 4 3 — 1 5 5 ; vgl. den ganz in der Rosenbergschen

Argumentation liegenden Brief eines Elbinger Lehrers an Duncker, in M. Duncker, a. a. O., S. iz f.

KARL

LOEVENSTEIN

Baker v. Carr: Policy Decision und der Supreme Court I. Der

Tatbestand

Die am 26. März 1962 ergangene Entscheidung des Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten — Supreme Court of the United States — (nachfolgend abgekürzt S. C.) Baker v. Carr (369 U. S. 186) muß als eines der wichtigsten Ereignisse in der neueren Verfassungsgeschichte Amerikas gelten. Sie betraf den seit Generationen mißachteten Grundsatz der Wahlgleichheit bei der Sitzeverteilung der Gesetzgebungskörperschaften der Staaten, ein Verfahren, das technisch als state apportionment oder redistricting, volkstümlich auch als remapping bezeichnet wird. Die Tragweite der Entscheidung übertrifft diejenige der berühmten Schulentscheidungen von 1954/55 (Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 1954 und 349 U.S. 294, 1955), 1 welche die Absonderung der farbigen von den weißen Schülern in den öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärten; denn sie geht nicht eine Minderheit, die Neger in den Südstaaten, sondern die politischen Rechte der Gesamtbevölkerung an. Darüber hinaus stellt sich Baker v. Carr aber als ein wesentlicher Beitrag sowohl zur Theorie und Praxis des Repräsentativstaats unserer Zeit als auch zur Funktion der Dritten Gewalt, der Gerichte, im decision making-Prozeß dar. Die Antragsteller, eine Gruppe von Bürgern, die ihren Wohnsitz in der Hauptstadt Nashville (Einwohnerzahl: 170000) des Staates Tennessee haben, machten geltend, die in der Verfassung von 1870 niedergelegte Einteilung der Wahlbezirke und damit die Sitzezuweisung in der unteren Kammer (General Assembly) der Staatsgesetzgebungskörperschaft bevorzuge willkürlich die ländlichen vor den städtischen Wählern und versage ihnen daher den im X I V . Amendment der Unionsverfas1

Vgl. Karl Loewcnstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1959, S. 600 ff. — Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Köln und Opladen, i960, S. 98.

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sung garantierten gleichen Schutz der Gesetze (equal protection of laws). Entgegen der bindenden Vorschrift der Verfassung, alle zehn J a h r e eine Neuverteilung der Sitze nach M a ß g a b e der Bevölkerungsverschiebungen vorzunehmen, habe eine solche seit 1901 nicht m e h r stattgefunden. Nachdem d e r U n i t e d States District C o u r t als erste Instanz i m Einklang mit der ständigen oberstrichterlichen Rechtsprechung die bundesgerichtliche Zuständigkeit verneint hatte, weil Wahlrechtsstreitigkeiten der U n i o n wie der Staaten als political questions nicht justiziabel sind 2 , entschied der S. C., die hundesgerichtliche Zuständigkeit sei gegeben u n d verwies den Fall zur sachlichen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Die Entscheidung, von Richter Brennan v e r f a ß t , w u r d e mit 6 zu 2 Voten gefällt; Richter W h i t t a k e r n a h m an ihr nicht teil. Die abweichende Minderheit bestand aus den Richtern F r a n k f u r t e r u n d H a r l a n , die in den letzten J a h r e n d e n K e r n des „konservativen" Flügels des S. C. gebildet hatten. Die Bundesregierung h a t t e durch ihren Solicitor General als amicus curiae auf Seiten der Antragsteller an dem V e r f a h ren teilgenommen. D i e Entscheidung u m f a ß t 163 Seiten der amtlichen Sammlung, w o v o n achtzig auf die dissents treffen. Die Minderheit stellte die behauptete Wahlrechtsungleichheit nicht in Abrede. Sie begründete ihre abweichende Stellungnahme v o r allem d a mit, das Gericht überspanne seine richterliche F u n k t i o n in einer g r u n d sätzlich politischen .und daher nicht justiziablen Frage in unzulässiger Weise. Richter F r a n k f u r t e r w a r n t e in seiner bekannten epigrammatischen Formulierung, das Gericht gerate, wenn es sich auf die materielle Frage der Wahlungleichheit einlasse, auf unabsehbare Zeit in einen „ m a t h e matischen S u m p f " (mathematical quagmire) 3 . Weitere gleichgelagerte Entscheidungen ergingen darauf in rascher Folge, u n d z w a r bezeichnenderweise per curiam, das heißt unter Verweisung auf Baker v. C a r r ohne neuerliche mündliche Verhandlung. V o n diesen handelte es sich in Scholle v . H a r e (369 U . S . 429, 1962) um die rein geographische u n d von den Bevölkerungszahlen u n a b h ä n gige Sitzezuweisung i m Senat des Staates Michigan. I n W . M . C. A. v. Simon (370 U . S . i 9 o , 1962) h a t t e ein mit drei Richtern besetzter District C o u r t die gerügte Willkürlichkeit der Sitzeverteilung f ü r Senat u n d 2

Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 4 3 1 ff. Die Entscheidung hat alsbald ein umfassendes Schrifttum hervorgerufen; besonders die Law Reviews bemächtigten sich des Stoffes mit der ihnen eigenen Gründlichkeit. Nachfolgend wird vor allem die im Yale Law Journal, Band 72 (1962) S. 6 ff. abgedruckte Artikelserie herangezogen (nachfolgend abgekürzt: Yale). 3

Baker v. Carr

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Versammlung im Staat N e w Y o r k abgelehnt. Auch in diesen Fällen wurde die Verhandlung an die Vorinstanz zur sachlichen Entscheidung zurückverwiesen, womit angeordnet war, daß eine bevölkerungsgerechte Wahlkreiseinteilung und Sitzezuweisung nach dem Gleichheitsgesichtspunkt zu erfolgen habe. Eine Reihe weiterer Fälle sind zur Zeit der Niederschrift (März 1963) beim S. C. anhängig. Baker v. Carr brach mit der ständigen Rechtsprechung des S. C., wonach Wahlrechtsstreitigkeiten als political questios — „actes de gouvernement", justizfreie Hoheitsakte — betreffend der bundesgerichtlichen Zuständigkeit entzogen, weil einzig und allein dem Ermessen der politischen Instanzen unterstellt sind, wobei jedoch, um das gerichtliche „Gesicht" zu wahren, die gegenwärtige von den früheren Entscheidungen mit großer juristischer Kunst unterschieden („distinguish") wurde. Schlüsselfälle waren hier, soweit die Wahlgleichheit in den Staaten in Frage kam, South v. Peters (339 U . S . 376, 1950), wo die Verfassungsmäßigkeit des im Staat Georgia gültigen sogenannten county unitSystems erfolglos angegriffen worden war und, die Kongreßwahlen betreffend, Colegrove v. Green (328 U. S. 549, 1946); hier w a r die die Wahlgleichheit beeinträchtigende Willkürlichkeit der KongreßWahlkreise im Staat Illinois ebenfalls vergeblich gerügt worden.

II. Der soziologische Hintergrund Bei dem generell in so gut wie allen Staaten der Union bestehenden Mißverhältnis zwischen der Bevölkerungsschichtung und ihrer Vertretung in den Gesetzgebungskörperschaften (malapportionment) handelt es sich um eine auf den Anbeginn der Union zurückgehende Erscheinung. Die Staaten, die sich zur Union zusammenschlossen, waren Agrargebiete mit einer überwiegenden Bauernbevölkerung, die sich lose in Dörfern oder Einzelgehöften über das Land verteilte; es gab nur wenige Städte und keine große Stadt. Die Union blieb bis weit ins 19. Jahrhundert hinein agrarisch. Die ursprüngliche Repräsentativtechnik war daher ausschließlich auf die bäuerliche Bevölkerungsschichtung zugeschnitten und trug der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung und der sich daraus ergebenden Urbanisierung keinerlei Rechnung. Die von den agrarischen Interessen völlig beherrschten und heute daher mehrheitlich republikanischen Staatenlegislaturen sehen keine Veranlassung, sich ihr politisches Übergewicht

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zugunsten einer städtischen, daher fortschrittlichen und mutmaßlich demokratischen Wählerschaft beschneiden zu lassen. Dabei ist es trotz der nie abreißenden Proteste der benachteiligten städtischen Wählerschaft geblieben, bis Baker v. Carr wie ein Blitz aus heiterem Himmel einschlug. Der Erwägung, die einer „organischen" Schichtung der Bevölkerung Rechnung trägt und das wertvolle Element des unabhängigen Farmers nicht von der gleichmacherischen Welle der bloßen Zahl überflutet wissen will, mag man eine gewisse historische Berechtigung nicht absprechen. Wo sie aber heute noch herangezogen wird, ist sie nichts anderes als ein Deckmantel f ü r die nackte Herrschsucht der die Staatengesetzgebungskörperschaften außerhalb des Südens nach wie vor kontrollierenden republikanischen Partei. Heute hat sich infolge der unwiderstehlichen Urbanisierung 'die ekologische Situation grundlegend gewandelt. Die Vereinigten Staaten sind ein Industrieland geworden, mit den gewaltigen Bevölkerangszusammenballungen ihrer millionenstarken Metropolitangebiete und ihren zahlreichen metropolitan-ähnlichen großen Städten. Die Farmbevölkerung der Union betrug zur Zeit ihrer Gründung volle 96 % ; heute macht sie nur mehr 8 °/o der Arbeitnehmer aus. Allein in der Zeit zwischen 1930 und 1962 sank ihre Zahl von 30,53 auf 14 Millionen. Volle 96 % der Gesamtbevölkerung leben heute auf nur einem Prozent der Bodenfläche. 4 Daß heute die landwirtschaftliche Erzeugung nicht nur ein Vielfaches von dem ausmacht- was eine prozentual zahlreichere Bauernschaft einst hervorbrachte, hat seinen Grund in der während der letzten Generation sich vollziehenden technologischen Agrarrevolution: Maschinen und verbesserte Anbaumethoden bringen weit mehr hervor als Amerika selbst verzehren kann. Die landwirtschaftliche Überproduktion ist zu einem Hauptproblem der Wirtschaftspolitik geworden und seit dem N e w Deal kann der Lebensstandard des landwirtschaftlichen Sektors nur durch Subsidien und Preisstützung auf Kosten des Verbrauchers aufrechterhalten werden. Dazu tritt eine weitere Erscheinung der Bevölkerungsbewegung, die im übrigen nicht auf Amerika beschränkt ist. Zu der nach wie vor andauernden Flucht vom flachen Land in die Stadt kommt seit einigen Jahrzehnten, und verstärkt neuerdings, die Abwanderung wohlhabender Bevölkerungskreise von der Großstadt in die angenehmere Lebens4

Vgl. Ε. E, Schattsdineider, Urbanization

and Reappportionment,

Yale, S. 7 ff.

Baker v.

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241

Verhältnisse bietenden Vororte. Suburbia ist zu einer neuen Lebensweise geworden. Nach der Volkszählung von i960 haben die meisten Großstädte, insbesondere an der atlantischen Küste und im mittleren Westen, stark eingebüßt, während die Vororte sich sowohl an Zahl wie an Einwohnerschaft entsprechend vermehrten. Die in die Vororte umsiedelnde Bevölkerung ist ihrer politischen Haltung nach vorwiegend republikanisch. Auch auf die Vorortsumschichtung nimmt die eingefrorene Wahlkreiseinteilung keinerlei Rücksicht, da sie meist als solche nicht vertreten oder den Metropolitanbezirken zugeschrieben sind.

III. Die Typen der Repräsentativtechnik der Staatenlegislaturen Die Theorie, wenn man von einer solchen sprechen kann, und die Praxis der Wahlkreiseinteilung und der ihr entsprechenden Sitzezuweisung in den Staatenlegislaturen gehören zu den verwickeisten Materien des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Hier muß ein summarischer Uberblick über die Häuptlingen genügen.5 Die bislang, das heißt vor Erlaß von Baker v. Carr zur Anwendung gekommenen Repräsentativtechniken der Staatenlegislaturen lassen sich, mit Außerachtlassung zahlreicher Varianten, in drei Gruppen einteilen, nämlich Sitzezuweisung (a) nach Maßgabe der Einwohnerzahl oder der Zahl der im Wahlbezirk wohnhaften Wahlberchtigen; (b) auf Grund geographischer oder territorialer Einheiten (township, county oder dergleichen); und (c) mit Anwendung eines gemischten Systems, das eine Verbindung territorialer und bevölkerungsmäßiger Maßstäbe darstellt." Eine rein schematische Betrachtung ergibt das folgende Bild für die beiden Häuser Senat und Versammlung (assembly) der neunundvierzig Staaten mit zwei Kammern und des Staates Nebraska, des einzigen mit nur einer Kammer: a) Staaten mit Bevölkerungsbasis: Haus 1 7 Senat 23 5

Das Schrifttum ist unübersehbar. Eine gute Einführung ist Malcolm E. Jewell, 7'he

Politics of Reapportionment, N e w York 1962. Wer sich für weitere bibliographische Hinweise interessiert, wird sie in den Fußnoten 1 1 4 (S. 316), 1 1 5 (S. 317), 128 (S. 319), 1 3 6 — 1 3 8 (S. 319 ff.) und passim von Richter Frankfurters dissent (Baker ν. Carr, a.a.O., S. 265 ff.) finden. 6

Ein Sonderfall ist der Senat von N e w Hampshire, für den nur die mit direkten

Steuern Veranlagten wahlberechtigt sind. 16 Fraenkel

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b) Staaten mit Territorialvertretung: Haus 4 Senat 14 c) Staaten mit gemischtem System: Haus 28 Senat 12 Viele Staaten Verfassungen schreiben vor, daß für mindestens ein Haus bei der Sitzezuweisung der Bevölkerungsstandard angewendet werden muß. Dementsprechend ist es üblich geworden, für das eine — meist für das untere — Haus einen Repräsentativtyp zu verwenden, bei dem die Bevölkerung berücksichtigt wird, und für den Senat einen anderen. Jedoch besteht das System der Bevölkerungsgrandlage für beide Häuser in elf Staaten, das gemischte System für beide Häuser in sieben Staaten und nur Mississippi, der rückständigste Staat der Union, hält an dem Territorialgrundsatz bei der Bestellung beider Kammern fest. Um zu erkennen, wie sich die Dinge in der Praxis auswirken, muß man sich aber diese drei Typen genauer ansehen. Beim reinen Territorialsystem entsprach die ursprüngliche Zuweisung an die einzelnen geographischen Einheiten der Bevölkerungsschichtung, wie sie zur Zeit der frühen Besiedlung oder des Erlasses der frühen Verfassungen bestand. Damals hatten die einzelne township oder das einzelne county die Vertretung als Einheit und ohne Rücksicht auf die Bevölkerungszahl erhalten und sie behielten sie nachher weiter bei. Das überwältigende Übergewicht des agrarischen Elements liegt hier auf der Hand. Da die meisten Staatenverfassungen vorschreiben, das Bevölkerungselement müßte zumindest bei einem Haus berücksichtigt werden — und da elf Verfassungen dies sogar für beide Häuser verlangen —, wird dem Erfordernis durch die Anwendung des gemischten Systems Rechnung getragen. Aber auch bei den insgesamt 40 Kammern dieser Kategorie wird dem Bevölkerungsgesichtspunkt Gewalt angetan, wiederum zu dem Zweck, dem agrarischen Bevölkerungssektor das Ubergewicht zu verschaffen oder zu erhalten. Dies geschieht meist dadurch, daß jeder Territorialeinheit je ein Vertreter zugewiesen wird, den volkreichen aber je zwei oder auch noch eine größere Zahl, aber mit der Beschränkung, daß diese Zahl als konstante Höchstzahl gilt und nicht bei weiterem Bevölkerungszuwachs erhöht werden darf. Ein weiteres Mittel, den status quo aufrechtzuerhalten, ist das verfassungsrechtliche Verbot der nachträglichen Unterteilung der mit Vertretung bedachten Verwaltungseinheiten. Auch bei dieser Technik ist also das Ubergewicht der ländlichen über die städtischen Bezirke dauernd verankert, da die nach-

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trägliche Einwohnervermehrung der Städte sich nicht in die erhöhte Vertreterzahl umsetzen kann. Aber auch in der überwiegenden Mehrheit der auf dem reinen Bevölkerungsmaßstab aufgebauten Gesetzgebungskörperschaften wird dadurch eine von J a h r zu J a h r sich verstärkende Wahlungleichheit hervorgerufen, daß die Staatenlegislaturen es bewußt und absichtlich verabsäumt haben und weiterhin verabsäumen, die von den Staatenverfassungen vorgeschriebene Neueinteilung der Sitze nach Maßgabe der inzwischen eingetretenen Bevölkerungsverschiebungen vorzunehmen. Mit Ausnahme von vier Staaten (Delaware, M a r y l a n d , Nebraska und Rhode Island) wird eine solche Korrektur in zehnjährigen Abständen von allen Staatenverfassungen bindend verlangt. Diese Vorschrift w i r d aber in der Mehrzahl der Staaten gröblich mißachtet. Bei zwölf K a m m e r n liegt die letzte Neueinteilung von 1920, und in manchen dieser Fälle sogar noch viel weiter zurück; Vermont hat seit 1 7 9 3 , Connecticut seit 1 8 1 8 , D e l a w a r e seit 1 8 9 7 , A l a b a m a und Tennessee, w o Baker v. C a r r spielt, seit i 9 o i , Mississippi seit 1 9 1 0 nicht mehr neu eingeteilt. Bei acht Häusern ereignete sich die letzte Neueinteilung zwischen 1 9 2 0 und 1 9 3 9 . Diese absichtliche Fehlleistung ergibt in allen Staaten, in denen sie p r a k tiziert wurde, letztlich das gleiche Resultat wie in den Staaten, die mit dem nackten Territorialgrundsatz oder mit dem gemischten System operieren, daß nämlich, da den städtischen Bezirken mit starkem Bevölkerungszuwachs keine neuen Vertreter zugewiesen werden konnten, der städtische auf Kosten des ländlichen Wählers nach wie vor benachteiligt ist und das ländliche Element fest im Sattel bleibt. Nicht genug damit. Auch in den auf dem Bevölkerungsstandard aufgebauten Staatenhäusern, die in den letzten Jahrzehnten gemäß ihrer Verfassung neu eingeteilt haben, bringt die am Ruder befindlichen P a r teimehrheit, gleichgültig ob republikanisch oder demokratisch dabei ihr Schäflein ins Trockene, indem sie bei der Neueinteilung die Wahlkreise nach ihren Parteiinteressen zurechtschneidert (gerrymandering). Gegen dieses auf keine bestimmte Partei beschränkte althergebrachte Übel ist bisher noch kein verfassungsrechtliches K r a u t gewachsen. Das Ergebnis ist also auch hier letzten Endes eine schwere Benachteiligung des städtischen zugunsten des ländlichen und kleinstädtischen Wählers. Warum die Staatenlegislaturen von sich aus keine Neueinteilung vornehmen, liegt auf der H a n d . Die Vertreter der ländlichen Bezirke würden sich dadurch selbst den Ast absägen, auf dem sie so bequem sitzen und das agrarische Klasseninteresse würde dabei in die Brüche gehen. Von 16»

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den Staatengerichten ist keine Abhilfe zu erwarten. Eine Klage auf Erfüllung der Verfassungsvorschrift der Neueinteilung würde von ihnen nicht adjudiziert werden und die Bundesgerichte sind bisher einzelstaatlichen Wahlrechtsstreitigkeiten als nicht justiziabeln political questions ausgewichen. Es ist hier allerdings anzumerken, daß im Laufe der langen Zeit, seit die Mißstände sich fühlbar machten, die Staatengerichte nicht ganz selten um Abhilfe gegen besonders krasse Wahlungerechtigkeiten angegangen wurden. 7 Solche Verfahren bezogen sich aber in der Regel nur auf Einzelwahlkreise, niemals auf das herrschende System im ganzen, und w o solche Klagen erfolgreich waren, hatten sie „bösartige Diskriminierung" (invidious discrimination) zum Ausgangspunkt. Sie waren aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Bemerkt sei schließlich, daß angesichts der notorischen Weigerung der die Staatenlegislaturen beherrschenden Landwählerschaft, das heiße Eisen der Neueinteilung anzurühren, nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Staaten dafür anderweitig Vorsorge getragen hat. In acht Staaten ist die Aufgabe der Neueinteilung einer unabhängigen Kommission übertragen, in der meist der Staatsgouverneur und andere gewählte Beamten vertreten sind, oder es gibt andere Möglichkeiten, der widerborstigen Legislative das Geschäft abzunehmen. Aber auch w o solche Auswege bestehen, sind sie meist durch die politischen Hemmungen der Beteiligten blockiert. Diese Zurücksetzung des städtischen zugunsten des ländlichen Wählers ist aber nicht etwa nur das Erbe der unbewältigten agrarischen Vergangenheit. Bei Wahlkreisainteilungen, die im 20. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart vorgenommen wurden, macht sich dieselbe Tendenz der absichtlichen Benachteiligung des städtischen Sektors deutlich bemerkbar. 8 Die Folge ist, daß bis zu Baker v. C a r r die Repräsentativesysteme so gut wie aller Staaten von dem beherrscht waren, was man mit bitterer Ironie den Grundsatz der „ungleichen Wahlgleichheit" nennt. In den einzelnen Staaten besteht eine außerordentliche und den demokratischen Grundsätzen hohnsprechenden Ungleichheit des Stimm7

Eine anscheinend vollständige Liste der Fälle (etwa 40 seit 1872) findet sich bei Goldberg, Yale, S. 102 ff. 8 Beispielsweise verstärkte im Staat Wyoming das ein Jahr nach Baker v. Carr ergangene Neueinteilungsgesetz die Vertretung des ländlichen Sektors gegenüber dem städtischen, obwohl die ländliche Bevölkerung (141 515) wesentlich kleiner ist als die städtische (187 551). Das Gesetz ist vor dem Bundesgericht angefochten worden.

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gewichts des einzelnen Wählers. Es hängt von dem reinen Zufall seines derzeitigen Wohnsitzes ab. IV. Statistisches

Material

Die Situation wird zweckmäßig durch zwei Beispiele beleuchtet: Das „klassische", aber vermutlich nicht das krasseste Beispiel einer Wahlrechtsbenachteiligung der städtischen zugunsten der ländlichen Bevölkerung bestand bis vor kurzem im Staat Georgia. Das dort seit alters bestehende county unit-System für die Versammlung (untere Kammer) begünstigte bewußt die kleinsten Verwaltungsbezirke (county), so daß 103 derselben mit nur 22,5 % der Gesamtbevölkerung die Mehrheit hatten. Mit der Senatsvertretung war es noch schlimmer bestellt; 28 der bevölkerungsmäßig kleinsten Senatswahlkreise mit nur 21,4 °/o der Gesamtbevölkerung besaßen die Mehrheit. Die Senatsbezirke rangierten von 3050 bis zu 556326 Einwohnern. Die Hauptstadt Atlanta mit 487 000 Einwohnern hatte in beiden Häusern keine größere Vertretung als ein paar kleine Landstädtchen. Die Situation könnte nicht drastischer charakterisiert werden als durch den Ausspruch des langjährigen, jetzt verstorbenen „Königs" von Georgia, des Staatsgouverneurs Eugene Talmadge, er nehme sich niemals die Mühe in einem Ort eine Wahlrede zu halten, der groß genug sei um eine Straßenbahn zu haben. In einer jüngsten Entscheidung vom 18. März 1963 (Gray et al. v. Sanders, 372 U. S. 368) wurde aber vom S. C. dem county unitSystem der Garaus gemacht, allerdings nur insoweit als es bei der Vorwahl der demokratischen Partei zur Anwendung kam. 9 Ähnlich liegen die Dinge in Connecticut, einem der angesehensten Staaten der Union, dessen Wahlsystem ebenso anachronistisch ist. Die Wahlkreiseinteilung für das untere Haus beruht auf der Verfassung von 1 8 1 8 (!), weldbe f ü r die Verteilung der 294 Sitze auf die damaligen 169 Orte (towns) die folgende seither nicht geänderte Formel aufstellte: Jedem Ort unter 5000 Einwohnern wurde ein, denjenigen über 5000 zwei Vertreter zugewiesen, wobei überdies noch angeordnet war, daß 9 Bereits kurz nach dem Erlaß von Baker v. Carr hatte das mit drei Richtern besetzte Bundes-Untergericht das county unit-System für verfassungswidrig erklärt, so daß die unmittelbar danach fällige Vorwahl für den Staatsgouverneur auf der Bevölkerungsbasis vorgenommen werden mußte. Die demokratische Partei von Georgia appellierte aber gegen die Entscheidung zum S. C. Die Entscheidung erging mit 8:1 Voten, Richter Harlan bildete die Minderheit.

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die mit zwei Vertretern ausgestatteten Orte diese auch dann beibehalten dürfen, wenn ihre Einwohnerzahl nachher darunter gesunken ist. Die Folge ist, daß die volkreichen Städte wie die Hauptstadt H a t f o r d oder N e w H a v e n oder Bridgeport genau die gleiche Vertreterzahl, nämlich zwei, besitzen wie das auf 592 Einwohnern abgesunkene Dorf Colebrook. Auch in Vermont beruht im unteren Haus die Vertretung heute noch auf den 1793 vorhandenen townships, so daß ein Wähler des kleinsten Bezirks, des Weilers Stratton mit 38 Einwohnern, in dem es nicht einmal ein Postamt gibt, im Verhältnis zu dem in der Hauptstadt Burlington 872 Stimmen hat. Ein handfester Maßstab der Beurteilung, ob ein Wahlsystem bevölkerungsgerecht ist, besteht darin, daß man ausrechnet, welcher Prozentsatz der Gesamteinwohnerschaft eines Staates erforderlich und genügend ist, um die Mehrheit der Sitze in den beiden Kammern zu erlangen. Das Ideal der Wahlgerechtigkeit oder auch Wahlgleichheit, daß der Prozentsatz eine Kleinigkeit über fünfzig liegt, ist natürlich beim reinen Mehrheitssystem niemals zu erreichen und kommt auch bei einer noch so ausgewogenen Verhältniswahl, die mit einer Wahlkreiseinteilung operiert, nicht in Frage. Vierzig Prozent kommen daher der Wahlgerechtigkeit nahe und je geringer der Prozentsatz ist, desto ungerechter, weil ungleicher ist das Wahlrecht. 10 Legt man diesen (40 Maßstab zu Grunde, so entsprechen ihm nur 26 der 50 (Nebraska hier eingerechnet) Staaten. Von diesen 26 wird in nur fünfen 1 1 darauf abgestellt, daß beide Häuser die 40°/o-Grenze erreichen. Bei 18 der unteren Kammern genügt ein Drittel oder weniger. Beim Senat ist dies in 29 Staaten der Fall. In N e v a d a genügen 8, in Calfornia 10,7, in Vermont 1 1 , 6 , in Connecticut und in Florida 1 2 und in Arizona 12,8 °/® dazu! Wenn möglich noch krasser ist das Mißverhältnis zwischen dem der Einwohnerzahl nach kleinsten und dem größten Wahlkreis. Beispiele, endlos aufzuzählen, sind: California: 14 294 : 6 038 7 7 1 (der Bezirk von Los Angeles); Florida: 9 543 : 935 047; Illinois: 53 508 : 565 300; Idaho: 9 1 5 : 9 3 4 6 0 ; N e w Jersey: 48 555 : 923 545; Rhode Island: 486 : 47 080. In der ganzen Tabelle ist nicht ein einziger Staat, in welchem die tatsächlichen Zahlen auch nur annähernd dem Wahlkreiskoeffizienten entsprechen, der sich dann ergibt, wenn man die Gesamt10

Siehe die sorgfältigen statistischen Tabellen bei Arthur J . Goldberg, The

of Malapportionment, 11

Yale,

S. 890 f f .

Massachusetts, N e w Hampshire, Oregon, West Virginia und "Wisconsin.

Statistics

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ainwohnerschaft des Staates durch die zu besetzenden Parlamentssitze dividiert. Das Ergebnis dieser ermüdenden Statistiken ist, daß der städtische Wähler nur einen Bruchteil des Stimmgewiichts hat, das dem ländlischen zukommt und daß diese bei der fortschreitenden Urbanisierung von Jahr zu Jahr schlimmer wird, wenn man bedenkt, daß mehr als ein Drittel der neunundneunzig Staatenkammern seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr neu eingeteilt worden ist. V. Parteipolitische

Folgen der

Wahlungleichheit

Die Folgen des Mißverhältnisses zwischen Bevölkerung und Repräsentation gehen an die Wurzeln der amerikanischen politischen Gesellschaft. Das ungleiche Stimmgewicht des städtischen gegenüber dem ländlichen Wähler, das sich automatisch in die ungleiche Vertretungsstärke umsetzt, inflationiert in den Staatenlegislaturen die konservativ-agrarischen und deflationiert die städtischen Interessen, oder anders ausgedrückt, die Politik wird vom flachen Land und den kleinen Landstädtchen bestimmt, statt von den industriellen, wirtschaftlich weit wichtigeren Bevölkerungszentren. Und selbst gegenüber dem verminderten Gewicht der urbanisierten kommt die suburbane Wählerschaft vollends unter die Räder. Dies wirkt sich vor allem in der Steuerpolitik aus, die die urbanisierten Sektoren weit stärker belastet als die rein agrarischen, andererseits aber die Städte in der Zuteilung von öffentlichen Geldern sehr stiefmütterlich behandelt. In der gesamten Einstellung der Gesetzgebungskörperschaften zu den Bedürfnissen der Stadt macht sich die uralte Erbfeindschaft zwischen Stadt und Land allenthalben bemerkbar. Parteipolitisch gesehen bedeutet das ungerechte Wahlsystem in vielen der Schlüsselstaaten die dauernde Eingrabung der Republikaner in der Macht, wenn man mit den üblichen Vorbehalten annimmt, daß der konservative Farmer und kleine Landstädter republikanisch, zumindest die Mehrzahl der Lohnempfänger in den Städten demokratisch geneigt sind. Diese Annahme wird durch die politischen Mehrheitsverhältnisse etwa in New York, New Jersey, Pennsylvania, Ohio, Michigan, Illinois und California vollauf bestätigt. Für die New England-Bauernstaaten Vermont, New Hampshire oder Maine versteht sich die republikanische Vorherrschaft von selbst, weil das konservative ländliche Element überwiegt, obwohl auch hier, wie neuerliche Wahlergebnisse für Kongreßund Gouverneurswahlen zeigen, eine Korrektur nach der demokrati-

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sehen Seite hin im Gang ist. In .den elf Südstaaten und einigen der sogenannten Randstaaten sind die Demokraten die Nutznießer der perversen Wahlkreiseinteilung, allerdings mit dem Vorbehalt, daß es sich hier bis vor kurzem um Einparteienstaaten handelte12, weil hier über die Sitze bereits in der demokratischen Vorwahl entschieden wird und republikanische Gegenkandidaten bei der eigentlichen Wahl häufig überhaupt nicht aufgestellt werden. Aber trotzdem ein gerechteres Wahlsystem hier die Herrschaft der Demokraten einstweilen nicht beeinträchtigen könnte, hat das Uberwiegen des flachen Landes über das städtische Wählerelement wesentliche und weit über den Lokalbereich hinausgehende Wirkungen. Man mag, von allen theoretischen Erwägungen absehend, geltend machen, daß angesichts der seit Jahrzehnten im Gang befindlichen Abwertung des amerikanischen Föderalismus13 es im Grunde nicht sehr darauf ankommt, wie gerecht oder wie ungerecht die Staatenlegislaturen zusammengesetzt sein mögen. Wie in anderen zeitgenössischen Föderativstaaten werden die wichtigen Entscheidungen heute auf der bundesstaatlichen und nicht mehr auf der einzelstaatlichen Ebene getroffen. Die Staatenlegislativen haben nicht nur deshalb an Bedeutung — und damit auch an Prestige — verloren, weil ihre Repräsentativtechnik den Volkswillen verfälscht, sondern auch deshalb, weil es jetzt der Staatengouverneur ist, auf den der Scheinwerfer der einzelstaatlichen Politik fällt. Bei seiner Wahl, die in der überwiegenden Regel durch die Gesamtwählerschaft ohne Rücksicht auf die bestehende Wahlkreiseinteilung erfolgt, macht sich der Volkswillen unmittelbar geltend. Daraus erklärt sich, daß der Gouverneur immer häufiger derjenigen Partei angehört, die in der Gesetzgebungskörperschaft nicht die Mehrheit hat. Dem Durchschnittswähler ist seine Legislative Hekubah, aber es kommt ihm darauf an, wer Staatsgouverneur wird, und die Gouverneurstellung ist heute ein besseres Sprungbrett zur Präsidentschaft als irgendein anderes Amt. Mit anderen Worten, was die Staatenlegislaturen an Einfluß verloren haben, ist dem Staatengouverneur zugewachsen. Aber dem Argument, die Staatenlegislaturen seien letztlich unwichtig, kann mit zwei starken Gegenargumenten begegnet werden. Es sind die Staatenlegislaturen, die nach Maßgabe der Volkszählung die alle zehn Jahre verfassungsrechtlich vorgeschriebener Neueinteilung der Kongreß12

Bei den Kongreßwählen von i960 und 1962 sind beachtliche Einbuchtungen des

Einparteienzustands auch im Süden, etwa in Florida, Texas, Virginia erfolgt. 13 Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 1 1 6 ff.

Baker

v. Carr

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Wahlkreise vornehmen. Die Zusammensetzung der Staatenlegislaturen ist also nicht ohne direkten Einfluß auf die Bundespolitik. Zum anderen aber: Eine Eigentümlichkeit des amerikanischen Kongresses ist, daß nach dem Grundsatz der Seniorität (Anciennität) 14 dasjenige Mitglied eines Ausschusses, das am längsten dem Kongreß angehört, ein gewohnheitsrechtlich verbrieftes Recht auf den Vorsitz hat. Die mit der höchsten Seniorität ausgestatteten Kongreßmitglieder stammen aber fast ausschließlich aus Dörfern und kleinen Landstädten. Der hemmende Einfluß solcher Leute auf die Politik eines fortschrittlichen Präsidenten ist also kaum zu überschätzen. Auch hier hat die veraltete Wahlkreiseinteilung eine unmittelbare Wirkung auf die Bundespolitik. Es bedarf keiner Begründung, daß die je nach Lage des Falles republikanischen oder demokratischen Mehrheiten in den Staatenlegislaturen keine Veranlassung haben, dem sie begünstigenden Zustand durch freiwillige Änderung der Wahltechnik ein Ende zu machen. Die spoils der Macht sind zu verlockend, um darauf verzichten zu wollen. Sie halten es mit dem Lindwurm Fafner: „Ich lieg' und besitz'." Deswegen werden auch die verfassungsrechtlich vorgeschriebenen periodischen Neueinteilungen geflissentlich unterlassen. Wenn Richter Frankfurter meinte15, das Gericht solle die Hände von dem Problem lassen, weil „in einer demokratischen Gesellschaft die Abhilfe von dem aufgerüttelten Volksgewissen kommen und das Gewissen der Repräsentanten versengt (searing) werden müsse", so klingt dies wie eine Stimme aus dem Elfenbeinturm. Denn ein so erfahrener Mann müßte schließlich wissen, daß bei Parteipolitikern das Gewissen eine Mangelware ist und daß die Wählerschaft sich resigniert damit abgefunden hat, daß gegen die Cliquen der beati possidentes nichts ausgerichtet werden kann. Sollte also der allgemein empfundene Mißstand der Wahlungleichheit abgestellt werden, so konnte dies nur durch ein Eingreifen von außen geschehen. VI.

Die Intervention

des Supreme Court als policy

making-Funktion

Angesichts des Versagens anderer Abhilfemittel ist es daher von größter Bedeutung, daß der S. C. imit Baker v. Carr dem parteipolitischen Spuk ein für allemal ein Ende machte. Er ist damit, wie verschiedentlich zuvor, aber selten mit solch unverhüllter Offenheit zum Träger des policy making-Funktion geworden. Wenn Richter Harlan 14 15

Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 189 fr, Fraenkel, a.a.O., Baker v. Carr, a.a.O., S. 270.

S. 157 ff.

Karl

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Loewenstein

von der Minderheit sich beklagte 16 , die Entscheidung sei mehr „an adventure in judicial experimentation than a solid piece of constitutional adjudication", so kann man dem nicht beistimmen. Sie ist in Tenor und Ausführung in durchaus einwandfreie juristische Formen gekleidet. Aber ihr Charakter ist letztlich ein gesetzgeberischer Akt, der materiell an die Stelle der zu lange sich passiv verhaltenden an sich zuständigen Gesetzgebungsfaktoren tritt. Sie geht jedoch, und darin liegt der zutreffende Kern von Richter Harlans Bedenken, über die richterliche Tätigkeit der Anwendung und Auslegung des geltenden Rechts weit hinaus und stellt den Rahmen eines Ermächtigungsgesetzes an die Adresse der mit der Durchführung betrauten Untergerichte dar. Darüber kann die herkömmliche juristische Form einer Streitsentscheidung nicht hinwegtäuschen. Es wird mit aller juristischer Kunstfertigkeit dem Vorbringen der Antragsteller und der Antragsgegner nachgegangen, wobei das volle Instrumentarium der Präzedenzien zum Einsatz kommt, ganz im Gegensatz zu den Schulentscheidungen, die ausschließlich mit soziologischen und sozialpsychologischen Erwägungen begründet und in denen nicht ein einziger Präzedenzfall herangezogen worden war. Mit der bei solchen Grundentscheidungen üblichen Vorsicht und auch hier der Technik der Schulentscheidungen folgend, überläßt der S. C. die Durchführung den zuständigen Untergerichten. Nicht einmal die dabei der Wahlgerechtigkeit gemäßen Maßstäbe — standards — werden von ihm angegben; auch sie bleiben den Untergerichten überlassen. Hierin liegt gleichfalls eine die Tradition geradezu revolutionierende Ausweitung der richterlichen Funktion, was erstaunlicherweise in der amerikanischen Öffentlichkeit übersehen wird: Schon bei den Schulentscheidungen wurden die Untergerichte damit betraut, die von den örtlichen Schulbehörden ausgearbeiteten Integrationspläne auf ihre Übereinstimmung mit der oberstrichterlichen Anweisung der Rassenmischung zu prüfen und gegebenenfalls auf ihre Verbesserung zu dringen. Die Bundesgerichte haben also weitgehend eine verwaltungstechnische Tätigkeit auszuüben, die mit der richterlichen Funktion unmittelbar nicht zu tun hat. In analoger Weise überträgt Baker v. Carr den Untergerichten echte gesetzgeberische Aufgaben: Sie müssen die von den Staatenlegislaturen ausgearbeiteten Neueinteilungsschemata unter dem Gesichtspunkt der Wahlgerechtigkeit nach den ihnen angemessen erscheinenden Standards überprüfen und gutheißen und sie können bei Versagen der Staateninstanzen ihrerseits die ihnen angemessen erscheinende Neueinteilung 18

Baker v. Carr, a.a.O., S. 339.

Baker v. Carr

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auferlegen. Zweimal innerhalb eines Jahrzehnts also übernimmt der S. C. die policy determination und gleichzeitig durch die ihm unterstellten Untergerichte die policy execution.17 Was würden wohl die geistigen Väter der Verfassung zu dieser Machtausweitung der gerichtlichen Gewalt gesagt haben, etwa Montesquieu, dem sie „en quel que fafon nulle" erschien18 und Hamilton, dem sie als „the weakest of the three departments of power" galt und der er weder „force nor will" zuschrieb?19 Eine echte Grundentscheidung ist niemals lediglich opportunistisch. Sie muß ethisch, von Wertmaßstäben determiniert sein. Diese ergeben sich vorliegendenfalls für den S. C. in den Grundsätzen einer demokratischen Staatsgestaltung, die eine parteipolitisch ausgerichtete Repräsentativtechnik ablehnt und nach besten Kräften innerhalb des Bereichs der politischen Praxis dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, hier der Wahlgleichheit, entspricht. Letzten Endes kommt hier wieder der das ganze amerikanische Verfassungsleben durchziehende, wenn auch oft zeitweilig verdrängte Leitgedanke der natürlichen Gerechtigkeit, das Naturrechts zum Durchbruch.20 VII. Der Rechtsgehalt der Entscheidung Trotz Länge und Spannweite der Entscheidung ist ihre verfassungsrechtliche Ausbeute verhältnismäßig mager. D a das Stimmgewicht der Antragsteller unvernünftig verkürzt ist, haben sie Anspruch auf den bundesrechtlichen Schutz der Gleichheit vor dem Gesetz (equal protection of laws) nach dem X I V . Amendment. Dabei waren aber einige wesentliche Vorfragen zu klären. Die Aktivlegitimation (standing) der Kläger machte keine Schwierigkeiten, wohl aber der Einwand der NichtJustiziabilität, der bisher allen Wahlrechtsstreitigkeiten in der Union wie den Staaten den Weg zur bundesgerichtlichen Austragung versperrt hatte. Hier half sich das Gericht mit einer komplizierten Unterscheidung zwischen Zuständigkeit (jurisdiction) und Nicht-Justiziabilität. 21 Dadurch, daß das Bundesgericht einen Fall als solchen annimmt, steht ihm auch die Entscheidung über seine gerichtliche Austragbarkeit zu. Aber 17 18 19 20 21

Vgl. Karl Loewenstein, Verfassungslebre, Esprit des Lois, X I , 6. The Federalist N o . 78. Siehe Fraenkel, a.a.O., S. 343 ff. A.a.O., S. 198 ff.

Tübingen 1959, S. 39 ff.

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das erscheint nur als ein juristischer Ausweg, um zu sagen, daß eben von nun an, entgegen der bisherigen Stellungnahme, Wahlrechtsstreitigkeiten nicht mehr zu den justizfreien Hoheitsakten gehören. Bei der nachfolgenden Aufzählung 22 der noch gültigen Kategorien derselben wird dann eben diejenige der Wahlrechtsstreitiigkeiten ausgeklammert. Im Zusammenhang damit wird auch die sogenannte Garantieklausel der Verfassung (Artikel IV, Sektion 4) berührt, die den Staaten von bundeswegen eine „republikanische Regierungsform" zusichert.23 Sie bildet den noch immer intakten Kern der political questions. Auf den vorliegenden Fall hat sie aber nach Ansicht des S. C . keinerlei Einfluß. 24 Man könnte gegenteiliger Ansicht sein. Ist nämlich die Garantieklausel mehr als ein antiquarisches Requisit, könnte ihre eigentliche Substanz gerade darin bestehen, daß eine „republikanische Regierunsform" eben ein bevölkerungsgerechtes Repräsentativsystem bedingt. Weit wesentlicher dagegen — und dies wurde von der Minderheit nicht übersehen — ist schließlich, daß die Entscheidung, wie schon vorher die Schulentscheidungen, den Föderalismus mitten ins Herz trifft. Wo bleibt die vielgerühmte Souveränität der Einzelstaaten, die es ihnen erlaubt, ihr politisches Format ohne Einmischung der Zentralgewalt zu gestalten, wenn diese es sich herausnimmt, in ihre Intimsphäre, die Bildung ihres gesetzgeberischen Willens, einzudrängen? Obwohl das Gericht hierüber schweigt, kommt hier die Supremacy-Klausel des Artikel V I , Absatz 2 der Bundesverfassung zum Zug, die unbedingt gilt „anything in the constitution or the laws of any state to the contrary notwithstanding". VIII.

Der Vollzug der

Entscheidung

Die rechtsstaatlich so betrübliche Erfahrung nach den Schulentscheidungen, daß die davon betroffenen Südstaaten sich ihrer Durchführung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Mitteln des „massiven Widerstandes" widersetzen 25 , — eine Bewegung, die noch nicht zum Abschluß gekommen ist —, hat sich nicht wiederholt. Im Gegenteil, die Staaten beflissen sich einer überstürzten Eile, dem Spruch des S. C. zu genügen, allerdings begreiflicherweise 22 23 24 25

A.a.O., S. 2 1 1 — 2 2 5 . Vgl. Loewenstein, in dem in Anm. 1 zitierten Werk, S. 91 f. A.a.O., S. 224. Loewenstein, a.a.O., S. 606 ff.

Baker v. Carr

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nicht ohne zu versuchen, ihre Wirkung abzuschwächen. Die Frage der Wahlgleichheit w a r eben weit weniger emotionell geladen als diejenige der Negerintegration. Baker v. Carr löste eine Lawine von Prozessen sich benachteiligt fühlender Stadtwähler vor den Staaten- oder den Bundesgerichten aus — etwa die Hälfte vor der ersteren. Bereits binnen sieben Wochen nach der Entscheidungsverkündung waren Verfahren vor den Gerichten in 22 Staaten anhängig und in weiteren acht angekündigt. Darunter befanden sich N e w Y o r k , Michigan, California und Wisconsin. Nach dem Stand vom i . April 1963 waren 79 Prozesse in 38 Staaten anhängig gemacht worden, von denen 42 in 19 Staaten dahingehend entschieden waren, daß den politischen Instanzen Neuverteilungsmaßnahmen aufgegeben wurden. Bei den noch schwebenden Klagen wurde vielfach ausgesetzt um den Staatenlegislaturen Gelegenheit zu geben, ihr Haus selbst in Ordnung zu bringen. Auch hier ist der Ausgang nicht zweifelhaft, da das Bundes-Untergericht, kommt in absehbarer Zeit kein billigenswerter Neueinteilungsplan zustande, sich vorbehält, seinerseits entsprechende Maßnahmen anzuordnen. Beim Obersten Gerichtshof schwebten im gleichen Zeitpunkt, nach Erledigung des Falles Georgia, noch zehn Verfahren, unter denen sich solche die Staaten Maryland, Michigan, N e w Y o r k , Oklahoma und Virginia betreffend befinden. Ein Ende der Prozeßflut ist erst abzusehen, wenn sich alle Staaten mit einer pervertierten Repräsentativtechnik dem Spruch des S. C. anbequemt haben werden. Außerdem ergoß sich eine Sturzwelle gesetzgeberischer Maßnahmen über das Land. Viele Staaten zogen es vor, einer Gerichtsentscheidung zuvorzukommen oder ihr die Spitze abzubrechen. Eile war geboten, da 1962 ein Wahljahr w a r und man nicht Gefahr laufen wollte, daß die Bundesgerichte Wahlen, die nach dem alten Stil abgehalten wurden, f ü r ungültig erklären oder von sich aus Maßnahmen und Anordnungen für die Wahlen treifen würden, die den Staaten unerwünscht waren. Nach dem Stand vom 1. April 1963 ergibt sich das folgende Bild: Seit dem Erlaß von Baker v. C a r r nahmen 15 Staaten Neueinteilungen einer oder auch der beiden Kammern vor, so daß zehn Häuser und elf Senate auf eine bevölkerungsgerechtere Vertretung umgestellt wurden. In 1 7 weiteren Staaten sind entsprechende Maßnahmen unter Beratung der Gesetzgebungskörperschaften und in zahlreichen anderen Staaten steht ihre Einbringung bevor. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1963 wurden beide Häuser in sieben Staaten umgestellt (Colorado, Delaware, Florida, Iowa, Kentucky, Mississippi und Wyoming).

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Das bedeutet allerdings nicht, daß die Frage in den betreffenden Staaten bereits endgültig gelöst ist. Die Bundes-Untergerichte müssen im Lichte der oberstrichterlichen Rechtsprechung dazu Stellung nehmen und gegebenenfalls wird der S. C. das letzte Wort sprechen. N u r acht der 50 Staaten haben bisher von jedweder Maßnahme Abstand genommen, nämlich Arizona, Illinois, Missouri, N e w Mexiko, N e w Jersey, South Carolina, Texas und Utah. Die vier letztgenannten hatten aber im Jahre i 9 6 i vor Baker v . Carr Neueinteilungen vorgenommen, wobei diejenige von Utah vom republikanischen Staatsgouverneur mit dem Veto belegt wurde. Selbst dort, w o die Staaten an sich gewillt sind, die veraltete Wahlkreiseinteilung durch eine dam Gleichheitsgrundsatz entsprechende zu ersetzen, ergeben sich erhebliche zeitraubende Schwierigkeiten, da bei der Neuordnung die Vorschriften der Staatenverfassung eingehalten werden müssen. In manchen Staaten tagen die Staatenlegislaturen nicht alljährlich oder auch die jährliche Session war bereits zu Ende gegangen. Es mußten also Spezialsessionen einberufen werden, beispielsweise in Florida nicht weniger als drei derselben hintereinander, nachdem das zuständige Bundesgericht jedesmal die vorgelegten Pläne als ungenügend zurückgewiesen hatte. In Oklahoma und Wisconsin sah sich das Gericht gezwungen, einen neutralen Sachverständigen als master aufzustellen, dem befohlen wurde, einen Plan auszuarbeiten. In Kentucky hatten sich die Staatsinstanzen — die beiden Häuser der Legislative und der Gouverneur — so festgefahren, daß sie sich schließlich auf einen Kompromiß-Reformplan einigten, den zwei Professoren der politischen Wissenschaften der dortigen Staatsuniversität ausgearbeitet hatten. Bemerkt sei, daß es hier die Republikaner in den Städten waren, die gegen die Wahlkreiseinteilung Sturm liefen, welche die demokratische Minderheit in den ländlichen Bezirken begünstigte. Kentucky hatte die in der Verfassung von 1 8 9 1 alle zehn Jahre vorgeschriebene Neueinteilung bisher nur zweimal vorgenommen, das letzte Mal 1942. Ob der Plan beim Bundesgericht Gnade finden wird, bleibt abzuwarten. In der Mehrzahl der Staaten kann die Neueinteilung, da sie verfassungsrechtskräftig verankert ist, nur durch eine Verfassungsänderung bewerkstelligt werden, welche anläßlich der kommenden Novemberwahlen von 1962 oder eventuell zu einer späteren Zeit ihrerseits der Volksabstimmung unterstellt werden mußte. Die Situation kompliziert sich aber weiter, wenn eine Verfassungsänderung nur durch einen speziell einzuberufenden Verfassungskonvent vorgenommen werden kann, ein Ver-

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Baker v. Carr

fahren, das wiederum in einzelnen Staaten durch Sperrfristen eingeengt ist. Angesichts all dieser und anderer hier nicht erwähnter Schwierigkeiten ist es verständlich, daß die Bundes-Untergerichte, sind sie einmal mit einem Neueinteilungsverfahren befaßt worden, das Heft fest in der H a n d behalten, auch wenn sie einstweilen abwarten, ob die Staateninstanzen eine billigenswerte Lösung zustande bringen. Es stehen ihnen dabei sehr wirksame Druckmittel zur Verfügung: Sie können entweder selbst einen Neueinteilungsplan auferlegen — wie dies in Mississippi und Alabama der Fall war, w o die politischen Instanzen versagt hatten — oder aber bei nicht zeitgerechtem Zustandekommen eines billigenswerten Plans anordnen, daß die nädisten Wahlen at large durchgeführt werden, das heißt, daß die Gesamtbevölkerung eines Staates die Kandidaten einer staatlichen Einheitsliste wählt, statt über die in den einzelnen Wahlkreisen aufgestellten Kandidaten abzustimmen. V o n dieser Möglichkeit wurde beispielsweise 1962 für die Gouverneurswahl im Staat Georgia und die Legislativwahlen in Kansas Gebrauch gemacht. Diese Modalität ist besonders den Republikanern in die Glieder gefahren, da sie dabei Gefahr laufen, von der städtischen Wählerschaft völlig überrollt zu werden, von anderen Unzuträglichkeiten ganz abgesehen, wie etwa, daß der Wähler seine Kandidaten aus einer Liste mit vielen Hunderten von Namen selbst mühsam heraussuchen muß. Letztlich liegt also die Fuchtel sichtbar auf dem Gerichtstisch, wenn sie audi einstweilen beiseite gelegt ist, um den Staaten Gelegenheit zur Ausarbeitung eines Plans zu geben. Die bisherigen Nutznießer können daher höchstens versuchen, in Rückzugsgefechten von ihrem Besitzstand zu retten, was zu retten ist. Aber in absehbarer Zeit, deren Länge sich allerdings nicht voraussagen läßt, werden sich alle Staaten ohne Ausnahme dem gerichtlich angeordneten und gutgeheißenen Grundsatz einer vernünftigen Wahlgerechtigkeit gebeugt haben müssen.

IX. Das Problem der Standards bei der

Neueinteilung

Das dornigste Problem, mit dem sich die Bundes-Untergerichte auseinanderzusetzen haben, ist das der Maßstäbe — standards — , nach denen sich die Wahlgerechtigkeit der ihnen unterbreiteten Einteilungsschemata zu beurteilen hat. Der S. C . hatte dafür keinerlei Anhaltspunkte gegeben, außer daß der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz eine bösartige Verschiedenbehandlung (invidious discrimination) aus-

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schlösse.203 Die Standards müssen also zwischen den Untergerichten und den Staatenlegislaturen ausgehandelt werden, und hier ist der Punkt, w o man Gefahr läuft, in den von Richter Frankfurter vorausgesagten „mathematischen S u m p f " zu geraten. Bei der integralen Mehrheitswahl ist naturgemäß eine mathematisch genaue Wahlgleichheit, bei der jede Stimme gleiches Gewicht hat, unmöglich. In Großbritannien ist es wiederholt vorgekommen, daß eine Partei die Mehrheit der Unterhaussitze erlangte, ohne daß ihr die Mehrheit der Wählerstimmen zugefallen wäre. In Amerika kommt erschwerend die außerordentliche soziale Mobilität hinzu, da ein starker Prozentsatz der Bevölkerung andauernd auf der Wanderschaft von Staat zu Staat auf der Suche nach besseren Erwerbsmöglichkeiten begriffen ist.26 Unter den Standards, nach denen die Wahlgerechtigkeit beurteilt werden kann, finden sich die folgenden, die bereits von den mit Zuteilungsfragen befaßten Staatengerichten herangezogen worden waren: Der „Idealkoeffizient", der sich aus der Teilung der Bevölkerungsziffern aller Wahlbezirke durch die zu füllenden Parlamentssitze ergibt; mit diesem wird dann die tatsächliche Einwohnerzahl eines bestimmten Wahlbezirks verglichen. Nach einem anderen Maßstab werden die Wahlbezirke mit den größten und kleinsten Einwohnerzahlen miteinander verglichen, wobei unterstellt wird, daß in einem bestimmten Bezirk die Wahlgerechtigkeit nur dann verletzt ist, wenn das Verhältnis von 2 : 1 überschritten ist; nur eine solche Überschreitung schienen die Staatengerichte geneigt als gleichlieitsverletzend anzusehen. Bei anderen Methoden wird dabei auch der Idealkoeffizient in den Vergleich mit einbezogen. Es gibt auch weitere noch kompliziertere Schemata, bei denen nicht ein einzelner Wahlkreis, sondern eine Gruppe derselben dahingehend untersucht wird, mit welchem Prozentsatz sie von dem errechneten idealen oder Durchschnittswahlkreis abweichen. Trotz all dieser Versuche konnte sich aber eine allgemein annehmbare Bemessungsgrundlage nicht herauskristallisieren. Im allgemeinen muß man sich damit abfinden, daß die Wahlkreise bevölkerungsmäßig nicht annähernd gleich sein können und daß ein Verhältnis von 2 : 1 nicht als unbedingt gleichheitsverletzend angesehen 25a 26

Siehe Richter Douglas, a.a.O., S. 244.

Bei der letzten Präsidentenwahl sollen sechs bis acht Millionen ihr Stimmrecht nicht haben ausüben können, da sie den Wohnsitzvoraussetzungen (sechs Monate bis zu einem J a h r ) nicht genügen konnten.

Baker v. Carr

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werden muß. Man wird also einen gangbaren Standard nicht in der Ubereinstimmung mit dem Idealwahlkreis finden, sondern umgekehrt in der nach der Sachlage zulässigen Abweichung von ihm. Dies hat den Vorteil, daß auf besondere geographische Gegebenheiten, wie etwa den Verlauf der Grafschaftsgrenzen Rücksicht genommen werden kann, da ja die Absteckung der Wahlkreise notwendig mit den Verwaltungseinheiten zusammenfallen muß. Die Standards müssen also zwar nach dem Gleichheitsgrundsatz ausgerichtet, aber auch elastisch sein. Daraus ergibt sich der weitere Maßstab der prozentualen Abweichung von der theoretisch errechneten Durchschnittseinwohnerzahl aller Wahlkreise. Welcher Prozentsatz der Überschreitung, ob 10, 15 oder 20, ist dann eine Ermessensfrage. Es ließe sich auch denken, den Gerechtigkeitsmaßstab aus dem Vergleich des Stimmgewichts des Wählers in dem volkreichsten und dem am wenigsten bevölkerten Wahlbezirk abzuleiten. Schließlich kann ein Anhaltspunkt für die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Repräsentativsystems als ganzes gesehen darin gefunden werden, das man ausrechnet, wieviel Prozent der Gesamteinwohnerschaft nach ihrer Wahlkreiseinteilung in der Lage sind, eine Mehrheit in der gesetzgebenden Körperschaft entweder für beide Häuser oder auch nur f ü r eines von ihnen zu bilden. Hier würde ein bestimmter Ansatz, der etwa bei 40 °/o liegt, die Grenze bilden, unter welcher ein Wahlsystem als untragbar anzusehen wäre. Man wird dabei f ü r den Senat wohl nicht den gleichen rigorosen Maßstab wie f ü r die Versammlung anlegen dürfen. Wo allerdings beide Häuser unter dem Ansatz liegen, ist die invidious discrimination nicht zu bestreiten. Wahlstatistikern und politischen Soziologen ist also ein weites Betätigungsfeld eröffnet. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Bundes-Untergerichte weder den gleichen Maßstab für alle Staaten noch bei einem einzelnen Staat einen rein mechanischen Maßstab anlegen können oder werden. Letzten Endes wird der S. C. wieder bei der Beurteilung der von den Untergerichten gutgeheißenen oder abgelehnten Einteilungsschemata das letzte Wort haben, und es wird voraussichtlich noch Jahre dauern, bis diese Fragen audi nur einigermaßen befriedigend gelöst sein werden. X. Zusätzliche

Verfassungsrechtsfragen

Abgesehen von der Aufgabe, einen vernünftigen Standard für die Neueinteilungspläne zu finden, müssen sich die Bundes-Untergerichte mit einem Rudel weiterer verwickelster Verfassungsrechtsfragen auseinandersetzen. 17

Fraenkel

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( ι ) Wo die Zuweisungsgrundsätze oder Verteilungsschlüssel in der Staatsverfassung verankert sind — die sogenannte de jure-Situation — wie etwa in N e w Jersey, N e w Y o r k , California, Connecticut und auch in Tennessee, bedarf es zur Herstellung einer bevölkerungsgerechten Neueinteilung einer Verfassungsänderung. In einer überwiegenden Mehrzahl der Staaten muß eine von der Staatenlegislative angenommene Verfassungsänderung nachher von der Wählerschaft in der Volksabstimmung ratifiziert werden. In nicht wenigen anderen Staaten kann die Verfassungsänderung auch, teils unter Einschaltung, teils mit Umgehung der Legislative, von den Wählern mit dem Volksbegehren eingeleitet und von ihnen dann in der Volksabstimmung durchgeführt werden. In allen Staaten besteht daneben die Technik der Verfassungsänderung durch einen einzuberufenden Verfassungskonvent. In N e w Hampshire beispielsweise ist dies die einzige Möglichkeit einer Verfassungsänderung. Wo mit dem Verfassungskonvent operiert wird, bestehen nicht selten weitere Vorschriften, das ein solcher nicht vor Ablauf einer bestimmten Frist wiederholt werden kann. 27 Wo also die Einteilungsgrundsätze verfassungsrechtssatzmäßig festgelegt sind, ist das Verfahren der Anpassung an die Erfordernisse des S. C . langwierig, zeitraubend und wegen der Unberechenbarkeit des Volkswillens keineswegs erfolgssicher. In zwölf Staaten, die gerichtlich zur Neueinteilung angehalten worden waren oder aber den sonst zu erwartenden Gerichtsbefehl abwenden wollten, wurden anläßlich der letzten Wahlen von 1962 Verfassungsänderungen oder andere entsprechende Gesetzgebungsmaßnahmen der Volksabstimmung unterstellt. Die Ergebnisse waren unbefriedigend und widerspruchsvoll. In Florida, California, Washington und West Virginia wurden Neueinteilungsvorschläge von den Wählern verworfen, teils weil sie ihnen nicht weit genug, teils zu weit gingen. Wo sie durchgingen, wurden sie aber wieder mit Ungültigkeitsklagen vor den Staatengerichten angegriffen, worüber dann, wenn es sich um eine inmitte liegende federal question handelt, letzlich wieder der S. C. entscheiden muß. (2) Weiterhin ist streitig, ob die Bundesgerichte überhaupt eingreifen können, wenn nach der Staatsverfassung die Wählerschaft durch die Einrichtungen von Initiative und Referendum selbst in der Lage ist, 27 Dies trifft in Tennessee zu, wo ein Verfassungskonvent nur alle sechs Jahre einberufen werden darf. Der letzte wurde dort 1959 abgehalten. Siehe Baker v. Carr, a.a.O., S. 193, Anmerkung 14. Es wird also voraussichtlich bis 196$ dauern, ehe die Sache in Ordnung kommt.

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unter Umgehung einer widerborstigen Legislative eine ihr genehme Neueinteilung zu beantragen und in K r a f t zu setzen. Von den 50 Staaten sahen (1962) 19 die Initiative und das Referendum vor und 21 besaßen das Referendum ohne Initiative; in letzterem Fall allerdings kann das V o l k nicht vollgültig zum Zuge kommen, da es nur bestätigen oder verwerfen kann, was zuerst die Gesetzgebungskörperschaften passiert hat. D e r S. C . hatte in einem lange zurückliegenden Fall, der allerdings die Einteilung der Kongreßwahlkreise zum Gegenstand hatte (Ohio ex rel. D a v i s v. Hildebrandt, 241 U.S. 565, 1 9 1 6 ) die Benutzung der unmittelbaren Volksgesetzgebung f ü r solche Zwecke gutgeheißen. Seit 1 9 3 0 wurde von diesen Möglichkeiten der unmittelbaren Volksgesetzgebung anläßlich der Neueinteilung der Wahlkreise u. a. in den Staaten A r k a n sas, California, M a r y l a n d , N o r t h Dakota, Ohio, Oregon und Washington mit wechselndem E r f o l g Gebrauch gemacht. Das Argument, das V o l k solle selbst sprechen, wenn es dazu verfassungsrechtlich ermächtigt sei, ist bestehend. Dagegen spricht aber einmal, daß das Verfahren, wenn es sich um eine Verfassungsänderung handelt, sehr zeitraubend und möglicherweise Jahre beanspruchend ist, wenn die Abstimmungscermine mit den nur alle zwei J a h r e stattfindenden Wahlen zusammenfallen müssen, zum anderen aber, daß auf die Weisheit der v o x populi, v o r allem, wenn es sich um den homo Americanus handelt, keinerlei Verlaß ist. Beispielsweise hatten die Wähler im Staat Michigan einen Neueinteilungsplan f ü r ihre Gesetzgebungskörperschaften im Referendum gutgeheißen ( 1 9 5 1 ) , er mußte aber nachher vom S. C . des Staates f ü r verfassungswidrig erklärt werden, wenigstens so weit er die Neueinteilung f ü r den Senat betraf. 28 D e r Schweizer Wähler, seit Generationen an die Techniken der unmittelbaren Volksgesetzgebung gewöhnt, handhabt sie sachlich und selbständig. In Amerika dagegen werden Referendumskampagnen vielfach von public relations-Firmen im Auftrag bestimmter Wirtschaftsinteressen wie ein Reklamefeldzug f ü r den Absatz von Zahnpasta a u f gezogen und ihr Ausgang ist infolge der Bearbeitung der öffentlichen Meinung unabsehbar. In solchen Fällen müßte außerdem vom Bundesgericht nachgeprüft werden, ob der vorgelegte Neueinteilungsvorschlag billigenswert und ob die Technik der Volksabstimmung, wenn auf einer Wahlkreiseinteilung beruhend, nicht ihrerseits fehlerhaft ist. Die Methoden der unmittelbaren Volksgesetzgebung können daher kaum als E r 28

1T-

Scholle v. Hare, 360 Mich. 1, 104 M . W . 2 d 63 (i960).

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satz für ein von der Legislative ausgearbeitetes und vom Bundesgericht gutgeheißenes Einteilungsschema angesehen werden. (3) Zunehmend taucht auch die Frage der sogenannten föderativen Formel als Kompromißlösung auf. Müssen gleichzeitig beide Häuser dem bevölkerungsgerechten Gleichheitsgrundsatz entsprechen oder genügt es, wenn dies bei der Versammlung, dem unteren Haus, der Fall ist, während der Senat an einer geographischen Repräsentativtechnik festhält? Von Seiten der Republikaner, die aus der zweiten Alternative Vorteile ziehen würden, wird dabei auf das Vorbild des Senats der Vereinigten Staaten hingewiesen, der ausschließlich auf der Territorialeinheit aufgebaut ist, wonach jedem Staat ohne Rücksicht auf seine Einwohnerzahl je zwei Senatoren, und zwar unentziehbar zugewiesen sind. Das föderalistische Argument wurde von Bundes-Untergerichten verschiedentlich in Erwägung gezogen. Ein derartiger Kompromiß, wonach die geographische Basis im Senat beibehalten werden darf, wenn nur die Versammlung volldemokratisch organisiert ist, scheint, wenn nicht alles trügt, das Hauptziel in der Strategie der konservativ-agrarischen Interessenten zu bilden, dessen Erreichung ihnen gestatten würde, das obere Haus zum dauernden Bollwerk gegen die städtische Dampfwalze auszugestalten. Der S. C . hat dazu unmittelbar noch keine Stellung genommen, aber die unmißverständliche Ablehnung der föderativen Formel durch Richter Douglas bei der Entscheidung über das county unit-System in Georgia mag als richtungweisend angesehen werden. 29 In der Tat ist die Parallele durchaus abwegig. Die Union setzte sich von Anfang an aus vorher souverän gewesenen Staaten zusammen, die ohne die Garantie der gleichen Senatsmitgliedschaft überhaupt nicht beigetreten wären. Die Flächeneinheiten der Staaten dagegen verdanken ihre Entstehung einem historischen Z u f a l l und sind heute politisch bedeutungslos geworden.

XL

Folgen für die Parteiendynamik

Der politisch wesentliche Kern der Entscheidung ist natürlich, welche Folgen sich aus ihr, ist einmal die Neuverteilung durchgeführt und ein29 Der District Court als Vorinstanz war hier der Auffassung gewesen, eine Wahlkreiseinteilung sei nicht α limine als den Gleichheitsgrundsatz verletzend anzusehen, wenn die Wahlungleichheit, über die sich eine bestimmte Grafschaft beklage, nicht erheblicher ist als die Benachteiligung, der ein Staat der Union infolge seiner nicht bevölkerungsgerechten Vertretung im Electoral College ausgesetzt ist. Richter Douglas ließ dieses Argument aus der Bundesphäre aber nicht gelten.

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gespielt, für die beiden Traditionsparteien ergeben werden. Es wurde ausgerechnet 30 , daß die Neueinteilung in den wichtigsten Staaten der atlantischen Küste, des mittleren und des pazifischen Westens den Demokraten in den Städten zugute kommen würde. Sicher ist, daß die eingegrabenen republikanischen Mehrheiten in N e w Y o r k , N e w Jersey, Pensylvania, Illinois, Michigan, California verschwinden müßten. Auch in den N e w England-Staaten würde die republikanische Vorherrschaft entschieden gelockert werden. In den demokratischen Südstaaten würde sich einstweilen kaum ein echtes Zweiparteiensystem durchsetzen, außer etwa in Florida oder Texas, seine Chance für später aber erleichtert sein. Wesentlich ist aber hier die Zurückdrängung der Hinterwäldler durch eine fortschrittlichere städtische Vertretergruppe. An dem Löwenanteil, den bei der R e f o r m die Demokraten davontragen, könnte auch die zu erwartenden republikanischen Gewinne in den Großstadt-Vororten oder im Süden nicht viel ändern. Man muß sich vor Augen halten, daß trotz des scheinbaren Gleichgewichts der beiden Traditionsparteien bei der letzten Präsidentenwahl ( i 9 6 o ) die Demokraten seit 31 Jahren, mit der Ausnahme der republikanischen Kongresse von 1945/46 und 1 9 5 3 / 5 4 , .die Mehrheit gehabt haben. D a ß die Durchführung der N e u verteilung in den Staaten die demokratische Mehrheit zu einer Dauereinrichtung gestalten könnte, liegt also keineswegs außerhalb des Bereichs des Möglichen.

XII.

Der Einfluß

auf die

Kongreßwahlen

Baker v. Carr eröffnet aber noch weitere politische Perspektiven. Einstweilen unterwirft die Entscheidung nur die einzelstaatlichen W a h len der bundesgerichtlichen Korrektur. Es kann aber nicht ausbleiben, daß auch die Kongreßwahlen in den Strudel gezogen werden. 31 Audi die Kongreßwahlkreise sind vielfach von den republikanischen Staatenmehrheiten nach ihren Parteiinteressen mit H i l f e des bewährten gerrymandering zurechtgeschnitten worden, so daß auch auf der Bundesebene dem Grundsatz der Wahlgleichheit Abbruch getan ist. 30

The Fall 1962 Congressional Quarterly Guide, Washington 1962, S. 84. Gerade diese Frage steht derzeit im Vordergrund der Erörterung. Siehe beispielsweise: Challenge to Congressional Districting: After Baker v. Carr, Does Colegrove v. Green Endure? ,Columbia Law Review, Bd. 63 (1962), S. 98; Jerold Israel, Charting a Course through the Mathematical Quagmire: The Future of Baker v. Carr, Michigan Law Review, 1962, S. 107. 31

262

Karl

Loewenstein

Angesichts seiner herkömmlichen Zurückhaltung in föderalistischen Fragen ist ein Eingreifen des Kongresses selbst nicht zu erwarten. Frühere Kongreßgesetze (Apportionment Acts) von 1842 (5 Stat. 491) und 1862 ( 1 2 Stat. 472) hatten denjenigen Staaten, die zu mehr als einem Kongreßmandat berechtigt sind, die Verpflichtung auferlegt, die allgemein vorgeschriebenen Einerwahlkreise sollten „angrenzend" (contiguous), und nachfolgende Gesetze von 1901 und 1 9 1 1 hatten hinzugefügt, sie sollten in sich geschlossen (compact) sein. Sonderbarerweise unterließen aber die Gesetze von 1929 (36 Stat. 2 1 ) und 1941 (55 Stat. 7 6 1 ) einen derartigen Hinweis und es fehlte auch eine Verpflichtung bevölkerungsmäßiger Gleichheit. 32 Der S. C. nahm daher an, die Verpflichtungen dieser A r t seien verfallen (Wood v. Broom, 287 U . S. 1 , 1932). Einer gerichtlichen Abhilfe gegen Wahlungleichheiten bei den Kongreßwahlen stand seit jeher die Auffassung des S. C. entgegen, sie seien als political questions nicht justiziabel. Der Schlüsselfall ist hier Colegrove v. Green (328 U.S. 549, 1946), in welchem ein Professor der politischen Wissenschaften in Chicago vergeblich sich darüber beschwert hatte, daß eine Stimme in einem viel kleineren Landwahlkreis weit mehr Gewicht habe als seine in einem Wahlkreis mit fast einer Million abgegebene Stimmen. 33 Es kann nun nicht ausbleiben, daß nunmehr audi Colegrove v. Green unter die Lupe von Baker v. Carr genommen werden muß. Verglichen mit den handgreiflichen Wahlungleichheiten in den Staaten ist das repräsentative Bild des Repräsentantenhauses allerdings nicht übermäßig entstellt. Bevölkerungsverschiebungen innerhalb der verschiedenen Staaten ist dadurch Rechnung getragen, daß nach der Verfassung (Artikel I, Sektion 2, Klausel 3, Satz 3) alle zehn Jahre nach der Volkszählung eine Neuzuteilung der Sitze an die Staaten erfolgen muß.34 Dies geschieht jetzt auf Grund der vorerwähnten Gesetze von 1929 und 1941 automatisch, zum letzten Mal 1 9 6 1 , wo nicht weniger als 40 Sitze neu zugewiesen wurden und 25 Staaten Sitze abgaben oder gewannen. Die Staatenlegislaturen nehmen dann meist eine Neueinteilung innerhalb ihres Gebietes vor 35 , wobei sie sich die sich reichlich 32

Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 182 .

33

Frühere die Kongreßwahlen betreffende gleichgelagerte Entscheidungen sind Smiley v. Holm, 285 U.S. 355, Koenig v. Flynn, ebenda 375, Carroll ν. Becker, ebenda 380, alle 1932. Siehe dazu auch Baker v. Carr, a.a.O., S. 323 ff. 34 Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 182 f. 35

Von den 25 Staaten, welche durch die Neuzuweisung von Kongreßsitzen gewan-

Baker v.

263

Carr

bietenden Gelegenheiten zum parteipolitischen Zurechtschneidern nicht entgehen lassen. Auch hier sind die Statistiken, die sich nach der Neueinteilung von 1961/62 ergeben, lehrreich. Die zwanzig größten Kongreßbezirke rangieren von 951 527 (in Texas) bis hinunter zu 721 935, die zwanzig kleinsten von 1 7 7 4 3 1 (in Michigan) bis hinauf zu 232 208 Einwohnern, die Unterschiede sind also wie 5V2 : 1. Michigan hat außerdem die Auszeichnung, neben dem kleinsten auch vier der volkreichsten Wahlkreise zu behausen. Die zwanzig größten haben eine dreimal so große Bevölkerung als die zwanzig kleinsten. Wie sich nicht anders erwarten läßt, sind die zwanzig größten Bezirke überwältigend metropolitan und suburban, die zwanzig kleinsten alle ohne Ausnahme ebenso überwältigend ländlich. Dies ergibt folgendes Bild der Bevölkerungsverteilung (in Prozenten) städtisch 43>5 2,8

die 20 größten Wahlkreise die 20 kleinsten Wahlkreise

suburban 36,8 0,5

ländlich i9>9 96,7

Wie gleichfalls zu erwarten war, ist das Verteilungsmißverhältnis am stärksten im Süden. Unter den zwanzig größten Bezirken finden sich sieben, die die dortigen großen Städte umfassen und unter den zwanzig kleinsten elf auf dem flachen Land. Die Mehrzahl der beiden Kategorien gehört zu den Staaten, in welchen die Staatenlegislaturen die Neueinteilung nach der letzten Volkszählung unterließen. Das Ergebnis ist, daß derzeit (1963) der durchschnittliche ländliche Kongreßwahlkreis nur 8 0 % der Bevölkerung eines städtischen und höchstens zwei Drittel eines suburbanen aufweist. Man rechnete aus, daß bei einer bevölkerungsgerechten Wahlkreiseinteilung immerhin 27 Sitze den ländlichen Bezirken entzogen werden müßten, wovon etwa 20 auf die suburbanen und der Rest auf die Metropolitanbezirke verteilt werden müßten. Noch wichtiger aber als diese an sich unbedeutenden Verschiebungen nen oder verloren, nahmen 19 in den Jahren 1 9 6 1 und 1 9 6 2 Neueinteilungsgesetze an. In vier der übrigen Staaten, die einen Sitz gewannen, kam kein neues Gesetz zustande, der neuzugewiesene Repräsentant mußte statt dessen at large, das heißt von der Gesamtbevölkerung gewählt werden. In M a r y l a n d wurde eine redistricting

bill zu einer dop-

pelten V o r w a h l Zuflucht, durch welche ein Abgeordneter ausgeschaltet wurde. Arizona besann sich auf ein seit 1 9 4 7 angenommenes Neueinteilungs-Gesetz, das bisher nicht zur A n w e n d u n g gekommen w a r ; siehe The Spring Current

American

Government,

196}

Congressional

Washington 1 9 6 3 , S. 50.

Quarterley

Guide

to

264

Karl

Loewenstein

sind die dann für den Kongreßbetrieb eintretenden soziologischen Folgen. Nicht nur könnte das Ubergewicht der agrarischen Interessen im Kongreß abgebaut werden; vor allem wäre aber dem größten Übel des Kongreßbetriebs, dem Senioritätsgrundsatz für die Bestellung des Ausschußvorsitzenden der Boden entzogen.36 Dasjenige Kongreßmitglied, das dem Kongreß ununterbrochen am längsten angehört hat, besitzt nach Gewohnheitsrecht den verbrieften Anspruch auf den Vorsitz des Ausschusses, in den er vom Parteicaucus berufen wird. Die mit der höchsten Seniorität ausgestatteten Mitglieder entstammen aber derzeit in ihrer überwiegenden Mehrheit — 22 — kleinen Landstädten oder Dörfern und nur drei kommen aus den größeren Städten. In dieser Bastion haben sich die Südstaatendemokraten eingegraben, da sie wegen des dort bestehenden Einparteiensystems mit großer Sicherheit auf eine Wiederwahl rechnen können. Ihrer landschaftlichen Herkunft gemäß umwittert sie die Aurora der erzkonservativen Rückständigkeit. Sind sie dann in Washington dem Hauch der großen Welt ausgesetzt, reagieren sie darauf entsprechend reaktionär. Das gleiche gilt, wenn auch in vermindertem Maß, für die Anciennitätslöwen aus den Bauernstaaten N e w Englands oder den traditionell republikanischen Farmerstaaten des mittleren Westens. Diese berufsmäßigen Hinterwäldler sind es, die den Kern der südstaatlichen Opposition gegen jeden fortschrittlichen Präsidenten bilden und seinem Gesetzgebungsprogramm, besonders wenn es auch nur entfernt die Negerfrage berührt, die größten Schwierigkeiten in den Weg legen. Auch damit könnte eine bessere Wahlkreiseinteilung aufräumen. Fällt also wie im Fiesko der Mantel — Baker v. Carr —, so folgt ihm auch der Herzog — Colegrove v. Green — nach. Audi hier sind die Perspektiven unabsehbar.

XIII.

Die agrarische

Gegenrevolution

Allerdings, auch auf der wirklichen Bühne der großen Politik fehlt es nicht an dramatischen Überraschungen. Zur gleichen Zeit als die von der Entscheidung betroffenen Staaten in Eile ihre Gesetzgebungskörperschaften zusammenriefen, um den bereits erlassenen oder drohenden Gerichtsanweisungen ihrerseits durch Neueinteilungsschemata nach- oder zuvorzukommen, setzte in aller Stille eine Gegenbewegung ein, die man 36

Siehe Fraenkel, a.a.O., S. 157 ff., 300 ff.

Baker v. Carr

265

nicht umhin kann, als die agrarische Gegenrevolution zu charakterisieren.37 Sie stellt auf nicht weniger als auf eine radikale Umformung der geltenden bundesstaatlichen Ordnung ab. Ihr sichtliches, wenn audi uneingestandenes Ziel ist die Rückbildung des Bundesstaats wie er seit dem Krieg zwischen den Staaten sich herausgebildet hatte, in einen Staatenbund, wie er vielleicht einst den Verfassungsvätern vorgeschwebt haben mochte. Der Anstoß geht von einem Ausschuß der National Legislative Conference aus, die ihrerseits dem halboffiziellen Council of State Governments angegliedert ist; die Bestrebungen entspringen also keineswegs der Privatinitiative. Ob dahinter eine mutmaßlich mit reichen Mitteln ausgestattete pressure group steht, läßt sich einstweilen nicht feststellen; die nach außen in Erscheinung tretende Organisation ist verhälthältnismäßig bescheiden. Dem Gremium gehören zwar vorwiegend republikanische Politiker an, die selbst aus ländlichen Bezirken stammen, es fehlt ihm aber auch nicht an demokratisch Abgestempelten; außerdem sind in ihm aber auch Leute aus dem städtischen Milieu vertreten, so daß die Gruppe zumindest äußerlich als überparteilich und nicht von den agrarischen Interessen dominiert erscheint. Den Regisseuren der agrarischen Gegenrevolution muß zugestanden werden, daß es ihnen keineswegs an verfassungsrechtlicher Phantasie ermangelt. Worum es den Veranstaltern geht, ist naturgemäß vordringlich die Abstoppung der von Baker v. C a r r entfesselten Lawine der Neueinteilungsgesetzgebung. Um aber dieses Ziel erreichen zu können, wird nicht mehr und nicht weniger angestrebt, als den im V I . Verfassungsartikel verankerten zwei Methoden zur Änderung der Unionsverfassung 38 eine neue dritte hinzuzugesellen. Derzeit kann die Bundesverfassung in der Weise abgeändert werden, daß beide Häuser des K o n gresses mit einer Mehrheit von zwei Dritteln ihrer gesetzlichen Mitglieder eine Änderung beschließen, die dann in K r a f t tritt, wenn sie von drei Vierteln der Staaten (derzeit 38) durch ihre Legislativen angenommen worden ist. Dies ist das Normalverfahren, das bisher die Regel war, mit einer einzigen Ausnahme anläßlich der Aufhebung der Prohibition im X X I . Zusatzartikel (1933), als zum Zweck der Beschleunigung die Ratifizierung von eigens deswegen einberufenen Staatenkonventen vorgenommen wurde. Die andere, bisher niemals mit Erfolg eingeschlagene Technik besteht darin, daß die Staaten ihrerseits die Initiative zur Verfassungsänderung ergreifen, indem zwei Drittel der37 38

Siehe New York Times vom 14. und Boston Globe vom 16. April 1963. Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 38 ff.

266

Karl

Loewenstein

selben (derzeit 34) eine Verfassungsänderung vorschlagen, worauf der Kongreß einen nationalen Verfassungskonvent einberufen muß; dieser soll dann seinerseits Änderungen beschließen, die in K r a f t treten, wenn sie wiederum von drei Vierteln der Staatenlegislativen angenommen sind. Dieses Verfahren, das sich im Grunde nur f ü r eine Totalrevision nach Schweizer Muster empfiehlt, ist bisher noch niemals zum Zug gekommen. Es ist aber zu betonen, daß in beiden Fällen der Kongreß ein unentbehrliches Teilstück des Verfahrens ist, das nicht umgangen werden kann. Was nunmehr geplant ist, ist die völlige Ausschaltung des Kongresses aus dem Verfassungsänderungsverfahren und dessen Uberantwortung an die ausschließliche Kompetenz -der Staaten, sowohl was die Initiative als auch die Ratifizierung anbelangt, so daß die Union selbst weder durch den Kongreß noch durch einen vom Kongreß einzuberufenden Bundeskonvent daran beteiligt ist. Ob eine solche Umgehung des Kongresses als der zuständigen Bundesinstanz überhaupt zulässig wäre, da im Widerspruch mit der bundesstaatlichen Ordnung stehend, mag dahingestellt sein; an sich wäre es nicht undenkbar, daß eben auf dem Wege einer formellen Verfassungsänderung eine neue Modalität des Änderungsverfahrens rechtlich eingeführt werden könnte. Es bedarf aber keiner Erläuterung, daß der Vorschlag, sollte er verwirklicht werden, die geltende bundesstaatliche Organisation der Vereinigten Staaten von Grund aus verändern würde. Da doppelt oder vielmehr dreifach genäht bekanntlich besser hält, wird der Angriff auf die Neueinteilungsentscheidung des S. C. auf zwei Parallelfronten vorgetragen. Eine zweite Verfassungsänderung, die allerdings den Befürwortern als der Kern und daher vordringlich erscheint, will in die Bundesverfassung hineingeschrieben wissen, daß nichts in ihr die Staaten behindern (restrict) oder beschränken (limit) soll, die Sitzeverteilung ihrer Legislationskörperschaften nach ihrem freien Ermessen vorzunehmen. Von allem anderen abgesehen, würde dies bedeuten, daß in einem konkreten Einzelfall allgemeine Rechtsgarantien der Bundesverfassung, vor allem der Grundsatz des gleichen Schutzes der Gesetze f ü r alle Bürger (und möglicherweise auch derjenige des due process) nicht anwendbar ist, also ein Fall dessen, was die deutsche Verfassungstheorie als eine Selbstdurchbrechung der Verfassung ansehen würde. Wiederum braucht nicht erörtert zu werden, daß eine solche Beschneidung der allgemein geltenden Verfassungsgarantien in einem Einzelfall geeignet wäre, das im Laufe der Generationen mühsam aufgebaute Verfassungsgefüge aus den Angeln zu heben.

Baker v. Carr

267

Schließlich ist in dem „Paket" eine dritte Verfassungsänderung mit Inbegriffen, die wiederum an Kühnheit nichts zu wünschen übrig läßt. Es soll nämlich ein aus dem Chief Justices der 50 Staaten bestehender Court of the Union errichtet werden, dam es zustünde, alle Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, die sich auf die Staatenrechte beziehen, zu überprüfen und — wie man füglich annehmen muß — gegebenenfalls außer K r a f t zu setzen, wenn sie eine Verletzung dessen darstellen, was der Mehrheit dieses Super-Obergerichts als die Staatenreservatrechte — states rights — anzusehen geneigt ist. Dahinter steht naturgemäß das oft berufene Gespenst des X . Zusatzartikels der Bundesverfassung, der besagt, daß Zuständigkeiten, die der Union nicht in der Bundesverfassung übertragen wurden oder von ihr nicht den Staaten ausdrücklich verboten sind, den Staaten bzw. dem Volk zustehen. Racheakte gegen die einem Segment der Bevölkerung unerwünschten Entscheidungen des S. C. sind nichts neues in der amerikanischen Verfassungsgeschichte39, aber kaum je sind sie mit solch nackter Brutalität in Erscheinung getreten. Dieser Frontalangriff gegen den Obersten Gerichtshof verdankt seine Entstehung einer mächtigen Allianz zwischen unentwegten Südstaatlern, die sich der Negerintegration widersetzen, und den über das ganze Land verbreiteten agrarischen Interessen, die seit Baker v. Carr mit Recht einen schweren Sitzeverlust in den Staatenlegislaturen und einem dementsprechend verringerten politischen Einfluß befürchten. Es ist also eine zeitgemäße Wiederbelebung der vor dem Bürgerkrieg besonders von John Calhoun vertretenen Nullifikationstheorie, die in ihrer modernen Version der imposition vom S. C. seit den Schulentscheidungen von 1954/55 zurückgewiesen wurde. 40 Man könnte an sich geneigt sein, diese drei Verfassungsänderungvorschläge als ein aus der Verzweiflung geborenes letztes Rückzugsmanöver der agrarischen Minderheit kurzerhand abzutun. Eine Reihe von Umständen widerrät dies. Einmal sind die den Staatenlegislaturen vorgelegten Resolutionen so geschickt abgefaßt, daß sie in der Mehrheit der Staaten nicht dem Veto des Gouverneurs unterliegen, der sie, sich .mit den städtischen Interessen identifizierend, damit ausschalten könnte. 41 Zum anderen aber machte die Gegenbewegung innerhalb der drei 39

Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 437 ff. Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 601 ff. 41 Dies war beispielsweise in Nebraska der Fall, wo die Verfassung ein Veto in solchen Fällen zuläßt. 40

268

Karl

Loewenstein

Monate seit sie in Gang gesetzt wurde, erstaunliche Fortschritte, und zwar ohne daß die Öffentlichkeit davon N o t i z nehmen konnte. D e r Vorschlag der Verfassungsänderung und derjenige der ausschließlichen Staatenzuständigkeit zur Sitzezuweisung wurde von je zehn Staaten im Handumdrehen und ohne jedes Aufheben gutgeheißen (Stand vom April 1961). 4 2 Außerdem aber wurde der Vorschlag, der die Sitzezuweisung anbetrifft, verschiedentlich zumindest in einem der beiden Häuser angenommen, so in Colorado, Illinois, N e w Jersey, N e w Mexico, Oregon, South Carolina und Texas. Bei der Liste der annehmenden Staaten fällt auf, daß es sich vorzugsweise um vorwiegend agrarische Staaten handelt. Dies gilt vor allem für die Staaten, die beide Vorschläge angenommen haben; dazu gehören Arkansas, Idaho, Kansas, Oklahoma, South D a kota und Wyoming. Aber es ist beunruhigend, daß sich in der Rubrik der dem zweiten Verfassungsänderungsvorschlag geneigten Staaten auch solche hochindustrialisierte wie Illinois und N e w Jersey finden. In letzterm Staat beispielsweise nahm der Senat, der sich aus elf Republikanern und zehn Demokraten zusammensetzt, die alle von je einer G r a f schaft ohne Rücksicht auf die Bevölkerungsziffern gewählt sind, den Sitzeverteilungsvorschlag einstimmig an! Andererseits kann Massachusetts sich rühmen, daß sein Senat den bei ihm bisher allein eingebrachten Vorschlag eines dem S. C . übergeordneten Obergericht kurzerhand ad acta legte und den anderen Änderungsvorschlägen dürfte das gleiche Schicksal beschieden sein. Neuerdings hat sich die Presse — Rundfunk und Fernsehen versagen bei einigermaßen komplizierten Materien völlig — der Angelegenheit angenommen und versucht, die alarmierende Gleichgültigkeit des Publikums aufzurütteln. Auch Präsident Kennedy sprach sich kräftig dagegen aus. Nachdem die Entscheidung in Baker v. Carr und die von ihr ausgelösten Neueinteilungsbestrebungen einen starken Widerhall im ganzen Land gefunden haben, ist kaum anzunehmen, daß eine sie auslöschende Gegenbewegung zum Ziel kommen wird. Man wird also 42

Dem Verfassungsänderungsvorschlag stimmten zu: Arkansas, Florida, Idaho, Illi-

nois, Kansas, New Hampshire, Oklahoma, South Dakota, Texas und Wyoming. Derjenige über das einzelstaatliche Monopol in der Organisation der Gesetzgebungkörperschaften wurde angenommen von Arkansas, Idaho, Kansas, Missouri, Montana, Oklahoma, South Dakota, Utah, Washington und Wyoming. Dem absurden Court of the Union-Vorschlag hatten zu dem angegebenen Zeitpunkt lediglich Alabama, Arkansas, Florida und Wyoming zugestimmt.

Baker v. Carr

269

trotz der rapiden Anfangserfolge das schließliche Scheitern der agrarischen Gegenrevolution zuversichtlich voraussagen können. Es erübrigen sich hier also Ausführungen darüber, wie sich die verfassungsrechtliche Lage gestalten würde, von der politischen gar nicht zu reden, wenn auch nur das Sitzeverteilungs-Amendment, das die relativ besten Aussichten zu haben scheint, Erfolg haben sollte, was übrigens nach der Sachlage gleichbedeutend mit der Einführung einer neuen Verfassungsänderungsmodalität sein müßte. Es sei daher nur anmerkungsweise, gewissermaßen als berufliche Spekulation des Verfassungsjuristen, angedeutet, daß dann der Oberste Gerichtshof Gelegenheit haben würde, auch zu der vor einiger Zeit in Deutschland und der Schweiz vielerörterten Frage des „verfassungswidrigen" Verfassungsgesetzes Stellung zu nehmen. Aber trotz mancher bedenklicher Zeichen ist damit zu rechnen, daß der gesunde Realismus des amerikanischen Volkes gerade in dieser Frage sich wieder bewähren wird. XIV.

Rechtsvergleichung

Das Problem der Bevölkerungsgerechtigkeit der Wahlkreiseinteilung des Parlaments tritt naturgemäß in allen Ländern auf, die ihre Repräsentativtechnik auf das reine Mehrheitswahlrecht aufbauen. Wie so oft, bietet hier Großbritannien eine plausible Lösung.43 Die britischen Wahlreformen des 19. Jahrhunderts nach der Großen Reform von 183a konnten sich nur langsam und mühsam aus ihren historischen Verklammerungen in den Territorialeinheiten der boroughs und counties lösen und dem Ideal des one man one vote zusteuern. Dies geschah dadurch, daß alle Reformen des Stimmrechts selbst von Neuverteilungsgesetzen (Redistribution of Seats Acts), wenn auch nicht immer synchronisiert begleitet waren. Immer aber ergaben sich wesentliche Wahlrechtsungleichheiten im Zug nachträglicher Bevölkerungsverschiebungen. Schließlich schuf die Gesetzgebung hier durchgreifenden und wie es scheint erfolgreichen Wandel. Im Jahre 1944 wurden durch überparteiliche Vereinbarung staatliche Behörden aufgestellt, die vier permanenten Grenzkommissionen für England, Schottland, Wales und Nordirland 43

Siehe O. Hood Philipps, Constitutional and Administrative Law, London 1962, S. 164 f ; Arthur J . Goldberg, Yale, S. 95 ff. und vor allem Richter Frankfurter in Baker v. Carr, a.a.O., S. 302 ff. mit weiteren Schrifttumsangaben.

Karl

270

Loewenstein

(House of Commons [Redistribution of Seats] Act, 7 & 8 G e o . 6 , c. 41). 44 Diese Ausschüsse sind angewiesen, in bestimmten Zeitabständen, zuerst alle drei bis fünf Jahre, seit 1958 aber spätestens nach fünfzehn Jahren, dem Parlament Vorschläge zur Neueinteilung der Wahlkreise nach Maßgabe der inzwischen eingetretenen Bevölkerungsverschiebungen vorzulegen, die dann durch Order in Council in K r a f t gesetzt werden, also der formellen parlamentarischen Zustimmung nicht bedürfen. Das Grundprinzip ist die Berücksichtigung der möglichst angenäherten Bevölkerungsgleichheit der einzelnen Wahlkreise. In der ersten Fassung w a r angeordnet, daß ein Wahlkreis nicht mehr als 25 % vom Wahlkreiskoeffizienten (die Gesamtbevölkerung dividiert durch die Zahl der Sitze) abweichen solle. Dieser starre Einteilungsgrundsatz wurde aber bereits 1947 aufgegeben und an seine Stelle trat die Bestimmung einer „möglichsten Angleichung" an den Koeffizienten. 1958 wurden die K o m missionen auch ermächtigt, von Umstellungen Abstand zu nehmen, wenn mit einer Neueinteilung örtliche Verhältnisse wesentlich gestört würden. 45 Der gegenwärtige Zustand ist, daß eine mechanische Bevölkerungsgleichheit der Wahlkreise nicht erzielbar und auch nicht beabsichtigt ist. Der größte Wahlkreis (77 298) verhält sich also gegenüber dem kleinsten (39980) wie 1,9 : 1. In Schottland und Wales ist das Verhältnis 2,6 : 1. Aber das Gesamtbild ergibt eine bemerkenswerte Angleichung der Wahlkreise. Von den 5 1 1 englischen Wahlkreisen liegen 4 1 0 oder 8o°/o innerhalb einer 20%>igen Spanne über oder unter dem Wahlkreiskoeffizienten. In Schottland und Wales liegen 66 bzw. 61 °/o innerhalb dieser Grenze. Noch erfolgreicher ist die Regelung der bevölkerungsmäßigen Angleichung der Wahlkreise im Commonwealth von Australien. Sie ist gleichfalls einer vom Commonwealth-Parlament bestellten Sachverständigenkommission anvertraut, der es gelungen ist, in den sechs Staaten dem Ideal der Wahlgleichheit am nächsten kommen. 46 Trotzdem es sich hier um einen ausgedehnten Kontinent mit außerordentlich verschiedener Be44 Das Gesetz unterlag verschiedenen Änderungen, siehe 10 & 1 1 Geo. 6, c. 10 (1947), 12 & 13 Geo. 6, c. 66 (1949); die Materie ist heute in 6 & 7 Eliz. 2, c. 26 (1958) konsolidiert. 45 Die Gerichte lehnten ein Eingreifen in die Vorschläge der Kommission wiederholt ab (Hammersmith Borough Council v. Boundary Commission for England, Times, 1 $ . Oktober 1954 und Harper v. Secretary [1955], 1 Ch. 238). 48

Siehe Goldberg, Yale, S. 95 und 106.

271

Baker v. Carr

völkerungsverteilung handelt, ist erreicht, daß der größte der 122 Wahlkreise sich zum kleinsten wie I,J : 1 (46 549 zu 30 570) verhält. Die Folge ist, daß zur Mehrheitsbildung im House of Comons 48,3 % der Gesamtbevölkerung erforderlich sind. Der amerikanische Betrachter kann sich angesichts der englischen oder australischen Regelung eines gewissen Neids nicht enthalten. U m nicht offene Türen einzurennen, sei zum Schluß nur angemerkt, daß das Problem der Wahlgleichheit auch in Staaten auftaucht, die mit dem Proportionalwahlrecht arbeiten, wie in Deutschland unter Weimar und unter Bonn und neuerdings auch in der Schweiz. 47 Bei den bekannten Sperrklauseln gegen die sogenannten Splitterparteien wird aber die Wahlungleichheit aus zugegebenermaßen praktischen, vom demokratischen Standpunkt aber nicht überzeugenden Gründen durch die Unterscheidung von Zählwert und Erfolgswert einer Stimme künstlich geschaffen. Die dem Mehrheitssystem folgenden Staaten können daraus nichts lernen. XV.

Die

Fernwirkung

Im Zeitpunkt der Niederschrift herrscht in der Frage der Neueinteilung der Wahlbezirke der Staatenlegislaturen eine, wie man wohl sagen kann, grandiose Verwirrung, die in der Verfassungsgeschichte der Union seit dem Sezessionskrieg wohl kein Gegenstück hat. Es werden Jahre vergehen, ehe sich den Bundesgerichten und den politischen Instanzen gleichermaßen genehme Standards herauskristallisiert und sich die ihnen entsprechende Umbildung durchgesetzt und ausgewirkt haben wird. Die Fernwirkungen von Baker v. Carr sind unabsehbar und unberechenbar. Aber man müßte sich sehr täuschen, wenn sie sich nicht als grundlegend für die amerikanische politische Ordnung herausstellen würden. H a t einmal der städtische Wähler das ihm zahlenmäßig wie wirtschaftlich gebührende Ubergewicht in den Staatenlegislaturen erlangt, werden diese sich nach den Interessen der urbanisierten Mehrheit statt derjenigen der agrarischen Minderheit ausrichten müssen. Jedenfalls im Süden sind aber die Chancen eines echten Zweiparteiensystems wesentlich besser als vorher. Sind einmal die Staatenparlamente 47

Geisbühler

v. Fribourg,

Grand Conseil,

28. M ä r z 1962, Journal des Tribunaux,

Entscheidung des Tribunal

Federal

allerdings verkennenden Artikel von William O'Brien, Baker v. Carr Abroad, The Federal

Tribunal

and Cantonal

vom

Bd. 100 T , S. 271. Siehe dazu den die Situation

Elctions,

Yale,

S. 47 ff.

Swiss

272

Karl

Loewenstein

echte oder echtere Repräsentationen des Mehrheits-Wählerwillens, können sie mit der Absage an ihre bisherige provinzielle und parteimäßig orientierte Interessenpolitik auch ihre seit Generationen zu Verlust gegangene Nützlichkeit und damit auch ihr Prestige wiedergewinnen, wenn man auch nicht erwarten kann, daß damit der an Wichtigkeit absinkende Föderalismus einen wirklichen Auftrieb erlangen wird. Noch wichtiger aber mögen die Fernwirkungen auf der Bundesebene sein. Der eiserne Griff des reaktionären ländlichen Kontingents aus dem Süden um die Kehle des Kongresses kann gelockert und wird vielleicht gebrochen werden. Dies gilt nicht nur für das Monopol, das ihm das Senioritätsprinzip f ü r die Ausschußvorsitze garantiert, sondern muß darüber hinaus auch die seit dreißig Jahren bestehende Koalition der Südstaatendemokraten mit den Republikanern aufweichen, die das Zweiparteiensystem entstellt, verfälscht und unwirksam macht.48 Solange diese Koalition den Kongreß beherrscht, ist eine Befreiung der Vereinigten Staaten aus ihrer derzeitigen innerpolitischen Stagnation nicht möglich. Damit wäre endlich die Bahn f ü r eine echte und wirksame Präsidialführung — excutive leadership — freigemacht, bei der sich eine Mehrheit des Wählerwillens auch in ein durchführbares Präsidialprogramm umsetzen kann, wie es für eine große Nation angezeigt ist. Viele Beobachter wollen in Baker v. Carr den Beginn einer tiefgreifenden Umwälzung erkennen. Wer das Beharrungsvermögen des amerikanischen politischen Prozesses kennt, wird solchen Hoffnungen gegenüber eine gewisse Skepsis walten lassen, zumal da im gegenwärtigen Zeitpunkt das bis dahin überall starke Interesse der Öffentlichkeit an der schließlichen Umgestaltung des politischen Prozesses durch Baker v. Carr von den Folgen der inzwischen eingetretenen aktivistischen Wendung der Negerfrage begreiflicherweise überschattet ist. Aber auch dann, wenn sich die gehegten Erwartungen nicht voll verwirklichen sollten, wird man kaum fehlgehen, wenn man Baker v. Carr in den Annalen der amerikanischen Verfassungsgeschichte einen ähnlichen Rang voraussagt wie er Marbury v. Madison (ι Cr. 1 2 7 , 1803) oder Scott v. Sandford (19 H o w . 393, 1857) zukommt.

48

Siehe Loewenstein, a.a.O., S. 364 ff.

H E N R Y

W.

E H R M A N N

Bureaucracy and interest groups in the decision-making process of the Fifth Republic I The Interessenverbandsprüderie of which Ernst Fraenkel has spoken1, holds a large place in the beliefs and hortatory pronouncements of President de Gaulle and his first Prime Minister. All groups, but especially veterans, trade unions and farmer organizations were repeatedly told that the state, as guardian of the general interest and of public order, would brook no interference with its policies: "le pouvoir ne recule pas". Writing as a critic of the Fourth Republic, Michel Debre had condemned interest group officials no less than party leaders as "princes" (a rechristening of Mosca's "political class") who by creating artificial divisions were sapping an extant if dormant unity of the French people.2 In fact, the group universe has undergone some significant changes since the political crisis returned General de Gaulle to power. The events of 1958 had bared the discredit into which French parties had fallen. For having remained structures of individual and atomistic representation in a modern welfare state, most of them had failed to transmit the will of the electorate to the machinery of government and contributed thereby to a widespread alienation from political life. Since then (for reasons that cannot be discussed here) neither the new regime nor the representatives of the "old order" in and out of parliament have sought a renovation of the party system. Deprived even of those functions which they had been able to exercise previously, parties 1

E r n s t F r a e n k e l , Die Repräsentative

tischen Verfassungsstaat, 2

und die Plebiszitäre

Komponente

Demokra-

F o r speeches b y de G a u l l e and D e b r e concerning the relationship between state

a n d interest groups, see L'Annee

Politique

1961,

Paris 1 9 6 2 , p . 6 3 8 ; Le Monde,

3 1 , 1 9 6 1 a n d A p r i l 2 0 / 2 1 . F o r D e b r e s earlier writings see his Ces Princes vernment...,

18

im

Tübingen 1 9 5 8 , pp. 5 7 — $ 8 .

Fraenkel

Paris 1 9 J 7 , p p . 7 — 9 , 2 0 .

August

qui nous

gou-

274

Henry W.

Ehrmann

appear irrevelant. Political activists, the militants, condemn them as meaningless vestiges of the past, wedded to obsolete ideologies and unsuitable for the task of rebuilding a representative democracy. 3 The failure of the existing parties to mobilize political interest has reinforced trends towards a "depolitization", a phenomenon

which

for being carefully scrutinized remains nonetheless refractory to exact analysis. 4 Although

sweeping

and often contradictory

affirmations

abound, it is difficult to determine whether in the citizens' image interest groups have filled the vacuum created b y the mediocrity and incongruity of parties. Organisational density remains low. E v e n in the absence of reliable membership statistics, it seems clear that the recruitment of trade unions, farmer organizations and similar associations is as difficult as it has always been in France between peaks of momentary strength. Those w h o speak nevertheless about the unprecedented growth of an "associational democracy", keeping pace with the rapid economic and social transformation

of

the country, can point

an increased intensity and a new style of group

activities. 5

to

For the mili-

tant, his participation in the organizational life of interest groups has frequently become the principal means of political commitment. For the rank and file the campaigns and appeals of groups occasionally have been concrete enough to mobilize their civic energies otherwise soothed by economic prosperity and a plebiscitarian but non-totalitarian regime. If interest groups appear to speak a new language because they tend to formulate their goals in terms of the public good, this might be taken as little more than a modernization of the French groups: in other countries such a presentation of special interests has long been customary. But at least t w o novel factors stand out, both important for the interaction between groups and administration. In various re3 See the results of an interesting inquiry, based on a small but apparently quite representative panel: „Enquete aupres des militants", Esprit X X X (March 1962), pp. 321—80. 4 See the illuminating if inconclusive volume published by the Association Franfaise de Science Politique, La Depolitisation. Mythe ou Realite? Paris 1962. 5

1971",

See for many, Hamon ibid, p p . 6 3 — 6 4 ; A l f r e d Grosser: "Profil in Bulletin

Nouveaux

de l'Europe

en

Sedeis, N o . 787 (Mai 10, 1961), p p . 7 — 9 ; P. Viansson-Ponte, "Les

Frangais",

Le Monde,

M a y 10, 1962. Jean Meynaud, Nouvelles

Etudes

sur

les groupes de pression en Trance, gives a more sceptical and far more balanced picture of the " n o v e l t y " in group activities; see especially pp. 357 ff.

Bureaucracy

and interest groups of the Fifth

275

Republic

gions scores of civic groups, usually taking the form of clubs, or yet less institutionalized, that of mere colloques, have sprung up, which is a novelty in a country where general interest groups have been rare. Although numerically their membership seems of little significance, it transcends class and vocational lines which is equally unusual. In many of the clubs civil servants, mostly young and in high positions, take an active part in drawing up programs for reforms or taking a stand on on the issues of the day. 9 O f yet greater importance are the internal transformations which some of the traditional interest groups are undergoing and which shape their activities f a r beyond a mere change of vocabulary and style. Such developments have been notable in farmer organizations, employer and student movements, an in the Christian trade-unions. A full account of the intricate, often contradictory and as yet not definitely settled contest between the established leadership of these groups and of its opposition, will form an indispensable chapter in the social (and because of the absence of valid parties also of the political) history of the F i f t h Republic. 7 For all their diversity, the vanguard movements which are today active in various interest groups, often respond to similar pressures. The conflict of generations, not new in France but rendered more acute b y the population boom; the opening of the French market to European competition; the replacement of many patrimonial employers b y managers and the influence of the cadres, forming the upper and middle management; a however modest influx into the farmer associations and trade unions of producers or workers w h o previously had been totally inactive — singly or combined such factors have given new impetus to the activities of the Union N a t i o nale des Etudiants de France ( U . N . Ε . F . ) , of the Centre National des Jeunes Agriculteurs (C. N . J. Α.), of the Centre des Jeunes Patrons and of the opposition which controls most of the unions of industrial w o r kers within the Confederation des Travailleurs Chretiens ( C . F. T . C.). Conscious of their self-assigned task to give organized expression β

See Raymond Barrillon, "A la recherche d'une nouvelle

'participation':

les

clubs,"

Le Monde, March 26, 1963. The best known among them is the Club Jean Moulin; 36 ° / o of its members are civil servants. See below for some of its publications. ' The brief account here given is based partly on interviews with group leaders, partly (for the C . F . T . C . and the U.N.E.F.) on Meynaud, op. cit., pp. 64—68;

and (for

the C . N . J . A . ) on Y v e s Tavenier, "Syndicalisms

in Revue

Franqais de Science Politique, 18»

paysan et politique

agricole,"

vol. X I I (September 1962), esp. pp. 6 1 9 — 2 2 .

276

Henry

W.

Ehrmann

to the "secularization of hopes", these movements are generally averse to a n e x p l i c i t i d e o l o g i c a l c o m m i t m e n t , i n c l u d i n g o n e t o social

Catho-

licism from which many of their leaders hail. I f they turn their back on their own past, they scorn quite generally association with political parties. Yet their appeal is deliberately political, inasmuch as it attempts to transcend corporatist demands, to formulate general programs and to furnish a political education which elsewhere is the function of modern mass parties. All of them seek constant if unevenly fruitful contacts among each other. Though often the spokesmen of the economically weak, they do not, as has been the past practice of "economic malthusianism", postulate an alignment on the costs or needs of the marginal unit. 8 Because the solutions which they propose are chosen as commensurate to a variety of situations, vanguard groups have mined frequently the solid front which interest groups present traditionally to the outside. To reach general conclusions on the effectiveness of these groups within the larger organizations to which they belong, is as yet impossible. No doubt that their impact has increased: their spokesmen have reached a number of leadership posts within the C. F. T . C. and the agricultural federation, the F. N . S. E. A. Moreover, in the F. N . S. E. A. as well as in the employer confederation, the C. N . P. F., a rather arduous competition for leadership positions indicates that long-established policies are being challenged beyond the pale of organized opposition groups. The actual influence of vanguard movements and of other minority forces within the interest group orbit is frequently a function of their contacts with officialdom, contacts which the new constitutional framework as well as the prevailing administrative and political climate afford them. II The redistribution of powers between parliament and executive in the constitution of i 9 j 8 has deprived pressure groups of some of their 8

For a discussion of economic malthusianism in the employers movement see Henry W. Ehrmann, Organized Business in France, Princeton 1957, pp. 208 and passim. My evaluation of the Jeune Patron group (ibid. pp. 1 8 $ — 1 9 2 ) needs reexamination in the light of more recent developments. See also the declaration by the now middle-aged founder of the movement, M. Mersch in Le Monde,

September 22, 1962.

Bureaucracy

and interest groups

of the Fifth

277

Republic

more ostentatious and noisier possibilities for intervention 9 : investiture debates, of old an occasion for hard bargaining, have become a rarity; parliamentary commissions are structured so that they can hardly form, as they did previsously, the institutional facade for interest groups; the legislative activities of parliament are curtailed in f a v o r of the executive which moreover controls strictly any legislative amendments from the floor of either house; the incompatibility of a post in the cabinet with a seat in parliament intends to remove members of the executive as f a r as possible from political influence. Parliamentary practice has yet further impaired the usefulness of the elected representatives to pressure groups. During the first legislature of the Fifth Republic the opposition parties no less than the majority left it to the government to issue rules touching important interests. Occasionally the Prime Minister has complained about the unwillingness of the Assembley to exercise its legislative prerogatives with the desired speed.10 The situation in which the organizations devoted to the militant defense of the parochial schools used successfully the parliamentary forum for amending a government bill (and causing thereby the resignation of a Minister) has remained an exception. The authoritarian bent of the regime and the opportunities offered first by the empowering law of June 1958 and later by the constitution, led to numerous ordinances which altered drastically, and seemingly without consultation of aggrieved interests, the economic and judicial life of the country. 11 It must however not be forgotten that if the bureaucracy seized upon an opportunity to enact a multitude of long prepared texts, such texts had often been the results of past collaboration between the bureaucracy and group representatives. The fact that constitutional practice has reserved a wide, and over the years steadily enlarged sector of public policy areas for presiden9

For interest group activities under the political system of the Fourth Republic, see

George Lavau, "Political Pressures by Interest Groups in France", in Henry W. Ehrmann, ed. Interest Williams, Politics 10

Group in Postwar

on Four

Continents,

France,

Pittsburgh 1958, pp. 60—95;

Philipp

London 1954, pp. 3 2 7 — 4 1 .

On this point see Y v e s Tavernier, op. cil. p. 624. It would not be correct to con-

clude that deputies and senators have altogether abandoned the defense of their constituents. The most active among them have become articulate spokesmen of regional interests. 11

For a listing of such ordinances, etc., see Jean Meynaud, "Les groupes

sous la Ve Republice,"

Revue

Franqaise

de Science Politique,

de

pression

Vol. X I I (September 1962),

pp. 683—85. The present paper owes much to M. Meynaud's lucid analysis.

278

Henry W. Ehrmann

tial action and thereby insulated them from all parliamentary scrutiny, had an important impact on group influence. A closer analysis would show that the immobilism which in the Fourth Republic was frequently the consequence of conflicting group pressures, is in today's "reserved" domain by no means unknown whenever the responsibility for the implementation of presidential policies has to be delegated to lower administrative echelons.12 But in regard to major decisions, e. g. the Algerian or the European policies, the liquidation of the African Community or the preparations for an atomic striking force, the interested lobbies (some of them solidly organized and amply financed) were generally ignored by the Elysee and had difficulties in obtaining a hearing in the offices of the Prime Minister. Here the influence of organized interests was apparently nil. In two of his most resounding conflicts with the National Assembly the President of the Republic wanted it to be known that he denied to the deputies the exercise of rights granted to them by the wording of the constitution because parliament was in fact obeying the injunctions of the agricultural lobby. 13 Such affirmations of the regime's fundamental hostility towards intermediaries standing between "le pouvoir" and "lepeuple" were designed to dramatize its intentionally authoritarian style. But in order to give practical effect to its policy-making and indeed to assure the legitimacy of its rule, the government has been compelled to seek, like any pluralist society, continuous contacts with the minority interests represented by the groups. 14 Since parliamentary and other channels are all but blocked, the Ministries and the bureaucracy have become the main focus of group attention. Under the Fourth Republic certain observers had assumed that constant parliamentary deadlock and the rapid succession of ministries had enabled the bureaucracy to use its rule-making power to the fullest and to develop its own independent standards of judgment. H a d this been 12 For details see Henry W. Ehrmann, "Die Verfassungsentwicklung im Frankreich der Fünften Republik", Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 10 (1961) esp. pp. 379—81. 13 For these important episodes during which the President laid claim to an authoritative interpretation of the constitution, see Annee Politique /96ο, Paris 1961, pp. 639—40 and Annee Politique 1961, Paris 1962, pp. 664—6$. 14 For an excellent discussion of these problems, see Nicholas Wahl, "The French Political System", in Beer and Ulam ed., Patterns of Government, N e w Y o r k 1962, p p . 4 5 6 f.

Bureaucracy

and interest groups of the Fifth

279

Republic

the case, the executive stability that has prevailed under the new constitution would have made little difference. In reality, and on this point many ranking civil servants agree, the impact of such stability on the administration has been undeniable. In the past, political uncertainties had prevented also the supposedly uncontrolled bureaucracy from doing much more than expediting current affairs. 1 5 T o d a y , the knowledge that administrative countinuity will not be interrupted b y parliamentary interference far outweighs the significance of the fact that also under the new regime there have been frequent changes of ministers or at least of their portfolios. T h e decline of parliament has added to the discretionary p o w e r of both the political executive and of the bureaucracy. Their ensuing rapprochement has been enhanced further b y the fact that an increasing number of ministers have themselves been civil servants and share therefore milieu, training and professional experience with their staffs. Nonetheless, that institution which had been developed as the instrument b y which ministers imposed their political views on a presumably antagonistic civil service rather increased in stature. The cabinet, the dozen or more personal collaborators whom each minister brings with him to serve as his eyes and ears in the agency which he directs is now largely composed, as it was already during the last years of the Fourth Republic, of technicians of administration, i. e. civil servants, members of the Conseil d'Etat, etc., on detached service. Frequent changes of government are no longer the justification for relying on the cabinet both as a center of decision making and as a politically directed study g r o u p . " But as in the past, the cabinet forms an indispensable link between each administration and the outer world, the letter comprising 15

See the observations by a high civil servant in C l u b Jean Moulin, L'Etat

Citoyen,

et le

Paris 1961, pp. 135 f. W h a t consequences this situation had for the influence

of interest groups on the bureaucracy during the Fourth Republic remains controversial. For details see Henry W. Ehrmann, "French Administrative

Science Quarterly,

Bureaucracy

and Organized

Interests',

vol. $ (March 1961), pp. 534—55. The present paper

is a sequel to that article. The findings of both papers are based in part on interviews conducted in 1958/9 and renewed during the autumn of 1962, with ranking civil servants in a variety of administrations, mostly but not exclusively in those concerned with economic policies. 16

For references to the literature on the cabinet, see ibid. pp. 543—44. Since then

increasing attention has been paid to the important role of the cabinets in the Fifth Republic; see e.g. the report by Georges Vedel to the Fifth World Congress of the International Political Science Association, published as "Technocratie;

le role

des

Henry W.

280

Ehrmann

other administrations as well as organized interestests. In a system still characterized by the extreme dispersion of administrative responsibility and by insufficient provision for inter-agency arbitration, some of the ministerial cabinets undertake, with uneven success, the coordination of policies.17 Because of their lengthened life-expectancy, the cabinets have become all the more attractive to those who represent group interests. Certain, though by no means all, interests have always sought acces and possibly influence through the cabinets rather than through the line officials. Today the cabinets receive in addition many of the pressures which previously were addressed to parliament and its committees; whether the minister is a politician or a former fonctionnaire seems to make little difference. What seems to have changed is the attitude taken by many line officials when their colleagues in the cabinets transmit to them request that are clearly emanating from special interest groups. In the Fourth Republic members of the regular bureaucratic hierarchy would frequently elude such initiatives by simply waiting for the fall of the government and by mobilizing public or parliamentary opinion through the channels available to them. Since such possibilities are largely eliminated, the resistance of civil servants to policies which they might consider improper has weakened.18 Evidently the neutrality and independence of officials are not safeguarded merely by the removal of parliamentary influence on decision-making and by the incompatibility of ministerial and elective office. How governmental stability has affected the nature of decisionmaking and what has been its impact on the citizen's "pursuit of hapexperts dans la conduite des affaires publiques", Cahiers Reconstruction, Supplement No. 55 (Dezember 1961), esp. p. V - 1 4 5 ; Robert Catherine, he fonctionnaire frangais: droits, devoirs, comportement, Paris 1961, pp. 299—306; Jeanne Pouydesseau, Les Cabinets Ministerieis et leur Evolution de la lllieme a la Vieme Republique (unpublished Thesis, Cycle Superieur d'Etudes Politiques), Paris 1962. 17 For a description of the shortcomings of the present administrative organization see Franfois Bloch-Laine, "Pour une Reforme de VAdministration Economique," Revue Economique, vol. X I I I (November 1962), p p . 8 6 1 — 8 8 5 . Although M. Debre, as a former member of the Council of State, is passionately interested in all problems pertaining to public administration, none of the often-discussed and long-overdue administrative reforms have been attemped. Such conservatism, offering a striking contrast to the rather thorough overhauling of the judicial system, is generally explained by the fact that the Prime Minister wished to avoid the expected resistance from all too many quarters, including the still strong civil servants' unions. 18

See to this point Vedel, op. cit., pp. V — 1 4 4 — 4 5 .

Bureaucracy

and interest groups

of the Fifth

281

Republic

piness" is highly controversial. In the opinion of some, the increased stature and longevity of ministers enable them not only to develop long-term policies but also to impregnate their staff, especially the talented and influential directeurs, with the political impetus and decisiveness in which they have been wanting. Such an amalgamation of executive and bureaucracy will radiate strength and thereby facilitate, it is believed, the defense of the public interest against undue outside influences. Other oberservers argue that except where major decisions are concerned, which are usually made by the President of the Republic, political will is in fact lamed to such an extent that the fusion of executive leadership and administrative services leads to a paralyzing "administrization" (rather than politization) of public life. Every ministry is transformed into a citadel; the multitude of bureaucratic baronies, untamed by coordinating political directives, prove oppressive and ineffectual. Even an energetic and politically sensitized team like that of Prime Minister Debre was frequently unable to overcome resistance and to provoke action. Such divergence of views on the quality of policy formation is usually not only a function of the temperament but also of the vantage point of the observer. That both kinds of situation exist explains in part the unevennes of the regime's performance where brilliant successes alternate with rather dismal failures. A discussion of some specific patterns and areas of decision-making will be needed to make the necessary distinctions. Ill The Fifth Republic has not altered those structures through which administrative life reflects most directly the pluralist character of French society. There has been in the past much criticism of the effect which the staggering number of advisory bodies, attached to all administrations and composed mainly of interest representatives, has had on administrative responsibility. The right to be consulted had in practice become the right of private groups to make authoritative decisions since many administrators did not dare ignore the institutionalized advice of powerful interests.19 An inventory taken in 1955 listed 19

In general such fears were exaggerated; see Ehrmann, French

bureaucracy,

op. cit., pp. 5 4 1 — 4 3 . For a balanced view see Jean Meynaud, Nouvelles cit., pp. 246—48.

Etudes,

etc. op.

Henry

282

W.

Ehrmann

aproximately 5:00 Councils, 1200 Committees and 3000 Commissions on the national level alone. A t the advent of the Fifth Republic concern with the alleged exsesses of administrative pluralism was widespread enough to give rise to an ordinance empowering the Prime Minister to abolish all "consultative organs whose functions doubled those of the Economic and Social Council". 20 In fact few have been abolished and f a r more advisory boards have been added to the array of those already in existence. In many fields the government has invited the advice of organized interests with greater insistence than its predecessors and has shown more liberalism in the selection of its interlocutors: the Confederation Generale du Travail, though still controlled by the communists, has been readmitted to several commitees. The official explanation is that an administration which feels strong enough to reach its decisions in full independence does not hesitate to invite counsel. In fact, the need to consult in camera, the intermediaries whose voice had been muted in elected assemblies has been one of the reasons for such a multiplication of official contacts. In a few somewhat extraordinary situations the government's refusal to submit its bills to an old-fashioned advisory council has led to open conflict with the representatives of organized interests: the resignation of a majority of members of the Superior Council of National Education, after they had been ignored in the preparation of the bill on aid to parochial schools, is a case in point. 21 But the general trend has been in the opposite direction. Centrifugal trends in administrative decision-making are reinforced by the weight given in the overall organization to the so-called vertical agencies which, whether they are entire ministries or divisions within a ministry, are concerned with a single if sometimes composite interests. Civil servants who observe them from the outside accuse the vertical administrations of identifying themselves frequently with the interests which they are called upon to regulate. Such criticism was voiced in strong language by a committee reporting in i960 to the Prime Minister: 20

Art. 27 of Ordinance N o . 5 8 — 1 3 6 0 of December 29, 1958. The chosen technique

was as ineffective as it was characteristic for the regime's predilection for the Economic and Social Council to be discussed below. 21

See Jacques Robert, "La

l'Etat et les Etablissements Politique

en France

loi Debre

d'enseignement

et a I'Etranger,

(31

Decembre

prive,"Revue

sur les Rapports

entre

du Droit public et de la

1959)

Science

vol. 78 (March—April 1962), p. 232 — an interes-

ting case study of decision-making in the Fifth Republic.

Bureaucracy

and interest groups

of the Fifth

Republic

283

"Under present conditions, characterized by the vertical and watertight compartmentalization of administrations, a great number of civil servants . . . have become accustomed to regard in good faith the defense of the interests which they are called upon to control a natural and essential aspect of their function, an aspect which for them tends to eclipse or to f a l s i f y their vision of the general interest." The report concluded that because of the administrative structure the government was badly equipped to resist group pressures.22 Since there has been no reform of the administrative structure, the situation described in the report would have remained unchanged had there not been, in a number of critical situations, a stricter intra-administrative control of the vertical agencies. Such controls, it is true, have accentuated the otherwise deplored administrative centralization; they have also transformed rather drastically certain relationship between the bureaucracy and organized interests. A t important points of decision-making, the partners in the dialogue between civil servants and group representatives have changed. While many of the vertical agencies have continued to use customary channels to traditional interest organizations, the offices of the Prime Minister (and sometimes those of the President of the Republic), the Ministry of Finance and others have entered into direct contact with the vanguard movements, whose rise to prominence has been described. Whether or not these movements have obtained official representation on the consultative boards, civil servants have not hesitated to justify publicly their intention to lean on group representatives of their choice. When in the government's judgement the modernization of economic structures had become a necessity and the established organizations were dragging their feet, officials have invited spokesmen of minority groups to plan with them for reform legislation and to accredit the adopted policies within their milieu. The " L a w of Agricultural Orientation", one of the major economic reforms which the Fifth Republic has inaugurated (it is too early to judge its validity) has been prepared 22

Rapports

sur les obstacles a I'expansion

economique,

Paris i960, p. 24. This much

publicized report made numeros proposals f o r an attack on privileges and special interests. H a r d l y any were acted upon, be it that when the report was published the phase during which the regime proceeded by authoritarian f i a t was already passed, be it that continuous economic expansion made the "obstacles" with which the report was concerned less threatening. F o r a fuller discussion, see Meynaud, Les Groupes Ve Republice,

op. cit., pp. 687 f f .

. . . sous la

284

Henry

W.

Ehrmann

by close contacts between the government and the C.N.J.A. 2 3 If this is an outstanding example of selectivity in the interaction between groups and bureaucracy, there exist many others. Certain lobbyists who had been in the limelight as long as they impressed parliament and public opinion with their alleged power of mass mobilization, have lost much of their influence, although they occupy the same leadership positions as before within their groups.24 For the members of the vanguard groups, their newly-won access to the authorities in Paris is an important experience on their way to emancipation from the established authority of the rural notables, of the employers or the paterfamilias.25 "The best interlocutors of the militantconcludes an inquiry, "are neither his political leaders nor leftist intellectuals, but some of the uneasy technocrats . . ."2e It is true that most of the "technocrats" themselves have a non-traditionalist outlook: more important than their youth is their common training by the Ecole Nationale d'Administration (E.N.A.) established mostly through the efforts of M. Debre in 1945. That the new institution has failed in some of its objectives, such as social promotion and greater intra-administrative mobility, has not prevented the growth of an intellectual and professional solidarity of its graduates (some would speak about an E.N.A. "free-masonry"). Now that they have reached commanding positions in important administrations, their attitudes, though far from constituting a homogeneous creed, affect their 23

For details see Tavernier, op.cit.,

p p . 6 2 1 — 2 2 , quoting a frank statement by a

member of the Prime Minister's staff. The collaboration between the authorities and the C . N . J . A . offers also a good example of the present personalization of political relationships: at first discussions with the group were solely conducted by the Prime Ministers' Office, by-passing the "vertical" channels, i. e. the Ministry of Agriculture for which the officials of the younger generation had little esteem. This changed as soon as M. Pisani, a former prefect, took over the Ministry and used the C . N . J . A . as a sounding board for reforms. 24

Typical for such loss of standing are M. Blondelle, a conservative senator and

Chairman of the Assemblee

Permanente

des Presidents

well as M. Gingembre, Secretary of the Confederation Entreprises;

de Chambres Generale

d'Agriculture,

des Petites et

on the latter and the beginnings of his decline, see Ehrmann,

as

Moyennes Organized

Business etc., op. cit., pp. 1 7 2 — 8 4 . 25

For an interesting account of the history of the C . N . J . A . and the psychology

of its membership, see Michel Debatisse (the master builder and present secretary of the movement), "Le Centre

National

des Jeunes Agriculteurs,"

September 1962), pp. 20—28. 26

See "Enquete aupres des militants," op. cit., p. 380.

La Nef,

Cahier N o . 1 1 (July-

Bureaucracy

and interest groups of the Fifth

285

Republic

contacts with the world outside the bureaucratic hierarchy. 27 Far less cameralistic than their elders in their economic concepts, less paternalistic in social policies, rather cocksure of their technical competence and their independence, they have no hesitation to maintain a constant dialogue at least with those group leaders to whom they feel akin. For the groups such dialogue overcomes, painlessly as it were, the traditional hostility of the trade-union movement and of farmer organizations against the state. Contacts that are based on face-to-face rather than institutional relationship appear, because of their very pragmatism, devoid of political tension. For giving simultaneous expression to personalization and to depolitization, they conform to general traits of the new regime. Congruity with the environment might well explain their success which, at least for the moment, is undeniable. Why some of the groups which are engaged in close collaboration with the authorities are, at the same time, directly involved in anomic mass movements, cannot be explained here fully. The outstanding examples are the violent, frequent and by no means entirely spontaneous farmers' manifestations, and the strikes of 1963 defying military requisition of the miners. A hightened comibativeness, in part both cause and consequence of a decline in influence of traditional group leadership; a general acceptance of violence as a result of unresolved conflict in Algeria; the acute dissatisfaction of certain categories which feel that in an expanding economy and in a period of rising expectations their share in the national product is dwindling 28 — these factors go f a r in explaining the outbursts. Y e t other causes appear to be more directly related to the place which pressure groups occupy in the public life of the F i f t h Republic. Violence is resorted to where the slighting of parliament and parties has blocked accustomed channels for interest articulation. But if once 27

For a subtle analysis of the " E . N . A . mentality" see Bernard Gournay, "Les

jeunes fonctionnaires et la politique," Les Cahiers

de la Republique,

N o . 4 7 — 4 8 (August-

September 1962), p p . 7 0 8 — 7 1 3 . Illuminating data on the social composition of the top-bureaucracy are given by Club Jean Moulin, op. cit., pp. 1 3 7 — 4 1 . 28

causes

For a careful expose of the rural situation, see Suzanne Quiers-Valette, economiques

Frangaise

de Science

du mecontentement Politique,

des agriculteurs

frangais

vol. 12 (September 1962),

Mendras et Y v e s Tavernier, "Les Manifestations

de Juin

1961,"

en 1961,"

pp. 5 5 5 — 5 9 8

"Les Revue

and Henri

ibid. pp. 6 4 7 — 6 7 1 . The

wages of workers in nationalized enterprises had been kept all but frozen while private industry had ignored governmental suggestions to limit the rise in workers' earnings.

286

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mob action in the countryside has broken out because the government postponed the convening of parliament, it was directed at other times against the slowness and insufficient boldness of the legislature. There is evidence that the riots were not entirely unwelcome to some members of the executive and the bureaucracy, since they, as well as the leadership of the vanguard groups, wished to demonstrate that accumulated tension required the acceleration of reforms. Moreover, the civil servants could justify their contacts with such organizations at the C . N . J . A . as a means of canalizing otherwise uncontrollable assaults on authority. The miners' strike was settled largely on the basis of a report by high civil servants acknowledging the economic justification of most of the workers' demands; but when during the conflict the opposition parties proposed that parliament be consulted, their appeal met with complete indifference although public opinion was overwhelmingly sympathetic towards the strikers.2" IV "There is still great uncertainty as to the true location of the centers of decision-making in the French economy", concludes one of the most astute and best placed observers. 30 As long as such uncertainty persists, it will remain hazardous to determine the actual influence of pressure groups on administrative decisions, and equally difficult to assess the effects of recent changes in the group-bureaucracy relationship. According to those who see little else but a change in administrative and political style, the groups and their leadership may also have changed their style, but nothing has been altered fundamentally. As in the past, the collaboration between the regional and local representatives of the national government and the interest organizations is as intimate as it is little studied. It has a strong impact on such decision-making as takes place at the lower levels. Where information, gleaned through such contacts, is passed on upwards, it will be based often exclusively on data provided by the groups. Since governmental sources of statisti29

For a well-informed description of contradictory trends in the rural protest

movements, see D. P., " L e juste Milieu," Le Figaro,

August 4 — 5 , 1962; for the con-

clusion of the strike in the nationalized mines see Le Monde, 30

Franjois Bloch-Laine, "Reflexions

sur les Explosifs,"

April 14, 15, 1963. Esprit,

vol. 30 N o . 308

(July-August 1962), p. 63. M. Bloch-Laine, Inspecteur de Finance, is director of the Chaisse des Depots et Consignations, a central cog in public finance.

Bureaucracy

and interest groups of the Fifth

2 87

Republic

cal and other economic intelligence are still insufficient, the organizations which can provide needed knowledge are at an undisputed advantage. Here there has indeed been little change. 31 If one turns to decisions which seem to give evidence of a more pronounced independence of the bureaucracy from group remonstrations, the general economic climate goes far to explain them. A successful devaluation, a notable, if possibly temporary, decrease of inflationary tensions, a favorable foreign trade position and still vigorous economic growth, are providing an environment in which the public official can assert his autonomy with greater than usual ease. T o ward off special interests under such conditions makes for the joie de vivre of officialdom. But no valid conclusions can be drawn from this about the present strength or weakness of the major interests, nor about the regime's general economic orientation. 32 In some fields the Fifth Republic has merely developed practices bequeathed to it by its predecessor, giving them stable approval and a more solid institutional underpinning. The Fourth Plan of Economic and Social Development is a case in point. Its pragmatic approach to economic growth which at all times had refused to choose between liberalism and dirigisme, had won for the Commissariate of the Plan the vigorous and rather efficacious support of the Prime Minister long before de Gaulle praised the plan as an "essential institution" of the republic. H e promised that it would receive increased means of action and that it would draw its strength from ever closer collaboration with "qualified organisms" outside the government. 33 So f a r such grandiose perspectives have resulted in little more than the establishment of yet another consultative council whose role is ill defined; it is true that 31 Therefore, the distinctions which I have attempted to draw in my earlier report appear to be still valid; see Ehrmann, "French Bureaucracy etc.," op. cit. passim. See also Meynaud, "Les Groupes . . . sous la Ve Republique," op. cit., p. 692. 32

Rash over-simplification about "the rule of the trusts" or the "dominance of the bankers" in the Fifth Republic are commonplace in the opposition press. It is undisputed that for the representation of business interests in government bureaus trade associations and employer organizations have ceded the first place to the directors of banks and of large concerns, either industrial or commercial. 33

For the text of the latest plan, see IVe Plan de Developpement

Economique

et

Social, Paris 1962, and for an intelligent and well informed commentary, Bernard Cazes, La Planification en France et le IVe Plan, Paris 1962. For de Gaulle's addresses of May 8, 1961 and of April 19, 1963, both extolling the Plan, see Annee Politique p. 657, and Le Monde, April 20/21, 1963.

1961,

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W.

Ehrmann

the roster of its membership reveals once more the government's partiality for dynamic groups and personalities.34 The vogue which the "planification a la franfaise" enjoys at present may be based more on an apparent than on a real consensus. Yet, approval for "elastic" planning procedures comes from such different quarters as the Gaullist U.N.R., the official employers' confederation, the radical wing of the C.F.T.C., and socialist fringe groups. A faint or expressed hope that democratic planning might be able to fill the political and ideological void which the decline of representative democracy has left, explains in part such quasi-universal praise. Influential civil servants and some of the younger group leaders discover in the methods developed by the Commissariate the model of a "contractual economy" and in the cooperation of groups preparing for the plan the germs of a novel "direct democracy". For all its sophistication, the present-day discussion fails to answer some of the most decisive questions.35 There is fairly wide agreement that also in the future the implementation of the goals set by the Plan will be based on voluntary compliance rather than on compulsion. Since, therefore, the Modernization Commissions, undoubtedly the most original feature of the French system, never issue binding directives, no attempt is made to insure an equitable representation of all interests concerned on the Commissions.36 34 For the decrees establishing the Conseil Superieur du Plan . . . see Cazes, op. cit., pp. 266—69. Since also the Economic and Social Council examines the Plan in detail, there can be no question that the new Council is another example of the multiplication of advisory boards. See above at fn. 20. 35 For thoughtful comments on the problems of democratic planning, see Club Jean Moulin, La Planijiation Democratique (Projets presentes aux journees d'etudes de Royaumont, 11 et 12 novembre 1961) Paris 1962; Centre des Jeunes Patrons, "Vers une planification democratique; pour une reforme des institutions economiques," Jeune Patron, vol. 16, No. 158 (October 1962), pp. 7 8 — 8 5 ; various authors, "La planification Frangaise," Esprit, vol. 30, No. 308 (July-August 1962), pp. 2 4 — 7 2 ; and Pierre Bauchet, La Planification Franqaise. Quinze ans d'Experience, Paris 1962, especially his, on the whole more sceptical, conclusions (readied after observation at close range) on pp.

257—63. 38

Of the 3 1 3 7 persons participating in the work of the Modernization Committees

preparing the Fourth Plan, 40.7%) represented business and industry; 47°/o were civil servants and experts; only 7.9%) were trade union representatives; see ibid. p. 48. Such a composition explains in part the critical attitudes towards the Plan expressed by the representatives of labor in the meeting of the Superior Plan Council, see Le October 13, 1962.

Monde,

Bureaucracy

and interest groups of the Fifth

Republic

289

But then it becomes dubious whether one can speak here truly about a "concerted" economy. I f the powers of the Planning Commissariate remain as tentative as in the past, influential interests will try to inflect ultimate decisions by their contacts with the administrative bureaus and especially the vertical agencies. Whether they reap success or meet with resistance will then depend on factors over which the Commissariate of the Plan holds little sway. The question how in the planning process priorities between conflicting demands are to be established remains equally unsettled. It is true that for the first time some of the major alternatives faced by the planners have been discussed by the Council of Ministers. The government felt also confident enough to submit the most recent plan to parliament which it had not done in the past. It was considered by the competent committees of both houses and debated at length in plenary, if poorly attended sessions. Except for certain concessions to regional development, no substantial changes were made: since approval by parliament was sought after the implementation of the plan had already begun, the entire discussion appeared academic. But in its enabling legislation parliament insisted that in the future the government submit the outline of any economic plan to parliament prior to its detailed elaboration by the Commissariate. It remains to be seen how such wishes will be given practical effect and whether an actual change in procedures will redirect the efforts of interest groups towards parliament and its committees. The issue whether the ultimate power to settle conflicting views on major economic options will reside in parliament or in the processes of group consultation will have to be faced sooner or later. The notion of a "concerted economy" reproduces, on a larger scale than that of the economic plan, many of the same uncertainties. A few years ago M. Bloch-Laine described such an economy as " a regime in which the representatives of the state.. .and those of enterprises (whatever their status) get together in organized fashion in order to exchange their information, to confront their prognostics and either arrive at decisions or formulate an advice for transmittal to the government". 37 During the last years the term has acquired some of the qualiA la recherche d'une "Economie Concertee", Paris 1959, p. 6. The term was not coined by M. Bloch-Laine, but used before the war to describe such forms of "industrial self-government", as cartel agreements. After the war the notion was given a new sense by M. Monnet and his collaborators in the preparation of the first plan of economic modernization. 37

19

Fraenkel

290

Henry W.

Ehrmann

ties of a Sorelian myth, especially for interest groups asking to participate in the elaboration of all economic policies.38 That the dividing line between a technocratically inspired corporatism and a "concerted economy" may be thin, has not excaped the attention of many a ranking administrator and of some group leaders. But such insight has not destroyed the attractivenes of the myth. V

The political climate in which constitutional reforms were submitted to popular approval in the autum of 1962 indicated that the experiment inaugurated four years earlier had largely failed. Under the "modernized" parliamentary regime political parties had neither found cohesion nor reconquered lost prestige; hence the continued imbalance between executive and parliament. Legitimacy had been bestowed on none of the new-old institutions but only on a providential leader; hence the vigorous development of the plebiscitarian elements in a constitution which had sought to remain within representative traditions. The seemingly irreversible decline of parliamentary influence stands in stark contrast to the increased political stature which a popularly elected president might acquire and to the expanded use of direct appeals to the electorate. 3 " But in a country which undergoes rapid modernization in a climate of political freedom, the constitutional developements have raised for both the supporters and the critics of he regime the twin problems of democratic representation and participation. The specter of a technocracy ruling the country irresponsibly during the interval between plebiscites, has been haunting the Fifth Republic. Undeniably, the techno-bureaucracy has been able to act without the constraints of parliamentary interference (which in the immediate past had become mostly negative injunctions). There also has been, at impor38 E. g., the manifesto issued by both the F.N.S.E.A. and the C . N . J . A . , and incorporating the language and the political philsophy of Michel Debatisse, leader of the C . N . J . A . , "Le Syndicalisme agricole devant les elections". See Le Monde, November 9, 1962; see also the article by Albin Chalandon (one-time secretary general of the U.N.R.), "Pour une economie concertee," ibid. June 8, i960. 39

In his speech of April 6, 1962, de Gaulle called the referendum "the clearest, the frankest, the most democratic of procedures . . . N o one can doubt that the character and the operations of the Republic will be profoundly marked by it." Le Monde, April 8—9, 1962.

Bureaucracy

and interest groups of the Fifth

Republic

291

tant points of decision-making and as in other countries, a progressive fusion between the "political class" and the technicians.40 But one of the reasons why there exists in present-day France no technocratic ideology or policy is that most of the grands commis, for all the power they hold, consider such concepts a Utopia. They have neither a concrete doctrine which they could oppose to the "policies of the politicians", nor are they of one mind on many of the problems to be decided. I f one has spoken about "administrative lobbies" to describe the ways in which certain bureaus are trying to influence their colleagues' decisions, one points only to the fact that there are divisions and conflicts within the bureaucracy which call for arbitration from other quarters. Instead of ruling as an autonomous technocracy, both the political executive and members of the bureaucracy are seeking to legitimize their decisions by multiplying and widening the channels of "administrative pluralism": the advisory bodies on which organized interests are represented become the "public" to which the government and its agents are responsive and to which they often feel responsible. The attention which is being given to the future role of the Economic and Social Council is quite indicative of current thinking. That under the Fourth Republic the Council had been about as ineffective as the Vorläufige Reichswirtschaftsrat of the Weimar Republic, was specifically acknowledged during the deliberations on the new constitution. 41 Since then the composition of the Council has been modified from time to time, presumably to make it more representative of economic and social forces; yet its usefulness, measured in terms of actual influence on legislation, administrative regulations or even on the economic plan, has hardly been enhanced. Nevertheless, interest groups of many leanings, civil servants, Pierre Mendes-France, General de Gaulle himself, are all looking to the Council to supplement, after suitable reforms, parliamentary representation and possibily to replace the upper house.42 40 Jean Meynaud, Technocratic et Politique, Lausanne i960, speaks (p. 46) about "numerous technocratic infiltrations into governmental work." For other discussions of the problem of technocratic rule in the Fifth Republic (all rejecting the notion of a "technocratic plot"), se Vedel op. cit., pp. 144—148; Bernard Gournay, L'Administration, Paris 1962, esp. pp. 1 1 4 — 1 8 ; and Club Jean Moulin, L'Etat etc., op. cit., pp. 134—36. 41 See the interesting discussions in Travaux Preparatoires de la Constitution, Avis et debats du Comite Consultatif Constitutionnel, Paris i960, pp. 169—73. 42 For examples see Congres du Centre des Jeunes Patrons, op. cit., p p . 8 0 — 8 1 ; Franjois Bloch-Laine, "Pouvoirs Publics et Pouvoirs Professionnels," Jeune Patron,

19*

292

Henry

W.

Ehrmann

A l l these proposals, however different the motivations of their sponsors, are animated by the hope that a formula may be found through which interest representation can be made more transparent and therefore less ubiquitous and insidious. Once this is achieved, it is believed that an "economic parliament" may in many respects suit the needs of a modern democracy and of its planned economy better than an assembly elected on a territorial basis. Then interest groups will become more than subsidiary links between the citizen and his government and might in fact replace those other intermediaries which in the opinion of many are the archaic destroyers of the national consensus: the political parties. The faith in such blueprints and the fascination with the new political role of social forces, characteristically called "forces vives", are in fact common to members of the political and administrative elites and to some of the most active and radical group leaders. The seeming " a politism" which is at the bottom of their attitudes is quite different from the much decried depolitization. 43 It denotes a political philosophy. It also uncovers anew, as did the Saint-Simonism of a century ago, the possible affinity between the apostles of a technical civilization and an anarcho-syndicalist mentality. In the present and extraordinary situation, the collaboration between bureaucracy and groups contributes to economic renewal and, less perceptibly, promotes changes in the structure and values of French society. But some of the illusions attending upon this collaboration vol. 16, No. Le Monde,

153, pp.

1 9 — 2 5 ; a declaration by the Secretary of the C.F.T.C.,

November 28, 1962; Pierre Mendes-France, La Republique

Moderne,

Paris

1962, p p . 9 7 — 1 0 8 ; and de Gaulle's speech of April 19, 1963, which may foreshadow additional constitutional reforms. In 1958 de Gaulle was dissuaded from adding corporative representatives to the senate: see Franjois Goguel, "Velaboration tutions de la Republique Science Politique, 43

dans la Constitution

du 4 octobre 1958,"

des

insti-

Franqaise

de

vol. 9 (March 1959), p. 75.

For an analysis of the term and an historical account see Marcel Merle, "Inven-

taire des apolitismes en France," in La Depolitisation 44

Revue

Stanley Hoffmann, "The

French Political

etc., op. cit., esp. pp. 56—60.

Communityin

In Search of

France.

Cambridge, p. 1 1 3 . His brilliant conclusions are similar to those of Georges Lavau, "Reflexions

sur le regime politique

en France,"

Revue

Frangaise

de Science

Politique,

vol. X I I , No. 4 (December 1962), p. 833. Both authors are equally critical of those who expect the necessary and automatic transformation of social groups into political forces capable of organizing a representative democracy. Much of the fudamental criticism,

Bureaucracy and interest groups of the Fifth Republic

293

could, in the end, still lead to a "kind of corporatist jungle" and subsequently to a dictatorship rather than to a pluralistic democracy. 44 Group participation is not a substitute for politics. The selection and the democratic control of executive leadership requires effective party organization.

developed by Gerhard Leibholz, "Zur Problematik ken" , in Strukturprobleme

der Modernen

des berufsständischen

Demokratie,

applies to the present-day discussion in France.

Staatsgedan-

Karlsruhe 1958, pp. 198—205

G E R H A R D

Α.

R I T T E R

Die Kontrolle von Regierung und Verwaltung in Großbritannien1 Eine der Grunderscheinungen des modernen politischen Lebens ist die ungeheure Ausdehnung der Aufgaben und des Verwaltungsapparats des Staates. Hatte bereits die Demokratisierung des Wahlrechts in Großbritannien im 19. Jahrhundert durch die damit verbundene Festigung des Parteiwesens und der Fraktionsdisziplin eine bedeutsame Steigerung der Macht der Exekutive gegenüber dem Parlament zur Folge gehabt, 2 so hat die Entwicklung der letzten 60 Jahre, in der der Staat immer mehr zu einem kaum noch zu überschauenden Riesenunternehmen mit weitgehenden Funktionen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben geworden ist, die Stellung von Regierung und Beamtenschaft weiter verstärkt und die o f t erhebliche Spezialkenntnisse erfordende Kontrolle der Ausübung der ihnen übertragenen Rechte erschwert. Es soll hier nun untersucht werden, ob es in Großbritannien noch genügend Kanäle gibt, die einen Einfluß der Regierten auf die Regierung ermöglichen, eine Isolierung der politischen Führung und einen Mißbrauch der ihr übertragenen Macht verhindern und den für ein demokratisches Regierungssystem unerläßlichen Konsensus der Staatsbürger gewährleisten. Dabei soll die Kontrolle der Verwaltung durch die dem Parlament verantwortlichen politischen Minister, die direkte Kontrolle durch das Parlament und die damit in Verbindung stehende Kontrolle durch die 1

Der vorliegende Aufsatz basiert teilweise auf einem Vortrag über „Die parla-

mentarische Regierung und die parlamentarische Kontrolle in Großbritannien", den der Verfasser am 23. April 1 9 6 3 in Heidelberg auf der wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft gehalten hat. Der erste Teil des Vortrages, der die historische Entwicklung des Verhältnisses von Regierung und Parlament seit dem 1 7 . Jahrhundert und die Machtverschiebungen innerhalb der Exekutive in den letzten 60 Jahren behandelte, wird gesondert in der Politischen

Vierteljahres-

schrift erscheinen. 2

Vgl. Gerhard A . Ritter, Deutscher

fassungsgeschichtlicher

Vergleich,

und

Britischer

Tübingen 1962, S. 1 5 ff.

Parlamentarismus.

Ein

ver-

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

295

Regierungspartei behandelt werden. "Weiter wird auf die Funktion der Verbände bei der Überwachung der Bürokratie und der Abstimmung der Regierungspolitik mit den Wünschen der vor allem betroffenen Bevölkerungsgruppen, das in letzter Zeit in Großbritannien wieder stark beachtete Problem der richterlichen Kontrolle der Verwaltungstätigkeit sowie die Wirkung der öffentlichen Meinung auf die Bestimmung der staatlichen Politik eingegangen werden. I. Ministerverantwortlichkeit

und Kontrolle der

Verwaltung

Das wichtigste Mittel, den mit der wachsenden Macht der Bürokratie verbundenen Gefahren der politischen Instinktlosigkeit, der Pedanterie und der Willkür gegenüber dem Bürger zu begegnen und den Wünschen der Bevölkerung Geltung zu verschaffen, ist die Leitung und Beaufsichtigung der Beamten durdi die aus dem Parlament kommenden und mit den Interessen der Wählerschaft stärker vertrauten politischen Minister. Die dominierende Stellung des Ministers gegenüber seinen Beamten beruht dabei in Großbritannien vor allem auf dem Grundsatz seiner individuellen Verantwortung für die Arbeit seines Ressorts vor dem Parlament. Die Verantwortung des Ministers 3 bedeutet dabei zweierlei: r. die rechtliche Verantwortung eines Ministers für alle Handlungen, die in Ausübung der Prärogative der Krone, deren Träger ja rechtlich unverantwortlich sind, geschehen. Es ist diese Art von Verantwortung, die ihn dem Risiko der Ministeranklage (impeachment) — der Hauptwaffe des Parlaments zur Vernichtung politischer Widersacher vor der Wirksamkeit des parlamentarischen Mißtrauensvotums — aussetzt. 2. die Pflicht des Ministers, dem Parlament über seine eigenen und die Arbeiten und Handlungen der ihm unterstellten Behörden Rechenschaft abzulegen. Das besagt nicht notwendigerweise, daß der Minister an einem etwaigen Mißgriff irgendeine persönliche Schuld in dem Sinne trägt, daß er die Handlung veranlaßte oder seine Pflicht der Dienstaufsicht vernachlässigte. Es kann sich vielmehr dabei auch um eine Angelegenheit handeln, mit der er sich wegen ihrer Geringfügigkeit unmöglich selbst befassen konnte. 3

Für neuere Erörterungen der Ministerverantwortung in Großbritannien vgl. Geoffrey Marshall und Graham C. Moodie, Some Problems of the Constitution, London 1959, S. 47 ff. und 67 ff. sowie S. E. Finer, The Individual sters, in: Public Administration, Bd. 34, 1956, S. 377 ff.

Responsibility

of

Mini-

296

Gerhard

Α.

Ritter

Die Frage der Ministerverantwortung ist in Großbritannien im Zusammenhang mit dem Rücktritt des konservativen Landwirtschaftsministers Sir Thomas Dugdale 1954 als Konsequenz schwerwiegender administrativer Mißgriffe seiner Beamten 4 stark diskutiert worden. In der Möglichkeit, den Minister zum Rücktritt zu zwingen, liegt jedoch keineswegs die einzige Bedeutung der parlamentarischen Ministerverantwortung. Die eindeutige Festlegung der politischen Verantwortung, die keine moralische Verantwortung zu implizieren braucht, ist für das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems völlig unentbehrlich. N u r so erhält das Parlament die Adresse für seine Einwendungen, den Ansatzpunkt f ü r seine Kritik. Die Tendenz in der Bundesrepublik, die Verantwortlichkeit der Minister zu vertuschen und damit die parlamentarische Kontrollarbeit trockenzulegen, erscheint mir daher als eine der bedenklichsten Erscheinungen unseres politischen Lebens. Der Rücktritt eines Ministers auf Grund von Angriffen des Parlaments und der Öffentlichkeit gegen seine Amtsführung ist allerdings in Großbritannien in den letzten Jahrzehnten immer seltener geworden. 5 Im Normalfall stellt sich das Kabinett kollektiv vor den angegriffenen Minister und mobilisiert die Regierungspartei zu seiner Unterstützung. Obwohl so der direkte Sturz eines Ministers durch ein parlamentarisches Mißtrauensvotum seit der Jahrhundertwende nicht mehr vorgekommen ist, hängt das Damoklesschwert des erzwungenen Rücktritts weiter "über den Ministern. Fälle von persönlicher Korruption 6 und Unehrenhafligkeit oder schwerwiegende eigene Fehler — wie etwa 4

V g l . d a z u : Public

posal of Land by the Prime

Inquiry

at Crichel Minister

to other duties,

Down,

to consider

ordered

by the Minister

of Agriculture

C m d . 9 1 7 6 ( 1 9 5 4 ) ; Report whether

certain Civil

into the

of a Committee

Servants

should

be

dis-

appointed transferred

C m d . 9220 (1954) sowie die Unterhausdebatten über diese Angelegen-

heit v o m 1 5 . 6. und 2 0 . 7 . 1 9 5 4 ( Η . C. Debs.

[ = House of Commons' Debates] 5. Serie,

Bd. 528, Sp. 1 7 5 9 ff. und Bd. 530, Sp. 1 1 8 2 ff.). 5

V g l . den auf einer Untersuchung der erzwungenen Ministerrücktritte der letzten

1 0 0 J a h r e basierenden Artikel von Finer, α. α. Ο., bes. S. 383 ff. 6

Ein Beispiel f ü r das scharfe schnelle Durchgreifen bei Korruptionsverdacht und

die Methode der Behandlung dieser in Großbritannien relativ seltenen F ä l l e bietet das Vorgehen gegen J o h n Belcher, dem Parliamentary Secretary des B o a r d of T r a d e . V g l . Report Conduct

of the Tribunal

appointed

of Ministers

of the Crown

to inquire

into Allegations

and other Public

Unterhausdebatte vom 3. 2. 1949 ( H . C . Debs., Robinson, The Lynskey ruption,

in: Political

Tribunal:

Science

The British

Quarterly,

reflecting

Servants,

on the

Official

C m d . 7 6 1 6 (1949), die

Bd. 460, Sp. i 8 4 6 f f . ) sowie Madelin

Method

of Dealing

Bd. 68, 1 9 5 3 , S. 1 0 9 ff.

with Political

Cor-

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

297

Großbritannien

die vorzeitige Enthüllung von Einzelheiten des Budgets 7 — führen regelmäßig zum Rücktritt. Auch kann es — wie im Fall des Rücktritts von Sir Samuel Hoare als Außenminister 193 5 8 — vorkommen, daß das f ü r eine angefochtene Politik kollektiv verantwortliche Kabinett unter dem Druck der öffentlichen Kritik einen Kurswechsel vollzieht, den der in erster Linie betroffene Minister nicht mitmachen will oder ohne Verlust seines politischen Gesichts nicht mitmachen kann. Der Minister deckt dann gleichsam, indem er die Hauptschuld auf sich nimmt, den Rückzug des Kabinetts aus einer politischen Sackgasse. Bei bürokratischen Mißgriffen und Korruptionserscheinungen in seinem Amt hängt das politische Schicksal des verantwortlichen Ministers von einer Reihe von Komponenten ab: dem Grad der persönlichen Beteiligung, der Bedeutung der Angelegenheit, der Stimmung der weiteren Öffentlichkeit und der einfachen Abgeordneten der eigenen Partei; vor allem aber sind die Haltung des Premierministers, der Kabinettskollegen und das persönliche Ehrgefühl des Ministers entscheidend. Die Kritik der Opposition kann durch die Aufdeckung von Mißständen die politische Krise auslösen und ihre Beilegung erschweren, sie ist aber f ü r deren Ausgang von nur untergeordneter Bedeutung. Die Maßregelung des Ministers muß auch nicht notwendigerweise in der Form eines erzwungenen Rücktritts erfolgen. Nicht selten wird der Minister auf einen anderen Posten versetzt oder erst bei der nächsten Kabinettsumbildung vom Premierminister ausgeschlossen. Beim Rücktritt des Landwirtschaftsministers 1954 waren offensichtlich die kritische Haltung der konservativen Backbencher und die Absicht des Ministers zur Warnung an die Beamtenschaft, den Mißständen in den ihm unterstellten Behörden unter bewußter Akzeptierung der Folgen für seine eigene Stellung auf den Grund zu gehen,9 entscheidend. Die Angelegenheit führte zu einer grundsätzlichen Erklärung der Regierung über das Verhältnis von Minister und Beamten. 10 . In dieser wurde fest7

Aus diesem Grunde mußten 1 9 3 6 J. H. Thomas und 1947 Hugh Dalton von

ihrem Amt als Schatzkanzler zurücktreten. 8 Vgl. Viscount Templewood, Nine Troubled 9

Years, London 1954, S. 185.

Der Minister war so nicht verpflichtet, eine öffentliche Untersuchung der Ange-

legenheit anzuordnen. Vgl. C. J . Hamson, The Real Lesson of Cr ich el Down, Administration, 10

in:

Public

Bd. 32, 1954, S. 383 ff.

Vgl. die Unterhausrede des Innenministers und Ministers für Angelegenheiten

von Wales Sir David Maxwell Fyfe vom 2 0 . 7 . 1 9 5 4 ( Η . C. Debs., 5. Ser., Bd. 530, bes. Sp. 1284—87).

298

Gerbard

Α. Ritter

gestellt, daß der Minister im Regelfall die Handlungen seiner Beamten zu decken hat, auch wenn ihnen kleinere Fehler, für die der Minister die Verantwortung und Verpflichtung zur Korrektur gegenüber dem Parlament übernimmt, unterlaufen sind. Nur im Fall schwerer Fehler und Pflichtversäumnisse wird er, ohne daß seine verfassungsmäßige Verantwortung gegenüber dem Parlament für die Tätigkeit seiner Behörde dadurch eingeschränkt wird, den Namen des schuldigen Beamten der Kritik der Öffentlichkeit preisgeben. Durch die dem Sturz des britischen Landwirtschaftsministers vorangehende rigorose Untersuchung des Verhaltens der oberen Beamtenschaft eines Ministeriums und der mit ihm verbundenen Behörden wurde den britischen Beamten demonstriert, daß die Verantwortlichkeit des Ministers keine absolute Versicherung gegen die Folgen bürokratischer Mißgriffe darstellt. Im Zusammenhang mit dieser Affäre wurden die Beamten nachdrücklich daran erinnert, daß sie die Pflicht hätten, die Angelegenheiten der einzelnen Bürger nicht nur korrekt, gründlich und schnell, sondern auch mit Respekt für dessen persönliche Gefühle, wohlwollend und fair zu behandeln. 11 Besteht in Großbritannien eher die Gefahr, daß die Beamten auf Grund der weitgehenden Immunität vor öffentlicher Kritik durch den im allgemeinen undurchdringlichen Schleier der Ministerverantwortlichkeit zu stark gegen die Konsequenzen ihrer Fehler gesichert sind, so scheint sich in der Bundesrepublik dagegen neuerdings die erschreckende Praxis herauszubilden, daß nicht die Minister für die Versäumnisse ihrer Untergebenen, sondern die Beamten für die Fehler ihrer Minister die Verantwortung und die Konsequenzen zu tragen haben. Das macht aber nicht nur eine effektive parlamentarische Kontrolle unmöglich, sondern muß auch zur Untergrabung der Autorität der Minister in ihrem Amt führen. In Großbritannien ist vor allem auf Grund des strikten Festhaltens am Prinzip der alleinigen politischen Verantwortung des Ministers die klare Scheidung zwischen den neutralen Beamten und den Politikern und die geschichtlich begründete eindeutige Uberordnung der letzteren erhalten geblieben. Es ist so kennzeichnend für die britische Auffassung vom parlamentarischen Regierungssystem, daß immer wieder Vorschläge zur intensiveren Kontrolle der Arbeit der Verwaltung mit dem Argument ihrer Unvereinbarkeit mit dem m. E. dafür bis zum Extrem ge11

Vgl. D . N . Chester, The Crichel Down Case, in: Public Administration,

1954. S. 397.

Bd. 32,

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

299

dehnten Prinzip der Ministerverantwortung abgelehnt werden. Insbesondere denke ich hier an die Weigerung, die Funktionen und die Zusammensetzung von Kabinettsausschüssen aufzudecken, die Ablehnung der Bildung von Sachausschüssen des Parlaments f ü r einzelne Ministerien, den Widerstand gegen die Vorlage von amtsinternen Unterlagen in gerichtlichen Verhandlungen und die Verwerfung des Vorschlags, einen von der Regierung unabhängigen Beauftragten des Parlaments zur Nachprüfung von Beschwerden der Bevölkerung über willkürliche Verwaltungsakte — das Muster ist der Ombudsmand Dänemarks — einzusetzen. 12 Der Grundsatz der uneingeschränkten Verantwortung des Ministers als Vorbedingung parlamentarischer Kontrolle und ministerieller Führung der Beamten nimmt also im britischen Verfassungsleben eine zentrale Stellung ein.

II. Die parlamentarische Kontrolle der Exekutive Durch die ständige Übertragung neuer Funktionen und Rechte wurde in den letzten 60 Jahren notwendig die ohnehin am Ende des 19. Jahrhunderts durch das Aufkommen großer Massenparteien, die Festigung der Fraktionsdisziplin und die Zuschneidung des parlamentarischen Arbeitsprogramms auf die Bedürfnisse der Regierung ständig stärker werdende Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament weiter untermauert. Die Arbeitsüberlastung des Unterhauses und das Versäumnis, eine wirklich leistungsfähige parlamentarische Maschinerie zur Bewältigung der neuen Aufgaben herauszubilden, 13 macht die Schwäche des Parlaments heute zur Achillesferse der englischen Verfassung. Obgleich dieser Gefahrenpunkt seit spätestens dreieinhalb Jahrzehnten klar erkannt und eingehend diskutiert wird, 1 4 scheiterten doch bisher alle weiterreichenden 12

A m 8 . 1 2 . 1 9 6 2 lehnte die Regierung die Einsetzung eines derartigen Beauftrag-

ten mit ausdrücklichem Hinweis auf die Ministerverantwortlichkeit ab (H. C.

Debs.,

5. Ser., Bd. 566, Sp. 1 1 2 4 ) . Für die mit dem Amt in Dänemark verbundenen Aufgaben vgl. den die Diskussion in Großbritannien auslösenden Artikel des dänischen Ombudsmand Hurwitz, The Folketingets

Ombudsmand,

in: Pari.

[ = Parliamentary]

Affairs,

Bd. 1 2 , 1 9 5 9 , S. 1 9 9 ff. 13

Vgl. Gerhard A . Ritter, Probleme

wicklung

seit 1914,

Hans Herzfeld, 11

in: Zur Geschichte

und Tendenzen und Problematik

der englischen der Demokratie,

VerfassungsentFestgabe

für

Berlin 1 9 5 8 , S. 3 1 4 ff.

Den Ausgangspunkt zu den Diskussionen bildete der Angriff auf die Allmacht

der Bürokratie in dem Buch The New

Despotism,

London 1929, von Lord Hewart of

Bury, sowie die dadurch im wesentlichen ausgelösten Untersuchungen des von

1929

300

Gerhard

Α.

Ritter

Vorschläge zur Reduzierung der Macht der Exekutive und zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten am Widerstand der Führungsgruppen der Konservativen und der Labour Party. Bei den Konservativen entspricht die starke Stellung der Regierung der traditionellen Vorstellung von der Notwendigkeit einer energischen und in ihrer Handlungsfreiheit nur wenig beengten politischen Führung und erscheint als unvermeidliche Konsequenz der Akzeptierung der weitgespannten Aufgaben des modernen Staates. Sie fällt zudem mit dem natürlichen Interesse der Partei, die in den letzten 45 Jahren nur neun Jahre nicht führend an der Regierung beteiligt war, 1 5 zusammen. Bei der Labour Party dagegen gilt die Macht des Kabinetts seit den 30er Jahren als das unerläßliche Instrument für die Verwirklichung ihres kontroversen sozialistischen und sozialreformerischen Programms gegen die befürchtete Obstruktion einer mit der Konservativen Partei alliierten Wirtschaft, der Richter und der Lords. 16 Die Hauptgebiete parlamentarischer

Kontrolle

Betrachten wir nun kurz den dem Parlament verbliebenen Einfluß auf seinen traditionellen vier Hauptarbeitsgebieten: Gesetzgebung, Finanzkontrolle, Verwaltungskontrolle sowie Mitbestimmung und Überwachung der staatlichen Politik. Im Bereich der Gesetzgebung zeigt sich die Schwäche des Unterhauses zunächst in dem fast völligen Verlust der parlamentarischen Gesetzesinitiative. Die Zahl der aus der Mitte des Parlaments und nicht durch die Regierung eingebrachten Gesetzentwürfe, die die Hürden des parlamentarischen Desinteresses oder der Opposition nahmen und Gesetzesbis 1 9 3 2 tagenden Committee on Ministers' Powers (Report,

Cmd. 4060, 1932). Die

neuere Diskussion knüpft weitgehend an das Buch von G. W. Keeton, The Passing Parliament,

London

2

of

1 9 5 4 , in dem die Gefahr der Kabinettsdiktatur allerdings weit

übertrieben wird, an. 15

Es handelt sich um die Minderheitsregierungen der Labour Party von 1 9 2 4 und

1 9 2 9 — 3 1 sowie die Labour-Regierungen von 1 9 4 5 — 5 1 . 16

Vgl. A . H . H a n s o n , The Labour

Pari. Affairs,

Party

& House

of Commons

Reform

II,

in:

Bd. 1 1 , 1957/58, S. 44 ff. — Das Interesse der Führungsgruppen der bei-

den Parteien an der Erhaltung der ungeschmälerten Macht des Kabinetts kommt in den beiden bedeutendsten, in den letzten Jahrzehnten von führenden britischen Politikern veröffentlichten Werken über das britische Regierungssystem Thoughts, Parliament,

on the Constitution, A Survey

London

from the Inside,

2

(L. S. Amery,

1 9 5 3 ; Herbert Morrison, Government

London H959) recht klar zum Ausdruck.

and

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

301

kraft erlangen konnten, ist äußerst gering. 17 Wie eine neue Spezialuntersuchung von P. A . Bromhead zeigt, haben die wenigen aus der Mitte des Parlaments eingebrachten sogenannten Private Members' Bills nur dann eine Chance zur Annahme, wenn sie einen einfachen Sachverhalt behandeln, von Angehörigen beider Parteien unterstützt werden und vor allem nicht auf den Widerstand der Regierung stoßen. Tatsächlich ist seit mindestens 50 Jahren kein derartiger Gesetzentwurf gegen den ausdrücklichen Wunsch der Regierung angenommen worden. 1 8 Die Hauptaufgabe solcher Private Members' Bills liegt heute darin, in Fragen, die tief in religiöse Überzeugungen eingreifen, eine Reform der bestehenden Gesetzgebung zu ermöglichen. Es sind dies Fragen, wie etwa die Abschaffung der Todesstrafe, die Lockerung der strikten Regeln der Sonntagsobservanz oder die Änderung des Scheidungsrechts, in denen die Regierung — aus Scheu, sich bestimmte Gruppen der Bevölkerung zu entfremden — keine Verantwortung übernehmen will und in denen die Parteien ihren Abgeordneten die Abstimmung freistellen. 19 Die von der Regierung eingebrachten Gesetzentwürfe sind heute im allgemeinen bereits vor ihrer parlamentarischen Behandlung in direkten Gesprächen mit den Wünschen der verschiedenen Verbände abgestimmt worden. 20 An den Grundzügen eines Entwurfs und an allen Einzelbe17

In den fünf Parlamentssessionen von 1 9 5 1 — 5 6 erhielten insgesamt 5 1 Private Members' Bills Gesetzeskraft (Ernest Davies, The Role of Private Members' Bills, in: The Political Quarterly, Bd. 28, 1 9 5 7 , S. 32 if.). In der Bundesrepublik ist der Anteil des Bundestages, auf dessen Initiative in den zwölf Parlamentssessionen von 1949—61 347 Gesetze zurückgingen, an der Gesetzgebung erheblich größer. (Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1963 S. ij6). 18 P. A . Bromhead, Private Members' Bills in the British Parliament, London 1956, S. 102. Vgl. auch die interessante "Case study" eines Unterhausabgeordneten über die Durchsetzung eines von ihm vorgeschlagenen Gesetzentwurfes: Rupert Speir, The Promotion of α Private Members' Bill — Its Problems and Pitfalls, in: Pari. Affairs, Bd. 1 2 , 1958/59, S. 83 ff. 19

Es besteht allerdings m. Ε. die Gefahr, daß die Institution der Private Members' Bills von der Regierung dazu ausgenützt wird, um gewisse heiße Eisen der Gesetzgebung nicht anzufassen und einen Teil der ihr eigentlich zufallenden Verantwortung auf das Parlament abzuwälzen. 20

Ritter, Probleme und Tendenzen, S. 347 f. Das Recht der betroffenen Interessen, konsultiert zu werden, wird auch von der Regierung dazu ausgenutzt, um Private Members' Bills, über die keine adäquate Konsultation stattgefunden hat, abzulehnen (vgl. Allen Potter, Organized S. 232 f.).

Groups

in British

National

Politics,

London

1961,

302

Gerhard

Α.

Ritter

Stimmungen, die auf Absprachen mit den Verbänden beruhen, hält die Regierung im Parlament fest. Das schließt einzelne Konzessionen — vor allem gegenüber Mitgliedern der eigenen Partei — im Ausschußstadium und das Recht des House of Lords zur sorgfältigen Revision und sprachlichen Überarbeitung der Gesetzentwürfe nicht aus. Die Prüfung der Details der komplizierten Gesetzgebung zur Entlastung und Ergänzung der Gesetzgebungsarbeit des Unterhauses in einem nicht parteigebundenen Sinn ist heute eine der Hauptaufgaben des Oberhauses, 21 das in den letzten Jahren immer mehr dazu tendiert, wie Monarch und Beamtenschaft, ein neutraler Teil der Verfassung zu werden. A m deutlichsten zeigt sich die Präponderanz der Exekutive auf dem Gebiet der Gesetzgebung in der seit dem ι . Weltkrieg zunehmenden Praxis des Parlaments, der Regierung oder einzelnen Ministerien immer umfangreichere Vollmachten zur Ausfüllung und Ergänzung der parlamentarischen Rahmengesetze auf dem Verordnungswege zu übertragen. 22 Ein 1944 eingesetzter kleiner Parlamentsausschuß zur Überwachung dieser an die Exekutive delegierten Gesetzgebung (Select Committee on Statutory Instruments) ist in seiner Arbeit durch das ausdrückliche Verbot der Erörterung der "merits" und der "policy" der Regierungsverordnungen beengt. 23 Seine Tätigkeit hat aber eine sorgfältigere Formulierung der Verordnungen erreicht und die früher nicht seltenen Uberschreitungen der den Ministern gegebenen Vollmachten in den letzten Jahren fast völlig verhindert. 24 21

Vgl. die Untersuchung des Oberhauses als eines untergeordneten Teils der parla-

mentarischen Arbeitsmaschinerie von P. A . Bromhead, The House temporary 22

Politics

and

Con-

Über die historische Entwicklung der „delegierten Gesetzgebung" vgl. Commit-

tee on Ministers' Powers, Report,

a . a . O . , S. 1 0 f f . und 2 1 ff. Über den Umfang der

delegierten Gesetzgebung vgl. Report lation

together

Appendices, 23

of Lords

1 9 1 1 — 1 9 5 7 , London 1 9 5 8 , bes. S. 1 2 7 ff.

with

the Proceedings

H. C. Papers

from

the Select

Committee

0} the Committee,

on Delegated

Minutes

of

Evidence

Legisand

3 1 0 - 1 (1953), § 2 0 .

Ein Wegfall dieser Beschränkung wurde vom Select Committee on Delegated

Legislation ( R e p o r t , § 97) ausdrücklich mit dem Argument abgelehnt, daß das Recht des Ausschusses, auf "unusual or unexpected use" der übertragenen Vollmachten aufmerksam zu machen, sich in der Praxis als genügend elastisch erwiesen habe. Insgesamt hat der Ausschuß vom Ende 1 9 4 4 bis Ende 1 9 5 2 von insgesamt 6900 untersuchten Verordnungen 93 beanstandet (§ 50). 24

Vgl. das Vorwort von Sir Cecil Carr zum Werk von John E. Kersell,

mentary

Supervision

of Delegated

Legislation,

Parlia-

London i960, S. V I I I . Sir Cecil Carr,

der den Ausschuß in seiner Arbeit unterstützt, ist der bedeutendste britische Spezialist für die Frage der delegierten Gesetzgebung.

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

303

Das Recht der Steuerbewilligung und schließlich das Budgetrecht waren in der geschichtlichen Entwicklung die schärfsten Waffen des Unterhauses zur Eindämmung und zur Kontrolle der Macht der Krone. Das britische Parlament, das zur Zeit Gladstones auf dem Gebiet der Finanzkontrolle einen Höhepunkt seiner Macht erreichte, hat seitdem in diesem Bereich ständig an Einfluß verloren und verzichtet heute praktisch auf jede effektive Prüfung der Steueranforderungen der Regierung und der dem Parlament vorgelegten Haushaltsvoranschläge.25 Auf Grund einer Geschäftsordnungsregel von 1713, nach der alle Anträge auf Gewährung von Geldmitteln von der Krone ausgehen müssen,26 ist das Parlament einerseits nicht berechtigt, Mehrausgaben zu verlangen. Andererseits wird die Bewilligung der vollen Höhe auch jedes Einzelpostens des Haushalts von der Regierung zur Vertrauensfrage gemacht und geht daher bei einer Regierung mit einer parlamentarischen Mehrheit automatisch im Parlament durch.27 Das für die Prüfung der Haushaltsvoranschläge zuständige Committee of Supply — ein Ausschuß des gesamten Hauses — debattiert daher auch heute nicht mehr die finanziellen Einzelheiten des Haushaltes, sondern von der Opposition aufgeworfene allgemeine Fragen der Politik.28 Die verbliebenen Funktionen der Finanzkontrolle des Parlaments werden von zwei Ausschüssen wahrgenommen. Der 1861 von Gladstone eingesetzte Rechnungsprüfungsausschuß (Select Committee of Public Accounts) prüft in Zusammenarbeit mit dem Amt des obersten Rechnungsprüfers die formelle Rechtmäßigkeit der Ausgaben. Der 1921 gebildete Haushaltsausschuß (Select Committee on Estimates) untersucht dagegen in jedem Jahr durch seine Unterausschüsse die Wirtschaftlichkeit und 25 Für die historische Entwicklung der Finanzkontrolle vgl. jetzt Paul Einzig, The Control of the Purse: Progress and Decline of Parliament's Financial Control, London 1959. 28

Abgedruckt in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Das Quellenbuch, Köln und Opladen 1958, S. 105. 27

Vgl. Sir Frank Tribe, Parliamentary Administration, Bd. 32, 1954, S. 369 f.

Control

britische

of Public

Regierungssystem,

Expenditure,

in:

Public

28 Vgl. Third Report from the Select Committee on Procedure, H. C. Papers 189 (1946), § 36. Die Unzufriedenheit mit der Kontrolle der Ausgaben durch das Unterhaus hat jüngst dazu geführt, daß auf Grund einer Abmachung zwischen Regierung und Opposition zwei Tage der Debatten des Committee of Supply wieder für Finanzfragen vorbehalten sein sollen (vgl. H. C. Debs., 2$. 10. i960, 5. Serie, Bd. 627, Sp. 2255). Es ist noch zu früh zu sagen, ob sich diese Neuerung bewähren und endgültig durchsetzen wird.

Gerbard

304

Α.

Ritter

die Geschäftspraxis einiger ausgewählter Behörden.29 Seine Arbeit ist jedoch durch das Verbot der Erörterung der den Ausgaben zugrundeliegenden Politik des Ministeriums und das Fehlen eines eigenen Arbeitsstabes erschwert. Seine Berichte können auch erst bei der Aufstellung des Etats der folgenden Jahre berücksichtigt werden.30 Die bei weitem wichtigste Institution zur Überwachung der Sparsamkeit und der Wirtschaftlichkeit der öffentlichen Ausgaben ist heute das Schatzamt, das die volle Verantwortung für die Prüfung und Annahme der Vorschläge der einzelnen Departements übernommen hat. 31 Der effektive Einfluß des britischen Parlaments auf die Gesetzgebung und die Feststellung des Haushalts ist so geringer als der des Bundestages. Sehr viel weniger eindeutig gilt diese Aussage für das Gebiet der Verwaltungskontrolle, wobei man allerdings bedenken muß, daß ein Großteil der Aufgaben, die in der Bundesrepublik von den Ländern wahrgenommen werden, in Großbritannien als Funktionen der Zentralregierung in den Kompetenzbereich des einen britischen Parlaments fallen. Das schwierigste Problem ist hier das der Kontrolle der nationalisierten Industrien. Als öffentliche Körperschaften (Public Corporations) mit einem nicht eindeutig umrissenen Ausmaß an Autonomie unterstehen sie der Aufsicht von Ministern, die die Mitglieder der leitenden Behörde einer Industrie ernennen, gewisse Aspekte ihrer Arbeit überwachen und zudem das Recht zur Erteilung allgemeiner Direktiven haben. In ihrer laufenden, nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichteten Geschäftsführung sind diese Industrien aber zur Vermeidung eines engen Bürokratismus bewußt der Kontrolle der Minister und damit auch des Parlaments entzogen worden.32 Ein ernsthaftes Problem liegt nun darin, daß die zuständigen Minister hinter den Kulissen einen recht weit29 Für die Funktionen der Ausschüsse vgl. den Third Report from the Select Committee on Procedure (1946) a.a.O., §§ 37—41 und die Spezialuntersuchung von Basil Chubb, The Control of Public Expenditure, Financial Committees of the House of Commons, Oxford 1 9 5 1 , bes. S. 169 ff. 30

Eine interessante Diskussion der Schwächen des Estimates' Committee enthält ein Leitartikel der Times vom 18. 3. i960. 31 Über die Kontrolle des Schatzamtes vgl. Fourth Report of the Committee of Public Accounts, 1 9 5 1 / 5 2 , §§ 1 — 1 9 sowie die ausgezeichnete Studie von Samuel Η . Beer, Treasury Control. The Coordination of Financial and Economic Policy in Great Britain, Oxford 2 i95732 Über Entstehung, Verfassungsform und Arbeitsweise der Public Corporations, die jetzt für etwa 2 0 % der britischen Industrien verantwortlich sind, vgl. Ritter, Probleme und Tendenzen, a. a. O., S. 322 ff.

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

305

gehenden Einfluß auf diese Industrien ausüben, aber — da sie von dem formellen Recht der Erteilung von Direktiven keinen Gebrauch machen33 — sich der parlamentarischen und öffentlichen Diskussion ihrer Handlungen entziehen. Während die Kontrolle der Minister so sehr viel stärker ist, als offiziell zugegeben wird, ist die parlamentarische Kontrolle auf Grund der nicht eindeutigen Fixierung der ministeriellen Verantwortung sowie der Komplexität und des Umfangs des zu kontrollierenden Bereiches von nur geringer Wirkung. Das Hauptinstrument der parlamentarischen Kontrolle ist ein Ausschuß für die nationalisierten Industrien, der 1956 nach langem Tauziehen zwischen der Regierung und dem Parlament eingerichtet wurde. Er ist in seiner Arbeit jedoch durch das Fehlen eines eigenen Stabes und die enge Begrenzung seiner Kompetenzen behindert.34 Für den Bereich der direkten staatlichen Verwaltung ist das wesentlichste Instrument der Parlamentskontrolle die mit Recht bewunderte Institution der parlamentarischen Fragestunde. Sie bildet ein einfaches und wirksames Mittel, um Mißstände zur Kenntnis der Minister und der Öffentlichkeit zu bringen, die individuelle Verantwortung der Minister zu betonen und die Beamten vor einer leichtfertigen Behandlung der Angelegenheiten der einzelnen Bürger zu warnen. Parlamentarische Fragen bilden so einmal ein Sicherheitsventil gegen bürokratische Überhebung, zum anderen aber dienen sie dazu, das politische Fingerspitzengefühl und die Ubersicht der Minister über ihre Behörden zu prüfen und damit die Auslese der politischen Führer zu beeinflussen.35 Im Normalfall wird allerdings der Abgeordnete, der einer Beschwerde aus seinem Wahlkreis nachgeht, nicht sogleich eine parlamentarische Frage stellen, sondern zunächst einen Brief an den Minister mit der Bitte um 33 Für das Verhältnis von Minister und leitender Behörde vgl.: Herbert Morrison, Public Control of the Socialised Industries, in: Public Administration, Bd. 28, 1950, S. 4 ff.; Ernest Davies, Ministerial Control and Parliamentary Responsibility of Nationalised Industries, in: Political Quarterly, Bd. 2 1 , 1950, S. 1 5 0 ff.; A . H . H a n s o n , The Nationalised Industries 1950-51, in: Public Administration, Bd. 30, 1952, S. 122. 34

Über das Gesamtproblem der parlamentarischen Kontrolle der Public Corporations und besonders die Wirksamkeit des Select Committee on Nationalised Industries vgl. jetzt die Studie von Α . Η . Hanson, Parliament and Public Ownership, London 196a. 35 Eine grundlegende Untersuchung über die Rolle der parlamentarischen Fragestunde im britischen Regierungssystem bietet jetzt D. N . Chester und Nona Bowring, Questions in Parliament, Oxford 1962. Für die Entwicklung dieser Verfassungsinstitution bis 1880 vgl. Patrick Howarth, Questions in the House, London 1956.

20

Fraenkel

306

Gerhard, Α. Ritter

Informationen oder um Korrektur möglicher Fehler schreiben. Die Zahl derartiger Briefe ist in den letzten Jahrzehnten rapide gestiegen und beträgt jetzt im Durchschnitt über 50000 im Jahr. 36 Die Abgeordneten, deren Beschwerden und Fragen auf Veranlassung der Minister in den Behörden regelmäßig sorgfältig und vorrangig nachgegangen wird, üben so jetzt u. a. die Funktionen von Wohlfahrtsinspektoren und Interessenvertretern ihrer Wahlkreise bei der Verwaltung aus. Die Frage, ob derartige Briefe von Abgeordneten an die Minister einen Teil der parlamentarischen Verhandlungen darstellen und durch die dem Abgeordneten zur Ausübung seiner parlamentarischen Pflichten zugebilligte Immunität geschützt sind, führte 1957-58 zu einer in Großbritannien vielbeachteten Diskussion über das Ausmaß der parlamentarischen Privilegien. Sie ergab sich aus der Drohung einer Verleumdungsklage gegen einen Abgeordneten, der schwere und ungerechtfertigte Vorwürfe gegen gewisse Praktiken des Londoner Elektrizitätsamtes erhoben hatte. Nachdem die Klage zurückgezogen worden war, entschied das Unterhaus im Widerspruch zu der Empfehlung seines Privilegienausschusses in einer freien Abstimmung mit 218 gegen 2 1 3 Stimmen gegen eine derartige Ausdehnung der Sonderrechte des Abgeordneten auf K o sten der Rechte des einzelnen Bürgers. 37 Offensichtlich, standen sich hier, wie in dem in der britischen Verfassungsgeschichte berühmten Rechtsfall Stockdale v. Hansard (1839), 38 zwei Grundsätze der britischen Verfassung — das Recht der Untertanen, sich gegen Anschuldigungen zu verteidigen, und der Anspruch der Abgeordneten, zur Wahrnehmung ihrer Kontrollfunktionen vor Verleumdungsklagen geschützt zu werden — gegenüber. 39 36 Chester-Bowring, S. 104. Vgl. auch die interessante "Case-study" von Κ . E. Couzens, The Minister's Correspondence, in: Public Administration, Bd. 34, 1956, S. 237 ff. 37

Vgl. die beiden Reports from the Committee of Privileges vom November 1957 und Juli 1958 (Η. C. Papers 305 [1957] und 227 [1958]), die Unterhausdebatten vom 4 . 1 2 . 1 9 5 7 und 8. 7 . 1 9 5 8 (Η. C. Debs., 5. Ser., Bd. 579, Sp. 593 ff. und Bd. 591, Sp. 208 ff.) sowie das Urteil des um seine Meinung über die Rechtssituation in einem speziellen Problem befragten Judicial Committee of the P r i v y Council: In re: Parliamentary Privilege Act, 1770, in: The Law Reports 1958, House of Lords, Judicial Committee of the Privy Council and Peerage Cases, S. 3 3 1 ff. 38 Auszugsweise abgedruckt in: W. C. Costin und J . Steven Watson, The Law and Working of the Constitution: Documents 1660—1914, Bd. 2, London 1952, S. 264 ff. 39 Eine Diskussion der rechtlichen Implikationen dieses außerordentlich interessanten Falles geben: S . A . de Smith, Parliamentary Privilege and the Bill of Rights, in:

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

307

Trotz der Bedeutung der Briefe und Fragen an die Minister ist die Intensität der parlamentarischen Verwaltungskontrolle in Großbritannien keineswegs befriedigend. Das liegt vor allem an den ungenügenden Informationsquellen der Abgeordneten und dem Fehlen von Sachausschüssen, die ζ. B. in der Bundesrepublik, in Frankreich und in den Vereinigten Staaten ein wichtiges Instrument zur Kontrolle der Verwaltung darstellen. Die Standing Committees des Unterhauses sind mit unseren Sachausschüssen nicht zu vergleichen, da sie nur f ü r die Gesetzgebung zuständig sind, keinen bestimmten Kompetenzbereich besitzen und auf Grund ihrer ständig wechselnden Zusammensetzung keinen eigenen Charakter entwickelt haben. Die Bildung von Sachausschüssen, die, ad hoc eingesetzt, im Unterhaus früher eine entscheidende Rolle in den Auseinandersetzungen mit der Krone spielten, ist seit dem berühmten Bericht des Ausschusses über die Regierungsmaschinerie von 1 9 1 8 4 0 die Kernfrage der Diskussion über eine Reform des Parlaments. Die Einschränkung der Verantwortung des Ministers, die Angst vor einer Günstlingswirtschaft der Abgeordneten f ü r bestimmte Beamte und Verbände sowie die Besorgnis, daß derartige Ausschüsse sich der Kontrolle des Unterhauses entziehen könnten, sind die Hauptargumente, die bisher erfolgreich gegen diese von führenden Politikern und politischen Wissenschaftlern geforderte 41 Neuerung geltend gemacht wurden. Die Ablehnung eines Systems von parlamentarischen Sachausschüssen entspricht aber auch — wie erst jüngst ein Ausschuß über die Reform des Parlamentsverfahrens wieder betont hat — der grundlegenden britischen Auffassung, daß das Parlament sorgfältig vermeiden müsse, Funktionen der Exekutive zu usurpieren und in die Regierungsgeschäfte selbst einzugreifen. 42 Die Regierung wird zwar seit dem Ende des 1 7 . Jahrhunderts als Treuhänder und Dienstorgan der Gesellschaft angesehen, es wird Modern Law Review, Bd. 2 1 , 1958, S. 465 ff.; Donald Thompson, Letters to Ministers and Parliamentary Privilege, in: Public Law, Bd. 10, 1959, S. 10 ff. 40 Report of the Machinery of Government Committee, Cd. 9230 (1918), §§ 53-54. 41 Für Sachausschüsse in der einen oder anderen Form haben sich u. a. Sir Richard Acland, L. S. Amery, Lord Campion, Sir Stafford Cripps, Sir Edward Fellowes, J . Grimond, Christopher Hollis, Sir Ivor Jennings, Harold Laski, R . Muir, Lord Salter und G. M. Young ausgesprochen (Parliamentary Reform 1933—1960, A Survey of suggested Reforms, published for the Hansard Society, London 1 9 6 1 , S. 43). 42

Report

from the Select Committee

of the Committee, § 47· 20"·

Minutes of Evidence

on Procedure

together with the

and Appendices,

H. C. Papers,

proceedings 92-I, (1959)

308

Gerhard

Α.

Ritter

aber von ihr erwartet, daß sie die Staatsgeschäfte bis zum Widerruf ihrer Legitimation energisch führt, die Initiative in der Festlegung der Politik ergreift und dem Parlament und der Nation die Aufgaben setzt. Im Bereich der allgemeinen staatlichen Politik, die natürlich in der Praxis von Gesetzgebung, Verwaltung und Verwendung der Staatseinnahmen nicht zu trennen ist, hat auch in Großbritannien die Einschränkung der Souveränität des Staates durch die Übertragung weitgehender Funktionen an übernationale Organisationen und die Zunahme zwischenstaatlicher Verpflichtungen die Zuständigkeit des Parlaments besonders für Fragen der Verteidigungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik wesentlich eingeengt. Die Furcht vor einem weiteren Verlust nationaler Souveränitätsrechte und einer damit verbundenen Reduzierung der Funktionen des britischen Parlaments zugunsten einer schwer kontrollierbaren europäischen Bürokratie war dann audi in den Diskussionen der vergangenen Jahre eines der am stärksten herausgestellten Argumente der Gegner des EWG-Beitritts Großbritanniens. Aber auch innenpolitisch wurde in den letzten Jahrzehnten der Kompetenzbereich des Parlaments eingeengt und seine Entscheidungsfreiheit präjudiziert. Ich denke hier besonders an die weitgehende Ausklammerung aller die anglikanische Staatskirche betreifenden Fragen durch die Einsetzung der Church of England Assembly 1919 43 , an die Praxis, die parlamentarische Ergänzung von Rechtsverordnungen, die als Kompromisse zwischen den betroffenen Interessengruppen angesehen werden, nicht zuzulassen44, an die praktische Unmöglichkeit der parlamentarischen Kontrolle der ständig wachsenden Ausgaben für Forschungen im zivilen und militärischen Bereich und an die sehr bedeutsamen Implikationen der 1962 erfolgten Einsetzung des National Economic Development Council. Dieser Rat setzt sich aus den für Wirtschaftsfragen zuständigen Ministern sowie Vertretern der nationalisierten Industrien, der Unternehmer, der Gewerkschaften und unabhängigen Wirtschaftswissenschaftlern zusammen. Es ist kaum vorstellbar, daß ein von ihm ausgearbeiteter und von der Regierung akzeptierter Plan für die wirtschaft43

Durch den Church

of England

Assembly

(Powers)

Act

(9 u. 10 Geo. 5, c. 76)

wurde eine Kirchenvertretung mit dem Recht, Veränderungen der die Kirche von England betreffenden Gesetzgebung vorzuschlagen, geschaffen. Diese Vorsdiläge bedürfen allerdings noch der parlamentarischen Sanktion. 44

Report

from the Select Committee

on Delegated

Legislation,

a. a. Ο., § ι ο ί .

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

309

Großbritannien

liehe Entwicklung des Landes im Parlament noch kritisch diskutiert oder gar verändert bzw. abgelehnt werden könnte. 45 Die Einwirkung

der Regierungspartei

auf die

Exekutive

Die Wirkung der parlamentarischen Debatten und des politischen Klimas des Parlaments auf die Meinungsbildung und die Politik der Regierung ist heute nur selten direkt zu fassen und daher nur schwer zu beurteilen. Der weitaus bedeutsamste konkrete Einfluß geht von den Anhängern der Regierung im Parlament aus. Z w a r haben weder die konservativen noch die Labour-Regierungen jemals daran gedacht, die Einzelheiten ihres parlamentarischen Programms vor der Verkündung im Parlament ihrer Fraktion zu enthüllen oder gar um deren formelle Zustimmung nachzusuchen.46 Trotzdem wird die Regierung die Stimmung ihrer A n hänger sorgfältig beachten, um sich nicht der Gefahr einer Isolation oder einer Rebellion ihrer Backbencher auszusetzen. Die inoffiziellen Sachausschüsse von Abgeordneten der Regierungspartei bilden — seitdem das System von Parlamentsausschüssen der beiden großen Parteien in den letzten zwei Jahrzehnten voll entwickelt wurde — die wichtigsten Verbindungskanäle zwischen der Regierung und ihren Anhängern. Sie üben einen nicht exakt zu bestimmenden, aber keineswegs zu unterschätzenden Einfluß auf die Regierungspolitik aus. Uber die Sitzungen dieser Ausschüsse, an denen jedes Fraktionsmitglied teilnehmen darf, wird von den für die Aufrechterhaltung der Fraktionsdisziplin verantwortlichen Whips und den parlamentarischen Privatsekretären der zuständigen Minister sorgfältig Bericht erstattet, um der Regierung die Möglichkeit zu geben, eine Mißstimmung der Parteianhänger möglichst schon im Keim durch Konzessionen oder die Darlegung ihrer Motive zu erstikken. 47 Im Vergleich mit offiziellen Sachausschüssen des Parlaments haben 45

Für Zusammensetzung und A u f g a b e n des Council vgl.: The National

Development

Council,

Economic

Short Note der Reference Division (R. 5438 June, 1962) des

Central O f f i c e of Information. 46

Für die Praxis der Labour-Regierungen 1 9 4 5 — 5 1 vgl. R. T . McKenzie,

Political

Parties. The Distribution

of Power within the Conservative

British

and Labour

Par-

ties, London etc. 1955, S. 447. 47

Über die Parteiausschüsse im Parlament vgl. v o r

Honourable

Members,

A Study

wie Richard B o d y , Unofficial Bd. 11, 1957/58, S. 296 ff.

of the British Backbencher,

Committees

allem Peter G .

Richards,

London 1959, S. 95 ff. so-

in the House of Commons,

in: Pari.

Affairs,

Gerhard Α. Ritter

310

diese Parteiausschüsse den Vorteil, daß die Diskussion wegen der Abwesenheit der Opposition freier ist, aber auch den Nachteil, daß sie die Anwesenheit des zuständigen Ministers oder die Vorlage von Informationen nicht erzwingen können. Im ganzen ist die Stellung der aus den Parteiführern zusammengesetzten Regierung gegenüber den einfachen Abgeordneten ihrer Partei sehr stark. Der Parteiführer — bei den Konservativen regelmäßig durch Akklamation ohne Gegenstimmen gewählt und bei der Labour Party, einmal gewählt, nur schwer wieder absetzbar48 — hat bei den Konservativen formell und bei der Labour Party in der Praxis sehr weitgehende Sonderrechte inne und verfügt als Premierminister über das Monopol an politischer Patronage. Die Inhaber der ca. 70 bezahlten Regierungspositionen, die er an die etwa 330 bis 400 Unterhausabgeordneten seiner Partei zu vergeben hat, die Gruppe der etwa 40 unbezahlten parlamentarischen Privatsekretäre der Minister und die Gruppe der Abgeordneten, die auf Beförderung oder Ehrungen hoffen, — von den 340 konservativen Abgeordneten des 1951 er Parlaments wurden in den nächsten 6 Jahren 104 geadelt49 — bilden im allgemeinen eine feste Stütze der Regierung, die so in der eigenen Fraktion kaum in eine Minderheit geraten kann. Trotzdem haben auch in den letzten Jahrzehnten immer wieder Rebellionen eines Teils ihrer Anhänger im Parlament britische Regierungen zum Wechsel ihrer Politik gezwungen oder sogar eine Ablösung der Führung bewirkt. Erinnert sei hier nur an den Sturz der Regierung Lloyd George 1922, an die Ersetzung Chamberlains durch Churchill 1940, an den durch parteiinterne Auseinandersetzungen mitbewirkten Abbruch der Suezaktion und den bald darauf folgenden Rücktritt Edens. Audi sollte man nicht vergessen, daß Lloyd George, MacDonald, Baldwin, Churchill, Macmillan, Cripps und Bevan ihr politisches Prestige nicht als parteifromme Mitläufer, sondern als Rebellen begründet haben. Allerdings scheint sich jetzt in Großbritannien die äußerst bedenkliche Praxis herauszubilden, daß der Druck der Fraktionsdisziplin von oben durch die Parteiführung und die Whips durch den Druck von unten durch die Parteiorganisationen der Wahlkreise ergänzt und damit die schon ohnehin übermäßige Abhängigkeit der Abgeordneten von ihrer 48 49

Vgl. McKenzie, a. a. O., S. 22 ff. und 365 ff. Vgl. Anthony Wedgwood Benn im Unterhaus am 12. 2. 1958

Bd. 582, Sp. 496).

(H.

C.

Debs.,

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

311

Partei weiter verstärkt wird. So sind der eine Labour-Abgeordnete, der sich während der Suezaktion geweigert hatte, die Politik der Regierung zu verurteilen, und die meisten der acht konservativen Abgeordneten, die durch Stimmenthaltung in einer wichtigen Abstimmung ihre Kritik an dem Unternehmen zum Ausdruck brachten, von ihren lokalen Wahlkreisorganisationen zum Verzicht auf ihr Mandat gezwungen oder bei der nächsten Wahl nicht wieder aufgestellt worden. Neuere Untersuchungen dieser und anderer Rebellionen zeigen dabei, daß sich die Intoleranz der Wahlkreisorganisationen im allgemeinen nur gegen gemäßigte Abgeordnete, die der Einstellung der politischen Gegner zuneigen, nicht aber gegen Extremisten, die die mangelnde Radikalität der eigenen Partei kritisieren, richtet.50 Eine relativ feste Fraktionsdisziplin ist für das normale Funktionieren des parlamentarischen Systems unerläßlich. Sie findet ihre Rechtfertigung in der Wahl des Abgeordneten als Vertreter einer Partei und der von ihr vorgeschlagenen Politik und Führung. Sie schützt den der Parteilinie folgenden Abgeordneten gegen den Druck der großen Verbände und der Parteiorganisation seines Wahlkreises. Sie gibt der Regierung die notwendige Stabilität und ermöglicht ihr, ein klares gesetzgeberisches Programm zu verwirklichen. Die Fraktionsdisziplin darf aber nicht so starr werden, daß sie den Abgeordneten zu einer reinen Abstimmungsmaschine und zu einem subalternen Claqueur für die Arien seiner Parteiführer degradiert, soll nicht das Parlament von einer Stätte lebendiger Auseinandersetzungen zu einem politischen Vakuum werden, das auch die Funktion der demokratischen Führerauslese nicht mehr wahrnehmen kann. Die Parteiführer, besonders die der Konservativen, 51 haben die Not50 Das wurde besonders dadurch deutlich, daß acht dem rechten Flügel der Partei angehörende konservative Abgeordnete, die aus Protest gegen die „Kapitulation" der Regierung vor Nasser im Mai 1 9 5 7 die Annahme der Whip, des Zeichens der Zugehörigkeit zur konservativen Fraktion, verweigerten, von ihren lokalen Parteiorganisationen nicht angegriffen wurden. Auch die linksextremen Abgeordneten der Labour Party haben im allgemeinen nur mit der offiziellen Parteiführung, nicht aber mit ihren lokalen Organisationen, Schwierigkeiten. Für die Maßregelung der gegen die Parteilinie in der Suezaktion verstoßenden Abgeordneten und allgemein für die zunehmende Tyrannei der lokalen Parteiorganisationen vgl. das viel diskutierte Buch eines der konservativen Rebellen Nigel Nicolson, People and Parliament, London 1958, sowie Richards, a.a.O., S. 1 5 0 f f . und 1 6 0 f f . ; Ivor Bulmer-Thomas, The Party System in Great Britain, London 1953, bes. S. 204 ff.; Roger Fulford, The Member and His Constituency, Ramsay Muir Memorial Lecture, Oxford 1957, bes. Kap. I.

312

Gerhard, Α.

Ritter

wendigkeit, die Zwangsjacke der Fraktionsdisziplin nicht zu drückend zu machen, um nicht das parlamentarische Leben zu ersticken, im ganzen erkannt; hoffentlich wird nicht die ohnehin gefährdete Balance zwischen Abhängigkeit und Ellbogenfreiheit der Abgeordneten durch die Anmaßung der lokalen Parteiorganisationen, den politischen Tugendwächter ihrer Abgeordneten zu spielen, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Im Vergleich zu dem der Fraktion ist der Einfluß der außerparlamentarischen Organisationen auf die Parteiführung und damit auch der der Regierungspartei auf die Politik des Kabinetts verhältnismäßig gering. Im Gegensatz zu Ländern mit einem Verhältniswahlrecht übt die Parteimaschinerie keinen entscheidenden Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten aus, die mit einigen mehr formellen Einschränkungen in der Hand der Wahlkreisorganisationen liegt. Abgesehen von ihrer Mitwirkung an der Kandidatenaufstellung in ihrem Wahlkreis ist die Bedeutung der Parteimitglieder als freiwilliger Hilfskräfte, worauf ihr Anspruch auf die Bestimmung der Politik der Partei vor allem beruhte, durch die zunehmende Professionalisierung der Organisations- und Wahlarbeit 52 und die Möglichkeit der Parteiführer, die Wähler über Rundfunk und Fernsehen direkt anzusprechen, gesunken. Die jährlichen Parteikongresse dürfen bei den Konservativen aus51

Bei den Konservativen ist 1920—60 nur ein einziger Abgeordneter aus der Fraktion ausgeschlossen worden (John P. Mackintosh, The British Cabinet, London 1962, S. 497). Der Grund für die weitere Toleranz der konservativen Parteiführung gegenüber rebellierenden Abgeordneten im Vergleich mit der Labour Party ist wohl in erster Linie in der sehr viel größeren Schwierigkeit zu suchen, die in der sozialen Herkunft und der Bildung der Abgeordneten weniger homogene und stark zur Flügelbildung neigende Labour Party zusammenzuhalten (vgl. dazu auch S. E. Finer, Η . Β. Berrington und D. J . Bartholomew, Backbench Opinion in the House of Commons 1955—59, Oxford etc. 1 9 6 1 , bes. S. 1 2 2 ff. sowie J . F. S. Ross, The Personnel of the Parties, in: Pari. Affairs, Bd. 5, 1 9 5 1 / 5 2 , S. i7off.). 52

Die Tendenz zur Professionalisierung der Parteiarbeit, die bei den Konservativen seit langem bestand, wurde in der Labour Party durch einen unter der Leitung Harold Wilsons stehenden Untersuchungsausschuß über die Parteiorganisation gefördert. Der Ausschuß, der auf Grund der vielfach der schwachen Organisation zugeschriebenen Wahlniederlage der Partei 1 9 5 5 eingesetzt worden war, sah in dem relativ großen hauptamtlichen Personal eines der Hauptelemente der Leistungsfähigkeit der Konservativen (Interim Report of the Subcommittee on Party Organisation, § 22, abgedruckt in: Report of the 54th Annual Conference of the Labour Party, 1955, S. 63 ff.). Uber die Konsequenz der Professionalisierung für die Stellung der Parteimitglieder in der Labour Party vgl. auch Gerhard Loewenberg, The British Constitution and the Structure of the Labour Party, in: American Political Science Review, Bd. 52, 1958, S. 790.

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

313

drücklich keine die Parteiführung bindenden Beschlüsse fassen. Bei der Labour Party sind sie zu schwerfällig und zu selten, um die ihr im Organisationsstatut der Partei zugedachte zentrale Rolle im Normalfall wirklich spielen zu können. 53 Trotzdem zeigen die schweren inneren Auseinandersetzungen in der Labour Party in den letzten 13 Jahren, daß ihr Einfluß audi nicht unterschätzt werden darf und daß es — zumindest solange die Partei in der Opposition steht — unter bestimmten Voraussetzungen nicht einen, sondern mehrere Brennpunkte der Macht gibt. 54 Bei einem Verlust der Unterstützung der Führer der großen Gewerkschaften — auf der die Macht der Labourführer zu einem erheblichen Teil beruht 55 — oder bei Diadochenkämpfen um die Nachfolge in der Parteiführung wie 1 9 5 2 — 5 5 können der Parteikongreß und der von ihm gewählte Parteivorstand zu wirksamen Waffen im politischen Kampf und zur wertvollen Hausmacht eines der Kontrahenten werden. Einige der bedeutendsten Kenner des britischen Regierungssystems, wie ζ. B. R. T. McKenzie und M a x BelofT, vertreten die Auffassung, daß der Grundsatz der innerparteilichen Demokratie mit einem im wesentlichen auf zwei Parteien beruhenden arbeitsfähigen parlamentarischen Regierungssystem nicht zu vereinen ist.56 Eine Partei, die ihr Schwergewicht außerhalb des parlamentarischen Prozesses hat und die wesent53

Vgl. McKenzie, a. a. O., S. 188 ff., S. 485 ff.

54

Zu dieser Schlußfolgerung kommt in Auseinandersetzung mit der nach seiner Meinung die Rolle der Parteikonferenz und des Parteivorstandes zu stark entwertenden Auffassung McKenzies Saul Rose: Policy Decision in Opposition, in: Political Studies, Bd. 4, 1956, S. 1 3 8 . Rose leitete von 1952—55 'das International Department der Hauptgeschäftsstelle der Labour Party. Vgl. audi die Erwiderung McKenzies, die den Ausnahmecharakter der Jahre 1 9 5 2 — 5 5 f ü r die Labour Party betont: Policy Decision in Opposition. A Rejoinder, in: Political Studies, Bd. 5, 1957, S. 1 7 6 f r . 55

Die Wendung einiger der großen Gewerkschaften gegen die von ihm vorgeschlagene Politik war die Ursache für das Unvermögen Gaitskells, die Resolution der Parteiführung über Verteidigungspolitik auf der Jahreskonferenz der Labour Party von i960 durchzusetzen. Gaitskell erklärte jedoch ausdrücklich, daß sich die Parlamentspartei durch die von der Konferenz angenommene Resolution nicht gebunden betrachten würde. Tatsächlich wurde Gaitskell gegen den als Gegenkandidaten aufgestellten Harold Wilson mit 166 gegen 8 1 Stimmen in seiner Funktion als Führer der Parlamentsfraktion wiedergewählt und seine Politik auf der nächsten Jahreskonferenz bestätigt (vgl. Reports of the Annual Conferences of the Labour Party 1960 und 1 9 6 1 , S. 2 0 1 und S. 162 ff. sowie die im New Statesman vom 30. 6., 7., 14., 2 1 . und 28. 7 . 1 9 6 1 u. a. von R . T. McKenzie und Richard Crossman abgedruckten Briefe). 56

Vgl. R . Τ. McKenzie, Policy

Decision

in Opposition,

und den Artikel von Max Beioff im Manchester Guardian

a. a. O., S. 1 7 7 und 1 8 1

vom 1 9 . 1 0 . 1 9 5 6 .

314

Gerhard

Α.

Ritter

lichsten Entscheidungen einem Parteikongreß oder einem aus Nichtparlamentariern zusammengesetzten Parteivorstand überträgt, mache die mit dem britischen politischen System verbundene effektive Führung der Politik durch eine dem Parlament verantwortliche Regierung unmöglich. Tatsächlich beruht die Legitimation der Regierung und der Abgeordneten auf ihren Wählern und nicht auf der im Vergleich dazu sehr viel kleineren Gruppe der Mitglieder. Auch wahltaktische Gesichtspunkte sprechen gegen eine alleinige Bestimmung der Parteipolitik und der Form des Wahlkampfes durch die Mitglieder. Da diese meist einer militanten Haltung zuneigen, könnte eine Erhebung ihrer Ansichten zur offiziellen Parteiansicht zur Folge haben, daß die Partei die Unterstützung der für den Wahlausgang entscheidenden Wählerschicht, die zwischen den Konservativen und der Labour Party steht, verliert.

Die Kontrollfunktionen

der

Opposition

Die Opposition nimmt seit der festen Ausbildung des Parteiensystems die ursprünglich vom gesamten Parlament ausgeübte Funktion der öffentlichen Kritik und der Prüfung der Vorschläge der Regierung wahr. Sie zwingt die Regierung zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen und zur ernsthaften ständigen Auseinandersetzung mit den Argumenten ihrer innenpolitischen Gegner. Das Parlament ist dadurch noch immer — wenn auch nicht mehr so fast ausschließlich wie früher — das wichtigste Forum der öffentlichen Diskussion, 57 dessen Debatten ein für deutsche Verhältnisse erstaunlich starkes Echo bei den anderen Organen der Meinungsbildung finden. So sendet der B B C während der Sitzungsperiode des Parlaments täglich eine Zusammenfassung der parlamentarischen Ereignisse und gibt wöchentlich unter Wechsel der Parteien einzelnen Abgeordneten die Chance, von ihrem Standpunkt aus das Geschehen im Parlament zu kommentieren. Die weitergehenden Vorschläge einer Übertragung des parlamentarischen Geschehens durch Rundfunk oder Fernsehen sind allerdings, um die Intimität der Parlamentsdebatten nicht zu stören und dem kaum lösbaren Problem der Auswahl aus den Debatten 57

Über die R o l l e des Parlaments als „ K a t a l y s a t o r " der öffentlichen Meinung vgl.

auch die wichtigen A u f s ä t z e von Ernst Fraenkel: Diktatur mentarische rechte,

Untersuchungsausschüsse,

in: Zeitschrift

öffentliche

Meinung,

für Politik, in: Festgabe

öffentliche

Meinung

des und

Parlaments?

Schutz

der

ParlaFreiheits-

N . F., Bd. i , 1 9 5 4 , bes. S. 1 0 4 und Parlament für Hans

Herzfeld,

a. a. O., S. 1 8 0 f f .

und

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

315

aus dem Wege zu gehen, bisher mit Nachdruck abgelehnt worden. 58 Wenn es auch heute nicht mehr vorkommt, daß die Londoner Zeitungen wie zur Zeit des jüngeren Pitt die Hälfte oder unter Verzicht auf Anzeigen sogar den gesamten Inhalt ihres Blattes der Berichterstattung aus dem Parlament widmen, 59 so wird doch bei den seriösen Zeitungen ein hoher Prozentsatz des zur Verfügung stehenden Platzes auf die Wiedergabe des parlamentarischen Geschehens verwendet. Selbst für die Massenblätter hat die Skandalchronik des Parlaments einen erstaunlich hohen Neuigkeitswert. Für die Bedeutung des Parlaments als Zentrum der politischen Meinungsbildung ist es so auch kennzeichnend, daß der Lobby-Korrespondent eine der Schlüsselfiguren im politischen Ressort einer Zeitung ist. 60 Das Parlament achtet für unsere Vorstellung fast pedantisch darauf, daß alle wichtigen Erklärungen des Premierministers und einzelner Minister auf der Tribüne des Parlaments abgegeben werden. Von 1944 bis 1956 bestand sogar die Regel, daß der B B C und die Independent Television Authority (I. Τ. Α.) akute politische Probleme, die innerhalb der nächsten 14 T a g e zur Diskussion im Parlament anstanden oder vom Parlament aufgegriffen werden könnten, nicht behandeln durften. Als Voraussetzung f ü r die schließliche Suspendierung dieses Verbotes mußte vom B B C und von der I . T . A . die Erklärung abgegeben werden, daß sie in ihrer Programmgestaltung darauf achten würden, daß dem Primat des Parlaments als dem zentralen Forum der Diskussion f ü r Angelegenheiten der Nation kein Abbruch geschehe.61 Das Parlament setzt so weiterhin in seinen Debatten, die die Strömungen der öffentlichen Meinung zugleich widerspiegeln und formen, die Leitlinien der politischen Diskussion. Es spielt daher bei der politi58 Pläne für die Rundfunkübertragung parlamentarischer Debatten wurden u. a. von L. S. Amery und Aneurin Bevan, der sich 1959 audi nachdrücklich für die Fernsehübertragung der parlamentarischen Verhandlungen einsetzte, vertreten, aber vom Premierminister am 1 . März i960 abgelehnt. Lediglich gewisse Staatsaktionen, wie ζ. B. die Eröffnung einer Parlamentssession durch die Königin, werden heute im Fernsehen übertragen (vgl. Parliamentary Reform, a. a. O., S. 1 4 7 ff.). 59 Vgl. A. Aspinall, The Old House of Commons I, in: Pari. Affairs, Bd. 14, 1960/61, S. 1 5 . 60

and its Members

(c.

1783—1832)

in: Pari. Vgl. Arthur Butler, The History and Practice of Lobby Journalism, Affairs, Bd. 1 3 , 1959/60, S. 54 ff. 61 Vgl. die Erklärung des Premierministers vom 4. Dezember 1956 (Η. C. Debs., Bd. 562, Sp. 1099 ff.). Über die Geschichte der "Fourteen-Day Rule" vgl. Parliamentary Reform, a. a. Ο., S. 146 ff. sowie Richards, a. a. O., S. 175 ff.

316

Gerhard Α. Ritter

sehen Meinungsbildung der Wähler, von denen das Schicksal der Regierung abhängt, eine wesentliche Rolle. Es ist sehr schwer zu beurteilen, inwieweit die Regierung bei der Festlegung ihrer Politik bereits die Kritik der Opposition antizipiert und durch Konzessionen aufzufangen versucht, oder Veränderungen in ihrer Politik auf die Argumente der Opposition zurückgehen. Ein direkter Einfluß läßt sich nur selten nachweisen und beruht dann — wie im Falle des Rücktritts von Hoare 1935 — meist auf dem resoluten Aufgreifen der Kritik der Opposition durch die Öffentlichkeit und einen Teil der Regierungspartei. Zur Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Funktion der Kritik hat die Opposition weitgehende Sonderrechte inne. So werden etwa 30% der dem Parlament zur Verfügung stehenden Zeit auf die Debatten von Angelegenheiten verwandt, die von der Opposition aufgeworfen werden.62 Das gesamte Parlamentsverfahren des britischen Unterhauses setzt heute die Existenz einer leistungsfähigen und straff organisierten Opposition voraus. Es wurde daher nach der Bildung der Kriegskoalition 1940 notwendig, die mit der Festlegung des parlamentarischen Arbeitsplanes verbundenen Funktionen des Führers der Opposition auf einen der Abgeordneten zu übertragen, um die Weiterführung der parlamentarischen Geschäfte zu ermöglichen.63

Die Stellung der Backbencher Die britische Verfassung ist eine "frontbenchers' constitution",64 die auf der Annahme basiert, daß die Führungsgremien der beiden Hauptparteien unter normalen Umständen die Politik bestimmen und auf die Unterstützung ihrer Mitglieder rechnen können. Es besteht dabei die Gefahr, daß das politische Leben, von den Parteioligarchien beherrscht, in zwei Hauptkanälen gleichsam einfriert und politische Uberzeugungen, 62

V g l . Third Report from the Select Committee

Proceedings

of the Committee,

on Procedure

together with the

H. C. Papers 1 8 9 (1946), Memorandum

by the Clerk

of the House, S. X X X ff. Neuere Zahlen in dem berühmten S t a n d a r d w e r k : Sir Erskine M a y , Treatise on the Law, Privileges,

Proceedings, and Usage of Parliament, 1 6 . A u f l . ,

hrsg. von Sir E d w a r d s Fellowes, Τ . G . Β. Cocks und L o r d Campion, London 1 9 J 7 , S. 3 1 5 . 63

V g l . J o h n E a v e s , J r . , Emergency

Parliament and the Executive 64

So K . C . Wheare, A Vindication

stration, B d . 3 2 , 1 9 5 4 , S. 404.

Powers

and the Parliamentary

Watchdog:

in Great Britain, 1 9 3 9 — 1 9 5 1 , London 1 9 5 7 , S. z i . of the British Constitution,

in: Public

Admini-

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

317

die nicht von einer der beiden großen Parteien offiziell akzeptiert werden, sich kaum zur Geltung bringen können. So ist es für den nicht zum Ministerium oder zum Schattenkabinett zählenden einfachen Abgeordneten (backbencher) heute fast unmöglich, ein ihn interessierendes Problem ohne die offizielle Unterstützung seiner Partei im Unterhaus zur Sprache zu bringen.65 Für die Elastizität der britischen Verfassungspraxis ist es allerdings bezeichnend, daß während des zweiten Weltkrieges — als das gesetzgeberische Programm der Regierung nur begrenzt war, eine organisierte Opposition fehlte und die Fraktionsdisziplin deshalb locker gehandhabt werden konnte — die nicht zu den Führungsgremien der Parteien zählenden einfachen Abgeordneten eine wesentliche Rolle in den Debatten spielten und sich durchaus erfolgreich zum Hüter der Rechte der einzelnen Bürger gegenüber der Exekutive aufschwangen.66 Unter normalen Verhältnissen werden dagegen nur etwa 1 4 — 1 8 % der parlamentarischen Debatten — und auch diese meist in ungünstigen Zeiten vor einem oft leeren Haus — von Backbenchern initiiert.67 Auch während der von der Regierung und der Opposition eingeleiteten Debatten werden nach einer alten Tradition die Privy Coun65 So ist nach Aneurin Bevan, der als Rebell in seiner Partei unter der Einschränkung der Redemöglichkeit der von der Parteilinie abweichenden Abgeordneten besonders zu leiden hatte, das Unterhaus "an elaborate conspiracy to prevent the real clash of opinion which exists outside from finding an appropriate echo within its walls" (In Place of Fear, London 1952, S. 6 f.). Nachdem in der Entwicklung der letzten 1 3 0 Jahre die Möglichkeiten der einfachen Abgeordneten, sich an den parlamentarischen Debatten zu beteiligen, immer mehr eingeschränkt wurden (vgl. Lord Campion, Parliamentary Procedure, old and new, in: Parliament, A Survey, hrsg. von Lord Campion, London 1952, S. 1 4 1 if.), ist jetzt durch die Annahme einiger Empfehlungen des Unterhausausschusses über das Parlamentsverfahren von 1959 erstmals wieder eine, wenn auch nur bescheidene Verbesserung der dem einfachen Abgeordneten zur Initiative von Debatten gegebenen Chancen erfolgt. Die Möglichkeit der Backbencher, nach Geschäftsordnungsregel 9 die zwischen Regierung und Opposition arrangierte Tagesordnung durch Antrag auf Debatte einer „dringenden und bedeutsamen Angelegenheit" umzuwerfen, sind durch eine Lockerung des bisher vom Sprecher angelegten sehr strengen Maßstabes über die Zulassung dieser Anträge verbessert worden. Außerdem gab die Regierung vier halbe Tage aus der ihr bisher zur Verfügung stehenden parlamentarischen Zeit pro Session zugunsten einfacher Abgeordneter auf (vgl. dazu Report from, the Select Committee on Procedure . .. 1959, a. a. O., § 34, die Unterhausdebatten vom 1 3 . 7. 1959 und 8. 2. i960 sowie die Regierungserklärung vom 1 6 . 1 2 . 1 9 5 9 (Η. C. Debs., 5. Ser., Bd. 609, Sp. 36 if.; Bd. 617, Sp. 33 fr. u. Bd. 615, Sp. 1458 fr.). 66

Vgl. Eaves, α. α. Ο., bes. S. 35 ff., 68 ff. und S. 187. Vgl. Third Report from the Committee of Procedure . .. (1946), by the Clerk, a. a. O., S. X X X ff. sowie May, a. a. O., S. 3 1 5 . 67

Memorandum

Gerhard

318

Α.

Ritter

cillors — die Minister und Exminister — vom Speaker den einfachen Abgeordneten, die häufig nicht zum Vortrag ihrer vorbereiteten Reden kommen, vorgezogen. 68 Darüber hinaus ist in den letzten Jahren kritisiert worden, daß die Einpeitscher der Parteien auch auf die Auswahl der in den politischen Sendungen des B B C auftretenden Sprecher Einfluß nehmen und sich besonders gegen die Beschäftigung von nicht parteiorthodoxen Abgeordneten wenden. 69 Diesem Anspruch, die weitgehende Beschränkung der parlamentarischen Auseinandersetzungen auf die Debatten zwischen Regierung und offizieller Opposition auch auf die außerparlamentarische Diskussion zu übertragen und die Vertreter anderer Ansichten mundtot zu machen, ist allerdings scharf und im ganzen erfolgreich entgegengetreten worden. Eine Stagnation des politischen Lebens und eine Ausbreitung der politischen Apathie — ohnehin ein Grundproblem demokratischer Länder — wäre eine naheliegende Konsequenz der Durchsetzung derartiger Praktiken. Die Stellung des einfachen Abgeordneten, dessen Wünsche und Interessen vom Beginn des 1 7 . Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Leben des britischen Unterhauses bestimmten, ist heute nicht nur durch die völlige Abhängigkeit von einer Partei bei der Erringung seines Mandats, 70 durch die Festigung der Fraktionsdisziplin sowie durch die weitgehende Monopolisierung der parlamentarischen Zeit durch die Parteiführer geschwächt worden: die wirksame Ausübung der ihm noch zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Einflußnahme, ζ. B. in der parlamentarischen Fragestunde und in den Sachausschüssen seiner Partei, scheitert weitgehend am Mangel an Informationen und ausreichenden Sachkenntnissen. Das britische Parlament, das im 19. Jahrhundert zur Verwunderung 68

Immerhin w u r d e eine gewisse Abschwächung des im Prinzip weiterbestehenden

Privilegs auf G r u n d der Empfehlungen des Unterhausausschusses von 1 9 5 9 ( R e p o r t , a. a. O., § 29) dem Speaker v o m Regierungssprecher nahegelegt ( Η . C. Debs.,

Bd. 6 1 7 ,

Sp. 39). 69

V g l . die Untersuchung dieser Beschuldigungen durch das Select

Broadcasting

(Anticipation

of Debates),

Report,

Minutes

of Evidence,

Committee H. C .

on Papers

288 (1955/56), §§ 1 4 - 1 5 und Fragen 1 8 0 ff. und 1 0 9 6 ff. 70

Bei den Parlamentswahlen v o m Oktober 1 9 5 9 w a r ein einziger Unabhängiger

erfolgreich. Auch dieser wohl nur deshalb, weil die K o n s e r v a t i v e Partei, der er im vergangenen Parlament angehört hatte, auf die Aufstellung eines konservativen Gegenkandidaten verzichtete (The mation, London 1 9 6 2 , S. 37).

British

Parliament,

hrsg. v o m Central O f f i c e of I n f o r -

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

319

kontinentaler Diplomaten in einer Fülle von Blaubüchern ausführlich über die Handlungen der britischen Regierung informiert wurde, erhält heute auf Grund einer extremen Ausdehnung des Prinzips der Geheimhaltung immer weniger Einblick in die für die Willensbildung auf Regierungsebene wirklich wesentlichen Unterlagen. So ist die diplomatische Vorbereitung der Suezaktion und ihre Durchführung trotz mehrfacher Vorstöße der Opposition noch völlig in Schleier gehüllt. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, früher eine scharfe Waffe des Unterhauses, 71 kommen in parteipolitisch kontroversen Fragen kaum noch zustande, da die notwendige Mehrheit f ü r ihre Einsetzung praktisch nur dann gefunden werden kann, wenn es sich um eine Minderheitsregierung handelt. 72 Das Monopol an Tatsachenwissen liegt so in Großbritannien noch ausschließlicher als in der Bundesrepublik bei den staatlichen Verwaltungsstellen. Die Forschungsstäbe der einzelnen Parteien unterstützen im wesentlichen nur die Arbeit der Parteiführer. Der einfache Abgeordnete dagegen ist auf die ihm von Interessengruppen zur Verfügung gestellten, o f t einseitigen Unterlagen, auf die Berichterstattung der Presse und auf zufällige persönliche Informationsquellen angewiesen. Es gibt zwar seit der Neuorganisation der Bibliothek des Unterhauses 1946 einen kleinen parlamentarischen Forschungsstab, der sich aber an Bedeutung und U m f a n g nicht mit dem Legislative Reference Service des Kongresses der Vereinigten Staaten oder auch nur des parlamentarischen Hilfsdienstes des Bundestages messen kann. 73 Auch ver71 Sir William R . Anson, The Law and Custom of the Constitution, Bd. I: Parliament, Oxford 4 1909, S. 376 ff. 72 Das war 1924 der Fall, als ein von den Konservativen und den Liberalen unterstützter Antrag auf Einsetzung eines parlamentarischen Ausschusses zur Untersuchung der Gründe für die Aufhebung der Strafverfolgung gegen einen kommunistischen Redakteur (Campbell Case) angenommen wurde. Die Annahme des Antrages wurde von der Minderheitsregierung der Labour Party bereits als eine so scharfe Kritik aufgefaßt, daß sie zurücktrat (vgl. Charles Loch Mowat, Britain between the Wars igi8—1940, London 1.956, S. 184 ff.). 73 Vgl. First und Second Reports from the Select Committee on Library (House of Commons), H. C. Papers 35 und 99—I, 1945/6; Second Report from the Estimates Committee, House of Commons Library, H. C. Papers 168, 1960/61. Vgl. weiter: R . F. C. Butcher, The Reference and Research Divisions of the House of Commons Library, in: Pari. Affairs, Bd. 8, 1954/5$, S. 388 ff.; Eberhard Pikart, Probleme der Deutschen Parlamentspraxis, in: Zeitschrift für Politik, Jahrg. 9, N. F., 1962, S. 206 ff. — Eine erhebliche Ausdehnung des Umfangs und der Aufgaben des britischen parlamentarischen Hilfsdienstes ist — wie die Unterhausgebatte vom 15. 3. 1963 (//. C. Debs., 5. Ser., Bd. 673, Sp. 1 7 1 5 ff.) zeigt — zur Zeit unter Diskussion.

Gerhard Α. Ritter

320

fügen die Abgeordneten über keine ihren Aufgaben adäquaten Arbeitsmöglichkeiten.74 Mit der Ausnahme der Minister und des Führers der Oppositionhaben sie, obwohl das Parlament an fünf Tagen der Woche durchschnittlich acht Stunden tagt 75 und sie nur einen Bruchteil der Zeit im Plenarsaal verbringen können, nicht einmal zu mehreren ein eigenes Zimmer. Nur eine privilegierte Minderheit verfügt im Parlament über einen Schreibtisch, an dem der Abgeordnete, begleitet von dem Klappern von 20 Schreibmaschinen, seine dringendsten Arbeiten erledigen kann. Selbst wenn das Unterhaus sich zur Errichtung eines Systems von Sachausschüssen einmal entschließen sollte, so fehlen für diese zunächst die Räume und die notwendigen Einrichtungen für die Vorbereitung der ihnen angehörenden Abgeordneten. Das Parlament ist nicht als zentrale Arbeitsmaschinerie eines modernen demokratischen Staates, sondern als ein Londoner Club des 19. Jahrhunderts ausgestattet. Der positive Aspekt des damit verbundenen Fehlens jeglicher Einrichtungen für den einzelnen Abgeordneten ist jedoch, daß die Parlamentarier viel Kontakt untereinander haben. In den informellen Gesprächen audi mit den sozial nicht isolierten Ministern liegt heute vielleicht sogar die größte praktische Einflußmöglichkeit der Backbencher und die wesentlichste Sicherung gegen eine Isolierung und mangelnde Elastizität der Regierung. Angesichts der skandalösen Arbeitsverhältnisse, der starken Abhängigkeit von seiner Partei und der erheblich unter der der Bundestagsmitglieder liegenden schlechten Bezahlung der Abgeordneten 76 wird es besonVgl. zum Folgenden die beiden Reports from the Select Committee on House of Commons' Accommodation, H. C. Papers 309 (1952/53) und 184 (1953/54), den Report of the Select Committee on Procedure . .. 1959, a. a. O., Proceedings, S. LIII, sowie die Unterhausdebatte vom 31. 3. i960 (Η. C. Debs., $. Ser., Bd. 620, Sp. 1522 fi.) sowie Alfred Junz, Accommodation at Westminster, in: Pari. Affairs, Bd. 13, 1959/60, S. 100 if. 74

75 Die Sitzungszeit dauert in der Regel montags bis donnerstags von 14.30—22.30 Uhr, freitags von 11.00—16.30 Uhr. Außerdem sind zwei Vormittage in der Woche für Standing Committees vorgesehen. Das britische Parlament tagte von 1946 bis 1957 im Durchschnitt an 158 Tagen im Jahr (Report from the Select Committee on Procedure.. . 1959, a. a. O., Appendix I, S. 192 f.). Im Vergleich dazu hatte der Bundestag, in dem die Plenarsitzungen im allgemeinen auch sehr viel kürzer sind, im Durchschnitt der Jahre 1949 bis 1961 nur $6 Sitzungen pro Jahr. 76 Der über keine Pensionsredite verfügende britische Unterhausabgeordnete erhält insgesamt £ 1750 pro Jahr (ca. 1640 D M pro Monat), die häufig völlig für die mit seinem Amt verbundenen und nicht gesondert bezahlten Ausgaben (ζ. B. für eine

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

321

ders für die Opposition schwierig, den geeigneten Nachwuchs an guten parlamentarischen Kandidaten zu bekommen und ihre besten Köpfe, die außerhalb des Parlaments attraktivere Positionen finden können, zu halten. Zur Auffrischung des politischen Lebens, zur Uberwindung der Stagnation an der Spitze und zur Vergrößerung des Ministerreservoirs hat R. T. McKenzie kürzlich vorgeschlagen, auch in Friedenszeiten die führenden Regierungspositionen nicht nur mit Parlamentariern zu besetzen.77 Dagegen bestehen aber m. E. erhebliche Einwände. Eine derartige Praxis würde einmal das Nachwuchsproblem für das Parlament verschärfen, ist doch die Aussicht auf ein Regierungsamt der Hauptanreiz der parlamentarischen Karriere. 78 Zum anderen aber sollte man den Einfluß der Prägung der führenden Politiker durch die Atmosphäre des Unterhauses auf die Entschärfung von Gegensätzen, die Integration der politischen Kräfte des Landes und die Form der Führung von politischen Auseinandersetzungen nach Regeln der Fairness und des Respekts für den politischen Gegner nicht zu gering veranschlagen.79 Der inforSekretärin, für Briefe und Telefongespräche mit Personen seines Wahlkreises und mit Kollegen, für einen zweiten Wohnsitz in London usw.) verbraucht werden. Im Vergleich dazu erhält der ebenfalls eher unterbezahlte Bundestagsabgeordnete an A u f wandsentschädigung, Unkostenpauschale, Tagegeldpauschale und der je nach der Entfernung seines Wohnsitzes von Bonn variierenden Reisekostenpauschale 2960—3460 D M im Monat. Der Anreiz für britische Abgeordnete, sich durch die Arbeit f ü r Werbeagenturen oder Public Relations Firmen zusätzliche Einnahmen zu verschaffen und die Versuchung, seinen politischen Einfluß und sein politisches Prestige zur Förderung der Interessen seiner Arbeitgeber einzusetzen, ist daher sehr groß. Besonders bedenklich an der rapiden Zunahme der Zahl der von derartigen Unternehmen beschäftigten Abgeordneten (Ende 1 9 6 1 = 27) ist es, daß die Verbindung der Abgeordneten mit den Firmen nicht offen dargelegt werden muß und daß leicht ein Interessenkonflikt zwischen seiner privaten Tätigkeit (ζ. B. in Unternehmungen, die der Popularisierung der Sowjetzone oder der Förderung von Wirtschaftsbeziehungen britischer Firmen mit den Ostblockstaaten dienen) und der Wahrnahme seiner politischen Pflichten entstehen kann (vgl. dazu audi Francis Noel-Baker, M. P., "The Grey Zone", The Problem of Business Affiliations of Members of Parliament, in: Pari. Affairs, Bd. 1 5 , 1961/62, S. 87 ff.). 77 Probleme der englischen Demokratie, in: Die Demokratie schaft, hrsg. von Richard Löwenthal, Berlin 1963, S. 60 ff. 78

im Wandel der

Gesell-

Eine interessante Untersuchung über die Wege des Aufstiegs zum Kabinettsminister in Großbritannien von 1868—1958 gibt F. Μ. H . Willson, The Route of Entry of New Members of the British Cabinet, 1868—1958, in: Political Studies, Bd. 7, 1959, S. 222 ff. 79 Vgl. dazu auch Ritter, Deutscher und Britischer Parlamentarismus, S. 30 f. Palmerston verbrachte 58, Gladstone fast 62 und Churchill bisher 61 Jahre als Abgeordneter im Unterhaus. 21

Fraenkel

322

Gerhard

Α.

Ritter

melle Charakter der Debatten des Unterhauses und die Notwendigkeit, sich in diesem kritischen Gremium von Gleichberechtigten durchzusetzen, ist zudem eine fast automatische Sicherung gegen den Aufstieg von Demagogen und Diktatoren. Obwohl das britische Parlament in den letzten 100 Jahren seinen Einfluß auf den eigentlichen Entscheidungsprozeß weitgehend verloren hat und seine Kontrollrechte erheblich beschnitten wurden, konnte es sein Ansehen in der Öffentlichkeit, das es am Anfang des Jahrhunderts zu verlieren drohte, erhalten und ist f ü r den Stil des britischen politischen Lebens maßgebend geblieben. Ist in Bagehots Terminologie seine Bedeutung als "efficient part" der Verfassung gesunken, so ist dagegen seine Rolle als eines der "dignified parts" des Regierungssystems, die die Autorität der Verfassung bei der Bevölkerung begründen, immer wichtiger geworden. III. Der Einftuß der Verbände auf Politik und Verwaltung Die am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommenen, straff organisierten modernen Verbände 80 stellen heute in Großbritannien entscheidende Instrumente zur Beeinflussung der Regierungspolitik und zur detaillierten Abstimmung der Gesetzgebung und der Verwaltungstätigkeit mit den Vorstellungen und Interessen der Bevölkerung dar. Unter modernen Bedingungen bildet — wie ein 1949 vom Premierminister eingesetzter Ausschuß (Committee on Intermediaries) feststellte — die organisierte Verbindung zwischen Vertretern von Handel, Industrie und Privatpersonen auf der einen und Regierungsbehörden auf der anderen Seite einen wesentlichen und anerkannten Teil der Regierungsmaschinerie. 81 Die gesicherte Stellung und der starke Einfluß der diese Verbindung vor allem herstellenden Berufsorganisatio80

Hier sollen nur ihre Beziehungen zur Regierung und zur Verwaltung — in

Großbritannien der wichtigste Aspekt der politischen Arbeit der Verbände, die natürlich audi unpolitische Aufgaben im Interesse ihrer Mitglieder erfüllen — behandelt werden. Der Einfluß auf das Parlament — vor allem durch die Stützung der der Organisation nahestehenden Kandidaten und die Zusammenarbeit mit den Sachausschüssen der Parteien (vgl. dafür besonders J . D. Stewart, British Their

Role

Anonymous

in Relation Empire.

to the House

A Study

of

of the Lobby

Commons, in Great

Pressure

Groups.

Oxford 1 9 5 8 , und S. E. Finer, Britain,

London 1 9 5 8 ) — wird

dabei ebenso wie der direkte Einfluß auf die Öffentlichkeit und die Parteien ausgeklammert. 81

Report

of the Committee

on Intermediaries,

Cmd. 7904 (1950), § 6.

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

323

nen und Wirtschaftsverbände auf Politik, Gesetzgebung und Verwaltungspraxis beruht auf dem heute allgemein anerkannten Recht der durch eine staatliche Maßnahme vor allem betroffenen Interessen und Bevölkerungsgruppen, konsultiert zu werden, und auf dem Bedürfnis von Regierung und Verwaltung, auf die praktischen Erfahrungen und das Expertenwissen zurückzugreifen, das diese Organisationen vermitteln können. Die Konsultation muß nicht immer zu Ubereinstimmung führen. Vor allem in parteipolitisch kontroversen Fragen und bei scharfen Gegensätzen zwischen rivalisierenden Interessen können die von der Regierung herangezogenen Verbände ihre Vorstellungen häufig nicht durchsetzen. Ein Abbruch der Beziehungen zur Regierung und eine offene Bekämpfung der Pläne und Gesetzentwürfe der Regierung durch die Entfesselung einer Propagandakampagne oder den Versuch, die Durchführung der Regierungspolitik durch die Verweigerung der Mitarbeit zu verhindern, sind jedoch relativ selten. Die Erfahrungen haben vielmehr gezeigt,82 daß eine derartige Obstruktionstaktik die Position der Regierung im allgemeinen nicht erschüttert. Der Verband dagegen beraubt sich durch sie der Chance, wenigstens in Einzelfragen — vor allem in den Ausführungsbestimmungen und der Anwendung von Gesetzen — Konzessionen der Regierung zu erreichen. Die Beziehungen der Verbände zu den Regierungsbehörden werden von einem Satz fester, wenn auch ungeschriebener Gewohnheitsregeln bestimmt. Wesentliche Voraussetzungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der Regierung und einem Verband sind dabei, daß die Organisation wirklich für einen Wirtschaftszweig oder eine Berufsgruppe repräsentativ ist und keine Konkurrenzorganisation besteht, daß sie ihre Wünsche nicht übersteigert, sondern verantwortungsbewußt auftritt und handelt und daß sie sich durch die Zuverlässigkeit in der Einhaltung von Zusagen sowie durch die Bereitschaft zur Unterstützung der Behörden bei der Regelung komplizierter Detailfragen unpolitischen Charakters als guter Partner erweist. Man hat in der Zähmung der britischen Verbände einen kennzeichnenden Unterschied zu den Verbänden der Vereinigten Staaten gesehen.83 82

So w a r der Versuch der Eisen- und Stahlhersteller, die Durchführung der Politik

der Labour-Regierung durch Boykott der Eisen- und Stahlbehörde zu verhindern, ein Fehlschlag (Mackintosh, α. α. Ο., S. 475)· 83

S. Ε. Finer, Three Books

S. 194. 21

on Pressure

Groups,

in: Political

Studies,

Bd. 5, 1957,

324

Gerhard

Α.

Ritter

D a es praktisch unmöglich ist, das moderne Wirtschafts- und Sozialleben im Vakuum zu regulieren, setzt die Arbeit der britischen Regierung und Verwaltung heute die Existenz und die Mitarbeit von Interessengruppen voraus. 84 Besonders in den beiden Weltkriegen, als der Bereich der Regierungstätigkeit sich plötzlich rapide ausdehnte und eine detaillierte Kontrolle der Wirtschaft nötig wurde, ist es häufig vorgekommen, daß die Regierung selbst die Initiative zur Schaffung von Verbänden ergriffen hat, um einen Verhandlungspartner zu erhalten und um die Selbstverwaltung und Selbstkontrolle eines Wirtschaftszweiges zu fördern. 85 Neben der H i l f e bei der Regelung technischer Fragen, der Mitarbeit bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen und Rechtsverordnungen und der Unterstützung der Regierung bei Planungen, Erhebungen und Untersuchungen nehmen die Verbände teilweise — wie man besonders am Beispiel der engen Zusammenarbeit staatlicher Behörden mit der Organisation der Farmer nach 1945 8 6 zeigen könnte — auch Aufgaben der staatlichen Verwaltung wahr. Besonders in den Jahren des Krieges und unmittelbar danach waren die H i l f e bei der behördengerechten Abfassung von Anträgen, die Siebung von Wünschen und Beschwerden ihrer Mitglieder und die Abschreckung von Querulanten wesentliche, von der Verwaltung dankbar begrüßte Funktionen der Verbände. 87 Die National Union of Manufacturers w a r deshalb wohl nicht zu Unrecht der Meinung, daß sie von den Regierungsbehörden nicht als "trouble maker", sondern als "trouble shooter" angesehen werde. 88 Zwischen den Stäben der großen Verbände und den f ü r ihre Arbeit zuständigen Beamten gibt es meist enge und freundschaftliche Beziehungen auf allen Ebenen. 89 Nicht selten handelt es sich bei den Angestellten der Verbände um ehemalige Beamte, die aufgrund ihrer Verwaltungserfahrung, ihrer Einsicht in den 84

Vgl. auch die Bemerkungen von S. E. Finer: The Federation

stries, in: Political 85

Vgl. Report

of British

Indu-

Studies, Bd. 4, 1956, S. 65 f. of the Committee

on Intermediaries,

a . a . O . , §§63 und 118. Ein

Beispiel für die finanzielle Unterstützung der Gründung eines derartigen Verbandes durch die Regierung gibt Allen Potter, Organized

Groups

in British National

London 1 9 6 1 , S. 32. 86

Vgl. Report

of the Committee

87

Ebda., bes. §§ 43, 63, 1 1 9 , 124.

88

Ebda., § 124.

89

Ebda., § 1 1 8 .

on Intermediaries,

a. a. O., § 43.

Politics,

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

325

inneren Aufbau einer Behörde und ihrer persönlichen Kontakte besonders geschätzt werden. 90 Die Beziehungen zwischen der Regierung und den Verbänden haben heute in Großbritannien einen bedeutsamen Anteil an der Erreichung einer möglichst weitgehenden Zustimmung der Bevölkerung zur Regierungspolitik, an der Durchbrechung der Isolation der Bürokratie und an der Verminderung der mit der staatlichen Regulierung des Sozialund Wirtschaftslebens notwendig verbundenen Reibungen. Die Verbände bilden damit in Großbritannien wie die Parteien unentbehrliche Kanäle zur Beeinflussung des Staates von unten und sind notwendige Bestandteile der modernen britischen Verfassung. Sie haben einen Teil der Funktionen zur detaillierten Kontrolle der Exekutive übernommen, die vom Parlament aufgrund der Festigung der Fraktionsdisziplin und der Arbeitsüberlastung nicht mehr wahrgenommen werden können. Ihre ständig enger werdenden Beziehungen zur Regierung führen aber auch zu der bedenklichen Entwicklung einer Aushöhlung des Kompetenzbereichs des Parlaments und zu dessen immer stärkerer Zurückdrängung im Prozeß der politischen Willensbildung. 91

IV. Die richterliche Kontrolle der Verwaltung Die Erhaltung des richtigen Gleichgewichts zwischen der Berücksichtigung der Rechte und Interessen des einzelnen auf der einen sowie den Erfordernissen des Allgemeinwohls und einer leistungsfähigen Verwaltung auf der anderen Seite ist ein altes zentrales Problem des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. In Großbritannien haben seit der Glorious Revolution die Gerichte wegen des Grundsatzes der uneingeschränkten Souveränität des jeweiligen Parlaments, wegen des relativ weiten Bereiches der später vom Premierminister und vom Kabinett übernommenen Prärogativrechte der Krone und wegen der Hindernisse, die die rechtliche Unverantwortlichkeit der Krone bis zum Crown Proceedings Act von 1947 9 2 der H a f t b a r machung des Staates f ü r die Handlungen seiner Organe und Beauftragten in den Weg legte, nicht die gleiche zentrale Rolle im politischen 90

Vgl. die Ausführungen von Patrick Hannon, dem ehemaligen Präsidenten der National Union of Manufacturers, in: The British Manufacturer, Oktober 1955, S. 8. 91 Vgl. auch oben, S. 308. 92 1 0 und 1 1 Geo. 6, c. 44. Für eine Analyse der Bedeutung dieses Gesetzes vgl. D. L. Keir und F. H . Lawson, Cases in Constitutional Law, Oxford 4 i954, S. 190 ff.

326

Gerhard

Α. Ritter

Leben spielen können wie in den Vereinigten Staaten. 93 Trotz der relativ großen Ermessensfreiheit der Exekutive haben aber englische Richter — wie besonders der berühmte Rechtsfall Entick v. Carrington von 1765 zeigt94 — Eingriffe der Exekutive in die Rechte des einzelnen, die nicht eindeutig durch parlamentarische Gesetze oder Prärogativrechte der Krone gerechtfertigt waren, im ganzen gesehen im 18. und 19. Jahrhundert verhindern können. Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die Exekutive sich immer weitergehende Rechte durch parlamentarische Gesetze übertragen ließ und angesichts der Ausdehnung der Staatsfunktionen eine detaillierte richterliche Prüfung der Verwaltungstätigkeit mit den komplizierten, kostspieligen Methoden des englischen Rechts ohne Entwicklung neuer spezieller Gerichte und einfacherer Verfahrensgrundsätze praktisch nicht zu realisieren war, hat sich die Waagschale eindeutig zugunsten der Verwaltung gesenkt. Das kommt audi in der neueren Tendenz der britischen Gerichte, sich zum Anwalt der Exekutive gegenüber dem Bürger zu machen, für die die Urteile in Local Government Board v. Arlidge ( i 9 i 4 ) 9 5 und Liversidge v. Anderson and Another (i942) 8 6 Zeugnis geben, zum Ausdruck. In einem berühmten, vom Urteil seiner Kollegen 83 Die historischen Gründe für die nodi heute bestehende Stärke der Exekutive im Gerichtsverfahren werden in der grundlegenden Untersuchung von S. A. de Smith, Judicial Review of Administrative Action, London 1959, eingehend behandelt. 94 Vgl. die Auszüge bei Keir-Lawson, a. a. O., S. 1 7 4 ff. 95 In Arlidge's Case (The Law Reports, 191 f , House of Lords, Judicial Committee of the Privy Council and Peerage Cases, S. 1 2 0 ff.) war vom House of Lords in Revision eines Urteils des Court of Appeal entschieden worden, daß Behörden nicht verpflichtet seien, dem Verfahren von Gerichtshöfen in Behandlung eines Einspruchs gegen das Verbot der Bewohnung eines Hauses zu folgen. Dem vom Gericht abgewiesenen Kläger war weder eine Möglichkeit zur mündlichen Darlegung seiner Argumente vor dem für die Entscheidung Verantwortlichen noch eine Einsicht in den für die Entscheidung bedeutsamen Bericht eines Inspektors über den Zustand des Hauses eingeräumt worden. 96 In Liversidge's Case ( T h e Law Reports, 1942, House of Lords, Judicial Committee of the Privy Council and Peerage Cases, S. 206 ff.) handelt es sich um die Art der dem Innenminister am Anfang des Krieges übertragenen Rechte zur Internierung von Personen. Das Recht zur Internierung war gegeben "if the Secretary of State has reasonable cause to believe any person to be of hostile origin or associations . . . " . Im vorliegenden Fall entschied das Gericht, daß die subjektive Auffassung des Ministers, daß er „vernünftige Gründe" habe, ausreiche, um die Forderung nach vernünftigen Gründen zu erfüllen, daß dem Betroffenen die Gründe der Ansicht des Ministers nicht offenbart zu werden brauchten und daß sie so auch nicht vom Gericht nachgeprüft werden konnten.

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

327

abweichenden Sondervotum in dem zweiten dieser beiden für die Ausbildung des britischen Verwaltungsrechts höchst bedeutsamen Reditsfälle hat daher ein britischer Richter kritisiert, daß er Argumente gehört habe, "which might have been addressed acceptably to the Court of King's Bench in the time of Charles I " . 9 7 Als Motive für den Verzicht auf eine ins einzelne gehende richterliche Kontrolle der Verwaltungstätigkeit wurde von den Richtern in den letzten Jahrzehnten im allgemeinen geltend gemacht, daß der Grundsatz der eindeutigen Verantwortung des Ministers für die Handlungen der ihm unterstellten Behörden nicht angetastet werden dürfe und daß das Parlament — nicht die Gerichte — den angemessenen Ort für die Kontrolle der Arbeit der Minister und der Verwaltung darstelle. 98 Ein besonderes Problem wirft die in diesem Jahrhundert in Großbritannien mit der Zunahme der fürsorgerischen Aufgaben und der Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben zu beobachtende Entwicklung einer administrativen Rechtsprechung und die Übertragung von Funktionen richterlicher Art an Minister und Behörden auf. Zum Beispiel bei der Festsetzung von Pensionen und Leistungen staatlicher Versicherungen oder bei der Zwangserwerbung von Land werden dabei heute oft von Ministern und Verwaltungsstellen Entscheidungen getroffen, die tief in die Rechte der einzelnen Bürger eingreifen, ohne daß die Möglichkeit der Anrufung eines ordentlichen Gerichtes oder auch nur das Recht der Einsicht in die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Unterlagen gegeben ist. Für einen bedeutsamen Teil dieser Fragen werden dabei bei Einsprüchen gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt sogenannte spezielle Tribunale (tribunals), die mit Zustimmung des Parlaments vom Minister gebildet werden, oder der Minister selbst, der dabei einem festgelegten Verfahren zu folgen hat, mit der weiteren, meist endgültigen Entscheidung beauftragt. Die in Verfassung, Aufgabenbereich und Verfahren höchst unterschiedlichen Tribunale" besitzen dabei einen mehr oder minder großen Grad der Abhängigkeit von der Verwaltung und können sowohl als Teil der Verwaltungsmaschinerie als auch als Instrumente der Rechtsprechung angesehen werden. 97

Ausführungen von Lord Atkin, ebda., S. 244. In den beiden besprochenen Rechtsfällen spielte diese Argumentation eine zentrale Rolle. Vgl. weiter Marshall-Moodie, a. a. O., S. 88 ff. 88

99

Vgl. Report of the Committee Cmnd. 2 1 8 (1957), §§ 35 ff.

on

Administrative

Tribunals

and

Enquiries,

328

Gerhard

Α.

Ritter

Die erste große Untersuchung des Bereiches der als richterlich (judicial) oder halbrichterlich (quasi-judicial) bezeichneten Funktionen der Exekutive durch das Committee on Ministers' Powers 1929—1932 1 0 0 führte zu dem nicht ganz gelungenen Versuch, durch die Definition von „richterlichen", „halbrichterlichen" und „administrativen" Aufgaben die Grenze zwischen Verwaltungsentscheidungen und Entscheidungen rechtlicher Art, die durch das Parlament an unabhängige Tribunale oder Gerichte übertragen werden sollten, abzustecken. Sie belebte die akademische und politische Diskussion dieser Frage, blieb aber ohne direkte Wirkung. Erst 1955, nach der scharfen Kritik an der Bürokratie im Zusammenhang mit der Crichel Down Affäre, wurde mit der Bildung des sogenannten Franks Committee zur Untersuchung der Verfassung und der Arbeitsweise der von Ministern gebildeten „Tribunale" und des administrativen Verfahrens bei Einsprüchen gegen die Zwangsenteignung von Land der Problemkreis der richterlichen Funktionen der Exekutive erneut aufgegriffen. Die Verwirklichung einer Reihe der wesentlichsten Empfehlungen dieses Ausschusses101 ist nach Jahrzehnten einer ständigen Zurückdrängung der Gerichte und einer Ausweitung der Entscheidungsbefugnisse von Ministern und Behörden über die Rechte der Bürger das erste Anzeichen einer gegenläufigen Tendenz zur stärkeren richterlichen Kontrolle der Arbeit der Bürokratie und zur besseren Abschirmung der nach rechtlichen Grundsätzen zu behandelnden richterlichen von den politischen und administrativen Funktionen der Behörden. Besonders wichtige Ergebnisse der Arbeit des Franks Committee sind die Errichtung eines Rates (Council of Tribunals) zur ständigen Überprüfung der Verfassung und Arbeitsweise der Tribunale, 102 die nach Auffassung des Ausschusses als Teil der Maschinerie der Rechtsprechung und nicht der Verwaltung angesehen werden sollten 103 sowie die Erweiterung des Rechts, gegen die Entscheidungen der Mehrzahl der Tribunale Be100

Committee on Ministers' Powers, Report, a. a. O., S. 7 1 ff. Vgl. die Zusammenfassung der insgesamt 95 Hauptempfehlungen in § 409 des Report. Analysen des Berichtes geben: E. C. S. Wade, Administration under the Law, in: Law Quarterly Review, Bd. 73, 1 9 5 7 , S. 470 ff.; William A.Robson, Administrative Justice and Injustice: A Commentary on the Franks Report, in: Public Law, 1958, S. 1 2 ff.; Geoffrey Marshall, The Franks Report on Administrative Tribunals and Enquiries, in: Public Administration, Bd. 35, 1 9 5 7 , S. 347 ff. 102 Vgl. Tribunals and Inquiries Act, 1958 (6 und 7 Eliz. 2, c. 66) bes. § 1 . Eine Aufstellung über die verschiedenen Arten von Tribunals gibt Schedule I des Gesetzes. 101

>03 Report,

§ 40.

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in Großbritannien

329

rufungen an die ordentlichen Gerichte einzulegen. 104 Auch die Formalisierung des Verfahrens bei Einsprüchen gegen die Zwangsenteignung von Land — u. a. durch die Offenlegung der behördlichen Unterlagen und die ausführliche Begründung der ministeriellen Entscheidung — sind eine Konsequenz von Empfehlungen des Ausschusses.105 Für den Teilbereich der Verwaltungsarbeit, in dem ein formelles Verfahren zur Behandlung von Einsprüchen vorgesehen ist, kam es so zur Etablierung neuer Methoden und Institutionen zur besseren Verwirklichung der vom Franks Committee als Richtschnur aufgestellten 106 Grundsätze der Offenheit, Fairness und Unparteilichkeit in der Entscheidung von Streitfragen zwischen der Verwaltung und den Bürgern des Landes. Das Gesamtproblem der Kontrolle der die Rechte und Interessen des einzelnen berührenden Verwaltungsentscheidungen, die ja in ihrer Mehrzahl kein formelles Verfahren erfordern, ist damit aber noch nicht gelöst.Während das Parlament die ihm bei der Kontrolle der Verwaltung zugewiesene zentrale Rolle aufgrund der Festigung der Fraktionsdisziplin — die Unterstützung des für die angegriffene Behörde verantwortlichen Ministers wird von den Fraktionskollegen meist als Gebot der Parteiräson angesehen — und der Komplexität des Gegenstandes nicht voll ausfüllen kann, ist ein richterliches Prüfungsrecht für weite Bereiche der Verwaltungstätigkeit praktisch nicht gegeben. Die immer wieder erhobenen Forderungen nach der Bildung eines englischen obersten Verwaltungsgerichts nach dem Muster des französischen Conseil d'Etat und dem Ausbau eines von Regierung und Verwaltung völlig unabhängigen Verwaltungsrechts nach dem Vorbild des französischen Droit Administratif sind bisher — wohl auch als eine Nachwirkung der scharfen und ungerechtfertigten Kritik des berühmten englischen Rechtslehrers Dicey an der Trennung von Zivilrecht und Verwaltungsrecht in Frankreich — abgelehnt worden. 107 Es kann aber kaum bezweifelt werden, daß, in Fortsetzung der durch das Franks Committee begonnenen Arbeit, neue Formen zur Verbesserung der richterlichen Kontrolle von Verwaltungsakten herausgebildet werden müssen, wenn das Vertrauen der briTribunals and Inquiries Act, §§ 9 — 1 1 . Report, bes. §§ 2 8 1 ff. Für die im ganzen positive Haltung der Regierung zu den Vorschlägen des Ausschusses vgl. die Unterhauserklärung Butlers vom 3 1 . 1 0 . 1 9 5 7 (H. C. Debs., 5. Ser., Bd. 575, Sp. 400 ff.). 108 Report, §§ 23—25 und 42—43. 107 Ygj Committee on Ministers' Powers, Report, a . a . O . , S. n o f f . , sowie den Report des Franks Committee, §§ 1 2 0 — 1 2 6 . 104

105

330

Gerhard

Α. Ritter

tischen Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Fairness der Verwaltung bei Entscheidungen über die Rechte und Interessen der Bürger erhalten bleiben soll. Dabei muß aber auch bedacht werden, daß eine nicht eindeutig definierte Ausdehnung des richterlichen Prüfungsrechts für Verwaltungsakte die Gefahr in sich birgt, daß eine konservative Richterschaft — wie in den Vereinigten Staaten in den Anfangsjahren des New Deal — ihre Rechte zum Widerstand gegen soziale Experimente und zur Aushöhlung des vom Parlament errichteten Wohlfahrsstaates ausnützen könnte. V. Die Rolle der öffentlichen

Meinung

Für den demokratischen Charakter des britischen Regierungssystems ist es bei der fast unbegrenzten Macht der jeweiligen Regierung entscheidend, daß diese Macht widerrufbar ist und daß die in der Stimmabgabe der Bevölkerung zum Ausdruck kommende öffentliche Meinung nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis eine wirksame Sanktion gegen den Mißbrauch der mit der Macht gegebenen treuhänderischen Verpflichtungen darstellt. Britische Regierungen sind jedoch keineswegs mit einem sich nach dem wechselnden Winde der öffentlichen Meinung drehenden Wetterhahn zu vergleichen. Besonders in den ersten Jahren einer Legislaturperiode haben sie weitgehende Handlungsfreiheit für die Durchführung audi unpopulärer, aber von ihnen als notwendig angesehener Maßnahmen, deren positive Wirkungen bis zum Zeitpunkt der Wahl spürbar werden können. Der Ausgang der Wahl hängt auch weniger von einzelnen Handlungen als von der Gesamtbeurteilung der Arbeit und der Qualität der Regierung und besonders des Premierministers ab. Nichts schadet dabei der Regierung so sehr wie der Eindruck, daß sie im Haschen nach Popularität die Zügel schleifen läßt oder wegen innerer Gegensätze den drängenden Problemen ausweicht und keine klare Linie verfolgt. Die Gefahr, daß die wichtigsten Organe der Meinungsbildung unter der Kontrolle politisch unverantwortlicher Besitzer Tatsachen unterdrücken, die Argumente der öffentlichen Diskussion verzerren und so die Urteilsbildung der Wähler erschweren, hat in den letzten Jahren in Großbritannien viel Staub aufgewirbelt. Der BBC, das wichtigste Organ der Meinungsbildung, steht formell in völliger Abhängigkeit von der Regierung, die die Mitglieder seiner leitenden Behörde ernennt und entläßt sowie die Sendung oder Absetzung bestimmter Programme verlangen kann, ohne daß das der öffent-

Kontrolle

von Regierung

und Verwaltung

in

Großbritannien

331

lichkeit auch nur mitgeteilt zu werden braucht.108 In der Praxis jedoch ist der B B C von der jeweiligen Regierung, die von ihrem Vetorecht über die Programmgestaltung keinen Gebrauch macht, weitgehend unabhängig. 109 Während die eigene editorische Stellungnahme zu politischen Fragen ausdrücklich verboten ist, hat er die Pflicht, die verschiedenen Gesichtspunkte und Auffassungen zu allen Kontroversfragen in fairer Weise zu berücksichtigen.110 Außerdem werden den drei Hauptparteien des Landes nach einem zwischen ihnen vereinbarten Schlüssel bestimmte Zeiten für eigene Sendungen im Fernsehen und Rundfunk eingeräumt. 111 Die gleichen Bedingungen gelten für die Independent Television Authority, die im September 1955 mit ihren Sendungen begonnen hat und deren mit Werbung verbundene Programme von besonderen Gesellschaften hergestellt werden. Bei ihr allerdings ist die Gefahr der politischen Schleichwerbung in stärkerem Maße als beim B B C gegeben. Das Verbot der Erwerbung kontrollierender Anteile an den mit der I T A zusammenarbeitenden Produktionsgesellschaften durch Zeitungsunternehmen war deshalb auch die wichtigste Empfehlung einer im Februar i960 eingesetzten Royal Commission zur Untersuchung der wirtschaftlichen und finanziellen Ursachen der zunehmenden Besitzkonzentration in der britischen Presse. 112 Bereits 1961 kontrollierten die drei 108

Report

of the Broadcasting

Committee,

194g, Cmd. 81x6 (1951) § 27.

109

Ebda., §§ 2 8 — 3 3 sowie Memorandum of the Report of the Committee of Broadcasting, i960, Cmnd. 1 7 7 0 (1962), § 1 1 . Vgl. weiter John Coatman, The Constitutional Position of the BBC, in: Public Administration, Bd. 29, 1 9 5 1 , S. 1 6 0 f f . 110 Bei der Gewährung der ursprünglichen Lizenz 1 9 2 6 waren dem B B C zunächst Sendungen über "matters of political, industrial or religious controversy" verboten worden. Dieses Verbot wurde jedoch bereits 1928, um nicht ein wertvolles Mittel demokratischer Diskussion ungenützt zu lassen, zurückgezogen (Report of the Broadcasting Committee, 1949, a. a. O., § 31). Über die jetzige Praxis der Sendungen über Kontroversfragen vgl. ebda., §§ 259—265. 111 Ebda., § 264 sowie Report of the Broadcasting Committee 1949, Appendix Η: Memoranda submitted to the Committee, Cmd. 8 1 1 7 (1951), Paper 8: BBC Memorandum. Political Broadcasting: Aide-Memoire, S. 109 f. Für die neuere Situation vgl. auch: Sound and Television Broadcasting in the United Office of Information, London i960, S. 1 6 ff.

Kingdom,

hrsg. vom Central

112

Vgl. Royal Commission on the Press 1 9 6 1 — 6 2 , Report, Cmnd. 1 8 1 1 (1962), §§ 244—45, die Aufstellung über die Anteile von Presseunternehmen an Fernsehproduktionsgesellschaften, ebda. Appendix X I I I , S. 227 ff. sowie den Report of the Committee on Broadcasting, i960, Cmnd. 1 7 5 3 , in dem ebenfalls ausdrücklich gegen eine Beteiligung von Presseunternehmen an Fernsehproduktionsgesellschaften Stellung genommen wird (§§ 624—33).

332

Gerhard

Α.

Ritter

großen Londoner Pressekonzerne der Mirror-, der Beaverbrook- und der Rothermere-Gruppe 65 % der Gesamtauflagen der britischen Tages- und Sonntagszeitungen. 113 Die Auflagen jeder der von ihnen vertriebenen drei größten britischen Morgen-Zeitungen — Daily Mirror (4,561 Millionen), Daily Express (4,328 Millionen) und Daily Mail (2,610 Millionen) — lagen über der Gesamtauflage (1,8 Millionen) der 1961 noch bestehenden 18 Morgenzeitungen in der Provinz. 114 Die Mirrorgruppe kontrollierte weiter allein 90% der populären Wochen- und Monatsmagazine. 115 Von der Regierung und von den Parteien unabhängig spiegeln die großen Massenblätter die oft sehr eigenwilligen politischen Ansichten ihrer Besitzer wider, haben aber einen angesichts ihrer Verbreitung erstaunlich geringen Einfluß auf die politische Meinungsbildung und die Bestimmung der nationalen Politik. 116 Sind so die Gefahren einer einseitigen Manipulierung der öffentlichen Meinung bisher geringer, als man aufgrund der Monopolstellung einzelner Pressebesitzer denken sollte, so scheinen dagegen andere Faktoren das Schwingen des Pendels in der Wählergunst zwischen den Parteien und damit den alternativen Wechsel zwischen Regierung und Opposition 113

Royal

Commission

on the Press, Report,

a. a. O., § 20. Noch 1948 waren es nur

43 % • F ü r die Z a h l und die Verbreitung der v o n den größten britischen Unternehmungen vertriebenen Zeitungen vgl. weiter A p p e n d i x I V , S. 1 7 7 ff. 114

Ebda., §§ 9 und 1 1 .

115

The British

118

Nach der R o y a l Commission on the Press 1 9 6 1 / 6 2 ist der Einfluß der Presse

Press, hrsg. v o m Central O f f i c e of Information, London 1 9 6 1 , S. 1 9 .

" n o t as great as some suggest, or indeed, as it has been in the past. The advance of education has led to a readership which is more discriminating, at least in so f a r as concerns the acceptance of opinions expressed b y newspaper proprietors. Large numbers of people rely increasingly f o r news on broadcasting and television and probably tend to be more influenced by opinions and arguments on social and political problems put out on radio and television than they are b y those set forth in the newspapers. We do not think that it is possible f o r a newspaper or group of newspapers to swing public opinion overnight in any particular direction, whether by tendentious presentation of the news or b y direct expression of opinions. The influence of the Press is more gradual and takes the f o r m of subtle conditioning of opinion to the acceptance or rejection of particular approaches to social and political problems. C a m paigns conducted over a long period m a y h a v e their effect: thus the campaign conducted — quite f r a n k l y (and legitimately) f o r the purpose of propaganda —

by

Beaverbrook N e w s p a p e r s L t d . in support of the ideals of the British E m p i r e and more recently their opposition to the Common M a r k e t m a y not h a v e achieved all that L o r d Beaverbrook w o u l d h a v e wished, but it w o u l d be impossible to suppose that they had no result" (§ 29).

Kontrolle von Regierung und Verwaltung in Großbritannien

333

zu gefährden. Zum ersten Mal seit dem Einsetzen des Schwingens des Pendels mit der Ausdehnung der Wählerschaft und der praktischen Ausschaltung des Regierungseinflusses auf die Wahlen nach dem Reformgesetz 1832 hat eine Partei in vier aufeinanderfolgenden Wahlen, von denen sie zudem zwei als Regierungspartei bestritt, ihren Stimmenanteil erhöhen können. Galt es bisher als Regel, daß die Regierung mit den ungelösten Problemen des Sozial- und Wirtschaftslebens belastet, sich nach einigen Jahren abnutzte, so hat sie heute, seit der Keynesschen Revolution in der Wirtschaftstheorie mit besseren Mitteln zur Überwindung wirtschaftlicher Depressionen und sozialer Mißstände ausgestattet, im Vergleich zur Opposition eine Reihe von Vorteilen: Die Handlungen und Reden ihrer Führer haben größeren Neuigkeitswert als die der Führer der Opposition. Eine Partei, die lange in der Opposition steht, läuft Gefahr, ihre Anziehungskraft auf die mit ihr verbundenen Verbände, denen die Regierung mehr zu bieten hat, zu verlieren. Auch bedeutet die Bestimmung des Wahltermins durch den Premierminister — früher ein zum Funktionieren des Systems notwendiges Gegengewicht zu dem normalen Trend des Wählerwillens zur Opposition — heute in einer Zeit ständiger politischer Meinungsumfragen unter Umständen einen entscheidenden Vorteil der Regierung. Anscheinend wird diese jetzt nur noch dann abgelöst, wenn sie offensichtlich abgewirtschaftet hat, ihre Politik durch äußere Ereignisse zusammengebrochen ist oder die soziale Entwicklung gegen sie läuft. Man wird daher voraussichtlich wohl auch in Großbritannien, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, jetzt mit längeren Amtsperioden der jeweiligen Regierungen rechnen müssen. Damit stellt sich das Problem, die Dynamik und Vitalität von Regierung und Opposition zu erhalten und der schon jetzt spürbaren Tendenz einer zunehmenden politischen Lethargie der Bevölkerung entgegenzuwirken, um "government by discussion" nicht zur Regierung im politischen Vakuum werden zu lassen. Es bestehen also in Großbritannien sehr ernsthafte Verfassungsprobleme, die, weitgehend auf die gleichen Ursachen der Ausdehnung der staatlichen Funktionen und der Festigung des Parteiensystems zurückgehend, zum Teil deutliche Parallelen in der Bundesrepublik finden. Wenn wir trotzdem die Zukunft des parlamentarischen Regierungssystems in Großbritannien optimistisch beurteilen können, so deshalb, weil bei allen relevanten politischen Kräften des Landes heute die grundsätzliche Bereitschaft besteht, diese mit den stolzesten Traditionen der britischen Geschichte verbundene Regierungsform durch die Anpassung

334

Gerhard

Α. Ritter

an die modernen Bedingungen am Leben zu erhalten und weil die jeweiligen Regierungen die notwendige Selbstdisziplin in der Ausübung ihrer formell fast uneingeschränkten Macht beweisen. Um die Bedeutung dieser Selbstkontrolle zu unterstreichen, genügt es nicht, nur daran zu erinnern, daß eine einfache parlamentarische Mehrheit der Unterhausabgeordneten heute nach der praktischen Ausschaltung der Macht des Monarchen und der Lords ausreicht, um eine Suspension der Tagungen des Parlaments, eine Verhaftung von Mitgliedern der Minorität und eine Aufhebung der Freiheitsrechte der Bürger zu erzwingen und eine Diktatur auf legalem Wege einzurichten. Auch weniger weitgehende Maßnahmen, wie die Beschränkung der der Opposition zur Verfügung stehenden parlamentarischen Zeit, die Ernennung von Richtern und Beamten nach parteipolitischen Gesichtspunkten, die Ausnützung der erheblichen Macht des vom Unterhaus gewählten Sprechers im Interesse einer Partei, die Änderung der Wahlkreiseinteilung zugunsten der Regierungspartei, die Weigerung, mit den mit der Opposition liierten Verbänden zusammenzuarbeiten, oder die Ausnützung der der Regierung gegenüber Fernsehen und Rundfunk gegebenen Kontrollfunktionen zur Unterdrükkung der Auffassungen ihrer Opponenten — sämtlich Maßnahmen, die keine neuen Gesetze erfordern würden — könnten das britische politische System aus den Angeln heben und die Ablösung der herrschenden Partei fast unmöglich machen. Die Grundsätze des fair play und der vom Geist und den Traditionen des Parlaments bestimmte Stil der Politik sind so heute noch stärker als früher ein notwendiger und durch keine formellen Kautelen gegen Machtmißbrauch zu ersetzender Bestandteil des britischen Verfassungslebens.

OTTO

KAHN-FREUND

Rechtliche Garantien der innergewerkschaftlichen Demokratie Betrachtungen zum englischen Recht I

Im Laufe der letzten fünf Jahre ist in Großbritannien wie in Amerika das Problem der inneren Gewerkschaftsdemokratie und ihrer rechtlichen Garantien in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Eine Anzahl zum Teil sensationeller Prozesse in England 1 haben beinahe ebenso viel Aufmerksamkeit erregt wie die Untersuchungen des McClellan-Ausschusses des Senats in den Vereinigten Staaten. 2 Zu der Intensität dieses Interesses und der Bedeutung des Problems in der juristischen Literatur namentlich Amerikas 3 steht die fast stiefmütterliche Be1 Diese Prozesse betrafen die Electrical Trades Union. Der wichtigste war Byrne v. Foulkes (1961), The Times June 29, July 4, 1 9 6 1 C. L . Y . 8921. Diesem Prozeß gingen eine Reihe anderer Verfahren voraus: s. 1960 C. L. Y . 3224—3228. Es handelte sich um eine „conspiracy" zur Fälschung der Wahl des Generalsekretärs. Das Ergebnis der vom Gericht angeordneten Neuwahl war schließlidi die Entfernung des kommunistischen Vorstandes der Ε. T. U. Einen genauen Bericht des Verfahrens gibt Rolph, All those in Favour? The Ε. T. U Trial, 1962. S. auch Grunfeld, Trade Unions and the Individual in English Law, 1962, 1 6 ff. 2

Select Committee on Improper Activities in the Labor and Management Field. Dieses beruhte auf einer Senatsresolution von 1 9 5 7 : S. Res. 74. 85th Congr. ist Sess., 1 0 3 Congr. Ree. 1264. Der Ausschuß erstattete drei Berichte: 85th Congr. 2nd Sess., Rep. No. 1264; 86th Congr., ist Sess., Rep. 6 2 1 ; 86th Congr. 2nd Sess. Rep. 1 1 3 9 . 3

Die Literatur ist unübersehbar, aber zum Teil durch den Labor-Management (Reporting and Disclosure) Act, 1959, überholt. Unter den neueren Schriften sind von besonderer Bedeutung: Grodin, Union Government and the Law, Los Angeles, Univ. of California Institute of Industrial Relations, 1 9 6 1 (ein Vergleich des englischen und amerikanischen Rechtes); Aaron, The Labor-Management Reporting and Disclosure Act of 1959, (i960) 73 Harv. L. Rev. 8 5 1 ; Cox, The Role of the Law in Preserving Union Democracy, (1959) 72 Harv. L. Rev. 609; Id., Internal Affairs of Unions under the Labor Reform Act of 1959, (i960) 58 Mich. L. Rev. 8 1 9 ; Lipset, The Law and Trade Union Democracy, (1961) 47 Virginia Law Rev. 1 ; Smith, R . Α., The Labor-Management Reporting and Disclosure Act of 1959, (i960) 46 Virginia Law Rev. 1 9 5 ; Summers, The Law of Union Discipline, (i960) 70 Yale L. J. 1 7 5 ; Id., Judicial Regulation of Union Elections, (1961) 7O Yale L. J. 1 2 2 1 ; Id., American Legislation for Union

336

Otto

Kahn-Freund

handlung dieser Fragen in den Ländern des europäischen Kontinentes in einem unverkennbaren Gegensatz. Hier erhebt sich ein Problem der Rechtsvergleichung, deren fruchtbarste Aufgabe es ist zu prüfen, warum und unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Probleme zu Rechtsproblemen werden. Die innergewerkschaftlichen Entscheidungsvorgänge bieten Anlaß zu einer solchen Untersuchung der Voraussetzungen, unter denen das Recht als eine Methode gesellschaftlicher Kontrolle verwendet wird. Die Grenzen des Rechts sind variabel, im Raum wie in der Zeit. Im Bereich des Gewerkschaftsrechts sind sie in England und namentlich in Amerika weiter gesteckt als auf dem europäischen Festland. Warum dies der Fall ist, bedürfte der Prüfung. Zu dieser Prüfung sollen die nachfolgenden Betrachtungen Material bieten. Ihr Gegenstand ist der Beitrag, den die britische Gesetzgebung und Rechtsprechung zur Lösung des Problems der Gewerkschaftsdemokratie geliefert haben. Hierbei werden sich gelegentliche Seitenblicke auf das so viel entwickeltere amerikanische Recht als nützlich erweisen. Ob es wünschenswert ist, daß innergewerkschaftliche Entscheidungen auf demokratischer Grundlage getroffen werden, ist keineswegs unumstritten.4 Die Vorkämpfer bürgerlicher Freiheitsrechte neigen dazu die Frage zu bejahen, aber das Argument, es komme in erster Linie auf die Schlagkraft der Verbände an und nicht auf ihre innere Organisation, läßt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Mit diesem Problem sind wir hier nicht befaßt. Wir wollen — ohne eigene Stellungnahme — postulieren, daß es erstrebenswert sei, demokratische Wahlen und Entscheidungen innerhalb der Gewerkschaften zu gewährleisten. Die Frage, ob dies auch möglich sei, ist damit nicht beantwortet. Die Schwierigkeit dieser Frage ergibt sich aus der Zwitterstellung der Gewerkschaften in den gegenwärtigen kapitalistischen Demokratien, als Interessenvertretungen und Gesetzgebungsorgane, Kampforganisationen und BeteiligungsorganiDemocracy, (1962) 25 Mod. L. Rev. 273; Wellington, Union Democracy and Fair Representation: Federal Responsibility in a Federal System, (1958) 67 Yale L. ]. 1 3 2 7 . — Englische Literatur: Außer dem zitierten Buch von Grodin sind die besten Darstellungen: Grunfeld, Trade Unions and the Individual in English Law, Inst, of Personnel Management, Ind. Rel. Series, 1962; Rideout, The Right to Membership of a Trade Union, 1963. — Ferner: Citrine, Trade Union Law, 2. A u f l . 1960. 4

S. ζ. B. Paul R . Hays, The Union and Its Members: The Uses of Democracy, 11th Annual New York University Conference on Labor, pp. 35 ff. (1958); Magrath, Democracy in Overalls, The Futile Quest For Union Democracy, (1959) 1 2 Ind. and Lab. Rel. Rev. 503. Beide Seiten des Problems erörtert Lipset, supra, pp. 55 ff.; und V . L. Allen, Power in Trade Unions, 1954.

Rechtliche

Garantien

der innergewerkschaftlichen

Demokratie

337

sationen. Daß sie als Tarifkontrahenten Gesetzgebungsorgane sind, und in Politik und staatlicher Gesetzgebung, in Verwaltung und Rechtsprechung Beteiligungsorganisationen, erweckt das Interesse der Öffentlichkeit an der demokratischen Ausgestaltung ihrer inneren Entscheidungsprozesse, und dieses Interesse wird erhöht durch den äußeren Organisationszwang, den viele Gewerkschaften ausüben. Auf der anderen Seite aber verbietet der Charakter der Gewerkschaft als einer Kampforganisation das Funktionieren der weitaus wichtigsten autonomen Garantie der Demokratie: denn in einer Kampforganisation kann es zwar Klüngel geben und Faktionen, aber keine organisierten Parteien. In einer Kampforganisation ist Parteibildung drohende Spaltung, und eine Art Verrat, dies ganz besonders, wo es einen sozialen „Gegenspieler" gibt, der oft geneigt sein wird, sich solcher Parteibildung für seine Zwecke zu bedienen. In einigen der wichtigsten unten erörterten englischen Rechtsfälle wurden die rechtlichen Garantien der Gewerkschaftsdemokratie mobilisiert von Klägern, die je nach Neigung des Betrachters als trojanische Pferde bezeichnet werden oder als Gewerkschafts-„Hampdens". Die Frage, ob innere Gewerkschaftsdemokratie überhaupt durchführbar ist, hängt also zusammen mit dem allgemeinen Problem der Möglichkeit einer Demokratie ohne Parteien, und dieses Problem zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte innere Gewerksdiaftsrecht. Ähnliche Probleme — dies liegt auf der Hand — bestehen innerhalb der politischen Parteien. Vielleicht ist es kein Zufall, daß gerade (und, soweit man sehen kann, nur) in den Vereinigten Staaten sowohl innere Partei-, als audi innere Gewerkschaftswahlen gesetzlich geregelt worden sind. Besteht nicht eine gewisse Parallele zwischen der Gesetzgebung der Staaten über „primary elections"5 und den bundesrechtlichen Bestimmungen über innere Gewerkschaftswahlen in dem Labor-Management (Reporting and Disclosure) Act von 1959?" Aber die innergewerkschaftliche und die innerparteiliche Situation sind doch ganz verschieden, denn Gewerkschaften sind ja häufig durch innere Spaltungen mehr bedroht als politische Parteien. Namentlich ist dies der Fall, wo das politische Wahlrecht so organisiert ist wie im Vereinigten Königreich oder in den Vereinigten 4

" Die amerikanische International Typographical Union ist das Gegenbeispiel. Sie

hat ein Zwei-Parteien-System. Hierüber, u. a. Magrath, supra, p. 5 1 2 . 5

Fraenkel, Das Amerikanische

6

Section 4 0 1 — 4 0 3 . Das Gesetz wird nach seinen Urhebern auch als „Landrum-

Griffin" Act zitiert. 22

Fraenke!

Regierungssystem

(i960) S. y j ff.

Otto

338

Kahn-Freund,

Staaten und wo ein jeder weiß, daß auf Parteispaltung die politische Todesstrafe steht, oder, im Falle mildernder Umstände, jahrelange Verbannung in die politische „Wildnis". Die politische Partei ist ex hypothesi ein Konkurrenzunternehmen, — außerhalb eines totalen Staates hat das Wort „Partei" nur einen Sinn, wo es noch anderen Parteien gibt, die sich an die gleichen Adressaten wenden. Auch die Gewerkschaft mag Konkurrenten haben und hat sie oft, aber sie erstrebt die ausschließliche Organisation ihrer Adressaten. Tendenziell duldet sie in dem von ihr erfaßten Bereich keine anderen Gewerkschaften neben sich, und insofern, nur insofern, kann man sie mit einer — contradictio in adjecto — „totalen Partei" vergleichen. Offene Gruppenbildung ist deshalb für Gewerkschaften im allgemeinen viel gefährlicher als für politische Parteien, und das Gespenst der Sezession, des „breakaway" ist niemals ganz zu bannen. Die Rechtsordnung kann den Anreiz zur Spaltung vermindern oder vergrößern. Sie vermindert ihn, wo sie (wie es in Westeuropa einschließlich Großbritanniens der Fall ist)7 an besonders „repräsentative" Gewerkschaften Privilegien verleiht, sie vergrößert ihn, wo (wie es in Amerika der Fall ist) eine Splittergewerkschaft Tarifabsdilußrechte erwerben kann, wenn es ihr gelingt, in einem Betrieb eine Mehrheit zu erzielen.8 Vielleicht mußte gerade in Amerika der Gesetzgeber eingreifen, um innere Gewerkschaftsdemokratie zu schützen, weil er nichts getan hatte und auch nichts tun konnte, um die Gewerkschaftseinheit zu fördern. Ist nicht die Tendenz zum inneren Druck, zur Oligarchie dort am stärksten, wo der äußere Druck und der äußere Anreiz zur Bewahrung der Einheit am geringsten sind und deshalb die Spaltungsgefahr besonders bedrohlich? Es ist eine unbeweisbare Hypothese, die nicht ohne Widerspruch geblieben ist.9 Sicher aber ist, daß mit der Macht der Gewerkschaften das Problem der Gewerkschaftsdemokratie ständig wächst, wie das britische und noch mehr das amerikanische Beispiel deutlich zeigen. Die Macht der Gewerkschaften aber ist gewachsen und wächst in drei Richtungen. Es handelt sich um Anerkennung, um Beteiligung und um Marktbeherschung. In der umfangreichen Literatur über das Problem ist der Hinweis auf 7

Wie ζ. B. durch die Bestimmungen über die „extension" oder Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen in den Rechten Frankreichs und der Deutschen Bundesrepublik, aber auch durch die Fair Wages Resolution des House of Commons von 1946 und des britischen Terms and Conditions of Employment Act, 1959, Sect. 8. 8 Labor Management Relation Act, Sect. 9. 9

Siehe die Erörterung des Problems in dem Artikel von Lipset, supra, p. 12.

Rechtliche Garantien

der innergewerkschaftlichen

Demokratie

339

die Gefahren der „Apathie" der Mitglieder für die Gewerkschaftsdemokratie zum Gemeinplatz geworden. Diese Gefahr hat immer bestanden, sie ist aber gewachsen, je mehr die Gewerkschaften zu anerkannten Institutionen wurden, je weniger sie um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Nicht als ob die weitgehende „Anerkennung" der Gewerkschaften als die einzige oder auch nur die überwiegende Ursache des mangelnden Beteiligungswillens der Mitglieder diagnostiziert werden könnte. Die innere Entfremdung der Gewerkschaftsleitung von der Mitgliedschaft, die oft festgestellt wird, hat viele Ursachen, die mit allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Zusammenhang stehen. Insbesondere ist es deutlich, daß die innere Bedrohung der Gewerkschaften mit ihrem äußeren Erfolg wächst. Bei hohem Beschäftigungsniveau und bei tendenziell ansteigenden Löhnen und Gehältern ist sie größer als bei Arbeitslosigkeit und fallendem Arbeitseinkommen. „Les institutions perissent par leur victoires."10 Gesetzgebung und Rechtsprechung sind gegenüber grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen dieser Art machtlos. Wo aber das Recht die Anerkennung der Gewerkschaften aktiv fördert und ihnen den Kampf zu ersparen hilft, entfernt es auch innere Integrationsfaktoren, die sich aus Kampfsituationen ergeben. Solche Förderung kann, wie in Großbritannien, in der Duldung von Sperrklauseln und anderen Maßnahmen bestehen, wie ζ. B. dem Abzug der Gewerkschaftsbeiträge vom Arbeitslohn durch den Arbeitgeber, die den Gewerkschaften aktive Werbungsmaßnahmen ersparen und damit auch den ständig sich erneuernden Kampf um ihre Existenz und Ausbreitung.11 Das Recht kann aber, wie in Amerika, noch sehr viel weiter gehen und die Anerkennung der Gewerkschaften zu einer erzwingbaren Rechtspflicht der Arbeitgeber machen und, für die Zwecke des Tarifabschlusses, die Gewerkschaften zu „Repräsentanten kraft Gesetzes" für alle Arbeitnehmer im Betrieb bestellen, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft.12 Wo dies geschieht, wo also die Anerkennung der Gewerkschaften nicht nur zum Rechtsprinzip wird, sondern sich zur Übertragung gesetzgeberischer Aufgaben erweitert, mag es besonders nötig werden, rechtliche Garantien für die innere Gewerkschaftsdemokratie zu schaffen. Hier liegt der innere Zusammenhang zwischen dem Wagner Act von 1935 und dem Landrum10

Renan, zitiert nach Fraenkel, The Dual State, p. i j i . Siehe Roberts, Trade Union Government and Administration in Ί ·957> ΡΡ· 4 6 ff· D a ß die Rechtsordnung den „closed shop" duldet, steht v. Riley/igziji Ch. 1 (CA) und Reynolds v. Shipping Federationligz^li 12 Labor Management Relations Act, Sect. 7, Sect. 8 (a) (1), Sect. 9 11

22»

Great Britain, fest seit White Ch. 40. (a).

Otto

340

Kahn-Freund

Griffin Act von 1959 in Amerika, und es ist noch keineswegs entschieden, ob nicht audi in Großbritannien ähnliche Eingriffe des Rechts in den innergewerkschaftlichen Entscheidungsprozeß nötig sein werden. Wenn die Anerkennung der Gewerkschaften einer der Faktoren ist, die die Gefahr der Apathie und damit der Oligarchie unterstreichen, so trägt die ständig zunehmende Übertragung von Beteiligungsfunktionen an die Gewerkschaften dazu bei, das öffentliche Interesse an der inneren Integration der Gewerkschaften zu erhöhen. Ihre „Repräsentativität" — um diesen französischen Neologismus zu gebrauchen —, wird zu einem öffentlichen Anliegen nicht nur im quantitativen, sondern auch im qualitativen Sinn: Wenn die Gewerkschaften dazu berufen werden, durch Beratung und Beschlußfassung an der Gesetzgebung teilzunehmen, wenn die von ihnen benannten oder bestellten Vertreter in gerichtlichen und in Verwaltungsbehörden mitwirken, so müssen Garantien dafür bestehen, daß die Sprecher der Gewerkschaften den Willen und die Interessen der Mitglieder repräsentieren, und hierfür mögen (in Grenzen) innergewerkschaftliche demokratische Entscheidungsformen eine gewisse Garantie bieten. In dieser Beziehung verstärkt also der äußere Machtzuwachs der Gewerkschaften die Wahrscheinlichkeit des rechtlichen Eingriffes in ihr inneres Leben. Und schließlich — die britische Erfahrung zeigt es am deutlichsten — kann der Gesetzgeber, was immer seine Einstellung zu Absperrklauseln aller A r t sein mag, 13 nicht vorübergehen an der Tatsache des Organisationszwanges. Die tatsächliche Herrschaft vieler Gewerkschaften über den Zutritt zu wesentlichen Sektoren des Arbeitsmarktes — ganz gleichgültig ob mittels formaler Sperrabreden oder tatsächlichen Brauches — muß die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf ihre inneren Angelegenheiten lenken. Hier allerdings handelt es sich nicht so sehr um den demokratischen Entscheidungsprozeß innerhalb der Verbände als um den Schutz des Zutritts zum und des Verbleibens im Verband, also um das Mitgliedschaftsrecht selbst, aber auch um die Gewährleistung von politischen Freiheitsrechten innerhalb der Organisation. Um die Bedeutung des gesetzgeberischen Eingriffs zum Schutz der „Gewerkschaftsdemokratie" zu würdigen, ist es deshalb angezeigt, für die Zwecke dieser Untersuchung die „demokratischen" Rechte der Mit13

In

dieser Beziehung besteht keinerlei Unterschied

zwischen

der Situation

in

A m e r i k a und in Großbritannien, trotz der grundverschiedenen Rechtslage. Es kommt auf den tatsächlichen Organisationszwang an.

Rechtliche

Garantien

der innergewerkschaftlichen

Demokratie

341

glieder zu klassifizieren. Es bedarf keines Wortes, daß diese wie jede andere juristische Klassifizierung nur ad hoc vorgenommen wird und nur zu Zwecken der Erleichterung der Darstellung. Jedes Hantieren von „Rechtsbegriffen", das sich eigenständige Bedeutung beimißt, ist sinnlose Spielerei. Im Folgenden wollen wir unterscheiden zwischen der dreifachen Bedeutung des Rechtes als Hüter der Gewerkschaftsverfassung, als Garant des Rechtes zur Mitgliedschaft und als Garant der Rechte aus der Mitgliedschaft, wobei in der dritten Kategorie im Jellinekschen Sinn wieder eine Unterteilung vorgenommen werden kann in Leistungsrechte, Beteilungsrechte und Freiheitsrechte. II Die Verfassung der Gewerkschaften beruht auf dem „contrat social". Hier hat das Wort noch seine alte juristische Bedeutung: die des Vertrages auf Schaffung eines Verbandes — und in dem gegenwärtigen Zusammenhang spielt es keine Rolle, ob und in welchem Umfang das Recht diesem Verband den Charakter der juristischen Persönlichkeit verleiht. In der englischen Rechtsprechung hat sich im Lauf der Jahrzehnte die Betonung des vertraglichen Charakters aller innergewerkschaftlichen Beziehungen immer mehr durchgesetzt.14 Dem englischen Begriffsapparat fehlt das Instrument des „Gesamtaktes", — man behandelt audi die Gründung der und den Beitritt zur Kapitalgesellchaft als Vertrag. 15 Diese vertragliche Konstruktion aller Ansprüche der Gewerkschaft gegen ihre Mitglieder und der Mitglieder gegen ihre Gewerkschaft hatte und hat weittragende Folgen. Der gesamte Inhalt der Satzung — das „rule-book" — wird zum Inhalt des Vertrages zwischen Mitglied und Gewerkschaft. Wenn man die Gewerkschaft als politischen Verband ansieht, so wird deshalb der „contrat social" im juristischen Sinn zum „contrat social" im politischen Sinn. Man mag sagen, dies sei eine überalterte Benutzung des Vertragsbegriffes für eine Situation, in die er nicht paßt, und Bemerkungen solcher Art sind in England von richterlicher Seite gemacht worden.1" 14 Am klarsten seit der Entscheidung des House of Lords in Bonsor v. Musicians Union ji-95(>l A . C. 104. Die Theorie, daß es sich bei Streitigkeiten ζ. B. über die Rechtmäßigkeit von Ausschließungen um die Geltendmachung eines Vertrages handelt, hat die ältere Auffassung, es handele sich um Ausübung von Vermögensrechten am Gewerkschaftsvermögen in England wie in Amerika völlig verdrängt. Die Entwicklung ist im einzelnen dargestellt in Grodin, Chapter I V , supra. 15

s. Gower, Modern

Company

Law, 2. Aufl. (1957) S. 2 5 1 ff.

342

Otto

Kahn-Freund

D a aber in jeder kapitalistischen Gesellschaft der Vertragsbegriff ständig zur Verhüllung tatsächlicher Unterwerfungsverhältnisse verwendet wird, so stehen wir hier keinem isolierten Phänomen gegenüber. Der Gewerkschaftsvertrag ist nur eines von vielen Beispielen des „contrat d'adhesion". Die Konsequenz dieser Konstruktion ist die Leichtigkeit, mit der der Einzelne das Recht als Hüter der Gewerkschaftsverfassung mobil machen kann. Die äußere Rechtsform der Klage aus dem Vertrage wird zur Hülle des Schutzes der inneren Gewerkschaftsverfassung durch die Gerichte. Der Verfassungsbruch ist gegenüber dem in seinen Rechten gekränkten einzelnen Mitglied Vertragsbruch und die üblichen Mittel der Festellungs- und Unterlassungsklagen (injunction) und der Durchsetzung des Unterlassungsurteils mittels der Ahndung des „contempt of court" stehen dem Mitglied zur Verfügung. Auf diese Weise wird die Innehaltung der Gewerkschaftsverfassung durch die Gerichte gewährleistet, — mag es sich um die Befugnisse der Exekutivorgane bei der Aufnahme von Mitgliedern, 17 um das passive Wahlrecht des Gewerkschaftsmitglieds, d. h. seine Zulassung zu WaTilkandidaturen, 18 um die Einhaltung der Formvorschriften bei Beitragserhöhungen 19 oder um die Aufrechterhaltung des Gleichheitsprinzips bei der Verteilung der finanziellen Last auf die Mitglieder 20 handeln. Vom Standpunkt der Aufrechterhaltung des demokratischen Entscheidungsprozesses führt diese Form der gerichtlichen „Verfassungskontrolle" zu dem altbekannten Dilemma zwischen den Prinzipien der Autonomie und des normgemäßigen Handelns. Wie weit soll das Selbstbestimmungsrecht der Gewerkschaft eingeschränkt werden durch die Kontrollfunktion der Gerichte? Dieses Problem zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des britischen Gewerkschaftsrechts. Das Gesetz von 1 8 7 1 beruht auf einem Kompromiß, auf einem, wie der dem Gesetz vorausgegangene Bericht der R o y a l Commission von 1869 zeigt, bewußten Versuch, dieses Dilemmas Herr zu werden. 21 Das Gesetz erklärte die 16

Ζ. B. von Lord Justice Denning in Lee v. Showmen's

Guild /1952/ 2 Q. Β. 32g

(CA). 17 Martin νScottish Transport and General Workers Union /1952/ 1 All Ε R 691 (HL). 18 Watson ν. Smith /1941/ 2 All E R 725; siehe auch Goode v. National Union 0/ Mineworkers, 1959 C. L. Y . 3352. 19 Edwards v. Halliwell /1950/ 2 All Ε R 1064 (CA). 20 21

O'Reilly v. Musicians Union /1955/ C. L. Y . 2794. S. & B. Webb, History of Trade Unionism, Auflage von 1926, S. 2 7 1 .

Rechtliche Garantien

der innergewerkschaftlichen

Demokratie

343

inneren Gewerkschaftsabreden und „Trusts" für rechtsgültig, indem es die Prinzipien des Common Law über restraint of trade für unanwendbar erklärte.22 Es verbot aber den Gerichten die „direkte" Durchsetzung gewisser innerer Abreden einschließlich des Versprechens von finanziellen Leistungen seitens der Gewerkschaft an das Mitglied, sowie des Versprechens des Mitglieds, Beiträge zu leisten und in seinem Verhalten die Gewerkschaftsregeln zu beachten.23 Alle diese Abreden, die vor der Verabschiedung des Gesetzes nichtig waren, wurden durch das Gesetz gültig, aber die aus ihnen entstehenden Verpflichtungen waren Naturalobligationen und sind es noch heute. Der überaus unklare Wortlaut des Gesetzes von 1871 ließ der gerichtlichen Interpretation einen sehr weiten Spielraum. Im Rahmen dieser „Interpretation" haben die Gerichte im Lauf der fast hundert Jahre seit der Verabschiedung des Gesetzes ihre Haltung gegenüber dem Problem der Abgrenzung zwischen Verbandsautonomie und gerichtlicher Kontrolle völlig geändert.24 Bis etwa zur Jahrhundertwende war die vorherrschende Haltung die des „hands off", der Nichteinmischung in innere Gewerkschaftsangelegenheiten,25 einer engen Interpretation der Funktion der Gerichte in Form einer weiten Interpretation der Immunitätsklausel26 des Gesetzes von 1 8 7 1 . Seit einem halben Jahrhundert hat sich die Tendenz der Gerichte in ihr Gegenteil verwandelt: Enge Auslegung der Immunitätsbestimmung des Gesetzes und weitgehende Interven22 Trade Union Act, 1 8 7 1 , Sect. 3: „The purposes of any trade union shall not, by reason merely that they are in restraint of trade, be unlawful so as to render void or voidable any agreement or trust." 23

Sect. 4: „Nothing in this Act shall enable any court to entertain any legal proceedings instituted with the object of directly enforcing or recovering damages for the breach of . . . (x) any agreement between members of a trade union as such, concerning the conditions on which any members . . . shall . . . be employed, (2) any agreement for the payment by any person of any subscription or penalty to a trade union, (3) any agreement for the application of the funds of a trade union (a) to provide benefits to members, . . . 24

s. Kahn-Freund, The Illegality Grodin, supra, Ch. 1 2 .

of a Trade

Union,

(1944) 7 Mod. L. Rev.

192;

25

Die Tendenz zur richterlichen Nichteinmischung in inneren Angelegenheiten nicht rechtsfähiger Verbände ist analysiert in dem Artikel von Chafee, Internal Affairs of Associations not for Profit, 43 Harv. L. Rev. (1930) 993, S. auch Summers, The Role of Legislation in Internal Union Affairs, 1O Lab. L. J . (1959) 1 5 5 . 26 D. h. des die gerichtliche Intervention in inneren Gewerkschaftsangelegenheiten einschränkenden s. 4 des Gesetzes von 1 8 7 1 , s. oben Anm. (23).

Otto

344

Kahn-Freund

tion der Gerichte, namentlich im Interesse des Schutzes des Einzelnen. 27 Dies hat seit der grundlegenden Entscheidung des House of Lords in dem Howden-Fall von 1905 28 in der Praxis dazu geführt, daß zum mindesten ein Aspekt der innergewerkschaftlichen Verfassungskontrolle, nämlich die Kontrolle über verfassungsgemäße Finanzgebarung, einer A r t „actio popularis" unterliegt. Die rechtliche Konstruktion, die dies ermöglicht, ist die des Trust. Das Gewerkschaftsvermögen wird durch Trustees verwaltet. Wenn die Gewerkschaft von den Registrierungsvorschriften des Gesetzes von 1 8 7 1 Gebrauch gemacht hat (was die überwiegende Mehrzahl der Arbeitnehmergewerkschaften getan hat) muß sie Trustees haben,28" wenn nicht, so hat sie solche in der Regel freiwillig. Das Vermögen nichtrechtsfähiger Verbände wird ja in England stets durch Trustees verwaltet, und was immer die Natur der Zwitterstellung der Gewerkschaften sein mag, wie sehr sie auch in manchen Beziehungen durch die Gerichte rechtsfähigen Körperschaften gleichgestellt worden sein mögen,29 hinsichtlich der Vermögensverwaltung werden sie wie nichtrechtsfähige Verbände behandelt. Dies aber bedeutet, daß die Gewerkschaftsverfassung nicht nur Vertragsinhalt zwischen Gewerkschaft und Mitglied ist, sondern auch „trust instrument" zwischen Mitglied und Treuhänder. 30 Ein jedes Mitglied hat ein mit den Mitteln des Trurstrechts erzwingbares Recht darauf, daß das Gewerkschaftsvermögen im Einklang mit der Gewerkschaftsverfassung verwaltet wird. So wie die Verfassung ein Trust-Instrument ist, so ist der finanzielle Verfassungsbruch ein „breach of trust". Daß das Immunitätsprinzip des Gesetzes von 1 8 7 1 der Intervention der Gerichte zur Verhinderung oder Rückgängigmachung verfassungswidriger Vermögensgebarung nicht entgegensteht, w a r das Ergebnis der HowdenEntscheidung von 1905, die einer jahrelangen Kontroverse ein Ende setzte. 27

Citrine, supra, pp. 1 0 0 ff.

28

Yorkshire

Miners' Association v. Howden

/1905/ A . C . 256 ( H L ) . See G r u n f e l d ,

supra, p. 1 5 . 28> 29

Trade Union Act, 1 8 7 1 , Sect. 8, 9. Taff Vale Ry. Co. v. Amal. Society of Railway

Servants / 1 9 ο ι / A . C . 426; Amal.

Society of Ry. Servants v. Osborne / 1 9 1 0 / A . C . 87; National

Union of General and

Municipal Workers v. Gillian /1946/ Κ . B. 8 1 . 30

Uber die Bedeutung des „ T r u s t " - B e g r i f f e s in der allgemeinen Geschichte der eng-

lischen und amerikanischen Verfassungstheorie s. Fraenkel, Das amerikanische rungssystem, S. 1 8 0 ff.

Regie-

Rechtliche Garantien der innergewerkschaftlichen

Demokratie

345

Vom Standpunkt der gerichtlichen Garantie der Gewerkschaftsverfassung läßt sich die Bedeutung dieser Entwicklung schwer überschätzen. Man muß sie im Zusammenhang mit den weittragenden Vorschriften des Gesetzes von 1871 31 über die Publizität der Finanzgebarung registierter Gewerkschaften verstehen, Vorschriften, die im Jahre 1959 denen des zweiten Titels der amerikanischen Landrum-Griffin 32 Act als Muster dienten. Jedes Mitglied hat die Möglichkeit, sich in die Einnahmen und Ausgaben Einblick zu verschaffen, — die Gerichte haben es so interpretiert, daß er sich eines Buchsachverständigen bedienen kann.33 In Verbindung mit diesen Publizitätsbestimmungen bedeutet also die Rechtsprechung der Gerichte über den „breach of trust", daß die Rechtmäßigkeit von Investitionen und von Ausgaben durch Anrufung der Gerichte durch jedes Mitglied garantiert werden kann, — eine potentiell wirksame Waffe in der Hand von Minderheiten und schon deshalb ein nicht zu unterschätzendes Element in der rechtlichen Garantie des demokratischen Entscheidunsgprozesses. Howden selbst, der Kläger in jenem berühmten Prozeß, war ein „trojanisches Pferd". Es handelte sich um einen bitteren Kampf zwischen der Gewerkschaft und einem großen Unternehmen in dem Kohlenbergbau von Süd-Yorkshire, dem traditionellen Schlachtfeld und deshalb arbeitsrechtlichen Experimentierfeld der britischen Industrie. Die Gewerkschaft zahlte Arbeitskampfunterstützung an Mitglieder, die nach Auffassung der Gewerkschaft ausgesperrt waren, aber nach Auffassung des Arbeitgebers streikten. Wenn der Arbeitskampf ein Streik war, so durften diese Gelder nur auf Grund einer vorherigen Genehmigung der Gewerkschaftszentrale gezahlt werden, die nicht vorlag, und die Unterstützungszahlung war, wenn es sich um einen Streik handelte, ein Bruch der finanziellen Vorschriften der Gewerkschaftsverfassung. Howden, ein Mitglied der Gewerkschaft, erwirkte ein Urteil des Inhaltes, daß es sich um einen Streik handelte und daß aus diesem Grund die Ausgabe rechtswidrig war und rückgängig gemacht werden mußte. Die Konsequenzen des Prinzips der gerichtlichen Finanzkontrolle aber gehen weit über den ursprünglichen Bereich der Howden-Entscheidung hinaus. Dadurch, daß jedes Mitglied die Kontrolle der Gerichte über „the purse strings" (im Sinne der Rechtmäßigkeit, nicht der ZweckSect. 16. Sect. 201 (b). 33 Norey v. Keep /1909/ 1 Ch. 56α; Dodd v. Amal. Marine Workers Union /1924/ 1 Ch. 116. 31

32

Otto

346

Kahn-Freund

mäßigkeit der Finanzgebarung) mobilisieren kann, kann es im Wege der Popularklage jede Maßnahme verhindern, die nur mittels eines finanziellen Verfassungsbruchs zu bewerkstelligen ist, wie ζ. B. eine rechtswidrige Absplitterung einer Ortsgruppe34 oder eine rechtswidrige Verschmelzung der Gewerkschaft mit einer anderen.35 In diesem Zusammenhang erstreckt sich die Garantie nicht nur auf die Einhaltung der autonomen Gewerkschaftsverfassung selbst, sondern auch auf die der in sie hineinzulesenden, überaus (und ganz unnötigerweise) komplizierten gesetzlichen Vorschriften über Amalgamierung von Gewerkschaften. 36 Die Garantie des verfassungsgemäßen Handelns der Gewerkschaftsorgane durch die Gerichte ist ein Eingriff in die Verwaltungsautonomie der Gewerkschaft, aber gleichzeitig eine Intervention zugunsten des demokratischen Entscheidungsprozesses, — soweit dieser Entscheidungsprozeß selbst auf Grund der Verfassung demokratisch ist. Die Verfassungsautonomie der Gewerkschaft wird durch das bisher Gesagte überhaupt nicht berührt.37 Weder das Vertragsrecht, noch das Trustrecht ermöglichen es den Gerichten, für den Einzelnen überverfassungsmäßige demokratische Leistungs-, Beteiligungs- oder Freiheitsrechte zu gewährleisten, es sei denn, daß die Gesichtspunkte der „public policy" in das Vertragsrecht hineingelesen werden, von denen noch die Rede sein wird. Zur Formulierung „überverfassungsmäßiger" demokratischer Rechte des Gewerkschaftsmitgliedes bedarf es eines Gesetzes nach Art der Bestimmungen des amerikanischen Landrum-Griffin Act, die unten erörtert sind, oder der britischen Bestimmungen38 über Verschmelzungen, Namensänderungen und den „Politischen Fonds". Zunächst aber wird es nötig sein zu prüfen, wie weit das Recht in der Lage ist, für den einzelnen eine Basis zu schaffen, von der aus solche Rechte beansprucht und ausgeübt werden können. Wie also steht es mit dem Recht des Individuums auf Mitgliedschaft im Verbände, mit dem Zutritt zu den Entscheidungsvorgängen, mit denen wir zu tun haben? 34

Cope

v. Crossingham

35

Booth

v. Amal.

36

Trade

Union

/1909/ 2 Ch. 148.

Marine Workers Amendment

den Trade

Union (Amalgamation)

Provisions)

Act, 1940, Sect. 6.

37

Act,

Union /1926/ Ch. 904. i8j6,

Sect. 1 2 in der dieser Bestimmung durch

Act, 1 9 1 7 , gegebenen Form. Societies

(Miscellaneous

Mit Ausnahme des über die Amalgamierung gesagten. Über weitere Beschrän-

kungen der gewerkschaftlichen Verfassungsautonomie im Sinne der „direkten Demokratie" s. unten unter Nr. I V . 38

S. unten unter IV.

Rechtliche Garantien der innergewerkschaftlichen

Demokratie

347

III Keines der hier zur Erörterung stehenden Probleme ist von größerer grundsätzlicher Bedeutung als das des Rechtes zur Mitgliedschaft. Die Relevanz des Problems vom Standpunkt der rechtlichen Garantien des demokratischen Entscheidungsprozesses liegt so sehr auf der H a n d , daß man sich fast scheut auf sie hinzuweisen. Wenn die Exekutivorgane unbeschränkte Freiheit haben, Bewerber um die Mitgliedschaft zurückzuweisen oder Mitglieder auszuschließen, so können sie sich mit Leichtigkeit die fernhalten oder sich derer entledigen, die sich zur Wahrung der Gewerkschaftsverfassung und zur Aufrechterhaltung demokratischer Entscheidungsprinzipien der ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe bedienen würden. H i n z u kommt, daß, wenn der der politischen Idee der Demokratie innewohnende Gleichheitsgrundsatz für den Bereich der Gewerkschaften als staatsbürgerliche und nicht nur als mitgliedschaftliche Gleichheit aufgefaßt wird, demokratische Grundrechte durch die H a n d habung der Entscheidung über Zutritt zur Gewerkschaft verletzt werden können. In welchem Sinn hat das Wort Gewerkschafts„demokratie" dann einen politisch relevanten Inhalt, wenn nur eine nach undemokratischen Gesichtspunkten ausgewählte Bevölkerungsgruppe zur Mitgliedschaft zugelassen wird? Es ist deutlich, daß für den Juristen das hier zu erörternde Problem zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte hat, je nach dem, ob es sich um Aufnahme oder Verbleiben in der Gewerkschaft handelt. D a s erste Problem ist das politisch wichtigere, aber — in Europa — das juristisch weniger wichtige. Politisch und juristisch aber ist es das weitaus schwierigste Problem des gesamten Gewerkschaftsrechts. Ist eine rechtliche Kontrolle der Aufnahme in einen autonomen Verband überhaupt möglich? Ist Aufnahmezwang nicht ebenso unvereinbar mit der Verbandsautonomie wie Zwangsmitgliedschaft? Muß nicht ein freier Verband bei der Entscheidung über die Aufnahme so „ f r e i " sein wie das Mitglied bei der über den Beitritt? Die Freiheit der Beitrittsentscheidung ist rein formal, wo Mitgliedschaft Bedingung der materiellen Existenz ist. Die rechtliche Vertragsfreiheit des Mitgliedes verhüllt den ihm auferlegten sozialen Kontrahierungszwang. Wenn die Entscheidung zum Beitritt sozial erzwungen ist, wenn die Gewerkschaft das Monopol der Zulassung zum Arbeitsmarkt hat, muß dann nicht auch hier wie anderwärts die Rechtsordnung den Monopolisten einem Kontrahierungs-

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348

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zwang unterwerfen, um den Kontrahierungszwang abzugleichen, dem die Gesellschaftsordnung die Gegenpartei unterwirft? Die amerikanischen Gerichte haben sich wiederholt mit solchen Fragen beschäftigt. Im allgemeinen haben sie die Frage der Existenz eines Aufnahmerechts verneint, 39 mit der bemerkenswerten Ausnahme der Gerichte Californiens. 39 " Andrerseits hat die Gesetzgebung in den Staaten durch Fair Employment Practices Acts solche Rechte geschaffen.3815 Wenn aber auch die Gerichte das Problem nicht lösen konnten, so konnte der Oberste Gerichtshof es doch bis zu einem gewissen Grade umgehen,40, — dies allerdings nur auf Grund der einzigartigen verfassungs- und arbeitsrechtlichen Situation in den Vereinigten Staaten. Denn da ja in U S A die Gewerkschaft als Tarifkontrahentin nicht nur ihre Mitglieder vertritt, sondern kraft Gesetzes alle, die in dem Betrieb arbeiten, so konnte ihr die Rechtspflicht auferlegt werden, alle von ihr „Vertretenen", ob Mitglieder oder nicht, bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen „gleich" zu behandeln. In einem in Europa unbekannten Maße übt sie Funktionen eines Gesetzgebers aus. Deshalb ist sie auch den verfassungsmäßigen Beschränkungen unterworfen, denen die Gesetzgebung unterliegt, und deshalb an die „equal protection clause" der Verfassung gebunden. Tarifvertragliche Diskriminierungen gegen Nichtmitglieder sind deshalb nicht nur gesetz-, sondern verfassungswidrig.41 Praktisch bedeutet dies, daß in Amerika das Recht es zwar den Gewerkschaften erlaubt, Neger von der Mitgliedschaft auszuschließen (und damit ζ. B. der gewerkschaftlichen Unterstützungsrechte zu berauben, 39

Wellington, supra,

p. 1 3 4 4 , der das für diese „unhappy situation" allgemein an-

geführte Argument, die Gewerkschaften seien private Verbände und Zulassung sei ein Privileg und kein Recht, für einen „Anachronismus" hält. Zweifellos hat Lipset,

supra,

p. 2 1 recht, wenn er sagt, daß auf dem Gebiet des Zulassungsrechtes die Gerichte und Verwaltungsbehörden weniger Fortschritte gemacht haben als auf anderen Gebieten des Gewerkschaftsrechtes. Das Gesetz von 1959 schweigt. Politisch wäre dies im Kongreß ein glühendes Eisen gewesen. 39a

Thorman v. International

Alliance

of Theatrical

638; 320 Ρ 2 d 494 (1958). Hierüber Wellington, supra, 3

Stage Employes,

49 Cal. 2 d

1343.

"b Fünfzehn Staaten, darunter einige der industriell am höchsten entwickelten, ζ. B.

Massachusetts, Michigan, N e w Jersey, N e w York, Pennsylvania. Aufzählung: Welling-

ton, supra, p. 1344 Anm. 91. 40

Dies w a r in der einen oder anderen Form schon vor dem Eingreifen des Supreme

Court ζ. T . durch staatliche Gerichte geschehen. Hierüber: Summers, The Right

a Union, (1947), 47 Co. L. Rev. pp. 1 7 7 ff. 41

to

Join

33; Wellington, supra, p. 1344; Grodin, supra,

Steele v. Louisville and Nashville Railroad

Co., 323 U. S. 192 (1944).

Rechtliche Garantien der innergewerkschaftlichen

Demokratie

349

die allerdings in Amerika eine geringere Rolle spielen als etwa in England), daß aber die so Ausgeschlossenen weder hinsichtlich des Zutritts zur Arbeitsstelle, noch hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen dadurch benachteiligt werden dürfen. Dies ist die Rechtslage. Nur eine Minderheit der amerikanischen Gewerkschaften diskriminiert heute noch gegen farbige Arbeiter. Daß sich bei diesen wenigen Gewerkschaften die tatsächlichen Verhältnisse der Rechtsprechung angepaßt haben, darf jedoch bezweifelt werden. Das amerikanische Bundesrecht gewährt aber darüber hinaus einen weiteren Schutz. Dieser betrifft das sogenannte „union shop agreement", d.h. also Tarifverträge kraft derer der Beitritt zur Gewerkschaft eine Bedingung des Arbeitsvertrages ist. Der Arbeitgeber darf sich auf diese Bedingung (die übrigens nur als Inhaltsnorm und nicht als Abschlußnorm zulässig ist) nicht berufen, um eine diskriminierende Maßnahme, also etwa eine Entlassung, gegenüber einem unorganisierten Arbeitnehmer zu rechtfertigen, wenn dieser aus gewerkschaftsfremden Motiven zum Verband nicht zugelassen oder aus ihm ausgeschlossen worden ist. Er kann zwar nicht Mitgliedschaft beanspruchen, ist aber gegen die Folgen des rechtlichen Organisationszwanges geschützt.41' Wie ist es zu erklären, daß dieses grundsätzliche Problem des Gewerkschaftsrechts in Amerika eine so entscheidende Rolle gespielt hat und spielt, aber in Großbritannien kaum bemerkt worden ist? Warum ist die Frage des Zutritts zur Gewerkschaft in Amerika, aber nicht in England ein „juristisches" Problem? Hier zeigt sich der Einfluß der Gesellschaftsstruktur auf die Grenzen des „Rechts". Der Zutritt zur Gewerkschaft wird zum Rechtsproblem durch die Heterogenität der Gesellschaft. In einer homogenen Gesellschaft (wie etwa in England) mag die Gewerkschaft den Zutritt im Interesse der Niedrighaltung des Angebots auf dem Arbeitsmarkte beschränken (wie es die alten Fachverbände mit ihren Lehrlingsklauseln taten), aber sie wird es nicht aus „gewerkschaftsfremden" Motivierungen tun. In einer heterogenen Gesellschaft aber kann sich die Gewerkschaft zum Werkzeug der Diskriminierung machen, und das Recht mag eingreifen müssen, um die Autonomie des Verbandes entweder bei der Aufnahme von Mitgliedern oder, wie es in Amerika geschehen ist, bei der Interessenvertretung im Interesse der Gleichheit der Staatsbürger zu beschränken. 418

Labor-Management

Relations A c t ,

A c t , Sect. 2 Eleventh (a) Proviso.

Sect. 8 (a) (3) Proviso;

Railway

Labor

350

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Kahn-Freund

In dem britischen Arbeitsrecht taucht das Problem nur an einer versteckten Stelle in einer gesetzlichen Bestimmung auf, 42 die, soweit bekannt, nie in der Praxis angewandt worden und in der Literatur fast unbemerkt geblieben ist. Es handelt sich um politische Minderheiten (in dieser Beziehung ist die britische Gesellschaft alles andere als „homogen") und die erwähnte Bestimmung verbietet es den Gewerkschaften, die Aufnahme abhängig zu machen von der Willigkeit des Beitretenden, zu dem politischen Fonds der Gewerkschaften beizutragen. Von diesem Fonds wird noch die Rede sein: Es ist wesentlich, daß kein Mitglied dazu gezwungen werden kann, zu ihm beizutragen und daß allein aus ihm „politische" Ausgaben finanziert werden dürfen. Die erwähnte Bestimmung soll es verhindern, daß diese Regelung dadurch umgangen wird, daß nur beisteuerungswillige Bewerber zugelassen werden. Sie würde aber nicht den Ausschluß der Angehörigen bestimmter politischer Parteien als solcher unmöglich machen. Alles dies spielt in der Praxis überhaupt keine Rolle: Einzelne Gewerkschaften haben diskriminierende Maßnahmen gegenüber Fascisten und Kommunisten getroffen, 43 aber diese beziehen sich auf Zulassung zu Gewerkschaftsämtern, nicht auf Zulassung zur Mitgliedschaft, und im übrigen ist es nicht zu ersehen, wie die erwähnte gesetzliche Bestimmung zum Schutz von politischen Minderheiten in der Praxis durchgesetzt werden könnte. In Frankreich — um dieses Beispiel eines kontinentalen Landes zu wählen — betonen die Gerichte44 einschließlich der Cour de Cassation 45 das unbeschränkte Recht der Verbände, die Aufnahme zu verweigern, wenn auch in der Literatur Bedenken dagegen laut werden.46 Eine rechtsschöpferische Entscheidung des Berufungsgerichtes von Rennes aus dem Trade Union Act, 1 9 1 3 , Sect. 3 (1) (b). Vor allem die größte britische Gewerkschaft, die Transport and General Workers Union. Hierüber Roberts, supra, p. 257. 42

43

43a Citrine, supra, p. 340, f ü r den es selbstverständlich ist, daß „a union cannot be obliged to accept a person into membership". Die einzige gründliche englische Untersuchung gibt Rideout, supra, Sect. 1 . 44 Ständige Rechtsprechung: Durand-Vitu, Traite de Droit du Travail, Vol. 3, Para. 70, p. 2 1 5 Anm. (1); Brun-Galland, Droit du Travail, I I I ig, p. 658. 45 Civ. 27 Oct. 1924, D. P. 1926.1. 104. In diesem Falle wurde das Problem vor der Cour de Cassation aufgeworfen, aber aus prozessualen Gründen nicht erörtert (s. Durand-Vitu, supra). Trotzdem wird die Entscheidung als einer der die Ausschlußfreiheit bejahenden Präzedenzfälle zitiert. Brun-Galland, supra; Spyropoulos, La Liberie Syndicale, p. 1 5 3 . 46 ζ. B. Brun-Galland, supra.

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Jahre 1937 knüpfte das Recht zur Aufnahme in die Gewerkschaft an die Ausübung des Organisationszwanges seitens der Gewerkschaft und sprach aus, daß sie wegen eines rechtswidrigen Eingriffes in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit schadenersatzpflichtig sei, wenn sie die Aufnahme von Bedingungen abhängig mache, die „constituent une sorte de barrage et creent une selection". 47 Dies aber ist eine isolierte Entscheidung48 und das beherrschende Prinzip ist und bleibt in Frankreich wie anderwärts „la Suprematie du groupement". 49 Wenn aber auch das Problem der Freiheit zur Aufnahme oder Nichtaufnahme heute in Europa eine geringe oder gar keine Rolle spielen mag, wird es immer so bleiben? Könnte nicht im Gebiet der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach Ablauf der Übergangsperiode eine Situation eintreten, die der amerikanischen nicht unähnlich wäre? Denn das in dem Vertrag von R o m niedergelegte Prinzip der Freizügigkeit 50 setzt ja die Gleichbehandlung aller Staatsangehörigen von Mitgliedsländern auf dem Arbeitsmarkt voraus, und diese wiederum ist unvorstellbar ohne Gleichheit des Zutritts zur Gewerkschaft. Werden die Gewerkschaften Europas sich jeder Diskriminierung gegenüber Zuwanderern aus anderen Mitgliedsländern enthalten? Oder wird das werdende europäische Recht genötig sein, in der Rechtsprechung des amerikanischen Obersten Gerichtshofs Unterstützung zum Zwecke der mehr als formaljuristischen Durchsetzung eines „gemeinsamen Arbeitsmarktes" zu suchen? Die zunehmende Wanderungsbewegung in Europa reduziert die gesellschaftliche Homogenität in den industriellen Ländern des Kontinents und vergrößert die Bedeutung des Problems des Zutritts zur Gewerkschaft als eines Rechtsproblems. Mit anderen Worten: Die Tatsache des äußeren Organisationszwan47

Rennes, 5. Jan. 1 9 3 7 , zitiert nach Durand-Vitu, supra,

p. 2 1 6 ; Brun-Galland er-

wähnen die Entscheidung überhaupt nicht. 48

Spyropoulos, supra,

49

In einer Anzahl von Fällen wurde entschieden oder wenigstens ausgedrückt, daß

p. 1 5 3 Anm. 25.

der Zurückgewiesene einen Schadensersatzanspruch haben könne, wenn er nachweislich das Opfer geworden sei, „d'une manoeuvre dolosive, concertee dans le but de lui nuire et inspiree par des motifs etrangers k la defense des interets professionals". (Spyropoulos, supra, pp. 1 5 3 ff.) Dies berührt das im Text erörterte Prinzip nicht. Dies wäre nach common law ein Fall von conspiracy, und ein deutsches Gericht würde wohl die Klage aus Para. 826 B G B zulassen, während im übrigen auch das deutsche Recht keinen Anspruch auf Zulassung kennt (s. etwa Nikisch, Arbeitsrecht, p. 64). 50

Art. 48 und folgende des Vertrages von Rom.

2. Aufl., 2. Bd. (1959),

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Kahn-Freund

ges allein macht das Problem des Zutritts zur Gewerkschaft im allgemeinen noch nicht zu einem Rechtsproblem. Der Organisationszwang hat normalerweise keine „Umkehrfunktion", und dem sozialen Zwang zum Beitritt entspricht kein rechtlicher Zwang zur Aufnahme. Das Recht schweigt, solange dem faktischen Organisationszwang eine tatsächliche Aufnahmebereitschaft entspricht. Es schweigt aber auch dann, wenn der Verband zwar die Mitgliedschaft zur Voraussetzung des Zutritts zum Beruf macht, sie aber aus arbeitsmarktpolitischen Gründen beschränkt. Erst wenn die Gewerkschaft ihre Kontrolle über den Arbeitsmarkt als Instrument gewerkschaftsfremder Ziele benutzt, erhebt sich der Ruf zum Eingriff des Rechtes. 51 Aber dieser Ruf muß ungehört verhallen, wenn nicht allgemeine Verfassungsgrundsätze oder Rechtsnormen zur Verfügung stehen, die von außen an das Gewerkschaftsrecht herangetragen werden können. Das Gewerkschaftsrecht selbst hat über den Zutritt zur Gewerkschaft nichts zu sagen. Dagegen beruht das in der Praxis der Gerichte so viel wichtigere Recht zur Aufrechterhaltung erworbener Mitgliedschaftsrechte auf dem gewerkschaftlichen „contrat social" selbst. Dieser aber umfaßt nicht nur die Satzung der Gewerkschaft, d. h. die autonome Ordnung der materiellen Rechte zwischen Verband und Mitglied und des bei der Lösung des Vertrages zu beobachtenden Verfahrens. Er umfaßt auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die die Gerichte als unabdingbares ius cogens in diesen Vertrag hineininterpretieren. Die englische Rechtsprechung über die Beendigung der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft und namentlich über den Ausschluß von Mitgliedern hat in den letzten Jahren eine große Rolle gespielt und weist einige interessante Züge auf. 52 Das nicht immer deutlich artikulierte Grundprinzip dieser Rechtsprechung ist, daß die Parteien des Mitgliedschaftsvertrages hinsichtlich 51

Siehe etwa das in diesen Fragen grundlegende Werk von Spyropoulos, p. 1 5 3 . Für das englische Recht ist auf die erwähnten Werke von Citrine, Grodin, Grunfeld und Rideout hinzuweisen, sowie auf die Artikel von Lloyd, Disciplinary Powers of Professional Bodies, (1950), 1 3 Mod. L. Rev. 2 8 1 ; Judical Review of Expulsion by Domestic Tribunals, (1952), 1 5 Mod. L. Rev. 4 1 3 ; Expulsion from a Trade Union as a Tort, (1958), 36 Can. Bar Rev. 83; für Canada auf Whitmore, Judical Control of Union Discipline: The Kuzy