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German Pages 352 [349] Year 2021
Rolf-Dieter Kluge
F. M. Dostojevskij Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung
Rolf-Dieter Kluge
F. M. Dostojevskij
Rolf-Dieter Kluge
F. M. Dostojevskij Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung Redaktion: Dorothea Scholl
Für die Beteiligung an den Druckkosten dankt der Autor dem Universitätsbund Tübingen
und der Stiftung Landesbank Baden-Württemberg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: Fëdor Dostoevskij, Skulptur von Sergej Konënkov, 1953, akg-images / Sputnik Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40507-7 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40508-4
Für Inge mit Olga
Inhalt Vorwort (von Dorothea Scholl)......................................................................................15 1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung..........................19 2. Das frühe Werk: Arme Leute und fantastische Erzählungen..................................27 3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung........................................................................49 4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus...........................61 5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund............................................................................79 6. Schuld und Sühne oder Verbrechen und Strafe: Zur Frage von Macht und moralischer Verantwortung..............................................95 Exkurs: Die kriminologische Situation....................................................................115 7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf.................117 8. Der Spieler, Der ewige Gatte und andere Novellen.................................................131 Exkurs über das Spielerlebnis in Baden-Baden......................................................142 9. Der Idiot: Der Mensch im Spannungsfeld von Liebe, Leidenschaft und Geld..........................................................................................................................149 10. Die „Dämonen“ der Revolution: Dostoevskijs Vision von der Revolution und vom politischen Terrorismus............................................................169 11. Der Jüngling: Der schwierige Reifeprozess eines jungen Mannes; Tagebuch eines Schriftstellers und späte Schriften.......................................................199 Tagebuch eines Schriftstellers...................................................................................207 Die Sanfte..................................................................................................................211 Der Traum eines lächerlichen Menschen................................................................212 Die Puškin-Rede........................................................................................................215 12. Die Brüder Karamazov: Recht und Gerechtigkeit, Religion und Gesellschaft.............................................................................................................219 7
13. Das „Poem vom Großinquisitor“: Zwischen Freiheit, Verantwortung und sozialer Sicherheit...........................................................................................................237 14. Dostoevskijs Werk in der Weltliteratur.................................................................247 Anmerkungen..................................................................................................................293 Bibliographie....................................................................................................................315 Register.............................................................................................................................336 Namensregister..........................................................................................................336 Sachregister................................................................................................................342 Behandelte Werke Dostoevskijs ������������������������������������������������������������������������������350 Danksagung.....................................................................................................................352
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Abb. 1: Dostoevskij, Gemälde von Vasilij G. Perov, 1872
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Hinweise zur wissenschaftlichen Umschrift Die Wiedergabe russischer (kyrillischer) Schriftzeichen mit lateinischen Buchstaben erfolgt wie im Titel dieses Buches in der im deutschsprachigen Raum eingebürgerten Form für den Namen des Schriftstellers „Dostojevskij“, ansonsten verwenden wir im Fließtext aus Gründen der Einheitlichkeit konsequent die wissenschaftliche Umschrift (Transliteration), in der jeder russische (kyrillische) Buchstabe durch einen lateinischen ersetzt wird. Darüber hinaus werden kyrillische Buchstaben für im lateinischen Alphabet nicht vorhandene Schriftzeichen durch lateinische Buchstaben mit diakritischen Zeichen wiedergegeben, wie aus der folgenden Tabelle der wissenschaftlichen Umschrift ersichtlich ist.
Transliterationstabelle Kyrillisch
Wissenschaftliche Transliteration (und Lautwert)
Аа
Aa
Бб
Bb
Вв
Vv
Дд
Dd
Гг
Gg
Ее
Ee (gesprochen je, z. B. единение = jedinjenije)
Ёё
Ëë (jo)
Жж
Žž (wie Journal)
Зз
Zz (stimmhaftes S wie Sonne) 11
Hinweise zur wissenschaftlichen Umschrift
Ии
Ii
Йй
Jj
Кк
Kk
Лл
Ll (hartes L vor und nach Vordervokalen wie im Kölner Dialekt)
Мм
Mm
Нн
Nn
Оо
Oo
Пп
Pp
Рр
Rr (Gaumen-R)
Сс
Ss (stimmloses S wie Masse)
Тт
Tt
Уу
Uu
Фф
Ff
Хх
CH ch (wie Lachen)
Цц
Cc (wie Z in Zitrone)
Чч
Čč (tsch)
Шш
Šš (sch)
Щщ
Šč šč (schtsch)
ъ
– (sog. „hartes“ Zeichen, sehr selten, nicht gesprochen)
ы
Y (wie kurzes hartes ü mit j)
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Hinweise zur wissenschaftlichen Umschrift
ь
’ (sog. „weiches“ Zeichen, jotiert den vorausgehenden Laut, z. B. мать = mat’, gesprochen matj)
Ээ
Ėė (wie kurzes ä)
Юю
Ju ju
Яя
Ja ja
Im Übrigen werden sämtliche Titel, Namen und Zitate aus anderen Sprachen in der jeweiligen Originalfassung übernommen, z. B. „Dostoevskij“, „Dostoevsky“, „Dostoïevski“ … Eingeführte Titel werden beibehalten, auch wenn ihre Übersetzung frei oder ungenau ist, z. B. „Schuld und Sühne“ statt „Verbrechen und Strafe“; „Der Jüngling“ statt „Ein grüner Junge“; „Die Dämonen“ statt „Böse Geister“… Titel von zitierten und in der Bibliographie aufgeführten Werken erscheinen unverändert in ihrer originalen Version.
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Vorwort (von Dorothea Scholl) Anfang November 1880, knapp drei Monate vor seinem Tode, vollendete Fëdor Michajlovič Dostoevski (1821–1881) seinen Roman Die Brüder Karamazov, der die künstlerische Bilanz seines Lebenswerkes zieht. Die großen vorangegangenen Romandichtungen – u. a. Schuld und Sühne, Der Spieler, Der Idiot, Die Dämonen, Der Jüngling – markieren als eigenwertige Etappen den Weg bis zu diesem krönenden Abschluss. Dieser Weg durch das Leben und Schaffen Dostoevskijs wird im Folgenden nachgezeichnet, wobei der Anlass – die 200. Wiederkehr seines Geburtsjahres und die 140. Wiederkehr seines Todesjahres – nicht nur bewunderndes Andenken an einen der größten Romandichter der Weltliteratur auslösen, sondern auch einen kritischen Zugang ermöglichen soll. Kaum ein bedeutender Dichter der Weltliteratur hat so eindringlich die Fragen nach unserer Existenz, nach Leid, Verbrechen, Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit gestellt, kaum einer sich so intensiv mit Glauben, Skepsis und dem „Nihilismus“ wie den Ideologien überhaupt auseinandergesetzt und den Menschen in seiner Triebhaftigkeit, Abgründigkeit und Maßlosigkeit ins Zentrum seiner Werke gestellt, und dies im Bewusstsein der eigenen Unausgeglichenheit und Zügellosigkeit. „In allen Dingen gehe ich bis an die äußersten Grenzen; mein Leben lang habe ich nie Maß halten können“, schrieb Dostoevskij in einem Brief an einen Freund, nachdem er in Baden-Baden beim Glücksspiel gewonnen und dann alles verloren hatte.1 Mit Hellsichtigkeit hat Dostoevskij die politischen und sozialen Probleme seiner Zeit in ihrer Tragweite für die Zukunft erkannt, weshalb ihm immer wieder eine seherische, prophetische Gabe zugesprochen wurde. Mit tiefer Einsicht in die weltanschaulichen Konflikte seiner Zeit hat er diese in seinem Romanwerk künstlerisch so zur Sprache kommen lassen, dass sie aus ihrer Zeitgebundenheit heraus eine allgemeingültige Durchsetzungskraft erlangten. Es sind Konflikte zwischen Individuen, zwischen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen, aber auch Konflikte innerhalb des einzelnen Menschen selbst, der, von seinen Leidenschaften 15
Vorwort
getrieben, zwischen dem Guten und dem Bösen hin und her gerissen wird. Dostoevskij verurteilt keine seiner Romanfiguren, er stellt ihre Wesensart und ihre ideologische Einstellung jeweils so dar, dass sich aus der Vielzahl von Einzelstimmen eine Polyphonie ergibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass Dostoevskij selbst einen Werterelativismus vertreten hätte. Aus seinen Selbstzeugnissen und publizistischen Beiträgen wie auch aus seinen Differenzen mit anderen Schriftstellern (z. B. Ivan Turgenev) wird ersichtlich, dass er, wie viele seiner Romanhelden, Partei ergriffen hat und dabei – aus damaliger wie heutiger Sicht – auch fragwürdige und problematische Positionen vertreten hat. Dostoevskijs Werk bildet ein eigenes Universum, das seit seinem Entstehen nicht nur die größten Schriftsteller der Weltliteratur inspiriert hat, sondern auch u. a. Literatur‑, Kunst- und Kulturwissenschaftler, Historiker, Soziologen, Philosophen, Theologen, Juristen, Mediziner, Psychologen und Vertreter der Psychoanalyse zur Auseinandersetzung mit ihm herausgefordert hat. Sie alle bezeugen die große Bedeutung von Dostoevskijs literarischen Fiktionen für das Verstehen von Zusammenhängen, die aus dem Blickwinkel der Einzelwissenschaften und ihrer Methoden oftmals nur einseitig oder reduziert wahrgenommen werden. „Seine Gestalten, seine Ethik und seine Kunst führen uns tief in das Begreifen menschlichen Zusammenlebens“, schrieb Alfred Adler 1918 in seinem Essay über Dostoevskij.2 Und Friedrich Nietzsche notierte: „Dostojewsky, der einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte, er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens“.3 „An welchem Abend, welcher Jahreszeit sprachen wir nicht über Dostojewski? Er war der Schutzheilige unserer Generation“, berichtet Franz Werfel in seiner Erzählung Weißenstein, der Weltverbesserer (1939).4 Thomas Mann nannte Schuld und Sühne den „größten Kriminalroman aller Zeiten“.5 Walter Benjamin zufolge brachte Dostojewski „das Stück Verbrecher, das im Menschen steckt, zum Vorschein.“6 Immer wieder stößt man bei der Lektüre von bedeutenden Dichtern und Denkern, die sich mit Dostoevskij befassten, auf Superlative. „Seine Bücher sind Apokalypsen und fünfte Evangelien“, verkündete Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit.7 Und in den Augen von José Ortega y Gasset war Dostoevskij vor allem ein „Meister der Technik, einer der größten Erneuerer der Romanform“.8 Daneben finden sich aber auch ganz andere Stimmen. Maksim Gor’kij erklärte 1913, Dostoevskijs künstlerisches Talent könnte seine reaktionären Anschauungen nicht aufwiegen. D. H. Lawrence verglich Dostoevskij mit einer Ratte und schrieb 16
Vorwort
nach seiner Lektüre von Der Idiot: „I don’t like Dostoievsky. […] He is not nice“.9 In Dostoevskijs Erzählung vom „Großinquisitor“ sah er den Ausdruck von krimineller Perversität. Glaubt man Walter Benjamins Bericht, gehörte auch Bertold Brecht zu den erklärten Verächtern Dostoevskijs. In seinem Tagebucheintrag vom 4. Oktober 1934 berichtet Benjamin von einer Auseinandersetzung zwischen ihm und Brecht, der Dostoevskij ein „Würstchen“ nannte und Benjamins Lektüre von Schuld und Sühne für dessen schlechte Gesundheit verantwortlich machte.10 Auch Upton Sinclair und Ezra Pound fühlten sich von Dostoevskijs Werk abgestoßen. Höchstes Lob und heftigster Tadel sind immer wieder im Übermaß ausgesprochen worden, so dass es sich lohnt, Dostoevskijs Werk, das weit in unser Jahrhundert hineinragt, unvoreingenommen wieder zu lesen. Rolf-Dieter Kluges Buch über Dostoevskij ist auf Anregung aus dem Hörerkreis einer Vorlesungsreihe im Audimax der Universitäten Freiburg und Tübingen hervorgegangen, die beim Publikum begeisterten Zuspruch fand. Es bietet ohne Einbuße an wissenschaftlicher Qualität in allgemein verständlicher Sprache einen durchdachten Zugang zu Dostoevskijs Leben, seinem Werk und dessen Wirkung. Auf dem Hintergrund seines spannungsreichen Lebenslaufs und eingebettet in die sozialen, politischen, kulturellen und literarischen Vorgänge in Russland zwischen 1840 und 1881 wird das vielfältige literarische, aber auch publizistische Schaffen dieses außergewöhnlichen Schriftstellers dargestellt. Es werden sowohl ästhetische als auch weltanschauliche Probleme besonders berücksichtigt, wobei die großen Romane ausführlich behandelt werden. Dostoevskijs persönliche Entwicklung wird nicht wie üblich als eine biographische, sondern im Zusammenhang mit der immanenten Entwicklungsgeschichte seiner Werke dargestellt. Rolf-Dieter Kluges Darstellung Dostoevskijs hilft, sich in dieses gewaltige Werk zu vertiefen und zu verstehen, warum Thomas Mann, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche und viele andere so fasziniert von diesem großen Schriftsteller der Weltliteratur waren.
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1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung Fëdor Michajlovič Dostoevskij gilt unbestritten als einer der größten Romanschriftsteller der Weltliteratur. Wissenschaft und Kritik sind sich einig: Literatur von der Qualität des Dostoevskij’schen Werkes ist zeitlos. Sie gestaltet und modelliert Ideen, Lebenssituationen und fiktionale Gestalten, die bis heute anregen und je nach Standpunkt als Vorbild oder Provokation aufgefasst werden. Die Weite und Problemfülle der großen Dichtungen Dostoevskijs beschäftigt nicht nur die Literaturwissenschaft und -kritik, sein Werk ist immer wieder auch Gegenstand philosophischer, theologischer, psychologischer, soziologischer, politologischer, ja sogar kriminologischer und medizinischer Untersuchungen geworden. In der formalen Literaturwissenschaft gilt Dostoevskij als der Schöpfer eines neuen Romantypus, des sogenannten „polyphonen Romans“ (nach Michail Bachtin, 1895–1975), in dem sich viele Handlungsstränge entfalten, überlagern, sich miteinander verschlingen und auch gegeneinander kehren, in dem aus der Sicht handelnder Personen perspektivisch erzählt wird und sich damit die Spannung der Darbietung ungewöhnlich verstärkt.1 Dostoevskijs Romane sind größtenteils als Dialoge und Gespräche – auch Selbstgespräche – gestaltet, in oft dramatischen Szenen, wodurch der Leser den Eindruck gewinnt, in das fiktionale Geschehen als authentischer Beobachter einbezogen zu sein. Diese Erzählweise, die die traditionelle sprachliche Darbietung durch einen abgeklärten und allwissenden Kommentator zurückdrängte, hat auf den Roman des 20. Jahrhunderts höchst anregend gewirkt und Pate gestanden bei der Entwicklung der Erzähltechnik des Bewusstseinstromes („stream of consciousness“) durch Andrej Belyi, Marcel Proust und James Joyce oder des „nouveau roman“. Darüber hinaus erstaunt die potentielle Aktualität der von Dostoevskij in seinen Romanen und Erzählungen angeschnittenen Themen, die auch nachfolgende Generationen nicht zur Ruhe kommen lässt.
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1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
In einem seiner Romane, Die Dämonen,2 versucht Pëtr Verchovenskij mit folgenden Überlegungen den neutralen und kalten Skeptiker Stavrogin für sein terroristisches Konzept zu gewinnen: Hören Sie zu, wir werden einen Aufstand entfachen, Sie glauben nicht, daß wir einen Aufruhr hervorrufen können? Es wird uns eine solche Rebellion gelingen, daß alles aus den Fugen brechen wird … Nur zehn Gruppen von wenigen (restlos ergebenen Anhängern) und ich bin nicht zu fassen … ich habe überall Pässe und Geld zur Verfügung … und sichere Verstecke habe ich auch. Die eine Gruppe wird man ausheben, aber die andere kommt durch. Wir werden den Aufstand heraufbeschwören … (Die Dämonen, 2. Teil, 8. Kapitel „Ivan der Zarensohn“)
Und worin bestehen Ursachen und Ziele für diese Verschwörung im Untergrund? Dostoevskij legt seinen terroristischen Empörern folgendes Programm in den Mund: Es ist das pseudosozialistische Konzept einer allgemeinen Gleichheit als Voraussetzung für Gerechtigkeit und Freiheit, das mit Methoden, wie man sie von NKWD, Gestapo, Stasi oder – zuletzt – fanatisierten Islamisten kennt, durchgesetzt werden soll: Es ist der Gedanke der Gleichheit. Jedes Mitglied der Gesellschaft soll jedes andere beobachten und ist zur Anzeige verpflichtet. Ein jeder gehört allen, alle gehören einem jeden … Im äußersten Falle kann man auch mit Verleumdungen und Mord operieren, Hauptziel ist die Gleichheit … Berge der Erde gleichzumachen, ist ein schöner und keineswegs lächerlicher Gedanke. Wir brauchen keine Intellektuellen und höhere Bildung. Schluß mit der freien Wissenschaft. Bedürfnis nach Bildung ist schon ein elitärer Drang. Kaum ist Familie und Bildung da, schon keimt das Bedürfnis nach Eigentum. Wir werden das erwürgen. Alles werden wir auf einen Nenner bringen, so daß völlige Gleichheit entstehen wird … Ihnen macht es nichts aus, ein Leben zu opfern, sei es Ihr eigenes oder ein fremdes. Sie sind für uns der richtige Mann … Wissen Sie wohl, daß wir auch jetzt schon schrecklich stark sind? Zu uns gehören nicht nur diejenigen, die da morden und brennen und klassische
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1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
Schüsse abgeben … ich habe sie alle zusammengezählt: der Lehrer, der sich mit den Schülern über Gott und über die Eltern lustig macht, er gehört zu uns. Der Rechtsanwalt, der einen gebildeten Mörder verteidigt und nachweist, dieser sei höher entwickelt als sein Opfer und habe, um an Geld zu kommen, notwendigerweise töten müssen – dieser Anwalt gehört auch schon zu uns. Schüler, die andere töten, um die mit einer solchen Tat verbundenen Gefühle kennenzulernen, sind auch die unsrigen. Die Geschworenen, die Verbrecher ohne Ausnahme freisprechen, sind auch die unseren. Ein Staatsanwalt, der vor der Öffentlichkeit zittert, daß er vielleicht nicht liberal und fortschrittlich genug erscheine, ist auch unser, auch unser. Dazu kommt noch das Heer der Verwaltungsbeamten, Literaten, viele, die zu uns gehören und es nicht einmal selber wissen … Überall in den führenden Schichten ist maßlose Arroganz und unerhörte, viehische Begierde und Profitsucht. Da ist das Verbrechen bereits kein Wahnsinn mehr, sondern das Gegenteil. Gerade das Verbrechen ist jetzt der Ausdruck von Vernunft, beinahe eine Pflicht, zumindestens aber ein edler Protest … (Ebd.)
Dostoevskij hat das 1871 geschrieben, wenige Jahre bevor in Russland die Bewegung des „Narodničestvo“ (Volkstümler-Bewegung) mit ihrer Agitations- und Aufklärungsarbeit, unter der Masse der russischen Landbevölkerung für Reformen und gesellschaftliche Veränderungen zu werben, endgültig gescheitert war. Aus der Widerstandskraft des autokratischen Zarenreichs und infolge wirksamer Polizeimaßnahmen gegen sie zogen die Narodniki den Schluss, nur eine allgemeine Verunsicherung der Bevölkerung durch Gewaltmaßnahmen, Terrorakte und Attentate könne die staatliche Ordnung als verletzlich erscheinen lassen und so die Voraussetzungen für die angestrebte Systemveränderung schaffen. 1876 wurde die Geheimgesellschaft „Zemlja i volja“ („Land und Freiheit“) gegründet. In der 1876 gegründeten, straff organisierten Geheimgesellschaft „Zemlja i volja“ hatten sich im Grunde verzweifelte Revolutionäre zusammengeschlossen, die in charismatischer Entschlossenheit ihr persönliches Leben dem Verbrechen und der Gewalttat opferten, um durch Attentate und Terrorakte die Autokratie zum Einsturz zu bringen. Blutiger Terror – darunter Selbstmordanschläge – schien ihnen das einzige Mittel, das ihnen geblieben war, um ihr Ziel, eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung, zu erreichen. In
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1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
geheimen Zirkeln über das ganze Land verstreut, schufen sie durch Attentate auf führende Persönlichkeiten des Regierungslagers Unsicherheit und brachten die Öffentlichkeit besonders durch Anschläge auf das Leben des Zaren, der dem vierten Attentat 1881 zum Opfer fiel, gegen sich auf.3
Dostoevskij hatte diese Entwicklung aus Dresden, wo er sich damals befand, lebhaft verfolgt und scharfsichtig schon in ihren Anfängen erkannt, und die vorn zitierten Vorstellungen finden sich in der Tat in Theorie und Praxis damaliger Radikaler und Terroristen, die im individuellen Terror die einzige Waffe politischer Opposition sahen. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass diese Terrorismuswelle in Russland zu einer Zeit ausbrach, als unter Zar Alexander II. mit der Abschaffung der Leibeigenschaft und Reformen im Rechts-, Wirtschafts- und Militärwesen eine Liberalisierung einzusetzen begann. Im obigen Zitat komprimiert Dostoevskij – zehn Jahre vor dem tödlichen Attentat auf den Reformzaren – Methoden und Ziele des russischen Terrorismus zu einer Mischung aus konkreter Analyse und begründeter Kritik an Mängeln des Systems und der Gesellschaft, aus Radikalismus im revolutionären Veränderungswillen und fanatischem, ja besessenem Glauben an das eigene Ziel (also hier die allgemeine Gleichheit!). Missachtung und Hass der Terroristen gilt undifferenziert all denen, die nicht den eigenen Glauben teilen; und – diese Passagen habe ich nicht zitiert –: der elitären Terroristen Verachtung und Hohn gilt auch ihren Mitläufern und der Masse des Volkes, der das Heil zu bringen man sich selbst berufen glaubt. Mit solchen Vorstellungen haben sich noch im 20. Jahrhundert die Terroristen der RAF befasst.4 Das Beispiel mag einleitend genügen, um die Aktualität Dostoevskijscher Probleme an einem Fall zu belegen. In Deutschland nannte Friedrich Nietzsche Dostoevskij „den einzigen Psychologen, von dem er etwas gelernt habe“ und „einen der wenigen Glücksfälle seines Lebens“; Oswald Spengler sah in ihm den Propheten des nächsten Jahrtausends; Sigmund Freud, Gerhart Hauptmann, Frank Thieß, Thomas Mann, Stefan Zweig und Hermann Hesse waren zutiefst von ihm beeindruckt, sogar – man höre und staune – Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels haben sich gelegentlich auf Dostoevskij berufen! Die Wirkung und Rezeption des russischen Schriftstellers reichen über das eigentliche Feld der Literatur weit hinaus. Dostoevskij erscheint in den einleitenden Zitaten als ein Analytiker und Interpret von gesellschaftlichen Vorgängen und inneren, gesellschaftspsychologischen 22
1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
Widersprüchen und Frustrationen, die bis heute relevant sind. Was Dostoevskij herausstellt und schärfstens verurteilt, kann man in Zeugnissen und Selbstbekenntnissen terroristischer Gruppen oder Zellen im Untergrund der letzten Jahrzehnte fast wörtlich, als ob von Dostoevskij kopiert, wiederfinden, in ihren Organisationsformen und Handlungsstrategien, aber auch inhaltlichen Zielsetzungen, wenn etwa mit der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht, der Beseitigung des Privateigentums und der Liquidierung der Besitzenden, der Verunsicherung des gesamtgesellschaftlichen Gefüges und Bewusstseins durch individuellen Terror kriminelle Methoden zum Erreichen moralisch scheinbar gerechtfertigter Utopien einer allgemeinen Gleichheit und Freiheit von jeglicher Repression eingesetzt werden sollen. Das ist die eine Seite von Dostoevskijs Aktualität. Hinzugekommen ist in jüngster Zeit noch eine weitere, nicht minder relevante: Russland befindet sich heute noch immer – in einer Zeit des Wandels auch gut noch dreißig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie, auf der ja das sowjetische Imperium gründete –, in einer tiefen Identitätskrise. Auf der Suche nach nationaler und geistiger Selbstfindung, auf der Suche nach einer Perspektive ist vor dem Schriftsteller vor allem der politische Denker Dostoevskij zu einer Berufungsinstanz geworden. Dabei dient das weltweite Ansehen und die Autorität des Literaten Dostoevskij als Rechtfertigung für die unkritische Übernahme und Aktualisierung seiner politisch nationalistischen, ja gelegentlich sogar chauvinistischen Ansichten. Es darf nicht unterschlagen werden, dass der Ideologe und politische Publizist Dostoevskij ein scharfer Kritiker der westeuropäischen Kulturen war, ein Verächter ihrer zivilisatorischen Errungenschaften und sozialen Reformen, ein russischer Nationalist, zuweilen ein Verfechter eines panrussischen Messianismus und nicht zuletzt auch einer antisemitischen Haltung. Dostoevskij verdammte den Parlamentarismus, die westliche Form der Rechtsprechung mit Geschworenen und bestellten Strafverteidigern, die westlichen christlichen Kirchen, die liberalkapitalistische Wirtschaft, er verurteilte den polnischen, deutschen und französischen Nationalcharakter mit ebenso ironischen und wirkungsvollen Tiraden wie klischeehaften Vorurteilen. Seine Religiosität verband sich mit russophilen Tendenzen und imperialistischen Großmachtträumen. Es könnte der Eindruck entstehen, dass hier ein Schreckensszenarium aus den Fehlern und Irrtümern Dostoevskijs entworfen wird, mit denen seine bleibende Größe verdunkelt werden soll. Aber das wäre ein einseitiges, verfälschendes und dem Selbstverständnis Dostoevskijs sowie der Dostoevskij-Diskussion in Russland 23
1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
widersprechendes Bild. Es darf nicht darum gehen, in beckmesserischer Weise die Irrtümer und Fehler einer großen Persönlichkeit aufzulisten, wo es doch das Bleibende ihrer Leistungen ist, die die Kultur bereichern. Wenn hier dennoch auf Dostoevskijs ideologische Fehlleistungen hingewiesen wird, so deshalb, weil sie von der Autorität seiner künstlerischen Größe sanktioniert, von Ideologen und Publizisten in unseren Tagen aufgegriffen und zu politischen Zielen reaktiviert werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass in Russland die Dichter seit jeher intellektuelle Führer und Wegweiser in der langen Nacht der autoritären und totalitären Herrschaft waren. So bestand seitens der Leser, der Rezipienten auch stets die Neigung, Dichtung vor allem politisch und ideologisch sich anzueignen und die Autoren demgemäß entweder als Verfechter des Systems zu verdammen oder sie unkritisch zu Vorbildern und nationalen wie geistigen Autoritäten zu idealisieren. Dostoevskij hat sich selbst in diesem Sinne als Wegweiser verstanden. Im Tagebuch eines Schriftstellers hat er als Aufgabe der Kunst postuliert, eine vereinigende und von allen zu akzeptierende Idee zu vermitteln! Diese „Idee“ besagt in Dostoevskijs politischem Vorstellungsraum: Die russische Nation ist eine außergewöhnliche Erscheinung in der Geschichte der Menschheit. Ihre Wahrheit beruht auf dem Prinzip der Allversöhnung und Allmenschlichkeit („vsečelovečnost’“). Deshalb hat das junge Russland gegenüber dem abgewirtschafteten alten Europa ein Führungsrecht. Seit der Perestrojka, also seit Ende der 1980er Jahre, ist in den russischen Debatten um die Bewältigung der kommunistischen und stalinistischen Vergangenheit und um die Bestimmung einer russischen Zukunftsvision der Name Dostoevskij ins Zentrum gerückt, selbst untadelige bedeutende Gelehrte vom Range eines Dmitrij Lichačëv (1906–1999) haben sich auf ihn berufen, 1991 wurde der 170. Geburtstag Dostoevskijs im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses – Palais Dolgorukov-Krymskij – mit großem Aufwand begangen: an diesem Orte hatte Dostoevskij 1880 seine große, auch politisch relevante Rede auf Puškin gehalten; dort hatte aber auch 1934 der 1. Sowjetische Schriftstellerkongress stattgefunden, auf dem Viktor Šklovskij (1893–1984) und Maksim Gor’kij (eigentlich Aleksej M. Peškov, 1868–1936) Dostoevskij vehement als bösen Genius verurteilten, in diesem Saale wurden in den 1930er Jahren die stalinistischen Schauprozesse abgehalten – ein geschichtsträchtiger Raum, an der Feier zum 170. Geburtstag Dostoevskijs nahmen unter der Leitung des damaligen Präsidenten der SU Michail Sergeevič Gorbačëv (*1931) die Führer von Staat und Partei und Kirche 24
1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
teil! Aber es kam zu einem Eklat: als Evgenij Evtušenko (1932–2017), Ales M. Adamovič (1927–1994) u. a. die Reformen – wenige Monate zuvor war ein Putsch der konservativen und altkommunistischen Kräfte gescheitert – im geistigen und politischen Leben mit dem Erbe, das Dostoevskij der ganzen Menschheit hinterlassen habe, in Zusammenhang brachten, verließen zahlreiche Vertreter der radikal nationalistischen Intellektuellenvereinigung „Pamjat’“ (Gedächtnis) unter Protest die Veranstaltung. Die konservative Zeitschrift Den’ (Tag) kommentierte den Vorfall in Anspielung auf Dostoevskijs Roman Besy (Die Dämonen) als „Wüten der Dämonen aus dem Westen“, die Dostoevskij für ihre schändlichen Zwecke der Zersetzung Russlands instrumentalisieren wollten. Ähnliche Konflikte zwischen konservativ-nationalistischen Kreisen und liberal westorientierten ereigneten sich auch in den folgenden Jahren, etwa bei der Einweihung eines Dostoevskij gewidmeten Denkmals auf dem Landsitz seiner Familie in Darovoe, das die charakteristische Widmung „Dem Propheten D – sein Vaterland“ trägt, oder auf literaturwissenschaftlichen Konferenzen in Moskau in polemischen Diskussionen unter Intellektuellen. Zunehmend berufen sich konservative politisch-ideologische Kräfte in Russland, die sich gegen eine Demokratisierung des Landes nach dem Muster des westlichen Parlamentarismus wenden, auf Dostoevskij. Diese Dostoevskij-Verehrung hat sich mit der Zeit allmählich etabliert und durch Routine ihre spezifische Aufmerksamkeit einigermaßen eingebüßt. Sie ist damit eher zur Sache konservativer und religiös orthodoxer Kreise geworden, die durchaus in der russischen Gesellschaft noch Einfluss und Bedeutung haben, aber nicht mehr im Blickpunkt der auf neueste und westlich inspirierte Erscheinungen fixierten medialen Öffentlichkeit steht. Die problematische Aktualität des ideologischen Erbes Dostoevskijs kann sich jedoch mit der unproblematischen Aktualität seines literarischen Werkes in keiner Weise messen. Bis heute finden sich seine literarischen Werke unter den Bestsellern in aller Welt, in Russland, in Europa und in den USA sind seine Werke ungezählte Male dramatisiert und verfilmt worden. Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie, wörtlich Verbrechen und Strafe) ist in Amerika sogar zu Comic-Strips verarbeitet und Computerspielen unterlegt worden. Unsere Darstellung will einen orientierenden Überblick über das gewaltige Werk Dostoevskijs vermitteln, dessen Dimensionen allseitig zu erforschen und die un25
1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung
übersehbare wissenschaftliche Literatur durchzuarbeiten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte erfordern würde.
Abb. 2: Dostoevskijs Vater, Michail A. Dostoevskij, um 1820
Abb. 3: Dostoevskijs Mutter, Marija Fëdorovna Dostoevskaja, um 1820
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2. Das frühe Werk: Arme Leute und fantastische Erzählungen Fëdor Michajlovič Dostoevskij wurde am 30.10. (neu 11.11.)1 1821 in Moskau geboren, als zweites von sieben Kindern. Sein Vater war Arzt am staatlichen Armenhospital. Die Familie lebte nicht in Armut, aber der Vater war geizig und ein schwieriger Charakter. Einer von Dostoevskijs Ahnen war 1506 mit dem Dorf Dostoevo belehnt worden. Es liegt bei Pinsk am Pripet’ im Südwesten von Belarus’ (Weißrussland) und gehörte zeitweilig zu Polen/Litauen. Ein Zweig seiner Vorfahren ist auch polonisiert worden. Das Bildungsniveau in der Familie Dostoevskij war recht hoch und ruhte auf christlich-orthodoxer Grundlage – Dostoevskijs Großvater war orthodoxer Priester. Die Dostoevskijs waren nationalpatriotisch orientiert. Im Familienkreis wurden literarische und philosophische Diskussionen geführt. Nikolaj Karamzins (1766–1826) Geschichte des russischen Reiches (Istorija gosudarstvo rossijskago, 1816–1829) wurde gelesen, diskutiert und verehrt, den künstlerisch-literarischen Geschmack prägten der klassizistische Dichter und „Staatspoet“ des 18. Jahrhunderts Gavriil Deržavin (1743–1816), Karamzin selbst und Vasilij Žukovski (1783–1852) mit ihren romantisch-empfindsamen Werken, dazu natürlich Dichtungen Aleksandr Sergeevič Puškins (1799–1837) und Übersetzungen deutscher und englischer empfindsamer Werke. Schulunterricht genoss Dostoevskij in teuren Privatinternaten, wo er perfekt Französisch und ebenfalls recht gut Deutsch lernte. Hier entstand eine lebenslange intellektuelle Beziehung zu seinem älteren Bruder Michail (1820–1864). Fëdor Dostoevskij war schon früh ganz von Literatur fasziniert. Im Alter von 16 Jahren war er ein enthusiastischer Schiller-Verehrer. Puškin sowie Jean Racine (1639–1699), Honoré de Balzac (1799–1850), Victor Hugo (1802–1885), Goethes (1749–1832) Faust und Werther, E. T. A. Hoffmanns (1776–1829) romantisch-fantastische Erzählungen und die englische „gothic novel“, also auch Schauerromantik bildeten u. a. seine bevorzugte Lektüre.2
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2. Das frühe Werk: Arme Leute und fantastische Erzählungen
Abb. 4: Dostoevskijs Bruder Michail Der junge Dostoevskij rezipierte jedoch Literatur weniger als autonom-ästhetische Schöpfung, sondern als eine Art Philosophie, in der das wesentlichste und wichtigste Thema der Mensch in seiner geheimnisvollen geistigen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit war, wie er, gerade 18 Jahre alt, am 1.1.1840 an seinen Bruder Michail geschrieben hat: Aufgabe der Literatur ist, der Menschheit die Organisation ihres geistigen und irdischen Lebens zu geben: Homer hat dies für die alte Welt mit der ganzen gleichen Kraft getan wie Christus für die neue.3
1837 starb Dostoevskijs Mutter, der menschliche und fürsorgliche Mittelpunkt der Familie. Dostoevskij und sein Bruder Michail gingen aus Moskau nach Sankt Petersburg auf eine militärische Ingenieurschule, aber diese Ausbildung ödete Dostoevskij an. Den Wissensstoff dort fand er uninteressant, nur der Literatur galten seine Interessen, vermehrt um damals moderne Autoren wie Balzac, Eugène Sue (1804–1857), George Sand (eigtl. Amantine-Lucile-Aurore Dupin, verehelicht Baronne Dudevant) (1809–1876) und Nikolaj Gogol’ (1809–1852) einerseits, zum anderen vertiefte er sich weiterhin in die historischen Dichtungen Schillers (Maria Stuart) und Puškins (Boris Godunov). Unter seinen allerersten literarischen Versuchen war eine romantische Tragödie Maria Stuart nach Schiller und ein Boris 28
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Godunov. Der Bruder Michail übersetzte und publizierte zehn Jahre später (1848) Schillers Don Carlos. Dass Dostoevskij aber auch sehr der zeitgenössischen Literatur zugetan war, belegt die Tatsache, dass er 1843 den Roman Eugénie Grandet von Balzac übertrug und als seine erste Arbeit überhaupt drucken ließ. Auch ein Werk von George Sand, La dernière Aldini, hat er damals übertragen.
Abb. 5: George Sand, Porträt Abb. 6: Honoré de Balzac, Porträt Nach dem Tode der Mutter soll Dostoevskijs Vater auf seinem Landsitz Darovoe im Gouvernement Tula von seinen leibeigenen Bauern 1839 erschlagen worden sein. Er soll dort das Leben eines haltlosen und grausamen Tyrannen geführt haben. Es scheint offensichtlich, dass Dostoevskij dieses Ereignis später in seinem Roman Die Brüder Karamazov verarbeitet hat. 1843 beendete Dostoevskij die Ingenieurschule in Sankt Petersburg und wurde technischer Zeichner im Kriegsministerium. Dieser Beruf war ihm zuwider, insbesondere die Routine der regelmäßigen Beamtentätigkeit, so dass er 1844 freiwillig im Range eines Leutnants (porutčik) seinen Abschied nahm, um ausschließlich das Risiko bloß literarischer Tätigkeit auf sich zu nehmen. Von nun an stand sein Leben unter dem Zwang, von Zeilen- und Seitenhonoraren zu leben. Er musste unaufhörlich schreiben, oft sehr schnell und bis an die Grenzen seiner physischen Leistungsfähigkeit, um das Nötigste zum Lebensunterhalt zu verdienen. Für die Herausbildung von Dostoevskijs künstlerischer Persönlichkeit, seinem geistigen und 29
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künstlerischen Profil ist auch die Tatsache wichtig, dass er in der Großstadt geboren, aufgewachsen und nur in der Großstadt gelebt hat, nicht an der Peripherie in Villen-Vororten, sondern in Kleinbürger- und Armenvierteln, fern von Natur und freier natürlicher Umwelt. Das erklärt wohl seine ständige Sehnsucht nach lebendiger Natur, aber einer romantisch verklärten, nicht unmittelbar erlebten. So hat er ein sentimentalisches, gebrochenes Verhältnis zur Natur gehabt, nicht wie Lev Nikolaevič Tolstoj (1828–1910), der ein unmittelbares Einssein mit der Natur ästhetisch stilisiert hat, und auch nicht eine wirklich in allen ihren feinsten Regungen und Stimmungen erlebte Natur wie bei Ivan Sergeevič Turgenev (1818–1883).
Abb. 7: Ivan S. Turgenev, Ölgemälde von Nikolaj D. Dmitrijev-Orenburgskij, 1879
Abb. 8: Lev N. Tolstoj, Ölgemälde von Michail V. Nesterov, 1900
Diese beiden Zeitgenossen Dostoevskijs stammen im Unterschied zu ihm vom Land. So ergaben sich für Dostoevskijs intellektuelles und seelisches Leben in der Jugend und Reifezeit besondere Dispositionen: ein zwar sehr gebildetes, aber unharmonisches und widersprüchliches Elternhaus, das im gewaltsamen Tod des Vaters sein Ende fand, eine erzwungene und ungeliebte Schul- und Berufsausbildung in Naturwissenschaften und Technik, was Dostoevskijs Anlagen nicht entsprach. Sein Leben in der Naturferne der Großstadt und seine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Freiheit bewirkten, dass die Beziehungen des jungen Dostoevskij zum Leben in mehrfacher Hinsicht „gebrochen“ erscheinen. Eben diese Diskrepanzen und Antinomien bewältigte und gestaltete er in seiner literarischen Arbeit. Das bedeutete einerseits intellektuelle Bereicherung, aber andererseits auch die Gefährdung, den 30
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Kontakt zur Realität zu verlieren. Insoweit ist von vornherein im Menschen Dostoevskij eine Spannung angelegt zwischen Traum, Illusion und nüchterner Wirklichkeit. Diese spannungsreiche spezifische Lebenserfahrung zeigt sich in vielen seiner literarischen Gestalten: im träumerischen sanften Helden der Weißen Nächte, in Raskol’nikov, der von sich sagt, er lebe in seinem Hinterhofzimmer wie in einem Sarg, und dessen Verbrechen eine handelnde Figur im Roman „Träume“ nennt, die aus der Literatur und gegen die Wirklichkeit geboren sind, oder im Roman Der Jüngling die schwankende Hauptfigur Arkadij Dolgorukij, um nur einige Beispiele zu nennen, in denen sich diese Lebenserfahrung aus Dostoevskijs Jugend literarisch widerspiegelt. Im Juni 1845 hat Dostoevskij seinen ersten Roman abgeschlossen, Arme Leute und zeigte das Manuskript seinem Freunde, dem angehenden Schriftsteller Dmitrij Grigorovič (1822–1900), einem realistischen Erzähler, dessen Skizzen und Erzählungen dem Stil Turgenevs sehr nahe sind. (Später war er der wichtigste Förderer Anton Čechovs). Grigorovič trug das Manuskript zu dem Dichter Nikolaj Alekseevič Nekrasov (1821–1878), der – damals mit dem einflussreichen Literaturkritiker und Publizisten Vissarion Grigor’evič Belinskij (1811–1848) in freundschaftlichem Kontakt – mit seinen Sammelbänden Petersburger Sammlungen die sogenannte „Natürliche Schule“ begründet hatte, die den Anfang der Stilepoche des Realismus in der russischen Literatur bildete, was eine Hinwendung der literarischen Thematik zur sozialen Wirklichkeit bedeutete: In Skizzen und absichtlich „alltäglich“ stilisierten Episoden wird das Elend und Leid der städtischen ärmsten und ungesicherten Kleinbürger und Asozialen beschrieben, aber auch die Lebenswirklichkeit leibeigener Bauern (Turgenevs Aufzeichnungen eines Jägers) zum dominierenden Thema und Gegenstand literarischer Gestaltung gemacht. Belinskijs Devise lautete: Auch der „Mužik“, der ärmste Bauer, ist ein Mensch: Der kleine Mann, der erbärmliche und benachteiligte Untertan Akakij Akak’evič, wie ihn Gogol’ im Mantel (1842) vorbildlich gestaltet hat, hat nicht nur das Recht auf literarische Existenz, sondern darüber hinaus hat die Literatur die moralische und gesellschaftliche Pflicht, durch Gestaltung solcher Themen und Figuren die Leser herauszufordern und zu motivieren, über die Moral und das Existenzrecht von gesellschaftlichen Verhältnissen nachzudenken, die derartige menschenunwürdige Zustände zulassen und begünstigen. In dieses literarische Programm passten die Armen Leute vorzüglich. Schon der Titel nennt ja als zentrales Thema die Armut. 31
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Abb. 9: „Von Wohnung zu Wohnung“, Gemälde von Victor M. Michajlovič Vasnezov, 1876 Die Hauptfigur ist ein kleiner alternder Beamter in Petersburg im separierten Teil einer Souterrainwohnung, zu mehr reicht es nicht. Es geht um Makar Devuškin und seine entfernte junge Verwandte Varvara. Deren Eltern sind sozial abgesunken und verstorben. Von einer Tante ist sie ganz offenbar an den reichen Gutsbesitzer Bykov verkuppelt worden (der Name Bykov ist von „Stier“ abgeleitet und symbolisiert sexuelle Kraft und Begierde). Vor dieser Tante geflohen, hat Varvara Schutz in Devuškins Nähe gesucht und wohnt nun in seiner Nachbarschaft. Beide schicken sich über den Hinterhof Briefe: Der alternde Junggeselle wirbt zärtlich und schüchtern um Varvara, die das gar nicht merkt und voller Dankbarkeit in ihm nur ihren Beschützer und väterlichen Freund sieht. Sie hatte sich in einen armen Studenten verliebt, der aber stirbt, und sein Freund Pokrovskij, ein unheilbarer Säufer, verfällt aus Schmerz um ihn fast dem Wahnsinn, als er dem Leichenwagen folgt. Devuškin ist von all diesen traurigen Lebensumständen zutiefst erschüttert, aber auch zu schüchtern und demütig, als dass er es fertigbrächte, Varvara unter solchen Umständen seine Liebe zu gestehen, seine Briefe sind von Gefühlswärme, inniger Zuneigung und Sorge um sie durchtränkt. Das Schicksal scheint es auch gut mit ihm zu meinen: Nach einer Krise – Devuškin hat sich zum ersten und einzigen Mal betrunken – wird er zu seinem Vorgesetzten gerufen. Er vergeht fast vor Angst und Scham wegen seiner schäbigen Kleidung, aber Exzellenz hat Mitleid mit ihm, gibt ihm etwas Geld, drückt ihm sogar die Hand, befördert ihn aber nicht in seiner Stellung, was einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht hätte. Durch das 32
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altruistische Verhalten der Exzellenz versöhnt sich Devuškin mit der Wirklichkeit, schickt Varvara 40 Rubel und bittet sie, für die Exzellenz zu beten. Er bereut sein vorangegangenes Verhalten, auch einen Anflug liberaler Ideen, in seine Seele sind Frieden und Stille eingekehrt.
Abb. 10: Devuškin, Illustration von Pëtr Boklevskij Genau in dieser Phase greift Dostoevskij mit Gespür für Spannung ein fast schon vergessenes Thema wieder auf. Varvara teilt erregt mit, dass Bykov in der Stadt ist und schon ihre Wohnung besucht hat. Er macht ihr einen Heiratsantrag, weil er dadurch seinen Neffen um die Erbschaft bringen will, indem er mit Varvara einen Nachkommen zeugt. Er weiß von Devuškin und will ihn mit 500 Rubel zufriedenstellen. Durch ihre Heirat mit ihm bekäme Varvara ihren guten Ruf zurück, außerdem eine große Mitgift. Varvara willigt in die Heirat ein, weil sie, wie sie es sieht, sonst nirgendwo unterkommen kann und Devuškin mit ihrer Abhängigkeit von ihm nicht zugrunde richten will. Sie ist sich aber voll bewusst, dass die Ehe mit Bykov ein schweres Los für sie sein wird. Von nun an beginnt sie, Devuškin mit Aufträgen und Bitten zu bedrängen, wobei sie in ihn quälender Weise dauernd „Herrn Bykov“ erwähnt. Die Häufung der Aufträge und Termine und Devuškins bestürzte und verwirrte Reaktionen verdeutlichen die komplizierte Situation. Zu Varvaras Hochzeit kann Devuškin nicht in die Kirche kommen, weil er krank geworden ist. Devuškins Schicksal ist ähnlich dem seines sozialen Verwandten des im gleichen Hause wohnenden Beamten Gorškov. Dieser steht in einem verwickelten Prozess unter Anklage und ist deshalb stellungslos geworden. Er lebt mit seiner Familie so mittellos, dass er sich sogar vor Devuškin demütigt. Endlich bekommt er Recht, wird freigesprochen und erhält als 33
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Wiedergutmachung eine beachtliche Summe Geld. Für ihn hat, wie für Devuškin, in der Kanzlei-Szene bei seiner Exzellenz die Gerechtigkeit gesiegt und es vollzieht sich seine gesellschaftliche Rehabilitation. Die Wirtin kocht wieder für ihn, die Nachbarn spielen wieder mit ihm Karten, aber Gorškov drückt Devuškin mit vom Tod gezeichnetem Lächeln die Hand, legt sich in seinem Zimmer schlafen und stirbt. Die „armen Leute“ gehen also trotz scheinbarer Rettung zugrunde. Neben der Armut ist auch die Psychologie als zweites Thema von Belang: „Varvara schreibt an Devuškin: Bykov ruft mich, und diesem Ruf muss ich folgen.“ Warum? Um der Armut zu entgehen? aus sexueller Hörigkeit? durch die Kraft der überlegenen Persönlichkeit Bykovs? Diese Fragen werden nicht klar gelöst. Die psychologische Rätselhaftigkeit steht in gewissem Widerspruch zum sozialen Thema der Armut und verdünnt gleichsam dessen Wirkung. Umfasst wird das ganze Romangeschehen von einem größeren dritten Thema, nämlich dem der Großstadt. Solche Situationen und Konflikte bringt nur die anonyme, lebensfeindliche, unnatürliche Atmosphäre der Großstadt hervor, wo der Mensch aus natürlichen Bedingungen und Lebensumständen herausgerissen ist, in der Masse isoliert lebt, in Wohnungsnot auf seine Intimsphäre verzichten muss und keine Perspektiven und Hoffnungen auf Besserung seiner elenden Lage hat, die Laster, Entartung und Perversion fördert. Schließlich wird sogar noch ein weiteres Thema angesprochen, nämlich das der Literatur. Im Roman gibt es literarische Exkurse und Diskussionen zwischen den beiden gebildeten Briefpartnern über Literatur, die sich der höheren Erziehung des Menschen widmen soll. Sie könne aus der Kulturkrise der Gegenwart, dem Sumpf der Großstadt durch ideale Entrückung retten. Sie solle den Menschen die Augen für wahre Humanität öffnen und so zu einer Verbesserung der Verhältnisse durch Veredelung des Einzelnen beitragen. Freilich wird dieses vierte Thema, zu dem auch eine Diskussion über Gogol’s Akakij Akak’evič gehört, nur eher angedeutet als ausdiskutiert. Der Roman in Briefform war damals, 1845, schon eine altmodische, mit ihren sentimentalen Herzensergüssen längst überholte Form. Aber viele der späteren Themen Dostoevskijs und besonders seine Kernfrage: die Rolle des Menschen in der Sinngebung und Sinngestaltung des Einzellebens und des Lebens der Gesellschaft sind hier schon aufgerissen. Auch die Frage nach der metaphysischen Begründung vom Grund und Sinn des Lebens überhaupt. Freilich haben Belinskij und seine Schule den Roman nur im Sinne des sozialen Pathos rezipiert. Nach einer nächtlichen Lektüre weckten Nekrasov und Grigorovič im Mai 1845 eines Morgens um vier Uhr früh Dostoevskij und bereiteten ihm eine Ovation. Bei Tage kam Belinskij und soll gesagt haben: 34
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Begreifen Sie mit Ihren 24 Jahren überhaupt, was Sie da geschrieben haben? Das ist die Tragödie unserer Zeit und unserer Menschen! Sie haben das Wesen der Dinge berührt, das Wichtigste mit einem Male gezeigt. Wir Publizisten und Kritiker bemühen uns nur zu analysieren, zu erklären, aber Sie als Künstler stellen mit einem Strich, in einem Bilde das ganze Wesen plastisch vor uns hin, dass man es mit Händen greifen kann … Das ist das Geheimnis der Kunst, die Wahrheit der Kunst. Das ist der Dienst des Künstlers an der Wahrheit. Ihnen ist die Wahrheit offen und bekannt, als Künstler haben Sie sie wie eine Gabe empfangen; hüten Sie diese Ihre Gabe und bleiben Sie ihr treu, und Sie werden ein großer Schriftsteller werden …!4
Dostoevskij hat sich später daran erinnert: 1877 schrieb er: „Das war der größte Augenblick in meinem Leben. In der Verbannung habe ich mich daran aufgerichtet, und auch heute erinnere ich mich stets mit Begeisterung daran.“ So kam es zu einer euphorischen Freundschaft mit Belinskij, den Dostoevskij häufig besuchte, und dessen glühendster Verehrer er wurde. Die Armen Leute erschienen in den Petersburger Sammlungen für das Jahr 1846 und brachten einen triumphalen Erfolg. Dostoevskij und sein Roman bildeten ein literarisches Ereignis ersten Ranges und waren lange das Tagesgespräch der Gebildeten in Sankt Petersburg. Der Grund dafür war nicht nur die von Belinskij gepriesene Sozialkritik, sondern auch bestimmte angedeutete Pikanterien und viele tränenrührende sentimentale Partien. Er ist eben auch eine rührende Liebesgeschichte.
Abb. 11: Vissarion G. Belinskij
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Der plötzliche Ruhm hat den gerade 25 Jahre alten Dostoevskij überwältigt und ihm geradezu die Besinnung geraubt. Nachdem er von Kindheit auf am Gefühl persönlicher und gesellschaftlicher Unterlegenheit und Benachteiligung gelitten hatte, bot dieser gewaltige Erfolg nun mehr als eine willkommene Kompensation. Der junge Schriftsteller nahm Starallüren an und wurde überheblich und leichtsinnig. Aber er hatte eben auch Grund dazu. Die literarische Welt lag ihm zu Füßen. Nekrasov, Belinskij, Ivan Ivanovič Panaev (1812–1862), aber auch der damals schon berühmte Turgenev zollten ihm uneingeschränkte Bewunderung.
Abb. 12: Literaten aus dem Umkreis des „Sovremennik“. Links oben nach rechts unten: Ivan Turgenev, Vladimir Sologub, Lev Tolstoj, Nikolaj Nekrasov, Dmitrij Grigorovič und Ivan Ivanovič Panaev, Lithographie, 1857 Dostoevskij vermochte jedoch diese plötzlichen Extreme in seinem Leben nicht auszugleichen. Er genoss und nutzte seinen Ruhm, leistete sich Affären, und, was vielleicht am wichtigsten war: Ohne Verhältnis zum Geld vergeudete und verschwendete er sein hohes Honorar schnell und unbedacht. Hier zeigt sich die Haltlosigkeit seines Charakters. Allerdings ließ sich Dostoevskij von diesen Erfolgen und Verlockungen nicht von seiner eigentlichen Berufung, der literarischen Arbeit abbringen. Gleich nach Abschluss des Romans Arme Leute schrieb er von Sommer 1845 bis Januar 1846 eine zweite Romannovelle („Povest’“) Der Doppelgänger, die Abenteuer des Herrn Goljadkin. Das zentrale Thema ist auch hier die Gefährdung des Menschen in der Lebens- und Kulturkrise, wie sie die Großstadt hervorruft. Goljadkin ist nicht so arm wie Devuškin, er ist ein mittlerer Beamter und unter36
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hält einen Leibdiener, aber er ist in die Beamtenhierarchie eingepfercht und davon geprägt: Gegen seine Vorgesetzten ist er unterwürfig; in der hierarchischen und unangreifbar omnipotenten Beamtengesellschaft ist er seelisch degeneriert und von dem Bewusstsein durchdrungen, nicht aufsteigen zu können und ohne genügend Mittel, die Anerkennung in der Gesellschaft ermöglichen, leben zu müssen. Mit seinem Platz im Leben als Nebenprodukt, als kleiner Mann, will er sich nicht abfinden und sucht deshalb unablässig nach dienstlichem und gesellschaftlichem Aufstieg. Als Postenjäger hat er aber schon den Gipfel seiner Karriere erklommen, für die ein weiterer Aufstieg ausgeschlossen ist. Zu seinem Unglück verliebt er sich in die Tochter eines hochgestellten Vorgesetzten und verliert sein seelisches Gleichgewicht. Seine Schüchternheit steigert sich ins Pathologische. Er erleidet Schweißausbrüche, flieht fremde Menschen und zittert bei Gesprächen mit anderen. Da rät ihm sein Arzt, er solle seine Komplexe, Vereinsamung und Angst dadurch überwinden, dass er sich einbilde, ein ganz anderer zu sein, am besten genau das Gegenteil von dem, was er zur Zeit ist, nämlich ein Anti-Goljadkin (im Roman heißt dieser „Goljadkin Junior“). Diese psychotherapeutische Gewaltkur erbringt aber keinen Erfolg. Von seiner Therapie ermutigt, versucht Goljadkin, zur Geburtstagsfeier seiner Geliebten eingeladen zu werden, was aber misslingt, da ihn ein Rivale, ein Assessor aussticht, und als er dennoch auf dem Ball erscheint, wirft man ihn kurzerhand hinaus. Da erinnert sich Goljadkin wieder des Rates seines Arztes, läuft verwirrt ins Schneetreiben der Novembernacht, und im Zustand beginnender Schizophrenie begegnet er seinem Doppelgänger, der Verkörperung seines geheimen unbewussten voluntativen Selbst und seines Verlangens nach Erfolg und Anerkennung. Es kommt zu Rivalitäten und Auseinandersetzungen zwischen Goljadkin und seinem Doppelgänger, im Dienst, auf der Straße, und sogar in der eigenen Wohnung mit dem Resultat, dass der Doppelgänger eifrig am Zusammenbruch Goljadkins wirkt, bis dieser schließlich in ein Irrenhaus eingeliefert wird. Die Bewusstseinsspaltung auf den falschen Rat des Arztes im krampfhaften Bemühen, ein Anderer sein zu wollen, führt in den Wahnsinn.
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Abb. 13: Nikolaj Gogol’, Gemälde von Otto F. Th. von Möller, 1845 In den beiden Frühwerken Dostoevskijs ist ein auffallender Einfluss von Werken Nikolaj Gogol’s festzustellen: auf die Armen Leute (1844/45) Gogol’s Mantel (1842) und auf den Doppelgänger (1846) die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen von 1835. Es handelt sich hier um eine literarische Polemik, in der sich Dostoevskij bemüht, Gogol’sche Themen neu aus anderer Sicht, vielleicht sogar vertieft, darzustellen. Devuškin wie Gogol’s Akakij Akak’evič sind Amtsschreiber, also Beamte niedrigsten Ranges. Sie sind arm, verrichten eine stumpfsinnige verachtete Tätigkeit und nehmen eine diskriminierte, sogar gedemütigte Stellung in der Gesellschaft ein. Gogol’s Akakij Akak’evič ist ein degenerierter, zur grotesken Schablone verein seitigter Mensch, der wollüstig das Schreiben und Malen von Buchstaben genießt, isoliert und abgeschlossen vom darüber hinausgehenden Leben. Als er sich unter äußersten Opfern einen neuen Mantel leisten muss, steigt sein Selbstbewusstsein als Träger dieses repräsentativen Kleidungsstücks. Als es ihm geraubt wird, und sein aus seiner Sicht vermessener Protest scheitert, stirbt er verzweifelt, um sich nach seinem Tode als Gespenst an seinem Vorgesetzten zu rächen, der es unterlassen hatte, ihm zu helfen. Devuškin ist im Vergleich aber gebildeter und reflektierender als der stumpfe Akakij Akak’evič, der nur auf seinen Mantel, d. h. auf seine Kleidung und das äußere Erscheinungsbild seiner selbst fixiert ist, denn Devuškin entäußert sich: Er liebt Varvara uneigennützig und will ihr helfen. Er bewahrt und besitzt Menschlichkeit. Auch in der äußersten Armut und Erniedrigung bleibt er menschlich. Devuškin ist ohne zu klagen oder zu kritisieren das Opfer der sozialen Missstände, folglich vertritt Dostoevskij eine allgemeinere, aber indirekte Gesellschaftskritik im Ver38
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gleich zu Gogol’. Das gilt besonders für den Schluss von Der Mantel: Das Gespenst rächt sich zuletzt an der hochgestellten Persönlichkeit, ändert aber nichts und greift die sozialen Zustände nicht an. Im Doppelgänger findet sich eine Parallele zu Popriščin in Gogol’s Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, hier hat Dostoevskij sogar einzelne Partien übernommen, was ihm den Vorwurf des Plagiats einbrachte. Mit Gogol’ eint Dostoevskij der Protest gegen die soziale Struktur der Beamtenhierarchie: Eine Person wird nur nach Rang und Stellung bewertet, und damit wird ihr sowohl die Wahrung ihrer Identität als auch deren Entfaltung verwehrt. Die literarische Polemik mit Gogol’s Mantel ist auch ein gewichtiges literarhistorisches Zeugnis der Wirkung und Rezeption der Literatur der „Natürlichen Schule“: Ihre Wirklichkeitsfiktion war so treffend, dass sie authentischen Charakter annahm: Makar Devuškin erkennt gar nicht mehr die innertextliche „Scheinwelt“ des Akakij Akak’evič, sondern nimmt diesen mit seinem Mantel und seiner Dienststelle als tatsächliche dokumentierte Realität: Im Brief vom 8. Juli empört er sich darüber, dass ihm Varvara Gogol’s Mantel zur Lektüre geschickt hat. Der Autor Gogol’ sei schamlos in die Privat- und Intimsphäre der kleinen Beamtenschaft eingedrungen und desavouiere diese. Was für einen Zweck hatte es, dies alles zu schreiben? Wozu war das nötig? Wird mir einer der Leser daraufhin einen neuen Mantel kaufen oder ein Paar neue Stiefel machen lassen? Nein, liebe Warinka, er liest es durch und verlangt womöglich eine Fortsetzung. Man verbirgt sich und gibt sich Mühe, seine schwachen Seiten nicht merken zu lassen, und vermeidet es, sich irgendwo sehen zu lassen, weil man nicht beredet werden möchte, weil die Leute aus allem, was in der Welt vorgeht, womöglich über jeden eine Schmähschrift verfassen, und dann wandert eines jeden Leben durch die Literatur; alles ist gedruckt, wird gelesen, belacht, bespöttelt! Da kann man sich ja nicht mehr auf der Straße sehen lassen. In der Schrift ist dann alles so genau geschildert, daß man schon allein am Gang erkannt wird. […] Besser wäre es allerdings gewesen, den Armen nicht sterben zu lassen, sondern es so zu fügen, daß sein Mantel wiedergefunden wurde und daß […] jener General Näheres über seine Tugendhaftigkeit erfuhr, seine Versetzung in seine eigene Kanzlei erwirkte, ihm einen höheren Rang und ein gutes Gehalt gab. Sehen Sie, dann wäre es so geworden: das Böse wäre bestraft worden, und die Tugend hätte triumphiert, seine Kollegen aus der Kanzlei wären leer
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ausgegangen, ich zum Beispiel hätte es so eingerichtet; denn so, wie die Erzählung jetzt zu Ende geht, was ist denn da Besonderes und Schönes? So bleibt ein nichtiges, leeres Beispiel aus dem ganz gewöhnlichen, alltäglichen Leben. Wie haben Sie mir nur solch ein Buch schicken können, meine Beste. Das ist ja ein ganz boshaftes Büchlein, liebe Warinka; das ist in der Tat unwahrhaftig, weil es einfach nicht möglich ist, daß es einen solchen Beamten gibt. Nein, ich werde eine Beschwerde einreichen, Warinka, eine formelle Beschwerde. (Arme Leute, Brief vom 8. Juli)
Diese intellektuelle kritische Haltung unterscheidet Devuškin von Akakij: Devuškin erscheint als Opponent und Kritiker der Gogol’schen Figur. Er verbindet kleinbürgerlich affirmatives Denken mit persönlichem Stolz und Stolz auf seinen Beamtenstand, natürlich in einer solch naiven Form stilisiert, dass beim Leser eine kritische Rezeption, eine Brechung intendiert wird. So geht es auch Gogol’s Propriščin: Er lehnt sich gegen das System auf und geht am Größenwahn zugrunde. Dostoevskijs Goljadkin hat berechtigte Hoffnungen aufzusteigen, aber sie scheitern. Das führt zu Selbstzweifeln. Er sucht die Ursache des Scheiterns gar nicht im System, sondern in der eigenen Person. Aber nicht in Selbstmitleid und Analyse seiner Fehler, sondern in der Frage, ob er nicht raffiniert und rücksichtslos genug ist, um sich durchzusetzen, um alle vermeintlichen bösen Feinde, Neider, Intriganten mit nötiger Härte, Konsequenz und Bosheit aus dem Wege zu räumen, was dann „Goljadkin Junior“, das Produkt seiner kranken Fantasie, auch tut. Es ist dies weniger eine Form primär sozialkritischen Protestes, sondern die gefährliche Folge psychischer Perversion des Menschen in der Entfremdung und unnatürlichen Isolation der städtischen Gesellschaft. Dostoevskij hat auch selbst gesagt, Goljadkin sei ein wichtiger und bedeutungsvoller Typ. Gogol’s Propriščin ist mehr noch als der sich subjektiv rächende Akakij Akak’evič das Opfer der sozialen Not und Rechtlosigkeit. Bei Propriščin zeigt es sich im nach außen harmlosen Größenwahn. Dostoevskijs „Goljadkin Junior“ kann indes als Auflehnung des Ressentiments, der „Zuschlechtweggekommenen“ gelesen werden, die ihre Unterlegenheit durch Bosheit kompensieren wollen. Der Kurzroman Der Doppelgänger gilt als weniger gelungen. Er enthält Längen, weitschweifige Partien, ist unausgeglichen geschrieben, Wahnvorstellungen und reale Schilderungen sind nicht so erkennbar wie bei Gogol’ unterschieden. Das Textganze ist verwirrend. Aber andererseits ist wichtig, dass hier einer der ersten Fälle des „perspektivischen Erzählens“ auftritt, d. h. in der Tradition 40
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war der Erzähler noch die allwissende, überschauende, objektive Instanz, nicht aber der Autor selbst. Hier berichtet der Erzähler jedoch nur und ausschließlich aus der Perspektive Goljadkins, ohne mit diesem identisch zu sein, dessen Geist sich allmählich verwirrt. Ohne besondere Hinweise darauf schildert der Erzähler, wie Goljadkin das ganze Geschehen sieht und erlebt, was viele Ungereimtheiten aufklärt, wie z. B. dass am Ende die beiden Goljadkins im gleichen Amt Dienst tun, ohne dass dies irgend jemandem auffällt. Das eben ist perspektivisches Erzählen. Der Erzähler berichtet durch ein Prisma aus der Wahrnehmung oder Perspektive einer beteiligten, handelnden Figur, und diese Erzählweise ist von der Kritik lange, bis in die neueste Zeit, nicht erkannt und folglich unverstanden als Missgriff abgelehnt worden. Belinskij hatte dieses Verfahren indes schon seinerzeit erkannt, aber für die literarische Darstellung abgelehnt und bloß als psychiatrisch-medizinisches Experiment gelten gelassen. Schon hier ist erkennbar, welch breites Spektrum von ideellen und formalen Möglichkeiten Dostoevskij ins Spiel bringt, ausprobiert und experimentiert, in gerade eingebürgerte vorgeformte literarische Muster nach Gogol und E. T. A. Hoffmann (vgl. dessen Erzählung Der Doppelgänger von 1822). Dostoevskijs experimentierendes Erzählen stellt ein bohrendes analytisches Suchen dar nach dem, was in den geschilderten Personen im Inneren psychologisch alles möglich ist, welche bis zum Extrem gehenden Folgen das haben wird, wobei natürlich ein Durchbrechen des Üblichen geschieht und ein Überschreiten dessen, was der Theorie des Realismus so wichtig ist, nämlich ein Überschreiten des Typischen. Goljadkin repräsentiert weder ein übliches noch ein typisches Schicksal in seiner Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind allenfalls auslösende Kräfte für einen psychopathologischen, aber durchaus realen Einzelfall, der sich so oder ähnlich ja auch in den begüterten oder privilegierten Schichten hätte ereignen können. Das trennt bereits hier Dostoevskijs Realismusverständnis vom sozialkritisch verstandenen Realismusbegriff der „Natürlichen Schule“. Was hier gesagt wurde, fasst die Resultate der Dostoevskij-Forschung auf dem Hintergrund seines Gesamtwerkes knapp zusammen. Die angesprochene Vielschichtigkeit ist im Frühwerk eigentlich erst angelegt, nur im Ansatz sichtbar, aber noch nicht voll ausgeführt; in diesem Stadium des Experimentierens konnte sie seinerzeit weder gänzlich erkannt noch angemessen rezipiert werden. Wenn man sich die Zeit Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts und den Erwartungshorizont der damals literarisch gebildeten Leserschaft (neben dem ge41
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bildeten Adel die Intelligencija und auch gebildete Kreise der städtischen Bürgerschaft) vorstellt, so war aus der Sicht der zeitgenössischen Rezipienten die Grundtendenz der literarischen Aussagen im Werke Dostoevskijs dennoch die soziale Kritik und Analyse. Dies ist allerdings bei Dostoevskij sehr weit gefasst zu verstehen. Sein Zentralthema ist die Gefährdung und Bedrohung des Menschen in einer inhumanen Stadt, im Materialismus einer bürokratisch-ständischen Hierarchie, wo Mittel und Rang des Menschen sein Ansehen und sein Schicksal bestimmen und seine Individualität keine Rolle spielt. Was dabei in Bezug auf die von Belinskij und Nekrasov inaugurierte „Natürliche Schule“ fortbesteht, ist die determinierende Darstellung des Alltagselends in gewöhnlichen Episoden und üblichen Begebenheiten, die in kritischer Absicht auf das Typische der sozialen Verhältnisse zielen in der Hoffnung, hier etwas verändern zu können. Dostoevskijs literarischer Held ist als Mensch nicht das Produkt sozialer Bedingungen und Basisverhältnisse und ändert sich nicht in und mit diesen. Sein literarischer Held ist Subjekt, Individuum in einem sozialen Kontext, der bestimmte Anlagen entbindet und fördert und andere hemmt oder sogar pervertiert. Die eigentliche Lage eines Menschen in extremem sozialem Druck, in Not und Bedrohung ist zwar meist die materielle Not des sozialen Elends, aber eben nicht ausschließlich. Dostoevskij experimentiert gewissermaßen: Was vermag der Mensch auszuhalten? Maximilian Braun spricht in diesem Zusammenhang von „Stress-Situationen“,5 jedenfalls hat das individuelle Schicksal des Menschen schon hier für Dostoevskij Vorrang vor seinem sozialen Los. Es geht also bereits hier eher um die Psychologie des Einzelmenschen als um seine soziale oder gar sozioökonomische Determination. Also sind zwar noch die Umstände, die Lebensverhältnisse, das Milieu der handelnden Figuren typisch als Konzentrat der sozialen Spannungen in der Stadt, nicht aber die Figuren selbst. Die literarischen Helden sind keine sozialen Typen, sondern eigentlich ungewöhnliche Menschen, meistens Grenzfälle, die Goljadkins, Procharčins, Polzunkovs sind Psychopathen, Neurotiker, psychisch Abnorme, aber keine sozialen Typen in ihren typischen gesellschaftlichen Umständen. Das erkannte Belinskij und kritisierte diese Fortentwicklung von den sozialen und moralischen Zielen der „Natürlichen Schule“, das Verhältnis zu Dostoevskij kühlte ab. Anfang 1847 kam es zum Bruch mit Belinskij und seinem Kreis. Diese Entwicklung Dostoevskijs ist aus einer Reihe von Erzählungen und Kurzromanen ersichtlich, die in schneller Folge geschrieben sozusagen Studien seines Experimentierens mit den psychischen Möglichkeiten des Menschen 42
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darstellen, wie z. B. Der Herr Procharčin (1846): Die Geschichte vom Leben und Sterben eines kleinen Beamten, in dessen Nachlass eine gewaltige Summe gesparten Geldes gefunden wurde. Es ist das Thema des Geizigen, das wir von Molière, Puškin, oder Gogol’ (Pljuškin in den Toten Seelen) kennen. Hier als psychologische Studie: Procharčin leidet an so etwas wie einem Sicherheitskomplex. Er wollte sich im Leben vor unvorhergesehenen Zwischenfällen und Verarmung retten und meinte, dass die Sicherheit und im Notfall die Rettung seiner Person im Medium des Geldes gespeichert ist. Das führt zu einer krankhaften Selbstabschließung, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen abreißen lässt, jegliche menschliche Solidarität ignoriert und nur im krampfhaften Versuch, das individuelle egomane Leben zu sichern, besteht. Procharčin verliert sein Leben im Grunde nicht erst mit seinem Ende, sondern schon zuvor, denn ein Dahinvegetieren in Armut, Dreck und totaler Isolation ist schwerlich humanes Leben zu nennen. Anton Čechov (1860–1904) hat später solche Isolation „futljarnost’“ (Futteralleben) genannt in seiner Erzählung Der Mensch im Futteral (1898). Ein schwaches Herz (1848): Varja Šumkov ist ein kleiner Beamtenuntertan wie Devuškin, der seinen Verstand verliert, weil er einen Abschreibeauftrag, der ihm ein großes Honorar verspricht, nicht rechtzeitig zu Ende bringt. Ähnliche abnorme Veranlagungen finden sich auch in Der ehrliche Dieb (1848), der seinen versehentlichen Diebstahl psychisch nicht verkraften kann oder in Polzunkov (1848), der mit absurden Späßen seine Umwelt erheitert, aber zugrunde geht, als er merkt, dass man ihn mit seinen Albernheiten identifiziert. Motivisch geht auf Gogol’s Furchtbare Rache die merkwürdige, teils romantische, teils okkulte Novelle Die Wirtin (1847) zurück. Der junge Wissenschaftler Ordynov mietet eine neue Wohnung bei der schönen jungen Wirtin Katarina. Sie ist die Geliebte und wohl auch die Tochter des dämonischen alten, scheinbar kriminellen Hausherrn Il’ja Murin, der über hypnotische Kräfte zu verfügen scheint. Der junge Träumer und Idealist Ordynov verliebt sich in Katarina, was zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Alten führt, fast kommt es zu Mord und Totschlag, aber Katarina flieht nicht und bleibt letztendlich doch bei dem dämonischen Alten. Die romantische Staffage, die Unheimlichkeit des Geschehens und die Zuspitzung des Sujets mit vielen nahezu unbegreiflichen und rätselhaften Episoden stieß auf scharf ablehnende Kritik Belinskijs, der von unzeitgemäßem romantischem Unsinn sprach.
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Aber in all diesen Erzählungen ist die Gestalt des Träumers und lebensunpraktischen Schwächlings von Belang, denn diese Figur begegnet auch in Dostoevskijs bekanntester Novelle aus dieser Zeit Weiße Nächte. Ein sentimentaler Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers (1848). Hier ist der Ich-Erzähler ein Tagträumer, der nur in literarischen Fantasien nach E. T. A. Hoffmann und Puškins Pique-Dame lebt und in der Realität, im wirklichen Leben nicht zurechtkommt. Dostoevskij schrieb in der gleichen Zeit in Feuilletons: Der Tagtraum, die Flucht in die Idealwelt der Fantasie sei resignierender Protest des schwachen, aber guten und moralisch reinen Menschen gegen eine machtgierige, ethisch verwerfliche Realität. Damit hat Dostoevskij den Tagträumer (mečtatel’) doch als gewissen sozialen Typ erklärt. Auf jeden Fall sollte dieser Typus noch eine große Rolle in Dostoevskijs Werk spielen, z. B. in Erniedrigte und Beleidigte und in der Gestalt des Myškin im Roman Der Idiot kulminieren. Der Ich-Erzähler bekennt sich bewusst zu seiner einsamen Traumwelt. Der Alltag ist ihm Qual, die Fantasiewelt zutiefst harmonisch, voller Güte, die der Erzähler in die Welt tragen möchte. Aber die Welt sieht in ihm einen Toren. In der ersten Nacht rettet er das Mädchen Nasten’ka aus Bedrängung durch einen Zudringlichen und erfährt von ihr, dass sie ihren Verlobten nach einjähriger Abwesenheit erwarte. Beim Treffen in der zweiten Nacht weiß sie, dass ihr Verlobter in Petersburg ist, aber wieder nicht zum Stelldichein gekommen ist. Und so keimt eine beginnende Liebe zu dem schüchternen Erzähler auf, die sich in der dritten und vierten Nacht zu intensivieren scheint. Schließlich bittet sie den Erzähler, ihrem Verlobten einen Brief zu übermitteln und den verlorenen Kontakt wiederherzustellen. Der Erzähler unterdrückt seine Liebe und respektiert ihre Lage, da Nasten’ka „vergeben“ ist und der Andere ein Recht auf sie habe. Am Morgen nach der vierten Nacht erhält er einen Abschiedsbrief von Nasten’ka: Sie sollen doch für immer Freunde bleiben. Das Motiv der Entsagung entstammt dem Vorbild vieler Erzählungen Turgenevs. Das gilt auch für die vielen lyrischen Partien und Stimmungsschilderungen. Schon der Eingang der Erzählung ist ganz in Turgenevs Stil der Leseranrede gehalten: Es war eine wundervolle Nacht, eine solche Nacht, mein geneigter Leser, wie es sie nur in der Zeit der Jugend gibt. Der Himmel war sternenübersät und hell und leuchtend …6
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Auch als Motto ist der Novelle ein Zitat aus Turgenevs Lyrik vorangesetzt, aus dem Gedicht Die Blume (1843), das Dostoevskij jedoch seiner Intention gemäß etwas geändert hat. Oder war er dafür geschaffen, Um wenigstens einen Augenblick In der Nähe deines Herzens zu verweilen?7
Jedoch gilt es, den Unterschied des Motivs der Entsagung bei beiden Autoren im Blick zu behalten: Bei Turgenev ist es resignativ und als Einsicht in die begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens begriffen. Es ist verstanden als Ausdruck der Resignation des „überflüssigen Menschen“, des entscheidungs- und verantwortungsschwachen, reflektierenden Hamlet-Typs, der an der Entsagung leidet und dafür seine persönliche Veranlagung, sein Schicksal und seine Umwelt als Ursache beklagt. Erst dreißig Jahre später ist bei Turgenev die Entsagung der abgeklärte Verzicht im Bewusstsein der Kraft und Fähigkeit, genießen zu können, im Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Lebensfreude und Vergänglichkeit innehalten zu vermögen. Bei Dostoevskij ist das Motiv der Entsagung wieder psychologisch gefasst. Die Flucht in den Traum führt fort vom Leben und geht bis zur Selbstverleugnung. Es ist eine beinahe schon masochistische Verhaltensweise, jedenfalls ist es wiederum sehr ungewöhnlich und überzogen, wenn der Liebhaber seinem Nebenbuhler hilft, die Frau zu bekommen, die er ja selber liebt.8 Neben der eben besprochenen Novelle ist auch als Beweis für die bereits früh vorhandene Produktivität Dostoevskijs noch das Romanfragment Netočka Nezvanova (1849) zu erwähnen. Drei Teile hat Dostoevskij vollendet. Er wollte einen „Frauenroman“ über das damals aufkommende Emanzipationsproblem schreiben. Es sind drei gelungene psychologische Studien überliefert. Aber sie sind zu bruchstückhaft, um ein endgültiges Urteil zu erlauben. Sie bilden die Zwischenetappe zur Großform des späteren mehrbändigen psychologischen Entwicklungsromans. Netočkas Stiefvater Efimov hat sein Leben einer starren Idee geopfert. Er ist ein hervorragender Geigenspieler und lebt nur für die Kunst seines Spiels, wofür Netočkas Mutter keinerlei Gespür hat, sodass es in der Familie immer wieder zu Streitereien kommt, die Netočkas Entwicklung als junges Mädchen beeinträchtigen. Efimov verliert zunehmend den Glauben an sich und seine Kunst, im Gegensatz zu dem deutschen 45
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Musiker B., der seine erfolgreiche Karriere plant und realisiert. Dass B. ein Deutscher ist, wird erstaunlicherweise weder kommentiert noch kritisiert. Nach dem Tod der Eltern wird Netočka als Waise in die Familie eines Fürsten aufgenommen, dessen junge Tochter Katja Netočka nun abgöttisch liebt. Diese weist sie aber stolz zurück. Doch kümmert sich ihre Halbschwester rührend um sie. Im Mittelpunkt des Romanfragments finden sich also zwei Frauentypen, die Sanfte (Katja) und die Stolze (Netočka).9 Versucht man, diese Werke und einige weitere aus den 1840er Jahren zusammenfassend zu betrachten, ergibt sich ein äußerlich buntes, uneinheitliches Bild. Neben sozialkritischen und zugleich psychologischen Erzählungen (Herr Procharčin, Ein schwaches Herz u. a.) finden sich romantisch-fantastische (Die Wirtin) und idealistisch-sentimentale, lyrische Novellen (Weiße Nächte), was darauf hinweist, dass Dostoevskij besonders im Bereich der formalen Gestaltung noch ein Suchender nach angemessener Darbietung seiner Vorstellung vom Menschen war. Aber hinsichtlich der ideellen Thematik finden sich in diesen, äußerlich, vom Stil her gesehen noch sehr unterschiedlichen Texten durchaus einige einheitliche und kennzeichnende zentrale Motive: 1.) die Bewusstseins- und Persönlichkeitsspaltung, hergeleitet aus dem romantischen Doppelgängermotiv, die Spannung zwischen dem, was der Mensch ist, seinem Platz in der Welt und der Akzeptanz seines Schicksals. Und dem, was er sein möchte, was er glaubt, sein zu können oder zu müssen. Diese Vorstellung entfaltet sich auf einer zweiten Darstellungsebene, im Wahnsinn, in der neurotischen Selbstabschließung, im wirklichkeitsentrückten Tagtraum, in der Illusion. 2.) Es werden die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen psychischen Fähigkeiten ausgelotet, bis es zu Grenzüberschreitungen kommt: Entsagung wird Selbstpreisgabe (Weiße Nächte), Mitleid wird Torheit (Ein schwaches Herz), Nächstenliebe wird menschliche Schwäche (Devuškin, der Held in Arme Leute). 3.) Das Problem der Liebe. Die Ambivalenz zwischen selbstloser Hingabe und einer Art moderner Unterwerfung (Devuškin; Ordynov, der Erzähler der Weißen Nächte …). Auffallend ist, wie oft es sich um ungewöhnliche Liebesbeziehungen alter oder wenigstens alternder Männer zu jungen schönen Frauen handelt. Neben den Einwänden Belinskijs gegen Dostoevskijs Interessen für psychische Ausnahmenaturen und seelische Erkrankungen wie im Doppelgänger oder romantisierende Traumgeschichten wie in den Weißen Nächten war ein weiterer wichtiger Grund für die Differenzen zwischen dem Kritiker und dem Schriftsteller die Frage 46
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der Religion.10 Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Dostoevskij aus einem religiösen Elternhaus stammte, wo übrigens neben der Bibel und dem Kultus und der Frömmigkeit der russischen orthodoxen Kirche auch gewisse pietistische und sogar liberale protestantische Anregungen Eingang fanden. So gehörte zum regelmäßigen religiösen Unterricht auch ein aus dem Deutschen übersetztes Lehrbuch mit dem Titel Zwei mal 25 auserlesene biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testament der Jugend zum Besten abgefasst 1714 von Johannes Hübner (1668–1731, Hübner war ein Frühaufklärer, der Lehrbücher und das erste deutsche Konversationslexikon verfasst hat). Dieses Lehrbuch war eine Art Kinderbibel und Katechismus zugleich, dessen Texte zum Auswendiglernen gedacht waren. Jede einzelne Geschichte aus der Bibel war mit Kontrollfragen versehen und enthielt außerdem „nützliche moralische Belehrungen“ und „fromme Betrachtungen“. Hier haben den jungen Dostoevskij zum ersten Male die Gleichnisse und vor allem das religiöse Drama im Buch Hiob tief beeindruckt. In der Militärakademie las Dostoevskij das Hausandachtsbuch des Schriftstellers und Züricher Pastors Heinrich Zschokke (1771–1848), in dem Lebensprobleme wie unverschuldetes Leid, ungerechte Unterdrückung des Nächsten, Glücksspiel oder Selbstmord aus christlich-protestantischer Sicht behandelt werden. Auch wenn in Dostoevskijs frühen Werken sich christliche Elemente kaum bemerkbar machen, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er den Glauben seiner Kindheit verloren hätte. Ihm nahestehende Freunde berichten, dass er regelmäßig zur Kirche ging, fastete und oft über christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit gesprochen habe. Mehrere Augenzeugen erzählen unabhängig voneinander, dass sich Dostoevskij verunsichert zeigte und unruhig hin und her wand, wenn Belinskij gegen das Christentum wetterte und Christus herabsetzte. Auf der anderen Seite verschloss der junge Dostoevskij natürlich nicht die Augen vor schreienden sozialen Mißständen seiner Gegenwart, wovon wir uns schon zuvor überzeugt haben. Und so wird es für ihn zu schmerzlichen Zweifeln gekommen sein, wenn er eben mit ansehen musste, dass das System der Leibeigenschaft, der Besitz an Menschen und der Umgang mit ihnen wie mit einer Ware, von dem christlichen russischen Zarenreich praktiziert und von der rechtgläubigen Kirche sanktioniert wurde. Dabei hat er wohl zu unterscheiden gewusst zwischen der kirchlichen Praxis, der institutionalisierten Religion und dem ihr innewohnenden Geist, dem christlichen Glauben und seiner Idealgestalt des Heilands, des Gottessohnes. 47
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Abb. 14: Christus in der Wüste, Gemälde von Ivan Kramskoj, 1872 In Christus erkennt Dostoevskij das Vorbild menschlicher Vollkommenheit, Schönheit und moralischer Reinheit, er sieht in dieser Gestalt als wirklichen lebendigen Menschen die Totalität und absolute Vollendung verkörpert, wie sie schöner und größer gar nicht gedacht werden kann. In Christus sieht er das Ideal menschlichen Seins verwirklicht, das höher ist als alles menschliche Planen und Handeln, Fühlen und Denken. Christus ist für ihn das ethische und ästhetische Ideal vom Menschen, das jeder Einzelne – bewusst oder unbewusst – als Hoffnung und utopisches Ziel seiner selbst in sich trägt. Dieses religiöse Denken Dostoevskijs hat einen voluntaristischen Zug, es ist eine suchende und wollende, lebensbejahende Religiosität. Aus dieser – in der sibirischen Verbannung gewonnenen – Grundeinstellung zum Dasein erfolgt die Absage an sozialistische Weltverbesserungsideen, denn nach Dostoevskij muss sich der Mensch in seiner individuellen Substanz erkennen, über seine Bestimmung (Entelechie) Klarheit gewinnen und sich dementsprechend läutern, nur so werden die einzelnen Menschen fähig zur Gestaltung einer besseren Gesellschaft, nicht aber umgekehrt: Soziale Verhältnisse machen den Menschen nicht gut oder gar besser, allgemeiner Wohlstand stellt den Egoismus nicht infrage, sondern beutet ihn nur aus. Für das Leben und Glück des Individuums wie der ganzen Gesellschaft leisten die analytischen Kräfte des Verstandes mit ihren rationalen Modellen wenig, das Leben erweist sich als das Ringen der Mächte des Guten und Bösen im Menschen, und diesen Kampf muss jeder einzelne allein bestehen.
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3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung Als Dostoevskij im Frühjahr 1845 Belinskij persönlich kennenlernte, stand dieser noch unter dem Einfluss französischer Sozialisten wie Henri de Saint-Simon (1760– 1825), Félicité de Lamenais (1782–1854) oder Charles Fourier (1772–1837), die sich an der moralischen Botschaft des Christentums orientierten. Jesus Christus war für sie ein göttliches Wesen, das auf die Erde herab gesandt worden war, um Nächstenliebe und Brüderlichkeit zu verkünden. Sie wollten den altruistischen Kern seiner Botschaft von den Dogmatisierungen und Entstellungen der Kirche – wie sie meinten – befreien, um ihn für das benachteiligte Volk, für die Entrechteten und Verfolgten zu verwirklichen. Die Utopisten entwarfen einen christlichen Sozialismus, der lehrte, Gott habe die Menschen zur Mitwirkung an der Vollendung seiner Schöpfung bestimmt. Die menschliche Natur war für sie infolgedessen nicht schlecht oder böse, sondern auf Vervollkommnung angelegt, ein Abglanz oder Ebenbild des Göttlichen.
Abb. 15: Der junge Dostoevskij, 1847 49
3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung
Sozialismus war für diese Utopisten kein revolutionäres Programm, sondern so etwas wie eine moderne Bergpredigt, die die Idee der Nächstenliebe in einer Gesellschaft, die vom Markt beherrscht ist, zur ethisch verbindlichen Maxime machen und den Wettstreit um Macht und Geld von der Idee der Nächstenliebe regulieren lassen wollte. Bei Saint-Simon heißt es, Gott hat geboten, dass alle Menschen Brüder sein sollen. In diesem hohen Gebot ist alles Göttliche der christlichen Religion enthalten. Dieser Geist liegt den Armen Leuten und Dostoevskijs frühen Träumern und leidenden kleinen Helden zugrunde. Hier also trafen sich Belinskij und der junge Schriftsteller. Aber Belinskij löste sich von diesem utopischen christlichen Sozialismus und wandte sich der Religionskritik, der These von der Religion als entfremdetem, also falschem menschlichen Bewusstsein zu, wie sie in Deutschland linkshegelianische Denker wie Ludwig Feuerbach (1804–1872) und der Tübinger David Friedrich Strauß (1808–1874) verkündeten.1 Strauß’ Schriften waren in der russischen linksorientierten kritischen Intelligencija im 19. Jahrhundert samt der Tübinger protestantischen kritischen Bibelwissenschaft so bekannt und verbreitet, dass Dostoevskijs jüngerer Freund, der Philosoph und Dichter Vladimir Solov’ ëv (1853–1900) in seiner Kurzen Erzählung vom Antichrist diesen (den Antichristen) noch 1900 von der Universität Tübingen zum Doktor der Theologie ehrenhalber promovieren ließ! Im Jahr 1846 kam es zum Bruch mit Belinskij. In seinen Erinnerungen schreibt Dostoevskij, der leidenschaftliche Belinskij habe schon in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft über den Atheismus räsoniert und diese Lehre mit Hingabe übernommen. Auch wenn aus der rückschauenden Sicht des späten Dostoevskij diese Aussage überzogen sein mag, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass Dostoevskij immer von der menschlichen Willensfreiheit und der Unsterblichkeit der Seele überzeugt gewesen ist und deshalb seinem Förderer und Mentor schwerlich auf atheistische und revolutionär-sozialistische Pfade folgen mochte. Nach dem Zerwürfnis mit Belinskij suchte Dostoevskij andere Freunde und fand sie im Kreis seines Kommilitonen Aleksej Beketov und dessen Brüdern Nikolaj und Andrej, dieser ist übrigens später ein hervorragender Botaniker und Rektor der Universität Sankt Petersburg gewesen. Dort wuchs bei ihm im Hause des Rektors sein Enkel Aleksandr Blok (1880–1921) auf, nachmals einer der größten russischen Dichter des 20. Jahrhunderts, der von Dostoevskij beeindruckt und beeinflusst war, ohne jedoch dessen religiöse Vorstellungen zu teilen.2 50
3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung
Zum Kreis der Beketovs gehörten auch die Dichter Aleksej Pleščeev (1825–1893) und das Brüderpaar Apollon (1821–1897) und Valer’jan (1823–1847) Nikolaevič Majkov. Sie alle waren überzeugte Anhänger des christlich-utopischen Sozialismus. Aber dieser Kreis zerfiel, als die Beketovs ihren Studienort nach Kazan’ verlegten.
Abb. 16: Aleksej Pleščeev, Gemälde von Nikolaj Jarošenko, 1887
Abb. 17: Apollon Majkov, Gemälde von Ivan Kramskoj, 1883
Auch wenn Dostoevskij ein kleines Erbe aus dem Nachlass seines Vaters und akzeptable Honorare erhielt, konnte er mit Geld nicht umgehen und beging den Fehler, für den Verleger und Herausgeber der Zeitschrift Vaterländische Annalen Andrej A. Kraevskij (1810–1889) auf Vorschuss zu arbeiten. Diese Fehlleistung ist ihm auch später widerfahren. Er wurde auf diese Weise vertraglich gebunden und musste seinem Verleger zukünftige literarische Arbeiten zu ungünstigen Konditionen überlassen. Deshalb schrieb er – oft aus Geldnot – auch Artikel und Feuilletons für Zeitungen, so erschienen in der Sankt Petersburger Zeitung einige seiner Artikel, in denen sich der später so slavophil und nationalistisch eingestellte Dostoevskij für Sankt Petersburg als „Fenster nach dem Westen“ und Muster westlicher Aufklärung einsetzt gegen die Ansicht der Slavophilen, die an der alten Hauptstadt Moskau als Hort des echten Russentums hingen. Auf diese Artikel wurde Michail Butaševič-Petraševskij (1821–1866) aufmerksam, ein polnischstämmiger Beamter im Außenministerium und Gastgeber eines geheimen Zirkels, in dem oppositionell eingestellte Intellektuelle sich Freitagabends trafen. In der reichhaltigen Bibliothek fanden sich viele, von der Zensur verbote51
3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung
ne, oder von der Einfuhr ausgeschlossene Publikationen aus dem Westen. Dostoevskij, der Petraševskij 1846 kennenlernte, wird hier Lamenais, Feuerbach und David-Friedrich Strauß gelesen haben. Ab Frühjahr 1847 verkehrte er regelmäßig in diesem Kreis. Da sich aber Petraševskij rasch vom utopischen zum materialistischen Sozialisten entwickelte, kam es nicht zu engeren Beziehungen. Dostoevskij störte auch, dass der Petraševskij-Kreis für seine Ziele eines Wandels der russischen Gesellschaft die Vorbilder ausschließlich in den westeuropäischen sozialistischen Modellen suchte, so hatte z. B. Butaševič-Petraševskij selbst auf seinen Landgütern durchorganisierte kasernenartig untergebrachte Familienverbände zu bilden versucht, nach dem Vorbild von Charles Fouriers Phalanstères, aber seine Bauern haben sich gegen diese fremdartige Lebensform gewaltsam gewehrt.
Abb. 18: Charles Fouriers Idealbild einer „Phalanstère“, 1848 Da schienen denn Dostoevskij die auf altem russischen Boden gewachsenen traditionellen kollektiven Bewirtschaftungsformen des „Mir“ und der „Obščina“ einen besseren Ansatz für eine gerechte bäuerliche soziale Gemeinschaft zu bieten. Statt also fremde Organisationsformen einzuführen, sollte es zunächst vordringlich um die Beseitigung unwürdiger und unmenschlicher Einrichtungen in Russland gehen, wie vor allem die Leibeigenschaft. Ein Mitglied des Petraševskij-Kreises, Pëtr P. Semënov-Tjan-Šanskij (1827–1914), hat Dostoevskij als leidenschaftlichen politischen Agitator für diese Ziele geschildert.
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Ein Revolutionär war Dostoevskij nie und konnte es auch nicht sein, aber als Gefühlsmensch ließ er sich beim Anblick von Gewalt, die gegen Erniedrigte und Beleidigte verübt wurde, leicht zu Erbitterung und Hass hinreißen. So war es, als er von einem Unteroffizier […] hörte, der Spießruten laufen mußte oder von Gutsbesitzern, die ihre Bauern prügeln. Aus solchem Anlaß wurde Dostoevskij so aufgeregt, daß er mit der roten Fahne durch die Straßen ziehen konnte, was sich sonst kaum einer im Petraševskij-Kreis zutrauen mochte.3
Auch von anderen Zeugen, etwa Michail Aleksandrovič Bakunin (1814–1876), weiß man, dass der Petraševskij-Kreis eigentlich ein harmloser Debattierklub war, wo meist unausgegorene, verworrene Ideen und Konzepte in heftigen Wortgefechten zerredet wurden. Die Gäste waren meist noch sehr jung und unerfahren, oft lagen ihre Interessen eher in der Literatur und Kunst als in praktischer oppositioneller Politik. Hier lernte Dostoevskij die angehenden Schriftsteller Apollon Grigor’ev (1822–1864), Michail Saltykov-Ščedrin (1826–1889), Ivan Gončarov (1812–1891), Nikolaj Černyševskij (1828–1889) und andere kennen. Aber selbst solche ungefährlichen Diskussionsklubs zogen das Misstrauen der Verwaltung des „Polizeizaren“ Nikolaus des I. auf sich, zumal im Revolutionsjahr 1848 aus dem gefährlichen, und wie es schien, in Anarchie aufgehenden Westeuropa Aufruhr und Zersetzung drohten. Die Revolutionsfurcht der Behörden steigerte sich fast zur Hysterie. Die Geheimpolizei des Zaren und das Innenministerium überzogen die Hauptstädte und gesellschaftlichen Zentren des Landes mit einem Netz von Agenten, die je nach dem, welchem Dienstherrn sie unterstanden, miteinander konkurrierten und oftmals auch Unschuldige der Prämien wegen verdächtigten und anzeigten. In dieser Situation genügte der Besuch des Petraševskij-Zirkels, um zu den Illegalen und potentiell gewalttätigen Staatsfeinden gezählt zu werden. Zugleich bewirkten aber solche Verhältnisse auch in einem Menschen wie dem stark emotional veranlagten Dostoevskij eine wachsende Entschlossenheit, sich diesem rigiden reaktionären System entgegenzustellen. Dazu kommt ein weiteres: Im Dezember 1847 war im Petraševskij-Kreis ein neuer Gast aufgetaucht, der in Westeuropa gereist war und Kontakte zu revolutionären Gruppen wie dem Bund der Kommunisten und zu Karl Marx (1818–1883) geknüpft hatte, aus dessen Schriften er erstmals in Russische übersetzt hatte: Nikolaj Aleksandrovič Spešnev (1821–1882). 53
3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung
Abb. 19: Nikolaj A. Spešnev, um 1840 Spešnev war aber auch ein Salonlöwe und Frauenheld, den die Aura der Konspiration und des Verführers umgab. Von allen Zeitgenossen wird er als ein auffallend schöner, ruhiger und überlegen unnahbarer Mann geschildert, selbst ein solch Unverdächtiger wie Michail Bakunin begeisterte sich für diesen Gentleman: „Er hat eine große Macht über seine Mitmenschen, alle sehen zu ihm auf und erwarten etwas Besonderes von ihm.“4 Dostoevskij meinte von ihm: „Wo und unter welchen Umständen er auch erscheint, überall bringen ihm selbst die unzugänglichsten Menschen Ehrfurcht und Achtung entgegen.“5 Spešnev sah mit Spott und Verachtung auf die nur diskutierenden Klubmitglieder herab. Ihm ging es – wie Karl Marx – um Aktionen, und er stimmte Marx’ berühmtem Diktum: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“6 uneingeschränkt zu. Im Revolutionsjahr 1848 bildete Spešnev einen kleinen Kreis revolutionärer Aktivisten, den er „Russische Gesellschaft“ (russkoe obščestvo) nannte, und es ist wohl auf Spešnevs Charisma zurückzuführen, dass sich Dostoevskij diesem harten radikalen Kern angeschlossen hat. Wenn vom Zaren keine Reformen zu erwarten sind, muss es eben zur Revolte kommen, soll Dostoevskij damals gesagt haben. In der „Russischen Gesellschaft“ erwog man konspirative Aktionen, besorgte z. B. heimlich eine Druckerpresse – an dieser Maßnahme war Dostoevskij aktiv beteiligt. Die Gruppe war straff organisiert: Ihre Mitglieder sollten blind den Beschlüssen eines Exekutiv-Komitees gehorchen, sich gegenseitig kontrollieren, für den Fall des Verrats drohte den Abtrünnigen die Liquidierung. Um wahrscheinlicher Bespitzelung zu entgehen, gliederten sich die Zirkel immer wieder neu. 54
3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung
Dostoevskij, Pleščeev und Sergej Durov (1814–1869) bildeten einen solchen nach außen musikalischen und künstlerischen Kleinklub, in dem Spešnev ein wahrhaft revolutionäres Feuer entfachte. Unvorsichtigerweise trafen sich die Teilnehmer aller kleinen Zellen regelmäßig bei dem, wie sie glaubten, als Ministerialbeamten unverdächtigen Petraševskij, wo sie ihrer oppositionellen Überzeugung freien Lauf ließen und die allgemeine Diskussion radikalisierten. Am 7. April 1848, dem Todestag Fouriers, proklamierten sie das „Todesurteil“ über den Zaren und über die soziale Ordnung des russischen Imperiums. Das waren natürlich nur Lippenbekenntnisse. Aber das Innenministerium hatte Verdacht geschöpft. Anfang 1849 gelang es, einen Agenten – einen entfernten Verwandten Petraševskijs, Pëtr Antonelli – in den Kreis einzuschleusen, der nun regelmäßig Berichte über den Inhalt der Debatten im Klub lieferte. Ihnen ist zu entnehmen, dass Dostoevskij dort am 15. April 1849 Belinskijs berühmt gewordenen Protestbrief an Gogol’ vom 13. Juli 1847 vorgetragen hat mit außerordentlicher Wirkung: Dostoevskij war ein überzeugender und suggestiver Redner. Dieser offene Brief, den Belinskij zusammen mit Turgenev in Salzbrunn (Schlesien) verfasst hatte, kritisierte vehement Gogol’s letzte Publikation, die Ausgewählten Stellen aus einem Briefwechsel mit Freunden (1847), in denen Gogol’ die bestehenden Verhältnisse in Russland samt ihrer sozialen Missstände gerechtfertigt hatte und von jedem Menschen verlangte, seinen ihm von Gott im Leben zugewiesenen Platz beizubehalten und auszufüllen. Das ließ nicht einmal die Möglichkeit von Änderungen an den bestehenden Verhältnissen zu, geschweige denn einen Wandel des gesamten Systems. Alle dahingehenden Versuche wurden aus ethisch-religiösen Gründen verurteilt. Entsprechend empört war die Reaktion Belinskijs: Dass Sie Ihre Lehre auf die orthodoxe Kirche gründen, kann ich noch verstehen, denn sie war immer Fürsprecherin der Knute und Dienerin der Autokratie. Aber warum haben Sie Christus mit hinein gezogen? Was hat er mit dieser Kirche gemein? […] Russland braucht keine Gottesdienste mehr, davon hat es genug gegeben! Auch keine Gebete, deren hat es genug aufgesagt! Was Russland braucht, ist die Erkenntnis der eigenen Menschenwürde auch im einfachen Volk!7
Solche Aussagen klangen für den jungen Dostoevskij wie sein Credo! Jedem Menschen, gerade dem einfachen ungebildeten Bauern, seine Anerkennung und Würde 55
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zu geben, darauf musste es vor allem ankommen. Die Leibeigenschaft war und blieb mit wahrem Christentum unvereinbar. Die Lektüre und gar Verbreitung von Belinskijs Brief stand unter strenger Strafe. Antonellis Berichte gingen durch das Innenministerium bis zum Zaren, der nun seine Sicherheitspolizei, die sogenannte „III. Abteilung“, einschaltete. Er befahl nach der Lektüre des Agentenberichts dem Chef der „III. Abteilung“, dem Grafen Orlov: Das ist eine ernste Angelegenheit. Und selbst wenn alles erlogen sein sollte, wäre es doch auch strafbar und in höchstem Grade abstoßend und ekelhaft. Veranlasse die Festnahmen, die Dir nötig erscheinen, aber versuche dabei, wegen der erforderlichen großen Anzahl an Polizeikräften jedes Aufsehen zu vermeiden.
Am 23. April 1849, vier Uhr frühmorgens, wurde Dostoevskij geweckt und verhaftet, seine sämtlichen Papiere, Bücher und Schriften wurden konfisziert. Der Generalmajor der Petersburger Polizeidivision, der die Verhaftung vornehmen musste, hatte folgenden Befehl: Auf Allerhöchsten Befehl weise ich Euer Hochwohlgeboren an, morgen um vier Uhr früh den Ingenieurleutnant a. D. und Schriftsteller Fëdor Michailovič Dostoevskij […] zu verhaften, alle seine Papiere und Bücher zu versiegeln und diese zusammen mit Dostoevskij in die „III. Abteilung der eigenen Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät“ zu überstellen. Bei dieser Ausführung haben Sie streng darauf zu achten, dass von den Papieren Dostoevskijs nichts verborgen bleibt. Es kann der Fall eintreten, dass Sie bei Dostoevskij eine so große Menge an Büchern und Papieren vorfinden, dass es nicht möglich sein wird, sie alle unverzüglich in die „III. Abteilung“ zu überstellen. In diesem Fall sind Sie verpflichtet, die Bücher und Papiere je nach Erfordernis in ein oder zwei Zimmern zu verwahren, die Zimmer zu versiegeln, Dostoevskij selbst jedoch unverzüglich der „III. Abteilung“ vorzuführen. […]
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Bei dem Ihnen auferlegten Auftrag sind Sie verpflichtet, strengste Wachsamkeit und Vorsicht unter Ihrer persönlichen Verantwortung walten zu lassen. Der Stabskommandant des Polizeikorps General Dubel’t wird Befehl geben, dass sich ein Offizier der Petersburger Polizei und eine entsprechende Anzahl von Polizisten zu Ihrer Verfügung einfinden. Generaladjutant der III. Abteilung Graf Orlov
Nach der Verhaftung wurde Dostoevskij in der Peter- und Pauls-Festung arretiert. Die Bedingungen dieser Untersuchungshaft waren zunächst hart, später erträglich, er durfte dann dort lesen und schrieb, um sich abzulenken, wie er später bekannte, eine heitere Erzählung: Der kleine Held, die Geschichte der ersten Liebe eines pubertierenden Knaben zu einer koketten Blondine, die während einer Theatervorstellung mit einem Ringkampf zwischen beiden im Parkett beginnt. Aber die Umstände – Dostoevskij hörte das Stöhnen und Schreien bestrafter Häftlinge und erfuhr, dass der ebenfalls verhaftete Petraševskij einen Blutsturz erlitten hatte – bewirkten eine seelische Erschütterung, wovon sein Brief an den Bruder vom 27. August 1849 zeugt, mit der berühmt gewordenen Formulierung, „mir ist, als schwanke der Boden unter mir.“8 Er empfindet seine enge Zelle wie die Kajüte eines Schiffes auf hoher See, aber man wird diese Formulierung auch als ersten Ausdruck der Erschütterung seiner bisherigen Auffassungen und Ziele lesen müssen. Sieben Monate dauerten die Prozessvorbereitungen, mehr als 300 Personen waren betroffen. Die meisten, so auch Dostoevskijs Bruder, wurden als unschuldig eingestuft und nicht weiter verfolgt. Bei den Verhören erwies sich Petraševskij als besonders mutig und unerschrocken. Um ihn rankten sich bald abenteuerliche Gerüchte. Nach einem soll der wutentbrannte Zar höchstpersönlich versucht haben, Petraševskij zu vergiften. Auch Dostoevskij verhielt sich tapfer, leugnete nichts und nahm seine Gesinnungsgenossen in Schutz. Lediglich die Beschuldigung, er und seine Mithäftlinge hätten die gewaltsame sozialistische Revolution geplant, wies er zurück. Sie alle seien Träumer gewesen, fasziniert von Schönheit und Menschenliebe und Fouriers friedlichem System. „Mein ganzer Liberalismus bestand darin, das Beste für mein Vaterland zu wünschen, damit es sich zur Vollkommenheit entwickle“, beteuerte er vor der Untersuchungskommission. Seine Schuld habe darin bestanden, das Opfer falscher Ideen geworden zu sein. Seine Beteiligung an radikalen Aktionen und konspirativen Handlungen wie der Beschaffung der Drucker57
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presse konnte nicht nachgewiesen werden, einige weitere Tatzeugen waren vor der Verhaftung entkommen. Insofern war das Ergebnis der Untersuchungskommission recht mager. Sie konnte weder eine geheime Verschwörung noch eine organisierte Propaganda gegen den Zaren nachweisen und bezeichnete den ganzen Vorgang als eine „Ideenverschwörung“, für die sie kein konkretes Strafmaß vorzuschlagen wusste. Da der Zar nun ein zu mildes Urteil befürchtete, verfügte er – gegen geltendes Recht – dass die Beschuldigten, die fast alle Zivilisten waren, von einem Militärgericht nach militärischem Strafgesetz verurteilt werden sollten. Da diesem zufolge nachgewiesene verbrecherische Absichten genauso hart bestraft werden konnten wie deren Ausführung, erging gegen 15 der 23 Angeklagten das Todesurteil. Sechs wurden zur Verbannung verurteilt, zwei freigelassen – einer der Freigesprochenen hatte während des Verfahrens den Verstand verloren. Am 16. November 1849 erging über Dostoevskij folgendes Urteil: Das Militärgericht befindet den Angeklagten Fëdor Michailovič Dostoevskij für schuldig, die Kopie eines verbrecherischen, im März dieses Jahres von dem Angeklagten Petraševskij erhaltenen Briefes von Belinskij in verschiedenen Versammlungen vorgelesen zu haben […]. Weiter war Dostoevskij während der Verlesung eines aufrührerischen Schriftstückes von Leutnant Grigor’ev zugegen, nämlich der ‚Rede eines Soldaten’! Daher verurteilt das Militärgericht den Ingenieurleutnant Dostoevskij wegen unterlassener Berichterstattung über den verbrecherischen Brief Belinskijs über die Religion und über die Regierung und über Leutnant Grigor’evs bösartige Schrift zum Verlust aller Dienstgrade und bürgerlichen Rechte sowie zum Tode durch Erschießen.
Der Zar änderte zunächst das Urteil, indem er ausnahmslos über alle Angeklagten die Todesstrafe verhängte. Er willigte jedoch mit Rücksicht auf die Jugend der Verurteilten und die rechtzeitige Verhinderung ihrer Pläne in eine Amnestie ein, die der Anklagevertreter vorschlug und die ziemlich weit ging. Was aber zunächst folgte, ist ein makabrer Vorgang, der ein bezeichnendes Licht auf diesen Zaren wirft: Einen Monat nach Verkündung des Todesurteils, das der Zar ja bereits abgeändert hatte, wurden die Angeklagten am 22. Dezember 1849 auf ein auf dem Semënov-Platz in Petersburg errichtetes Schafott geführt. Der Henker zerbrach über den Verurteilten den Degen, nachdem das Todesurteil öffentlich vor 58
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3000 stummen Zeugen verkündet worden war, der Priester reichte den Verurteilten zum letzten Male das Kreuz, sie wurden in ein Totenhemd gekleidet, an Pfähle gekettet, die Augen wurden ihnen verbunden, das Erschießungskommando erhielt den Befehl „Anlegen“.
Abb. 20: Scheinhinrichtung auf dem Semënov-Platz in Sankt Petersburg, 1849 In diesem Augenblick hatte der Adjutant des Zaren zu erscheinen, das Verfahren zu stoppen und die Begnadigung der „gnädigen Majestät“ zu verkünden. Einer der Verurteilten verlor bei diesem Manöver den Verstand. Wir wissen heute, dass der Zar diese grausame Komödie bis ins Detail persönlich ausgearbeitet hatte wie auch, dass er sich nicht davon abbringen ließ, den Begnadigten die Kosten für diese Scheinhinrichtung aufzuerlegen. Auf der anderen Seite war die Begnadigung – gemessen an der sonst üblichen Praxis der Verurteilungen – großzügig: Dostoevskij wurde zu vier Jahren Zwangsarbeit (Katorga) und anschließendem Dienst als gemeiner Soldat in Sibirien verbannt. Dostoevskij berichtet über seine „Hinrichtung“ in einem Brief an den Bruder Michail vom gleichen Tage – und verwendete übrigens dieses Erlebnis 18 Jahre später in seinem Roman Der Idiot für eine „Erzählung eines Bekannten“ des Fürsten Myškin. Im Brief an den Bruder ist zu lesen: Eine dreiviertel Stunde stand ich heute vor dem Tode, lebte mit diesen Gedanken, war schon in meinem letzten Augenblick, und jetzt lebe ich noch einmal, zum zweiten Male. In meiner Seele ist keine Bitterkeit […]. Jetzt, indem ich mein Leben ändere, werde ich umgeboren zu einer neuen Form […].
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Ich blicke zurück auf die Vergangenheit und denke an die verlorene Zeit, die dahin gegangen ist in Irrungen, Verfehlungen, Trägheit, Unkenntnis des Lebens. Warum habe ich den Wert des Lebens nicht besser erkannt? […] Mein Herz blutet. Das Leben ist ein Geschenk, das Leben ist ein Glück […]. Nun gestaltet sich mein Leben neu, es wird neu geboren in neuer Form.9
Diese Wiedergeburt, von der Dostoevskij hier schreibt, ist zunächst einmal eine Bewusstseinsänderung, eine tiefe Lebensbejahung unter allen Umständen: Das Leben ist ein Wert an sich, in jeder Weise und auch in jeder Beschädigung und Erniedrigung, auch in Armut und Gefangenschaft ist das Leben schön und lebenswert. Und wenn der Verstand mit kaltem Kalkül die Vor- und Nachteile von Lebensumständen misst und abwägt und rational zum Beweis der Hoffnungslosigkeit des Lebens in aussichtslosen Umständen gelangen sollte, so ist dies eine falsche, weil lebensverneinende Analyse. Nein, unter allen, ausdrücklich allen Umständen lohnt das Leben, wofür der Mensch tief dankbar sein soll. Dieser Optimismus des Lebens, den Dostoevskij mit emotionalen Erfahrungen und moralischen Gründen zu bekräftigen sucht, wird ihn fortan in seinem Denken und Schreiben begleiten.
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4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus Das weitere Schicksal Dostoevskijs war alles andere als leicht: Nach einem rührenden Abschied vom Bruder Michail und einigen Freunden wird er mit fast fünf Kilogramm schweren Ketten an den Beinen nach Sibirien deportiert. Vier Jahre Katorga verbringt er in Omsk, leidet unter ungewohnter, unmenschlich schwerer körperlicher Arbeit, unter geradezu viehischen Lebensbedingungen, unter der Willkür meist betrunkener Aufseher, besonders aber unter der Rohheit und Brutalität der meist kriminellen Mitgefangenen. In der Enge der Baracke, in Schmutz, Nässe, Gestank und Ungeziefer, stets von Hunger geplagt und von Streit und Prügeleien umgeben oder mit hinein gezogen, von Erkrankungen gequält – so zogen sich diese schrecklichen vier Jahre hin, in denen wohl die schlimmste Qual für Dostoevskij war, nie für sich allein sein zu können, immer in Gesellschaft der verrohten Mitgefangenen, nie ein Buch lesen, geschweige denn schreiben zu können. Unter diesen Umständen kommt es zu ersten epileptischen Anfällen. An dieser Krankheit hat Dostoevskij dann bis an sein Lebensende gelitten. Nach diesen vier entsetzlichen Jahren verbringt Dostoevskij vier weitere als entrechteter Soldat nahe der mongolischen Grenze in Semipalatinsk, das als Semej heute zu Kasachstan gehört.1 Seine Leidenszeit hat Dostoevskij in Briefen an den Bruder geschildert, in denen er über Mitgefangene, in der Mehrzahl Kriminelle, Räuber und Mörder berichtet, die keine Reue zeigen. Besonders erstaunt ihn ihr Hass auf den Adel und die Intellektuellen, was in ihm ein tiefes Erlebnis einer anscheinend unüberbrückbaren Kluft zwischen dem „Volk“ (allerdings Rechtsbrecher!) und der Schicht der Gebildeten, die nichts verbindet, auslöst. Dieses „Volk“ empfindet nur Unverständnis, Misstrauen, Hass und Feindseligkeit gegenüber jenen, die lesen und schreiben können und „Bescheid wissen“! 61
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Abb. 21: Semipalatinsk, historische Illustration
Abb. 22: Das Haus, in dem Dostoevskij in Semipalatinsk wohnte Dostoevskij empfindet eine persönliche Schuld und akzeptiert auch die Richtigkeit seiner Strafe: Nach Verbüßung der vier Katorga-Jahre in Omsk (wo keine intellektuelle oder geistige Arbeit möglich war) kann er in Semipalatinsk wenigstens endlich wieder lesen. Er besorgt sich mit Hilfe von Freunden einige Bücher und beginnt Kant, Hegel und Carus2 zu studieren. Hier macht Dostoevskij nun einen weiteren grundsätzlichen Wandel durch: Unter dem Eindruck der Erlebnisse mit Gefangenen und Verbannten und dieser Lektüre verliert er seine Überzeugung, von der dem Menschen innewohnenden 62
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und von außen steuerbaren natürlichen Güte und Vernünftigkeit. Stattdessen konzentriert sich seine Suche nach Orientierung darauf, dass im Menschen Gut und Böse gleichermaßen vorhanden sind; wenn Umstände und Störungen es bedingen, triumphiert häufig das Böse als nackter brutaler Selbsterhaltungstrieb. Daneben beobachtet Dostoevskij aber auch eine staunenswerte Kraft und innere Sicherheit und moralische Festigkeit, eine Fähigkeit zu spontanem Mitleiden und zu Zuversicht im einfachen russischen Volk, in der einfachen Bevölkerung, mit der er nun in Berührung kommt. Seine Umgebung bilden also nicht mehr nur Strafgefangene. Er staunt über die Fähigkeit der Russen, Not, Elend und Leiden ertragen und aushalten zu können. Er nennt diese Eigenschaft – Langmut und Leidensfähigkeit (dolgoterpenie und mnogostradal’nost’). Viele konkret erlebte Beispiele und das Nachsinnen darüber haben Dostoevskij ein großes und fruchtbares Stoff- und Motivreservoir geliefert, das er in seinem späteren Werk ausgewertet hat. Aber es war nicht nur der hier angedeutete Erfahrungsgewinn und intellektuelle Änderungsprozess; Dostoevskij erlebt auch eine tiefgehende existentielle Wandlung, eine Modifikation und Erneuerung seiner religiösen Anschauungen, in denen er auch auf manch Verschüttetes aus seiner Jugend vor der Zeit mit Belinskij und im Petrašewskij- und Spešnev-Kreis zurückgreifen konnte. Zwar nennt er sich noch einen Zweifler und Ungläubigen, aber er beginnt, sich intensiv mit dem Neuen Testament und der Gestalt Christi zu beschäftigen. Auf dem Weg in die Verbannung hatte ihm die Gattin eines ehemaligen Dekabristen, Frau Fonvizina ein Neues Testament mit ein paar Rubelscheinen darin geschenkt – von diesem Buch hat er sich sein Leben lang nicht wieder getrennt. Dostoevskij begreift die Gestalt Christi in ferner Anlehnung an David Friedrich Strauß als die Verwirklichung der absoluten menschlichen lebendigen Vollkommenheit, Schönheit und moralischen Reinheit, er sieht in dem lebendigen Menschen Christus die Vermenschlichung, die Inkarnation des Göttlichen; der vollendete Mensch Jesus Christus ist in seiner Realität der Beweis der Existenz Gottes. Er ist Wirklichkeit gewordenes Ideal, menschliche Totalität in allen Eigenschaften und Potenzen des Menschen. Als Ansporn und Ziel menschlicher Existenz ist er auch die vorgelebte Überwindung von Leiden, Elend und Erniedrigung. Christus mit seinem musterhaften Leben kann weder menschliche Erfahrung hervorgebracht noch menschliche Vorstellung in solcher Vollkommenheit entworfen haben! Eine solche Idealgestalt menschlichen Wesens ist übermenschlich und überhistorisch. 63
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Diese Idee des vollkommenen Menschen Christus – sei sie auch bloße Fantasie oder Fiktion – ist etwas, was menschlichem Denken gar nicht entsprungen sein kann, sie ist größer und schöner als jeder vorbildliche Mensch und seine Idealisierung. Es gibt nichts Schöneres, Tieferes, nichts Mitfühlenderes, Besonneneres und Vollkommeneres als Christus. Wenn mir jemand bewiese, dass Christus außerhalb der Wahrheit ist, und wenn es wirklich so wäre, dass die Wahrheit außerhalb von Christus ist, so wollte ich lieber mit Christus bleiben als mit der Wahrheit.3
Diese Aussage, die in einer merkwürdigen Korrelation zu Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) bekanntem, aber anders angelegten Diktum steht, dass er nämlich lieber ständig auf der Suche nach Wahrheit sein wolle als in ihrem Besitz4 – steht in einem Brief an Natal’ja Fonvizina vom März 1854. Dostoevskijs Christusbild ist der Ausdruck einer gewandelten Grundeinstellung zum Leben, es ist ein suchendes und auch verlangendes Bemühen, mit einem sehr konkreten, diesseitigen, auf das wirkliche Leben gerichteten Zug, eine stark ins sittlich Ästhetische und Humane gewendete Christologie.5 Aus der Sibirien-Erfahrung folgt die Absage an sozialistische Weltverbesserungsideen, denn nach Dostoevskij muss sich der Mensch selber klar werden und sich läutern, nur so schafft er in sich als Individuum die Voraussetzung, in einer beständigen Orientierung am Ideal des Gottmenschen Christus als seiner Entelechie, d. h. seiner ihm innewohnenden Zielsetzung, sich zum wirklichen wahren Menschen zu entwerfen bzw. dahin zu streben. Gilt das für alle Menschen, verhalten sich alle Menschen dementsprechend, bedarf es keiner Veränderungen oder planender Entwürfe einer idealen gerechten Gesellschaft, denn politische, soziale und humane Probleme lösen sich unter den an Christus orientierten Menschen von selbst oder werden gar nicht erst entstehen. Die Bedingungen für eine wirklich humane Gesellschaft sind nicht ökonomische, sozialpolitische oder verfassungsrechtliche Regelungen und Grundrechte, sondern die Haltung und Einstellung jedes Einzelnen als Individuum und zugleich als zoon politikon. Freilich weiß Dostoevskij, dass diese Erkenntnis nur das Prinzip wirklicher Humanität abgibt. Sie ist in jedem Einzelnen unterschiedlich vorhanden und wirksam, und auch Verweigerung und Ablehnung sind möglich und real: Das Leben ist mehr als geradlinige Einsicht und Ausrichtung am Ideal Christi, das Leben ist der be64
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
ständige, durch kein Gesellschaftssystem zu überwindende Kampf der Mächte des Guten und des Bösen. In der Sibirien-Erfahrung verlieren also sozialistische Ideale ihre Geltung für Dostoevskij, weil er die Überzeugung gewonnen hat, dass soziale Verhältnisse auf das Innerste des Menschen keinen entscheidenden Einfluss auszuüben vermögen. Was sind dann die tragenden und treibenden Kräfte des Lebens des Einzelnen, der Völker, der Menschheit? Wenn nicht die Theorien des Verstandes, die in Werten wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Glück im Leben, kalkulierbarer Nutzen und materieller Reichtum ausgedrückt werden, also rational machbare Stimuli und Lebensziele? Sind es vielleicht andere Kräfte: ethische Ideale, die Religion Christi und damit verbunden metaphysisch bezogenes Verantwortungsgefühl, oder sind es Kräfte des Unterbewusstseins? Wir finden keine eindeutige Antwort: Das Leben wird erweitert zum ständigen Ringen der Mächte des Guten und Bösen, und dieser Kampf ist durch kein ideologisch sinngebendes Konzept steuerbar. Dostoevskij sagt „Das Leben ist mehr als der Sinn des Lebens“ (u. a. in Die Brüder Karamazov); im Epilog II zu Schuld und Sühne („Verbrechen und Strafe“; Prestuplenie i nakazanie) liest man mit Bezug auf das damals weit verbreitete Hegelsche Denken: „An die Stelle der Dialektik ist das Leben getreten.“ Im März 1854 erfolgte Dostoevskijs Entlassung aus der Katorga in Omsk, als einfacher Soldat diente er in der russischen Armee in Semipalatinsk. Er war jetzt 32 Jahre alt, lebte zunächst allein, bis er mit dem dortigen Bezirksstaatsanwalt Baron Aleksandr Vrangel’ (1833–1915), der literarisch und philosophisch interessiert war, bekannt wurde. Nach dem Tod des Zaren Nikolaus I. (1796–1855) fand unter seinem Bruder und Nachfolger Alexander II. (1818–1881) eine gewisse Liberalisierung im öffentlichen Leben statt. Durch Vrangel’s Vermittlung wurde Dostoevskij 1855 rehabilitiert und sogar befördert. So kann er am „gesellschaftlichen“ Leben der sibirischen Kleinstadt teilnehmen und lernt seine erste Frau Mar’ja Dmitrievna Isaeva (1824–1864) kennen, die er im Februar 1857 heiratet. Die Ehe war sehr unglücklich. Dostoevskijs Frau war krank und dadurch dauernd gereizt. Sie starb im April 1864. 1859 durfte Dostoevskij den Militärdienst verlassen und ins europäische Russland, zunächst in die Provinz nach Tver’, zurückkehren. Ende des Jahres, genau zehn Jahre nach dem Petraševskij-Prozess, durfte er sich auch wieder in Sankt Petersburg niederlassen, wurde allerdings vom Geheimdienst des Zaren („III. Abteilung“) überwacht. 65
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
Abb. 23: Mar’ja Dmitrievna Isaeva, um 1860 Er nahm sofort seine literarische Tätigkeit wieder auf und publizierte die heitere Erzählung Der kleine Held (Malen’ki geroj), die er 1849 in der Peter- und PaulsFestung geschrieben hatte, sowie zwei komische Erzählungen Onkelchens Traum (Djadjuškin son) – das Sujet war ursprünglich als Komödie gedacht – und Das Dorf Stepančikovo und seine Bewohner (Selo Stepančikovo i ego obitateli), die einzige Arbeit Dostoevskijs, die das Landleben zum Gegenstand hat. Beide Werke sind Gogol’s komisch-grotesker Tradition verpflichtet und verspotten das Leben in der russischen Provinz. In der Erzählung Onkelchens Traum (1860) unterbricht der selbstlose ältere Fürst K. in der Stadt Mordasov seine Reise auf sein Anwesen, wo er durch ein raffiniertes Manöver dazu gebracht wird, der Tochter seiner Wirtin die Heirat zu versprechen. Als er sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst wird, stirbt er; Mutter und Tochter Zina, die dieses Manöver geplant und realisiert haben, verlieren ihren guten Ruf. Das Ganze wird am Schluss als ein verhängnisvoller Traum verharmlost. Das Dorf Stepančikovo und seine Bewohner ist der einzige Roman Dostoevskijs, der im Gutsbesitzermilieu spielt. Der Witwer Rostanev wird mit seinem zahlreichen Gesinde von einem Kostgänger seiner Mutter und gescheiterten Literaten namens Opiskin, einem schamlosen Hochstapler und Besserwisser schikaniert und ausgenutzt. Im Ablauf der Fabel dieses Romans hat sich Dostoevskij an Jean-Bap-
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tiste Molières (1622–1673) Tartuffe orientiert, der hier also ins russische Landleben versetzt worden ist. Diese Publikationen fanden allerdings wenig Resonanz, die Ideen und Überzeugungen, die in Dostoevskij während der Verbannung herangereift waren und aus seinen Briefen und Selbstzeugnissen bekannt sind, finden darin noch keinen Ausdruck. Dostoevskij befand sich immer noch im Stadium des Suchens und Reifens, noch waren seine neuen Überzeugungen nicht so fest und sicher geworden, dass sie sich zur literarischen Gestaltung geklärt hätten. Außerdem musste er als politisch Verurteilter vorsichtig sein und Rücksicht auf die misstrauische Zensur nehmen (sie wurde erst 1861 gelockert), und schließlich musste er auch Vorsicht gegenüber seinem ehemaligen Publikationsorgan Der Zeitgenosse (Sovremennik) walten lassen, der inzwischen eine radikale bis linkssozialistisch orientierte Position eingenommen hatte, wie sie insbesondere Nikolaj Černyševskij und Nikolaj Dobroljubov, aber auch Nikolaj Nekrasov, Michail Saltykov, Ivan Turgenev und andere vertraten. Sie hätten Dostoevskijs neue religiöse Anschauungen gewiss nicht akzeptiert und ihm als Verrat und Gesinnungswandel auslegen können und ihn damit in der literarischen Öffentlichkeit diskreditiert. Reflexe seiner Verbannung geben erst die Aufzeichnungen aus einem Toten Haus (Zapiski iz mërtvogo doma) (1960–1862).6 Sie sind als Gattung schwer einzuordnen, man könnte von einer dokumentarischen Romanreportage sprechen. Jedenfalls haben sie eine neue literarische Gattung eröffnet, die sogenannte „Lager-Literatur“.7 Es handelt sich um die Aufzeichnungen eines nach Sibirien Verbannten, Aleksandr Gorjančikov: Der Erzähler ist nicht aus politischen Gründen, sondern wegen eines Mordes aus Eifersucht zur Verbannung verurteilt worden, so dass kein Grund besteht, über Weltanschauung und Politik, über einen Wandel der Überzeugungen und Glaubensvorstellungen oder über gesellschaftspolitische Themen zu räsonieren. Dafür finden sich aber rückhaltlose Schilderungen der Zustände in der Strafkolonie im Wandel der Jahreszeiten; die Unterbringung in Massenlagern, der Tagesablauf der Strafarbeit und auch isolierte Szenen wie z. B. die kettenklirrende Sträflingsmenge ein Schwitzbad nehmen muss. Der Erzähler beklagt, niemals auch nur einen Augenblick allein sein zu können, eine andere Szene beschreibt eine Weihnachtsfeier: wie Gefangene in Ketten Volkslieder singen und eine Theateraufführung gestalten, wobei sich eine erhebende Einwirkung der Kunst auf die Gefangenen zeigt, sodass selbst hartgesottene Übeltäter und verworfene Kreaturen während der Vorführung Menschlichkeit und Rührung, Mitleiden erkennen lassen. 67
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Dabei zeigen sich auch Talente und Begabungen bei den Sträflingen, die an dieser Aufführung mitwirken, eine der Erfahrungen von der schlummernden Kraft und Größe im russischen Volk, wie sie Dostoevskij dann später häufig beschrieben hat. Auf der anderen Seite wird aber auch die Not geschildert, niemals auch nur einen Augenblick zur Ruhe zu kommen, es ist vom Hass der Häftlinge, besonders der Kriminellen auf Adlige die Rede, und offen oder versteckt wird letztlich das unüberwindliche Sehnen des Menschen nach Freiheit deutlich. Neben der Schilderung der sozialen Schichtungen und sozialen Mechanismen der Strafgefangenen ist die Psychologie des Verbrechers und des Verbrechens und der Bestrafung, die der Ich-Erzähler Gorjančikov anstellt, von Bedeutung: Die Frage nach Schuld und Sühne und vom Sinn der Strafe wird so beantwortet, dass der Verbrecher als starke, talentierte Natur erscheint, dem es verwehrt war, sich entfalten zu können, sodass seine Kraft auf Abwege gerät und gegen ihre Fesselungen zur Tat drängt. Wo ein Betätigungsfeld für Charakterstärke und Tatkraft fehlt, kann diese zum Zerstörungstrieb, zur vernichtenden Kraft der Negation werden. Es wäre falsch, Hemmnisse für die freie Betätigung der starken Typen bloß sozial oder rechtlich zu verstehen, auch private, natürliche, individuelle, intellektuelle, moralische und religiöse Schranken sind gemeint.
Abb. 24: Friedrich Nietzsche, Porträtaufnahme, 1882 Diese Gedanken haben auf Friedrich Nietzsche einen starken Einfluss ausgeübt. In seiner Götzendämmerung nennt er unter Berufung auf Dostoevskij den Verbrechertypus den Starken unter ungünstigen Bedingungen, einen krank gemachten starken Menschen: 68
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
Für dieses Problem ist das Zeugnis Dostoevskijs von Belang. Dieser tiefe Mensch, der zehn Mal recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter Schwerverbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete – ungefähr aus dem besten, härtesten und wertvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst. 8
Und in Nietzsches Willen zur Macht steht: Nicht mit Unrecht hat Dostoevskij von den Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten den stärksten und wertvollsten Bestandteil des russischen Volkes.9
Die Aufzeichnungen aus einem Toten Haus sind unzweifelhaft ein autobiographisches Werk, in dem das Dokumentarische stark hervortritt, vielfach sind z. B. die Namen der dargestellten Figuren mit denen von Dostoevskijs Mithäftlingen identisch. Der Erzähler Aleksandr Gorjančikov, der wegen Gattenmordes verurteilt worden ist, ohne dass dieses Verbrechen weiter diskutiert wird, es fungiert nur als Grund seiner Bestrafung, ist jedoch eine fiktive Gestalt und macht insoweit klar, dass der Text als ein fiktionales Werk zu verstehen ist. Ein Vergleich der Omsker Gefängnisakten mit den von Dostoevskij geschilderten Fällen hat ergeben, dass Dostoevskij oft von den Tatsachen abgewichen ist. Die Darbietung ist an der Erinnerung Gorjančikovs orientiert und beginnt mit seiner Einlieferung in den Ostrog, das Sträflingslager und mit der allmählichen Gewöhnung an die nun extremen Lebensbedingungen. Das sind sowohl die harten Umstände der körperlichen Strafarbeit und des Überlebens bzw. des Durchhaltens wie vor allem eben auch die Erfahrung der Unfreiheit, des aufgezwungenen Existierens in einer Masse von Menschen – ihre heterogene Zusammensetzung verbietet von Gemeinschaft zu sprechen! – in der sich der einzelne Gefangene nie auf seine Individualität zurückziehen kann. Selbst in der Nacht kontrollieren Aufseher die Lage der Schlafenden, die z. B. alle auf der linken Seite auf den gemeinsamen Pritschen zu liegen hatten. Diese Ausnahmesituation wird in einem Gewöhnungsprozess zum Alltag: Man konnte sich, schreibt Dostoevskij, mit dieser Situation nicht abfinden, aber man musste sie als vollendete Tatsache hinnehmen. Daraus 69
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entsteht eine andere Sicht auf Details und Selbstverständlichkeiten des Lebens, die für den Gefangenen aus seiner Zwangslage eine neue Bedeutung erlangen. Die Schilderung von Strafmaßnahmen und ihrer rituellen Abwicklung (körperliche Züchtigungen, Spießrutenlaufen u. a.) erfolgt merklich unterkühlt, was die Frage nach ihrer Berechtigung aufwirft. Im Kontrast dazu wird emotional und sensibel die Fürsorge und das Mitempfinden des Erzählers für die Opfer beschrieben. Wie die Unterschiede der einzelnen, auch die zwischen Kriminellen und politischen Gefangenen, in der Masse verloren gingen, mag das Beispiel der Schilderung eines gemeinsamen Bades der Häftlinge veranschaulichen, das als eine Art Inferno erscheint, wo der sonst geldgierig, verschlagen, naiv und unverschämt zugleich geschilderte Jude Isaj Fomič Bumštejn als „Krönung des ganzen Bildes“ auf dem obersten Schwitzbrett thront und aus vollem Halse lacht. Selbst die Höllenglut ist ihm nicht heiß genug. Turgenev, gewiss kein enthusiastischer Verehrer Dostoevskijs, schrieb ihm über diese Szene, dass sie wie aus Dantes Inferno wirke.10 Im Toten Haus finden sich die verschiedensten Menschen aus dem ganzen riesigen russischen Imperium: Russen, Polen, Juden, Tataren, Deutsche, Zigeuner, Bauern, Adlige, Sektierer und Verbrecher jeder Art. Der Erzähler unterteilt sie in Geschwätzige und Schweigsame, letztere interessieren ihn am meisten, und er teilt auch sie wieder ein in Gute, Böse und Verzweifelte. Einer der Guten ist Alej, ein Muselmane, den der Erzähler am Text seines eingeschmuggelten Neuen Testaments Russisch lesen und schreiben lehrt. Er freut sich über seine Fortschritte, besonders wenn Alej auch vom Inhalt beeindruckt ist und versichert, er erkenne in „Isa“ – also Jesus – einen heiligen Propheten, der verkündet, Du sollst vergeben, Du sollst lieben, Du sollst niemanden kränken und auch Deine Feinde achten. Wenn ein Andersgläubiger in der Hölle des Straflagers zu solcher Ergriffenheit von der christlichen Ethik, von der Nächstenliebe gelangen kann, dann muss im Evangelium und besonders in der Person Jesu eine ganz besondere Kraft und Schönheit wirken, überlegt der Erzähler. Spannend und zwiespältig zeigen sich die Bösen und Finsteren sowie die Verzweifelten, etwa der Tatare Gasin, eine „gewaltige Riesenspinne von Menschengröße“ (Teil 1, Kap. 3), der Lustmorde an Kindern begangen hatte und den Erzähler und seinen Mithäftling Durov erschlagen will. Oder der unmoralische Spitzel Aristov, den der Erzähler einen „mit Zähnen und Magen versehenen Fleischklumpen“ nennt und „erfüllt von einer unstillbaren Gier nach den niedrigsten viehischen Genüssen“ (Teil 1, Kap. 5). 70
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Ein Mensch voller vitaler Energie, aber ohne jegliches Gewissen ist Petrov, der dem Erzähler gleich am ersten Tage das heimlich mitgebrachte Neue Testament gestohlen hat. Am Abend gab er seinen Diebstahl hohnlachend ohne die mindeste Reue zu. Angesichts der triebhaften und auf brutalen Egoismus reduzierten Verhaltensweisen solcher Gefangener verliert der Erzähler allmählich seinen früheren Glauben an die grundsätzlich gute Natur des Menschen. Das Böse ist also nicht nur ein moralisches Defizit, das von ungünstigen und menschenunwürdigen gesellschaftlichen Umständen entbunden und gefördert wird, sondern eine dem Menschen innewohnende eigene geistige Qualität. Eine der Gestalten, die Nietzsche beeindruckten, ist der Bandit und Deserteur Orlov, von dem der Erzähler sagt, er sei ein Übeltäter, wie man sie nur selten findet. Bei einem Spießrutenlaufen bewusstlos geschlagen wurde er ins Lazarett gebracht, war aber am nächsten Tag schon wieder bei Kräften. „Man sah sofort, dass dieser Mensch sich absolut in der Gewalt hatte. Er verachtete Strafen und Qualen und fürchtete sich vor nichts und niemandem. Nichts war an ihm zu erkennen außer grenzenloser Energie, Tatendrang und Rachedurst und dem unbedingten Willen, das angestrebte Ziel um alles in der Welt zu erreichen“, charakterisiert ihn der Erzähler, für ihn verkörpert Orlov „den absoluten Sieg über alle körperlichen Empfindungen, Triebe und Begierden.“ (Teil 1, Kap. 4) „Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass ich nie bisher einem Menschen von solch eiserner Willenskraft begegnet bin“, fügt Gorjančikov hinzu. Eine ganze Woche lang versucht er, mit ihm ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was in seinem Inneren vorgeht, seinen Charakter zu erfassen und ihn nach seinen Erlebnissen und Erfahrungen zu befragen. Bei solchen Fragen verdüsterte sich sein Gesicht, auch wenn er mir immer offen Rede und Antwort stand. Als er jedoch merkte, dass ich an sein Gewissen appellieren und wenigstens eine Spur Reue in ihm wachrufen wollte, warf er mir einen solch unbeschreiblich hochmütigen und verachtungsvollen Blick zu, als hätte ich mich vor seinen Augen unversehens in einen kläglichen kleinen Jungen verwandelt, mit dem man gar nicht wie mit einem Erwachsenen reden kann, sogar so etwas wie mitleidige Herablassung spiegelte sich in seinen Zügen. Eigentlich konnte er gar nicht anders als auf mich herabsehen, als auf eine schwache, jämmerliche, unterwürfige Kreatur, die auch nicht im Entferntesten an ihn heranreichen kann. (Teil 1, Kap. 4)
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Das ist eine Psychologie, wie sie die Literatur bisher noch nicht gekannt hatte und wie sie deshalb Nietzsche wohl zu recht imponiert hat, denn der starke Verbrecher wird ja nicht dämonisiert, sondern als ein Mensch dargestellt, der sozusagen außerhalb moralischer Kategorien und religiöser Bindung lebt und seine Souveränität, Überlegenheit und Willensstärke aus einer anderen, nicht zu erkennenden Quelle bezieht. Die indifferente rätselhafte Größe der Gesetzesbrecher und Illegalen, die Dostoevskij auf zwiespältige Weise anzieht und ihm Erfahrungsmaterial für spätere Ausnahmegestalten in seinen Romanen liefert, ist ein Ertrag seines existentiellen Sibirien-Erlebnisses. Ihm steht ein weiterer Ertrag unvermittelt gegenüber, wie er gleichermaßen in die Aufzeichnungen aus einem Toten Haus eingegangen ist, aber auch für den verbannten Sträfling Dostoevskij selber gilt. Indem Dostoevskij das Leiden auf sich nahm zu sühnen, was er jetzt als Sünden seiner Jugend betrachtete, nämlich seine Ansichten und Aktivitäten im Petraševskij-Kreis, erlebte er zusammen mit seinen Mitgefangenen eine läuternde Kraft, eine Persönlichkeitsänderung oder besser Persönlichkeitsvertiefung im Leiden, und er übertrug diese kathartische Erfahrung der Läuterung und Wiedergeburt durch das Leiden als eine besondere moralische Qualität auf das ganze russische Volk. Während andere im aufgezwungenen Zusammenleben mit Mördern und Verbrechern wohl eine menschenverachtende Einstellung angenommen hätten, wuchs Dostoevskijs Menschenliebe zum einfachen russischen Volk: „Welch wunderbares Volk“, schrieb er. Meine Zeit habe ich überhaupt nicht unnütz verbracht. Lernte ich auch nicht ganz Russland kennen, so habe ich doch das russische Volk kennengelernt, und zwar so gut wie kaum ein anderer. Wie viel Kraft und Talent gehen bei uns in Russland in Knechtschaft und Not oft ungenutzt zugrunde! (Brief an seinen Bruder Michail, Februar 1854)
Mit Freude entdeckte er unter seinen Mitgefangenen Neigungen für Musik und Theaterspiel, vor allem beeindruckte ihn dabei die Wahrnehmung einer verblüffenden, unreflektierten Frömmigkeit und Demut sehr vieler Mithäftlinge in ihrem Elend. Das Gefühl, von der Obrigkeit und in der offiziellen Öffentlichkeit geächtet zu sein, bewirkte, dass sich viele Sträflinge um so fester an Gott klammerten. So beschreibt der Erzähler einen Ostergottesdienst: 72
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
Die Gefangenen beteten sehr andächtig, und alle spendeten […] ihr armseliges Scherflein für eine Kerze oder gaben etwas in die Kollekte. Immerhin bin ich auch ein Mensch, werden sie dabei gedacht oder empfunden haben, vor Gott sind wir alle gleich […]. Wir empfingen das heilige Abendmahl nach der Frühmesse. Als der Pope mit dem Kelch in den Händen die Worte sprach „Herr, sei mir armem Sünder gnädig“, warfen sich fast alle mit klirrenden Ketten auf den Boden, denn sie bezogen diese Worte buchstäblich auf sich selbst. (2. Teil, Kap. 5)
Wenn also Menschen unter den grässlichen Bedingungen des Toten Hauses sich solch eine Frömmigkeit bewahrt haben, wie stark musste dann dieser Glaube erst außerhalb des verbannten Lagers unter der ganzen russischen Bevölkerung im russischen Volk sein, das ja die Häftlinge und Verurteilten traditionsgemäß nicht als Kriminelle, sondern als „Unglückliche“ verstand, die es in seiner Gemeinschaft behielt. Man wird jedoch anfügen müssen, dass diese Idealisierung des russischen Volkes recht unkritisch und allgemein gehalten ist. Während die Einzelfälle, die Charakteristiken und Schicksale einzelner Häftlinge im ersten Teil des Werkes detailliert und kritisch dargestellt werden – der erste Teil ist vor allem dem Thema des Verbrechens und der Verbrecher gewidmet – steht der zweite Teil unter dem Thema „Strafe und Sühne“, er beginnt mit einer Schilderung der unmenschlichen Realität im Zuchthauslazarett und geht auf Fragen der Bestrafung und des Strafvollzugs, der sozialen Kluft zwischen adeligen und nichtadeligen Gefangenen und schließlich auf das Problem der Freiheit ein. Es wird im sechsten Kapitel „Tiere im Zuchthaus“ symbolisch im Bilde eines verletzten Adlers angesprochen, der mit gebrochenen Flügeln in die Freiheit humpelt, also für immer von der Haft geprägt ist, da er nicht mehr fliegen kann. Hat also das Zuchthaus die Freiheit zerbrochen? Im neunten Kapitel – vor der Entlassung des Erzählers – wird eine misslungene Flucht in die Freiheit geschildert. Das zentrale Thema der Freiheit wird auf zwei Ebenen verhandelt, einer psychologischen und sozialen und einer philosophischen. Das meint im ersten Fall die Verknüpfung von Geld und Macht. Dostoevskij schreibt, dass man wie im normalen Leben, so auch in der Katorga für Geld alles haben kann. Deshalb bedeutet Geld eben eine „wirkliche Macht“, und der Sträfling ist „geradezu krampfhaft bis zur Trübung seines Verstandes hinter dem Gelde her“. Denn der Besitz von Geld erlaubt selbst in der Gefangenschaft seinen Willen noch einigermaßen aufrechterhalten 73
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
und durchsetzen zu können. Ohne die Möglichkeit, Geld zu erwerben, wären die Gefangenen entweder wahnsinnig geworden oder wie „Fliegen eingegangen“. Dostoevskij hat für diesen Vorgang eine Formel gefunden: „Geld ist geprägte Freiheit“. Der andere, philosophische Aspekt ergibt sich aus der Abgeschlossenheit und Eingrenzung der menschlichen Existenz in der Gefangenschaft. Sie wird zum Symbol menschlichen Lebens in der Welt überhaupt. Schon in den frühen Werken Dostoevskijs fällt die eingeschränkte Lebenswelt seiner Helden, etwa die Winkelexistenz eines Devuškin in den Armen Leuten auf. Die physische Einengung, ja Einschließung, schafft paradoxerweise die Voraussetzung für die geistige Befreiung des Menschen. In der Gefangenschaft erkennt er den Sinn seines Lebens, der darin liegt, Grenzen zu überschreiten. Erst in der Erkenntnis dieser Bestimmung kann er Freiheit gewinnen. Der Mensch, der das Schicksal der Haft erleidet, wird aus dem Leben herausgerissen und dadurch aus der Einbindung in die materielle und soziale Welt herausgelöst und in der Isolation auf sein innerstes Wesen gelenkt. Nach christlicher Anschauung ist es die Aufgabe des Menschen, die Begrenztheit der irdischen Existenz zu überschreiten. Hinsichtlich der formalen Gestaltung hat sich Dostoevskij mit seinen Aufzeichnungen aus einem Toten Haus einmal an der Memoirenliteratur, zum anderen aber auch an der populären Skizzenliteratur der 1850er Jahre – Ivan Turgenevs Aufzeichnungen eines Jägers, Ivan Aksakovs (1823–1886) und Michail Saltikov-Šžedrins (1826–1889) Skizzen –, an Alexandr Herzens (1812–1870) Memoiren Erlebtes und Erdachtes (Byloe i dumy) und Lev Tolstojs Sebastopoler Erzählungen orientiert. Viktor Šklovskij (1893–1984) meint, die Figur eines sekundären vorgeschobenen Erzählers namens Akim Akimyč, der im ersten Teil Gorjančikov in das Lagerleben einführt, mit den Insassen bekannt macht und ihn begleitet, dürfte den Erzähler-Fiktionen in Aleksandr Puškins Belkin-Erzählungen und Michail Lermontovs (1814–1841) Helden unserer Tage nachgebildet sein. Rudolf Neuhäuser definiert die Gattung folgendermaßen: „Es handelt sich um ein Genre, in dem autobiographisches Material und literarischer Anspruch mit einer von der physiologischen Skizze herkommenden Form verschmelzen“.11 Der Erfolg der Aufzeichnungen aus einem Toten Haus war geradezu sensationell, waren sie doch der erste Bericht in der russischen Literatur über die Verbannung und die Straflager in Sibirien, worüber bisher nur andeutungsweise und in Form von Gerüchten informiert wurde, und die Tatsache, dass der Autor selbst erst unlängst aus Sibirien zurückgekehrt war, verlieh seinem Werk Authentizität. Auch 74
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
seine Schriftstellerkollegen wie Ivan Turgenev, Lev Tolstoj, Aleksandr Herzen oder Nikolaj Nekrasov bekundeten ihre große Anerkennung, so dass Dostoevskij mit Recht an seinen Freund, den Baron Aleksandr Vrangel’ schreiben konnte: „Mein ‚Totes Haus‘ hat buchstäblich Furore gemacht, und ich habe damit meinen literarischen Ruf wiederhergestellt“ (Brief vom 31. März 1847).
Abb. 25: Anschmieden von Fußketten in der Strafkolonie Sachalin, Fotografie aus der Kollektion Anton Čechovs Die folgende Verbannten- und Häftlingsliteratur geht auf die hier von Dostoevskij begründete Gattung zurück. Dabei wird in der Literaturwissenschaft darauf aufmerksam gemacht, dass die von Dostoevskij geschilderten Grausamkeiten und Rechtlosigkeiten von der Brutalität der Lagerhaft im 20. Jahrhundert noch weit übertroffen wurden. Auch wenn ihm Ketten an die Beine geschlossen waren, durfte der politische Gefangene Dostoevskij die Dienste eines eigenen Kochs, der ihm besseres Essen zubereitete, und eines Dieners, der seine Wäsche wusch, und des Stubenältesten Akim Akimyč, der seine Kleider flickte, in Anspruch nehmen! Die Häftlinge hatten die Möglichkeit, sich Alkohol zu beschaffen, Geld zu verdienen, Trinkgelage abzuhalten, mit käuflichen Damen zu verkehren und die Aufseher zu bestechen. 1855 war noch während des Fiaskos des Krimkrieges (1853–1856) Zar Nikolaus I. gestorben. Sein Sohn und Nachfolger Alexander II. beendete den Krimkrieg, hob 1861 die Leibeigenschaft auf und unternahm eine längst überfällige Reform des alten, korrupten Justiz- und Verwaltungsapparats. 1863 schaffte er Auspeitschung, Brandmal, und in der Armee Spießrutenlaufen als Strafen ab. Die Bedeutung dieses 75
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
Wandels wurde von der russischen Öffentlichkeit als epochemachende Perestrojka erkannt, aber die sozialen und politischen Probleme wurden mit den Reformen nicht gelöst, sondern eher noch verschärft, weil z. B. die ehemals leibeigenen Bauern, die keine Ahnung von Geld und Zinswesen hatten, sich mit meist geborgtem Geld freikaufen und als verschuldete Freie sich entweder bei ihren früheren Herren wieder verdingen oder durch Landarbeit auf kollektiv der Dorfgemeinde (obščina) gehörendem Lande sich und ihre Familien zu unterhalten gezwungen waren. Die Ertragsanteile reichten dazu nicht aus, die ehemalige Herrschaft war zu keiner Unterstützung mehr verpflichtet, die Bauern sahen sich in eine hoffnungslose Lage gebracht und rebellierten. Überall im Lande kam es zu Bauernunruhen. Die radikale Intelligencija, der die Reformen nicht weit genug gingen, und die eine Verfassung und darüber hinaus gar eine Republik anstrebte, nutzte diese Lage zu Agitation unter den verunsicherten Bauern, was zwar meist erfolglos war, aber zum Entfachen einer hitzigen publizistischen Diskussion über die Zukunft Russlands unter den Intellektuellen und Gebildeten führte. Da die Zensur im Rahmen der Reformen stark eingeschränkt worden war, konnte sich dieser radikale Diskurs auch relativ schnell über das ganze Land ausbreiten. Da die Radikalen einen Reformstau zu erkennen glaubten, meinten viele von ihnen, mit Blick auf die revolutionären und ökonomischen Wandlungsprozesse seit 1848 in Westeuropa und Nordamerika eine Demokratie bzw. Republik in Russland durch gewaltsame Aktionen herbeiführen zu müssen. Es waren das nicht allzu zahlreiche, aber entschlossene Kleingruppen, die durch Anschläge auf die staatliche Ordnung, durch Terrorakte und Attentate auf führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eine allgemeine Verunsicherung und Zweifel an der Autorität und inneren Sicherheit des autokratischen Zarenstaates hervorrufen wollten. Zum Verständnis von Dostoevskijs politisch-gesellschaftlichen Engagements in den folgenden gut zwanzig Jahren bis zu seinem Tode ist es nicht unwichtig, sich klar zu machen, dass diese Zeit von ständigen Gewaltakten charakterisiert wird: 1861 wurde in Sankt Petersburg die erste Untergrundorganisation „Land und Freiheit“ (Zemlja i Volja) gegründet, 1862 wurden in der Hauptstadt zahlreiche größere Brände gelegt, 1863 brach der polnische Aufstand aus, 1866 verübte Dmitrij Karakozov (1840–1866) von der Terroristengruppe „Die Hölle“ (Ad) ein erstes missglücktes Attentat auf den Zaren. 1869 ermordete der Terrorist Sergej Gennadievič Nečaev (1847–1882) in Moskau einen abtrünnigen Studenten aus seiner Terroristenzelle, in den 1870er Jahren kam es zu Dutzenden von Anschlägen, darunter 76
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus
1878 ein misslungenes Attentat von Vera I. Zasulič (1849–1919) auf den Petersburger Polizeichef, 1879 unternahmen der ehemalige Lehrer Aleksandr K. Solov’ ëv (1846–1879), 1880 der Bauer Stepan Chalturin (1857–1882) Attentate auf den Reformzaren Alexander II. (geb. 1818), der schließlich im Todesjahr Dostoevskijs am 13. März 1881 einem Bombenanschlag einer Terroristengruppe durch den Arbeiter Nikolaj Rysakov (1862–1881) zum Opfer fiel.
Abb. 26: Bombenattentat der Narodniki auf Zar Alexander II., Holzstich, vermutlich 1881
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5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund Dostoevskij war es unmöglich, diese verworrenen und blutigen Vorgänge in seinem Vaterland nur objektiv zu beobachten, sie erschütterten ihn persönlich zutiefst. Er musste sich in die politischen Debatten dieser Jahre einschalten und seine Erfahrungen und neuen Anschauungen einbringen. Obwohl er nach einjährigem Aufenthalt in Tver’ 1859 in die Hauptstadt Sankt Petersburg nach zehnjähriger Abwesenheit zurückkehren und sich auch wieder publizistisch betätigen durfte, stand er doch noch immer unter geheimer Polizeiaufsicht und durfte keine Zeitschriften oder Publikationsreihen mit politischer Tendenz – was auch immer darunter zu verstehen war – herausgeben. Deshalb wurde der schon 1860 gefasste Plan einer eigenen Zeitschrift nominell von seinem Bruder Michail, der ja auch als Schriftsteller und Journalist tätig war, verantwortet. Michail zahlte auch die nötigen Mittel (für Papier, Druck und Bindung, Vertrieb und Versand sowie für Honorare), die ja alle zunächst vorzuschießen waren. Aber der Spiritus rector und eifrigste Beiträger der neuen Zeitschrift Die Zeit (vremja) war Fëdor Dostoevskij selbst, der dort seine Aufzeichnungen aus einem Toten Haus herausbrachte. Neben den Brüdern Dostoevskij bildeten noch Apollon Grigor’ev (1822–1864), ein Dichter, Literaturkritiker, Übersetzer aus dem Deutschen und Philosoph mit slavophilen Neigungen und Nikolaj Strachov (1828–1896), ein Literaturkritiker und konservativ orientierter Anhänger Hegels, später ein guter Freund Lev Tolstojs, das engere Redaktionskollegium. Ferner gehörten auch damals angesehene Lyriker wie Apollon Majkov (1821–1897), Lev Mej (1822–1862) und Jakov Polonskij (1819–1898) zu den ständigen Mitarbeitern, was der Zeitschrift Ansehen sicherte. Michail Dostoevskij war es gelungen, die Genehmigung zur Ausgestaltung der Zeitschrift als sogenanntes „dickes Journal“ (tolstyj žurnal) zu erhalten, eine für die russische Publizistik des 19. Jahrhunderts typische Erscheinung von Monatsheften, in denen der zeitgenössische gesellschaftliche und 79
5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund
weltanschauliche Diskurs – von der Zensur kontrolliert – in den verschiedensten Gattungen und Wissensgebieten geführt wurde. Die Zeitschrift Die Zeit hieß im Untertitel Ein literarisches und politisches Journal. Vermutlich unter dem Einfluss Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770–1831) hatte Dostoevskij noch in Sibirien eine eigentümliche dialektische Phänomenologie der russischen Geistesgeschichte entworfen, der zufolge die Übernahme westlichen säkularen Denkens, westlicher Zivilisation und westeuropäischer Kulturund Gesellschaftsformen durch Peter den Großen (1672–1725) in einer falschen, weil „unrussischen“ Form, erfolgt sei. Die Öffnung Russlands nach Westeuropa sei zwar kein Fehler gewesen, aber sie habe auf die spezifische nationale russische Denkweise und Mentalität keine Rücksicht genommen. Seither hätten russische Intellektuelle eine unrussische, gänzlich verwestlichte Diskursebene geschaffen, die keinen Kontakt zum russischen Volksgeist gehabt habe: Russland sei gespalten worden in eine westorientierte Intelligencija und ein bodenständiges bäuerliches Volk. Diese These der Spaltung der russischen Nation ist nicht originell. Sie hat als Grundproblem die russische Diskussion um die Vergewisserung der eigenen nationalen Identität bis ins 20. Jahrhundert geprägt, sie hat so unterschiedliche Geister wie Aleksandr Blok oder Maksim Gor’kij bewegt und ist nach gewaltsamer Verdrängung während der Sowjetzeit seit 1990 in Russland wieder aktuell geworden. Dostoevskij meint nun, die ganze russische Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts bis in seine Gegenwart sei die Geschichte der Wandlungen und versuchten Rückkehr der russischen Intelligencija zum russischen Nationalgeist, genauer noch: zur Wiedervereinigung mit dem russischen bäuerlichen Volk. Der erste Schritt, die These des erwachenden nationalen Empfindens der Intelligencija symbolisiere sozusagen auf der Stufe des noch nicht bewussten Ansichseins Puškins Evgenij (Eugen) Onegin. „In Onegin“, schreibt Dostoevskij in seiner Rede auf Puškin, „wird sich der russische Intellektuelle zum ersten Male voller Bitterkeit bewusst, dass er auf dieser Welt nichts anzufangen weiß. Er ist Europäer, aber was wird er zu Europa beitragen, und braucht ihn Europa überhaupt? Er ist Russe, aber was kann er für Russland leisten, und versteht er Russland überhaupt?“1
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5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund
Abb. 27: Aleksandr Puškin, Gemälde von Wassilj A. Tropinin, 1827 In Evgenij Onegin, so Dostoevskij, wird sich der gebildete Russe zum ersten Male der Spaltung zwischen Volksgeist und westlicher Bildung bewusst, aber er vermag daraus keinen Weg zu ihrer Überwindung zu finden, was ihn lähmt und untätig macht. Er empfindet sich als „Überflüssiger“. Das erwachte Bewusstsein – in der Erkenntnis seiner Ohnmacht – schlägt nun in sein Gegenteil um, ins „Für-sich-sein“, wie Hegel sagen würde. Dostoevskij formuliert, es entsteht als Reaktion „ein bis zur Selbstvergötterung getriebener Egoismus, der einhergeht mit wütender Selbstverachtung und dem stets gleichen sich sehnenden Verlangen nach Wahrheit und Tätigkeit und dem stets gleichen verhängnisvollen Nichtstun.“2 Die literarische Verkörperung dieser Antithese ist für Dostoevskij der Spötter Pečorin, der Held aus Lermontovs Roman Ein Held unserer Zeit. Beide Figuren entstammen noch der russischen Romantik. Als Synthese aus der passiven Oneginschen Skepsis und dem Pečorinschen Solipsismus glaubt Dostoevskij einen geistigen Typus zu erkennen, wie er von Turgenev in seinem Roman Rudin (1856) geschaffen worden war. Eigentlich ist Rudin auch ein entscheidungsunfähiger inaktiver Schönredner, der eher zufällig auf den Barrikaden in Paris fällt. Aber Dostoevskij meint, Rudin sei kein überflüssiger Mensch mehr, sondern suche ehrlich und selbstlos einen Platz in den Auseinandersetzungen seiner Zeit und setze sich aktiv für seine Überzeugungen ein, ohne sich selbst zu schonen. Aus diesem Ansatz wird ersichtlich, dass Dostoevskij eine Vermittlung, einen Ausgleich anstrebte zwischen den in den weltanschaulichen Debatten konträren Positionen der Westler, die das rückständige und im Krimkrieg geschlagene Russland ökonomisch und gesellschaftlich nach westlichem Muster umkrempeln und manche sogar möglichst in eine progressive sozialistische Demokratie umwandeln 81
5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund
wollten. Hierzu zählten mit Nekrasov, Dobroljubov, Saltykov-Ščedrin, Herzen und anderen Dostoevskijs einflussreiche ehemalige Freunde, auf die – um seine literarische Reputation wiederaufzubauen – Dostoevskij Rücksicht nehmen musste. Näher standen ihm natürlich die Slavophilen (eigentlich Russophile), deren Idealisierung des russischen Volkes er zwar teilte, nicht jedoch ihre Hochschätzung des vorpetrinischen Russland mit urtümlichen Gesellschafts- und Produktionsformen (Brüder Aksakov, Brüder Kireevskij, Aleksej Chomjakov, Jurij Samarin u. a.).3 „Unsere Aufgabe“, so heißt es im Werbetext für die Subskription für Die Zeit, „besteht darin, eine neue, eigene Form [der russischen Identität] zu schaffen, die unserem Wesen entspricht und unserem ‚Boden’ (počva), dem Geist und den Prinzipien unseres Volkes entstammt.“4 Hierher stammt der Begriff „Bodenständigkeit“ (počvenničestvo), mit dem das ideologische Konzept Dostoevskijs und seiner Anhänger bezeichnet wird. Die Kluft zwischen der Intelligencija, dem gebildeten Adel und der Staatsbürokratie auf der einen und dem „Volk“ mit seiner einfachen, ehrlichen, menschlichen und religiösen Kulturtradition auf der anderen Seite könne dadurch überwunden werden, dass das Volk zur Versöhnung (primirenie) strebe und durch eine besondere Integrationsfähigkeit, die ein Wesenszug des bodenständigen Volkes sei, den verwestlichten Geist aufnehmen und zu einer allmenschlichen Synthese verschmelzen könne (vsečelovečnost’). Diesen Prozess will Die Zeit in Gang setzen und befördern: Wir ahnen voraus und setzen uns mit andächtiger Ehrfurcht dafür ein, dass der Charakter unserer zukünftigen Tätigkeit in höchstem Maße allmenschlich sein muss, dass die russische Idee vielleicht die Synthese aller Ideen sein wird, die Europa in seinen Nationalitäten mit solchem Nachdruck entwickelt, dass vielleicht alles Feindselige in diesen Ideen seine Versöhnung und seine weitere Entwicklung im russischen Volkstum [narodnost’] finden wird.5
Dieser Gedanke der russischen Idee als schlechthin allmenschlicher Versöhnung bleibt nunmehr beherrschend in Dostoevskijs Weltanschauung. Er wird z. B. in der berühmten Rede auf Puškin (1880) noch einmal als Modell der russischen Kultur, deren Wesen allmenschlich und integrationsfähig sei, herausgestellt (vsečelovečnost’ und vsepriimčivost’). Neben dieser politisch weltanschaulichen Komponente hat das Programm der Bodenständigkeit aber noch eine philosophisch-anthropologische Komponente, nämlich die Überzeugung, dass der Mensch nicht allein nach 82
5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund
logisch rationalen Prinzipien nur aus den Fähigkeiten des Verstandes leben kann, sondern dass er Beziehungen zu tieferen naturhaften Schichten des Lebens braucht und dass ihm aus diesem ursprünglichen „Boden“ (počva) Lebenskräfte zuströmen müssen. Die beinahe religiöse Verehrung, die manche von Dostoevskijs Romangestalten der ‚Mutter Erde’ entgegenbringen, wenn sie sich zum Boden verneigen und die Erde küssen, schwingt im Programm und in der Bezeichnung Bodenständigkeit (počvenničestvo) mit.6
Außer der Ideologie der „Bodenständigkeit“, die zusammen mit Dostoevskij in einer ganzen Reihe von Artikeln auch Strachov und Grigor’ev vortrugen und die in der intellektuellen Öffentlichkeit auf Resonanz stieß, entwickelte Dostoevskij in seiner Zeitschrift Vremja (Die Zeit) auch seine ästhetischen Anschauungen in einem wichtigen Aufsatz „Herr G. und die Frage der Kunst“: Der Mensch verlange nach Schönheit als einem Grundbedürfnis mit ebensolcher Notwendigkeit, wie sich etwa der Selbsterhaltungstrieb und Fortpflanzungstrieb Geltung verschaffen. Schönheit bedeute Ruhe, ausgeglichene Vollkommenheit, Harmonie, wonach der Mensch ständig strebt und verlangt, wenn er mitten im Leben ist. Schönheit erscheint als Gestalt gewordenes, zur Anschauung gebrachtes Ideal. Mit diesen Definitionen lehnt sich Dostoevskij an Schiller an, dessen Auffassung von der Einheit von Ästhetik und Ethik auch für ihn maßgeblich war. Eine Gesellschaft ohne Ideale ist dekadent, versucht Dostoevskij in einer Interpretation einer Dichtung Puškins (Ägyptische Nächte) aufzuzeigen. Da das Ideal stets vollkommener und edler ist, als die Wirklichkeit, und der Sinn der Kunst eben in der Gestaltung des Ideals liegt, kann Kunst keinem gesellschaftlichen oder politischen Ziel dienen, und sie kann auch nicht utilitaristisch sein. Diese Gedanken richteten sich gegen die Kunstauffassung der linken Zeitschrift Der Zeitgenosse (Sovremennik) mit Nekrasov und Dobroljubov an der Spitze. Im Gegenteil: Gerade dadurch, dass die Kunst frei und unabhängig ist, bewirkt sie auch eine ideelle und moralische Vervollkommnung des einzelnen Rezipienten und damit indirekt auch der Gesellschaft, was sie in tendenziöser Anbindung an politische oder ideologische Vorgaben gar nicht zu erreichen vermag. Zunächst lavierte die Zeitschrift Die Zeit zwischen der linken und westlerischen Zeitschrift Der Zeitgenosse und dem konservativ-slavophilen Organ Der russische 83
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Bote mit leichter Neigung zu ersterem. Aber 1863 – nach einem kurzfristigen Verbot des Zeitgenossen in Zusammenhang mit staatlichen Untersuchungen von großen Bränden in Petersburg, die der progressiven Linken zur Last gelegt wurden – wandte sich Dostoevskij gegen diesen Verdacht. Doch seine diesem Thema gewidmeten Artikel erlaubte die Zensur nicht zu drucken. Im gleichen Jahr entstand in Unkenntnis dieses Sachverhalts, aber aufgrund von Dostoevskijs ästhetischen Ansichten im Zeitgenossen der Eindruck, er habe eine „reaktionäre“ Position bezogen, worauf nun heftige Angriffe erfolgten, die der Zeit Verrat am notleidenden und unterdrückten Volk, Chauvinismus, religiösen Obskurantismus u. ä. vorwarfen; Saltykov-Ščedrin richtete sogar heftige persönliche Angriffe gegen Dostoevskij. Auf diese Weise wurde die Zeit ins rechte, konservativ-slavophile Lager gedrängt, wo sie aber nicht – wie die sowjetische Forschung behauptet hat – hingehört. Das belegen zusätzlich die Vorgänge um ihr Verbot: In der leidenschaftlichen Debatte um den polnischen Aufstand im Januar 1863 wurde ein Artikel von Strachov, „Eine verhängnisvolle Frage“, in der von der Zensur als unzuverlässig eingestuften Zeit als pro-polnisch missverstanden. Dabei hatte Strachov mit Dostoevskijs Billigung den Konflikt mit Polen nicht nur als einen politischen und nationalen, sondern als Zusammenstoß zweier Kulturen und geistiger Prinzipien bezeichnet und gemeint, ein ideologischer Sieg über den Katholizismus und westlichen Positivismus sei wichtiger als die militärische Niederwerfung des Aufstandes, gelte es doch, das slavische Polen von seiner verhängnisvollen Westorientierung abzubringen. Am 24. Mai wurde die Zeitschrift durch einen Ukas des Zaren verboten, am 17. Juni 1863 hat Dostoevskij den Vorfall Turgenev in einem Brief nach Baden-Baden geschildert. Die Zeitschrift Die Zeit hatte mit ihrer weltanschaulichen Position und der Mitarbeit sehr bekannter Literaten der 1860er Jahre großen Erfolg: Nikolaj Nekrasov, Michail Saltykov-Ščedrin, Ivan Gončarov und andere garantierten hohes literarisches Niveau, aber am meisten beeindruckten Dostoevskijs hier veröffentlichte eigene literarische Arbeiten. In der Zeit erschienen 1860 bis 1862 die Aufzeichnungen aus einem Toten Haus, sodann der Feuilletonroman Erniedrigte und Beleidigte (1861), der den Mustern bei Charles Dickens (1812–1870) und Honoré de Balzac (1799–1850) folgt und „düstere und qualvolle Geschichten erzählt, […] die sich in den dunklen und verschwiegenen Winkeln der großen Stadt [Sankt Petersburg] abspielen, inmitten unübersehbar brodelnden Lebens, blinden Egoismus’, gegenläufiger Interessen, finsterer Ausschweifungen, sorgsam gehüteter Verbrechen, inmitten 84
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dieser unerträglichen Hölle sinnlosen und unmoralischen Lebens“ (Erniedrigte und Beleidigte, Teil 2, Kap. 11). Durch dieses Andeuten eines sensationellen, aber auch sozial- und moralkritischen Sujets, wie es seinerzeit unter der Leserschaft gefragt war, soll – ganz im Stil der Kolportageromane – das Leserinteresse geweckt werden; was durchaus nachvollziehbar war: Der Berufsliterat Dostoevskij brauchte für seine Zeitschrift Abonnenten und einen entsprechenden Absatz. Der Ich-Erzähler in Erniedrigte und Beleidigte, ein sterbenskranker Schriftsteller namens Ivan Petrovič, schreibt im Krankenhaus seine Erinnerungen nieder, wie er in einer Kneipe Petersburger affektierter und langweiliger Deutscher, die alle ein miserables Russisch sprechen, regelmäßig einen sonderbaren schweigsamen heruntergekommenen alten Mann namens Schmid antrifft, dessen ebenso erbärmlicher alter Hund dort plötzlich stirbt, was den Alten so aufregt, dass auch er in den Armen Ivan Petrovičs seinen Geist aufgibt. Dem Ich-Erzähler gelingt es, die jämmerliche Wohnung des Alten ausfindig zu machen, der als Untermieter ebenfalls bei einem Deutschen namens Kluge gehaust hatte. Dort findet er Nelly, die Enkelin des Verstorbenen, nimmt sich ihrer an und entwickelt eine verhaltene Zuneigung zu dem frühreifen Mädchen, das aber auch stirbt. Ivan Petrovič erfährt, dass sie die Tochter eines Fürsten Valkovskij war, der ihre Mutter verführt und ruiniert hatte. Dieser Valkovskij, ein ausgemachter Zyniker, agiert auch im vom ersten relativ losgelösten zweiten Teil des Fortsetzungsromans: Er hintertreibt die eher mütterliche Liebe der verarmten Nataša Ichmeneva zu seinem willensschwachen Sohn Alëša, den er schließlich mit einer reichen Erbin zusammen bringt. Nataša war die Geliebte Ivan Petrovičs, der aber zugunsten Alëšas großzügig leidend auf sie verzichtet hatte. Gewiss ist die Psychologie des heranreifenden Mädchens Nelly mit großem Geschick dargestellt, in Ivan Petrovič erkennt man den selbstquälerisch entsagenden Helden der frühen Werke Dostoevskijs (Devuškin oder den Erzähler aus den Weißen Nächten) wieder, gemessen an Dostoevskijs anderen Werken steht hier aber das Sentimentale und Sensationelle stärker im Vordergrund, das auf die gespannte Aufmerksamkeit des Lesers von Fortsetzungsromanen zielt. Entsprechend groß war auch der Erfolg dieses Kolportageromans. Dostoevskij hat in seiner Zeitschrift ferner Rezensionen und kurze literarische Charakteristiken veröffentlicht, u. a. über Edgar Allen Poe (1809–1849), den er mit E. T. A. Hoffmann verglich. Sein Bericht über seine erste Reise nach Westeuropa 1862 wird uns später in anderem Zusammenhang beschäftigen. 85
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Dostoevskijs Existenz, aber mehr noch die seines Bruders Michail, hing von den Einnahmen aus dem Absatz der Zeit ab. Michail hatte seinen Tabakladen verkauft und sein gesamtes Vermögen in die Finanzierung der Zeitschrift investiert. Deshalb bemühten sich die Brüder, allerdings vergeblich, um eine Neuzulassung. Es gelang ihnen aber, für die Herausgabe einer neuen Zeitschrift ab Mai 1864 die Genehmigung zu erhalten, sie erschien unter dem unrussisch klingenden Namen Epocha (Epoche) und verfolgte ideologisch die Ausrichtung der Zeit, also die Bodenständigkeit, allerdings mit stärker slavophil nationalistischer und antiwestlerischer Tendenz. Die ästhetische Ausrichtung bestimmte Apollon Grigor’evs sogenannte „organische Kritik“, die die Kunst als eine synthetische, ganzheitliche schöpferische Geistestätigkeit von der analytischen Erkenntnistechnik des wissenschaftlichen und logischen Denkens unterschied. Obwohl neben Dostoevskijs eigenen Werken und denen der früheren Mitarbeiter aus der Zeit hier solche erstrangige Autoren wie Ivan Turgenev (seine im Schwarzwald spielende Erzählung Gespenster) und Nikolaj Leskov (1831–1895) (sein Kurzroman Lady Macbeth aus dem Kreise Mzensk) veröffentlichten, fand die Zeitschrift auch nicht annähernd die Resonanz der Zeit und musste als großes Verlustgeschäft mangels Abonnenten und Absatz ihr Erscheinen im folgenden Jahr bereits einstellen. In den Monaten vor und nach dem Tod seiner ersten Frau schrieb Dostoevskij 1864 ein merkwürdiges philosophisch-belletristisches Werk Aufzeichnungen aus dem Untergrund, das Nietzsche „einen wahren Geniestreich der Psychologie“ genannt hat. Dieses Werk ist nur zu verstehen und zureichend einzuschätzen, wenn man die ideelle Entwicklung und die Biographie Dostoevskijs bis zu dieser Zeit kennt, weil es seine Erfahrungen und Vorstellungen in einer konkreten literarischen Gestalt sublimiert. In einer einleitenden Anmerkung sagt Dostoevskij, er wolle in dem fiktionalen Ich-Erzähler den Typus des jüngst vergangenen und noch zeitgenössischen Menschen vorführen und die Ursachen seines notwendigen Auftretens erklären. Dieser anonyme Zeittyp ist ein teils leidender und teils genießender und suchender Skeptiker, Zyniker und Verneiner, eine Art ganz Mensch gewordener Mephisto. Das sonderbare Buch beginnt folgendermaßen: Ich bin ein kranker Mensch. Ich bin ein böser Mensch. Ein unattraktiver Mensch bin ich. Ich glaube, ich habe ein Leberleiden. Übrigens verstehe ich keinen Deut von meiner Krankheit und weiß nicht einmal recht, was mich
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schmerzt. Ich lasse mich nicht behandeln und habe mich auch niemals behandeln lassen, obwohl ich die Medizin und die Ärzte achte. Außerdem bin ich noch extrem abergläubisch, also wenigstens insoweit, um die Medizin zu achten (ich bin zwar gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, aber ich bin es eben dennoch!). Nein, ich werde mich nicht ärztlich behandeln lassen. Aus Bosheit! Sie werden das sicher nicht verstehen wollen, aber ich verstehe es. Ich kann Ihnen natürlich nicht erklären, wem ich in diesem Falle mit meiner Bosheit Ärger mache, ich weiß genau, dass ich den Ärzten nicht schaden kann, wenn ich mich von ihnen nicht behandeln lasse. Ich weiß besser als jeder andere, dass ich einzig und allein mir selbst und sonst niemandem schade. Und dennoch, wenn ich mich nicht behandeln lasse, dann allein aus Bosheit. Die Leber ist krank. Dann soll sie eben noch kränker werden. Soll sie doch! (Teil 1, Kap. 1)
Diese Eigenschaften des Ich-Erzählers: böse, verkommen, hässlich, verbittert, zugleich aggressiv und feige, bilden den Sinn des Begriffs „Untergrund“, russ.: „podpol’e“ von „pod polom“, das ist „unter dem Fußboden“, gemeint ist der moralische und physische Untergrund, sozusagen der Bodensatz der Menschheit (deshalb ist die verbreitete deutsche Übersetzung „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich falsch). Dabei ist der Untergrundmensch intellektuell höchst begabt und gibt treffsichere Analysen seiner Umgebung und seines eigenen Seelenzustands. Aus seiner Untergrundperspektive kritisiert er mit beißendem Zynismus die zeitgenössischen Verhältnisse. Das Buch besteht aus zwei Teilen, der erste Teil heißt „Untergrund“ und ist in Monolog- und Dialogform geschrieben. Er bietet Selbstreflexionen über den Zustand der zeitgenössischen Gesellschaft und Analysen ihres Geistes. Diese Kritik ist in erster Linie als literarische Polemik gegen Nikolaj Gavrilovič Černyševskij (1828–1889) und seinen Programmroman Was tun? (Čto delat’?, 1863) zu verstehen: Das war ein utopisch-sozialistischer Roman, der das Modell einer sozialistischen Vernunftgesellschaft und darin lebender neuer Menschen als eine konfliktlose, rational begründete und rational funktionierende Gesellschaft schildert, wo sich Egoismus und Individualismus aus Einsicht in die Notwendigkeit der natürlichen Zwänge und ökonomischen Existenzbedingungen in kollektives produktives Wirt87
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schaften und Dienst am Gemeinwohl verwandeln. Dieses Modell einer zukünftigen besseren Gesellschaft beruht auf den Idealen des Sozialismus und ist durch die Theorien der materialistischen Philosophie und Wirtschaftslehre begründet. Es vermittelt interessante Gedanken, erfreute sich großen Erfolgs bei der progressiven linken Intelligenz, trotz gewisser literarischer Mängel wurde es viel gelesen und intensiv diskutiert. Die literarischen Mängel sind aber insoweit einzuschränken, als Černyševskij aus Zensurgründen für die Darbietung seiner sozialen und politischen Vorstellungen die Form des Romans wählen musste, weil er in einem analytischen wissenschaftlichen Werk seine Ideen nicht durch die Zensur gebracht hätte. Insofern erhob er auch keinen Anspruch auf literarischen Rang. Dostoevskijs Polemik richtet sich gegen den Rationalismus dieses Modells, er will als platte Illusion entlarven, dass es gelingen könne, durch rationelle Organisationsformen, kollektive Arbeit und wirtschaftliche Planung eine Idealgesellschaft mit einer autonomen, nur vernunftbedingten Moral als Garantie für das genormte Glück des Einzelnen zu schaffen. Das sei der Irrtum der modernen Zivilisation und die Ursache für die Kluft zwischen der so denkenden Intelligencija und dem davon ahnungslosen Volk. Gegen den Rationalismus der Sozialisten geht Dostoevskijs Untergrundmensch mit psychologischen Argumenten an. In einer rational perfekten Idealgesellschaft dürfte ein einzelnes Individuum nichts mehr tun, wofür es keine vernünftige Begründung gibt. Es wäre dem Menschen dann verboten, etwas Unnötiges, Sinnloses, oder Törichtes, auch bloß Lustiges oder Spielerisches zu tun, auch wenn es ihm persönlich Freude machen würde. Die Vernunftgesellschaft der Zukunft würde zwar wie ein moderner Wohlfahrtsstaat ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Sicherheit und Wohlstand für jedermann gewährleisten, aber das Leben in diesem „Kristallpalast“, in diesem goldenen Käfig, wäre eintönig und unerträglich, weil es die Individualität beseitigen oder allenfalls gerade noch zu einem geduldeten Akzidenz am nur gesellschaftlich zu wertenden Menschen als zoon politikon degradieren müsste. Aber genau das verstößt gegen die Eigenwertigkeit und Freiheit des Menschen, der das Bedürfnis hat, ab und zu eben anders als alle zu sein. Er braucht einen eigenen Willen, Selbständigkeit, ganz gleich, wozu sie führt, sei es auch zu Selbstsucht, Egoismus, Bosheit und Zerstörung. Es sei eine dumme Täuschung zu glauben, man könne diese Irrationalität im Menschen durch die Überzeugung, immer vernunftgemäß zu handeln, beseitigen. 88
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Wenn Sie meinen, dass auch das alles sich tabellarisch erfassen lässt, auch Chaos, Finsternis und Fluchen, sodass schon die Möglichkeit seiner prophylaktischen Kalkulation alles aufhält und der Verstand sich durchsetzt, dann wird sich in einem solchen Falle der Mensch absichtlich für wahnsinnig erklären, um nicht dem Verstand folgen zu müssen und bei seinem Eigenwillen bleiben zu können. (Teil 1, Kap. 8)7
Dostoevskij geht noch weiter: Die irrationalen Kräfte im Menschen sind nicht so harmlos und töricht, bloß die Vernunftregeln wie 2 x 2 = 4 durch den „dummen widerspenstigen Willen“ zu ignorieren, so zu tun, als gelte das nicht, sondern: Es liegt in der Natur des Menschen, sich gegen allzu starke Eingriffe in seine persönliche Entscheidungsfreiheit aufzulehnen, zu rebellieren. Dieser Eigenwille ist stärker als die Einsicht und Überzeugung des Richtigen und Rationalen; der Mensch hat ein Urbedürfnis zu zweifeln, zu leiden und zu zerstören, auch sich selbst. In Leid und Zerstörung kann Genuss empfunden werden, das ist sogar oft der Fall, hier kann das Streben nach Glück und Lustbefriedigung Erfüllung finden, und da das Glück vom Zufall abhängig ist und nicht rational kalkulierbar und zuteilbar, aber dennoch das einzige und tiefste Stimulanz des menschlichen Lebens überhaupt darstellt, ist es töricht und sinnlos, auf rationaler Grundlage eine ideale Gesellschaft anzustreben und organisieren zu wollen. Sie müsste mit ihren Regeln und Ordnungen in die Freiheiten des Einzelnen, seinen individuellen Willen, möglicherweise leiden, verneinen, zerstören zu wollen, hemmend eingreifen, so würde also die Organisation der Sicherheit und des Glücks wegen der irrationalen Natur des Menschen zu einer Tyrannei geraten müssen und würde damit im Grunde das Gleiche erbringen wie Zuchthaus und Katorga für Verbrecher. Es liegt also in der irrationalen Veranlagung des Menschen, die ein nicht zu bestreitendes Faktum darstellt, dass Versuche, eine harmonische, humane, geordnete und gesicherte Gesellschaft errichten zu wollen, entweder zu gefängnisgleicher Freiheitsberaubung – dem totalitären Staat – oder zu Aufruhr und Chaos führen müssen. Der Mensch will und sucht nämlich Leiden und Enttäuschungen; um sich glücklich zu fühlen, braucht er die ständige Bedrohung des Unglücks. Der Untergrund-Erzähler geht so weit zu sagen, auch Zahnschmerzen können Genuss sein, gerade weil sie Qualen bereiten, und Leiden ist eben nicht nur ein unvermeidlicher, sondern auch ein notwendiger natürlicher Bestandteil des menschlichen Lebens.
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2 x 2 = 4 ist eine höchst unerträgliche Sache. Dass 2 x 2 = 4 ist, ist meiner Meinung nach einfach eine Frechheit. 2 x 2 = 4 ist wie ein Angeber, der Ihnen nur im Wege steht, die Hände in die Seiten stemmt und vor Sie hinspuckt. Vielleicht liebt der Mensch auch und gerade das Leiden? Vielleicht ist das Leiden für ihn ebenso nützlich wie die Glückseligkeit? Manchmal liebt eben der Mensch das Leiden wahnsinnig, leidenschaftlich, das ist eine Tatsache! (Teil 1, Kap. 3)
Es ist meines Erachtens ein raffinierter Trick, dass Dostoevskij diese Ideen seinem kranken und psychisch zumindest unnormalen Untergrundmenschen in den Mund legt. Das gestattete ihm Schärfe und Übertreibung in der Polemik, bot Abwehr möglicher Angriffe ideologischer Gegner. Dostoevskij will das Phänomen der Kulturkrise seiner Zeit Mitte der 1860er Jahre darstellen. Ursache dieser Kulturkrise ist der Positivismus und Materialismus westlicher Provenienz: die Überbetonung der Verstandestätigkeit, einseitige Ausbildung der Verstandeskräfte des logischen Denkens auf Kosten von Willenskräften, die aus Herz und Gewissen kommen. Das führt aber zu Folgendem: Erklärt der Mensch die Welt als total rational, muss er sich selber auch als total determiniert verstehen, als auswechselbare Partikel in einem riesigen vernünftigen Mechanismus. Eine soziale Ordnung, die solche Menschen erstreben, entspricht ihrem Selbstverständnis. Es geht dann nur um die Sicherung der materiellen Existenzgrundlage für die Erfüllung der zugewiesenen Funktion des Einzelnen in der Sozialmaschine, die er widerspruchslos und überzeugt bejaht. Dagegen rebelliert der Untergrundmensch im Namen des Eigenwillens und der Individualität des Menschen. Er zieht sich zurück in Untätigkeit, Inertia (russisch inercija=Trägheit), d. h. tatenlose kritisch ablehnende Kontemplation. Damit ist das Buch aber noch nicht abgeschlossen. Es folgt ein zweiter Teil „Aus Anlass feuchten Schnees“, eine Novelle, die ganz anders als der erste, reflexiv philosophische Teil gestaltet ist und zeitlich 16 Jahre vor dem ersten handelt: Nach der Schilderung einiger biographischer Episoden erfolgt der Besuch des Erzählers in einem Bordell. Nach dem dort üblichen Verkehr kommt es zu einem Gespräch mit der Prostituierten Liza aus Riga. Der Erzähler redet ihr zu, ihr Leben zu ändern, aber er tut das nicht aus echtem Mitgefühl, er will vielmehr erproben, was seine Rhetorik zu leisten imstande ist. Er sucht in der Rhetorik Kompensation für vorausgegangene Niederlagen (im sexuellen Bereich). Es gelingt ihm, nach 90
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einer intimen Begegnung, Liza ihr vermutlich weiteres Schicksal so eindrucksvoll zu schildern, dass diese von ihrem Weg ablassen will, als sie aber am Schluss Rat und Hilfe suchend zu dem Untergrundmenschen kommt und ihn fragt, wie sie ein anderes, neues Leben beginnen könne, schickt er sie demütigend und hohnlachend davon. Die Dostoevskij-Forschung hat herausgefunden, dass Dostoevskij in diesen „Aufzeichnungen“ gewisse schwierige biographische Erlebnisse verarbeitet hat. Es sind das einmal die Bewusstseinsstörungen und radikalen Stimmungsschwankungen, die die Krankheit der Epilepsie mit sich brachte, die finanziellen Nöte nach der Pleite mit den Zeitschriften, die Notlage seines Bruders mit seiner großen Familie, wofür sich Dostoevskij verantwortlich fühlte, und das Leiden seiner todkranken Frau Mar’ja, für die er nur Mitleid, aber keine Liebe empfand – dieser psychische Druck blieb nicht ohne Wirkung. Die epileptischen Anfälle wurden immer häufiger und heftiger und traten nun schon im Abstand von wenigen Tagen auf. Es existiert eine ganze wissenschaftliche Literatur zu Dostoevskijs Epilepsie. Einzelne Mediziner haben Verbindungslinien zwischen den extremen Schilderungen des Autors und seinen Krankheitserlebnissen gezogen. Den Anfällen gingen kurze euphorische Hochgefühle voraus, bevor Dostoevskij hinstürzte und das Bewusstsein verlor. Beim Wiedererwachen ergriff ihn kurzzeitiger Gedächtnisverlust. Darauf folgten länger anhaltende Depressionen. „Wenn Sie wüssten, wie traurig und schwermütig ich noch wochenlang nach einem solchen Anfall sein kann“,8 klagte er in einem Brief an Turgenev. Eine weitere Belastung brachte eine ungestüme Leidenschaft zu der angehenden Schriftstellerin Apollinarija (Polina) Prokof ’evna Suslova (1839–1918), damals noch Studentin und Vorkämpferin der sozialen Befreiung und Frauenemanzipation. Ihre Tagebuchaufzeichnungen geben neben Dostoevskijs Selbstzeugnissen Aufschluss über das komplizierte Verhältnis der Liebenden. Polina Suslova wurde auf einer Lesung Dostoevskijs aus seinen Aufzeichnungen aus einem Toten Haus Anfang 1861 mit dem Schriftsteller bekannt. Sie war eine vitale, heißblütige junge Frau, ihr späterer Mann Vasilij Rozanov (1856–1919) hat sie folgendermaßen charakterisiert: „Sie war derart wollüstig, dass selbst der Marquis de Sade noch von ihr hätte lernen können … Sie war der Teufel in Menschengestalt, aber zugleich von bestrickender Schönheit.“9
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Abb. 28: Apollinarija Suslova, um 1870 Polina fühlte sich von der Aufmerksamkeit des berühmten Schriftstellers geschmeichelt, außerdem wuchs daher ihr Ansehen unter den Kommilitonen, was ihr sehr viel bedeutete. Das Verhältnis mit Dostoevskij wurde allerdings eine sexuelle Katastrophe, schon beim ersten Zusammensein schockierte sie der meilenweite Unterschied zwischen dem Liebhaber und dem Märtyrer Dostoevskij, was bei ihr eine lebenslange Frustration hervorrief. Der Grund dafür ist in Dostoevskijs Vorstellung zu suchen, Liebe sei untrennbar mit Leid und Schmerzen verbunden. Sexuelle Liebe bedeutete für ihn wie für seinen Untergrundmenschen verletzen und verletzt werden. Von ihrem Liebhaber hatte Polina etwas „Erhabenes“ erwartet, erfuhr aber nur Dominanz und Unterwerfung. Gewiss darf man Dostoevskij keinesfalls mit dem Untergrundmenschen gleichsetzen, aber er hat dessen Ansicht, in der Liebe könne es keine Gleichheit geben, geteilt. „Im Verhältnis zwischen Mann und Frau ist einer von beiden unweigerlich unterlegen und wird sich erniedrigt fühlen, und das ist gewöhnlich die Frau … Schon allein die Tatsache, dass sie sich hingegeben hat, macht die Frau zur Sklavin, und von da an wird sie vom Manne stets abhängig bleiben“,10 meinte Dostoevskij noch später. Aber diese Theorie stieß auf den entschiedenen Widerstand Polina Suslovas, die selbst eine dominante Natur war, und die demütigende Rolle einer Sklavin kam für sie in ihrer Beziehung nie in Frage. Sie war enttäuscht von dem triebhaften und zugleich hochmütigen Verhalten Dostoevskijs, der sich ja nicht einmal von seiner schwindsüchtigen Frau scheiden lassen wollte. Sie hatte gute Lust, ihrem – wie sie wütend formulierte – „alternden Liebhaber“ – den
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Laufpass zu geben. Aber noch kam es nicht dazu, noch hielt sie eine Art „Hassliebe“ zusammen. Auch die Aufzeichnungen aus dem Untergrund sind ebenso wie die Aufzeichnungen aus einem Toten Haus gattungspoetisch schwer zu klassifizieren. Das Werk hat eine sehr eigenartige Komposition. Der erste Teil ist eigentlich ein großer theoretischer Essay, der zweite Teil ist eine Novelle als psychologische Illustration zum ersten Teil, nämlich die Charakteristik des Ich-Erzählers nun in seinem tatsächlichen Verhalten. Aber das relativiert dann den kulturkritischen Anspruch des ersten Teils, denn ist die Novelle des zweiten Teils der reale auslösende Hintergrund für die gedankliche Welt des ersten Teils, dann kann dieser nicht symptomatisch sein für die ideologisch-gesellschaftliche Situation seiner Zeit, sondern doch eher Ausdruck eines kranken, deformierten Bewusstseins, weil sich im realen, privaten Leben des Untergrundmenschen eine Reihe von Eigenarten und Defekten zeigen, die kaum als typisch oder repräsentativ für den Zeitgeist bzw. für den charakteristischen Vertreter der russischen Kleinbürger oder Intellektuellen der 1860er Jahre verstanden werden können. So erscheint also das ganze theoretische Gebäude der Reflexionen des Untergrundmenschen aus dessen Persönlichkeitsbild als Kompensation und ist nicht als Entwurf eines generellen Menschenbildes ernst zu nehmen, auch wenn es recht bedenkenswert tiefe und unser Denken verunsichernde Dimensionen erreicht; vor allem, wenn es die Relevanzen unserer als selbstverständlich gar nicht mehr hinterfragten intellektuellen und ethischen Axiome verunsichert und in Frage stellt. So gesehen darf der erste Teil nicht für sich genommen werden ohne die einschränkende Relativierung der realen Erfahrungen des zweiten Teils. Aber dessen gegenläufige Konsequenzen sind nun auch nicht wiederum so stark und überzeugend dargestellt, als dass die Reflexionen des Untergrundmenschen im ersten Teil bloß noch als eine negative Ästhetik oder Literarisierung des Niedrigen, Hässlichen und Bösen im Milieu des moralischen und sozialen Untergrunds abgetan werden können. Worum also geht es konkret? Noch nach 16 Jahren empfindet der Untergrunderzähler Gewissensbisse über die von ihm begangene Gemeinheit an der Prostituierten. In ihm ist doch eine Sehnsucht nach dem Ideal eines guten oder besseren Menschen und ein Verlangen nach einer Welt, wo Leiden und Abnormitäten überwunden werden, zu erkennen: Im Buch ist das Leben einseitig entstellt. Der Untergrundmensch sucht doch „lebendiges Leben“, besseres Leben, er schreibt seine Reflexionen und Gedanken und Erinnerungen nieder, um sich über seinen eigenen Zustand klar zu werden und die 93
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qualvolle Last des falschen und schlechten ratiogesteuerten Lebens abzuschütteln. Und das gelingt am Ende wohl doch als Akt psychischer Selbstbefreiung. War am Anfang sein ganzes Wesen von Hass, Neid und Bosheit erfüllt, so erscheint er am Ende schon zögernd als einer, der wiedergeboren, umgewandelt werden kann am Rande eines neuen Lebens. Er empfindet die Möglichkeit einer Wandlung durch Leiden und Reue. Das wäre der Ansatz zur Überwindung der Bewusstseinskrise im verdorbenen Individuum und die Absicht, in seinen Aufzeichnungen im literarischen Text diese Einsicht weiterzugeben. So gesehen kann man die Aufzeichnungen aus dem Untergrund als Einleitung und Ansatz zu den folgenden Romanen, die den Weltruhm und die Weltgeltung Dostoevskijs bis heute begründen, ansehen: literarische Gestaltung von philosophischen Ideen in ihren Konsequenzen und Widersprüchen in undogmatischer und vielstimmiger Totalität. Als erstes soll das am Roman Schuld und Sühne oder genauer Verbrechen und Strafe (Prestuplenie i nakazanie, 1866) geschehen.
Abb. 29: Dostoevskij, Porträtaufnahme, 1863
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6. Schuld und Sühne oder Verbrechen und Strafe: Zur Frage von Macht und moralischer Verantwortung Der erste große Roman, Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie, wörtlich: „Verbrechen und Strafe“) entstand unter äußerst ungünstigen Umständen. 1865 musste Dostoevskij fluchtartig vor Schulden und Unterhaltspflichten ins Ausland ausreisen. Zuvor hatte er alle Rechte eines erst noch zu schreibenden Romans für 3000 Rubel an den Verleger Fëdor Timoveevič Stellovskij (1826–1875) verkauft, der Vertrag enthielt die Klausel, dass bei Nichteinhaltung der Abgabefrist alle Rechte an allen Publikationen Dostoevskijs bis 1890 auf den Verleger übergehen sollten. Mit dem Erlös aus dem Vertrag tilgte Dostoevskij den dringlichsten Teil seiner Schulden und entwich vor den restlichen Schuldnern nach Wiesbaden, wo er sich mit Apollinarija Suslova wieder traf. Dostoevskij konnte der Verführung durch das Roulettespiel nicht widerstehen. Er verausgabte seine letzten Barmittel in der Wiesbadener Spielbank, wo er zwar gelegentlich kleine Gewinne machte, aber die Verluste überwogen. In seiner finanziellen Notlage wendete er sich in einem Brief an Ivan Turgenev, der damals in Baden-Baden lebte, und bat ihn um einhundert Taler. Turgenev steckte damals gerade selbst in finanziellen Schwierigkeiten und konnte ihm nur fünfzig Taler schicken, die jedoch Apollinarija Suslova an sich nahm und sich damit nach Paris absetzte. Der mittellos gebliebene Dostoevskij hatte nicht einmal mehr das Geld für das Briefporto und verschickte unfrankierte Bettelbriefe an Aleksandr Herzen (1812–1870), an Baron Aleksandr Vrangel’ und an Michail Katkov (1820–1887). Der Wirt des Hotels Victoria in Wiesbaden quartierte ihn um in eine Dachstube, sperrte ihm die Verpflegung auf Kredit und drohte ihm mit einer Anzeige. Dostoevskij selbst berichtete später, er habe sich lediglich mit Tee und Essensresten in dieser Zeit ernährt. Unter diesen Umständen entstanden die ersten Entwürfe zum Roman Schuld und Sühne. Einige finanzielle Hilfe kam schließlich von Vrangel’ und Katkov, im Oktober 1865 konnte er nach Sankt Petersburg zurückkehren, das Geld für die Heimfahrt 95
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hatte er sich vom russischen Priester der Wiesbadener orthodoxen Kirchengemeinde auf dem Neroberg geliehen. Dostoevskij fuhr über Kopenhagen, wo er seinen Freund, den Baron Vrangel’ aufsuchte. Nachwehen der Strapazen in der Verbannung und physischer und psychischer Druck der letzten Monate führten zu vermehrten epileptischen Anfällen, die Dostoevskij an kontinuierlicher Arbeit hinderten. Dennoch kontrolliert er selbstkritisch seine „Aufzeichnungen“ und verbrennt Ende November alle Entwürfe, die seinen Ansprüchen nicht standhielten. Fieberhaft arbeitet er nun Tag und Nacht und lässt seinen Roman in Michail Katkovs konservativer Zeitschrift Der russische Bote (Russkij vestnik) in Fortsetzungen von Januar bis Dezember 1866 erscheinen. Das geschah übrigens zeitgleich mit dem ersten Teil von Lev Nikolaevič Tolstojs Roman Krieg und Frieden (Vojna i mir). Dostoevskij schätzte den Wert seines Romans, den er unter solchem Druck schrieb, entsprechend hoch ein. „Wenn Gott hilft, so wird der Roman eine ganz großartige Sache.“ Damit hat er recht behalten, Schuld und Sühne ist bis heute einer der meistgelesenen und meistaufgelegten Romane der Weltliteratur geblieben. Das Geschehen ereignet sich in der recht knappen Zeit von nur zwei Wochen, der Roman schließt mit einem Epilog, der über das Schicksal der Hauptfiguren anderthalb Jahre später berichtet. Die Handlung spielt sich auf relativ engem Raum um den Petersburger Heumarkt ab, ein anrüchiges Stadtviertel voller Kneipen, Kaschemmen und zweifelhafter Absteigen. Dort haust in einem winzigen schrankartigen Mietzimmer der 23-jährige mittellose exmatrikulierte Student Rodion Romanovič Raskol’nikov, der bei einer wuchernden Pfandleiherin seine letzten Wertsachen verpfändet, dabei aber die Lage und Größe ihrer Wohnung sondiert, weil er den Entschluss gefasst hat, diese – wie er meint – wertlose und nur schädliche Person zu ermorden. In einer Kneipe lernt er anschließend den zum Suchttrinker verkommenen Beamten Semën Marmeladov kennen, den er in dessen ärmliche Wohnung begleitet, wo er Marmeladovs verhärmte, aber stolze lungenkranke Frau Katerina und ihre Kinder vorfindet und von der Tochter Sonja (Sof ’ja Semënova) hört, die – obgleich noch sehr jung – als Prostituierte die Familie unterhält. Einem Brief seiner Mutter entnimmt Raskol’nikov, dass sich seine Schwester Avdot’ja (Dunja) aus finanziellen Gründen, um sein Studium zu sichern, entschlossen hat, den reichen Anwalt Lužin in Petersburg zu heiraten. Aus diesem Grunde wollen Mutter und Tochter in die Hauptstadt reisen. Der entsetzte Raskol’nikov erkennt, dass seine Schwester im Rahmen der bürgerlichen Konvention dasselbe tun will, was Sonja außerhalb derselben zu tun gezwungen ist. Er irrt durch die Stadt, schützt 96
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ein fremdes Mädchen vor einem Zudringlichen; er neigt überhaupt zu spontanen altruistischen Handlungen. Er fällt erschöpft in einer Parkanlage nieder, wo er die Nacht verbringt und im Traum eine Szene aus seiner Kindheit sieht, in der ein Pferd brutal zu Tode gequält wurde. Dieser Traum spiegelt seine seelische Verfassung, das Empfinden seiner eigenen Ohnmacht, ist aber auch als Warnung seines Unterbewusstseins vor der geplanten Tat zu verstehen.
Abb. 30: Raskol’nikov und Marmeladov, Illustration von Michail P. Klodt, 1874 Durch Zufall hört er ein Gespräch junger Studenten, in dem ähnliche Gedanken über die Rechtfertigung eines Verbrechens aus sozialer Notlage geäußert werden, wie er sie sich zurechtgelegt hat. Durch Zufall erfährt er weiterhin, dass am Abend die Wucherin allein in ihrer Wohnung sein wird. Durch Zufall gelingt es ihm, auf dem Wege zu der Pfandleiherin ein Beil zu entwenden, mit dem er sie und ihre unvorhergesehen hinzugekommene geistesschwache unschuldige Schwester Lizaveta erschlägt. Eine Reihe weiterer Zufälle ermöglicht sein unentdecktes Entkommen und das Verstecken der kläglichen Beute. Als Folge der Tat erkrankt Raskol’nikov an einem Nervenfieber, liegt drei Tage bewusstlos und wird von seinem tüchtigen Freunde Razumichin und dem Arzt Sosimov gepflegt. Nachdem er einigermaßen wiederhergestellt ist, kommt es zu einer heftigen Szene mit Lužin, dem Bräutigam seiner Schwester. Raskol’nikov wird – wieder zufällig – Zeuge eines tödlichen Unfalls Marmeladovs, in dessen Wohnung er Sonja kennenlernt. Mutter und Schwester reisen an und 97
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sind von der Verfassung Raskol’nikovs und seinem sonderbaren Verhalten, das sie sich nicht erklären können, bestürzt. Raskol’nikov sucht die Wohnung der Ermordeten, die inzwischen renoviert wird, noch einmal auf und macht sich durch weitere Merkwürdigkeiten seines Auftretens verdächtig. Die Totenfeier für Marmeladov endet mit einem Skandal, an dessen Folgen seine Witwe Katerina verstirbt. Ein rätselhafter ehemaliger Gutsnachbar namens Svidrigajlov, bei dem Dunja als Gouvernante gedient und von ihm behelligt worden war, ist ebenfalls nach Sankt Petersburg gereist und übermittelt ihr und der Mutter einen Erbanteil seiner verstorbenen Frau und übernimmt die Versorgung der mittellosen Waisen Marmeladovs. Auf Raskol’nikovs Drängen bricht Dunja mit Lužin, Raskol’nikov besucht Sonja in ihrem Miet- und Arbeitszimmer, wo sie von Svidrigajlov, der sich im Nachbarzimmer eingemietet hat, belauscht werden.
Abb. 31: Svidrigajlov, Illustration von Dementij Smarinov Raskol’nikov – aus Furcht vor Entdeckung und wachsenden Zweifeln am Sinn seiner Tat gepeinigt – wird immer verstörter und unsicherer und fällt wieder in ein tagelanges Delirium. Allerdings hat er sich in drei langen Gesprächen mit dem Untersuchungsrichter Porfirij Petrovič, der ihn durchschaut hat, und durch Diskussionen über die möglichen Gründe und Motivationen von Verbrechen zu einem Geständnis bewegen will, nicht überführen lassen. Porfirij hat keine Beweise gegen ihn in der Hand, und wieder hilft ein Zufall: Genau in dieser Phase bezichtigt sich vor Porfirij ein Sektierer namens Mikolka des Doppelmordes an den beiden Op98
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fern, weil er – wie sich später herausstellt – fremde Schuld auf sich nehmen und leiden will. Er muss festgenommen werden, Raskol’nikov wird nicht mehr verhört. Am zehnten Tag nach der Untat gesteht schließlich Raskol’nikov Sonja sein Verbrechen, was Svidrigajlov hinter der Zimmerwand mit anhört. Da ihn aber Svidrigajlov weder in einem langen Gespräch zur gemeinsamen Flucht nach Amerika bewegen, noch Dunja zu Liebesdiensten veranlassen kann – auch nicht unter dem Eindruck von Raskol’nikovs Geständnis, mit dem er sich Dunja gefügig machen will – und da sich Svidrigajlov nun in Erkenntnis der sinnlosen Leere seines Lebens unter makabren Umständen erschießt, sind eigentlich alle Verdachtsmomente und Gefahren für Raskol’nikov beseitigt, und er könnte sich jetzt sicher fühlen. Aber er verabschiedet sich von seiner Familie und seinem Freund Razumichin, er küsst auf Sonjas Rat in einer symbolischen Handlung auf dem belebten Heumarkt die Erde, und stellt sich – nicht Porfirij, sondern dem Polizeibeamten Il’ja Petrovič Poroch (= Pulver). Nach fünf Monaten, so erfährt man aus dem Epilog, wird infolge mildernder Umstände ein humanes Urteil gesprochen. Er wird zu acht Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, wohin ihm Sonja folgt. Seine Schwester heiratet seinen lebenstüchtigen Freund Razumichin, seine Mutter ist jedoch neun Monate nach Prozessbeginn an den Folgen der Aufregungen, die sie in Sankt Petersburg erleben musste, verstorben. Soweit das Romangeschehen, das – wie meine Hinweise auf die vielen Unwahrscheinlichkeiten und Zufälle zeigen – die Mittel des Kolportageromans durchaus nicht verschmäht und nach Thema und Handlung als ein Kriminalroman angesehen werden kann. Allerdings unterscheidet sich der Roman vom traditionellen Typ dieser Gattung, weil ja der Leser von Anbeginn an den Mörder kennt, was auch auf den Untersuchungsrichter zutrifft. Dostoevskijs Interesse gilt also weniger der Aufdeckung des Verbrechens – wie dies etwa bei seinem Zeitgenossen Edgar Allen Poe der Fall ist – als vielmehr der Darstellung und Analyse eines Erkenntnisprozesses, der sich nach vollbrachter Tat im Täter vollzieht und ihn selbst nach Strafe verlangen lässt. Der Verbrecher interessiert hier, insoweit durch seine Absicht und seinen Willen, eine philosophisch-ideologische oder moralische Idee hervortritt, wenn sich sein Verbrechen als Symptom einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen oder gesellschaftlichen Krise erweist. Damit wird der Kriminalroman zu einer psychologischen und zeit- und gesellschaftskritischen Studie.
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In diesem ersten der großen Romane hat Dostoevskij geradezu eine ganze Serie von Verbrechen und Abnormitäten in das Geschehen eingeflochten. Raskol’nikov mordet die Pfandleiherin und wird durch das Erscheinen ihrer Schwester gezwungen, auch diese zu töten.
Abb. 32: Die ermordete Pfandleiherin, Illustration von Nikolaj Karazin, 1893 An diese Morde schließt sich der Selbstmord Svidrigajlovs an; der Roman spielt streckenweise in asozialem Milieu, Sonja ist eine Prostituierte, ihr Vater Alkoholiker, Svidrigajlov ist sexuell abartig veranlagt, hat seine Frau in den Tod getrieben und es hat ihn nach kleinen Mädchen gelüstet, Sonja ist indirekt am Tode ihrer Stiefmutter und Raskol’nikov auch noch am Tode seiner Mutter schuld! Der Titel des Romans in der deutschen Übersetzung „Schuld und Sühne“ ist nicht zutreffend, der russische Titel „Prestuplenie i nakazanie“ enthält zunächst juristische Begriffe, nämlich „Verbrechen und Strafe“. Vom Wortsinn, von Etymologie und Semantik her gesehen, finden sich in diesen Termini aber auch Hinweise auf die ethischen Grundlagen des russischen Rechtsverständnisses. „Prestuplenie“ enthält auch die Bedeutung von Übertretung, Missachtung, Verstoß gegen Gebote („prestupit’“ bedeutet übertreten), und in „nakazanie“ steckt „Aufzeigen“ und „Zurechtweisung“. Insoweit enthält der zweigliedrige Titel die Grundidee des Romans, die nach Ludolf Müller lautet: Ein Mensch „übertritt“ durch einen Mord die bürgerlichen und ethischen Gesetze, er wird zurechtgewiesen durch die sühnende Kraft der Strafe – Stra-
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fe also nicht eigentlich als Vergeltung verstanden – und er erhält die Chance der Rückkehr in die menschliche Gesellschaft, oder – wie es im Romantext heißt: Der Wiederauferstehung von den moralisch Toten durch die heilende und versöhnende Kraft der Liebe.1
Insoweit ist „Verbrechen und Strafe“, wie Svetlana Geier in ihrer Übersetzung titelt, gewiss sprachlich korrekt, aber auch „Schuld und Sühne“ ist als sinn-interpretierend durchaus nicht als falsch anzusehen. Rodion Romanovič Raskol’nikov trägt einen sprechenden Namen, der „gespalten“ bzw. „abgespalten“ bedeutet und auch auf den Begriff „Raskol“ verweist – damit wird das Schisma in der russisch-orthodoxen Kirche bezeichnet, die Abspaltung der sogenannten „Altgläubigen“, der „Raskol’niki“ von der russischen Staatskirche und ihren Reformen im Jahre 1666. Raskol’nikov tritt gleich zu Beginn des Romans als getrennt, losgelöst, abgespalten vom eigentlichen Leben und seinen wesentlichen Kräften auf: In seinem kleinen, schrank- oder sargähnlichen Zimmer, im glutheißen Sommer 1865, ist er in der „unnatürlichen“ künstlichen Stadt Sankt Petersburg getrennt, abgespalten vom Boden (počva), der Erde, dem steten und unersetzlichen Kraftquell des Menschen – hier findet sich ein Reflex der Ideologie des „počvenničestvo“, der „Bodenständigkeit“. Dazu gehört, dass er als Intellektueller abgespalten ist vom russischen Volk, dem Träger der wahrhaften und synthetisch ganzheitlichen Lebensauffassung (vgl. die Ideologie der Bodenständigkeit und die Lebenserfahrung in den Aufzeichnungen aus einem Toten Haus). Am wichtigsten ist jedoch, dass Raskol’nikov als einseitiger Rationalist von den tieferen, elementaren, emotionalen und irrationalen Schichten der vollwertigen menschlichen Persönlichkeit abgespalten ist. Die organische Einheit, die Totalität des Menschseins ist ihm verloren gegangen, der „euklidische Verstand“ (vgl. Aufzeichnungen aus dem Untergrund), die Ratio dominiert und verführt ihn: Raskol’nikov ist von der Idee des privaten und sozialen Nutzens und Fortschritts als höchstem Wert überzeugt und hat diese Idee sogar in einer Theorie entfaltet: Um eine gerechte Gesellschaft, die rational zu ermittelnde und somit allbeglückende Norm sozialen Lebens zu realisieren, ist Führungspersönlichkeiten, Führernaturen erlaubt, Hemmnisse zu beseitigen, notfalls auch widerspenstiges oder untaugliches Leben zu vernichten. Im Grunde ist das, was Raskol’nikov hier ideologisch erwägt, der folgende Gedanke: Im Namen eines höheren Ziels, hier der Durchsetzung einer neueren und besseren Lebensordnung ist der von dieser Idee 101
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ergriffene und überzeugte Führer berechtigt und sogar verpflichtet, diese Idee zu verwirklichen, notfalls auch gewaltsam; nicht nur gegenüber Feinden und Gegnern, sondern er muss gegebenenfalls auch Unschuldige opfern, wenn dies die aktuelle Situation erfordert. Woran bemisst sich aber nun die Richtigkeit und Fortschrittlichkeit einer solchen Idee? Am rationalen und verifizierbaren Konzept, wenn es in sich stimmig ist und gegenüber der bestehenden Ordnung grundsätzliche Vorteile bringt. Woher begründet sich das Recht und die Kompetenz des Führers? An seiner äußeren und besonders inneren Kraft im Interesse des Zweckes und Ziels der Idee, mögliche moralische Bedenken, den Kantischen Kategorischen Imperativ zu überwinden und mit der Gewissensbelastung von Verbrechen im landläufigen Sinne, ja auch von Morden leben und sie aushalten zu können. Haben große Persönlichkeiten wie z. B. Napoleon im Interesse der Realisierung ihrer Idee, ihrer politischen Mission nicht Taten begangen, die am Maßstab der Normallage moralischer Bewertung gemessen als Verbrechen, Übertretungen eingeschätzt werden müssen? Raskol’nikov hat dabei sowohl unrechtmäßige Aktionen bei politischer Machtergreifung als auch Aggressionen und Kriege mit ihren zahllosen Opfern im Blick. Er glaubt aufgrund der Tatsache, dass er diese Idee erkannt hat, selbst diese Führer- und Übermenschenqualitäten zu besitzen. Es bedarf aber ihres Beweises, der Mord wird so zum Experiment des Täters mit sich selbst. Gehört er zur Kategorie des Übermenschen? Ist er ein Napoleon oder eine schwache, zitternde Natur, eine Laus? Die Übermenschentheorie verdankt sich auch der Anregung seiner Zeit. Sie ist ein Protest gegen die Milieutheorie, verarbeitet Thesen Thomas Carlyles (1795–1881) vom großen historischen Individuum (u. a. On Heroes and Hero Worship and the Heroic in History, 1848), und Max Stirners (eigentlich Johann Caspar Schmidt, 1806–1856) Der Einzige und sein Eigentum (1844), sie ist inspiriert von ähnlichen Gedankenspielen in Werken Victor Hugos und Honoré de Balzacs, in dessen Roman Le Père Goriot (1843) der Student Rastignac die Frage erörtert, ob man den Tod eines fernen chinesischen Mandarins wünschen und in Kauf nehmen dürfe, wenn er die Voraussetzung ersehnten Reichtums bilden würde. Während der Arbeit an Schuld und Sühne konnte Dostoevskij das gerade erschienene Werk Napoleons III. (1803–1873) Histoire de Jules César (1865/66) zur Kenntnis nehmen, in dem historische Persönlichkeiten wie Caesar, Karl der Große oder Napoleon I. Bonaparte als überlegene Ausnahmenaturen charakterisiert werden, 102
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auf die die Regeln und Normen der üblichen Gemeinschaft nicht angewendet werden dürfen. Zugleich soll im Roman der Mord aber auch der Beschaffung der nötigen Mittel dienen, die für Raskol’nikov und seine verarmte Familie zum Lebensunterhalt nötig sind. Mit dem geraubten Geld will Raskol’nikov sein Studium und damit die Grundlage seiner zukünftigen Pläne finanzieren. Vor der geplanten Tat ekelt sich sein moralisches Empfinden („Diese Laus zu töten lohnt nicht“). Sein Unterbewusstsein rebelliert sogar dagegen: In dem erschütternden Traum, wie er als Kind die Misshandlung eines Pferdes erlebte, erfuhr er in seinem Unterbewusstsein den Protest gegen das Töten eines lebenden Wesens. Aber Raskol’nikov bezwingt diese warnenden Signale seines Gewissens, die er für Anfälle von Schwäche hält, weil er – gedrängt vom Verstand und von der eigenen sozialen Not – hierin nichts anderes sieht, als ein nur rationales Rechenexempel: Was bedeutet ein Tod, und auch noch der Tod eines minderwertigen Lebens, wenn er Hunderten Leben zum Vorteil gereicht? Gegen den rational klaren Utilitarismus dieses Mordes und seiner – nach Raskol’nikov – logischen Konsequenzen gibt es keine rational ebenso einsichtigen Gegenargumente: Der Zweck heiligt die Mittel, der Tod der Pfandleiherin befreit ihre vielen elenden Schuldner aus existenzbedrohender Schuldverschreibung. Ein geradezu unaufhaltsamer Zwang treibt Raskol’nikov zur Tat, aber direkt danach setzen Ereignisse ein, die die Allmacht der Ratio des genau kalkulierten Vorgangs erschüttern: Das sind eben die Zufälle, die es Raskol’nikov ermöglichen, unentdeckt vom Tatort zu entkommen und Indizien zu beseitigen. Ganz überraschend betreten nach der Tat zwei Tüncher das große Mietshaus, dessen Treppenhaus sonst um diese Zeit nach Raskol’nikovs Beobachtungen nicht begangen ist. Hinter einer zufällig offenen Tür kann er sich verbergen. Dann folgt auf den Mord der völlige physische Zusammenbruch Raskol’nikovs. Auch das zeigt, die Ratio, der Verstand ist eben nicht die einzige und dominierende Kraft des menschlichen Lebens. Raskol’nikovs Gewissen kann das Vorgefallene nicht mit der Stärke, die er sich selber zuerkannt hatte, verarbeiten. Er wird damit nicht fertig. Nach tagelangem Delirium genest er schließlich, aber erlebt sich nun, abgespalten von der Welt und den Menschen, total vereinsamt. Die Folge seiner Tat ist seine seelische Vereinsamung, der psychische Tod Raskol’nikovs. Er ist nun aber auch kein solcher Schwächling, dass er sich diesem Prozess ganz widerspruchslos hingäbe. Er kämpft mit sich und seinen Zweifeln, erprobt seine Kräfte an seinem ihm eigentlich intellektuell nicht voll gewachsenem geschäftigen Freund Razumi103
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chin, vor allem aber am Kommissar2 Porfirij Petrovič, bei der Polizei, – wohin er freiwillig, aus logischer Sicht aber grundlos, geht, – lenkt er die Spuren der Untersuchung geradezu auf sich selber. Porfirij Petrovič, ein äußerst raffinierter Untersuchungsbeamter und zugleich brillanter Psychologe, begreift sofort, dass Raskol’nikov kein üblicher Raubmörder ist, sondern dass hier ein Verbrechen aus einer Idee geschehen ist, und er legt die Aufklärung des Verbrechens so an, dass er vor allem Motivationen und ideelle Triebkräfte herausfinden und überprüfen möchte, um auf diese Weise Raskol’nikov ein Geständnis abzuringen. Das Leitmotiv in der Darstellung dieses Prozesses zur Ermöglichung der Aufklärung wird für Raskol’nikov die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus im 11. Kapitel des Johannesevangeliums. Porfirij fragt Raskol’nikov, ob er an die Auferstehung des Lazarus glaube. Raskol’nikov bejaht die Frage. Dann lässt er sich diese Geschichte von Sonja vorlesen. Man wird das so zu verstehen haben, dass Raskol’nikov jetzt um Glauben daran ringt, ob auch er als psychisch Zerstörter, als seelisch Toter, wie er sich nach der Tat zuweilen empfindet, auf eine Auferstehung hoffen kann, ohne so naiv wie Sonja die Geschichte als wirklich annehmen zu können. Im Epilog wiederholt sich eine dritte Erwähnung der Lazarus-Geschichte. Dort fragt sich Raskol’nikov, ob er nicht Sonjas Überzeugung übernehmen solle, wenigstens ihre Gefühle, ihr Streben! Allerdings eben auch nicht mehr! Kurz zuvor hatte er noch den Gedanken an seine Schuld, wie er sie verstand, zurückgewiesen und gemeint, er habe Fehler gemacht, für die er jetzt büßen müsse. Die Verstandestätigkeit des Menschen, das Sichverhalten nach nur logischen Erwägungen als dominierender Maxime des Lebens wird nun in Zweifel gezogen. Eine Wandlung, eine Auferstehung wird gerade durch die Liebe zu Sonja wahrscheinlich, aber sie ist auch im Epilog noch nicht vollzogen. Das wäre dann die dort angedeutete andere Geschichte. Der Prozess der Wandlung Raskol’nikovs vollzieht sich nach Ludolf Müller3 in fünf Phasen. Zunächst 1.) die Einsicht seiner individuellen Unzulänglichkeit und der damit verbundenen Fragwürdigkeit seiner Übermenschenlehre für ihn selbst. Mit der alten Wucherin hat sich Raskol’nikov seelisch und moralisch selber getötet, weil sich eine Kraft in ihm unbezwingbar meldet, die eigentlich vom rationalen Kalkül beherrscht sein müsste: das Gewissen, die innere moralische, nicht rationale Stimme im Menschen, die ihn schuldig spricht und verurteilt für die schäbige und miese Tat an den unschuldigen Opfern. Das Gewissen macht ihm den Unterschied klar, zwischen dem glatten rationalen Planen und Konstruieren des Vorhabens und der 104
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Belastung, dem Druck nach der Tat, die eben nicht rückgängig zu machen ist, und deren Last auf der Seele des Mörders bleibt. Das sind erste Anzeichen von Reue und Gewissen bei Raskol’nikov. 2.) Raskol’nikov erwägt, sich zu ertränken, kommt aber zu der Einsicht, auch ein Selbstmord würde nichts an seiner Lage ändern, sondern nur dem seelischen Tod den physischen hinzufügen und somit die Möglichkeit einer Wiedergeburt nehmen, denn er erkennt zunehmend einen irrationalen Lebenswillen, der stärker ist als sein Reflektieren, aber auch als Resignation und Kapitulation. 3.) Raskol’nikov erkennt langsam und schmerzhaft, dass eine Rettung aus seiner Isolation und Gewissensqual nur in seiner Annahme der Schuld bestehen kann. Dazu verhilft ihm Sonja. Er gelangt zu der Einsicht, dass ein öffentliches Schuldbekenntnis ihn durch Leiden und Buße zu einem neuen Leben führen kann: Die Strafe wird von Raskol’nikov nun weder als Wiedergutmachung, die ja ohnehin unmöglich ist, noch als Vergeltung, sondern als Entsühnung begriffen. Das Urteil und die Strafzumessung haben also nicht den Sinn einer Vergeltung, sondern der Lossprechung des Verbrechers von seiner Übeltat, oder theologisch gesprochen als Absolution des Sünders. Hier findet sich Dostoevskijs spezifische Rechtsethik auf dem Hintergrund eines in diesem Zusammenhang liberalen russischen Rechtssystems, das Mord nicht zwingend mit der Todesstrafe, sondern mit Verbannung und Katorga bestraft. 4.) Das vierte Stadium der sich wandelnden Einsichten Raskol’nikovs ist die irrationale Kraft der Liebe, der Liebe Sonjas zu Raskol’nikov und umgekehrt. Raskol’nikov erfährt die heilende und bindende Kraft der Liebe als ein tiefes Gefühl jenseits jeglicher Vernunfts- und Nützlichkeitsregeln, ja geradezu dagegen: Dass Sonja und er sich lieben, lässt sich weder vorausberechnen, noch als logische Verstandeshandlung kausal als notwendig begründen. Dennoch ist diese Liebe eine Kraft und Sinngebung des Lebens gerade dort, wo die Ratio versagt. Sonja und Raskol’nikov lieben sich in der Totalität ihres geistigen, seelischen und körperlichen Seins, in ganz ausgewogenem Maße empfinden sie Mitleiden, Achtung und erotische Anziehung füreinander. Darum „liegen im Herzen des Einen ganz unendliche Lebensquellen für das Herz des Anderen beschlossen“. Dieses neue Leben der Liebe kommt also nicht aus dem Verstand, sondern zuerst und vor allem aus dem Gefühl. 5.) Daraus folgt als fünftes und letztes Stadium der „Wiedergeburt“ Raskol’nikovs ein Bewusstseinswandel zu einem neuen Menschen mit einer neuen, anderen Lebenshaltung. Aber das wird noch nicht vollzogen, sondern nur angedeutet. Wie sich 105
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dieses neue, aus dem Diktat der Ratio befreite Bewusstsein Raskol’nikovs zeigen wird, ist im Roman nicht mehr ausgeführt. Nur vage wird im Epilog angedeutet, das Neue Testament enthalte die Grundzüge jenes Bewusstseins, wie es sich aus der neu gewonnenen Grundhaltung Raskol’nikovs ergibt. Es wird nicht mehr von Vernunft und Zweckmäßigkeit bestimmt sein, auch nicht von einer voluntativ bejahten Annahme religiösen Glaubens, Raskol’nikov fürchtet in diesem Stadium sogar, Sonja werde ihn in der sibirischen Verbannung mit dem Neuen Testament und religiöser Erbauung traktieren! Es ist anzunehmen, dass es der langsame, reifende und in leidvoller Erfahrung sich läuternde Übergang zu einem Leben bzw. einer Lebenshaltung im Geiste Christi sein könnte, so wie Dostoevskij Christus verstanden hat. (Erinnert sei an Dostoevskijs Bewusstseinswandel, wie er ihn in der Katorga und Verbannung einst erfahren hatte.) Die Interpretation der Ideologie und Wandlung Raskol’nikovs gibt aber keineswegs eine erschöpfende Deutung des Romans, und etwa Anhänger Bachtins und seiner Schule würden mit Recht den Vorwurf der Homophonisierung des polyphonen Romans erheben, seine Reduktion auf eine Hauptfigur und eine Hauptidee, der alles Weitere strukturell nachgeordnet ist. Das ist richtig, der Roman heißt nicht „Raskol’nikov“, und diese Figur nimmt zwar einen zentralen Platz ein, aber sie hat nicht die ideell und kompositorisch immer nur allein führende Position, wie das etwa Maximilian Braun meint.4 Bachtin hat zu Recht auf die breite und häufige Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehensverläufe im Roman aufmerksam gemacht, auf die räumliche Enge, die in Schwellensituationen überschritten wird im Übergang von einem Handlungsraum in einen anderen und schließlich in der offenen Weite am Irtyš in Sibirien ausklingt. Vom raumzeitlichen Verlauf des traditionellen Handlungsromans erfolgt hier der Übergang in den sogenannten polyphonen Roman, in dem Parallelität, Gleichzeitigkeit besonders hervortritt und in Folge dessen die bisher hierarchisch geordnete Personenkonstellation in Haupt-, Komplementär- und Nebenfiguren – wie z. B. in Ivan Turgenevs Romanen, etwa Väter und Söhne (Otcey i deti, 1862), auf den es in Schuld und Sühne auch intertextuelle Verweise gibt –, überwindet. Viele der agierenden Personen erhalten eigene Positionen und Stimmen und agieren gleichwertig nebeneinander, auch neben der Erzählerstimme – Bachtin spricht unpräzise von „Autor“ – die sich zurücktretend in das Figurenensemble als nur mitwirkend einfügt. Damit hat Bachtin zweifellos eine wesentliche Eigenart des Romans hinsichtlich seiner Struktur erkannt und einen bedeutenden Erkenntnisgewinn erzielt. 106
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Aber indem Bachtin in formalistisch strukturalistischer Art sich vor allem auf die Konstruktionsfaktoren und –verfahren konzentriert und ihre Funktion als Ideenund Überzeugungsträger vernachlässigt, zieht er einen voreiligen Schluss hinsichtlich der Gleichwertigkeit aller handelnden Figuren einschließlich der des Erzählers/ Autors. Er übersieht, dass – auch wenn sich periphere und beigeordnete Gestalten aussprechen und breit entfalten können – diese eben doch nicht gleichwertig neben die zentrale Idee und Autorintention treten. Das erkennt man einmal an der jeweiligen Stillage, am Personalstil der Romanfiguren: So spricht Lužin in einem geschraubt bürokratischen und belehrenden Stil und konterkariert damit seine Glaubwürdigkeit und Gleichwertigkeit ebenso wie Lebesjatnikov, dessen ausführliche Auslassungen über das freie Leben in sozialistischen Kommunen im Geiste von Nikolaj Černyševskijs Tendenzroman Was tun? (Čto delat’?) in einem naiv lächerlichen Stil (mit entsprechender Emphase und Gestik) vorgetragen werden. Der Autor/Erzähler bedient sich auf diese Weise einer verborgenen, raffinierten Lesersteuerung – Horst-Jürgen Gerigk (2013) nennt das eine „machiavellistische Poetik“ Dostoevskijs – die seine wertende Wahrnehmung in der Lektüre auf das ideelle Ziel, auf das es ihm ankommt, hin lenkt. Das bestätigt auch eine Aussage Dostoevskijs selbst, in der er erklärt, die Qualität eines Romans bemesse sich daran, wie es gelinge, eine zentrale Idee überzeugend zu gestalten und zu vermitteln. Da die zentrale Idee im Roman Schuld und Sühne Raskol’nikov in den Mund gelegt und von ihm leidend überprüft und widerlegt wird, ist ungeachtet der polyphonen Konstruktion des Romans dieser Gestalt größere Aufmerksamkeit zu widmen. Ebenso ein Instrument der Lesersteuerung, das in der Übersetzung weitgehend verloren gehen muss, ist die Verwendung sprechender Namen, die einen ersten äußerlichen Persönlichkeitseindruck erzeugen. Raskol’nikovs Familienname wurde bereits erklärt, der Ex-Bräutigam Dunjas und Hofrat Lužin trägt den Vor- und Vatersnamen Pëtr Petrovič, was auf Peter den Großen als Urheber der „unheilvollen“ Verwestlichung verweist. Sein Familienname ist von „Luža“, das bedeutet „Pfütze, Lache“, hergeleitet und spricht für sich selbst. Ebenfalls „Petrovič“ ist der Vatersname des Untersuchungsrichters, dessen Familienname nicht genannt wird. Sein Vorname „Porfirij“ hängt mit „Porphyr“ zusammen, was neben Gold und Purpur die Symbolfarbe der kaiserlichen Macht in der römischen Antike war, verweist also auf ein westlich weltliches Rechts- und Staatsverständnis. Der Name des extrem progressiven Westlers und Sozialisten Lebesjatnikov, der pikanterweise Ministerialbeamter ist, leitet sich von dem Verb „lebezit’“ ab, was „katzbuckeln, kriechen, schar107
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wenzeln“ bedeutet und ihn als intellektuellen Lakaien abstempelt; „Marmeladov“ bedarf keiner Erklärung, „Svidrigajlov“ dürfte von dem litauischen Fürsten des 16. Jahrhunderts Vitrigajlos hergeleitet sein, der sich in verräterischer und prinzipienloser Weise mit wechselnden Partnern verbündet und diese dann gegeneinander ausgespielt und hinterhältig angegriffen hat; die zänkische und inhumane Zimmervermieterin Marmeladovs, ein Klatschmaul zudem, ist Deutsche und heißt „Frau Lippewechsel“. Sonja, eigentlich „Sof ’ja Semënovna“, trägt den Namen der heiligen Sophia, der Bezeichnung für die göttliche Weisheit, besonders in der orthodoxen Welt. Sie hat in der ostslavischen Literaturtradition eine bedeutende Rolle gespielt bis in die Religionsphilosophie Vladimir Solov’ ëvs und die Dichtung der russischen Symbolisten. Sonja, die an die sanften Heldinnen wie Var’ja Dobrosëlovna in Arme Leute oder Liza in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund erinnert, lässt Raskol’nikov spüren, dass es etwas gibt, was er nicht rational fassen kann. Sonja will Raskol’nikov aber nicht überführen wie Porfirij, sondern mit Gott und Christus, dem göttlichen Gebot der moralischen Weltordnung wieder versöhnen. Völlig neu ist, dass sie, die Gefallene, Prostituierte, erlösen und retten soll und nicht gerettet werden, was üblicherweise die Rolle der Prostituierten war und somit eine völlige thematische und motivische Umkehrung der gewohnten Gestaltung dieser Figur bedeutet. In Sonja sind die bürgerlichen Vorstellungen von Moral und Sünde (käufliche Liebe) aufgehoben durch die Naivität, Kindlichkeit und unmittelbare Reinheit, die das Verworfene ihres Tuns gar nicht so recht begreift. Offenbar ist sie noch unfähig für sexuelles Lustempfinden. Wie ist aber dann ihre Fähigkeit erklärbar, Raskol’nikovs moralisches (genauer eigentlich amoralisches) System zu erschüttern? Das geschieht durch Sonjas mit ihrer Naivität verbundenen Religiosität. Von ihrem unreflektierten, naiven, und dabei so ganz natürlichem Glauben wird Raskol’nikov beeindruckt. Er findet bei ihr einen Halt und als Vereinsamter Kommunikation. Sie ist aber keine „Heilige“ – in Sibirien verbindet sie mit Raskol’nikov auch durchaus positive sexuelle Liebe: Die Erschütterung seiner Idee und die emotionale und physische Kraft der Liebe bringen Raskol’nikov zur Wandlung (in einigen Entwürfen ist die Rolle der Sexualität noch ausgeprägter dargestellt). Sonja ist also durch Naivität und geradezu kindliche Einfalt charakterisiert, sie begreift Raskol’nikovs Ideen und Motive gar nicht; als ihr Raskol’nikov als erster seine Tat beichtet, will sie gar nichts weiter davon wissen, wichtig ist ihr nur eines: Raskol’nikov ist durch seine Tat unglücklich, ihm muss man helfen. Sie hat zunächst mit ihm Mitleid, daraus 108
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wird ganz behutsam Liebe. Sonja entschuldigt Raskol’nikov, der aus Mitleid mit den schuldlosen Opfern der sozialen Ungerechtigkeit zum Verbrecher geworden ist. Sie empfindet Mitleid mit einem Menschen, der sich selber ins Unglück gebracht hat. Hier entsteht ein Ideenstreit zweier zunächst gleichwertiger Positionen, die aber von ungleichen Trägern repräsentiert werden. Sonja vertritt die Idee der Wiedergeburt durch Glauben und christliche Demut, Raskol’nikov die Hybris des Übermenschen, das Modell der Ratio. Auf Raskol’nikov wirkt sie durch ihren naiven und unerschütterlich von der Gültigkeit einer göttlichen Wahrheit, eines göttlichen Rechts überzeugten Glauben ein. Porfirij ist demgegenüber der überzeugte und engagierte Verfechter einer irdischen Wahrheit, eines irdischen Rechts als Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung, die ohne kodifiziertes Recht und dessen Anerkennung, Geltung und Durchsetzung nicht funktionieren kann. Eine dritte Kraft schließlich, die auf Raskol’nikov einwirkt, ist die menschliche und physische Natur, die sich schließlich zu einem positiven, allumfassenden Empfinden vom Wert und von der Schönheit des Lebens verdichtet. Die Ratio und ihre bloß logischen und utilitaristischen Maßstäbe vertreten weitere Romanfiguren, so Arkadij Ivanovič Svidrigajlov als Typ des Bösen, des Verführers (vergleichbar dem „Untergrundmenschen“ und dem Fürsten Valkovskij in den Erniedrigten und Beleidigten). Svidrigajlov ist ein zynischer Egoist, lebt nur dem Genuss und der Lustbefriedigung, hat bedenkenlos Verbrechen begangen (wahrscheinlich einen Giftmord an seiner Frau), vermag Spuren perfekt zu tilgen und hinterlässt keine Indizien. Ein Gewissen ist ihm fremd, obwohl er konventionell auch Gutes tut aus taktischem Kalkül, nicht aber aus Überzeugung. Er versteht Raskol’nikovs Theorie und billigt sie vorbehaltlos und zugespitzt: Starke Persönlichkeiten haben das Recht, Normen und Regeln der Ethik und Moral der gewöhnlichen Sterblichen, der Herdenmenschen, zu missachten; er führt mühelos und ganz selbstverständlich aus, womit Raskol’nikov selbstquälerisch experimentiert. Die Funktion des Svidrigajlov ist die eines Doppelgängers Raskol’nikovs, er bietet die logische Konsequenz von Raskol’nikovs Idee in der Weise, als er zeigt, dass der „starke Verbrecher“, der einen Mord begehen und ertragen kann, mit der Übermenschen-Ideologie als Tarnung und Alibi die Rechtfertigung für seine zynische und egoistische Amoralität geliefert bekommt und zufrieden auch ausnutzt. Verpflichtungen gegenüber Familie, Freunden und der Gesellschaft, die Raskol’nikov auch nach dem Mord glaubt erfüllen zu müssen, diffamiert Svidrigajlov als klägliche Schwäche und sagt ihm, „Sie hätten 109
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die Finger davon lassen sollen von dem, was Sie ja gar nicht tun können!“ Wer wie Napoleon ein Übermensch sein will, muss rational konsequent handeln, so wie es Svidrigajlov tut, klug, unmoralisch, bedenkenlos und stark. Die Gewissensbisse und Qualen Raskol’nikovs sind durch seine schwache Sklavenseele verursacht und motiviert. Ob Porfirij sein Tun – falls er es überhaupt entdeckt – als Verbrechen, Eigennutz, niedrig, verworfen usw. auslegt, ist völlig belanglos, weil es ja den beschränkten Moralkriterien der niederen Masse entspringt, die für einen Übermenschen, einen Napoleon, gar nicht gelten können, und um die er sich folglich auch überhaupt nicht kümmern soll. Insofern ist Svidrigajlov die Konsequenz von Raskol’nikovs Idee, aber wichtig ist, dass Raskol’nikov, obwohl er von Svidrigajlov fasziniert ist, diesem nicht zu folgen vermag, weil er zunehmend die irrationalen Mächte der Liebe und des demütigen Glaubens kennen und verstehen lernt und daraus folgend die Einsicht in die Notwendigkeit einer irdischen, sich moralisch begründenden Rechtsordnung akzeptiert. Warum scheitert Svidrigajlov? Warum endet er durch Selbstmord? Wohl aus tiefenpsychologischer Frustration. Sein radikaler und zerstörender Egoismus bietet letztlich seinen unbewussten Trieben und Willen zum Leben keine Befriedigung, sondern führt zu Enttäuschungen, zu einem Gefühl von Leere, Ziel-, Sinn- und Freudlosigkeit in einem leeren Vegetieren. Der Überdruss verkehrt sich angeekelt gegen sich selbst und endet als zerstörende Kraft mit der ihm immanenten Logik in Selbstzerstörung. Anzumerken ist noch ein wichtiger Nebensinn: Svidrigajlov verliebt sich – offenbar echt – in Raskol’nikovs Schwester Dunja, die dieser geradezu als Ideal anbetet. Das führt zu Trennung und Feindschaft zwischen Svidrigajlov und Raskol’nikov und für letzteren zur ernüchternden Einsicht in die eigene Schwäche und Schlechtigkeit angesichts der Kraft einer liebenden oder Liebe verweigernden Frau. Svidrigajlovs Intrigen, um Dunja zu gewinnen, scheitern. Seine Kraft wird zur Ohnmacht, als er begreift, dass er sich zwar mit Gewalt seine Opfer oder deren Körper gefügig machen kann, nicht aber deren Liebe und Seele gewinnen. Wahrscheinlich begreift Svidrigajlov vor seinem Selbstmord die Überlegenheit des Guten und der Moral im Menschen, denn wie anders wäre es zu erklären, dass er Sonja und Dunja sein nicht unbedeutendes Vermögen hinterlässt? In Svidrigajlov, Porfirij und Sonja sind die auf Raskol’nikov einwirkenden und in ihm ringenden Kräfte des Glaubens und des göttlichen Rechts, der irdischen moralischen Rechtsordnung und der übermenschlichen Hybris der Ratio so intensiv personalisiert, dass sie – jeweils aus ihren Maximen betrachtet, wie Maximilian Braun 110
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meint, eigene „Romane“ (das meint schicksalhafte Handlungen mit den genannten Figuren im Zentrum und dann auf diese bezogen, Raskol’nikov als Zusatzfigur) ergeben könnten, also selbständige Gedanken- und Ideenkomplexe bilden, – auch dies ein erweiterter Aspekt von Polyphonie. Diese Beobachtung ließe sich noch ausweiten um das Schicksal des Trinkers Semën Marmeladov oder das Leben Dunjas und Raskol’nikovs Mutter Pul’cherija als sekundäre Romansujets. Der Gleichgewichtung dieser verschieden wirkenden Komponenten entspricht auch die Komposition des Romans. Er bietet eigentlich keine sich geschehnisreich entwickelnde und steigernde Handlung, sondern die psychologische Entfaltung Raskol’nikovs in Auseinandersetzung mit den auf ihn einwirkenden Kräften. Zunächst sein Ankämpfen gegen die eigene Schwäche nach der Tat (Krankheit, Delirium), dann der Kampf mit dem Kommissar Porfirij und die Bewährung, dass Raskol’nikov die äußere Bedrohung zu bewältigen in der Lage ist. Sodann die ideologische Auseinandersetzung mit Porfirij um die Übermenschen-Idee, da greift Svidrigajlov ein und entlarvt Raskol’nikovs idealistisches Konzept als kaschierten Egoismus. Hier muss sich nun Raskol’nikov entweder mit Svidrigajlov identifizieren, oder in sich eine rechtfertigende moralische Qualität finden, die Svidrigajlov überwindet. Er sucht Hilfe und Verständnis bei Sonja, aber diese versteht nur sein Unglück und sein Elend, und das ist die endgültige Niederlage für Raskol’nikov: Er ist elend, schwach, braucht Mitleid. Raskol’nikov erkennt am Ende, der napoleonische Übermensch ist entweder ein zynischer egoistischer Verbrecher, oder nur eine Fiktion. Real kann es ihn überhaupt nicht geben. Schließlich ergibt sich die Vielschichtigkeit des Romans aus weiteren verschiedenartigen Themen außer denen der Ratio, Moral, Liebe und Religion. Daneben findet sich ebenso gewichtig soziale Kritik im Roman, genauer: an Kapitalismus, Profitgier und hilfloser Armut als Quellen des Verbrechens in einer nur an Gewinn und Profit orientierten Gesellschaft ohne soziale Regulierungsmechanismen. Aber keines der angerührten Themen wird einer endgültigen Lösung zugeführt. Sie alle erscheinen als empirische Fakten und mögliche Ursachen für Verfehlungen und Verbrechen, nicht aber als die wesentlichen, klar ermittelten Bedingungen dafür, z. B. hat Sonja Raskol’nikov zu Geständnis und Akzeptanz der Strafe bewegt, aber wodurch hat sie das bewirkt? Was war der exakte Beweggrund: Sonjas Religiosität? Aber Raskol’nikov wird ja selber nicht religiös und befürchtet sogar – wenn auch unbegründet – in der Verbannung Sonjas religiöser Naivität ausgesetzt zu sein; und verbindet sie eigentlich wirkliche Liebe? In echter Gemeinsamkeit hätte Sonja ja 111
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auch Verständnis für Raskol’nikovs Ideale und Ziele haben müssen. Davon ist nicht die Rede. Und zum Zeitpunkt von Raskol’nikovs Geständnis ist überhaupt noch nicht klar, ob sich beide lieben. Bleibt also die entscheidende Frage, die sich Raskol’nikov im Epilog stellt: Ist seine Theorie widerlegt oder ist er in seiner Schwäche der Gescheiterte, der Fehler gemacht hat? Eine eindeutige Antwort fehlt. Insofern ergibt sich nur die eindringliche Warnung, wozu eine solche Theorie führen kann. Der Epilog erscheint als der Versuch, aus dem Dilemma des Unaufgelösten herauszufinden. Der Erzähler nimmt die Gelegenheit zu einer persönlichen Stellungnahme zum Erzählten wahr, ohne in die Komposition und Architektur des Ganzen einzugreifen. Er bringt den Leser dazu, aus dem Geschehen des Romans den Schluss auf das gefährliche und deshalb verfehlte Falsche solcher Ideen selber zu ziehen. Dostoevskij lässt seinen Roman also offen enden. Den Beweis dafür finden wir übrigens sogar wörtlich formuliert: Der Epilog schließt mit den Worten: „Doch hier beginnt eine neue Geschichte …“ Dass Dostoevskij diese Neuerung, man könnte auch sagen, Ausweitung der Romangattung in die ungelöste Offenheit, auch künstlerisch ganz neu gestaltet, sei nur am Rande vermerkt. Gemeint ist das perspektivische Erzählen unter Zurücktreten des Erzählers. Es finden sich keine Beschreibungen, Belehrungen oder übergeordnete Charakteristiken eines allwissenden Erzählers. Stattdessen wird von innen erzählt, d. h. aus den zentralen Figuren heraus als Selbstdarstellung in inneren Monologen und erlebter Rede oder durch kaum merkliche Übernahmen intimer Erwägungen und Gedanken durch den sich perspektivisch einstellenden Erzähler. Das ist eine Vorstufe zur Technik des Bewusstseinsstromes im Roman des 20. Jahrhunderts. Zwar sind bei aller Offenheit und allem Themen- und Problempluralismus Raskol’nikov und sein Thema der Rechtfertigung des Verbrechens oder der Strafe und Sühne desselben im Hintergrund des ganzen Geschehens permanent anwesend, und die anderen Handlungen und Figuren Porfirij, Svidrigajlov, Sonja auf ihn bezogen und von ihm her motiviert, aber sie sind eben nicht mehr wie im traditionellen Roman Komplementärfiguren als Ergänzungen oder Aktionsmedien der Hauptfigur, sondern zu thematischer und problemhafter Selbständigkeit aufgrund ihrer eigenen Tiefe und Umfassendheit qualifiziert. Und noch etwas: Dostoevskijs Roman ist – im Vergleich mit der Tradition – ganz ahistorisch: Es wird weder die erklärende und motivierende Herkunft der Romanfiguren erzählt oder entwickelt, noch entfalten sich die wesentlichen Momente des Geschehens sukzessive und chronologisch in einem entsprechend langen Zeitraum: Die erzählte Zeit umfasst kaum vierzehn Tage, und alle die hier 112
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herausgestellten Ereignisse und Konflikte geschehen beinahe gleichzeitig und nebeneinander. Im polyphonen Roman dominieren nach Bachtin gleichzeitig rivalisierende gleichgewichtige Kräfte. Der zeitgenössischen Kritik und den Schriftstellerkollegen Dostoevskijs entgingen diese innovativen Eigenarten des Romans bzw. – wo sie erkannt wurden, wie etwa von Turgenev – wurden sie als Mängel getadelt, weil sie mit anderen ästhetischen und literarischen Kriterien maßen, die am traditionellen Personen- oder Gesellschaftsroman und am Erziehungsroman orientiert waren. Die linksgerichteten Zeitschriften, allen voran der Zeitgenosse, sahen in Dostoevskijs Raskol’nikov eine böse Diffamierung der progressiv und materialistisch eingestellten oppositionellen studentischen Jugend, aber auch in seiner wenig wirklichkeitsgetreuen und von zu vielen Zufällen und ungewöhnlichen Ereignissen ausgefüllten Handlung halte der Roman keinen Vergleich mit Turgenevs Meisterwerk Väter und Söhne aus. Der Kritiker des Zeitgenossen Grigorij Z. Elizeev (1821– 1891) verstieg sich zu einer solchen Entgleisung, dass Dostoevskij – im Unterschied zu Turgenevs „aufrichtiger Darstellung des Nihilisten Bazarov“ – sich in eine „dreckige Unterstellung geflüchtet“ habe, indem er in seinem Roman zeigen wolle, dass „liberale Ideen und die Naturwissenschaften junge Männer zum Mord und junge Mädchen zur Prostitution verleiten würden“.5 Was den ideologisch voreingenommenen linken Kritikern entging und eigentlich ihren Ansichten hätte entsprechen müssen, nämlich die eindringliche Sozialkritik, die Dostoevskijs Schilderung der Armut, der physischen Qual, der menschenunwürdigen Verachtung, der die Besitzlosen ausgesetzt sind, der Schmutz und das Elend, in dem sie hausen müssen – diese in ihrer anklagenden Schärfe kaum zu überbietende bittere Schilderung der sozialen Mißstände hat allein der Kritiker Dmitrij I. Pisarev (1840–1868) erkannt, der Raskol’nikovs Ideen und Scheitern als Produkt einer in der Armut und Entfremdung völlig depravierten Seele verstand, aber für Pisarev erfährt Raskol’nikov keine Wandlung, keine Wiedergeburt, denn – zerbrochen und demoralisiert – gerät er am Ende „unter die Vormundschaft eines gutmütigen, aber sehr beschränkten und völlig ungebildeten Mädchens namens Sonja Marmeladova, die ihn […] zum Christentum zu bekehren“6 versuche, und der eingeschüchterte und demoralisierte Raskol’nikov erdulde diese „Bestrafung“ bereitwillig, um seinen Angehörigen nicht noch weiteren Schaden zuzufügen und sich selber endlich Ruhe und Vergessen zu verschaffen. Übrigens hat Vladimir Nabokov (1899–1977) dieses Verdikt bezüglich der Wandlung durch die Einwirkung der Religion wiederholt: „Der Killer und die Nutte lesen gemeinsam das Buch der Bücher – welch ein Unsinn!“7 113
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Näher kam den geistigen Dimensionen Raskol’nikovs der Kritiker Nikolaj N. Strachov (1828–1896), der im Schicksal von Dostoevskijs Helden „die Tragödie des Nihilismus“, also der linken sozialkritischen Generation erkannte. In Raskol’nikov ringe die „rationale Theorie mit dem Leben, und das Leben trage den Sieg davon“. Allerdings bedauerte Strachov, dass Dostoevskij den Triumph des Lebens, die Bekehrung und Läuterung Raskol’nikovs nicht deutlich genug gestaltet habe. Letztlich seien die Argumente von Raskol’nikovs Theorie nicht zureichend widerlegt worden, ebenso wenig übrigens wie Sozimas und Alëšas Antworten, die Anklagen Ivans in den Brüdern Karamazov entkräften könnten. Insgesamt schätzte Strachov natürlich den Roman seines Freundes als sehr wertvoll ein und äußerte die Hoffnung, in zukünftigen Arbeiten Dostoevskijs bald positivere Gestalten zu finden. Dostoevskij selbst akzeptierte Strachovs Deutung: „Sie sind der einzige, der mich verstanden hat“, äußerte er ihm gegenüber voller Zustimmung.8 Dostoevskij hat in diesem ersten seiner großen Romane zwar keine gesicherten Antworten gegeben, aber er hat Probleme und Konflikte zur Diskussion gestellt, die im 20. Jahrhundert zu tragischer Brisanz gelangt waren, in einem Jahrhundert selbsternannter Führer und Diktatoren, die wie Raskol’nikov leichthin über Leben und Tod nicht nur zweier armseliger Frauen, sondern von ganzen Klassen und Nationen entschieden haben. So gesehen behält dieser Roman eine über die Literatur hinausreichende Bedeutung.
Abb. 33: Gedenktafel mit Reliefdarstellung Dostojewskijs, Rasol’nikov-Haus in Sankt Petersburg 114
6. Schuld und Sühne oder Verbrechen und Strafe: Zur Frage von Macht und moralischer Verantwortung
Exkurs: Die kriminologische Situation Eingangs war schon auf die Eigenart von Schuld und Sühne als Kriminalroman, der sich auf einem hohen geistigen und künstlerischen Niveau bewegt, aufmerksam gemacht worden. Dostoevskij hat seinen Roman wie ein perfekter Kriminologe strukturiert. Die Kriminologie befasst sich bekanntlich mit den Umständen, die mit dem Zustandekommen, der Durchführung, der Aufklärung, der Bestrafung und Bekämpfung eines Verbrechens zusammenhängen. In diesem Falle: die materielle Misere Raskol’nikovs und seine theoretischen Überlegungen als auslösende Umstände, die Durchführung des Doppelmordes und danach als zentraler Schwerpunkt die mit der Aufklärung verbundenen Vorgänge, also die Situation des Täters nach der Tat. Nach der Tat realisiert Raskol’nikov, dass das Hemd, das er trägt, die von ihm ermordete Elizaveta zuvor noch gewaschen hatte. In den folgenden Tagen bedrückt ihn die Furcht vor der Entdeckung, schon vor der Tat war seine Wahrnehmung auf das Verbergen und Beseitigen möglicher Beweise für seine Tat gerichtet. Hauptkennzeichen nach der Tat ist Raskol’nikovs Isolation. Im Wissen um das vollzogene Verbrechen nimmt er nunmehr seine alltägliche Umwelt wie ein Fremder, Abgespaltener, wahr. Den seelischen Druck verstärken der biedere und hilfsbereite Razumichin, der von der Untat seines besten Freundes nichts ahnt und seine anreisende Mutter und Schwester, die sich Hilfe von Raskol’nikov erhoffen. Diesem Druck kann er nicht standhalten und verfällt in einen mehrtägigen Tiefschlaf. Krankheit als Folge eines vollzogenen schweren Verbrechens hatte schon der von Dostoevskij verehrte Friedrich Schiller in seiner medizinischen Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) diagnostiziert. Raskol’nikovs sonderbares Verhalten wird von seiner Umwelt seiner Krankheit zugeschrieben. Dass die Krankheit Reaktion auf sein Verbrechen ist, kann niemand wissen, auch der behandelnde Arzt Doktor Sozimov nicht. Nur der Untersuchungsrichter Porfirij Petrovič vermutet den Zusammenhang, kann ihn aber nicht beweisen. Vier kriminologische Grundsituationen sind zu erkennen: 1.) der Gang des Täters zurück an den Tatort. Raskol’nikov sieht sich nach der Tat geradezu magisch vom Tatort angezogen und kehrt in die Wohnung des Opfers zurück, die inzwischen renoviert wird und macht sich dort verdächtig. Warum? Porfirij Petrovič weiß es. Der Täter wollte die psychische Extremsituation noch einmal erleben. Beweisen kann 115
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der Kommissar damit aber nichts. 2.) Das Auftauchen eines Unbekannten, der sich zur Tat bekennt, obwohl er sie nicht begangen hat. Es ist der Auftritt eines jungen Sektierers, der für sich in Anspruch nimmt, die Tat begangen zu haben. Er meldet sich gerade in dem Augenblick auf dem Revier, in dem Porfirij Petrovič argumentativ Raskol’nikov fast zu einem Geständnis gebracht hatte. Nun muss er Raskol’nikov entlassen. Der Fall ist gelöst, der Täter hat sich gestellt, auch wenn es der falsche ist. Ein Ohnmachtszeugnis der irdischen Justiz! Weitere kriminologische Gemeinplätze sind 3.) das eitle Interesse Raskol’nikovs an Medienberichten über seine Tat: In einem Gasthaus namens „Kristallpalast“ liest Raskol’nikov Zeitungsberichte über seine Tat und empfindet Genugtuung, so ernst genommen zu werden, zugleich aber auch Besorgnis, dass man ihm auf die Spur kommen könnte. Bei dieser Lektüre beschreibt er sogar dem zufällig neben ihm sitzenden Schriftführer des Polizeireviers, die Spekulationen der Reporter korrigierend, wie das Verbrechen sich tatsächlich abgespielt haben muss, und zwar so detailliert, dass sein Gesprächspartner erbleicht und annimmt, mit dem wirklichen Mörder gesprochen zu haben, der sich inzwischen zitternd vor Erregung entfernt hat. Dass schließlich 4.) die permanente Angst vor Entdeckung Raskol’nikov zum Geständnis bringt, ist bereits dargestellt worden, es sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung von fortschreitenden Halluzinationen Raskol’nikovs begleitet wird. Raskol’nikov wird nicht als Täter entdeckt und auch nicht überführt, Dostoevskij lässt Raskol’nikov mit seinem Gewissen allein. Der Täter soll nach seiner Tat in die Freiheit der Entscheidung über sich selbst gestellt werden.
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf In den Romanen Erniedrigte und Beleidigte und Schuld und Sühne finden sich unter den peripheren und episodischen Figuren auffallend viele Deutsche. Das mag auf den ersten Blick verwundern, ist aber erklärlich, denn in Sankt Petersburg war der Anteil der deutschen Bevölkerung sehr groß. Die Petersburger Deutschen waren meist relativ wohlhabende Handwerker und Gewerbetreibende, Beamte, seltener Kaufleute, sie fielen durch Ordentlichkeit, Zuverlässigkeit und Geschäftstüchtigkeit auf, Qualitäten, die, jedenfalls in Petersburg vor gut 160 Jahren, Wohlstand und eine relativ gesicherte Existenz gewährleisteten. Da es den russischen Mitbürgern an diesen Eigenschaften einigermaßen mangelte, blickten sie mit einiger Missgunst auf die deutschen Bewohner und schärften ihren Blick für deren Nachteile, die sich natürlich auch ausmachen ließen: Überheblichkeit und Prahlsucht, Pedanterie, Stolz, Spießigkeit, wenig Kontaktbereitschaft zu den Russen und mangelnde Russischkenntnisse. Das fehlerhafte Russisch der Petersburger Deutschen und ihre Prahlereien waren bereits zu Topoi in der Petersburger Literatur und Publizistik geworden. Der Dramatiker Denis Fonvizin (1745–1792) hatte schon zur Zeit Katharinas der Großen (1729–1796) mit dem ehemaligen Kutscher und Hauslehrer Vral’man (Kontamination von vrat’ = „Lügen“ und deutsch „Mann“ ergibt „Lügenmann“) in seiner Komödie Der Landjunker einen solchen Deutschen auf die Bühne gebracht, und Nikolaj Gogol’ lässt in seinen Petersburger Novellen ironischerweise einen Deutschen sogar den Mond erfinden! Hinter solchem, äußerlich harmlosem Spott, verbarg sich aber schon eine gewisse nicht ganz unbegründete Gereiztheit gegenüber deutscher Arroganz. Insoweit knüpfte Dostoevskij an eine schon bestehende Tradition an, wenn auch – man denke an die aufgeblasene und hartherzige Zimmervermieterin „Lippewechsel“ – Deutsche in seinen Werken fast ausschließlich negative Charakterzüge tragen. Sie sind vor allem dumm und arrogant, sodann schäbig, fies und oft auch ehrlos. 117
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Dass Dostoevskij dadurch – aus der vielstimmigen Struktur seiner Romane, in der eben auch episodische und nebensächliche Gestalten am Aufbau der Ideenaussage maßgeblich beteiligt sind – ein ganz bestimmtes Bild vom Deutschen in seinem Werk geschaffen hat, kann hier nicht genauer vorgeführt werden. Allerdings sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich hier ausschließlich um „Russlanddeutsche“ handelt, also Deutsche, die in Russland lebten und meistens auch dort geboren waren. Małgorzata Świderska hat in einer imagologischen Studie das Fremdenbild im literarischen Werk Dostoevskijs kritisch untersucht.1 In einem auffälligen Kontrast zu dem recht negativen Bild vom Deutschen in seinem literarischen und publizistischen Werk steht die Tatsache, dass Dostoevskij mit deutscher Kultur, besonders Philosophie und Literatur, seit früher Jugend eng vertraut war, ihr wesentliche Anregungen und Impulse verdankt, und sich immer wieder damit auseinandergesetzt hat. Allerdings gilt das nur für die deutsche Literatur der Klassik und Romantik und die idealistische und nachhegelsche Philosophie. Von deutscher Literatur seiner Zeit, von Auerbach, Hebbel, Raabe, Fontane, Storm oder auch Gottfried Keller hat Dostoevskij – im Unterschied zu seinen Kollegen Ivan Turgenev oder Lev Tolstoj – keine Kenntnis genommen. Es bleiben aber die protestantischen Religionslehrbücher von Johannes Hübner und Heinrich Zschokke, aus denen der junge Dostoevskij Unterweisung bezog, die Religionskritik von Ludwig Feuerbach und David Friedrich Strauß sowie die solipsistische Lehre vom Einzigen und seinem Eigentum des Max Stirner, die im Petraševskij-Kreis diskutiert wurden, und besonders die Einflüsse der Hegelschen Geschichtsphilosophie auf Dostoevskijs Ideologie der Bodenständigkeit als wichtige Komponenten deutschen Einflusses. Auch wenn Dostoevskij den Begriff „Dialektik“ oft mit dem von ihm abgelehnten reinen, nur logischen Denken, dem „euklidischen Verstand“ identifiziert, hat ihn doch ganz offensichtlich die idealistische dialektisch-spekulative Denkweise Hegels tief beeindruckt. Sein Geschichtsbild ist dialektisch strukturiert, inhaltlich allerdings von Hegels Geschichtsauffassung erheblich unterschieden: Große, die Menschen verbindende und faszinierende Ideen und deren Ringen bewegen nach Dostoevskij die Geschichte. In seiner Gegenwart erkennt er als solche maßgebliche Idee den Katholizismus als Idee von der Herrschaft und gewaltsamen, vernunftgemäßen Organisation der 118
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Menschheit. Es ist die Idee des Großinquisitors, die gewissermaßen die Schöpfung korrigiert, den Menschen von der Last der persönlichen Verantwortung und Freiheit löst und ihm dafür soziale Sicherheit und Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse garantiert. Geistliche und weltliche Herrschaft gehen ineinander über und bauen und kontrollieren den totalen Wohlfahrtsstaat, der um seines Funktionierens willen der vernünftigen Loyalität aller und ihrer Überwachung bedarf. Abweichungen davon – etwa das Andersseinwollen eines „Untergrundmenschen“ – stören und gefährden das System und sind folglich zu verbieten. In letzter Konsequenz ist es für diese Herrschaftsidee gleichgültig, ob sie sich auf göttliche oder weltliche Autorität gründet. Deshalb sieht Dostoevskij auch einen genuinen Zusammenhang zwischen autoritärem Glauben und Atheismus, zwischen Katholizismus und Sozialismus bzw. Kommunismus. Diese These von der Einigung der Menschheit durch Macht und Gewalt, deren Träger für Dostoevskij – wohl als ehemaliger Anhänger des utopischen Sozialismus – das französische Volk bzw. die französische nationale Idee ist – bringt als Gegenkraft, als Antithese den Protest gegen die katholische Herrschaftsideologie und ihre politische Realisierung hervor. Träger der so verstandenen Idee des Protestantismus sind die Deutschen, deren Aufbegehren gegen den römisch-katholischen und französischen Herrschaftsanspruch seit Luther sich nur aus dem Vorhandensein des anderen, eben des katholischen Herrschaftsprinzips speist. Mit dem militärischen und politischen Sieg des Bismarck’schen Deutschland über Frankreich ist der Katholizismus gebrochen, aber damit hat die Antithese des Protestes auch ihren Sinn und ihre Existenzberechtigung verloren, der Protestantismus ist so gesehen ohne Zukunft. Die Zukunft gehört der Synthese, der orthodoxen Idee Russlands, die in sich – ganz nach Hegelschem Muster – das katholische Prinzip der Einheit und Geschlossenheit und das protestantische Prinzip der Freiheit, das ja der Antrieb des Protestierens ist, aufbewahrt, mit Hegel gesprochen: aufhebt, und die echte Synthese von Freiheit und Einheit in der Liebe, in der russischen Allmenschlichkeit (vsečelovečnost’) als zukünftige Mission des Endes der Geschichte realisieren wird. Gewiss ist vieles an diesem Konzept inhaltlich slavophilen Vorstellungen geschuldet, die ihrerseits auch von der idealistischen Philosophie und von Johann Gottfried Herder (1744–1803) inspiriert waren. Die methodische Entfaltung ihrer Struktur ist indes der Hegelschen Geschichts- und Rechtsphilosophie entnommen. 119
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Abb. 34: Immanuel Kant, Stahlstich, um 1840, nach einer Zeichnung von Hans V. F. Schnorr von Carolsfeld, 1789
Abb. 35: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Stahlstich von L. G. Sichling nach einem Gemälde von J. L. Sebbers, 1830
Auch Kants (1724–1804) Philosophie hat – wie u. a. der russische Philologe Jakov E. Golosovker (1890–1967)2 gezeigt hat – ihre Spuren in Dostoevskijs Dichten und Denken hinterlassen, etwa die Problematik der Autonomie der Moral und des Gewissens im Menschen, was ja für Raskol’nikov zum Schicksal geworden war. Wenn für Kant moralische Begriffsbildungen, wenn Ideen wie Freiheit, Unsterblichkeit oder Gott nicht logisch, vernünftig bewiesen oder wissenschaftlich erkannt werden können, sondern Postulate der praktischen Vernunft sind, so kann die ständige Suche der positiven Helden in Dostoevskijs Werken nach Gott und der rechtfertigenden Geltung moralischen Urteilens und Handelns durchaus als eine literarisch künstlerische Rezeption der Kant’schen Philosophie verstanden werden. Aus der deutschen Literatur verdankt Dostoevskij besonders in seinem frühen Werk vor der Verbannung Anregungen von E. T. A. Hoffmann, man denke an seine Novelle Der Doppelgänger. Auch Goethe (1749–1832) und Heine (1797–1856) hat Dostoevskij geschätzt, wie übrigens alle seiner russischen Zeitgenossen. Ob er ein tieferes Verständnis zu ihnen gewonnen hat, ist schwierig zu beurteilen. Über Goethes Faust soll er gesagt haben: „Lediglich ein Aufguss des Buches ‚Hiob’. Lesen Sie das Buch ‚Hiob’, und Sie finden alles, was am ‚Faust’ wesentlich und wertvoll ist!“3
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Von einem deutschen Dichter ist Dostoevskij allerdings sein Leben lang geradezu begeistert gewesen, von ihm hat er sogar prägende Einwirkungen auf sein ethisches und ästhetisches Denken erfahren, und diese Einflüsse waren wohl noch größer als die des schwärmerisch verehrten russischen Nationaldichters Alexander Puškin: Der deutsche Dichter ist – wie schon wiederholt erwähnt – Friedrich Schiller (1759–1805).
Abb. 36: Friedrich Schiller, Gemälde von Anton Graff, 1786/1791 Schon als Zehnjähriger hatte Dostoevskij Schillers Räuber in Moskau in einer Aufführung mit dem berühmten Schauspieler Pavel St. Močalov (1800–1848) gesehen: „Ich habe Schiller auswendig gelernt“, schrieb er aus der Ingenieurschule an seinen Bruder Michail, „ich rede von ihm, ich schwärme von ihm, und ich glaube, das Beste, was das Schicksal mir in meinem Leben gegeben hat, war, dass es mir zur Kenntnis dieses großen Dichters verholfen hat“.4
Abb. 37: Der Schauspieler Pavel Močalov inmitten seiner Verehrer, Gemälde von Nikolaj W. Nevrev, 1888 121
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Auch Michail Dostoevskij war von Schiller ebenso begeistert. Er übersetzte Die Räuber und im Briefwechsel der Brüder ist ihre intensive Schillerbegeisterung im Einzelnen nachzulesen. In Dostoevskijs letztem großen Roman, Die Brüder Karamazov, ist die Gestalt des Großinquisitors Schillers Don Carlos entnommen, das Lied an die Freude ist für Dmitrij Karamazov so etwas wie seine Lebensmaxime. Er begeistert sich an dieser Hymne auf das Leben und auf Gott, will sie auch dann noch immer wieder vortragen, wenn er unschuldig verurteilt und in sibirische Bergwerke verschickt werden sollte. Besonders hat Schiller Dostoevskijs Ästhetik geprägt: Das Schöne sei ein Ideal, und da der Mensch nie in der Lage sein kann, das Ideale vollständig zu erfassen und zu verwirklichen, dürfte er auch der Kunst weder Wege noch Ziele vorschreiben. Unter Schillers Einfluss schreibt Dostoevskij von einer Synthese des Guten mit dem Schönen: „Wir glauben daran, dass die Kunst ihr eigenes integrierendes und organisches Leben hat“, schrieb Dostoevskij, „Kunst ist ebenso sehr ein menschliches Grundbedürfnis wie essen und trinken […]. Der Mensch dürstet nach Schönheit und akzeptiert sie bedingungslos, einfach um ihrer selbst willen.“5 An anderer Stelle heißt es – wieder mit Schiller übereinstimmend: Schönheit ist Selbstzweck, weil es in der Menschheit immer ein Bedürfnis nach Schönheit und ihrem Ideal geben wird. Hat ein Volk das Ideal der Schönheit und sein Streben danach bewahrt, garantiert dies seine höchste Entwicklung.6
Die Schönheit ist also eine Erscheinung, die das menschliche Leben reicher und besser zu gestalten vermag. Wie Schiller ist Dostoevskij überzeugt, das Schöne mit dem Guten, moralisch Vollkommenen zu verbinden. Die Fähigkeit der Erkenntnis des Schönen und seiner Hervorbringung liegt im Menschen, gehört zu seiner Natur. Es ist nicht Wahrnehmung oder Nachahmung von Äußerem. Drum, edle Seele, entreiß Dich dem Wahn Und den himmlischen Glauben bewahre: Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn, Es ist dennoch das Schöne, das Wahre! Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor, Es ist in Dir, Du bringst es ewig hervor.
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Worte des Wahns, so lautet die poetisch eindrucksvolle Formulierung dieses Gedankens im Schiller’schen Original.7 Für Dostoevskij gewinnt das Schöne nahezu sakrale Bedeutung. Er sagt, dass die Schönheit die Welt erlösen könne. Jesus Christus ist die Verkörperung dieser Schönheit, und seine Worte, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebe, können auch im Sinne Schillers gedeutet werden, wonach der Mensch eben ohne den „Spieltrieb“, d. h. ohne ästhetisches Perzipieren und Produzieren kein vollständiger Mensch ist. Selbstverständlich hat sich Dostoevskij auch mit anderen großen europäischen Literaturen und Kulturen auseinandergesetzt, mit Voltaire (1694–1778), Victor Hugo (1802–1885), Honoré de Balzac (1799–1850) und George Sand (1809–1876), oder mit Charles Dickens (1812–1870). Er zitiert polnische Autoren, das sei hier nur erwähnt, um ein einseitiges, nur auf das deutsche Element bezogenes Bild zu vermeiden. Und die große Neigung Dostoevskijs für Schiller kann eigentlich auch nicht als symptomatisch für seine Beziehung zur deutschen Literatur angesehen werden. Im 19. Jahrhundert war Schiller längst in das russische literarische Leben integriert worden, wie etwa Shakespeare in das deutsche. Schiller gehörte zum innerrussischen intellektuellen Diskurs. Dass er ein deutscher Dichter war, spielte dabei eigentlich so gut wie keine Rolle. So schrieb Dostoevskij in seinem Nachruf auf George Sand: Ich behaupte und wiederhole, daß jeder europäische Dichter, Denker, Philantrop außerhalb seines Landes am meisten und allernähesten auf der ganzen übrigen Welt immer in Rußland verstanden und aufgenommen wird. Shakespeare, Byron, Walter Scott, Dickens sind den Russen verwandter und verständlicher, als zum Beispiel den Deutschen, obschon natürlich von den Übersetzungen dieser Schriftsteller bei uns nicht einmal ein Zehntel der Exemplare verkauft werden, wie in dem bücherreichen Deutschland. Der französische Konvent, der im Jahre 1793 ein Patent auf das Bürgerrecht au poète allemand Schiller, l’ami de l’humanité schickte, vollbrachte damit zwar eine sehr schöne, großartige und prophetische Tat, nur ahnte er nicht einmal, daß am anderen Ende Europas, im barbarischen Rußland, derselbe Schiller viel nationaler war, den russischen Barbaren viel näher stand, als viel verwandter, eigener empfunden wurde, als dies in Frankreich von seiten der Franzosen geschah, und das war nicht nur damals so, sondern auch später, in unserem ganzen Jahrhundert, in dem diesen Schiller, den französischen
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Bürger und l’ami de l’humanité, in Frankreich nur die Professoren der Literatur kannten, und selbst von diesen nicht alle und auch die nur kaum. Bei uns aber hat er sich, zugleich mit Shukowski, in die russische Seele hineingesogen, einen Stempel in ihr hinterlassen, hat in der Geschichte unserer Entwicklung fast eine ganze Epoche bedeutet. Dieses russische Verhältnis zur Weltliteratur ist eine Erscheinung, die sich in der ganzen Weltgeschichte bei den anderen Völkern in einem solchen Grade fast nicht wiederholt hat, und wenn diese Eigenschaft nun wirklich unsere nationale russische Besonderheit ist, – welcher empfindliche Patriotismus, welcher Chauvinismus hätte dann noch das Recht, gleichviel was gegen diese Erscheinung zu sagen, und würde nicht, im Gegenteil, gerade darin vor allen Dingen die breit-versprechendste und prophetischste Tatsache in den Mutmaßungen über unsere Zukunft sehen.8
Nach der Rückkehr aus der Verbannung hat Dostoevskij westeuropäische Länder bereist. Dabei konnte er sich nun selbst ein Bild von den Verhältnissen außerhalb Russlands machen. Er hat insgesamt neun Reisen ins Ausland unternommen, sie führten alle nach Deutschland, von wo er zwei Mal zu kürzeren Aufenthalten nach Paris und London weitergereist ist. Er hat die Schweiz und Italien besucht, wo er 1868/69 knapp zwei Jahre mit seiner zweiten Frau in Genf, in Vevey am Genfer See und in Florenz zugebracht hat. In Genf wurde 1868 seine erste Tochter geboren, die jedoch nach drei Monaten wieder verstarb. Die längste Zeit im Ausland hat Dostoevskij in Deutschland verbracht, addiert man die gesamte Aufenthaltszeit, so sind das nahezu drei Jahre, davon wiederum über zwei Jahre in Dresden, wo seine zweite Tochter Ljubov’ 1869 zur Welt kam, deren Memoiren über ihren Vater 1920 erschienen sind.9 Über seine erste Reise im Sommer 1862 hat er einen Reisebericht Winterliche Bemerkungen über Sommereindrücke veröffentlicht, in denen er – unter dem Eindruck der Auswüchse des Kapitalismus in Paris und London – sich von Westeuropa distanziert und unter dem Eindruck der wissenschaftlich technischen Entwicklung Westeuropas, wie sie sich in der Weltausstellung 1851 in London in einem riesigen Messegebäude aus Stahl und Glas präsentierte, diese nicht etwa staunend anerkannte, sondern als Zeichen der Dehumanisierung und westlichen Fehlentwicklung in eine menschenfeindliche Zivilisation und Anonymisierung des Lebens begriff. Fortan sollte für ihn der Begriff des „Kristallpalastes“ in London zum Symbol westlicher Fehlentwicklung und Hybris werden, wovor Russland bewahrt werden müsse. 124
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Abb. 38: Der „Crystal Palace“ im Londoner Hyde Park, Stahlstich, um 1851 Dostoevskij war nicht nur ideologisch, sondern geradezu existentiell an seine Heimat Russland gebunden. Insoweit war er bodenständig bis ins Extrem. Außerhalb Russlands fühlte er sich unglücklich, war gereizt und suchte geradezu krampfhaft seine mitgebrachten Vorurteile gegenüber dem Westen bestätigt zu finden. So fragte er sich schon während seiner ersten Reise in Berlin, was er hier eigentlich verloren habe, da diese Stadt sich doch kaum von Petersburg unterscheide, allenfalls zum Nachteil, da es hier nur langweilige und spießige Deutsche gäbe. Deshalb reiste er weiter nach Dresden, von wo er einzig zu vermelden weiß: „Kaum war ich auf die Straße hinausgetreten, da schien es mir plötzlich, als gäbe es nichts Widerwärtigeres, als den Typ der Dresdner Frauen!“ In Köln findet er den Dom wie einen monumentalen spitzen verzierten Baumkuchen und ärgert sich über die gerade erbaute große Rheinbrücke, mit der die Deutschen doch nur den Russen zeigen wollten, dass sie ihnen als Techniker und Brückenbauer turmhoch überlegen seien. Zwar ironisiert er solche Aussagen, indem er dafür seine angegriffene Gesundheit und Leberbeschwerden verantwortlich macht, nimmt sie aber ebenso wenig zurück wie im Falle seines „Untergrundmenschen“. An dieser Einstellung ändert sich im Grunde nichts. Dostoevskij verschließt die Augen vor der Umgebung im Ausland, nimmt Landschaft und Architektur nicht wahr und ist nur mit sich selbst, seiner Arbeit und Nachrichten aus oder über Russland beschäftigt. Das gilt nicht nur für das Leben in Deutschland. Auch in Genf langweilt er sich vor dem großartigen Panorama des Mont Blanc und klagt über die Aufgeblasenheit der Schweizer. Aus Vevey gibt es immerhin spärliche Andeutungen, dass ihn 125
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
die Abendstimmungen am Genfer See beeindrucken, der Mailänder Dom und Florenz erfreuen ihn zunächst, doch schon bald klagt er über die lärmenden und oberflächlichen Italiener. Aus Florenz wollte Dostoevskij übrigens mit seiner Frau Anna Grigor’evna 1869 nach Prag umziehen. Diese Stadt schien ihm als Ausgangsort der panslavischen Bewegung besonders attraktiv. Da dort aber keine Wohnung gefunden werden konnte, nahmen die Dostoevskijs schließlich wieder in Dresden Quartier.
Abb. 39: Stadtansicht von Dresden, Holzstich, 1869
Abb. 40: Dostoevskijs Wohnhaus in Dresden
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
In dem umfangreichen Briefwechsel aus Dresden 1869 bis 1871 kommen die Stadt und ihre Umgebung nicht vor. Aus den Aufzeichnungen seiner Frau, die diese in Stenographie anfertigte, was Dostoevskij nicht lesen konnte, weiß man, dass sich ihr Mann im Ausland isolierte, selbst zu Landsleuten verhielt er sich sehr reserviert und misstrauisch. Während sie sich an der Stadt und der Sächsischen Schweiz freuen konnte, beeinträchtigte ihr Mann ihre Stimmung. Als sie in seiner Abwesenheit einen Dampferausflug nach Loschwitz unternahm und davon so begeistert war, dass sie ihn nach seiner Rückkehr gemeinsam mit ihm wiederholte, konnte ihn nicht einmal die Erinnerung an Schillers Aufenthalt dort aufhellen. Alles war eben durchtränkt und geprägt von deutscher Spießigkeit und Langeweile! Nun wird man allerdings einschränkend berücksichtigen müssen, dass die Lebensumstände Dostoevskijs in Deutschland recht schwierig und bedrückend waren. Im Winter 1862/63 war Dostoevskij ja eine Beziehung zu der emanzipierten jungen Schriftstellerin Apollinarija Suslova eingegangen, der er 1863 nach Paris folgte, wo sie sich aber einen Spanier zum Geliebten genommen hatte und Dostoevskij mit der demütigenden Rolle des Ersatzliebhabers Vorlieb nehmen musste. Auch beim nächsten Aufenthalt 1865 in Wiesbaden litt Dostoevskij unter dieser ihn erotisch schwer strapazierenden Beziehung. Hinzu kamen extreme finanzielle Schwierigkeiten, regelmäßig mussten unter meist entehrenden Umständen Pfandhäuser aufgesucht werden. Schließlich spitzten sich in Deutschland die ideologischen Gegensätze zu seinen Schriftstellerkollegen, insbesondere zu dem Westler Ivan Turgenev extrem zu. Am 28.6.1867 kam es in Baden-Baden zu einer folgenreichen Auseinandersetzung, über die Dostoevskij seinem Freunde, dem Dichter Apollon Majkov schrieb: Unter anderem empfahl uns Turgenev, wir sollten vor den Deutschen katzbuckeln, es gäbe nur eine einzige und Allen teure Zivilisation, und alle Versuche einer eigenen russischen Idee seien […] eine Dummheit […]. Plötzlich redete ich mir all den Verdruss vom Halse, der sich während der letzten drei Monate in meiner Seele gegen die Deutschen angesammelt hatte. „Wissen Sie eigentlich, was man hier für Gauner und Betrüger trifft? Wirklich, das einfache Volk ist hier weit schlechter und ehrloser als das russische, und dass die Deutschen weitaus dümmer sind als die Russen, daran gibt es schon gar keinen Zweifel. Und was Sie von der Zivilisation sagen, was hat den Deutschen denn diese Zivilisation gebracht? Als dass sie sich deren überhaupt rühmen könnten!“
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Turgenev wurde kreideweiß, buchstäblich, ich übertreibe nicht, und sagte: „Wenn Sie so sprechen, beleidigen Sie mich persönlich. Wissen Sie eigentlich, dass ich mich hier in Baden-Baden endgültig niedergelassen habe und mich nicht mehr als Russe fühle, dass ich mich für einen Deutschen halte und stolz darauf bin?“ Ich antwortete: „Ich konnte nicht ahnen, dass Sie so etwas sagen würden. Deshalb entschuldigen Sie, wenn ich Sie gekränkt haben sollte.“ Darauf verabschiedeten wir uns äußerst höflich und ich schwor mir, nie wieder meinen Fuß über Turgenevs Schwelle zu setzen. […] Man kann einfach solche Beschimpfungen Russlands von einem russischen Verräter, der uns doch nützlich sein könnte, nicht ertragen. Sein Kriechen vor den Deutschen und seinen Russenhass hatte ich ja längst bemerkt, aber diese Raserei gegen Russland, diese Anhimmelung der Deutschen, das ist einfach bodenlos! Ich kann nicht mehr, Turgenev hat mich mit seinen Überzeugungen zu sehr beleidigt!10
Man könnte diesen Konflikt als zwar für den nationalistischen Geist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts typische, aber letztlich private Auseinandersetzung der beiden Schriftsteller übergehen, wenn er nicht dem Herausgeber der Zeitschrift Russisches Archiv zugespielt worden wäre in der offensichtlichen Absicht, ihn zu publizieren und Turgenev und die Westler zu diskreditieren.
Abb. 41: Stadtansicht von Baden-Baden, Farblithographie von Eduard Walther, 1880
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7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf
Für Dostoevskij war seither Baden-Baden zum symbolischen Ort der von Russland losgelösten vaterlandslosen Westler geworden, ein verfluchter Ort, wofür er sogar einen Begriff „Baden-Badenerei“ (Baden-Badenščina) geprägt hat. 1876 schrieb er in seiner Zeitschrift Tagebuch eines Schriftstellers einen Aufsatz „Ein paar Worte über die Petersburger Baden-Badenerei“, in dem er gegen westlerische Ansichten einer Petersburger Zeitung polemisiert und beklagt, dass in Petersburg Russland und seine Bestimmung auf die Maße irgendeines Baden-Baden verengt würden.
Abb. 42: Bad Ems an der Lahn, Ölgemälde von E. Lotz, 19. Jahrhundert Diese Aussagen stammen nun aus Dostoevskijs letzten Lebensjahren, in denen er (1874–1879) Sommerkuren in Bad Ems zur Wiederherstellung und Kräftigung seiner Gesundheit machte und nach Meinung vieler einen milderen und versöhnlicheren Blick auf Deutschland und die Deutschen warf. Und in der Tat finden sich in Briefen an seine Frau Anna Grigor’evna einige freundliche Worte über das Lahntal.
Abb. 43: Burg Stolzenfels am Rhein, Farblitographie nach Aquarell von Carl Philipp Christian Köhler, 1873 129
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Dostoevskij unternahm aus Bad Ems sogar einen Ausflug auf die wieder errichtete Burg Stolzenfels, äußerte sich achtungsvoll über Kaiser Wilhelm I. und pries einige deutsche Vorzüge wie Arbeitseifer und Zuverlässigkeit des Kurpersonals oder die Sorgfalt der Postbeamten als nachahmenswert für Russland. Aber das sind doch Ausnahmen, bald ist auch das Lahntal wieder zu eng und unerträglich. Zur Ablehnung der Deutschen gesellt sich Antisemitismus – Deutschland sei nun „verjudet“, schreibt er an Konstantin Pobedonoscev (1827–1907; ab 1880 Oberprokuror des Allerheiligsten Synods, damit de facto Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche), die Deutschen und das ganze Publikum sind ihm nach wie vor unerträglich, besonders wenn das Kurorchester Musik von Richard Wagner intoniert, „dieser schlimmsten deutschen Kanaille, ungeachtet ihres Weltruhms“ (Brief vom 19. August 1879).11 Auch der große Schriftsteller Dostoevskij war, wie man aus diesen Zeugnissen sieht, ein Kind seiner Zeit, von anwachsenden nationalistischen Emotionen in ihrer russischen Variante voll ergriffen. Er musste das aufstrebende Deutschland und die nationalistische deutsche Überheblichkeit nach 1870/71 als ständigen Vorwurf empfinden, als Widerlegung seiner Überzeugung, nach der die protestantische Idee doch keine Zukunft mehr habe. Er wird auch die technische und zivilisatorische Überlegenheit gegenüber dem zurückgebliebenen Russland nicht übersehen haben, und das wirkte sich auf seine Psyche aus. Vielleicht war es für diesen ewig gestressten und sich selber ständig herausfordernden Menschen auch eine Kompensation, die ihn in Abwehr und Isolation zwang, wenn er in der ungeliebten Fremde unablässig arbeitete; im Ausland entstanden die Romane Der Idiot (in der Schweiz und in Italien), in Dresden Der ewige Gatte und Die Dämonen, in Bad Ems Teile des Jünglings. Ganz so abträglich kann also letztlich die Beziehung zu Deutschland und Westeuropa nicht gewesen sein. In Deutschland, das ihm von allen westeuropäischen Völkern am nächsten lag und am besten bekannt war, sah er einen Konkurrenten, aber vor allem auch eine Herausforderung für sein geliebtes idealisiertes Russland. Und deshalb kann sein ambivalentes Verhältnis zu Deutschland und seiner Zivilisation und Kultur vielleicht als Hassliebe bezeichnet werden, zumal, wenn man selbstkritisch einräumt, dass sich für Dostoevskij verwerfliche Eigenschaften bis heute unter den Deutschen feststellen lassen.
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8. Der Spieler, Der ewige Gatte und andere Novellen Es wurde bisher ein Phänomen in Dostoevskijs Leben ausgespart, das sich vornehmlich und geradezu tragisch in Deutschland abgespielt hat: Seine Spielleidenschaft. Dostoevskij war ein Suchtspieler und konnte sich seit 1862 von den Spielbanken in Wiesbaden, Bad Homburg und Baden-Baden bis zum Frühjahr 1871, wo er in Wiesbaden zum letzten Male gespielt hat, nicht losreißen. Die Folgen waren für ihn und seine Familie oft katastrophal. Ob es dem wohltuenden Einfluss seiner zweiten Frau Anna Grigor’evna zuzuschreiben ist, dass er schließlich diese verhängnisvolle Leidenschaft überwand oder der Tatsache geschuldet ist, dass nach 1871 die Spielbanken im Deutschen Reich geschlossen wurden, bleibe dahingestellt.
Abb. 44: Anna Grigor’evna Dostoevskaja mit den Kindern Fëdor und Ljubov’ Aber auch diese schwierigen Lebensumstände wirkten sich auf Dostoevskijs literarisches Schaffen aus. Dem Glücksspiel verdankt sich der einzige Roman Dostoevskijs, der im Ausland – in Deutschland – handelt, und der in seiner konzentrierten 131
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Komposition und novellistischen Zuspitzung an die Romantechnik seines ideologischen und künstlerischen Antipoden Ivan Turgenev gemahnt. Als wir nahe an Baden-Baden vorbeifuhren, kam ich auf den Gedanken, einen Abstecher dorthin zu machen. Mich quälte ein verführerischer Gedanke: Zehn Louis d’or opfern und vielleicht gewinne ich wenigstens zweitausend gute Francs. Das reicht vier Monate zum Leben für alle Ausgaben, auch die in Petersburg. Am schlimmsten war, dass ich auch früher manchmal gewonnen habe, aber am allerschlimmsten ist, dass ich eine gemeine und allzu leidenschaftliche Natur bin, dass ich immer und in allem bis zur letzten Grenze gehe, mein ganzes Leben habe ich immer die Grenzlinie überschritten.1
Dieses Zitat stammt aus einem Brief Dostoevskijs aus Genf, unmittelbar nach seinem Aufenthalt in Baden-Baden vom 4. Juli bis 23. August 1867 geschrieben, es enthält in nuce die Faszination, die das Glücksspiel in den neun Jahren zwischen 1862 und 1871 auf den Schriftsteller ausübte: Er war während dieser Zeit ein leidenschaftlicher Spieler, ein Suchtspieler, der sich vom Roulette nicht losreißen konnte, aber zugleich im Spiel eine metaphysische Grenzerfahrung machte: Die Inszenierung des Risikos, der Gefährdung der eigenen Existenz als einer freilich nihilistisch zu nennenden Freiheit in einer Welt, deren Rätsel zunehmend das positivistisch naturwissenschaftliche Denken zu lösen und der technische Fortschritt zu beherrschen schien.2
Abb. 45: Spielcasino Baden-Baden mit Pauline Viardot am Spieltisch, Zeichnung von Gustave Doré, 1862 132
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Dostoevskij hat ausschließlich während seiner Reisen und Aufenthalte in Westeuropa, vornehmlich in Deutschland gespielt, obwohl es – wenngleich illegale – Möglichkeiten zum Spiel auch in Russland gegeben hätte. Das Phänomen des Spiels in seiner Ambivalenz zwischen Ruin und Verheißung darf in einer Beziehung gesehen werden zu Dostoevskijs Verhältnis zu Westeuropa, das für ihn als Russen – wie gezeigt worden ist – ebenfalls zwischen Faszination und Bedrohung schwankte. Alle drei Frauen, die im Leben Dostoevskijs eine herausragende Rolle gespielt haben, sind in gewisser Weise mit seiner Spielleidenschaft verbunden. 1863 floh Dostoevskij vor seinen Gläubigern und vor seiner hysterischen unheilbar kranken ersten Frau Mar’ja Isaeva nach Westeuropa; zusammen mit seiner Geliebten Apollinarija Suslova besuchte er Spielkasinos in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Italien. Zugleich durchlebte und durchlitt er alle Höhen und Tiefen einer unglücklichen Liebe, die zwischen Hingabe und Trennung, zwischen Lust und Qual, Anerkennung und Verachtung pendelte. Nach Anfangserfolgen in Wiesbaden – den großen Gewinn überwies er seiner kranken Frau – besuchte er jedes nur erreichbare Spielkasino, auch Baden-Baden, wo er derartige Verluste erlitt, dass er seine Frau um Rücksendung der Hälfte des Wiesbadener Gewinns bitten musste! Verlust folgte auf Verlust; seelisch gepeinigt und finanziell völlig ruiniert kehrte er im November 1863 zu seiner inzwischen todkranken Frau zurück. Sie starb im Frühjahr des folgenden Jahres, kurz darauf starb auch sein Bruder, mit dem er zusammen die Zeitschrift Epocha herausgegeben hatte. Der Bruder hinterließ eine unversorgte Familie und einen Schuldenberg. Dostoevskij übernahm alle finanziellen Verpflichtungen, konnte sie allerdings nicht erfüllen und floh wieder, 1865, nach Wiesbaden, wo er in einem wahren Spielrausch seine gesamte Barschaft durchbrachte. Mit unfrankierten Briefen erbettelte sich Dostoevskij schließlich das Geld für die Zimmermiete im Hotel, nachdem der Wirt des Wiesbadener Hotels Viktoria den „zahlungsunfähigen unordentlichen Russen“ in eine Dienstbotenkammer umquartiert und die Verpflegung gestrichen hatte. Geld zur Heimreise erhielt Dostoevskij von dem Geistlichen der russischen Kirche auf dem Neroberg, Ivan L. Janyšev (1826–1910). Unter diesen Umständen konzipierte Dostoevskij seinen Roman Schuld und Sühne und entwarf jenen autobiographisch inspirierten Roman, der hier genauer betrachtet werden soll, und schließlich den Titel „Der Spieler“ (Igrok) erhielt. Da dieses hektische Leben an Dostoevskijs Gesundheit zehrte, vermehrten sich seine epileptischen Anfälle und hinderten ihn an der Arbeit. Um das Arbeitspensum dennoch zu bewältigen, verzichtete er auf die zeitaufwendige Niederschrift sei133
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ner Manuskripte mit der Hand und engagierte eine junge Stenographin, der er den Roman Der Spieler diktierte.
Abb. 46: Anna Grigorev’na Dostoevskaja, Dostoevskijs zweite Frau, 1863 Aus der erfolgreichen Zusammenarbeit wurde Liebe und im Februar 1867 heiratete der 45-jährige Dostoevskij seine 20-jährige Stenographin Anna Grigor’evna Snitkina (1846–1918), mit der er zwei Monate nach der Eheschließung wiederum vor seinen Gläubigern in Russland nach Westeuropa flüchtete. Zunächst hielt sich der Schriftsteller mit seiner inzwischen schwangeren Frau in Dresden auf, von wo er wiederholt allein nach Bad Homburg reiste, um dort die ohnehin knappen Mittel durch Spielverluste weiter zu reduzieren. Anfang Juli kamen die Dostoevskijs dann nach Baden-Baden, wo Dostoevskij sieben Wochen lang, oft sogar mehrmals täglich, das Spielkasino aufsuchte; über diese Spielexzesse berichtet Anna Grigor’evna in ihren Tagebüchern.3 Sie sind ein – streckenweise erschütterndes – Protokoll dieser Zeit. Anna Grigor’evna hat in ihren Tagebüchern in einer eigentümlichen Mischung aus Naivität und Verzweiflung, gesundem Menschenverstand und distanzierter Beobachtung das Zusammenleben beschrieben. Ihre bedingungslose Hingabe und alles verstehende und vor allem alle Schuld ihres Mannes verzeihende Liebe haben es ihr möglich gemacht, Dostoevskijs hektisches und exzentrisches Wesen auf Dauer zu ertragen, seine Ausfälle zu verkraften und seine unstete und eruptive Lebensweise schließlich in geregelte und produktive Bahnen zu lenken. Der Roman Der Spieler ist 1866 entstanden, also noch vor dem verhängnisvollen Aufenthalt in Baden-Baden, der den Höhepunkt von Dostoevskijs Spielleidenschaft bezeichnet. Insofern kann er nicht als kathartischer Befreiungsversuch von der Sucht verstanden werden. Seine Entstehungsgeschichte ist geradezu abenteuerlich. 134
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1865 hatte der völlig verschuldete Dostoevskij gegen einen Vorschuss von 3000 Rubel dem Verleger Stellovskij einen neuen Roman von mindestens zwölf Druckbogen Umfang (ca. 200 Seiten) zugesagt. Im Falle der Nichterfüllung dieses Vertrags hätte der Verleger für die Dauer von neun Jahren bis 1890 sämtliche Rechte aus allen Werken – einschließlich der in dieser Zeit entstehenden – erhalten. Dieser Vertrag ist mit Recht als ein „selbstunterschriebenes Todesurteil“ bezeichnet worden, denn zur selben Zeit arbeitete Dostoevskij ja an seinem anderen Roman Schuld und Sühne, dessen Fortsetzungen vertragsgemäß rechtzeitig in der Zeitschrift Der russische Bote erscheinen mussten, und der auch bereits an den Herausgeber dieser Zeitschrift, Michail N. Katkov (1818–1887), verpfändet war. Zwar hatte Dostoevskij für den Stellovskij zugesagten Roman schon Vorüberlegungen angestellt, aber einen Monat vor der Abgabefrist existierte noch keine einzige Zeile. Während der anstrengenden Weiterarbeit an Schuld und Sühne diktierte dann Dostoevskij an 26 Tagen von abends 20 Uhr bis nach Mitternacht Anna Grigor’evna den Text des Romans Der Spieler ins Stenogramm, morgens bereitete er das folgende Diktat vor. Unmittelbar vor Ablauf der Ablieferungsfrist war der Verleger Stellovskij verreist, um die Entgegennahme zum vereinbarten Termin zu hintertreiben. Ein rechtskundiger Freund Dostoevskijs veranlasste die Hinterlegung des Manuskripts gegen Einlieferungsschein bei einer Polizeiwache. Im buchstäblich letzten Augenblick war Dostoevskij gerettet, der Vertrag erfüllt. Eine genaue Untersuchung des Romans Der Spieler von Regine Nohejl4 hat erbracht, dass dieses Buch nicht nur vom Spiel handelt, sondern seine Entstehung war selbst in höchstem Maße ein riskantes Spiel. Das Spiel um alles oder nichts ist also für Dostoevskij weit über die Geldgier am Roulettetisch hinaus eine Existenzweise, ein Lebensmodus gewesen. Aus seinen Briefen wird deutlich, dass er den Kitzel, den nur der Anblick des Abgrunds, das buchstäbliche Stehen am Rande der Existenz, das Balancieren auf der Grenzscheide brauchte, um schreiben und leben zu können. Von der Forschung und Kritik wird dem Roman Der Spieler oft Kolportage und Trivialität vorgeworfen, was sich darin abspiele, sei „crime and sex“. Gewiss sind in diesem äußerst spannend geschriebenem Roman solche Züge enthalten, aber das gehört ja zu Dostoevskijs Stil. In allen seinen Romanen bilden skandalöse und kriminelle Ereignisse Handlungsfaktoren, die die Dramatik des Geschehens (in Schuld und Sühne z. B.) in Bewegung setzen. Und auch hier dominiert diese Oberflächenstruktur – wie vielfach fälschlich behauptet wird – durchaus nicht den Gehalt des 135
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Romans. Darauf hat Dostoevskij schon in der Planungsphase in einigen brieflichen Äußerungen aufmerksam gemacht. Der Held des Romans ist ein junger, unfertiger, entwurzelter aber begabter Mann, der – von seiner Heimat Russland entfremdet – jeden Glauben verloren hat, aber es doch nicht wagt, gänzlich ungläubig zu sein, der gegen Autoritäten rebelliert, aber sie zugleich doch noch fürchtet; er ist kein gewöhnlicher Spieler, sondern jemand, der im Spiel höhere Ziele, eine Idee verfolgt, und in dessen Erscheinung folglich etwas Anziehendes, etwas Poetisches mitschwingt. Dieser junge Aleksej Ivanovič begleitet als Privatlehrer und Erzieher die Familie eines verwitweten älteren pensionierten russischen Generals in den deutschen Kurort mit dem fingierten Namen Roulettenburg. Der Handlungsraum ist äußerst reduziert, im Grunde besteht er nur aus dem Hotel, Signal für die unbehauste und entwurzelte Lebensweise der Russen im westlichen Ausland, aus dem im oder unmittelbar beim Bahnhof gelegenen Spielkasino und dem Kurpark auf dem Wege vom Hotel dorthin. Aus einigen topographischen Andeutungen lässt sich vermuten, dass mit Roulettenburg eher Bad Homburg als Wiesbaden oder Baden-Baden gemeint sein könnte. Der General ist total verschuldet und erwartet ungeduldig das Ableben seiner hochbetagten kranken reichen Erbtante, um dann mit deren Hinterlassenschaft ausgestattet eine leidenschaftlich verehrte junge Französin heiraten zu können. Der Erzähler Alekseij Ivanovič – der Roman ist in Form seiner Aufzeichnungen abgefasst – liebt die launische Stieftochter des Generals Polina, die wiederum dem angeblichen Marquis des Grieux, einem Hochstapler, verfallen ist, der sich dem General mit zwielichtigen Geschäften verpflichtet hat. Der Name des Grieux spielt übrigens auf die bekannte Erzählung Manon Lescaut des Abbé Antoine-François Prévost (1697–1763) aus dem 18. Jahrhundert an und soll die Depravation der französischen Kultur im 19. Jahrhundert, wie es Dostoevskij sah, versinnbildlichen: Aus dem ehrlichen und leidenschaftlichen Liebhaber des Grieux ist bei Dostoevskij ein geldgieriger, raffinierter Intrigant geworden, aus der bezaubernden romantischen Manon die kaltblütige und materialistische Halbweltdame Mademoiselle Blanche. Zum Entsetzen der Generalsfamilie reist die uralte Erbtante Kumanina aber plötzlich höchstpersönlich nach Roulettenburg, stört durch ihr grobes, aber unverstelltes Verhalten die feine westliche Etikette, wird von der Spielleidenschaft gepackt und verspielt nach anfänglichen Gewinnen fast das gesamte Familien136
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vermögen und fährt verarmt, aber um das Spielerlebnis reicher, nach Russland zurück. Alle Hoffnungen auf das Erbe sind nun zunichte, der General ist in eine verzweifelte Lage geraten, Polina, die nun deutlicher zu erkennen gibt, dass ihr Alekseij Ivanovič doch nicht gänzlich gleichgültig ist, verbringt eine Nacht in seinem Hotelzimmer. Von dem plötzlichen Strudel der Ereignisse durcheinander gebracht, stürzt Alekseij Ivanovič ins Spielkasino. Bisher hatte er nur gelegentlich und beherrscht mit kleinen Einsätzen und auf Bitten Polinas für diese gespielt, jetzt setzt er, wie in Trance, seine gesamte Barschaft, gewinnt und gewinnt und sprengt schließlich die Bank. Mit dem ungeheuren Gewinn von über 200 000 Francs kommt er wie berauscht in sein Hotel zurück, wo er Polina eine dringend benötigte Summe überlassen will, damit sie ihre Schulden bei des Grieux begleichen kann. Polina missdeutet das jedoch als Liebeslohn, wirft Alekseij das Geld ins Gesicht und verlässt ihn. Statt mit Polina nach Russland zurückzufahren, schließt sich der reich gewordene Alekseij nun Blanche an und geht mit ihr nach Paris, wo er so lange geliebt und geduldet wird, bis das gewonnene Kapital verausgabt ist. Hier beginnt sich nun die erzählte Zeit zu dehnen. In den ersten fünfzehn Kapiteln des Romans beträgt sie nämlich gerade einmal sechs Tage, neun gestalten allein den einen verhängnisvollen Tag, an dem sich am Roulettetisch die Schicksale der handelnden Personen entscheiden. Die restlichen zwei haben den Charakter eines Epilogs und umfassen zuerst Monate, dann Jahre. Blanche trennt sich von Alekseij und heiratet nur um der gesellschaftlichen Reputation willen den General, lebt aber mit einem anderen Liebhaber. Der General stirbt; Alekseij – zum Suchtspieler geworden – der sich zwischen Spieltisch, kleinen Verdiensten als Lakai und gelegentlicher Schuldhaft bewegt, kehrt nach Roulettenburg zurück, wo der rätselhafte und anständige Mr. Astley, eine unmotivierte Figur, die während des ganzen Romans durch Ratschläge und Gefälligkeiten den Handlungsgang befördert, Alekseij berichtet, dass Polina sich in seiner Obhut befindet und ihn noch immer liebe. Aber Alekseij kann auf diesen Rettungsversuch nicht mehr eingehen, weil er sich seine „Auferstehung“ – wie er das nennt – lediglich durch einen Gewinn am Spieltisch wie an jenem verhängnisvollen Abend vorstellen kann. Er denkt und lebt nur noch in den Kategorien des Glücksspiels, das seine Persönlichkeit durchdrungen hat und beherrscht. Er hat nicht nur beim Spiel immer wieder verloren, er ist mit seinem ganzen Leben verloren. Mit dem doppelsinnigen Satz: „Morgen, morgen wird das alles ein Ende haben“ endet der Roman. 137
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Der Spieler ist ein Roman der Leidenschaft. Die Leidenschaft erweist sich aber als Irrweg zu Selbstbestimmung und Freiheit, weil sie im Umfeld der westeuropäischen Zivilisation zu bloß zerstörerischer Sucht pervertiert. Offen und versteckt polemisiert Dostoevskij nämlich in diesem Roman mit der westeuropäischen Lebensweise. Der Charakter der Deutschen, Franzosen und Polen wird karikierend mit böser Ironie und grobem Spott überzeichnet. Ihr Nationalcharakter sei durch Geschichte und Tradition fixiert, ihre Kraft zur Gestaltung der Zukunft sei erschöpft. Der Hochstapler und Betrüger des Grieux repräsentiert den französischen Bourgeois. Als nationaler Typ verkörpere er bloße Form, hinter der sich Unmoral verberge. Er verführt Polina und bringt sie gemeinsam mit der Kurtisane anschließend mit ihrem Stiefvater, dem General, um Hab und Gut. Noch schlimmer kommen dabei eigentlich die Deutschen weg. Dostoevskij schildert die kleinbürgerlichen Wurzeln und beschränkten Ideale des deutschen Bürgers, dessen Persönlichkeit nur ein notwendiges Anhängsel an seinem Kapital sei. In einer Familiengeschichte vom Aufstieg einer typisch deutschen Kleinbürgerfamilie beschreibt Dostoevskij das Entstehen eines Bank- oder Handelshauses aufgrund einer Generationen überdauernden harten Spardisziplin und eines ebensolchen fanatischen Arbeitseifers. Diese Erfolge seien nur möglich, weil die deutsche Familie streng patriarchalisch strukturiert und unter der Herrschaft des „Vaters“ (im Original deutsch) stünde. Was als karikierende Vergröberung erscheint, hat tiefere psychische und für Dostoevskij bedrohliche Wurzeln. Dostoevskij hat als Kind unter seinem despotischen Vater gelitten. Traumatisch verfolgte ihn eine übermächtige Vaterfigur. Bedrohliche Väter bzw. Stellvertreter begegnen allenthalben in seinem Werk. Der gefährlichen Beharrlichkeit des deutschen, väterlichen oder maskulinen Prinzips stellt er das weibliche bzw. mütterliche russische entgegen. Dem Charakter der alten Großtante Kumanina verlieh Dostoevskij jene positiven Züge des russischen Nationalcharakters, wie er ihn verstand, nämlich ungekünstelte Vitalität auch im hohen Alter, die Fähigkeit, alles auszuprobieren und sich allem Neuen hinzugeben und die Stärke, Niederlagen wie z. B. beim Roulette zu ertragen und ungebrochen und moralisch aufrecht zu bewältigen. Die Erbtante kommt aus Russland und fährt nach Russland zurück, ohne sich vom Gift der westlichen Dekadenz infizieren zu lassen. Anders die beständig im Ausland lebenden Russen. Sie sind eine zahlenmäßig nicht kleine Gruppe, 1860 lag ihre Anzahl bei 275 000. Mit den Auslandsrussen hat 138
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sich Dostoevskij – wie übrigens auch sein Rivale Ivan Turgenev in seinem Roman Rauch (1867) – intensiv beschäftigt. Die Familie des Generals und Alekseij Ivanovič sind Varianten des Auslandsrussen. Der Weg in den Westen bedeutete für sie Trennung von den Wurzeln ihrer russischen Identität und damit Anfälligkeit für westliche Zersetzung im Lebensraum illusionärer Werte und ständiger Versuchung. Dies äußert sich darin, dass ihre Stärke der Leidenschaft fehlgeleitet und in eine zersetzende Kraft verwandelt wird. Alekseij verliert im Westen seine sittlichen Maßstäbe, Gewinn bedeutet ihm alles. Seine Liebe zu Polina ähnelt seiner Sucht für das Roulettespiel. Sie ist ebenso maßlos, egoistisch und negativ akzentuiert – eine Hassliebe. Spielleidenschaft geht mit Betrug einher, Liebe mit sklavischer Hingabe, mit Manipulation, mit sadistischen Zügen, mit Betrug und verdeckter Prostitution. Echte Liebe bleibt im Roman ausgespart. Liebesleidenschaft und Spielsucht stehen im Zeichen der alles dominierenden Rolle des Geldes. Wie Mr. Astley erläutert, „hängt alles von der erwarteten Erbschaft ab“. Die Beziehungen der Helden des Romans untereinander bestimmen sich durch finanzielle Transaktionen. Auch das erklärt Mr. Astley: „Auch des Grieux wartet auf die Erbschaft, weil Polina dann eine Mitgift erhalten und sich, sobald sie das Geld hat, ihm an den Hals werfen wird“. Alekseij Ivanovič wird beauftragt, für Polina zu spielen und will letztlich ihre Liebe mit Hilfe des gewonnenen Kapitals erwerben. Da sich aber im Konflikt der Leidenschaften die Spielsucht als stärker erweist, geht die Liebe zu Polina verloren. Für die reale Frau interessiert sich der Spieler nur als Ersatz für das Glück im Spiel. Glück in der Liebe kann Pech im Spiel nicht aufwiegen. Die Glücksgöttin Fortuna vermittelt raffiniertere Gefühle und Erfahrungen und erfüllt die Gier nach Besitz weit besser, als es eine liebende Frau vermag. Zwei Zitate aus dem Roman sollen das belegen. Zur Lust am Spiel notiert Alekseij: Mit welcher Gier blicke ich auf den Spieltisch, wo die Louis d’Ors, Friedrichs d’Ors, die Taler umherliegen, wie blicke ich auf die Stapel goldener Münzen, wenn sie unter der Krücke des Croupiers auseinanderfallen zu Häufchen von brennender Glut, oder auf die ellenlangen Rollen von Silbermünzen, die rund um das Rad liegen. Schon wenn ich mich dem Spielsaal nähere und noch zwei Zimmer von ihm entfernt das Klirren des Geldes höre, […] packt es mich wie in Krämpfen. (Kap. 17)
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Dagegen die verblassende Lust auf die Frau: Auch Polinas Antlitz tauchte flüchtig vor mir auf […]. Ich begriff, dass ich zu ihr ging, sogleich mit ihr zusammen sein, ihr alles erzählen, zeigen würde […]. Doch fast gar nichts mehr erinnert mich an das, was mir Polina gesagt hatte, und weshalb ich [zum Spielkasino] aufgebrochen war und all die Empfindungen, die ich erst vor anderthalb Stunden durchlebt hatte, erschienen mit jetzt schon als etwas längst Vergangenes, Überwundenes, Veraltetes. (Kap. 14)
Wie der Gewinn im Spiel auch die sexuelle Attraktion der Geliebten überstrahlt wird symbolisch sichtbar, wenn Alekseij, kaum dass Polina sein Zimmer verlassen hat, das gewonnene Geld ausgerechnet in sein Bett, in das Liebeslager stopft. Seine Beteuerungen, dass er alles nur aus Liebe zu Polina tue, erweisen sich als Selbsttäuschung, wenn nicht gar Heuchelei, weil sie in bewusstem Widerspruch zu seinem tatsächlichen Verhalten erfolgen. Wo Aleksej sogar darüber nachdenkt, Polina zu töten, ergibt sich ein ideeller Bezug zu Raskol’nikovs Überlegungen hinsichtlich eines moralischen Dilemmas: Ist ein bloß erwogener Mord schon ein Verbrechen? Ab wann ist ein gedanklicher Täter schuldig? Diese Reflexionen könnten von Schillers Wallenstein angeregt sein, wo der Titelheld räsoniert, ob eine Tat schon getan wurde, weil sie gedacht wurde. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, wendet sich Alekseij schließlich Blanche zu, die als eine „käufliche Frau“ die perverse Verbindung von Liebe und Geld verkörpert und damit den wahren Interessen dieses Spielers weitaus mehr zu entsprechen scheint. Was sind nun aber die wahren Interessen dieses Dostoevskij’schen Spielers? Ganz offensichtlich weder Reichtum und Besitz, noch Sex, denn er verschleudert das gewonnene Vermögen in Paris innerhalb weniger Monate an Blanche und an andere Prostituierte, deren Dienste er überdies so gut wie überhaupt nicht in Anspruch nimmt. Also muss es noch andere Beweggründe geben, die das Verhalten des Spielers motivieren. Und diese werden wir nicht in der vordergründigen Handlung des Romans finden, die nur auslösende und affizierende Funktion hat, weshalb für Dostoevskij die geschilderte, also fiktionale Realität nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist. Daher kann er bedenkenlos unwahrscheinliche und triviale Vorgänge verwenden. Warum spielt der Spieler? Wenn er es nicht um des Ergebnisses, um des Gewinnes willen tut? Das ist die zentrale Frage, für die Erklärungen wie psychische Schwäche 140
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oder Suchterkrankung oder Verzweiflungshandlung aus wirtschaftlicher Notlage oder Versuchung durch Auftrag zu kurz greifen. Es ist viel mehr der Versuch, sich über eine Welt der rationalen Ordnung und logischen Notwendigkeit zu erheben und Freiheit von Zwängen und Naturgesetzen zu erfahren durch die Auslieferung an den blinden Zufall der Roulettekugel, das masochistische Risiko des eigenen Untergangs als Freiheit zu erleben, so wie der Untergrundmensch gegen die eiserne Logik des 2 x 2 = 4 die Willensentscheidung zu Unlogik und Unmoral trifft, oder wie Kirillov (in den Dämonen) denkt, der die Autonomie des freien Willens nur im Vollzug des Selbstmordes glaubt realisieren zu können. Die von Kant und Schiller verlangte Trennung der Welt des Sittlichen, in der Freiheit den höchsten Wert darstellt, von der kausalen Ordnung der Naturgesetze ist für Dostoevskij jedenfalls im Westen nicht mehr gültig. Auch Ethik und Moral sind seiner Ansicht nach rational instrumentalisiert und in ein ehernes Lohn-Strafe-Korsett gezwängt worden. Um Selbstbestimmung und Freiheit zu retten, bleibt nur neben Protest die Entscheidung für das Andere, d. h. für das Unvernünftige und scheinbar Widersinnige, übrig. Eine Möglichkeit dazu bietet das Glücksspiel, in dem sich der Spieler dem puren Zufall ausliefert und nur das Risiko seiner selbst erleben kann, allerdings: nur scheinbar, als Illusion, denn 1.) bleibt ja auch der Spieler in das Regelwerk des Spiels eingebunden, dem er sich unterwerfen muss, und 2.) ist das Spiel selbst nicht frei von der Naturgesetzlichkeit und lässt sich – etwa mit den Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung – wenn auch nicht praktikabel vorausdeuten, so doch als kausal verlaufen erklären. Und ein weiteres: Es ist die schon angesprochene Macht des Geldes, die letzten Endes die Beziehungen zwischen den spielenden Menschen beherrscht und entfremdet. Wo der Spieler glaubt, das Schicksal frei herausfordern, mit ihm sozusagen spielen zu können, spielt das Geld, das gewonnene oder verlorene Kapital, mit ihm. Wie es Friedrich Nietzsche in die schönen Verse gebracht hat: Hier rollte Geld, hier spielte ich mit Golde! In Wahrheit spielte Gold mit mir! Ich rollte!5
Aber: Das Risikoerlebnis, die existentielle Grenzsituation als einziger Ort von Freiheit, wo sich der Mensch in dieser Erfahrung nach Nietzsche von den Zwängen der Naturgesetze und der Todesfurcht löst und in der beständigen Risikobereitschaft seine Überlegenheit als Herrenmensch über das Sekuritätsstreben der Masse des 141
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Ressentiments erweist, diese Utopie des frei und spielerisch über dem Abgrund tanzenden Seiltänzers aus dem Zarathustra ist in nuce in Dostoevskijs Spieler enthalten. Darüber hinaus kann man diesen Befund auch aktuell deuten: Was Nietzsche apotheotisch verklärt und postmodernistisches Denken neu aufwärmt, ein Verständnis von Freiheit, die Kontingenz, Unordnung zur Voraussetzung haben müsse als völlige Bindungslosigkeit und Risikobereitschaft, das hat Dostoevskij in der Gestalt des Spielers eigentlich schon vorweg genommen und dekonstruiert, indem sich dieser Pseudofreie eben als bloßer Spieler erweist, dessen scheinbare Sehnsucht nach Freiheit zur Sucht nach dem Gewinn, zur Fortsetzung des Spielens pervertiert, dessen Augenblickserlebnis nur ein klägliches Surrogat für eine wirklich freie Sinngebung des Lebens ist, die Dostoevskij schließlich nicht mehr in der Scheinfreiheit des Spiels, auch nicht im Wissen und Beweisen, sondern im religiösen Glauben gefunden zu haben meinte. An diese Schlussfolgerung wird die nächste Betrachtung des Romans Der Idiot anknüpfen müssen.
Exkurs über das Spielerlebnis in Baden-Baden im Sommer 1867 In einer kleinen billigen Zweizimmerwohnung über einer Schmiede lebte Dostoevskij mit seiner Frau in beständiger psychischer Anspannung und nervlicher Belastung, weil er tagtäglich die Spielbank besuchte und schließlich sogar das wirklich allerletzte Geld verspielte, sich von seinem ungeliebten Kollegen Ivan Gončarov eine bescheidene Summe borgen musste, mit Ivan Turgenev stritt und schließlich bei Pfandleihern zunächst den Schmuck und die Eheringe, dann sogar Kleidungsstücke unter entehrenden Umständen versetzte. In der Spielbank widerfuhren dem erregten Dostoevskij gelegentlich Streitereien mit anderen Spielern und dem Personal, sodass er sogar Hausverbot befürchten musste. Mit stoischer Ruhe und verzeihender Liebe ertrug Anna Grigor’evna alle diese Belastungen. Sie tröstete ihren Mann und richtete ihn in seinen Selbstanklagen und verzweifelten Vorwürfen wieder auf. Auch wenn Anna Grigor’evna in ihrer Kritik an den dummen und pedantischen Deutschen ihrem Mann in nichts nachstand, verschloss sie doch nicht die Augen vor den Schönheiten der Stadt und der badischen Landschaft. Spaziergänge und Wanderungen in die Umgebung waren die einzige Abwechslung, die sich die Dostoevskijs leisten konnten, und diese haben – glaubt man Anna Grigor’evnas Tagebuch – die beiden immer genossen. Dostoevskij selbst hat sich nie über die 142
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Architektur und Landschaft in fremden Ländern, die er bereist hat, geäußert, sodass er ein ignoranter, nur mit sich selbst und seinen Problemen befasster Reisender genannt worden ist. Nach Anna Grigor’evnas Zeugnis war das anders. Sie hat in ihrem Tagebuch notiert: Viele Dutzende Kilometer sind wir in der Umgebung von Baden-Baden in den Zwischenräumen gegangen, wo wir auf eine neue Geldsendung warten mussten. Dann kam Fëdor Michailovič wieder in gute, heitere Stimmung, und stundenlang redeten wir über die verschiedensten Dinge. Unser Lieblingsspaziergang war zum Neuen Schloss, und von dort auf reizenden Waldwegen zum Alten Schloss, wo wir unbedingt ein Glas Milch oder eine Tasse Kaffee tranken. Wir gingen auch zu dem weiter entfernten Schloss Ebersteinburg [etwa 9 km von Baden-Baden entfernt], aßen dort zu Mittag und kehrten erst bei Sonnenuntergang zurück. Unsere Spaziergänge waren so schön, und die Unterhaltungen so interessant, dass ich trotz des fehlenden Geldes und der Unannehmlichkeiten mit den Vermietern beinah wünschte, das Geld aus Petersburg möge nicht so bald eintreffen. Aber es kam, und unser so trautes Leben verwandelte sich wieder in einen Alptraum.6
Abb. 47: Burg Eberstein, 1847, Stich nach Eugène Guinot
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Wenn Dostoevskij Baden-Baden bei der Abreise am 23. August 1867 eine „verfluchte Stadt“, die er nie wieder betreten wolle, genannt hat und ihren Namen als „Baden-Badenerei“ (Baden-Badenščina) später zum Synonym für das ihm verhasste Westlertum seiner Landsleute machte, so sind das nachvollziehbare, im Affekt gemachte Aussagen, deren Gewicht relativiert werden darf. Es ist die Meinung vertreten worden,7 dass der Roman Der Spieler – während der Arbeit an Schuld und Sühne entstanden – unter Zeitdruck als stringent komponierter traditioneller Figurenroman schnell geschrieben wurde, mit sorgfältig unterschiedenen Haupt- und Nebenfiguren und einer geradlinigen Handlung. Ob sich Dostoevskij selbst überhaupt über die Neuartigkeit seiner polyphonen (vielstimmigen) Schreibweise Gedanken gemacht hat, ist sehr schwer auszumachen, Selbstzeugnisse dazu müssen aus anderen Zusammenhängen erschlossen werden. Gewiss kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass das polyphone Schreiben mehr Arbeitsaufwand erfordert als die traditionelle Romantechnik, deren Meisterschaft Dostoevskijs Rivale Ivan Turgenev perfekt beherrschte, und Turgenev war auch der Herrscher über den damaligen traditionellen Publikumsgeschmack: Wo Dostoevskijs neuartige Texte verunsicherten und verstörten, erfüllten die Romane und Novellen Turgenevs – bei aller kontroverser Thematik – die Leseerwartungen und Lesegewohnheiten im In- und Ausland. Werke wie Väter und Söhne, Ein Adelsnest oder Erste Liebe und Mumu waren Bestseller. Dostoevskij war auf den polyphonen Stil durchaus nicht festgelegt und beherrschte ebenso souverän das klassische Schreiben einschließlich ironisch-satirischer Implikationen wie seine Romanerzählung Der ewige Gatte (Večnyj muž, deutsch auch ungeschickt Der Hahnrei oder Der lebenslängliche Ehemann betitelt) belegt, die 1869 entstanden ist und ein Jahr später veröffentlicht wurde. Das Sujet – eine Dreiecksgeschichte – war durchaus nicht originell, sondern als Stoff motivischer Gemeinplatz in der europäischen Literatur, man denke nur an Gustave Flauberts (1821–1880) Madame Bovary (1857), den damals wohl meistgelesenen Roman in Europa. Auch wenn man sagen kann, dass Dostoevskijs Erzählung dort einsetzt, wo Flauberts Roman endet, nämlich bei der Beschreibung der Folgen der Eifersuchtsgeschichte und ihrer Entfaltung, so hat sich Dostoevskij doch explizit auf die Gestaltung dieses Themas durch Turgenev gestützt. Es geht um dessen einaktige Komödie Die Provinzlerin (Provincialka, 1851), die wiederholt zitiert wird. In dem alternden, aber reichen und einflussreichen Grafen Lju144
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bin weckt die schöne und raffinierte Dar’ja Ivanovna alte Erinnerungen und neue Hoffnungen. Sie liebt ihn aber keineswegs, sondern will durch diesen Flirt bloß die Versetzung ihres Mannes, eines subalternen Polizeibeamten in die Hauptstadt Sankt Petersburg erreichen, wo sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will. Die Eifersucht des Ehegatten verwandelt sich aber in eine Mischung aus Verblüffung, Mitleid und Spott, als er dazukommt, wie Ljubin vor seiner Frau auf die Knie fällt, um ihr seine Liebe zu gestehen, aber in Folge eines altersbedingten Rückenleidens nicht wieder aufstehen kann, was schließlich nur mit Hilfe des Ehemanns gelingt. Immerhin weiß Ljubin die für ihn peinliche Situation dadurch zu retten, dass er sich als Ehrenmann gibt und seine Versprechen ohne die erwünschte Gegenleistung Dar’jas einlöst. Dostoevskij hat dieses Sujet zum Vorwurf genommen, daraus aber eine ungleich problematischere Eifersuchtshandlung geschaffen und psychologisch differenzierte Gestalten entworfen, die an Turgenevs bewusst eindimensionalen Durchschnittstypen der besseren Gesellschaft gar nicht gemessen werden können. Ein alternder, aber immer noch attraktiver, stattlicher Lebemann namens Vel’čaninov (von velikij = groß) zieht sich – müde und ein wenig depressiv geworden – aus seinem Aktionsfeld in der Provinz, wo er neben vielen anderen auch der Geliebte einer inzwischen verstorbenen raffinierten und liebeshungrigen Ehefrau eines Gutsherrn war, nach Sankt Petersburg zurück, wo ihm nach zehn Jahren auf recht geheimnisvolle Weise der Witwer namens Trusockij (von „trus“ = Feigling) begegnet, der im ehemaligen Nebenbuhler unablässig und hartnäckig Erinnerungen an diesen Lebensabschnitt weckt und ihm seine Freundschaft aufdrängt. Vel’čaninov wie dem Leser wird allmählich klar, dass der Ehemann sowohl über die Untreue seiner Frau informiert ist, als auch darüber, dass der ahnungslose Liebhaber der eigentliche Vater seiner knapp zehnjährigen Tochter ist. Die Schilderung der Physiognomie wie auch der Psychologie des Kindes ist Dostoevskij in unnachahmbarer Eindringlichkeit gelungen, wie überhaupt gelegentlich vergessen wird, dass Dostoevskijs Darstellung von kindlichen handelnden Figuren mit seltener künstlerischer Meisterschaft dargeboten wird. Die kleine Tochter erkrankt und stirbt bei fremden Menschen, was in Vel’čaninov eine schwere Erschütterung auslöst. Zwischen Vel’čaninov und Trusockij kommt es nun zu einer Art Zweikampf. Der Ehemann will sich anscheinend für alle früheren Demütigungen rächen. Er quält den Liebhaber auf raffinierte Weise mit seinem Freundschaftsanerbieten, reißt geschickt alte Wunden der Erinne145
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rung auf und fügt neue hinzu. Vel’čaninov fühlt sich von seinem Peiniger Trusockij auf seltsame Weise angezogen, gleichzeitig wächst aber unter der Maske einer geheuchelten Freundschaft gegenseitiger Hass. Schließlich versucht Trusockij Vel’čaninov mit einem Rasiermesser zu ermorden, wird aber von seinem Rivalen, der nur an der Hand verletzt ist, überwältigt. Der Anschlag misslingt, die beiden trennen sich. Nach diesem Beweis seiner Fähigkeit zur Rache verschwindet Trusockij aus Sankt Petersburg. Der Epilog zeigt ihn jedoch wieder als „Ehemann“: Auf einer Bahnstation in der tiefsten Provinz weist seine neue, sehr durchschnittliche Ehefrau dem zufällig dort umsteigenden Vel’čaninov erneut die Rolle eines Verführers zu, die ein mitreisender junger Offizier anscheinend nicht zu ihrer vollen Befriedigung auszufüllen vermag. Trusockij billigt das alles, wie mehr als zehn Jahre zuvor, aber Vel’čaninov verzichtet nun und verabschiedet sich für immer. Hier lassen sich unschwer Ideen und Motive aus früheren Werken Dostoevskijs wiedererkennen: Die Beziehungen der beiden Hauptfiguren erinnern an die beiden Goljadkins im Doppelgänger, stellenweise auch an Raskol’nikovs Verhältnis zu Svidrigaijlov. Auffallend ist auch, wie der ewige Ehemann Trusockij eingeführt wird: Mit einem Trauerflor am Hut realisiert er sich nach und nach aus Träumen und krankhaften Visionen Vel’čaninovs, der so wie Svidrigaijlov aus den Traumvisionen Raskol’nikovs herauswächst, ein Gestaltungsverfahren romantischer Herkunft. Die Verbindung von Hass und unerklärlichem Drang zur Freundschaft speist sich aus den paradoxen Beziehungen der Hauptpersonen zu derselben Frau, der sie verfallen waren. Der Zweikampf beider endet mit der Niederlage des Ehemanns. Er muss sich zurückziehen. Der ehemalige Liebhaber und Ehebrecher ist nach dem Mordanschlag von einem lang andauernden Alptraum befreit. Zugleich erkennt er zu seiner Enttäuschung, dass er in Wirklichkeit gar nicht der „große“, Eindruck machende Held Vel’čaninov ist, der sich für eine überlegene Persönlichkeit hielt, sondern eine ebenso triviale, belanglose und verachtungswürdige Kreatur wie sein Gegenspieler, der „feige“ Trusockij. Übrigens hat in seinen insistierenden Reflexionen und manchen Verhaltensweisen, etwa selbstquälerischen Bekenntnissen und Absichten, der „Ewige Ehemann“ Trusockij vieles mit dem Untergrundmenschen gemeinsam. Was hinsichtlich der Komposition der Romanerzählung besonders auffällt, ist der „klassische“, mit Turgenevs Prosa vergleichbare Aufbau. Nicht selten begegnet in der literaturwissenschaftlichen Kritik der Hinweis, der Ewige Gatte sei eines 146
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von Dostoevskijs bestkomponierten Werken. Die Romanerzählung hat drei Teile, in denen die Handlung logisch, zielstrebig und übersichtlich entwickelt wird. Am Anfang steht – wie bei Turgenev – die Vorgeschichte. Der Leser wird darüber informiert, wie der Held Vel’čaninov psychisch aus dem Gleichgewicht gerät, welche früheren Ereignisse sich im Folgenden auswirken werden. Auf diese Exposition folgt die eigentliche „Handlung“: der Zusammenstoß der beiden Antagonisten. Hierbei werden nach und nach die Hintergründe des Geschehens aufgedeckt, die Geschehnisse selbst nach dem Prinzip der zunehmenden Spannung aufgebaut und zur dramatischen Kulmination (dem Mordversuch) geführt. Die folgenden Geschehnisse, die exakte Aufklärung des Verhältnisses Vel’čaninovs zur Ehefrau Trusockijs und Vel’čaninovs Vaterschaft in einem bislang zurückgehaltenen Brief der verstorbenen Gattin an Vel’čaninov bilden die mustergültig zum Schluss führende fallende Handlung. Der letzte Teil ist ein echter Epilog nach dem Muster Turgenev’scher Werke, der im zeitlichen Abstand die erzählte Geschichte überzeugend abschließt und abrundet. Die sorgfältige Ausgewogenheit der Komposition belegt nicht nur Dostoevskijs mittlerweile erworbene souveräne Meisterschaft im Umgang mit den Erzählverfahren seiner Zeit; das Werk kann – vor Lev Tolstojs Kreutzersonate (Krejzerova sonata, 1891) – als die bedeutendste Gestaltung des Themas der Eifersucht in der russischen Literatur angesehen werden. Daran hatte sich Dostoevskij übrigens schon vorher versucht, in den burlesken Erzählungen Die fremde Frau (Čužaja žena) und Der eifersüchtige Ehemann (Revnivyj muž, beide 1848). Im Ewigen Gatten hat jedoch der gehörnte Ehemann, eine traditionell komische literarische Figur, eine neue tragische Dimension gewonnen. Und besonders eigentümlich und kennzeichnend für Dostoevskij ist, dass sich die entscheidenden Vorgänge im Inneren der handelnden Personen vorbereiten bzw. abspielen. Es wird gewissermaßen die fantastische Realität im Inneren des Menschen vorgeführt. Die Romanerzählung Der ewige Gatte ist bis auf den Epilog in ein gespenstisches Zwielicht getaucht, das Vel’čaninovs Träume als Projektionen seiner Schuldgefühle zeigt. Denn das Werk fügt sich in die Generalthematik der mittleren und späten Dichtungen Dostoevskijs, in denen die Helden ihrer Schuld nicht entrinnen können. Früher oder später holen sie ihre Taten aus der Vergangenheit ein und verlangen Sühne.
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Abb. 48: Dostoevskij, Porträtaufnahme, 1871
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9. Der Idiot: Der Mensch im Spannungsfeld von Liebe, Leidenschaft und Geld Der zweite der fünf großen Romane Dostoevskijs Der Idiot ist am 6. Dezember 1867 in Genf begonnen und am 17. Januar 1869 in Florenz abgeschlossen worden. Auch er ist bereits während des Schreibens 1868 in der Zeitschrift Der russische Bote (Russkij vestnik) des konservativen Verlegers Michail N. Katkov erschienen, die erste Buchausgabe kam erst 1874 heraus, woraus zu schließen ist, dass er als Neuerscheinung auf eine eher zurückhaltende Resonanz der Leser gestoßen war. Dieses Werk entstand nicht nur, wie die vorangegangenen, unter dem Druck ständigen Zeit- und Geldmangels, sondern unter für Dostoevskij noch ungünstigeren Umständen im „verhassten“ westlichen Ausland, wo er sich seiner Spielleidenschaft nicht entziehen konnte, wo ihn epileptische Anfälle quälten und – wie er fürchtete – mit dem Verlust seiner Geisteskräfte bedrohten, und wo im Mai 1868 seine geliebte erstgeborene Tochter Sonja in Genf gestorben war. Zuerst hatte Dostoevskij die ersten Kapitel ohne Konzept geschrieben, dann als erstes Thema die Bewältigung männlichen Stolzes durch Selbstüberwindung ins Auge gefasst, auch diese Zielsetzung gab er wieder auf und legte sich schließlich auf die Darstellung eines vollkommen schönen Menschen (prekrasnyj čelovek) fest und hoffte, dass sich während des Schreibens diese Idee konkretisieren werde. Seine Absicht war nach eigenem Bekunden: die Darstellung eines ganz und gar vollkommenen Menschen. Es gibt nichts Schwierigeres auf der Welt, besonders heutzutage. Alle Schriftsteller, nicht nur unsere, sondern sogar alle europäischen, wer immer sich an die Gestaltung des positiv Schönen gemacht hat, mussten passen, weil es eine maßlose Aufgabe ist. Das Schöne ist ein Ideal, und das Ideal ist bisher weder bei uns, noch im zivilisierten Europa, annähernd erarbeitet worden.
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Auf der Welt gibt es nur eine positiv schöne Gestalt – Christus – sodass die Erscheinung dieser unermesslich und unendlich schönen Gestalt freilich ein unendliches Wunder ist.1
Dieses Zitat ist einem Brief an seine Nichte Sof ’ja A. Ivanova entnommen, der dieser Roman auch gewidmet ist. Dostoevskij weist im Weiteren in diesem Brief darauf hin, dass unter den schönen Gestalten in der christlich inspirierten Literatur Don Quixote am gelungensten sei, aber er sei zugleich auch eine lächerliche Figur, ebenso wie Charles Dickens’ Mr. Pickwick oder Victor Hugos Jean Valjean aus dem Roman Les Misérables. Das seines Wertes nicht bewusste Schöne werde verspottet und errege dadurch Mitleid. In einem weiteren Brief an dieselbe Adressatin äußert Dostoevskij Unzufriedenheit mit seinem Roman: „Mit dem Roman bin ich nicht zufrieden, er drückt nicht den zehnten Teil dessen aus, was ich sagen wollte, dennoch sage ich mich nicht von ihm los […].“2 Diese strenge Selbsteinschätzung – Dostoevskij wollte sogar eine ablehnende Rezension auf sein eigenes Werk schreiben (wie Schiller auf Die Räuber) – ist allerdings von der internationalen Aufnahme und Wirkung bis heute korrigiert worden, gehört der Roman Der Idiot doch zu den meist dramatisierten und meist verfilmten Werken Dostoevskijs.
Abb. 49: Moskau, Metrostation Dostoevskaya, Szenen aus „Der Idiot“, Mosaik von Ivan Nikolaev, 2010 Dostoevskij meinte wohl, dass ihm die Gestaltung des „positiv schönen Menschen“, dessen ideale Verkörperung er eben in Christus sah, ebenso wenig restlos gelungen sei, wie seinen genannten westlichen Schriftstellerkollegen. In seinen Entwürfen 150
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und Notizen bezeichnet Dostoevskij die zentrale Figur seines Romans, den Fürsten Myškin, dreimal als Christus. Daran hat sich eine wesentliche Frage der literaturwissenschaftlichen Interpretation dieses Romans entzündet, die Małgorzata Świderska in die Frage gekleidet hat, „Dostoevskijs Idiot, ein moderner Christus?“3 Der katholische Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini (1885– 1968) hat in seinem Buch Religiöse Gestalten in Dostojevskijs Werk die Meinung vertreten, dass man im Roman Der Idiot „eine mächtige und tiefe Gegenwärtigkeit Gottes empfindet, ohne dass viel von ihm gesprochen wird […]. Deutlich ist weiter, dass diese Gegenwart vor allem an der Person des Fürsten Myškin hervortritt […]. Der eigentliche Inhalt seiner Existenz ist religiös. Im letzten ist es Christus, so wenig von ihm ausdrücklich die Rede ist, und so selten sich Myškins Gedanken oder die Bewegung seines Herzens ausdrücklich auf Christus richten.“4
Myškins offensichtliche Schwächen erklärt Guardini damit, dass er wohl eine zur Selbstbehauptung in der Welt unfähige Figur sei, aber „je höher ein Wert dem Range nach steht, um so schwächer muss er in der unmittelbaren Welt erscheinen“.5 Auf ähnliche Weise hatten den Fürsten Myškin zuvor schon Friedrich Nietzsche und André Gide direkt auf Christus bezogen. Dieser Auffassung hat Ludolf Müller in seiner Monographie Dostoevskij – sein Leben – sein Werk – sein Vermächtnis (München 1982, 21992) und in weiteren Aufsätzen widersprochen. Er weist darauf hin, dass sich Myškin als Person, in seinen Ansichten und in seinen Handlungen, und auch in seinen physischen Defekten nicht nur von dem überlieferten Jesus Christus unterscheide, sondern auch von dem Idealbild, das sich Dostoevskij selbst von Christus geschaffen hatte, was allerdings nicht ausschließe, dass Myškin auffallende gemeinsame Züge mit Christus aufweise. Diese erkennt L. Müller vor allem in Charaktereigenarten Myškins, die mit den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt. 5) übereinstimmen: „selig sind, die da geistlich arm sind“ – Myškin ist nicht nur spirituell, sondern auch intellektuell schwach entwickelt; „selig sind die Sanftmütigen“ – Myškin tröstet in Konflikten, verzeiht Spott und Kränkungen scheinbar folgenlos; „selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit“ – ohne Rücksicht auf Standesbarrieren oder die Folgen seines Tuns bemüht sich Myškin unablässig um gerechte Lösungen in Streitfällen und Skandalen, auch und besonders gegenüber seinen Widersachern und Feinden; „selig sind die Friedfertigen“ – Myškin 151
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verabscheut und verhindert Gewaltanwendungen und wehrt sich nicht, wenn er deren Opfer wird; „selig sind, die reinen Herzens sind“ – Myškin ist bis zu einem solchen Grade naiv vertrauensselig, ehrlich, offen, einfältig und ungeschickt, dass er mit einem Kinde verglichen und eben deshalb „Idiot“ genannt wird, weil ein erwachsener Mann mit einem solchen Verhalten in der Gesellschaft als nicht ganz normal angesehen wird, und schließlich – „selig sind die Barmherzigen“ – die am stärksten ausgeprägte Eigenschaft Myškins ist das Mitleid, weit stärker als Achtung und Liebe, wie ihm im Roman einmal entgegengehalten wird. Seine Liebe ist bloßes Mitleid, sie ist nur Caritas, ihr fehlt der Eros. Dieses einseitige Übergewicht des Mitleids und der barmherzigen Zuwendung hat im Roman sehr negative Folgen. Schon damit – in der einseitigen Verschiebung des Schwergewichts der Seligpreisungen – weicht Myškin von der harmonischen Gleichgewichtung der christlichen Maximen Jesu in der Bergpredigt ab. Weiterhin ist die Kindheit dieses rätselhaften Helden – er ist als Waise aufgewachsen – durch Krankheit verdunkelt, er wäre beinahe geisteskrank geworden, ein mehrjähriger Aufenthalt in der Schweiz hat ihn zwar geheilt, aber er ist noch immer seelisch labil, leidet außerdem an Epilepsie und (wohl auch) an sexueller Schwäche. Vor allem aber ist er eine bis ins Extreme passive, willensschwache Natur, die Entscheidungen ausweicht, die zum Urteilen und Verurteilen, Stellungnehmen und selbständigen Handeln unfähig ist. Dadurch löst er Konflikte, Skandale und Tragödien im Romangeschehen aus, die ohne sein Erscheinen wahrscheinlich nicht in dem Maße eskaliert wären. Das alles hat nun mit einer vollkommen schönen menschlichen Persönlichkeit, wie sie nach Dostoevskij in Christus inkarniert ist, nichts zu tun. Horst-Jürgen Gerigk diskutiert deshalb die von Dostoevskij selbst angedeuteten Parallelen zu Christus nicht einmal, sondern sieht in Myškin eine Figur der Verkennung, d. h. Myškin vermag die ihn umgebende Umwelt nicht nüchtern einzuschätzen und zu erkennen, wie aber auch umgekehrt ihn die Umwelt eben als schwachsinnigen Idioten verkennt.6 Myškins Eigenschaften und sein Auftreten verweisen jedoch auf literarische und volksreligiöse Vorlagen, die im Roman auch direkt genannt werden. Da wird Myškin einmal ein „Narr in Christo“, ein Jurodivyj genannt, damit ist eine spezifisch russisch-orthodoxe Askeseform gemeint, die in heiliger Einfalt auf das Angenehme, auf Freude und Genuss im Leben verzichtet. Dieses Jurodstvo ist eine in Russland lange tradierte Art der Askese, die erstmals in der altrussischen Chronik Povest’ vremennych let (Nestor-Chronik) in einer Erzählung von vier Mön152
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chen des Kiewer Höhlenklosters unter dem Jahresdatum 1074 erscheint: Einer dieser vier Mönche, Isakij, vollführt besonders schwere asketische Entsagungen und Übungen und wird schließlich deshalb allgemein verehrt. Um aber diese Verehrung abzuwehren, stellt er sich blödsinnig, geistesschwach und wandert als ein armer Irrer, ein harmloser Wahnsinniger, durchs Land. Diese Haltung, gewollt den Spott der Normalen auf sich zu ziehen, wurde zu einer spezifischen Askeseform: das absichtliche Verzichten auf den gesunden Menschenverstand, eine Art mystischer Realismus, der auf Erden die Normen des Irdischen und den üblichen Kompromiss zwischen irdisch menschlichen Bedürfnissen und überirdisch heiliger Reinheit sprengen möchte. In der Praxis war es natürlich schwer auseinanderzuhalten, wo der Jurodivyj ein wirklich Geistesschwacher war und wo Geistesschwäche nur vorgetäuscht wurde. Auf jeden Fall rechnete diese Haltung mit der scheuen Furcht der Gesunden vor dem Wahnsinn, weshalb Jurodivye geduldet, wohl auch verehrt, auf jeden Fall aber geschont wurden. Myškins schwer begreifliche Einfalt erscheint einigen handelnden Personen als Jurodstvo, aber Myškin ist kein solcher Narr in Christo. Eher ähnelt Myškin Miguel de Cervantes’ (1547–1616) Don Quixote, unter dessen Narrheit sich eine nie versiegende Güte und – in lichten Momenten jedenfalls – auch gesunder Menschenverstand verbergen. Letzterer fehlt dem „armen Ritter“, dem Helden einer ironischen Ballade (1829) Puškins. Dostoevskij lässt seine Romanfigur Aglaja Epančina diese Ballade deklamieren, die die romantische Verklärung hoher Minne in eine quasi reale Liebesgeschichte transformiert: Ein Ritter hatte eine Vision der Gottesmutter und erwählt sich diese daraufhin zur verehrten Dame, für die er fortan lebt und kämpft und den Bezug zur Realität verliert.7 Die an Fausts Rettung gemahnende Erlösung des „armen Ritters“ – Puškin hat sein Gedicht übrigens vor der Veröffentlichung von Goethes Faust II geschrieben – spiegelt sich allerdings nicht in Myškins traurigem Schicksal – er verfällt ja am Ende des Romans wieder dem Wahnsinn, und das Gedicht ist auch eher funktional in eine Phase des Romans eingebunden, als dass es in einen interpretatorischen Sinn für die Gestalt des rätselhaften Fürsten verstanden werden könnte.8 Eher sind Parallelen zu dem tumben Toren Parzival denkbar, wo ja auch grenzenlose Naivität schädliche Folgen auslöst und Mitleiden eine wesentliche Rolle spielt. Aber es ist nicht bekannt, ob Dostoevskij die Parzival-Dichtungen des Chrétien de Troyes oder Wolframs von Eschenbach gekannt hat, und Richard Wagners Musikdrama ist erst viel später (1882) erschienen, Dostoevskij hätte es sicher aus Prinzip verschmäht, sich dort zu orientieren. 153
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Nahe liegt, dass für die Gestalt des Myškin auch Dostoevskijs eigene Figur der Sonja Marmeladova Anregungen geliefert haben könnte. Ihr gütiges mitleidendes einfaches und gerades menschliches Gefühl ist Gegenkraft gegen den Perfektionismus und das Effektivitätsstreben der Ratio. Wenn Raskol’nikov einseitig vom euklidischen Verstand, von der Ratio beherrscht ist und deshalb von der menschlichen Gemeinschaft abgespalten lebt, wie ja sein sprechender Name sagt, so kann man im Fürsten Myškin durchaus die Antithese dazu sehen. Myškin ist einseitig vom Gefühl, vom Herzen, von irrationaler Emotionalität beherrscht, ihm fehlt die Ratio, und deshalb ist auch er letztlich abgespalten von der menschlichen Gemeinschaft, zumindest gelingt seine Integration in die Gemeinschaft nicht, und „Idiot“, wie er ja genannt wird, bedeutet im ursprünglichen Sinne im Griechischen als „idiotes“ auch isoliert, abgespalten. Nach diesen einleitenden Betrachtungen der rätselhaften Titelgestalt des Romans sei der Inhalt in seinen wesentlichen Handlungssträngen vorgestellt. Das ist keine leichte Aufgabe, weil sich dieser Roman – im Unterschied zu dem straffer komponierten Roman Schuld und Sühne und den wie eine Novelle präzise strukturierten Romanen Der Spieler und Der ewige Gatte – besonders im dritten und vierten Teil – in eine Vielzahl von Nebenhandlungen und Abschweifungen verliert.9 Der 26-jährige Fürst Myškin kehrt mittellos aus der Schweiz nach Sankt Petersburg zurück und erfährt im Zug von seiner Reisebekanntschaft, dem vitalen, triebhaften Kaufmann Parfen Rogožin und dem beflissen geschwätzigen Beamten Lukjan Lebedev Näheres über die Familie des Generals Epančin, dessen Frau eine entfernte Verwandte Myškins ist, und die er zu besuchen sich anschickt. Rogožin erzählt aber auch von der faszinierenden Schönheit Nastas’ja Fillipovna Baraškova, die ihr Pflegevater Tockij missbraucht haben soll, und die seither in Petersburg als Edelkurtisane gilt, obwohl sie eher zurückhaltend erscheint, was die Libido Rogožins anstachelt, der sie erobern und besitzen möchte. Myškin führt sich mit unglaublicher Naivität bei den Epančins ein, entzückt zwar mit kalligrafischen Künsten, wird aber ansonsten staunend belächelt und besonders von der Jüngsten der drei Töchter, der vorlauten, aber blendend schönen Aglaja verspottet. Da der Fürst, der seine Gastgeber mit einigen Geschichten unterhält, nicht so recht ernst genommen wird, verbirgt der General auch persönliche Probleme nicht: Auch er, der mit Tockij freundschaftlich verbunden ist, hat sich gegenüber Nastas’ja Fillipovna nicht gleichgültig verhalten und möchte nun zusammen mit Tockij dieses Problem dadurch lösen, dass man Nastas’ja mit seinem Sekretär, dem Karrieristen
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Ganja (Gavrila) Ivolgin verheiratet und die Zustimmung zu dieser Ehe mit einer entsprechenden Summe sicherzustellen erwirkt. Myškin wird bei Ivolgins einquartiert und lernt dort diese Familie kennen, einen heruntergekommenen General, der nur in seiner Vergangenheit lebt und mit Lügengeschichten prahlt, seine blässliche Frau, deren Töchter und jüngsten Sohn Kolja (Nikolaj), der zu Myškin bald eine Zuneigung entwickelt. Myškin fühlt sich auf rätselhafte Weise zu Nastas’ja hingezogen, mit der ihn Kolja bekannt gemacht hat. Nastas’ja feiert Geburtstag, auch sie findet an Myškin Gefallen und fragt ihn vor den versammelten Gästen, ob sie Ganja Ivolgin heiraten und sich damit verkaufen soll. Myškin rät ab. Im Verlauf des daraus entstehenden Skandals macht er Nastas’ja einen Heiratsantrag, aber Rogožin bietet eine weit größere Summe als Tockij und Epančin und verlässt mit der hysterisch erregten Nastas’ja das Fest. Diese und noch weitere, eher abseitige Ereignisse spielen sich im Laufe eines einzigen Tages ab, am Tage der Ankunft Myškins nach durchwachter Nachtfahrt! Im zweiten Teil ist Myškin zunächst in einer Erbschaftsangelegenheit aus Petersburg abgereist. Der anfangs mittellose Myškin hatte diese für ihn nicht unwichtige Angelegenheit, derentwegen er aus der Schweiz ja eigentlich angereist war, zunächst völlig vergessen. Obwohl mit Nastas’ja so gut wie verlobt, schickt er Aglaja Epančina einen Brief, den er allerdings mit „Bruder“ unterzeichnet. Myškin besucht Rogožin in dessen düsterem Hause. Rogožin erkennt in dem nun reich gewordenen Myškin einen ernsten Rivalen um Nastas’ja, zumal er deren Neigung für Myškin erkannt hat. Myškin will aber verzichten, weil er seine Bemühungen um Nastas’ja, der er aus ihrer misslichen Lage eigentlich nur aus Mitleid heraus helfen will, selbst nicht so recht zu qualifizieren weiß. „Wie kannst du sie mir abtreten?“, fragt Rogožin. „Dein Mitleid ist größer als meine Liebe.“ Myškin ahnt, dass Rogožin einen Mord plant. Er erlebt eine euphorische Stimmung vor einem epileptischen Anfall, der eintritt, als ihn Rogožin als Nebenbuhler erstechen will. Der entsetzte Rogožin flieht in panischem Schrecken. Kolja bringt den entkräfteten Myškin in Lebedevs Haus, von wo er nach drei Tagen in das nahegelegene Pavlovsk aufbricht, wohin bereits die Epančins und ihr Gefolge abgereist waren. Nastas’ja will Myškin dort heimlich treffen, Aglaja Epančina, der Myškin längst nicht mehr gleichgültig ist, und die eifersüchtig auf seine Beziehung zu Nastas’ja ist, trägt Puškins von der Zensur verbotene Ballade Vom armen Ritter auf einem familiären Treffen – Myškin war in die Familie der Epančins aufgenommen worden – zur allgemeinen Verstörung vor und ersetzt auch noch 155
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die Widmung „A. M. D. = Ave Mater Dei“ durch „N. F. B. = Für Nastas’ja Fillipova Baraškova“. Myškin, also als „armer Ritter“ apostrophiert, erträgt nicht nur diesen ungezogenen Spott, sondern auch noch die Schmähungen einer ungebetenen, von dem todkranken, erst achtzehnjährigen Studenten Ippolit Terent’ev angeführten Gruppe von Nihilisten, die Myškin der Erbschleicherei bezichtigen und einen beleidigenden Artikel über ihn verlesen, der Myškins Auftreten herabsetzt. Myškin ist sprach- und hilflos. Ganja Ivolgin kann diese Aktion aber als Verleumdung entlarven. In den durch Myškins Erscheinen ausgelösten skandalösen und chaotischen Vorkommissen klagt Frau Epančina, eine resolute, standesbewusste, aber auch menschlich besorgte Dame, zu Myškin: „Dass Sie aber auch uns in Ihre Dummheiten verwickeln müssen!“ – womit sie nicht unrecht hat, denn Nastas’ja Fillipovna, die inzwischen auch in Pavlovsk aufgetaucht ist, sorgt mit raffinierter Kalkulation für weitere Skandale, um ihre Rivalin Aglaja Epančina damit zu treffen. Im dritten Teil folgt Myškin Aglaja zu einem heimlichen Stelldichein, auf dem er von einem Briefwechsel mit Nastas’ja erfährt, die Aglaja auffordert, Myškin zu heiraten, damit dieser glücklich werde. Myškin begeht in Pavlovsk seinen 27. Geburtstag und kommt dem todkranken Ippolit näher, der ihn in seltsame Gespräche verwickelt und dabei eine instinktive, aber intellektuell zurückgewiesene Bindung an das Leben erkennen lässt. Andererseits betrachtet sich Ippolit in Folge seiner unheilbaren Krankheit als „außerhalb der Gesetze“ stehend und beansprucht das Recht auf Selbstmord als letzte freie Tat eines freien Menschen, denn „welche Moral kann es erlauben, einen Todkranken wider Willen am Leben zu erhalten?“ Er umarmt Myškin mit den Worten: „Ich nehme Abschied vom Menschen“, aber sein Versuch, sich zu erschießen, misslingt infolge eines Versehens und hat eine peinlich banale Reaktion aller Anwesenden – mit Ausnahme Myškins – zur Folge. Aglaja weist Myškin zurecht, der kein Erbarmen mit Ippolit habe! Sie kann ihre Liebe zu Myškin immer weniger verbergen, während dieser zwischen beiden Frauen schwankt, zumal ihn auch Nastas’ja bedrängt und eines Nachts im Park vor ihm auf die Knie fällt. Im letzten Teil dringt schließlich Aglaja in Myškin, sich vor versammelter Familie zu erklären, woraufhin der total verwirrte und kindlich hilflose Myškin Aglaja einen Heiratsantrag macht. Aglaja fragt ihn aber immerhin: „Kann man denn mit Ihnen auch im Ernst über etwas reden?“, sie ist sich also ihrer Sache doch noch nicht ganz sicher. Auf einer Abendgesellschaft der Epančins, auf der der Bräutigam in die 156
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Gesellschaft eingeführt werden soll, benimmt sich Myškin zunächst tadellos, verfällt dann aber in hitzige slavophile Tiraden und erleidet wieder einen epileptischen Anfall. Das veranlasst die Epančins zu der Frage, ob dieser Myškin denn überhaupt als geeigneter zukünftiger Ehemann Aglajas angesehen werden kann, während Aglaja bekannt geworden ist, dass Nastas’ja und Rogožin wieder nach Pavlovsk gereist sind. Sie nötigt Myškin zu einem gemeinsamen Besuch bei Nastas’ja, überzieht diese mit eifersüchtigen Beschimpfungen, woraufhin Nastas’ja Myškin zu einer Entscheidung zwingt. Myškin vermag wieder keine klare Position zu beziehen, so dass Aglaja wegläuft. Myškin wird von Nastas’ja gehindert, ihr zu folgen. Damit ist natürlich die Verbindung zu Aglaja Epančina geplatzt. Zwei Wochen später macht Radomskij, eine räsonierende Figur, die spät aufgetaucht und als Bräutigam Aglajas vorgesehen war, Myškin über sein Verhalten wohlbegründete bittere Vorwürfe. Auch Mitleid müsse Grenzen haben, ob Myškin vielleicht glaube, christlich gehandelt zu haben? Myškin antwortet, er sei schuldig, wisse aber nicht, inwiefern; alles sei anders, aber was das andere ist, vermag er nicht zu erklären. Auf Radomskijs insistierende Fragen, ob Myškin denn beide Frauen liebe, antwortet er mit „Ja“. Als Radomskij aber erklärt, Myškin habe keine von beiden geliebt, stimmt er auch zu. Mit den Worten: „Sie sind verrückt“ verlässt Radomskij kopfschüttelnd Myškin. Myškin und Nastas’ja wollen nun heiraten, aber auf dem Wege zur Kirche erkennt Nastas’ja Rogožin, stürzt mit den Worten „Rette mich!“ in dessen Arme und flieht mit ihm. In Petersburg findet Myškin schließlich Rogožin in perverser Andacht vor Nastas’jas Leiche. Er hat Nastas’ja erstochen. Myškin tröstet seinen delirierenden Nebenbuhler und streichelt ihm liebevoll Kopf und Wangen. Rogožin erkrankt an Nervenfieber und wird in einem Prozess nach Sibirien verbannt, Myškin fällt endgültig in geistige Umnachtung und wird in das Schweizer Sanatorium zurückgebracht, wo man keine Hoffnung hat, ihn noch einmal heilen zu können. Aglaja reist nach Paris, wo sie einen polnischen Grafen kennenlernt und heiratet, der sich jedoch bald als Betrüger entpuppt, Aglaja wird zu einer katholischen Glaubensfanatikerin. Diese ziemlich ausgedehnte Inhaltsangabe – obwohl auch sie sich nur auf das Wesentliche beschränkt – soll zunächst einmal zeigen, dass Myškin als zentrale Figur im Roman erscheint, aber infolge des Mangels an intentionalem Handeln dennoch nicht als Hauptfigur oder als Hauptheld angesehen werden kann. So hat das auch Dostoevskij selbst erkannt, der seinem Freunde Apollon Majkov schrieb, in diesem Roman gäbe es zwei Hauptgestalten, und außer diesen beiden Helden noch zwei 157
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Charaktere, „zwei Hauptcharaktere, das heißt beinahe Helden“ (Brief vom 12. Januar 1868).10 Das Romangeschehen ereignet sich in den wechselnden Beziehungen der Partner, in denen Myškin nur Objekt ist, in Abstoßung und Faszination. Das führt zu effektvollen Kontrasten und Verwicklungen. Die Struktur des Romans lässt sich auf komplizierte Dreiecksverhältnisse zwischen den Figuren, die sich abwechselnd anziehen und abstoßen, zurückführen: Nastas’ja wird von Rogožin leidenschaftlich körperlich geliebt und begehrt. Sie fühlt sich auch zu ihm hingezogen. Myškin fasziniert Nastas’ja durch seine reine Spiritualität und sein Mitleiden, aber Nastas’ja erkennt, dass dieser Mann ihr einen wesentlichen Lebensbereich, die physische Erfüllung, nicht geben kann, sie deshalb in der Totalität ihrer Persönlichkeit einengen würde, weshalb sie zuletzt von ihm flieht. Rogožin hasst Myškin als Rivalen bei Nastas’ja, liebt ihn aber als Idealisten und reinen Menschen. Aglaja reizt Myškins aparte Unverstelltheit und sein anziehendes Äußeres, es gelingt ihr aber nicht, ihn zu beherrschen, und so schwankt sie eine Zeitlang zwischen ihm und Ganja Ivolgin und Radomskij, die sie auch verehren. Sie rivalisiert mit Nastas’ja um Myškin und erliegt schließlich ihrer Eifersucht. Auf der Geschehensebene bildet also die Liebe das zentrale Motiv, aber alle Liebesbeziehungen scheitern, weil Myškin im Mittelpunkt liebesunfähig ist und eben nicht zu handeln, ja nicht einmal zu reagieren weiß. Gegenüber Nastas’ja empfindet er tiefes Mitleid und glaubt, ihr durch seinen Heiratsantrag helfen zu können, was wohl nicht anders als grenzenlos naiv, ja unreif einzuschätzen ist. Aglajas Glanz und zudringendem Verhalten kann er auch nicht widerstehen und sagt ihr – wenngleich unter Druck – ebenfalls die Ehe zu. Am Ende steht er, wie Radomskij ihm klar macht, als Versager dar und geht als solcher zugrunde. Das ist nun eine recht enttäuschende Einschätzung dieser Person aus den Folgen ihres Verhaltens, nicht aber nach ihren Intentionen, denn diese sind durchweg rein und edel, und wenn sie sich nicht verwirklichen lassen, so tragen daran auch maßgeblich alle Myškin begegnenden Figuren und die ihn umgebende Gesellschaft die Schuld, denn niemand versucht auch nur annähernd, Myškin zu verstehen und seiner psychischen Beschaffenheit gerecht zu werden. Der zynische Rationalist Ippolit bringt es einmal auf den Punkt, indem er ausführt, dass „wir alle nach unserem eigenen Maß und unseren Vorstellungen und Erwartungen einschätzen und dementsprechend mit ihnen umgehen, dass wir
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sogar die Vorsehung erniedrigen, wenn wir ihr, weil wir sie nicht begreifen können, unsere Begriffe zuschreiben“ (Teil 3, Kap. 6).
Myškins positive Fähigkeiten sind eng mit seiner physischen Krankheit Epilepsie verbunden. Einmal seine euphorische Fähigkeit, die Harmonie und Schönheit des Lebens in der Spannung vor epileptischen Anfällen zu erleben, ein Gefühl überströmenden Glücks. Raum, Zeit, Kausalität hören auf zu existieren, die Harmonie eines Erfülltheitserlebnisses ergreift Myškin, und er versucht, wenn auch vergeblich, seine Umwelt dafür aufzuschließen, Harmonie in die Welt zu tragen. Seine sympathische Kindlichkeit, sein Mangel an erwachsener Reife, seine Vertrauensseligkeit, die in der Welt der Erwachsenen in Petersburg zunächst nur Befremden und nachsichtiges Lächeln, dann sogar Spott, aber zuletzt doch Nachdenklichkeit und Sympathie auslösen, seine kindlich spontane Zuneigung zu anderen Menschen, seine Emotionalität und Weichheit, sind wohl auch mit seiner Krankheit verknüpft. Allerdings bewirkt sein Beispiel in der Gesellschaft und unter den Menschen, mit denen er zusammenkommt, keine spürbare Änderung ihrer Ansichten und ihres Verhaltens. Die Rolle der Liebe, des Eros ist zentral im Roman, wobei Liebe als Kraft einer besonderen, ausschließlichen Anziehung eines Menschen durch einen Menschen des anderen Geschlechts zu verstehen ist. Aus dieser Beziehung kann neues Leben hervorgehen. Diese Seins- und Erlebensweise, dieses existentielle Gefühl, das im Idealfalle Körperliches und Geistiges harmonisch vereint, die eigentlich vereinende Liebe, tritt im Roman in ihren Extremen auf und wirkt dadurch trennend und verderbend: Für Rogožin ist Liebe nur über und durch Sexualität als körperliche Liebe wirklich. Ihn fasziniert sozusagen der „coole Sex“ der Nastas’ja, aber es ist bei Rogožin dennoch etwas darüber Hinausgehendes, was ihn leidenschaftlich zu ihr treibt. Sein Gefühl endet nicht im Bett, aber seine Liebe ist egoistisch, ohne Mitleid, er will Nastas’ja besitzen. In Myškin erkennt man das andere Extrem, bloß spirituelle Liebe, bloß Mitleid und Helfenwollen, ohne jedes Verständnis für sinnliches Begehren. Aglaja gegenüber empfindet er Bewunderung für ihre Schönheit, sozusagen ästhetische Liebe. Im Schnittpunkt der leidenschaftlich Liebenden und Ringenden Aglaja, Nastas’ja und Rogožin ist er Ziel und Objekt auf ihn gerichteter Wünsche. Er hat kein Verhältnis zur körperlichen Liebe, ist sexuell indifferent, wahrscheinlich impotent, jedenfalls auf diesem Gebiet ganz hilflos und kann folglich keinem helfen. Das bedeutet: Menschliche Güte und seelische Schönheit ohne Eros sind im Leben macht159
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los. Myškins Schuld liegt darin, dass er in der Liebe, der höchsten und wichtigsten Form zwischenmenschlicher Beziehungen – was für Dostoevskij in diesem Roman wichtiger ist als alle gesellschaftlichen Beziehungen – ein Schwächling und Versager ist. Da seine Schwäche aber von vornherein durch Anlage und Krankheit bedingt ist und er diese nicht aus eigener Kraft – zumal als Epileptiker – bezwingen kann, wird man in ihm eine tragische Figur zu sehen und seine Schuld als tragisch zu bewerten haben. Er ist ohne eigenes intentionales Handeln, ohne eigenes Verschulden schuldig geworden. Deshalb redet er auch davon, dass alles anders sei, als es Radomskij deutet, der ihm erklärt, er sei von seiner Rückkehr nach Russland enttäuscht und von den auf ihn einstürmenden Gefühlen der ihn umgebenden Menschen, besonders der Frauen, überfordert. Sein Rivale Rogožin erschreckt mit seinen bedrohlichen Augen widerholt den Fürsten. Er tritt meist in finsteren dunklen Räumen oder nachts auf, was ihm eine gewisse dämonische Wirkung zuweist. Ihn beherrscht Liebesleidenschaft, Sinnlichkeit, er neigt zu heftigen spontanen Handlungen, führt ein ausschweifendes Leben, sein sprechender Name – von „rog“ = Horn als Phallussymbol – verweist auf das Triebhafte in ihm, kann aber auch mit religiöser fanatischer Leidenschaftlichkeit der Altgläubigen und Sektierer in Zusammenhang gebracht werden (vgl. den Moskauer Friedhof der Altgläubigen „Rogožskoe kladbišče“). Das russische Wort für Leidenschaft = „strast’“ ist dem Begriff Leiden (russ. stradanie) näher als im Deutschen. So gesehen leidet Rogožin an seiner inneren Triebhaftigkeit. Nach Fridlender kämpfen in ihm finstere leidenschaftliche Kräfte mit tiefen menschlichen Empfindungen,11 und dass schließlich erstere nicht gebändigt werden können und den Sieg davontragen, darf auch damit erklärt werden, dass Rogožin den Glauben verloren hat. Als ein düsterer, vitaler und aktiver Charakter bildet er die Kontrastfigur zu seinem Rivalen, der passiven Lichtgestalt Myškin, dessen Familienname auch sprechend zu verstehen ist, von „myška“ = Mäuschen. Neben der Liebe bildet auch der Tod ein zweites zentrales Thema des Romans. Häufig ist vom Tode oder vom Sterben die Rede. Schon zu Beginn erzählt Myškin Geschichten vom Empfinden zum Tode Verurteilter vor der Hinrichtung und bringt das mit Christi Empfinden vor der Kreuzigung in Verbindung. Er erzählt von einer Hinrichtung (Guillotinierung), die er in Lyon erlebt hat; Lebedev unterhält auf Myškins Geburtstag mit einer Geschichte von einem Manne, der im Mittelalter während einer Hungersnot sechzig Mönche und sechs Kinder verspeist haben soll, sich danach jedoch selbst anzeigte, weil er doch noch Gewissen hatte, was dem 160
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Menschen von heute fehle! Im Roman wird auf Morde, die in der zeitgenössischen Presse berichtet wurden, angespielt; Rogožin versucht, Myškin umzubringen und tötet Nastas’ja; Ippolit versucht, sich selbst zu töten und stirbt früher als erwartet; General Ivolgin stirbt an einem Schlaganfall; Myškin verfällt wieder dem Wahnsinn, was seinem seelischen Tod ebenso gleichkommt wie Aglajas Untergang im katholischen Fanatismus. Der Tod als Antithese zur lebensspendenden Liebe begleitet das Romangeschehen wie ein lebendiger Schatten. Er findet tiefsten Ausdruck in der Betrachtung des Bildes von Hans Holbein d. J. (1497–1643) Der tote Christus im Grabe (1521), das Dostoevskij bei einem Besuch in der Baseler Gemäldegalerie so tief erschüttert hatte, dass seine Frau Anna Grigor’evna fürchtete, er bekäme beim Betrachten desselben einen epileptischen Anfall.
Abb. 50: Hans Holbein d. J. , Der Leichnam Christi im Grabe, 1521/22, Kunstmuseum Basel Das Bild wird drei Mal im Roman erwähnt. Das damit verbundene Bilderlebnis hat eine interpretatorische Schlüsselfunktion. Bezeichnenderweise hängt eine Kopie dieses Bildes in Rogožins düsterem Hause. Als Myškin das Bild bei Rogožin betrachtet, schreit er auf: „Vor diesem Bild kann man ja seinen Glauben verlieren!“ Rogožin stimmt zu und deutet sogar an, dass er selber auf diese Weise seinen Glauben verloren habe. Der tuberkulöse todkranke Nihilist Ippolit ist ebenfalls existentiell von diesem Bild ergriffen und verliert den letzten Rest seines Glaubens. Seine Deutung dieses Gemäldes, die jeder kunsthistorischen Bildbeschreibung zur Ehre gereicht, sei hier im Wortlaut zitiert: Auf dem Bild ist der eben erst vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Künstler haben sonst die Gewohnheit, Christus auch am Kreuz
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und nach der Kreuzabnahme immer noch mit dem Abglanz einer ungewöhnlichen Schönheit in den Gesichtszügen darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm selbst bei den furchtbarsten Qualen zu bewahren. Auf dem Bild bei Rogožin ist jedoch keine Spur von Schönheit, das ist im vollsten Sinne des Wortes der Leichnam eines Menschen, der noch vor der Kreuzigung unsägliche Qualen erduldet hat, Wunden, Marter, Schläge von den Wachen, Schläge vom Volk, als er sein Kreuz trug und unter seiner Last zusammenbrach, und endlich die Kreuzesqual selbst, sechs Stunden lang, nach meiner Betrachtung wenigstens. Freilich ist es das Gesicht eines Menschen, der eben erst vom Kreuz abgenommen wurde, d. h. es hat noch sehr viel Leben und Wärme; noch ist nichts erstarrt, so dass sogar noch das Leiden in den Zügen des Toten zu spüren ist, als ob er selbst es immer noch empfände, das ist vom Künstler sehr fein erfasst; dafür aber ist das Gesicht schonungslos dargestellt; hier ist reine Natur, und wahrlich, so muss auch das Gesicht eines Menschen, wer immer er sei, nach derartigen Martern aussehen. Ich weiß, dass die christliche Kirche schon in den ersten Jahrhunderten festgestellt hat, dass Christus nicht sinnbildlich, sondern wirklich gelitten hat, dass also auch sein Leib am Kreuz völlig dem Naturgesetz unterworfen war. Auf dem Bild ist dieses Gesicht von den Schlägen furchtbar entstellt, gedunsen, es hat schreckliche angeschwollene und blutunterlaufene Beulen, die Augen sind offen, die Pupillen verdreht: die großen und unbedeckten weißen Augäpfel haben einen toten gläsernen Glanz. Aber seltsam, betrachtet man diesen Leichnam eines gemarterten Menschen, so drängt sich eine eigentümliche und interessante Frage auf: Wenn ein solcher Leichnam (und er muss bestimmt so ausgesehen haben) alle seine Jünger, seine späteren bedeutendsten Apostel gesehen haben, wenn ihn die Frauen gesehen haben, die ihm folgten und an seinem Kreuz standen, und alle, die an ihn glaubten und ihn anbeteten – wie konnten sie beim Anblick eines derartigen Leichnams glauben, dass der Gemarterte auferstehen werde? Hier taucht unwillkürlich der Gedanke auf: Wenn der Tod so entsetzlich und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann bezwingen? Wie kann man sie bezwingen, wenn sie jetzt nicht einmal der bezwungen hat, der zu seinen Lebzeiten auch die Natur bezwang, der „Talitha kumi“ rief, und das Mädchen erwachte, der „Lazarus, komm heraus“ sagte, und der Tote stieg aus dem Grabe? Die Natur erscheint einem bei Betrachtung dieses Bildes wie ein riesiges unerbittliches stummes Tier, oder richtiger, weit richtiger gesagt,
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wenn es auch seltsam klingen mag, wie eine ungeheure Maschine neuester Konstruktion, die sinnlos, taub und gefühllos ein großes und unschätzbares Wesen ergriffen, zerschmettert und verschlungen hat – ein Wesen, das allein mehr wert war, als die ganze Natur und alle ihre Gesetze, als die ganze Erde, die vielleicht nur zu dem Zweck erschaffen wurde, damit dieses Wesen erscheinen konnte. Dieses Bild bringt gleichsam den Begriff der finstern, rohen und sinnlos ewigen Kraft zum Ausdruck, der alles unterworfen ist, und übermittelt ihn unwillkürlich dem Betrachter. Die Leute, die den Verstorbenen umringten, und von denen kein einziger auf dem Bild zu sehen ist, mussten an jenem Abend eine furchtbare Seelenpein und Verwirrung empfinden, denn alle Hoffnungen waren mit einem Schlage zerschmettert. Sie mussten von grauenhaftem Entsetzen erfüllt auseinandergehen, wenn auch jeder in sich einen gewaltigen Gedanken mitnahm, der ihnen nie wieder entrissen werden konnte, und wenn der Heiland selber am Tage vor der Kreuzigung sein Bild als Leichnam hätte sehen können, wäre er dann wohl so aufs Kreuz gestiegen und wäre er so gestorben? Auch diese Frage taucht unwillkürlich auf, wenn man das Bild betrachtet. (Teil 3, Kap. 6)
Auf diesem Bilde sei Christus so dargestellt, dass keinerlei Spuren jener göttlichen Schönheit zurückgeblieben und noch erkenntlich sind, die sein Leben doch erfüllt hatten – da ist nichts zu sehen als ein gemordeter, geschändeter, zerquälter Leichnam ohne die leiseste Hoffnung auf Unsterblichkeit, Auferstehung und ewiges Leben. Wenn also auch dieses Leben, das doch das sittliche Ideal und höchste Vollendung menschlichen Lebens und die absolute Realisierung des starken göttlichen Guten gewesen ist – verfällt, dann können doch nur Kosmos und Natur ein „riesenhaftes unerbittliches stumpfes Vieh“ oder „eine riesige Maschinerie neuester Bauart“ sein, die taub und teilnahmslos ein unendlich wertvolles Wesen verschlungen und vernichtet hat. Wenn Holbein mit diesem Bilde recht hat, dass auch das Leben Christi als absolute Erfüllung des sittlichen Ideals von der Natur gleichgültig vernichtet und der Verwesung preisgegeben ist, dann muss man den Glauben daran verlieren, dass unser vergängliches naturhaftes menschliches Leben im unvergänglichen Sein, in Gott geborgen und aufgehoben ist, dann ist die individuelle Seele ebenso sterblich wie dieser schauderhafte Überrest Christi auch. Wenn – wie dieses Bild zeigt – Christus, Gottes wirklicher, menschgewordener Sohn, wie jeder sterbliche Mensch auch im Grabe liegt, und die Todesstarre seinen fahlen Leib 163
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verfärbt und der beginnenden Verwesung überantwortet, wenn mit dem Tode sein Leben wie jedes andere menschliche Leben geendet hat, ins Nichts entschwunden ist, und Gott seinen eigenen Sohn, sein Kind, als Vater nicht vor dem Tode bewahrt hat oder bewahren konnte, dann kann es ja wohl einen allmächtigen, seine Geschöpfe liebenden Gott gar nicht geben, dann ist der Glaube an ihn eine Illusion, ein schönes naives Märchen, wie es Myškin glaubt und erzählt, das aber mit der Realität nichts gemein hat. Gibt es aber keinen Gott, was Tod und Verwesung seines Sohnes Christus beweisen, bedarf es keines Glaubens, kann es für einen denkenden Menschen auch keinen Glauben mehr geben und folglich auch keine Grundlage für daraus hergeleitetes, vom Glauben bedingtes ethisches Verhalten und eine Sinngebung des Lebens im Hinblick auf eine Trans zendenz, auf Unsterblichkeit. Dann kann man bedenkenlos klonen und mit Genen das Leben manipulieren, dann hat es keinen höheren Sinn, Gutes zu tun und nach Gutem zu streben, sich zu vervollkommnen, weil ja alles Menschenwerk vergänglich und ohne Frucht und Lohn bleibt, dann bleibt nur übrig, das Leben als biologischen Zufall hinzunehmen und es trieb- und rauschhaft so lange auszukosten, so lange die physischen Kräfte dazu ausreichen, und so lange ist „alles erlaubt“, was man zu tun stark und fähig ist, wie es Raskol’nikov will, so tut oder vertritt es nun auch der todkranke Ippolit, so predigen es Kirillov (Die Dämonen) und Ivan Karamazov, und selbstverständlich ist in einer solchen Sinnlosigkeit des Daseins ohne Gott auch der Selbstmord erlaubt, ja sogar eine positive und heroische Tat. Diese These, dass aus Atheismus Selbstmord und Zerstörung folgen, begegnet auch später bei Dostoevskij. Holbeins Bild hat aber auch für Myškin Bedeutung: In seiner kindlichen Naivität und Einfalt hat er die Gewissheit des Gottesglaubens, wofür ihm sein religiöses Gefühl ausreichende Grundlage ist. Zweifel fechten ihn kaum an, er stößt sie von sich. Als Rogožin Rechenschaft und Beweise für seinen Glauben von Myškin fordert, erzählt dieser ihm bloß Märchen und Geschichten, die Rogožin nicht ernst nehmen kann. Myškin ist zwar selbst in seinem Glauben sicher, vermag aber nicht, über seinen Glauben zu reflektieren und ihn in rationaler Argumentation zu formulieren und zu verteidigen. Er ist unfähig, seinen Glauben zu rechtfertigen oder aus einem vernünftigen Bewusstsein zu begründen. Deshalb kann er Zweiflern und rationalen Suchern nicht helfen. Er kann ihnen intellektuell nichts bieten und unterliegt dem „verderblichen“ Einfluss, der von Holbeins Bild ausgeht. In den folgenden Romanen wird die Frage wieder auftauchen, wie sich der Glaube und das Wissen um Gott aus praktischer Vernunft und mit den Mitteln der rationalen Reflexion anerkennen und rechtfertigen lassen. 164
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Neben den Grundfragen der Liebe und des Todes wird – wie kaum anders zu erwarten, zumal der Roman ja im Westen entstanden ist – auch über das Problem Russland und der Westen reflektiert. Hier werden Myškin Worte in den Mund gelegt, die weder zu seiner naiven Geistesverfassung, noch zu seinem intellektuellen Vermögen passen, insofern fremd wirken und als Dostoevskijs eigenes Bekenntnis angesehen werden müssen, für das er seinen Roman als Plattform und Myškin als Sprachrohr benutzt. Beim Empfang im Hause Epančin redet sich Myškin in Rage und predigt, in Westeuropa herrsche Katholizismus, der nicht einmal eine Religion darstelle, sondern nur eine machtpolitische Ideologie sei, die sich religiös verbräme. Der Katholizismus sei die geradlinige Fortsetzung der Idee vom abendländisch römischen Imperium. Myškin sagt dort unter anderem: Auch der Sozialismus ist ein Kind des Katholizismus und wahrer katholischer Natur. Wie sein Bruder, der Atheismus, ist er aus Verzweiflung als Antithese zum Katholizismus als moralischer Macht entstanden, um die der katholischen Religion verloren gegangene moralische Kraft zu ersetzen, um den geistigen Durst der verdorrten Menschheit zu löschen und sie nicht durch Christus, sondern durch Gewalt zu retten. Das ist ein Bund aus Schwert und Blut. Das bedeutet für uns eine Bedrohung. Wir Russen müssen unseren Widerstand organisieren. Christus muss als Gegenkraft zu den westlichen Ideen erscheinen, und zwar unser Christus, den wir bewahrt haben, und den man dort niemals gekannt hat. (4. Teil, Kap. 7)
Damit verbunden ist die Ermahnung an den russischen Adel, den Myškin hier über alle Maßen preist, im Geiste der „Bodenständigkeit“ (počvenničestvo) Verwurzelung im Volk und im Boden zu suchen, wo der russische Geist und der russische Gott und Christus ihre Heimstatt haben, und von wo sie wieder auferstehen werden, um der Welt ein Beispiel zu geben und sie von ihrer selbstischen Hybris zu befreien. Dann werden das Gift des Unglaubens und der Verführung durch Positivismus und Wissenschaftsgläubigkeit verschwinden. Auch einen bösartigen Seitenhieb auf Herrn Turgenev konnte sich Dostoevskij hier nicht verkneifen. Es ist erstaunlich, mit welchem Geschick und Können Dostoevskij diesen problembeladenen Roman und seine derart komplizierten handelnden Figuren, allen voran den scheiternden und dennoch anziehenden Fürsten Myškin, in einer Weise vermitteln konnte, dass alle Figuren, selbst die abseitigsten, und sich scheinbar ver165
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laufende Episoden als notwendig und motiviert erscheinen, und der Leser noch heute das Riesenwerk mit wachsender Spannung und Anteilnahme liest. Ein wesentlicher Faktor dafür ist die Art der Darbietung – wie Brigitte Schulze gezeigt hat, ist der Roman in den entscheidenden Partien ausschließlich in Dialog- und Gesprächsform, also in personalem (figurenspezifischem) Erzählen geschrieben.12 Der Leser hat also die Illusion, unmittelbarer Zeuge von Disputen, Auseinandersetzungen und Skandalen zu sein. Die Erzählerkommentare nehmen den Charakter von Regieanweisungen an. Der Handlungs- und Meinungsstreit scheint sich wie auf der Bühne oder im Film vor uns abzuspielen. Der Erzähler selbst gibt zwar manchmal Kommentare und Beurteilungen ab, die ihn jedoch als gänzlich befangen und in das Geschehen hineingenommen erscheinen lassen, so dass er eigentlich selbst zu einer mithandelnden Figur wird und keine Distanz zum Geschehen herstellt, wie das der traditionelle allwissende und steuernde Erzähler tut. Das klingt z. B. so: Gut möglich, dass dieser Ippolit gar nicht so ein boshafter Grünschnabel war, wie ihn Ganja im Gespräch mit der Schwester hingestellt hatte, sondern boshaft in einer ganz anderen, uns überhaupt noch nicht bekannten Art. (Teil 5, Kap. 3)
Oder an anderer Stelle noch deutlicher: Leider ist es uns unmöglich gewesen, Zuverlässiges darüber zu erfahren, wie sich solche Beziehungen haben anknüpfen lassen […]. (Teil 4, Kap. 2)
Diese fingierte Uninformiertheit des Erzählers ist wahrscheinlich von der Entstehungsweise der großen Romane Dostoevskijs bedingt, die nämlich als Fortsetzungsromane in Zeitschriften erschienen und von Dostoevskij auch kapitelweise diktiert worden sind, so dass er während des Diktats meistens selbst noch gar nicht den detaillierten Überblick über das sich entfaltende Geschehen bis zur Auflösung gehabt hat. Auf jeden Fall belebt diese Darbietungsweise den Erzählerbericht ungemein, ebenso wie ein damit zusammenhängender anderer Trick Dostoevskijs, nämlich den Erzähler perspektivisch berichten zu lassen, also ganz aus der begrenzten Sicht einer handelnden Person. Auf diese Weise gewinnen die agierenden Figuren Freiheit, Eigenleben und Überzeugungskraft und vermögen die Beurteilung und Wertung des Lesers im Lesevorgang zu beeinflussen, vielleicht sogar zu steuern, natürlich im Sinne des Autors. Insoweit funktioniert diese „machiavellistische Poetik“ 166
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(H.-J. Gerigk 2013) als eine raffinierte gezielte Einwirkung auf den Leser, sodass trotz aller Vielstimmigkeit der Personen und ihrer Ideen im Roman nach Bachtin nicht von ihrer neutralen Gleichwertigkeit gesprochen werden kann. Der Roman Der Idiot ist nach Schuld und Sühne der zweite der fünf großen Romane Dostoevskijs, die in die Weltliteratur eingegangen sind. Als er ihn im Januar 1869 in Florenz abgeschlossen hatte, fasste Dostoevskij Pläne und Ideen, die religiöse und philosophische Problematik fortzusetzen, einen „Roman des Atheismus“ oder „Die Lebensbeschreibung eines großen Sünders“ in Angriff zu nehmen. Die Titel der Planungen zeigen, dass es um den Verlust des Glaubens und die Folgen dieses Verlustes für den Einzelnen, die Gesellschaft, für Russland und die ganze Menschheit gehen sollte: die Bedrohung durch moralische Zersetzung, Verlust von Verantwortungsgefühl, Nihilismus und drohendes geistiges und moralisches Chaos. Was aus diesen Plänen geworden ist, zeigen die folgenden Werke.
Abb. 51: Dostoevskij, Zeichnung von Konstantin A. Trotovskij, 1874
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Abb. 52: Eine Seite aus Dostoevskijs Manuskript von „Die Dämonen“ mit Zeichnungen Dostoevskijs, 1871
10. Die „Dämonen“ der Revolution: Dostoevskijs Vision von der Revolution und vom politischen Terrorismus1 Dostoevskijs Roman Die Dämonen (Besy), ins Deutsche auch als Die Besessenen oder Die Teufel und 1998 von Svetlana Geier als Böse Geister übersetzt, wurde 1870 in Dresden begonnen, zwei Jahre später in Sankt Petersburg beendet, und erschien von Januar 1871 bis Dezember 1872 in Fortsetzungen in der konservativen Moskauer Zeitschrift Der russische Bote (Ruskij vestnik). 1873 kam der Roman als erstes seiner Werke geschlossen in Buchform in Dostoevskijs Selbstverlag heraus, den im Wesentlichen seine Ehefrau Anna Grigor’evna organisiert hatte und betrieb. Der Roman stellt Dostoevskijs literarisch publizistische Beschreibung und warnende polemische Deutung der gesellschaftlichen Zustände in Russland nach den großen Reformen Anfang der 1860er Jahre dar, und diese Zustände waren in der Tat beunruhigend. Da die Reformen des Zaren Alexanders II. die Erwartungen der sogenannten progressiven Intelligencija nicht erfüllten, bildeten sich wie in den 1840er Jahren Debattier- und Diskussionsclubs, in denen man sich wieder mit deutschen linkshegelianischen materialistischen und französischen utopisch-sozialistischen Theorien beschäftigte, daraus aber ideologisch radikale, moralisch rigoristische und sozialrevolutionäre Zielsetzungen herleitete. Ein Teilnehmer und Zeitzeuge dieser Debatten, der Fürst Pëtr A. Kropotkin (1842–1921), hat ihre Motivation in folgenden Anliegen zusammengefasst: Wie kann dem russischen Volk konkret geholfen werden, wie können die Lebensmöglichkeiten der großen, armen und entrechteten, sozial versklavten, rückständigen und geistig vernachlässigten Masse der russischen Bevölkerung möglichst schnell und durchgreifend verbessert werden, welche andere, effektive und gerechte Gesellschaftsordnung kann für Russland geschaffen werden?2 169
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Diese Diskussionen fanden im Verborgenen statt, Zensur und Polizei durften nichts erfahren, radikale Kräfte gewannen die Oberhand, die Clubs verwandelten sich in Geheimbünde und revolutionäre Zellen, in denen – von Michail A. Bakunins (1814–1876) anarchistischen Aktivitäten in Westeuropa inspiriert – sich die Überzeugung durchsetzte, durch terroristische Anschläge – Brandstiftung, Gewaltakte, Attentate – eine allgemeine Furcht und Unsicherheit in der Gesellschaft auszulösen, Misstrauen gegenüber den Staatsorganen, die Sicherheit der Bürger und staatlichen Einrichtungen zu gewährleisten, auszustreuen und auf diese Weise den autokratischen Staatsapparat zu erschüttern, um in allgemeiner Angst und Verunsicherung den Boden für eine gesellschaftliche Umwälzung zu bereiten.
Abb. 53: Bakunin (rechts) im Barrikadenkampf im Mai 1849, Dresden Schon 1861/62 entstand in Sankt Petersburg eine erste Untergrundorganisation mit dem Namen „Land und Freiheit“ (Zemlja i volja), ihr folgten 1865 die Geheimbünde der Martincy und Ipatovcy in Moskau, aus letzteren ging eine straff organisierte kriminell terroristische Bande mit dem Namen „Die Hölle“ (Ad) hervor, deren Mitglied Dmitrij V. Karakozov (1840–1866) 1866 ein erfolgloses Attentat auf den Zaren verübte. In Petersburg gab es ab 1869 ebensolche Terroristenzellen wie die Čajkovcy 170
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und Dolgušincy, der revolutionär terroristische Untergrund breitete sich aus und schien – wie Dostoevskij und viele andere fürchteten – das Land zu durchsetzen. (Das war übrigens nicht übertrieben, der Terrorismus des sogenannten „Revolutionären Narodničestvo“ ergriff in den 1870er Jahren auch die Provinz, es kam zu wiederholten Attentaten auf den Zaren und Repräsentanten der Staatsmacht, 1881 ist der Reformzar Alexander II. in Sankt Petersburg einem Mordanschlag zum Opfer gefallen!) Dostoevskij verfolgte zunächst aus Dresden diese Entwicklung mit Entsetzen. Für ihn war klar: Das sind die Folgen der westeuropäischen atheistisch-sozialistischen Ideologien, die Russland schwächen und zerstören wollen, und es drängte ihn, unzweideutig dazu Stellung zu nehmen. Er wollte seine Meinung dazu in einem neuen Roman umfassend und deutlich aussprechen, auch wenn das Künstlerische darunter leiden und der Roman zum Pamphlet geraten sollte. „Ich werde mich bis zum letzten Wort aussprechen!“ Im Herbst 1869 erzählte Dostoevskijs Schwager Ivan G. Snitkin, der zu Besuch nach Dresden gekommen war, von Studentenunruhen an der Moskauer Universität und einem Kommilitonen namens Ivan Ivanov, der daran beteiligt war, aber an der Richtigkeit solcher Aktionen zu zweifeln begann. Wenige Wochen später las Dostoevskij in der russischen Presse vom Mord an diesem Ivanov, dessen Leichnam mit Würgemalen und einer Kopfschusswunde am 25. November 1869 aus einem Teich geborgen worden war. Die polizeilichen Ermittlungen deckten eine größere Gruppe von Revolutionären auf, die im sogenannten „Prozess der 87“, der internationales Aufsehen erregte, im Sommer 1871 verurteilt wurden. Der harte Kern dieser Gruppe war ein sogenanntes „Fünferkomitee“, dessen Anführer und eigentlicher Urheber dieses Verbrechens, Sergej Gennadevič Nečaev (1847–1882) indes mit Bakunins Hilfe die Flucht in die Schweiz gelungen war. Erst im Spätsommer 1872 wurde Nečaev in Zürich gefasst, anderthalb Jahre nach Beginn der Fortsetzungsfolge des Romans Die Dämonen im Russischen Boten. Es waren also hochaktuelle, die Öffentlichkeit bewegende Vorgänge, die Dostoevskij für das Sujet seines Romans verwendete. Nečaev hatte den Mord an Ivanov zwar politisch zu motivieren versucht, fand aber nur noch wenig Unterstützung unter der russischen politischen Emigration und europäischen Linken, die sich auch kaum bemühte, seine Auslieferung zu verhindern. Selbst seinen Beschützer Bakunin, der in Nečaev zunächst den Vorboten einer unmittelbar bevorstehenden Revolution in Russland erblickte, verprellte der gewissenlose Nečaev, indem er seinen Mentor um das Honorar für dessen russi171
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sche Übersetzung von Karl Marx’ Kapital betrog. Die Handlungsweise Nečaevs rief unter den europäischen Sozialisten große Empörung hervor und bot Marx die Gelegenheit, Bakunin aus der „Internationale“ auszuschließen. Nečaev wurde 1873 zu zwanzig Jahren Verbannung nach Sibirien verurteilt, jedoch auf kaiserlichen Befehl in der Peter-und-Pauls-Festung in Sankt Petersburg eingekerkert, wo er das Wachpersonal mit seiner charismatischen Persönlichkeit derart zu beeindrucken vermochte, dass er weitgehende Haftvergünstigungen erhielt und sogar Kontakte zur Außenwelt knüpfen und seine gewaltsame Befreiung vorbereiten konnte. Diese Versuche wurden jedoch entdeckt, das unzuverlässige Wachpersonal abgelöst und Nečaev in Einzelhaft gebracht, wo er 1882 im Alter von 35 Jahren an Unterernährung verstorben ist. Beim „Prozess der 87“ kam ein terroristisches Manifest zutage, das Nečaev verfasst hatte und als „Katechismus eines Revolutionärs“ in 21 Paragraphen terroristische Handlungsanweisungen formuliert. Seine Kernsätze lauten: „§1. Der Revolutionär ist ein Verdammter. Er hat kein Interesse an sich selbst, keine Gefühle, keine festen Beziehungen, keinen Besitz, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm ist von dem einzigen alles beherrschenden Gedanken der einzigen Leidenschaft besessen: der Revolution […] § 5. Der Revolutionär ist ein todgeweihter Mensch. Er hat kein Mitleid mit der ganzen privilegierten und gebildeten Welt und erwartet auch kein Mitleid für sich selbst. Er führt einen Kampf auf Leben und Tod. Jeden Tag muss er auf den Tod vorbereitet sein. § 6. Seine einzige kalte Leidenschaft für die revolutionäre Sache muss in ihm alle zarten Gefühle für Familienleben, Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit und sogar Ehre unterdrücken […]. § 10. Jeder Genosse muss mehrere Revolutionäre zweiten und dritten Grades kontrollieren. Er muss sie als Teil des allgemeinen revolutionären Kapitals ansehen, das seinem Vorhaben uneingeschränkt zur Verfügung steht […]. § 15. Die gesamte verfaulte Gesellschaft ist in mehrere Kategorien einzuteilen. Die erste enthält diejenigen, die zum sofortigen Tod bestimmt sind. Es
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ist eine Liste dieser nach dem Schaden, den sie dem erfolgreichen Verlauf der Revolution zufügen könnten, zu erstellen. Demgemäß sind sie zu liquidieren.3
Dann folgt eine zweite Kategorie derjenigen, die zunächst als Repräsentanten des Staates und seiner Gesellschaft in ihrer Rolle als Unterdrücker – Nečaev formuliert „in ihrem viehischen Agieren“ – vorzuführen und danach zu liquidieren sind. Die dritte Kategorie „hochstehenden Viehs“ – gemeint sind Intellektuelle, Industrielle, der Landadel, das Bürgertum, Handwerker und Gutsbesitzer – sie sind zu umgarnen, zu verwirren, zu verlocken und durch Aufnahme von Beziehungen an die terroristischen Revolutionäre zu binden und zu ihren Hörigen zu machen. Die vierte Kategorie sind oppositionell ambitionierte Liberale und Moralisten, die unter der Vortäuschung, sie zu unterstützen, gewonnen, sodann öffentlich kompromittiert und danach eingebunden, kontrolliert und als Unruhestifter eingesetzt werden. Die fünfte Kategorie sind Verschwörer, Doktrinäre und Kriminelle, die stimuliert und schließlich für den Umsturz gewonnen werden sollen. Gleiches gilt für die letzte Kategorie der emanzipierten Frauen. In einem in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichten Interview sprach der Ex-Terrorist Horst Mahler (*1936) im Jahr 1997 über den fanatischen Terroristen Nečaev und belegt dessen „Stellenwert“ und die Aktualität seiner Ideen auch für die neueren Formen terroristischen Handelns und Denkens der RAF. Die Zeit: In Dostoevskijs Roman Die Dämonen formuliert Nečaev, der als Vorläufer Lenins gilt, einen politischen Katechismus: ‚Ein Revolutionär ist ein todgeweihter Mensch, er kennt weder persönliche Interessen noch persönliche Geschäfte, weder persönliche Gefühle noch persönliche Bindungen.‘ Horst Mahler: Nečaev war eine Leitfigur. Bei Nečaev zeigte sich allerdings etwas, was mich an dieser ganzen Geschichte am meisten erschreckt hat, nämlich dass innerhalb einer solchen Gruppe der Faschismus ausbricht, nicht nach außen, sondern nach innen, wobei man sich sehr gut vorstellen kann, dass eine solche Gruppe das schließlich flächendeckend einführt, weil sie es ganz normal findet. Wie bei Nečaev.
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Die Zeit: Sie haben es mir auf dem Silbertablett geliefert. Die Faschisierung innerhalb der RAF.4
Auftreten und Programm des politkriminellen Nečaev war hier deshalb etwas ausführlicher vorzustellen, weil es als nahezu vollständige Darstellung der Aktionen und Aktivitäten einer zentralen Figur des Romans, nämlich des Terroristen und Verbrechers Pëtr Verchovenskij dienen kann, der in den Entwürfen und Notizen des Romans zunächst auch Nečaev geheißen hat. Der Fall Nečaev gab also den Anstoß für den Roman Die Dämonen. Wenn in den vorausgegangenen Betrachtungen der Romane Der Spieler, Schuld und Sühne und zuletzt Der Idiot bereits auf eine Reihe von recht unwahrscheinlichen Vorkommnissen darin aufmerksam gemacht wurde, so übertrifft alle Unwahrscheinlichkeiten und alles Befremden der Roman Die Dämonen als eine in noch höherem Maße anstößige Chronik von Skandalen und Verbrechen. Auf über 900 Seiten entfaltet sich ein Wirbel von sich in der kurzen erzählten Zeit von nur etwa drei Monaten ereignenden Affären und Vergehen, die sich parallel, gleichzeitig abspielen, durchkreuzen, und sogar noch überholen. Was sich hier an Verleumdungen und Beleidigungen, an lächerlicher Selbstdarstellung und entehrender Herabsetzung, an Brandstiftung, Mord und Totschlag, an Betrug und Vergewaltigung, sogar von Kindern und Behinderten, auftürmt, ist kaum zu überbieten geschweige denn nachzuerzählen. Selbst der Leser zeitgenössischer Literatur, und nicht nur moderner Sensations- und Trivialromane, der Rezipient moderner Theater-, Film- oder Fernsehproduktionen, der alle Arten von Abnormitäten, Brutalitäten, Obszönitäten und Geschmacklosigkeiten zu verkraften gewohnt ist, wird sich vom Sujet dieses spannenden und frappierenden Romanwerks herausgefordert fühlen. Die reiche herrische spröde und gefühlskalte Witwe Varvara Petrovna Stavrogina – sie entstammt einer Branntweinpächterfamilie und lebt von ihrem adeligen Ehegatten, einem General a. D. getrennt – hat sich den altliberalen Ästheten und Gelehrten Stepan Trofimovič Verchovenskij als Erzieher ihres Sohnes Nikolaj ins Haus geholt und unterhält zu ihm ein sonderbar distanziertes und wahrscheinlich platonisches Liebesverhältnis. Der alternde eitle Freigeist hält sich für eine Leuchte der Wissenschaft, woran Varvara glaubt, und was ihr schmeichelt, doch ärgern sie aus gesellschaftlichen Rücksichten seine Gesprächsrunden mit zunächst gleichermaßen harmlosen freigeistigen Gesinnungsgenossen. Diese scheinbare Idylle stört die Heimkehr des Sohnes der Stavrogina, Nikolaj, der in Petersburg und in der Schweiz 174
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ein gelinde gesagt schamlos ausschweifendes Leben geführt hatte. Zunächst hat er eine Minderjährige verführt und tatenlos ihrem Selbstmord zugesehen, dieses Verbrechen beichtet er in seltsamen Anwandlungen von Gewissensbissen und zugleich eitlem Zynismus dem emeritierten Bischof Tichon in einem nahe gelegenen Kloster bezeichnenderweise nicht mündlich, sondern in Form eines Schriftsatzes, den er dem entsetzten Tichon zu lesen gibt und den er zu veröffentlichen erwägt.5 Danach hat er dann eine behinderte geistesgestörte Frau geheiratet. Sie lebt jetzt mit ihrem aufgeblasenen Bruder und Trunkenbold Lebjadkin in der gleichen Stadt, ausgerechnet im gleichen Hause mit zwei verfeindeten ehemaligen Freunden und Verehrern Stavrogins. Die Ehefrau des einen, die verzweifelt zurückkommt, hat Stavrogin in der Schweiz geschwängert. Außerdem schwärmen zwei weitere Frauen für Stavrogin: Liza Tušina, eine entfernte Verwandte des städtischen Gouverneurs, und Daša, die Schwester seines früheren Freundes Šatov, die allerdings Varvara Petrovna, in deren Haus sie erzogen wurde, mit Stepan Trofimovič verheiraten will. Nach Hause zurückgekehrt gibt der junge Herr Nikolaj Stavrogin sehr bald überzeugende Proben seines ungewöhnlichen Talents. Er zieht auf einer Party den angesehenen Clubvorsitzenden Pëtr Gaganov an der Nase und küsst erotisch herausfordernd die Ehefrau eines zwielichtigen städtischen Beamten coram publico in unzweideutiger Weise und beißt den alten Gouverneur des Stadtbezirks schmerzhaft ins Ohr. Mit dem Sohn des gekränkten Gaganov erledigt Stavrogin kaltblütig und höhnisch ein Duell. Er schießt absichtlich daneben und verspottet seinen Gegner, der vor Aufregung drei Mal fehlgeschossen hatte. Seinen beiden von ihm faszinierten ehemaligen Freunden erklärt er, sie hätten ihn einseitig missverstanden und schwankt, ob er seine Ehe mit der Behinderten öffentlich bekanntgeben soll oder nicht. Dass seine Mutter über sein Betragen entsetzt ist, kümmert ihn wenig. Er kehrt vielmehr den stolzen überlegenen faszinierenden Herrn hervor, wozu ihm auch sein vorteilhaftes Äußeres behilflich ist. Gelegentlich verhält er sich aber auch sehr anständig, menschlich und rücksichtsvoll. Zur gleichen Zeit reist ein weiterer Hauptakteur der Handlung an, Stepan Trofimovičs missratener Sohn Pëtr Stepanovič Verchovenskij, ein Adept des Nikolaj Stavrogin, der zu diesem allerdings auf Distanz geht. Pëtr Verchovenskij weiß sich schnell die Gunst des vertrottelten neuen Gouverneurs Lembke, der samt seinem Sekretär Blücher mit dem Makel deutscher Abstammung behaftet ist, und vor allem seiner eitlen Frau Julija Michailovna zu erschleichen, und kann dadurch unbehelligt seine anarchischen, destruktiven Umtriebe entfalten. Da er durch die Verursachung 175
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eines Großfeuers, während dem gezielt die behinderte Ehefrau Nikolaj Stavrogins und ihr Bruder umkommen, und auch die Stavrogin inzwischen lästig gewordene Liebhaberin Liza in einer vom Feuer aufgebrachten Menschenmenge erschlagen wird, und da sich Pëtr Verchovenskij durch diese Untaten Stavrogin verpflichtet, liefert dieser ihm die Idee, die Mitglieder seines revolutionären Fünferkomitees dadurch aneinander zu binden, dass, wenn ein Mitglied in gemeinsamer Aktion umgebracht werde, sie durch ihre gemeinsame Schuld für immer aufeinander angewiesen bleiben. Ein solches Fünferkomitee nach dem Muster des Nečaev’schen Katechismus hatte Pëtr eben als fanatischer, völlig gewissenloser Terrorist aus den bisher zum Teil harmlosen Gesprächspartnern seines Vaters Stepan Trofimovič in der Provinzstadt gegründet und dort die bürgerliche Ordnung, beginnend mit der Störung eines Balls beim Gouverneur Lembke, bald völlig durcheinandergebracht. Auf Betreiben Pëtr Verchovenskijs wird das eigenwillige, aufrichtige und nicht manipulierbare Mitglied der Fünfergruppe Ivan Pavlovič Šatov des potentiellen Verrats bezichtigt und in Gegenwart aller Verschwörer von ihm selbst durch einen aufgesetzten Schuss in den Kopf umgebracht und in einen Teich geworfen. Von Pëtr Verchovenskij unter Druck gesetzt, bekennt sich Stavrogins anderer früherer Freund, der Ingenieur und Theoretiker der Selbsttötung Aleksej Nikitič Kirillov des Mordes an Šatov schuldig und begeht seinen längst geplanten Selbstmord. Die wahren Ursachen werden durch das Geständnis eines Gruppenmitglieds, des Juden Ljamšin, allerdings bald aufgedeckt und gerichtlich verfolgt. Zuvor ist jedoch Pëtr Verchovenskij rechtzeitig ins westliche Ausland entkommen. Nikolaj Stavrogin, der, wenngleich inaktiv, immer im Zentrum der Ereignisse stand, hatte inzwischen den Schauplatz des Geschehens verlassen, seine geplante Reise nach Uri in der Schweiz abgebrochen, war in sein Elternhaus zurückgekehrt, um sich dort mit einer Seidenschnur aufzuknüpfen. Die Obduktion ergab keinerlei Anzeichen geistiger Verwirrung. Stepan Trofimovič Verchovenskij verließ die fürsorgliche Betreuung der Varvara Petrovna, machte sich auf den Weg, um „Russland“ zu suchen, zog sich aber unterwegs eine Lungenentzündung zu und erkannte sterbend den Grund für alles Übel in mangelnder Liebe. Er allein fand einen friedvollen Tod. Nicht unerwähnt bleiben darf eine weitere Person der Handlung, der erfolglose eitle Schriftsteller Semën Egorovič Karmazinov, der sich in widerlicher Weise bei Pëtr Verchovenskij und den anderen Terroristen anbiedert und bei vielen Intrigen seine Hand im Spiel hat. 176
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In dieser Inhaltswiedergabe wird das Werk zu einem sensationellen zeitgebundenen Kolportageroman, und in dieser Hinsicht kommt es sogar noch schlimmer: Der Forscherfleiß von Horst-Jürgen Gerigk hat nachgewiesen, dass Dostoevskij in peinlicher und geschmackloser Weise in diesem Romanpamphlet ideologische Rivalen und literarische Konkurrenten karikiert hat6: in Stepan Trofimovič Verchovenskij den Historiker und Apologeten des Westlertums Timofej Granovskij (1813–1855), in Karmazinov seinen seinerzeit erfolgreicheren und angesehenen Kollegen Ivan Turgenev, zusätzlich zu der recht schäbigen Herabsetzung Turgenevs spielt das absonderliche Verhältnis zwischen Stepan Trofimovič und Varvara Petrovna auf Turgenevs lebenslange Bindung an die Sängerin Pauline Viardot (1821–1910) an. Im Roman finden sich sogar Textstellen, die Zitate aus dem Briefwechsel und auch aus persönlichen Gesprächen zwischen Turgenev und Dostoevskij enthalten.
Abb. 54: Turgenevs Salon in Baden-Baden mit Pauline Viardot am Klavier, Turgenev hinter ihr stehend, Zeichnung von Ludwig Pietsch Pëtr Verchovenskij ist eine literarische Bearbeitung des Prototypen Nečaev, hat aber auch Züge Petraševskijs; Šatov ist einem zeitgenössischen nationalen altgläubigen Philosophen namens Konstantin Golubov (1842–1889) nachgebildet, und in Stavrogin glaubt man einen Reflex von Nikolaj Spežnev (1825–1855) zu erkennen, dem seinerzeit von Dostoevskij verehrten faszinierenden Mitglied des Petraševskij-Zirkels. Solche Hinweise sind für die Entstehungsgeschichte des Romans interessant und historisch wichtig, auch wenn sie beileibe kein günstiges Licht auf 177
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den in seinem ideologischen Disput gefangenen Autor Fëdor Dostoevskij werfen. Weiterhin muss angemerkt werden, dass der Roman Dostoevskijs parteiisch ist und einseitig polemisiert. Es gibt darin auch keinen Ansatz, eine moralisch wie logisch zu rechtfertigende Begründung für sozialistisches oder liberales Denken auch nur zuzulassen. Das lässt sich an Dostoevskijs auch hier wiederum souverän eingesetzter Technik sprechender Namen zeigen, die ihre Träger und Ansichten mit ihrem Auftritt charakterisieren: „Verchovenskij“ bedeutet „der hoch Aufstrebende, Abgehobene“, der den Bezug zum Boden (počva), zum russischen Volk verloren oder preisgegeben hat (verchovyj = hoch); die übrigen Mitglieder des Fünferkomitees heißen Liputin = der Klebrige, Schmierige; Šatov = der Schwankende; Virginskij ist eine zynisch-satirische Abwandlung von „Virgo“ (Jungfrau), seine Frau ist Hebamme!; der Name des Juden Ljamšin, der das Komitee am Ende verrät, bedeutet Dieb; Kirillovs Name lässt sich von Kyrill und Kyrie = Kirche als beständig, fest, herleiten, hier natürlich in ironischer Brechung; der Name von Pëtr Verchovenskijs Chefideologen Šigalëv bedeutet Halunke; Karmazinov kommt von „rot“, er biedert sich ja bei den roten „Revolutionären“ an; der vertrottelte Clubvorstand heißt Gaganov von gaga = Schnattergans; ein Beamter trägt den Namen Teljatnikov = Kalb; usw. Spätestens hier stellt sich nun die Frage: Wie kommt es, dass trotz all dieser Einseitigkeiten, trotz dieser Verstöße gegen eine traditionelle ästhetische Objektivität dieser Roman bis heute fasziniert und eine ungebrochene Erfolgsgeschichte aufweist? Das liegt einmal an der raffinierten und geradezu genialen Art der Darbietung, des Erzählens in diesem Roman. Wer gern Romane liest und sich je an dieses Buch gesetzt und die ersten Seiten überflogen hat, wird derart gefangengenommen, dass er es nicht mehr aus der Hand legt, denn Dostoevskij bedient sich in noch perfekterer Weise als in den zuvor besprochenen Romanen seiner raffinierten Technik des personalen und perspektivischen Erzählens. Es gibt in diesem Roman nämlich eine Person – darauf hat Maksim Gor’kij hingewiesen, ansonsten ein vehementer Kritiker der Ideenposition Dostoevskijs – von der bislang noch nicht die Rede war: den Erzähler. Der Erzähler Anton Lavrent’evič G. ist ein Kolporteur, der durch die Stadt hetzt und jeglichen Klatsch und alle Gerüchte, die kursieren, aufzunehmen und weiterzutragen sich bemüht. Insoweit ist er am Geschehen beteiligt, weiß nicht mehr, als andere handelnde Personen in ihrem beschränkten Gesichtskreis wissen können, möchte aber nicht nur alles Geschehene überblicken, sondern möglichst auch die Ursachen und Hintergründe dafür erfahren, und insofern ist er immer 178
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auf der Suche nach Informationen und der Leser mit ihm. Das erzeugt immer wieder Spannung, wobei übrigens auch wieder die einfache, aber bewährte Methode der Spannungserregung des Fortsetzungsromans eingesetzt wird, nämlich an Abschnittsenden auf ein bevorstehendes unerwartetes oder unerhörtes Ereignis oder Ähnliches neugierig zu machen. An Stellen wie „Da passierte für alle völlig überraschend ein unvorhergesehener Zwischenfall […]“ oder „Es war da aber noch ein anderer Umstand […]“ oder „Plötzlich zeigte das Tier seine Krallen […]“ und Ähnliches könnte man rekonstruieren, wo die Fortsetzungsfolgen im Russischen Boten abbrachen oder begonnen haben. Der Erzähler des Romans ist ein noch junger, mittelmäßig gebildeter Bürger, Augenzeuge und Beobachter, der subjektiv und voreingenommen berichtet und urteilt, fast in der Form mündlichen Erzählens, wenn er eingesteht, dass er manches gar nicht versteht und sich fragend an Bekannte oder sogar den Leser wendet. Das motiviert und relativiert nicht nur die vorn kritisierte Einseitigkeit und auf Sensationen gerichtete Kolportagehaftigkeit, sondern setzt sie vielmehr als bewusstes literarisches erzähltechnisches Verfahren ein, das die Verantwortung eines objektiven und gar allwissenden Erzählerkommentars unterläuft. Das ist modernes Erzählen, wie es sich erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt hat. Sobald nun der Leser diese dynamische perspektivische Erzählweise erkennt, die ja ganz nahe am unmittelbaren personalen Berichten liegt, also an Dialogen, Gesprächen, direkten und inneren Monologen usw., und sobald er sie im Lesevorgang als Brechung wahrnimmt, muss er allerdings gleich wieder feststellen, dass diese Erzählhaltung gar nicht konsequent durchgehalten wird. In dem subjektiven Erzählbericht sind nämlich in der gleichen Stillage Kommentare und Reflexionen eingeflochten, über die nur ein allwissender Autor verfügen und die ein Beobachter von außen unmöglich wissen kann. Ein Beispiel: Eine Versammlung der „Unsrigen“, der terroristischen Revolutionäre, wird neutral und objektiv wie folgt eingeleitet: Die Gäste, die sich diesmal bei Virginskij versammelt hatten, wirkten merkwürdig unverbunden, wie vom Zufall zusammengewürfelt, und doch alle wie in Erwartung von etwas Besonderem. Es gab keinen Imbiss, und es waren auch keine Spielkarten zu sehen. Der Tee wurde von der Schwester der Hausfrau eingeschenkt, einem dreißigjährigen Fräulein ohne Augenbrauen und mit weißblonden Wimpern, einem meist schweigsamen und giftigen
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Wesen, das aber die neuen Ansichten teilte, und vor dem selbst Virginskij in seinem Familienleben beträchtliche Angst hatte … (Teil 1, Kap. 6)
Dieser Kommentar überschaut, was er berichtet, weiß vollständig darüber Bescheid, aber der Erzähler fühlt sich plötzlich zu einer persönlichen Einmischung veranlasst. Aber ich werde mir wohl die Zeit nehmen müssen, um eines klaren Überblicks willen einige Erläuterungen voranzustellen. Ich glaube, alle diese Herrschaften hatten sich tatsächlich in der angenehmen Hoffnung eingefunden, etwas besonders Interessantes zu erfahren. Sie repräsentierten die Blüte des allerrotesten Liberalismus in unserer Stadt […]. (Ebd.)
Der Übergang zur Ich-Erzählung lässt keinen Zweifel an nun folgender subjektiver und parteinehmender Berichterstattung. Dieses flexible Wechseln von subjektiver und objektiver Darstellung verleiht dem Roman eine weitere und tiefergehende Dimension: die Darbietung des Geschehens und der Aktionen der dämonischen besessenen Revolutionäre und Terroristen von zwei Seiten, aus zwei Positionen, die sich voneinander unterscheiden, und den Leser zu aktiver stellungnehmender Lektüre provozieren und eine – in der Trivialliteratur intendierte – Identifizierung mit dem Text und seinen Helden verhindern. Folgt man also dieser Herausforderung und versucht, sich aus der Perspektive des Erzählers allein, der bisher nämlich unkritisch gefolgt wurde, zu befreien und die Deutungssignale aus dem gelegentlich objektiv allwissenden Kommentar aufzugreifen, lässt sich die semantische Dimension des Romans aus der Distanz erfassen. Als Motti sind dem Roman die Verse 32 bis 36 aus dem 8. Kapitel des Lukasevangeliums und ein Zitat aus Aleksandr Puškins Ballade Die Dämonen (Besy, 1830) vorangestellt. Sie lauten (Lukas 8, 32–36): Es war aber daselbst eine große Herde Säue auf der Weide an dem Berge, und sie [die bösen Geister] baten ihn [Jesus], dass er ihnen erlaube, in sie [die Säue] zu fahren. Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die bösen Geister aus von dem Menschen und fuhren in die Säue, und die Herde stürzte sich von dem Abhang in den See und ersoff. Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündeten es in der Stadt und in den Dörfern. Da
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gingen sie hinaus zu sehen, was da geschehen war und kamen zu Jesus und fanden den Menschen, von welchem die bösen Geister ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündeten, wie der Besessene war gesund geworden.
Aus Puškins Ballade sind es die folgenden Strophen: Keine Wegspur, nichts zu sehen Wissen wir noch, wo wir sind? Böse Geister scheint es, drehen Uns im Kreis im Wirbelwind. Und sie fliehen und sie jagen, Hört Ihr, wie sie kläglich schrein? Wird ein Geist zu Grab getragen? Soll heut Hexenhochzeit sein?7
Diese Motti liefern den Schlüssel zum von Dostoevskij intendierten Verständnis seines Romans: Die Personen der Handlung sind von bösen Geistern besessen, werden von diesen sinnlos in die Irre geführt (wie in Puškins Gedicht) und schließlich wie die Herde des Evangeliums ins Wasser, in den Untergang getrieben. Insofern ist es konsequent, dass hier keine positive Figur als ideelles und kompositorisches Gegengewicht wirksam wird. Die einzige Figur, die dies leisten könnte, der emeritierte Bischof Tichon (von „Tichij“ = still) ist jedoch dem zudringlichen Zynismus Stavrogins nicht gewachsen und schrickt sogar mit einer abwehrenden Handbewegung vor einem momentan nicht auszuschließenden Schlag Stavrogins zurück. Die Ursache für die Entstehung und Ausbreitung der falschen, verderblichen und teuflischen Ideen wird in den einleitenden Kapiteln im Wirken des Stepan Trofimovič Verchovenskij gesehen. Er ist der Vater des Terroristen Pëtr, und als Erzieher so etwas wie der geistige Vater Stavrogins. Er ist aber auch der Lehrer und Anreger Šatovs, Lizas, Darjas und der meisten progressiven Intellektuellen im Roman. Als Repräsentant der liberalen Ideen der 1840er Jahre aus dem Westen, d. h. konkret des Individualismus, der freien Persönlichkeit, der ideellen und moralischen Selbstbestimmung, ist er verantwortlich dafür, dass sich schöpferische Freiheit und das Ideal des Schönen und Harmonischen als absolute Werte emanzipiert 181
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haben. Der idealistische Individualismus zeigt sich aber – auch wenn darüber in liberalen Kreisen nur debattiert und von Stepan Trofimovič in diesem Geiste antiautoritär erzogen wurde – ganz und gar nicht harmlos, denn er ist von der Hybris eines unabhängigen Menschen als Herrn seiner selbst überzeugt, der sich als grenzenlos frei versteht auch gegenüber Gott und dem Glauben. Diese Menschen laufen Gefahr, die tragenden ethischen Grundlagen der Weltanschauung des Volkes, seinen Gottesglauben, und den daraus herrührenden Maßstab für das sittliche Empfinden, was gut und böse ist, zu verlieren. Sie leben ein untätiges parasitäres Dasein, vom Volk getrennt; Stepan Trofimovič kann von einfachen Russen gar nicht mehr verstanden werden, er redet einen aus Französisch und Russisch gemischten Makkaronismus ohne Bezug zur počva, zum Boden hat er den Lebenszusammenhang mit dem Volke verloren, und es ist aus dieser Sicht nur konsequent, dass der alte Verchovenskij sein Leben mit einem Gang ins Volk, einem Verlassen seiner Umwelt, seiner Freunde und Bekannten beschließt, das Volk, die Bauern sucht und sich sterbend den im Motto zitierten Auszug aus dem Lukasevangelium von einer einfachen Bäuerin, einer Bibelverkäuferin, vorlesen lässt. Sein Leben haben die falschen Ideen verführt, aber mit seinem letzten Aufbruch und seiner Trennung von Intelligencija und Aristokratie hat er gesühnt. Er erkennt die Liebe und Größe Gottes und erfährt die Gnade eines sanften Todes im Beisein der nun wieder versöhnten Varvara Petrovna. Ein herbeigerufener Priester ist übrigens ebenso satirisch gezeichnet wie ein deutscher Arzt mit dem bezeichnenden Namen Salzfisch. Stepan Trofimovičs Schuld (und die seiner Generation) ist eine doppelte: Einmal hat diese Intelligencija das Volk allein gelassen, und deshalb lebt es ohne wirkliche geistige und moralische Führung in dumpfer Unwissenheit und gefährdet: Symbol dafür ist der Räuber Fed’ka. Einst Leibeigener, wurde er von dem ästhetisierenden liberalen Menschenfreund Stepan Trofimovič als Bezahlung einer Spielschuld versetzt. Danach wurde er rekrutiert, desertierte aus der Armee und fristet nun sein Dasein als Krimineller. Er übt für Stepans Sohn Pëtr Morde auf Bestellung aus. Im tiefsten Grunde seines Herzens verachtet er aber seinen Auftraggeber und möchte ihn totschlagen, weil dieser Herr nicht an Gott glaubt. Aber er wagt es nicht, ihn umzubringen, weil man ja nach Gottes Willen und Ordnung seinem Herrn gehorchen muss. So weit hat es also die sinnlos diskutierende Intelligencija kommen lassen, dass dem Volk – eigentlich prinzipienfest und entscheidungsfähig, weil im Boden verwurzelt – die Maßstäbe für das Unterscheiden von gut und böse entgleiten mussten, weil ja die Herren selber ambivalent und verdorben geworden sind, 182
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und weder ein fürsorgendes Vorbild noch eine beispielgebende moralisch integre Ordnungskraft aufzubieten vermögen. Hier finden wir übrigens eine Erklärung dafür, warum erstmals ein großer Roman Dostoevskijs nicht mehr in der Hauptstadt, sondern auf dem Lande spielt. Der zweite Aspekt der Schuld der alten Liberalen in Gestalt von Stepan Trofimovič Verchovenskij ist das Versagen an den Söhnen, an der nachfolgenden Generation. Schon in Ivan Turgenevs Roman Väter und Söhne war dieses Problem angedeutet worden. Liberale Erziehungsmethoden, die der heranwachsenden Generation die Freiheit der Selbstentfaltung lassen und im Vertrauen darauf, dass der Reifeprozess den jungen Menschen am Beispiel der Väter zu autonomer Moralbildung bringe, erzeugen einseitige und rücksichtslose Dogmatiker vom Schlage eines Evgenij Bazarov, die im Interesse ihres angeblich emanzipatorischen Fortschrittsideals sich zynisch und verächtlich über ihre Väter hinwegsetzen. Allerdings scheitert der rationale Utilitarist Bazarov an der gewaltsamen Verdrängung seines Gefühlslebens, die ihm nicht gelungen ist. Dostoevskij hat dieser Roman seines ansonsten abgelehnten Rivalen Ivan Turgenev imponiert, jedoch war Turgenev seiner Meinung nach mit den Sünden der Väter und ihrer missratenen Söhne zu nachsichtig umgegangen. In Wirklichkeit war das Dilemma doch viel schlimmer. Wo die steuernde, lenkende und strafende Erziehung der liberalen Väter vom Schlage Stepan Trofimovič Verchovenskijs versagt, wo sie nicht die absolut gültigen christlichen Moralprinzipien und vor allem den Glauben an Gott und das Vorbild Christi als Orientierungsmuster vermittelt, entsteht aus der Möglichkeit völliger Freiheit und ungehemmter Selbstbestimmung durchaus nicht notwendigerweise eine moralische und altruistische Selbstbeschränkung, wie sie der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) in seiner Lehre vom „Kategorischen Imperativ“ postuliert hatte, sondern erliegt der Mensch im Gegenteil der Verführung des Glaubens an die Allmacht seiner Vernunft, die ihm suggeriert, tun zu können, was er zu denken oder sich vorzustellen vermag. Oder anders, mit Dostoevskijs eigenen Worten knapp und treffend formuliert: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist dem Menschen alles erlaubt.“ Die Schuld der Väter liegt also darin, dass sie die falschen emanzipatorischen und idealistischen Ideen des liberalen Individualismus den Söhnen vermittelt haben und zwar durch das Beispiel ihres Vorlebens: Man lässt dem Sohn in antiautoritärer Großzügigkeit alle ihm genehmen Freiheiten und kümmert sich nicht um seine Entwicklung, damit sich die a priori „gute“ Veranlagung unbeeinflusst zur menschlichen Reife und Totalität entfalten kann. Das Resultat eines ohne Lenkung, 183
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ohne Gott gelassenen jungen Menschen ist der unmoralische Terrorist und Mörder Pëtr Verchovenskij oder der moralisch indifferente und seelisch leere, nur noch im biologischen Sinne als Mensch erscheinende Nikolaj Stavrogin. Diese niederschmetternden Ergebnisse sind die Folge der sorglosen Illusion oder Lebenslüge der Altliberalen: die geistige Überheblichkeit des liberalen Individualismus, der den Glauben an Gott nur für eine private Angelegenheit hielt. Er decouvriert sich in Stepan Trofimovič als soziales Parasitentum und kulturelles Lakaientum, als Konformismus des letztlich liebedienernden Hofnarren, wie es ihm sein Sohn höhnisch ins Gesicht sagt. Als solcher Hofnarr wird er ja auch von der Stavrogina in ihrem Hause als Kostgänger gehalten. Aber Stepan Trofimovič erkennt sein Versagen und bringt den Mut auf, dafür einzustehen. Auf dem von der Gouverneursgattin Julija Michajlovna von Lembke veranstalteten Ball, auf dem von Pëtr Verchovenskij und seinen Leuten eingeschleuste linksextreme Störer einen Skandal inszenieren, steht Stepan Trofimovič auf einer zunächst arrangierten literarischen Matinée nach einem peinlichen Auftritt des Schriftstellers Karmazinov entschlossen für seine Überzeugung ein und schleudert den Revolutionären entgegen: Raffael und Shakespeare, die Kunst und die Schönheit, seien für die Menschheit wichtiger als die Aufhebung der Leibeigenschaft, die soziale Emanzipation und die revolutionäre angebliche Erneuerung, denn der Materialismus und Utilitarismus der sogenannten Progressiven müsse ohne Kultur und Schönheit zwangsläufig in leeres, langweiliges und stumpfsinniges soziales Vegetieren führen. Seine Tragik an dieser Stelle liegt darin, dass gerade diese kulturlose Egalität das Ziel seines eigenen Sohnes ist. Nach diesem Ausbruch (nadryv) verlässt Stepan Trofimovič entschlossen sein Milieu, weil er dort keine Hoffnungen mehr hegen kann. In seinen letzten Stunden auf russischer Erde und inmitten des russischen Volkes verschmilzt sein Glaube an die Schönheit mit dem Glauben an Gott, und deshalb verwandelt er sich am Schluss in eine positive Figur, die noch eine weitere wesentliche Erfahrung macht: Der Mensch braucht im Leben Liebe. Liebe als bindende sich selbst darbringende, sich in den Geliebten entäußernde völlige Hingabe, nur daraus entsteht wechselseitige lebenstragende Bindung. Im ganzen Roman fehlt Liebe. Es gibt wechselnde Beziehungen, Verhältnisse, aber keine liebende Bindung. Als sie zwischen Šatov und seiner heimgekehrten Frau aufkeimt, wird er ermordet. Wie stellen sich nun die Söhne, die Erben des verblendeten egoistischen Idealismus ohne Gott dar? Sie überprüfen dessen Hoffnungen und Erwartungen an der 184
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Wirklichkeit und radikalisieren seine Konsequenzen. Am deutlichsten tritt das in Pëtr Verchovenskij hervor. Er erkennt, dass das an der Macht befindliche Establishment heuchelt, Nächstenliebe und Gerechtigkeit predigt, aber nicht auf seine Privilegien verzichten will. Die unterdrückte Masse der Bauern und Armen bleibt in Unbildung geknebelt, unfähig, sich selber zu befreien. Also ist die Beseitigung dieser Herrschaft und Ordnung durch Aufruhr und Terror in einer Eskalation unkontrollierbarer Gewalt vorzunehmen. In Pëtr Verchovenskij erscheint – vom verlogenen Deckmantel der sozialen Revolution verhüllt – aber nur der Geist der Zerstörung, die extreme Lust der Verneinung um ihrer selbst willen. Er ist ein Zerstörer ohne Gewissen, er kennt keinen Kategorischen Imperativ. Aus der These von der allgemeinen und absoluten Gleichheit und Gleichwertigkeit im Diesseits ohne Rücksicht auf Gott oder Verantwortung vor einer höheren transzendenten Instanz folgert er logisch die Vorläufigkeit und damit die Verfügbarkeit über sittliche Werte und Regulative: Wenn alles relativ und von den Umständen und Bedingungen abhängig ist, ist alles erlaubt, sofern man in der Lage ist, Bedingungen herzustellen, aus denen man das eigene Handeln ideologisch legitimieren und realisieren kann. Pëtr Verchovenskij hält es gar nicht einmal für nötig, ein solches Konzept selber zu entwerfen, dazu benutzt er seine Abhängigen und Kreaturen, unter anderen den Theoretiker Šigalëv, der den Plan der künftigen terroristischen Revolution ausgearbeitet hat: Die Revolution soll rücksichtslos tabula rasa machen, um so einen Neuansatz sichtbarer Gerechtigkeit unter den Menschen zu ermöglichen, was zur natürlichen Durchsetzung von moralisch neutraler Leistung und Tüchtigkeit, zur Herrschaft der Fähigsten und Stärksten über die Masse der Schwachen und Durchschnittlichen führen wird. (Hier finden sich die Ideen Raskol’nikovs vom Übermenschen wieder, nur in polemischer Zuspitzung als Folge aus dem sozialistischen Gleichheitsansatz.) Wenn alle Menschen gleich sind und keine sie übergreifende moralische Instanz sie zu humanem Verhalten veranlasst, ergibt sich zwingend Totalitarismus, hierarchische Herrschaft einer elitären Minderheit über die Mehrheit, die entlarvend mit einem Ameisenhaufen verglichen wird. (Kommentarlos und nur am Rande sei vermerkt, dass Fëdor Stepun in dieser Ideologie der Šigalëvščina eine Vision des Bolschewismus erkannt hat.8) Unverhohlen erstrebt Pëtr Verchovenskij eine Terrorherrschaft über ganz Russland. Er will zunächst Anarchie herbeiführen und dann mit eiserner Disziplin die absolute Despotie errichten. Vorläufig fühlt er sich wie ein Kolumbus ohne Amerika. Das zukünftige Russland im Übergang soll ganz nach Šigalëvs Grundsätzen organisiert werden, wie Pëtr Verchovenskij sagt: 185
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Alle sind Sklaven und in der Sklaverei gleich […]. Zunächst wird das gesamte Bildungsniveau gesenkt. Die Höherbegabten haben immer die Macht an sich gerissen. Deshalb werden sie vertrieben oder hingerichtet. Einem Cicero wird die Zunge abgeschnitten, einem Kopernikus werden die Augen ausgestochen, und ein Shakespeare wird gesteinigt – das ist Šigalëvščina, dafür bin ich. (Teil II, Kap. 8)
Das Zersetzungswerk des Sozialismus, der die traditionellen Klassengegensätze aufheben will, muss gefördert werden, damit allgemeines Chaos ausbricht: […] wir bringen Trunksucht, Klatsch, Verrat; wir bringen unerhörte Sittenverderbnis, wir werden jedes Genie im Keim ersticken […] verfinstern wird sich Russland, weinen wird die Erde nach den alten Göttern, und dann wird die Zeit reif sein für den neuen Carevič, den Usurpator […] (Ebd.)
– den Pëtr Verchovenskij Stavrogin andienen möchte oder dem Papst, dem Herrscher der „katholischen Idee“, deren genuine Fortsetzung ja der Sozialismus sei: „Wissen Sie“, redet Pëtr Verchovenskij auf Stavrogin ein, ich denke, die Welt dem Papst zu übergeben. Der Papst steht oben, wir rundum und unter uns die Šigalëvščina. Nötig ist nur, dass die Internationale mit dem Papst einverstanden ist. (Ebd.)
Aber das sind gerade in solch absurden Übertreibungen die äußeren, politischen Konsequenzen der menschlichen Hybris, aus sich allein eine Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens und der menschlichen Existenz vorzunehmen, ihr Resultat ist ein totalitäres System, von dem im Toten Haus und in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund die Rede war. Pëtr Verchovenskij ist ein körperlich und psychisch vitaler Mensch, der angesichts seiner Handlungen in keinen Gewissenskonflikt gerät und wohlbehalten aus Russland dahin entkommen kann, wo er nach Dostoevskij hingehört – in den Westen, von wo seine Rückkehr jedoch nicht ausgeschlossen werden kann. Daneben sind aber noch drei andere Figuren bedeutsam, die die religionsphilosophische Tiefenstruktur des Romans repräsentieren: Stavrogin und die ihn umgebenden Šatov und Kirillov. Gleich Myškin oder Raskol’nikov ist auch Stavrogin 186
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die zentrale Figur im Roman, die im Schnittpunkt von Schicksalen und Ereignissen steht, sie auslöst und veranlasst, ohne selbst zielstrebig und konsequent zu agieren, ohne dass er also im eigentlichen Sinne die Hauptfigur wäre. Die Gestalt des Stavrogin ist rätselhaft und in der Forschung noch immer umstritten. Das sei zunächst an einigen wichtigen Interpretationen aufgezeigt: Maximilian Braun (1976, vgl. S. 188f. und S. 199) nennt Stavrogin eine „satanische Persönlichkeit, die teilweise [!] ins Dämonische, Großartige, ins Teuflische, Heroische und sogar in eine Art von pervertiertem Idealismus emporstilisiert sei“, bemerkt aber, man könne in ihm auch die „Tragikomödie eines degenerierten, verwöhnten und psychopathisch veranlagten Adligen sehen, der mit sich selber nichts anzufangen weiß.“ Ludolf Müller nennt Stavrogin „vielleicht die düsterste, schrecklichste Gestalt überhaupt, die Dostoevskij geschaffen hat“ (1977, S. 60). Gottfried Schramm hebt besonders Stavrogins geistige und seelische Indifferenz hervor, wenn er auf das Bibelwort aus Stavrogins Beichte hinweist, wo in der apokalyptischen Prophezeiung an die Gemeinde zu Laodicaea, die „Lauen“, die Unentschiedenen und Neutralen verdammt werden, während den „Heißen“ und „Kalten“ (also den aktiven und entschieden handelnden Menschen) Rettung verheißen wird.9 Ein solcher unentschiedener „Lauer“, nicht mehr Handelnder, ist für Horst-Jürgen Gerigk eine dekadente Nichtperson, eine Abstraktion, ein „ornamentaler“ Mensch, der nur noch auf sich selbst bezogen ist und auf das Engagement und damit auf das Leben, auf die aktive Teilnahme am Leben verzichtet. Darin ähnelt er Myškin, aber nicht leidend, duldend, sondern als weltverneinender „Gegen-Christus“.10 In anderer Weise sehen neuere Schriftsteller nach Vjačeslav I. Ivanov (1866– 1949) die faszinierende Ambivalenz der Gestalt Stavrogin: Für Thomas Mann ist er die „unheimlich anziehendste Figur der Weltliteratur“,11 für Albert Camus in seiner Dramatisierung des Romans ein „unstet Getriebener, der aus Gleichgültigkeit nicht mehr verzweifeln, aber auch nicht leben kann“.12 Manès Sperber nennt ihn einen „allen überlegenen Mann“, einen „unwiderstehlichen Übermenschen“, wobei der Begriff „Übermensch“ auch ein negatives Konnotat trage.13 Der Slavist Roland Opitz hat Stavrogin als „tragischen Zyniker“ charakterisiert, eine Begriffskombination, die allenfalls als Kapitulation vor der Rätselhaftigkeit dieses geheimnisvollen Menschen, wie ihn Nikolaj Berdjaev nennt, einzuleuchten vermag. Neueste russische Forschung, z. B. Vladimir Kantor, erkennt in Stavrogin die Faszination des Bösen, wie es sich in einem karnevalesken Taumel (nach Bachtin) als Gegenwelt gegen die christliche Humanisierung der europäischen Zivilisation inszeniert und 187
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aus urrussischen, vorchristlichen Quellen speist14 – Dostoevskij hätte dagegen vehement protestiert! Stavrogin hält sich von allen Personen der Romanhandlung fern. Auch zu den Revolutionären und Terroristen geht er auf unbeteiligte Distanz. Um dieser Figur einigermaßen näher zu kommen, sei zunächst eine Charakterisierung aus seinem Lebensweg versucht. Er stammt jedenfalls väterlicherseits aus altem Adel, ist mit allen Kräften und Gaben eines durchdringenden Verstandes und mit körperlichen Vorzügen ausgestattet. Er ist ungewöhnlich klug, willensstark, souverän, eine äußerlich schöne Erscheinung, er ist wohlhabend, wirtschaftlich unabhängig, aber wie sein Stand, die Aristokratie, ist er dem „Boden“, der Erde, dem russischen Volk entfremdet. Seine Eltern lebten seit seiner frühen Kindheit getrennt, sodass er ohne familiäre Bindung aufgewachsen ist. Sein Lehrer und Erzieher war Stepan Trofimovič Verchovenskij. Was ihm also fehlt, ist Bindung, Orientierung, Zielsetzung und das Gefühl für Verantwortung. Er sucht nach einer leitenden Idee, nach einer Sinngebung des Lebens, aber er findet sie nicht, weil er überall nur Unvollkommenes, Vorläufiges, Vorübergehendes wahrnimmt, was ihn gleichgültig lässt, womit sich engagiert auseinanderzusetzen ihm nicht lohnend erscheint. Um einer Idealisierung vorzubeugen: Er ist andererseits aber wiederum geistig und moralisch zu träge und zu schwach, um im dauernden Suchen und Streben nach Erkenntnis und Wahrheit eine Sinngebung seines Lebens vornehmen zu können, sich – wie etwa Faust – immer strebend zu bemühen, zu tief sitzen in ihm Skepsis und egoistische Eigenliebe. Er ist immer auf sich selber gerichtet. Er sucht letzten Endes immer nur Selbstbestätigung; in allem, was er tut, in seinen Extravaganzen und seinen Verbrechen, in seiner Großmut und sogar in seiner Reue und Selbstanklage. Auch in der Suche nach Schmerz und Leiden, nach dem Kreuz (auch er trägt einen sprechenden Namen: „Stavros“, was sich als „der, der nach dem Kreuze strebt“, übersetzen lässt) findet er nur, worauf sich sein suchender Blick manisch fixiert, die Bestätigung seiner eigenen außergewöhnlichen Persönlichkeit; es ist ständiges Sichselberwollen, das letztlich folgerichtig zur völligen Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen Menschen, allen Seins- und Lebensfragen gegenüber führt und am Ende in die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben mündet, das doch zuvor das Ziel seines Wünschens und Wollens war. Sein perverses Suchen nach Stimulation und reizender Abwechslung in der existentiellen Langeweile verleitet ihn schließlich zu schäbigen Verbrechen, die ihn post festum anekeln, sodass er schließlich kon188
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sequent und ohne Reue in vollem Bewusstsein Selbstmord begeht. Die treffendste Einschätzung Stavrogins sagt ihm der stille Bischof Tichon ins Gesicht: „In Ihnen ist eine gewaltige, aber brachliegende Kraft, die sich an vorsätzliche Abscheulichkeiten vergeudet“. Das ist ein alter Gedanke Dostoevskijs, den er bezüglich verbannter Verbrecher schon in seinen Aufzeichnungen aus einem Toten Haus geäußert hatte. Die Chance, die ihm Tichon hier gibt, darüber nachzudenken, und eine Kehre in seinem Leben durch eine moralische Selbstbestimmung vorzunehmen, ergreift der eitle und arrogante Stavrogin jedoch nicht. Dabei ist sein Verstand genügend scharf und klarsichtig, dass er mögliche Auswege aus seiner Isolation selber in Betracht zu ziehen und andere sogar zu solchen Lösungen hinzuführen vermag. Das zeigt sich an den wichtigen Stavrogin umgebenden Figuren Šatov und Kirillov, einem merkwürdigen „Zwillingspaar“, das gemeinsam eine Zeitlang in Westeuropa und sogar in Amerika verbracht hat, aber desillusioniert aus den Gefilden des unbegrenzten Liberalismus nach Russland zurückgekehrt ist. Beide lassen sich im gleichen Hause in der Provinzstadt der Handlung nieder, obwohl der gegenseitige Kontakt abgebrochen worden ist. Beide waren seinerzeit in Petersburg unter Stavrogins Einfluss geraten, beide sind seither ganz und gar von einer fixen, aber, wie sie meinen, großen Idee, einer Leitidee des Lebens besessen, die Stavrogin angeregt hat. Aber die gemeinsame Petersburger Zeit ist vorüber, Stavrogin ist in seiner destruktiven Entwicklung fortgeschritten, die Ideen seiner früheren Freunde sind für ihn belanglos geworden. Šatov ist noch immer von Stavrogin beeindruckt und hängt seinem alten Ideal an: Zentrum seines Denkens ist die Idee von einem irrationalen Nationalgeist: Völker werden nicht durch Vernunft oder Wissenschaft geleitet, sondern vom Geist des Lebens, der sich in unablässiger Stärkung der kollektiven nationalen Vitalität und Lebenskraft und in der Verneinung des Todes ausdrückt. Die Idee, der innere Geist einer Volksgemeinschaft realisiert sich als unentwegtes Suchen nach Gott, denn Gott ist die Kraft, die den Tod verneint; wer also das Leben bejaht, ist Gottes teilhaftig, trägt das konkrete Attribut Gottes in sich. Das Volk ist somit in seinem positiven, sich selbst bejahenden und vervollkommnenden Streben und Entwickeln ein Gottträger, und Sinn und Erfüllung jedes individuellen Lebens ist die aktive Teilnahme an der Gott suchenden kollektiven Volksmasse. Das Ziel jedes Lebens muss die Tat der konkreten persönlichen Hingabe und Selbstaufopferung sein, alles Wünschen und Wollen richtet sich auf die große All-Einheit des Gottesvolkes, die božestvennaja sobornost’. 189
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Nach Šatov ist also jedes Volk ständig auf der Suche nach seiner spezifischen Vorstellung von Gott; ohne Glauben an ihren eigenen besonderen Gott kann keine Volksgemeinschaft existieren. (Wenn ein großes Volk nicht mehr glaubt, dass in ihm allein die Wahrheit ist, hört es auf, zu bestehen.) Jedes lebendige Volk glaubt also, dass allein seine sozusagen „nationale“ Gottesvorstellung die richtige sei. Aber da es nur einen wahren Gott gibt, kann auch nur ein Volk den wahren Gottesglauben haben. Die anderen Völker unterliegen in ihrer nationalen Gottesidee einer Täuschung oder nähern sich – Šatov meint hier wohl die anderen orthodoxen Völker – der wahren russischen Gotteserkenntnis asymptotisch an. Das wahre Gottträgervolk ist für Šatov das russische Volk, dem es bestimmt ist, im Namen seines echten Gottes die Welt zu erneuern und zu erlösen. Zweifler, Skeptiker, Atheisten schließen sich aus der Volksgemeinschaft aus; wer der Ratio, der Wissenschaft, dem Katholizismus, und überhaupt westlichem Geiste anhängt, kann nicht Russe sein. Russe und rechtgläubig (pravoslavnyj, pravovernyj) ist identisch, Lebenssinn und Lebensaufgabe jedes einzelnen russischen Menschen ist, das rechtgläubige Christentum und den wahren russischen Christus bzw. Gott zu bezeugen und zu bekennen. Auf der anderen Seite Kirillovs Idee: Auch sie hat Stavrogin angeregt. Kirillov entwickelt den Atheismus aus einer Religionskritik, die an Feuerbach und Marx gemahnt: Der Mensch erkennt sich hilflos in einer rätselhaften und übermächtigen Welt. Um seine Existenzangst zu überwinden, projiziert er sich in ein fiktives allmächtiges jenseitiges Wesen, er erfindet sich eine in jeder Hinsicht übermächtige Instanz, die er Gott nennt; von dieser erdachten höchsten und transzendenten Autorität macht er sich abhängig, sein Bewusstsein ist entfremdet. Alle Gefährdungen und Bedrohungen – so glaubt dieser unfreie Mensch in seinem entfremdeten religiösen Denken – kommen auch von Gott, der Wohlverhalten und Gehorsam belohnen und Eigenwillen und Selbstsucht bestrafen wird. Alles Unverständliche und Missliche, alles Schlechte, Böse und Ungerechte dieser Welt wird in seiner Ursache und in seinem Sinn in das Wirken dieses erdachten allmächtigen Gottes verlegt, und da der kreatürliche Lebenstrieb auf Selbsterhaltung und gesicherte Entfaltung angelegt ist, das Leben aber durch die mannigfaltigsten Zufälle, Gefahren und Mächte bedroht und schließlich unabänderlich dem Tode ausgesetzt ist, muss, um in dieser dauernden Gefährdung und unabwendbaren Sterblichkeit des Lebens einen Sinn finden zu können, diesem erdachten Gott auch unendliche Allmacht und Güte zugesprochen werden, die dereinst im Jenseits für die Ängste und Nöte des endlichen 190
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Diesseits entschädigen werde. In der Hoffnung auf diese illusionäre höchste göttliche Instanz macht sich der Mensch unfrei, richtet furchtsam und hoffnungsvoll all sein Handeln nur auf diesen erdachten Gott aus. Kirillov verneint also die Existenz eines gütigen und allmächtigen wirklichen Gottes. Er meint erkannt zu haben, dass es Gott gar nicht geben kann. Den Beweis für das Nichtvorhandensein Gottes liefert ihm unter anderem der Tod Christi. Er argumentiert ähnlich wie Ippolit im Roman Der Idiot vor Hans Holbeins Bild vom toten Christus: Wenn der Gottmensch Christus, d. h. der menschgewordene Gott so grausam gestorben ist, kann es einen gütigen und sich seines Sohnes und Geschöpfs erbarmenden Gott gar nicht geben, dann ist Gott selber nur eine wahnwitzige Einbildung, eine illusorische Lüge, mit ihrer Widerlegung wird sich das ganze Leben der getäuschten Menschheit ändern. Und mehr noch: Der Glaube an Gott ist schädlich, weil er den einzelnen Menschen seiner Selbstachtung, seiner Selbstverantwortung und freien Aktivität beraubt: Der gläubige Mensch ist ja nicht frei, alles, was auf Erden geschieht, ist für ihn von Gottes Willen vorherbestimmt, also für ihn unabänderlich; der Mensch muss sich darein schicken und die von Gott verfügten Regeln und Gesetze gehorsam erfüllen. So verstanden ist die Idee Gottes der größte Feind des autonomen Menschen, weil sie ihn der Freiheit beraubt. Die wichtigste Aufgabe des Menschen muss folglich sein, sich des ihn fesselnden Gottesglaubens, dieser Entfremdung zu entledigen. Nach der Vernichtung, d. h. der totalen Leugnung Gottes, wird der Mensch zum Menschengott (čelovekobog) und sich unumschränkter, allerdings die meisten überfordernder Freiheit erfreuen, er wird zur Freiheit verurteilt sein, wie Jean Paul Sartre (1905–1980) formuliert haben würde, denn dieser Zustand der Freiheit zeigt sich im „göttlichen Attribut des Eigenwillens“ (atribut božestva moego – svoevolie), dem entscheidende Funktion zukommt. Christus, der die Welt erlösen wollte, scheiterte am Tod. Er ist schmerzvoll und klagend gestorben und verwest, obwohl er leben wollte. Ein neuer Lehrer und Erlöser muss den Tod durch Bezwingen der Todesfurcht und des kreatürlichen unfreien Willens zum Leben dadurch überwinden, dass dieser Freie den Tod gar nicht beachtet, denn die Angst vor dem Tode als größter Bedrohung im Leben macht den Menschen unsicher und gefügig, sich eine höhere Instanz als Rettung und Erlösung nach dem Ende auszudenken. „Gott ist die Krankheit der Todesfurcht. Wer diese Krankheit und diese Furcht besiegt, wird selbst zum Gott“, sagt Kirillov. Absolute Willensfreiheit bedeutet Unabhängigkeit von allen Bindungen. Diese Ungebundenheit und stolze Autonomie des freien Willens finden ihren höchsten und letzten Beweis im Selbstmord, in der souveränen 191
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Entledigung der Bindung an die unfreie Endlichkeit der natürlichen körperlichen Existenz. Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt, bedarf es keiner Rechtfertigung vor einer Antwort fordernden moralischen Instanz, höchstens vor sich selbst, und indem man die Schwächen der eigenen Unvollkommenheit in der sterblichen körperlichen Existenz bezwingt und beseitigt, beweist man sich seine Größe und Freiheit vor sich selbst. Kirillovs Argumentation ist theoretisch bestechend schlüssig und lässt sich rational nur schwer widerlegen. Christus hat – so denkt Kirillov – den Tod nicht besiegt, ist nicht frei gewesen, denn er hat bekanntlich wie jeder Mensch vor dem Tode gezittert und den Vater im Himmel gebeten, den Kelch des Todes von ihm zu nehmen. Kann man kaltblütig, ungerührt, stark und frei sich selbst das Leben nehmen; abgeklärt, ruhig und entschlossen in der Blüte seiner Jahre, da man noch eine Zukunft vor sich hat, aus dem Leben scheiden, nur, um sich im Augenblick des Vollzugs dieser Tat für den Bruchteil einer Sekunde frei zu fühlen? Abstrakt und theoretisch, auf dem Papier, lässt sich diese entscheidende Frage rational und nach allen Seiten sorgsam abwägend, bejahen, aber wie stellt sich ihr Vollzug wirklich dar? Es gehört zu den Höhepunkten dieses Romans, wie Kirillovs Tat seine Idee widerlegt. Pëtr Verchovenskij will Kirillovs Selbstmord für seinen niedrigen Zweck ausnutzen und durch ein Schuldbekenntnis des Selbstmörders am Tode Šatovs die Spuren des Verbrechens von sich und seiner Fünferbande ablenken. Deshalb stachelt er Kirillov zum letzten Schritt an und reizt ihn mit dem Vorwurf der Feigheit. Er unterstellt Kirillov, dass er doch noch glaube, sich vor Gott fürchte, und eben wie jeder Mensch instinktiv am Leben hänge. Zur Entscheidung gedrängt, ist Kirillov zu stolz, um Pëtr zurückzuweisen. In „entschiedener Begeisterung“ unterschreibt er das von Pëtr verfasste Geständnis mit einem ekstatischen Ausruf und verliert die sich selbst abgerungene Souveränität. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er auf seinen Peiniger, ohne ihn zu begreifen, brüllt plötzlich wie vor Begeisterung, ergreift den Revolver, stürzt ins Nebenzimmer und schließt die Tür. Als Pëtr die Tür nach einer Weile öffnet, „brüllt etwas auf und wirft sich ihm in tierischer Wut entgegen“, so dass Pëtr mit aller Gewalt die Tür zuschlagen muss, um sich in Sicherheit zu bringen. Dann … Totenstille! Pëtr, in der Überzeugung, Kirillov werde sich nun erschießen, öffnet die Tür ein zweites Mal, doch das Zimmer scheint gähnend leer. Da bemerkt er Kirillov hinter einem Schrank an die Wand gedrückt, als wolle er sich unsichtbar machen. Er stürzt auf Kirillov zu, dieser bleibt wie versteinert 192
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unbeweglich und starren Blicks stehen. Als er ihn an die Schulter fasst, schlägt ihm Kirillov den Leuchter aus der Hand, die Kerze erlischt, und im selben Augenblick fällt er über Pëtr her und beißt ihn in die Hand. Drei Mal muss Pëtr Verchovenskij zuschlagen, ehe Kirillov von ihm ablässt. Entsetzt stürzt er davon, verfolgt von tierischem Schreien, bis er doch noch den lang ersehnten Schuss hört. Er kehrt zurück und findet Kirillov mit zerfetztem Schädel, ringsum Blut und Gehirnspritzer. „Der Tod“, heißt es lapidar im Text, „musste augenblicklich eingetreten sein“. Stirbt ein selbstbestimmter freier Mensch auf diese Weise von eigener Hand? Die theoretisch entworfene singuläre Verwirklichung der Freiheit hat sich als eine Verzweiflungstat in Todesangst erwiesen – eine erschütternde Widerlegung fehlgeleiteten Denkens. Stavrogin steht zwischen Šatov und Kirillov, seinen Adepten, und überprüft spielerisch die Tragfähigkeit ihrer Positionen: Er fragt Šatov, ob er an Gott glaube, ob er überzeugt sei, dass es Gott wirklich gibt. Šatov antwortet ehrlich, dass er an Gott glauben wolle und werde, derzeit aber mehr an sein Volk und an Christus, d. h., die ganze Überzeugung Šatovs erweist sich als ein rationaler Kompensierungsversuch für die ihm fehlende Glaubensgewissheit. Er hat auf irrationalen Prämissen rational ein messianistisches Konstrukt von seinem „russischen Gott“ errichtet, aber damit kann er die Existenz Gottes nicht beweisen, weil sie sich nicht mit dem Verstande erfassen und beweisen lässt. Beweisen lassen sich nur historisch das Leben und Sterben Christi und faktisch die Existenz des russischen Volkes. Mit dem Willen und dem Verstand, der Beweise fordert, gelangt man nicht zum Glauben an Gott. Das begreift Stavrogin sehr schnell, und das genügt ihm. Was Šatov als seinen Glauben ausgibt, ist ein „Verstandesglaube“, dem die Unmittelbarkeit echter Glaubenserfahrung, wie sie Myškin z. B. besaß, abgeht. Der Verstand wie das Denken überhaupt, insbesondere das nach den Kategorien der Vernunft und Wissenschaft systematisierte Denken eröffnen der unmittelbaren Erfahrung eines Seinszustandes keinen Weg […]. Gott ist niemals von der Ebene der Ratio zu fassen […]. Er, Gott, die überirdische kosmische Kraft, der Anfang allen Anfangs, der alle Lebensprozesse initiiert, trägt und steuert, kann nur aus dem irrationalen Lebenstrieb und gelebten Leben erfahren und gefühlt werden.15
Šatovs Ideologie schwankt, wie schon sein Name sagt. Er will glauben, aber er hat den Glauben nicht, er will ihn erzwingen. Hier zeigt sich, dass Kirillovs innere Pro193
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blematik Parallelen zur Position Šatovs hat. Als Pëtr Verchovenskij Kirillov darauf aufmerksam macht, dass der Nachweis des freien Willens ebenso gut durch einen Mord an einem anderen wie durch Selbstmord geschehen könne, weist Kirillov diese Überlegung empört zurück. Kirillovs Verhalten widerspricht seiner Theorie. Er liebt Kinder, liebt das Leben, nennt ergriffen die Geburt eines Kindes ein Mysterium, er achtet Šatov und praktiziert moralische Verhaltensmaximen, die seiner Theorie nicht entsprechen. Beiden Theorien geht es um die Frage nach Gott. Aber Gott ist – ob man nun mit Šatov annimmt, dass es ihn gibt oder wie Kirillov das Gegenteil beweisen möchte – unbeweisbar im Sinne einer rationalen Erkenntnis. Kirillov und Šatov begehen – jeder aus seiner Sicht – denselben grundlegenden Fehler, indem sie sich von Verstandeserwägungen leiten lassen in Fragen, zu denen der Verstand – seinem Wesen gemäß – keinen Zugang haben kann.16 Stavrogin befindet sich passiv ohne Sympathie oder Antipathie gleichgültig zwischen Šatov und Kirillov. Ihm wird einhellig von allen Seiten Verstand bescheinigt. Was ihn kennzeichnet, ist, dass er keine Idee, keine Überzeugung mehr hat und, wie er vor seinem Selbstmord an Daša schreibt,17 indifferent ist gegenüber dem Guten wie dem Bösen. Beides zu tun macht ihm gleichermaßen Vergnügen oder langweilt ihn. Damit stellt sich aber Stavrogin außerhalb der menschlichen Art, wenn mit Kant der Mensch zu definieren ist als ein lebendiges Wesen, das aus sich moralische Begriffe bilden kann – zunächst gut und böse als sittenbildend bzw. sittlich verwerflich, als moralische Maximen außerhalb und über dem triebbedingten Selbsterhaltungsdrang wie beim instinktgesteuerten Tier. Der Mensch hat diese Fähigkeit des moralischen Erkennens und Handelns, ihm ist der Kant’sche Kategorische Imperativ eingeboren, es ist nun seine Freiheit, danach zu handeln oder auch nicht. Handelt er danach und erkennt das Gute als Richtschnur seines Wirkens, so wird er – wieder mit Kant – erkennen, dass moralische Begriffe und Wertvorstellungen – als erster und einfachster Begriff das Gute – nicht aus der Erfahrung gewonnen werden können (denn gut zu handeln wäre schädlich im Kampf ums Dasein!) und auch nicht rational deduziert werden können (für gut zu handeln gibt es keinen logischen Grund, nur für richtiges Handeln). Somit akzeptiert er eine höhere Wertordnung, etwas über seinen Verstand und seine Erfahrung Hinausgehendes, woraus sich das Bekenntnis zu Gott als Quelle und Inbegriff des Guten, als Grund für Moral ergibt. Da moralisches Handeln nicht im subjektiven Nutzen begrenzt ist, wirkt es über die Endlichkeit des 194
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Menschen hinaus. Das Gute ist seiner Natur nach unvergänglich. Es genügt aber nicht, Gutes nur zu wollen oder zu postulieren, das ist bloß der Wille zum Glauben (Šatov). Das Bekenntnis zum moralischen Prinzip muss ergänzt werden durch das „innere Bedürfnis“, den inneren Antrieb, ein solches Leben als positiv zu empfinden und zu wünschen. Leben unterstützendes und Leben zeugendes Tun, das über das eigene Leben und die eigene Person hinausgeht, ist Liebe, und wenn das Gute im Menschen von Gott kommt und sich in der Liebe realisiert, dann ist Liebe (nach Schleiermacher, Schelling und Solov’ ëv) zugleich auch Gotteserfahrung. Liebe ist die Basis für harmonisches und integrierendes Funktionieren von Verstand und Gefühl in einer Aktivität, in der die ursprünglichen Lebenskräfte des Menschen aus triebhafter Kreatürlichkeit aufgehoben und humanisiert werden. Stavrogin kennt keine Liebe. Er kann zwar zwischen gut und böse unterscheiden, aber ihm fehlt das innere Bedürfnis, warum er das eine dem anderen vorziehen soll. Er weiß nicht, warum er seine Mutter oder eine Frau oder sein Kind lieben sollte. Folglich ist Stavrogin alles Humane, alle Menschlichkeit fremd. Zu Recht sehen die anderen immer wieder Tierisches in ihm. Schon bei seinem ersten Auftreten heißt es: „Plötzlich streckte das Tier seine Krallen aus“. Der Verlust der Menschlichkeit ist für den Menschen gleichbedeutend mit dem Ende seines Menschseins und führt zu Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, zu Überdruss, Langeweile und schließlich zum Verlangen nach dem Tode. So äußert sich Stavrogin selbst gegenüber dem Bischof Tichon. Mit starkem Willen und Verstand hat Stavrogin nach einem Fixpunkt, nach einem festen Grund unter seinen Füßen, nach einer Sinngebung seines Lebens gesucht. Ohne Liebe findet er kein integrierendes Zentrum in seinem Leben. Er beweist sich in seinem ganzen Verhalten immer nur seine Willenskraft, seine Überlegenheit durch seinen Verstand und seine Leere. Statt der Liebe als Grundgefühl moralischen Lebens gibt es für ihn nur Streben nach Triebbefriedigung, die aber auch sein Verstand kontrolliert, sodass nur der Kitzel einer auf die Dauer langweilig sich wiederholenden Erregung und Lust verbleibt. Und all das begreift Stavrogin – insofern unterscheidet er sich von dem umtriebigen, aber intellektuell dürftigeren Pëtr Verchovenskij. Kirillov verweigert sich der Liebe aus rationaler Überlegung, aber er spürt Liebe und verhält sich paradoxerweise nach den Geboten von Moral und Liebe. Šatov findet kurz vor seiner Ermordung die liebende spontane Zuneigung seiner zurückgekehrten Frau. Nur Stavrogin bleibt indifferent, lau. Ihm fehlt der gefühlsmäßige 195
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innere Antrieb zur grundsätzlichen moralischen Entscheidung. Das wird besonders in seiner „Beichte“ beim Bischof Tichon deutlich, die als „letztes Mittel“, wie er selber formuliert, dem Zweck dienen soll, seine Identität zu finden. Immer klarer wird: Stavrogin lebt nicht als Mensch. Er besitzt im Grunde keine menschlichen Empfindungen. Er steht außerhalb des von Liebe geprägten Lebens. Und dennoch geht von ihm eine ungewöhnliche Faszination aus. Es ist die Faszination des Bösen. Nicht zufällig beginnt einmal beim Eintreten Stavrogins in Kirillovs Zimmer ein Kind zu weinen. Das Böse erscheint in Stavrogin in der Leere seines Inneren und damit seiner Unfähigkeit zu lieben und ein menschliches Leben zu führen.
Abb. 55: Michail A. Wrubel, „Der sitzende Dämon“, 1890 Er ist der nihilistische Höhepunkt in der romantischen Tradition des Byron’schen Helden, in der russischen Literatur eines „Dämon“ und „Pečorin“ (Helden des gleichnamigen Poems und des Romans Ein Held unserer Zeit von Michail Ju. Lermontov), er ist nicht mehr romantisch, denn er ist ohne den sehnsuchtsvollen Weltschmerz eines Childe Harold (von Byron), ohne den titanischen Drang nach Realisierung des Ideals und ohne den zerrissenen Schmerz im Erkennen, dass dies nicht möglich ist, und ohne jene Trauer über verlorene Werte und vertane Liebe eines Pečorin, der an der Knebelung durch eine miese spießige Welt leidet. Und erst recht ist er ohne jene leidenschaftliche Erlösungssehnsucht und überwältigende Macht der Liebe, wie sie Lermontovs „Dämon“ tragisch erleidet. Stavrogin ist leer. Er glaubt – im Unterschied zu diesen romantischen Titanen – an keine Ideale, er hat auch keine. Seine Verneinung ist nicht Trotz und auch nicht Empörung. Er steht ganz und gar im Diesseitigen, im Materiellen, in einer an Zielen und Hoffnungen leeren Gesellschaft ohne Bindungen, indifferent, im wahrs196
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ten Sinne des Wortes Nihilist, ohne Liebe zeigt sich in ihm das Böse als Realität, nicht als satanische Versuchung oder drohende metaphysische Vernichtung, auch nicht als Tod, sondern als geistige Zersetzung, Gleichgültigkeit, als Lebensleere. Zur Bewältigung und Sinngebung des Lebens – das ist das beklemmende Fazit dieser genialen Negativfigur und ihrer in Šatov und Kirillov realisierten Möglichkeiten – reichen die Kräfte des autonomen Menschen, des freien, sich ohne Gott selbst bestimmenden Individuums nicht aus: Willenskraft allein (Šatov) ebenso wenig wie rationale Selbstüberhebung über die Grenzen und Unvollkommenheiten menschlichen Lebens (Kirillov) und auch die aus dieser Erkenntnis gezogene Konsequenz Stavrogins selbst, indifferent und gelangweilt mit seiner Umwelt zu spielen oder sie zur Befriedigung oder Füllung seiner inneren seelischen Leere – letztlich zur Abwechslung und Unterhaltung zu missbrauchen – scheitern und führen nur zu Zerstörung und Selbstmord. Eine wahrhaft niederschmetternde Bilanz. Innerhalb von drei Monaten – das ist die knappe erzählte Zeit des Romans – finden zehn individuell agierende Personen der Handlung den Tod. Von den zentralen Gestalten überleben nur Varvara Petrovna und der terroristische Verbrecher Pëtr Verchovenskij. Dostoevskijs Intention war es ursprünglich zu zeigen, zu welchem Chaos und Unheil die aus dem Westen eingedrungenen Ideen des unumschränkten Liberalismus und atheistischen Sozialismus in Russland geführt haben. Aber was sich dann im Roman in der russischen Provinzstadt ereignet, trägt in seiner Maßlosigkeit typisch russische Züge. Die „bösen Geister“ aus dem Westen nehmen in Russland – etwa in Gestalt Nečaevs – eine spezifische extrem amoralische Gestalt an. Von den russischen Terroristen vom Schlage eines Nečaev oder Pëtr N. Tkačëv (1844–1886) haben sich die damaligen westlichen Sozialisten entschieden distanziert. Nach Vladimir Kantor entfaltet sich in den Dämonen ein atavistischer Aufstand teuflischer Mächte.18 Das Böse entgrenzt in spezifisch russische leidenschaftliche Maßlosigkeit, „der Teufel Pëtr Verchovenskij wird in den Kontext der ganz national russischen heidnischen Folkloremotive gesetzt“, und insbesondere scheitert auch Šatovs russisch-nationalistischer Messianismus an der Wirklichkeit: Im Roman treten Vertreter aller russischen Bevölkerungsschichten auf, und sie werden alle in den Sog des Bösen hineingezogen. Wer ist denn das von Šatov beschworene russische Volk, wenn nicht seine Bewohner, seine realen Menschen? Von dem schwachen Bischof Tichon abgesehen findet sich keine russische Lichtgestalt, wie sie doch Šatovs idealisiertes Russland ausmachen müsste. Šatov ist auch in den teuflischen Kreis 197
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Pëtr Verchovenskijs geraten. Er ist der Verführung erlegen, das russische Volk zu einem bevorzugten Gottesträgervolk zu stilisieren, wohingegen nach biblischer Prophetie sich das von Gott erwählte Volk den Gesetzen des christlichen übernationalen Gottes zu beugen und nach seinen Geboten zu leben hat. Die Dämonen sind nach Sergej N. Bulgakov (1871–1944) ein Roman über das Schicksal des von Gott verlassenen Landes, wo die bösen Kräfte triumphieren, das Wahre und Gute dagegen kraftlos bleibt.19 Ein trostloses, auswegloses Resultat also? Es gibt dennoch eine Perspektive der Hoffnung und Versöhnung. Der am Anfang so spöttisch vorgeführte russische Westler Stepan Trofimovič Verchovenskij ist am Ende der einzige, der den von ihm mit entbundenen negativen Kräften entgegen tritt. Es ist von der Forschung schon bemerkt worden, dass ausgerechnet er Gedanken äußert, die Dostoevskij selbst nahe sind. Er erklärt auf dem Sterbebett die Bedeutung des Mottos aus dem Lukasevangelium: Diese Teufel, die aus dem Kranken heraus und in die Säue fahren, das sind alle Krankheiten, alle Miasmen, aller Schmutz, alle großen und kleinen Teufel, die sich in unserem lieben großen Kranken, unserem Russland angesammelt haben, über Jahrhunderte, über Jahrhunderte.20 (Teil 2, Kap. 7)
Das sind also nicht nur die aktuellen Ideen der modernen westlichen säkularen Aufklärung, sondern Verirrungen der ganzen russischen Geschichte. Stepan Trofimovič fährt fort: Aber ein großer Gedanke und ein großer Wille erleuchtet Russland von oben, wie auch jenen verrückten Besessenen und all die Teufel, und all den Schmutz, und all das Ekelhafte, das auf der Oberfläche eitert – die Teufel werden selbst bitten, in die Säue fahren zu dürfen, und sie sind vielleicht schon hineingefahren. Das sind wir, wir und jene, und mein Sohn Pëtr […] und ich bin wohl der erste, an der Spitze, und wir werfen uns verrückt und besessen vom Abhang in den See und ersaufen alle, und das geschieht uns zu recht! (Ebd.)
Lediglich der sterbende Westler, der seine Vorstellung von Schönheit, Harmonie und Maß dem revoltierenden Pöbel entgegengeschleudert hatte, begreift die Tragödie seines Landes und hofft auf seine Zukunft. 198
11. Der Jüngling: Der schwierige Reifeprozess eines jungen Mannes; Tagebuch eines Schriftstellers und späte Schriften Dostoevskijs schriftstellerische Arbeit fand allmählich wachsende Anerkennung. Die Mitarbeit in der von dem Fürsten Vladimir Petrovič Meščerskij (1839–1914) herausgegebenen konservativen Zeitschrift Der Staatsbürger (Graždanin) erwies sich für Dostoevskij als recht vorteilhaft, ab Januar 1873 betreute er eine eigene Abteilung unter dem Titel Das Tagebuch eines Schriftstellers. Sein Comeback als Publizist wurde ein großer Erfolg. Dostoevskij wurde außerordentlich populär, was zahlreiche Leserbriefe an die Redaktion belegen, aber noch zuvor, 1874, versuchte er – unter finanziellem Druck – einen erst noch zu schreibenden Roman dem Russischen Boten Katkovs anzubieten. Wider Erwarten reagierte aber die Redaktion zurückhaltend auf das Angebot und verweigerte das geforderte Honorar (weil der Verlag mit Lev Tolstoj einen Vertrag zur Veröffentlichung von dessen neuestem Roman Anna Karenina abgeschlossen hatte). Darauf wandte sich Dostoevskij an den linksliberalen Dichter und Herausgeber Nikolaj Nekrasov, der sich bereit erklärte, den neuen Roman Dostoevskijs in seiner Zeitschrift Vaterländische Annalen (Otčestvennye Zapiski) zu veröffentlichen. Dort erschien dann von Januar bis Dezember 1875 der vierte der großen Romane Dostoevskijs in Fortsetzungen: Der Jüngling (Podrostok), eigentlich wörtlich: „Der Heranwachsende“, auch als Junger Nachwuchs oder – von Svetlana Geier 2006 – Ein grüner Junge übersetzt. Das Substantiv „podrostok“ bezeichnet im Russischen Heranwachsende beiderlei Geschlechts. Entworfen hat Dostoevskij diesen Roman unter spürbaren Mühen in Bad Ems, dort hielt er sich in den Jahren 1874, 1875 und 1879 zur Kur auf. 1874 hat er sich auf der Reise dorthin in Berlin von einem Spezialisten auf ein entstehendes Lungenleiden untersuchen lassen. Der Spezialist verwendete auf die Untersuchung ganze zwei Minuten, was Dostoevskij empörte und seine Vorbehalte gegenüber den Deut199
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schen zusätzlich bestärkt hat. Um so erstaunlicher ist es, dass er von der hessischen Landschaft des Lahntals, von Limburg, Marburg und Bad Ems ganz ungewöhnlich beeindruckt war. Es sei das Schönste, was er je an Landschaften erlebt habe, die Schweiz und Italien würden davor ebenso verblassen wie der Rhein, Dresden und das Elbtal. Aber bald stört ihn in Bad Ems dann doch der geregelte deutsche Kurbetrieb, die „lutherische Langeweile“ und das Kurorchester, das Melodien von dem „verhassten“ Richard Wagner intoniert. Die Deutschen öden ihn in ihrer Beschränktheit an. Der einzige einigermaßen stilvolle Deutsche ist Kaiser Wilhelm I. – „ein großgewachsener älterer Herr von würdigem Äußeren“.1
Abb. 56: Eine Seite aus Dostoevskijs Manuskript von „Der Jüngling“ mit Zeichnung Dostoevskijs Geschrieben hat er dann seinen Roman 1874 bis 75 in Russland, er wollte in einem sozialphilosophischen Entwicklungs- oder Bildungsroman einen jungen Menschen in der Pubertät schildern, der eine Richtschnur seines Lebens, eine überzeugende Idee sucht. Der Roman ist in Form eines autobiographischen Berichts dieses Jünglings Arkadij Dolgorukij abgefasst, dessen Manuskript seinem ehemaligen Lehrer 200
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überstellt wird, der es herausgibt und den Sinn des Geschehens als Symptom zeittypischer Erscheinungen deutet. Zeittypisch ist für Dostoevskij dabei der Zerfall der Familienordnung, und insoweit nimmt er hier eine künstlerische Polemik mit Lev Tolstojs „Gutsherrenliteratur“ und der darin dargestellten stabilen Familientradition auf oder auch mit Ivan Turgenevs Schilderung noch stabiler Familien, etwa im Roman Ein Adelsnest. Die Doppelung der Perspektiverzählung (mit zwei Erzählern: Arkadij und dem Lehrer) erinnert an Die Dämonen. Der Kommentar des herausgebenden Lehrers bleibt im Rahmen der subjektiven Ich-Form, was die Authentizität des Berichts als Zeitdokument glaubhaft macht. (Der Lehrer bürgt für die Glaubwürdigkeit seines Schülers, und der eigentliche autobiographische Bericht Arkadijs wahrt die individuelle Eigenart und Beschränktheit des noch unreifen Erzählers.) Der Roman Der Jüngling galt lange Zeit als kompositorisch verworren und misslungen (so etwa Turgenevs Kritik), sein literarischer Wert ist erst 1965 von HorstJürgen Gerigk herausgestellt worden.2 Die Handlung ereignet sich gegenwartsnah zwischen Mitte September und Dezember 1873. Arkadij Dolgorukij ist der illegitime Sohn des leichtlebigen liberalen Gutsherrn Andreij Versilov mit Sonja, die sein leibeigener Gärtner Makar Dolgorukij vor Jahren hatte heiraten müssen. Sein leiblicher Vater kümmert sich nicht um ihn, seine leibeigene Mutter kann es nicht, und so wächst Arkadij bei Verwandten und Bekannten und schließlich in einem französischen Pensionat in Moskau auf. Nach bestandener Reifeprüfung kommt der Neunzehnjährige in die Hauptstadt Sankt Petersburg auf der Suche nach seiner Familie und seiner Identität. Er will sich nämlich durch eine Idee aus der Einsamkeit und gesellschaftlichen Nichtbeachtung befreien, welche ihn bisher bedrückt haben. So will er ein „Rothschild“ werden, d. h. große Kapitalien und Reichtümer erwerben, um dadurch die ihn umgebenden Menschen von sich abhängig zu machen. Mit der Macht des Geldes möchte er seine Herkunft kompensieren und zugleich den Besitz von möglicher Macht genießen (wie Aleksandr Puškins Geiziger Ritter). Aber diese pubertäre Idee scheitert an der Wirklichkeit der realen gesellschaftlichen Verhältnisse Petersburgs im Jahre 1873. Arkadij findet seinen leiblichen Vater Andrej Versilov, einen ganz rätselhaften, extravaganten Mann, der ihm maßlos imponiert und den Arkadij vergöttert. Er trifft aber auch auf seinen gesetzlichen Vater Makar Dolgorukij, der ein demütiger „strannik“, ein Pilger geworden war, der von Kloster zu Kloster durch Russland gezogen ist, in der Illusion einer heilen göttlichen Welt gelebt hat und kurz nach der Begegnung mit Arkadij stirbt. In ihm wird 201
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Arkadij mit einer ganz anderen Lebensauffassung bekannt, die dem Materialismus und sozialen Egoismus der Gesellschaft der Hauptstadt diametral entgegengesetzt ist. Ihr steht auch die sorgende und demütige Liebe seiner Mutter Sonja nahe. Unter der Einwirkung dieser verschiedenen Kräfte formt sich nun Arkadijs Charakter und Weltanschauung in Unsicherheiten und Schwankungen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Erfahrung sexueller Liebe. Einerseits empfindet Arkadij eine starke Abneigung gegen Frauen, andererseits verliebt er sich beim ersten Kennenlernen in die schöne jugendliche Generalswitwe Katerina Nikolaevna Achmakova, die ihm an Lebensalter und Erfahrung weit überlegen und in der gesellschaftlichen Hierarchie unerreichbar ist. Dadurch gerät sein noch unreifes Selbstwertgefühl in komplizierte Verwicklungen, wozu insbesondere die Tatsache beiträgt, dass Arkadij der Nebenbuhler seines eigenen Vaters wird, denn Versilov liebt diese Katerina ebenfalls wahnsinnig. Alle diese Vorgänge sind in eine Folge schwer durchschaubarer, sich überstürzender Ereignisse ganz kolportagehaften Charakters gefügt. Zentraler Motivationsknoten ist ein kompromittierender Brief, den Arkadij eingenäht in seinem Jackett verwahrt. Diesen Brief versuchen Katerina Achmakova und alle Arkadij umgebenden Personen an sich zu bringen. Dadurch befindet sich der junge Arkadij, der zwischen Stolz und Selbstachtung hin- und hergerissen wird, in ständiger Aufmerksamkeit der Petersburger Gesellschaft. Der ominöse Brief ist von Katerina Achmakova verfasst und an den Juristen Aleksej Andronikov mit der Bitte gerichtet, ihr zu raten, mit welchen Mitteln sie ihren verwitweten Vater, den Fürsten Sokol’skij entmündigen lassen kann, um in den Besitz seines Vermögens zu gelangen, das dieser durch eine neue Heirat verbrauchen und verschleudern werde. Diesen Brief hatte der Jurist kurz vor seinem Tode seiner Nichte Mar’ja Ivanovna überlassen, damit er nicht mit seinem Nachlass in unberufene Hände falle; Mar’ja Ivanovna gibt nun ihrerseits das kompromittierende Dokument dem, wie sie meint, ganz harmlosen Jüngling Arkadij. Katerina Achmakova gelingt es nicht, herauszufinden, wo sich eigentlich ihr Brief befindet, und Arkadij empfindet mit diesem Dokument eine heimliche, ihn befriedigende Macht über die schöne junge Witwe, begreift aber auch zugleich, dass er nur durch den Besitz dieses Briefes ihr und anderen etwas bedeutet, was sich alsbald bestätigt, als Arkadijs ehemaliger französischer Schulfreund Maurice Lambert, inzwischen ein illegaler Politverschwörer und Krimineller, Arkadij den Brief stiehlt und Katerina Achmakova zu erpressen versucht, was aber misslingt, da Arkadijs leiblicher Vater Andrej Versilov das Manöver bemerkt und Lambert zusammenschlägt. Diese einigermaßen kolpor202
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tagehaften Vorgänge werden von der Forschung (H.-J. Gerigk u. a) als Elemente des Schelmenromans qualifiziert. Das ist allerdings nicht voll überzeugend: Weder Andrej Versilov noch der halbstarke Arkadij Dolgorukij haben das charakterliche und intellektuelle Format eines wirklichen Pikaro, eines Schelms wie etwa Felix Krull oder Chulio Churenito (Il’ja Ėrenburg: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Chulio Churenito, 1922), und das fiktionale Handlungsumfeld und gesellschaftliche Milieu mit einer solch quasi heiligen Figur wie Makar Dolgorukij oder dem zuletzt seriösen Fürsten Sokol’skij ermangelt der sarkastisch oder naiv typisierten Verhaltensweise der Kontrastgestaltung im wirklichen Schelmenroman, ganz abgesehen vom schelmisch komischen Unterton der erzählerischen Darbietung. Wenn aber nun die offensichtlichen erzählerischen und kompositorischen Mängel als raffinierte Darbietungsweise des pubertären Bewusstseins des Ich-Erzählers Arkadij gedeutet werden, der plötzlich in der Realität erlebt, was er sich eigentlich insgeheim gewünscht hat, nämlich die Bloßstellung und Verunsicherung der verehrten Katerina Achmakova, ohne dass er sich allerdings als Retter zu inszenieren vermag, denn diesen Akt der Lösung übernimmt wie schon gezeigt sein Vater Andrej Versilov, der ins Zimmer stürzt und den mit der Pistole drohenden Erpresser Lambert niederschlägt. Dabei kommt es zwar noch zu einem Handgemenge zwischen den rivalisierenden Vater und Sohn, in dessen Verlauf Arkadij noch verhindern kann, dass Versilov sich und die Geliebte Katerina erschießt. Aber diese merkt von all dem nichts mehr, da sie längst in Ohnmacht gefallen ist, worin Interpretengeschick eine diffizile immanente Komik zu erkennen glaubt, aber diese ist derart verklausuliert, verworren und versteckt, dass sie selbst dem aufmerksamen Leser ohne Deutungshilfe verborgen bleibt. Die ideell thematischen Hauptthemen sind 1.) die pubertäre Psychologie, „der Aufbruch des zum Bewusstsein erwachenden Individuums in die Welt“ (Horst-Jürgen Gerigk3). Arkadij ist zugleich das Produkt und der konkrete Vertreter der Jugend der russischen Gesellschaft 1873/74. 2) die exemplarische Gestaltung und Deutung der russischen gesellschaftlichen Verhältnisse anhand des Vater-Sohn-Verhältnisses wie in den Dämonen. Versilov erinnert in vielem an Stepan Trofimovič Verchovenskij. Auch er ist Repräsentant des alten individualistischen Liberalismus der 1840er Jahre, aber stärker als bei Verchovenskij Senior ist in ihm die Neigung zum Volk, zum einfachen Bauern ausgeprägt; er liebt und verehrt in Sonja die „russische Volksseele“, aber er heiratet sie nicht, d. h. seiner Beziehung zum Volk (zum Boden) fehlt der letzte Ernst und die entschiedene 203
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Hingabe. Vielmehr zieht es Versilov, ohne sich um die Mutter seines Kindes und seinen Sohn zu kümmern, ins Ausland nach Westeuropa. Dort erlebt er den letzten Akt der – wie Dostoevskij meint – Tragödie des Westens, den Verlust des Gottesglaubens, aus dem die ganze westliche Kultur einst entstanden war. Seine Liebe zu Westeuropa ist so groß, dass er in einer Vision die Wiedergeburt der europäischen Kultur aus dem Glauben zu sehen meint: Christus wird den Menschen, die vom Atheismus verführt ihren Vater im Himmel verloren haben und nun verwaist sind, von neuem erscheinen und sie wieder zu Gott zurückbringen. Aber dennoch wird Versilov nicht zum Künder und Vorkämpfer dieser neuen Geistigkeit der Allversöhnung, denn Versilov ist Symbolfigur für die Aristokratie, die für Dostoevskij verweltlichte und verwestlichte russische Adelskultur, die wohl bis zur Erkenntnis der Wahrheit ihrer Zeit zu gelangen vermag, aber aus ihrer Tradition nicht heraus kann. Sie ist zu schwach für eine Erneuerung, die den Verzicht auf ihre sozialen Vorrechte und Privilegien bedeuten müsste, denn nur so könnte sie den Kontakt zum „Boden“ (zur počva) wiedergewinnen. Trotzdem ist das Scheitern Versilovs nicht ganz verständlich. Ein anderer Vertreter des Adelsstandes, der Fürst Sergej Sokol’skij ringt sich zu dem Entschluss durch, aufs Land zu gehen und, ohne sich dessen zu schämen, als Bauer zu arbeiten, eine Konsequenz, die an Lev Tolstojs Lösungsversuche der Diskrepanz zwischen dem Adel und dem bäuerlichen russischen Volk erinnert, wie sie auch Fëdor I. Lavreckij in Ivan Turgenevs Roman Ein Adelsnest (1859) unternommen hatte. Versilov erkennt schließlich die intellektuell notwendige und emotional erfahrbare Erneuerung des Gottglaubens und der Nachfolge Jesu als tätiges Leben und Wirken des schönen, vollkommenen, harmonischen Menschen, aber er zieht aus dieser Einsicht nicht die nötige Konsequenz. Das Gute erkennen und es trotzdem nicht zu tun, ist letztlich irrational und gemahnt an den indifferenten Stavrogin. Für Arkadij scheint das Verhalten seines Vaters unverständlich und rätselhaft. Ist es vielleicht der neutral erscheinende Rest des Bösen, die Handlungsunfähigkeit des zweifelnden liberalen Individualismus, der „überflüssigen Menschen“ (lišnie ljudi), die „schlechte“ Freiheit, nämlich trotzig die Pseudokraft des eigenen Ich in einer widersinnigen und schädlichen Entscheidung zu demonstrieren, wie es – viel schlimmer – Kirillov getan hatte? Der moderne Roman, in dem kein allwissender Erzähler die Darbietung verantwortet, kann es sich leisten, auf eine Erklärung zu verzichten und den Leser im Unklaren zu lassen (oder ihn zu reizen, zu stimulieren, selber je für sich die offene Frage zu beantworten, sozusagen anstelle der Romanfigur selber weiterführend,
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fortsetzend mögliche Lösungen zu entwerfen, womit auf die Poetik des Symbolismus vorausgewiesen wäre). Auf der anderen Seite ist auch Makar Dolgorukijs geschlossenes Weltbild voller Ordnung, Harmonie, Schönheit und moralischer Kraft überlebt. Es ist Symbol der vergangenen altrussischen vorpetrinischen Kultur. Wer durch die rationalistische Aufklärung hindurch gegangen ist, kann nicht naiv wie im Märchen einfach den Glauben der Vorväter neu beleben und so tun, als habe es die Erfahrungen und Fortschritte der rationalen Welterkenntnis und Zivilisation der Neuzeit nicht gegeben. Deshalb zieht Makar ziellos wandernd durchs Land, seine Ehe bleibt kinderlos, die Zukunft Russlands wird also nicht aus der Verbindung des Geistes der alten russischen Kultur mit der russischen Volksseele geboren; Makar stirbt. Bliebe endlich noch die Gestalt des „Jünglings“ Arkadijs selbst. Er steht für die russische jüngste Generation 1873/74. Seiner Herkunft nach ist er aus einer Verbindung der liberalen russischen Adelskultur westlicher Provenienz mit der russischen Volksseele hervorgegangen. Er ist gebildet, kennt insbesondere das Erbe der westlichen Kultur, wie es ihm im französischen Internat vermittelt wurde, er ist aber auch schon innerlich bereit geworden, das Erbe der altrussischen geistigen Überlieferung, wie es ihm Makar Dolgorukij vorgelebt hatte, aufzunehmen. Diese Jugend ist aber auf ihrem Weg in die Zukunft unsicher. Aber der politische Extremismus und Terrorismus, der die nur wenig ältere Jugend der Dämonen charakterisierte, ist überwunden. Die Ideologie eines Pëtr Verchovenskij oder Šigalëv, die Šatov erschütterte, ist für Arkadij keine wirkliche Versuchung mehr. Die Rechenschaft, die sich Arkadij in seiner Niederschrift über die Ereignisse seiner jüngsten Vergangenheit gibt, dient der Selbstfindung und Vergewisserung seiner Identität. Dieses individuelle Suchen nach dem Weg in die Zukunft symbolisiert das Suchen der ganzen Generation, und wenn Arkadij am Anfang noch von der unmoralischen „Rothschild“-Idee verführt war, so verliert sie, wie auch andere böse Versuchungen (in Gestalt des Verführers Lambert und seiner verbrecherischen Umtriebe) allmählich für Arkadij ihre Faszination. So kann der Roman Der Jüngling mit seiner Hoffnung auf eine vielleicht positive Zukunft der jüngsten russischen Generation als eine Ergänzung oder Fortsetzung der vorangegangenen Dämonen angesehen werden. Dafür spricht auch, dass Arkadij eben jünger ist und eine neue, jüngste Generation vertritt, gegenüber den vom Bösen besessenen jungen Russen vom Schlage Pëtr Verchovenskijs, Kirillovs oder Stavrogins. 205
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Dostoevskij hat auch dem Vorbilde Gogols folgend groteske Erzählungen verfasst, wie z. B. Das Krokodil (ein ungewöhnliches Ereignis oder die Passage in der Passage) (1865). Die groteske Satire ist unvollendet. In ihr wird ein Einfluss von Gogols Nase erkannt. Der Held der Erzählung, Ivan Matveič, wird bei einem Besuch einer Tierschau von einem dort ausgestellten riesigen Krokodil verschlungen, in dessen Bauch er seine dubiosen Aktionen fortsetzt. Er fasst den Plan, die Welt durch neue sozialistische Theorien zu verbessern und diese mit Hilfe seiner Frau, die einen literarischen Salon führt, zu verbreiten. Allerdings haben diese Ideen nicht die erhoffte Breitenwirkung, sein Verschwinden bleibt fast unbemerkt, sein Freund erwägt sogar, das Krokodil zu kaufen und Ivan Matveič gegen seinen Willen zu befreien. Die Erzählung ist unvollendet geblieben. In diesem Sujet ist wohl nicht zu Unrecht ein Angriff auf den Philosophen und Ökonomen Nikolaj Černiševskij und seine sozialistische Ideologie erkannt worden. Eine echt groteske Erzählung ist Bobok. Aufzeichnungen einer Person (Bobok. Zapiski odnogo lica, 1873). Der Titel (Bobok=Bohne) soll die Belanglosigkeit der Fabel signalisieren („nicht die Bohne wert“), aber der Inhalt gestaltet sich dann doch sehr überraschend. Der Erzähler, ein entfernter Verwandter des Untergrundmenschen, verweilt nach einer Beerdigung auf einer Grabplatte sitzend und vernimmt plötzlich Stimmen. Es sind die Stimmen der unter ihm ruhenden Begrabenen, die über Lebendigkeit und Lautstärke entsprechend ihrem Verwesungsgrad verfügen. Sie haben alle ihre Leidenschaften, Streitigkeiten und Unverschämtheiten mit ins Grab genommen und setzen diese dort unvermindert fort, wovon sich der Erzähler staunend überzeugt. Alle diese Ungereimtheiten in der Totengesellschaft kulminieren schließlich in der Beseitigung jeglicher Rücksichtnahme und in grenzenloser Schamlosigkeit, die in dem Vorschlag gerade bestatteter junger Frauen gipfelt, eine große Nacktparty zu organisieren. An dieser Stelle – und das muss wohl so sein – erwacht der Erzähler und versucht, das Erlebte zu verarbeiten. Im Kommentar lesen wir gewissermaßen als Quintessenz: „Auf der Erde zu leben ohne zu lügen, ist unmöglich, denn Leben und Lüge sind Synonyme.“ Dostoevskij gibt vielen seiner literarischen Texte den Titel oder Untertitel „Aufzeichnungen“ (Zapiski). Das gestattet ihm, das Geschehen durch den Filter eines spezifischen, meist intellektuellen Erzählers wiederzugeben, der das Ganze dann individuell und zugleich zeittypisch stilisiert und dem Autor die Verantwortung dafür abnimmt.
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Tagebuch eines Schriftstellers Die Romane Die Dämonen und auch Der Jüngling zählen heute auch zum Bestand der Weltliteratur, wurden indes bei Erscheinen eher mit Zurückhaltung von den russischen Lesern aufgenommen. Auch wenn Dostoevskij sich in den frühen 1870er Jahren eine große und dankbare Leserschaft gewonnen hatte, konnte er sich – besonders im Urteil der professionellen Literaturkritik – noch nicht mit Ivan Turgenev oder Lev Tolstoj messen. Nach der Rückkehr aus Dresden hatte sich daher die wirtschaftliche Lage Dostoevskijs zunächst nur wenig gebessert. Wieder bedrängten und bedrohten ihn seine Gläubiger. Aber nun nahm seine Frau Anna Grigor’evna die Wirtschaftsführung des Familienhaushalts in die Hand, und ihrem geschickten und energischen Haushalten und Verhandeln mit den Verlegern gelang es allmählich, die Lage zu konsolidieren, ab 1877 waren die Dostoevskijs endlich schuldenfrei.
Abb. 57: Anna Grigor’evna, Dostoevskijs zweite Frau, 1878
Abb. 58: Anna Grigor’evna Dostoevskajas Haushaltsbücher
Bis 1873 hatte Anna Grigor’evna die Rechte an Dostoevskijs Werken zurückgekauft und gab diese nunmehr im Selbstverlag heraus. Dostoevskij hatte in ihre wirtschaftlichen Aktivitäten vollstes Vertrauen und überließ ihr alle geschäftlichen Angelegenheiten. Freilich musste er nach wie vor durch Schreiben, durch seine schriftstellerische Tätigkeit, den laufenden Etat sicherstellen. Dies tat er durch journalistische Arbeiten in der von ihm allein gestalteten Reihe Das Tagebuch eines Schriftstellers, 207
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die er als eigene Abteilung in der Zeitschrift Der Staatsbürger (Graždanin) betreute. Seine Themen waren sehr vielseitig und befassten sich mit der Justizreform, der Trunksucht seiner Landsleute, mit Tierschutz und ökologischen Fragen und neuen Tendenzen in Literatur und Politik. Er hat aber auch literarische Texte, Erzählungen, in sein Tagebuch integriert, wie etwa die Kurzgeschichte Vlas, in der sich ein russischer Bauernbursche dazu verleiten lässt, auf eine Hostie zu schießen, wonach ihm das Kreuz mit dem Gekreuzigten erscheint, was ihn in tiefste Erschütterung stürzt. Die Erzählung wird als die Gestaltung eines mysteriösen Bedürfnisses nach Selbstzerstörung und Selbstverleugnung gedeutet, in der zugleich eine glühende Sehnsucht nach Buße und Erlösung wirksam ist. Diese beklemmende Kombination von sadistischem Extremismus – in Qualen an die Grenzen des Ertragbaren zu gehen, ja diese zu überschreiten – und religiöser Erlösungszuversicht – sich durch Buße und Reue zur Vergebung zu läutern –, ist eine Konstante in Dostoevskijs Menschenbild. Seine politischen Artikel beherrschen zwei Themen: die Warnung vor der vom russischen Volk und Boden entfremdeten, vom westlichen Atheismus vergifteten, intellektuellen russischen Führungsschicht, als deren Repräsentanten er Alexander Herzen (Gercen) benennt, der schon als Fremder, als Emigrant geboren worden sei; und die damit verbundene Behauptung von der Überlegenheit Russlands über alle Völker Europas. Von der Lektüre solcher Aufsätze kann man sich provozieren lassen, sie sind gelegentlich sogar „traurige Beispiele für nationalen Chauvinismus“4 genannt worden. Sie zählen nicht zu Dostoevskijs großen Leistungen; dass sie von bestimmten russischen politischen Kreisen reaktiviert werden, ist beklagenswert und gehört in einen anderen Zusammenhang. Immerhin hängt mit diesem radikalen Nationalismus aber Dostoevskijs Ausscheiden aus der Redaktion des Staatsbürgers zusammen: Dass die Zeitschrift im März 1874 von der Zensur gerügt wurde, die Leistung der russischen Baltendeutschen herabgesetzt zu haben und sich verpflichtete, dies in Zukunft zu unterlassen, war zu viel für Dostoevskij: Er kündigte und gab die gut dotierte Stelle auf. Aber schon zwei Jahre später, ab 1876, führte er unter dem gleichen Namen Tagebuch eines Schriftstellers (Dnevnik pisatelja) diese erfolgreiche Zeitschrift nun als eigenes Periodicum fort, ein Kuriosum insoweit, als Dostoevskij der Herausgeber und zugleich einzige Autor dieser Zeitschrift war. Sie wurde der wohl größte finanzielle Erfolg des Schriftstellers, erreichte doppelt so hohe Auflagen wie seine Romane, wurde in mehr als 700 Städte in ganz Russland verschickt und sogar vom Kai208
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serlichen Hof abonniert. Die Einnahmen aus dem Tagebuch ermöglichten, dass sich Dostoevskij in dem Kurort Staraja Russa in der weiteren Umgebung von Novgorod, wo er seit 1873 mit seiner Familie die Sommermonate verbrachte, ein Ferienhaus kaufen konnte.
Abb. 59: Dostoevskijs Haus in Staraja Russa Zum publizistischen und wirtschaftlichen Erfolg kam auch der gesellschaftliche: Dostoevskij wurde in die literarischen Salons und Gesellschaften in Sankt Petersburg gebeten, zum Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt, auf Dichterlesungen übertrumpfte er seinen Erzrivalen Turgenev, der Zar lud ihn ein, an der Ausbildung seiner Söhne mitzuwirken. Im Tagebuch eines Schriftstellers vertrat er weiterhin nationalistisch panslavistische Positionen, besonders im Krieg Russlands gegen die Türkei 1877/78, als dessen Fernziel er die Eroberung und Inkorporation Konstantinopels (Istanbul) ansah, des alten Byzanz als Wiege des orthodoxen Christentums, dessen Mittelpunkt seit dem 15. Jahrhundert Russland geworden sei. Dass Russland um die Früchte seines Sieges auf dem Berliner Kongress 1878 betrogen worden sei, empörte ihn; den slavischen Brudervölkern bot er eine brüderliche rechtgläubige christliche Gemeinschaft mit Russland an. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat Dostoevskij sein Tagebuch eines Schriftstellers mit politischen Artikeln und zum Teil polemischen Stellungnahmen gefüllt, aber auch mit literarischen Texten. So finden sich im Band des Jahres 1876 drei physiologische Skizzen. Diese Gattung war seit den späten 1840er Jahren in den „dicken Journalen“ zu literarischer Qualität gereift und bildete nun ein anerkanntes Genre. Der Bauer Marej (Mužik Marej, 1876) ist ein mustergültiger Leibeigener, in Darovoe, der Heimat Dostoevskijs. In der anspruchslosen Geschichte schildert der 209
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kindliche Erzähler seine Angst vor einem Wolf. Der gutmütige leibeigene Mareij kann das Kind aber beruhigen. Umrahmt wird die Erzählung von Begegnungen des sich erinnernden Ich-Erzählers an den stolzen, ja hochmütigen Polen Aleksander Mirecki, ein authentischer Mitgefangener Dostoevskijs in Omsk. Rührend ist die Skizze Der Junge beim Herrn Jesus zur Weihnacht (Mal’čik u Christa na ëlke, 1876), in der ein Kind, dessen Mutter in Armut stirbt, unzureichend gekleidet, an Schaufenstern die weihnachtlichen Exponate bestaunt und dabei erfriert. Die Hundertjährige (Stoletnjaja, 1876) ist eine Skizze, die an Turgenevs Skizze Der Tod (Smert’, 1848) aus den Aufzeichnungen eines Jägers (Zapiski ochodnika) erinnert und zeigt das moralisch wertvolle, aber bescheidene Leben und Sterben einer 104 Jahre alten Frau: „So gehen Millionen von Menschen dahin; sie leben unbemerkt und sie sterben unbemerkt.“ Von größerem Interesse sind für heutige Leser Dostoevskijs Artikel über Rechtsfragen und zu Erziehungsproblemen. Dostoevskij hegte eine herzliche Zuneigung zu Kindern. In ihnen sah er die Unschuld und Reinheit verkörpert, die die Erwachsenen verloren haben. Engagiert und temperamentvoll nahm er gegen Kindesmisshandlungen Stellung, so z. B. in einem Bericht über den hochdekorierten Leutnant Stanisław Kronenberg, der seine siebenjährige Tochter wegen eines geringfügigen Vergehens derart brutal geprügelt hatte, dass ihn seine Nachbarn, die das herzzerreißende Schreien des gequälten Kindes gehört hatten, anzeigten. In der Gerichtsverhandlung vermochte der berühmte Anwalt Vladimir Spasovič durch formaljuristische und rhetorische Gewandtheit einen Freispruch des Angeklagten und die völlige Schuldzuweisung an das Kind zu erreichen. Dostoevskij wendete sich empört und suggestiv in seinem Artikel direkt an Spasovič: Wissen Sie eigentlich, was es heißt, ein Kind zu beleidigen? Ein kindliches Herz ist voller unschuldiger, fast unbewusster Liebe; Schläge aber rufen darin nur schmerzhaftes Erstaunen und Tränen hervor, die Gott sieht und zählt. Das Kind ist doch gar nicht in der Lage, seine Schuld einzusehen. Haben Sie eigentlich je ein mißhandeltes Kind gesehen? Haben Sie gesehen, wie sich solch ein Kind in einer Ecke verbirgt, um ungesehen zu weinen und seine kleinen Hände ringt […] und sich mit der winzigen Faust vor die Brust schlägt, ohne seine Schuld zu begreifen, ohne zu verstehen, wofür es bestraft wird, aber wohl im allzu deutlichen Bewusstsein, dass die Eltern es nicht mehr lieben!5
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Das Leiden unschuldig gequälter Kinder wird in Dostoevskijs letztem Roman, Die Brüder Karamazov, zu einer wichtigen Themenkette.
Die Sanfte Auch im erneuerten Tagebuch eines Schriftstellers bilden Erzählungen die wichtigsten Texte, darunter Die Sanfte (Krotkaja, 1876), eine von Dostoevskijs eindrucksvollsten Erzählungen, der eine wahre Begebenheit zum Anlass gedient hat. Der IchErzähler erinnert sich vor dem aufgebahrten Leichnam seiner Frau, die sich mit einer Ikone in den Händen in den Tod gestürzt hatte, des gemeinsamen Lebens. Er war unter entehrenden Umständen aus der Armee entlassen worden und wollte sich dafür an der Gesellschaft rächen, indem er als Pfandleiher seine Klienten ausnimmt. Als solche kommt eine noch ganz junge Frau zu ihm, die sich von ihm beeindrucken lässt und sich in ihn verliebt, er heuchelt Liebe und kann sie heiraten. Ihre fröhliche, spontane Liebe beantwortet er mit kalkulierter Strenge, Zurückweisung und Überlegenheitsgetue, um sich an ihr als Objekt seine Macht zu beweisen und seine selbstverschuldete Isolation und gesellschaftliche Deklassierung – er hatte sich geweigert, als Offizier sich für die Ehre seines Regiments zu duellieren – zu kompensieren. Als seine Frau, die Sanfte, schließlich gegen sein Verhalten aufbegehrt – er hatte seinen Revolver offen liegen lassen, den die Verzweifelte ihrem sich schlafend stellenden Mann an die Schläfe setzt, aber nicht abzudrücken vermag – zerbricht mit ihrer Liebe auch ihre Selbstbehauptung, ihre Identität. Nachdem er mit einer selbstgerechten Geste Tisch und Bett von ihr getrennt hat, missdeutet er ein verzweifeltes Lied seiner Frau und bettelt um die Bereitschaft, sie möge sich ihm in Liebe wieder zuwenden. Die damit ausgelöste doppelte Belastung, nämlich den versuchten und gewünschten Mord am quälenden Ehemann als Todsünde im Gewissen zu ertragen und danach zur pflichtgemäßen Liebe zu einem solchen Menschen wie ihrem Mann unfähig zu sein, kann sie nicht mehr aushalten, und um vor dem Sakrament der Ehe nicht Liebe zu heucheln, springt sie nach einem Gebet mit einer Ikone in der Hand aus dem Fenster in die Tiefe. Die Erzählung setzt unmittelbar nach diesem Selbstmord ein. Das Unwiderrufliche lässt den Helden zur Besinnung kommen: „Ich habe sie zu Tode gequält. Das ist es.“ Der einzige Weg des Helden aus seiner Vereinsamung und Isolation hätte die Liebe sein können. Mit seinem Verbrechen an der Liebe hat 211
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er nicht nur seine Frau getötet, sondern auch sich selbst endgültig zerstört. „Wenn man sie morgen forttragen wird“, so schließt er seinen fantastischen inneren Monolog, „was wird dann aus mir, was soll ich dann tun?“
Der Traum eines lächerlichen Menschen Eine andere wichtige Erzählung ist Der Traum eines lächerlichen Menschen (Son smešnogo čeloveka, 1877) eine kurze utopische Geschichte, über die Untersuchungen geschrieben wurden, die ihren Umfang bei weitem übertreffen, weil man in diesem Text die konzentrierte Zusammenfassung von Dostoevskijs Weltanschauung erkannt zu haben glaubt. Dem Erzähler erscheint das Leben so sinnlos, dass er beschlossen hat, sich umzubringen. Ein kleines Mädchen, das ihn auf der Straße verzweifelt um Hilfe für ihre Mutter bittet, weist er herzlos ab. Zu Hause aber macht er sich Vorwürfe wegen dieses Verhaltens, obwohl er meint, jetzt, kurz vor seinem Ende von eigener Hand, bräuchte er keine Scham mehr zu empfinden und „hätte sogar eine unmenschliche Gemeinheit begehen können“. Über dem Nachdenken über Schuld und Schuldbewusstsein schläft er ein und träumt seinen Freitod, der ihn allerdings nicht in das erwartete Nichtsein stürzt, sondern von einem Geistwesen in ein anderes kosmisches System entführen lässt, in dem Menschen in paradiesischer Harmonie leben, in unreflektiertem Einklang mit der Natur und in uneigennütziger Liebe untereinander und mit allen lebendigen Wesen, Pflanzen und Tieren verbunden. Sie leben ohne Wollust, Eifersucht, Habsucht, ohne Egoismus, ohne Reflexionen, ohne Todesangst. Sie hatten keine Tempel, lebten aber in einer Art echter lebendiger ununterbrochener Gemeinschaft mit dem Universum, sie hatten keinen Glauben, dafür aber das feste Wissen, dass, sobald ihre irdische Freude zu den Grenzen der irdischen Natur gelangt sei, für sie eine noch größere Steigerung der Beziehungen zum Universum eintrete. Sie erwarteten diesen Augenblick (den Tod) mit Freude, ohne Ungeduld, ohne sich mit Schmerzen nach ihm zu sehnen, sondern schienen ihn schon in ihren Herzen zu ahnen, und darüber redeten sie miteinander.6
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Dieses irdische Paradies, zu dem Dostoevskij Claude Lorrains (1604–1682) Gemälde Küstenlandschaft mit Acis und Galatea (1657) in der Dresdener Gemäldegalerie inspiriert haben mag (Dostoevskij hat auf diesem Bild den Mythos vom Goldenen Zeitalter erkannt), findet jedoch mit der Ankunft des Erzählers ein Ende, weil er die Paradiesbewohner mit dem Gift des Strebens nach Erkenntnis, der Ratio und daraus folgend der Reflexion, der Sinnsuche, des hybriden Individualismus und schließlich der Lüge infizierte, also mit den gesellschaftlichen und intellektuellen Verhältnissen auf Erden.
Abb. 60: Claude Lorrain, Küstenlandschaft mit Acis und Galatea, 1657, Öl auf Leinwand, Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister In einem Kapitel der Dämonen, das aus Gründen der Zensur nicht zum Abdruck gebracht und erst 1922 veröffentlicht wurde, beschreibt Dostoevskij Claude Lorrains Gemälde innerhalb eines Traumberichts Stavrogins folgendermaßen: Ich hatte einen für mich durchaus unerwarteten Traum, dergleichen hatte ich noch nie geträumt. In der Dresdner Galerie hängt ein Bild von Claude Lorrain, das nach dem Katalog, glaube ich, „Acis und Galatea“ heißt; ich pflegte es aber, ich weiß selbst nicht warum, „Goldenes Zeitalter“ zu nennen. Ich hatte es auch schon früher gesehen und es mir vor drei Tagen, als ich durch Dresden kam, wieder gemerkt. Ich war sogar eigens zu diesem Zweck
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in die Galerie gegangen, um es zu sehen; vielleicht hatte ich auch nur wegen dieses Bildes den Abstecher nach Dresden gemacht. Dieses Bild sah ich nun im Traume, aber nicht als ein Gemälde, sondern als Wirklichkeit. Es war ein Winkel des Griechischen Archipel; freundliche, blaue Wellen, Inseln und Felsen, ein blühender Strand, ein zauberhaftes Panorama in der Ferne, eine untergehende, lockende Sonne – mit Worten kann man es gar nicht wiedergeben. Hier hatte sich die Menschheit ihre Wiege gedacht, hierher versetzte sie die ersten Szenen der Mythologie, hier war ihr irdisches Paradies … Hier lebten herrliche Menschen. Beim Erwachen und Einschlafen waren sie gleich glücklich und unschuldig; die Gehölze widerhallten von ihren freudigen Liedern, der große Überfluß unverbrauchter Kräfte wandelte sich in Liebe und einfältige Freude. Die Sonne übergoß mit ihren Strahlen diese Inseln und das Meer und freute sich ihrer schönen Kinder. Ein herrlicher Traum, eine erhabene Täuschung! Ein Traum, unwahrscheinlicher als alle, die die Menschheit je gehabt, dem sie aber ihr ganzes Leben lang alle ihre Kräfte hingab, dem sie alles opferte, dem zuliebe ihre Propheten an Kreuzen starben und getötet wurden, ohne den die Völker nicht leben wollen werden und selbst nicht sterben können. Diese ganze Empfindung durchkostete ich gleichsam in diesem Traume; ich weiß nicht genau, was ich alles träumte, aber die Felsen und das Meer und die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne glaubte ich auch dann noch zu sehen, als ich erwachte und die Augen öffnete, die zum ersten Male in meinem Leben voller Tränen waren. Das Gefühl einer mir noch unbekannten Freude durchdrang mein Herz so, daß es sogar weh tat.7
Im Traum eines lächerlichen Menschen berichtet der Erzähler den Traum seinen Zeitgenossen, die das für eine Marotte halten und ihn als „lächerlichen Menschen“ nicht ernst nehmen. Er bleibt aber bei seiner Vision: Ich habe die Wahrheit gesehen […] ich weiß, dass die Menschen schön und glücklich sein können, ohne dass sie deshalb die Fähigkeiten, auf der Erde zu leben, verlieren müssten. Ich will und kann nicht glauben, dass das Böse der normale Zustand der Menschen sei. Alle lachen jedoch über diesen meinen Glauben. Aber wie kann sich jemand weigern, mir zu glauben: Ich habe ja die Wahrheit gesehen – nicht, dass ich sie mir mit dem Verstande ausgedacht
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hätte, sondern ich habe sie gesehen, wirklich gesehen, und ihre lebendige Gestalt hat meine Seele auf ewig erfüllt.8
Im Frühjahr 1878 hörte Dostoevskij die Vorlesungen über das „Gottmenschentum“ (čtenija o bogočelovečestve) des jungen Religionsphilosophen Vladimir S. Solov’ ëv (1853–1900), mit dem ihn bald viel Gemeinsames verband. Mit ihm unternahm er eine Pilgerfahrt zum Kloster Optina Pustyn’, wo er den hochangesehenen Mönch Ambrosius (Aleksandr M. Grenkov, 1812–1891) traf, der das Vorbild für den Starec Zosima in den Brüdern Karamazov geliefert hat. Anlass zu der Pilgerreise war der plötzliche Tod von Dostoevskijs zweieinhalbjährigem Sohn Alëša.
Die Puškin-Rede Die Rede, die Dostoevskij am 8. Juni 1880 aus Anlass der Einweihung des PuškinDenkmals in Moskau hielt, bildet sein geistiges Vermächtnis. Er entwarf hier eine kühne ideengeschichtliche Synthese: Der russische Mensch solle weder nur einseitiger orthodoxer Christ, noch westlich atheistischer Kosmopolit sein, sondern wie Aleksandr Puškin – aus Dostoevskijs Sicht – auf der Basis christlichen Denkens die Traditionen der Weltkultur in sich aufnehmen und ein Bruder aller Menschen werden, ein „Allmensch“ (vsečelovek), indem die Gegensätze der westeuropäischen und slavischen Ideen ihre Versöhnung finden. In seinen Überlegungen zum europäischen Nihilismus bringt Martin Heidegger Jean Pauls Idee eines „poetischen Nihilismus“ (Vorschule der Ästhetik, §§ 1 und 2) mit Dostoevskijs Puškin-Rede in Zusammenhang. Heidegger, der in anderen Schriften die „Bodenständigkeit“ in der Bindung an eine Heimat als Grundvoraussetzung für das Gedeihen großer Werke der Weltliteratur ansieht,9 zitiert dabei eine längere Passage aus Dostoevskijs Vorwort: Was jedoch meine Rede selbst anbetrifft, so wollte ich in ihr lediglich die vier folgenden Punkte der Bedeutung Puschkins für Rußland auseinandersetzen: Daß Puschkin der erste gewesen ist, der mit seinem tiefen, durchschauenden und hochbegnadeten Geiste und aus echt russischem Herzen heraus die bedeutungsvolle, krankhafte Erscheinung in unserer Intelligenz, unserer vom Boden losgerissenen Gesellschaft, die sich hoch über dem Volk stehend dünkt, ent-
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deckt und als das erkannt hat, was sie ist. Er hat sie erkannt und hat es vermocht, den Typ unseres negativen russischen Menschen plastisch vor unsere Augen zu stellen: den Menschen, der keine Ruhe hat und der sich mit nichts Bestehendem zufrieden geben kann, der an seinen Heimatboden und die Kräfte dieses Heimatbodens nicht glaubt, der Rußland und sich selbst (oder richtiger seine Gesellschaftsklasse, die ganze Schicht der Intelligenz, zu der auch er gehört, und die sich von unserem Volksboden gelöst hat) im letzten Grunde verneint, der mit seinen Volksgenossen nichts gemein haben will und der unter all dem doch aufrichtig leidet. Puschkins Aleko und Onegin haben eine Menge solcher Gestalten, wie sie selbst sind, in unserer Literatur hervorgerufen.10
Abb. 61: Puškin-Denkmal in Moskau, anonyme Fotografie, um 1885 Melchior de Vogüé berichtet, dass Dostoevskij um 1880 auf dem Höhepunkt seines Ruhms angelangt war, der alle anderen russischen Autoren überstrahlt habe. Die Zuhörerschaft war tief bewegt und weinte, solange er sprach, die Studenten stürmten auf die Tribüne, um sich ihrem Idol zu nähern, einer verlor das Bewusstsein.11 Dass dieser Bericht keine Legende ist, wird durch einen Brief Dostoevskijs an seine Frau Anna Grigor’evna und durch andere Zeitzeugen bestätigt12 wie auch kurze Zeit später durch die große Anteilnahme an Dostoevskijs Tod. 216
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Am 25. Januar 1881 erlitt der 59-jährige Dostoevskij, als er seinen Bücherschrank verrücken wollte, einen Blutsturz, an dessen Folgen er drei Tage später verstarb. Mehrere zehntausend Menschen geleiteten den Toten auf seinem letzten Weg zum Friedhof beim Aleksandr Nevskij-Kloster in Sankt Petersburg. „Wer diesen Leichenzug gesehen hat“, schrieb Melchior de Vogüé, „hat das ganze kontrastreiche Land von allen Seiten gesehen“.13
Abb. 62: Trauerzug zu Dostoevskijs Begräbnis am 12. Februar 1881, Zeichnung von Arnold Karl Baldinger Die Dimensionen des literarischen und publizistischen Werkes, wie es bisher vorgestellt wurde, sind – bei all ihrer gelegentlichen Einseitigkeit und Voreingenommenheit – in der Weltliteratur dennoch sehr ungewöhnlich: Da geht es um die geistigen und existentiellen, auch triebhaften Kräfte im menschlichen Leben, in deren Widerstreit der Mensch sein individuelles und soziales Sein einrichten muss; es geht um die anmaßende Verführung der Ratio, des Verstandes, wenn er nicht an die Kräfte von Moral und Gewissen gebunden bleibt; es geht um die harmonisierende Kraft der Liebe im Leben; um Schuld, unausweichliches Schuldigwerden und die Möglichkeit, dies zu überwinden; es geht um Notwendigkeit und Grenzen irdischer Justiz; um die radikale ideologische Gefährdung des Menschen im 19. Jahrhundert, besonders in Russland, um die Frage der Zukunft Russlands und der Menschheit, ob sie der Geist Christi durchdrin217
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gen oder die rationale Zucht eines Großinquisitors beherrschen wird, und zusammengefasst geht es immer um die zentrale Frage von Dostoevskijs Dichten und Denken, die Frage nach der Existenz Gottes, nach Tod und Sterblichkeit und der Orientierung menschlichen Lebens. Alle diese Themen erscheinen wie in einem Fokus konzentriert in Dostoevskijs letztem und größten Roman Die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy).
Abb. 63: Dostoevski, Porträtaufnahme von Konstantin Šapiro, 1879
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12. Die Brüder Karamazov: Recht und Gerechtigkeit, Religion und Gesellschaft1 Der Roman entstand in knapp dreijähriger Arbeit, wurde am 8.11.1880 beendet, zweieinhalb Monate vor Dostoevskijs Tod. Er erschien zuerst ab 1879 und 1880 wieder in Katkovs Russischem Boten und erregte sofort großes Aufsehen und hat das Interesse der Leser ungebrochen bis heute behalten. Im November 1880 beendet, lag er bereits 1884 in französischer Übersetzung vor. Maksim Gor’kij und Čingiz Ajtmatov, Thomas Mann, Stefan Zweig, Franz Kafka, Anna Seghers, William Faulkner, André Gide, André Malraux, aber auch Sigmund Freud, Albert Einstein, Albert Schweitzer und Bertrand Russell sind von diesem Roman tief beeindruckt worden. Die Eigenart von Dostoevskijs literarischem Stil tritt auch hier wieder deutlich hervor. Wieder sind Verbrechen, Krankheit, sexuelle Liebe, Religion und Ideologie zentrale Motive der Akteure. Von einem Berichterstatter erzählt, der zu den meisten Personen der Handlung offensichtlich persönliche Beziehungen unterhält, bietet sich keine allwissende Überschau, sondern eine perspektivische Wiedergabe. Es überwiegen persönliche Reden und Gespräche. Und wieder haben wir die geringe Zeitentfaltung, das Ganze geschieht an nur sechs Tagen, gegen Ende August und Anfang November 1866, d. h. es wird aus einem zeitlichen Abstand von dreizehn Jahren berichtet. Der Epilog schildert einen zusätzlichen Tag. Der Schauplatz des Geschehens ist die russische Provinz, meist die Provinzstadt Skotoprigonevsk (der symbolische Name bedeutet „Viehtreibe“). Die Kürze der erzählten Zeit wird in dem sehr umfangreichen Roman von ca. 1000 Druckseiten im Original nun aber nicht in Reflexionen, inneren Monologen und minutiös ausgemalten psychischen Erlebniszuständen und Bewusstwerdungserfahrungen im Sinne des neueren „stream of consciousness“ ausgebreitet. Auch wenn Dostoevskijs psychologischer Roman diese Stiltechnik entscheidend vorbereitet hat, ist er von solchen Konsequenzen einer erzählerischen Autosektion weit 219
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entfernt. Im Gegenteil: Dostoevskijs Roman birst geradezu vor Handlungs- und Ereignisfülle, die sich aber nebeneinander gleichzeitig im Geschehensraum ereignet. Der Roman wird dialogisch erzählt in Gesprächen verschiedener Aktionspartner, sodass sich das Geschehen in großer Nähe vor dem Leser abspielt, wobei – wie in den Dämonen – der Erzähler teils als Chronist, teils als beteiligte mithandelnde Person zu der Parallelität und Dichte der erzählten Geschehensverläufe entscheidend beiträgt. Der Roman Die Brüder Karamazov, in dem 128 Personen handeln bzw. auftreten oder erwähnt werden, gilt nach übereinstimmendem Urteil der Literaturwissenschaft und Kritik als Höhepunkt in Dostoevskijs Gesamtwerk. Alle künstlerischen Verfahren und ideellen Konzeptionen erscheinen hier noch einmal vertieft und wie in einem Brennpunkt konzentriert: Die Rolle und Bedeutung der geistigen und der triebhaften Kräfte im menschlichen Leben; die Orientierungsproblematik, wie das geistige und wie das soziale Sein einzurichten sind; die Rolle des euklidischen Verstandes, der Ratio, ihrer Grenzen und ihrer Verführung, nämlich anzunehmen, alles im Leben sei wenigstens hilfsweise durch vernünftige Entscheidungen und Schlüsse am besten zu regeln; es geht um Schuldverstrickung und die mögliche Sühne der Schuld durch die Kraft uneigennütziger Liebe; es geht um Notwendigkeit und Grenzen der irdischen Justiz; um soziale Gerechtigkeit und ideologische Verführbarkeit; um das Verhältnis Russlands zu seinen Nachbarn und zur westlichen Kultur; und um die Dostoevskij immer wieder bewegende Frage nach der Existenz Gottes und damit zusammenhängend nach dem Sinn des Todes und einer möglichen Wiedergeburt. Von der zentralen Thematik her geurteilt handelt es sich nach Dostoevskijs eigenem Zeugnis sogar um zwei parallele Romanhandlungen, die nur sehr locker verbunden leicht voneinander zu lösen sind (ein geschickter Verleger hat sogar die eine Handlung herausgenommen und unter dem Titel Alëša und die Knaben als eigenständiges Werk publiziert). Der eine Roman ist die Kriminalgeschichte eines Vatermordes, nämlich die Ermordung Fëdor Pavlovič Karamazovs durch einen seiner Söhne. Dieser Kriminalfall wird mit einem Justizirrtum abgeschlossen. Der andere Roman ist die Geschichte eines jungen Mannes aus einer zerstörten und unvollständigen Familie, der vaterlos aufgewachsen in einem russischen Mönch seinen geistlichen Vater findet, aber das Kloster wieder verlässt und in der Welt durch seine Hilfsbereitschaft eine segensreiche Wirkung auslöst. Als Akteur, als handelnde Figur tritt er aber neben seinen Brüdern nicht besonders hervor. Trotzdem nennt der Erzähler diesen jungen Novizen Alëša den 220
12. Die Brüder Karamazov: Recht und Gerechtigkeit, Religion und Gesellschaft
Haupthelden; er hat das Vertrauen der übrigen handelnden Figuren, hört sich deren Bekenntnisse oder Geständnisse an, greift aber erst gegen Ende des Romans selber handelnd ein. Dabei bemüht er sich, die Probleme und Konflikte, in die er hineingezogen wird, in ihren Ursachen zu erkennen und zu verstehen. Insofern lernt er und wächst erst allmählich in das Geschehen hinein. Als jüngster der Brüder ist er also noch wie Arkadij Dolgorukij in der Entwicklung. In der Figurenkonstellation ist er wie Myškin oder Stavrogin Schnittpunkt von verschiedenen Aktivitäten und Handlungen. Von der formalen Komposition her betrachtet steht Alëša also im Zentrum. Er ist der Anlaufpunkt und Umschlagplatz der Aktionen und Bestrebungen der aktiv handelnden Personen. Er ist der unfreiwillige Beichtvater aller Bedrängten und Verirrten in diesem Chaos der Irrungen, Leidenschaften und Verführungen. Von der gesamten Handlung her gesehen erscheint aber Dmitrij Karamazov als Hauptperson: Alles, was geschieht, ist mit ihm direkt oder indirekt verbunden, seine Rolle in der Vorgeschichte des Mordes, seine Schuldigsprechung und Verurteilung für diese Bluttat, die er zwar gewünscht, aber nicht begangen hat, und seine mögliche Flucht. Dem ideologischen Gehalt nach ist jedoch Ivan Karamazov die wichtigste Person: Sein Gespräch mit Alëša und die Erzählung vom Großinquisitor sind der philosophische Kern des Romans (so Dostoevskij selbst). Das ergibt also einen sehr differenzierten polyfunktionalen Text, in dem, je nach Analyse ihrer Funktion, auch die weiteren Figuren der Handlung (wie der Vater Fëdor Karamazov, Smerdjakov, sowie die Frauen Gruša, Liza und Katerina und nicht zuletzt der Starez Zosima als geistlicher Vater Alëšas) partiell dominant und handlungsführend hervortreten. Sie alle bewirken mehr und sind selbständiger, als dass sie als bloße Komplementärfiguren nach dem Muster des traditionellen Personenromans betrachtet werden können. Gewiss unterliegt es keinem Zweifel, dass Dostoevskij als Autor selbst zu all den aufgeworfenen und im Roman gestalteten Problemen eine klare und eindeutige Meinung hatte. Aber es macht seine Genialität aus, dass er in diesem polyphonen Roman von seiner Ansicht und Zielsetzung erheblich abweichende Meinungen umfassend und ausführlich zu Wort kommen und sich argumentativ entfalten lässt, und da er sein überschauendes und kompositorisches Vorrecht nicht durch den allwissenden Erzählerstandpunkt ausnützt, sondern nur die Perspektive des beteiligten oder recherchierenden Chronisten bezieht, ergibt sich jene großartige Vielfalt der handelnden Figuren und unterschiedlichen Überzeugungen, die diesen vielstimmigen Roman als ein pluralistisches Ideenensemble erscheinen lassen. 221
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Der alte Karamazov, Fëdor Pavlovič, Gutsbesitzer, lebt in der Provinzstadt Skotoprigonevsk (Viehtreibe), hat durch Raffinesse einiges Vermögen zusammengetragen, ist ein unersättlicher Wollüstling, geradezu eine Verkörperung hemmungslosen Geschlechtstriebs. In zwei Ehen hat er drei Söhne gezeugt, einen vierten nach einem Gelage mit einer schwachsinnigen halb wahnsinnigen Asozialen auf freiem Felde im Beisein seiner johlenden Saufkumpane. Alle drei Mütter sterben. Die drei Söhne hat er zur Erziehung weggegeben und fast vergessen. Den vierten, illegitimen Sohn, den Epileptiker Pavel Fëdorovič Smerdjakov, erzieht Karamazovs Diener Grigorij. Smerdjakov ist beim Vater als Lakai (Koch) tätig. Drei Söhne hassen und verachten diesen Vater. Auch der vierte, Alëša der Novize, vermag ihn nicht zu lieben. Mit dem ältesten Sohn Dmitrij besteht ein offener Konflikt: Der Vater verweigert ihm 3000 Rubel an Erbe, mit dem Mitja (Dmitrij) heiraten und ein neues Leben beginnen will. Allerdings ist der Vater Fëdor Pavlovič in Mitjas Braut Grušenka verliebt und verspricht ihr diese 3000 Rubel für eine Liebesnacht. Während einer der ständigen skandalösen Streitereien im Hause Karamazov schlägt Dmitrij den Vater und droht im Zorn, ihn umzubringen. Der zweite Sohn, Ivan, lebt mit dem Vater im gleichen Haus und verachtet ihn ebenso wie seinen impulsiven Bruder Dmitrij, er bedroht aber den Vater nicht direkt. Seine Ansichten, dass die Welt mangelhaft, das Leben mühselig, wenn nicht sinnlos sei, und dass, wenn es keinen Gott gibt, folglich alles erlaubt ist, macht sich Smerdjakov zu eigen. Smerdjakov durchschaut Ivan, dass auch er den Tod dieses Vaters wünscht, aus Hass, Verachtung und wohl auch jenem rational egoistischen Kalkül, wenigstens den Rest des Familienvermögens zu retten, das der Alte für seine Unzucht und Sauferei verprasst. Hiervon ist Smerdjakov umso mehr überzeugt, als auf sein Anraten hin Ivan eine Reise unternimmt und den Vater in der bedrohlichen Situation von Seiten Dmitrijs allein lässt. Smerdjakov fasst die Abreise Ivans sogar als Aufforderung auf, den Vater zu ermorden und tut dies auch mit kaltblütiger raffinierter Planung. Der ganze Verdacht fällt auf Dmitrij, der mit dem Vater im Streit liegt, ihn schon einmal geschlagen und bedroht hat und in der Tatnacht am Tatort gesehen wurde. Smerdjakov nimmt sich die 3000 Rubel als Lohn für den Mord, den er, wie er meint, im Auftrag Ivans ausgeführt hat. Denn, so kalkuliert Smerdjakov, Alëša geht ins Kloster, Dmitrij kommt ins Gefängnis, Ivan wird der Alleinerbe, und er, Smerdjakov, der ausführende Arm des von Ivan intellektuell gerechtfertigten Mordes, wird sich mit den 3000 entwendeten Rubel eine sichere Existenz im Ausland gründen. Aber die Dinge nehmen einen anderen Verlauf. Nachdem 222
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Smerdjakov Ivan seinen Mord am Vater aufgedeckt hat, verweigert dieser die erwartete Zustimmung und entschließt sich, seine ideelle und Smerdjakovs reale Schuld vor Gericht zu bekennen. Doch das gelingt nicht, denn Smerdjakov hat sich in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung erhängt, nachdem er Ivan am Abend zuvor erklärt hatte, dass er, der bis dahin den Bruder Dmitrij für den wirklichen Mörder gehalten hatte, der eigentliche gedankliche Anstifter des Vatermordes und Smerdjakov nur sein Handlanger, sein ausführendes Organ gewesen war. Aber Ivan kann diesen Sachverhalt ohne das bestätigende Zeugnis Smerdjakovs nicht mehr beweisen, und Dmitrij wird, auch aufgrund einer ungewollten Falschaussage des Dieners Grigorij und weiterer vermeintlicher Indizien schuldig gesprochen und verurteilt. Tief erschüttert von dieser Folge seiner Gedankenexperimente und der Erkenntnis der Faktenlage, dass er eben ohne den Zeugen Smerdjakov den wirklichen Hergang des Mordes vor Gericht nicht beweisen kann, erkrankt Ivan am Nervenfieber. Im Fieberwahn hat er eine Vision, dass ihm der Teufel in Gestalt eines Kleinbürgers erscheint und das Böse als banale Alltagserscheinung vorführt. Wichtig sind aber seine Reflexionen über den Sinn der Vaterschaft. Der Vater-Sohn-Konflikt erscheint hier in einer neuen Variante. Der historische Sinn der Generationenfolge ist: Die Söhne sollen das Werk der Geschichte (im privaten wie gesellschaftlichen Bereich) fortführen, das die Väter immer unvollendet zurücklassen müssen. Die Aufgabe der Väter ist es, die Söhne zu erziehen, vorzubereiten und anzuleiten zu dieser Mitarbeit am „Bau der Ewigkeiten“, wie es in Schillers Gedicht Die Ideale heißt. (Überhaupt finden sich in diesem Roman wieder zahlreiche Bezugnahmen auf Dostoevskijs Begeisterung seit seiner Jugend für Friedrich Schiller.) Der Sinn des Lebens ist also die Solidarität der Generationen, um dem Ziel der Geschichte, der Höherentwicklung und Veredelung des Menschengeschlechts näher zu kommen. Mit zynischem Spott ignoriert der alte Karamazov diese Vaterrolle. Eigentlich erscheint Fëdor Pavlovič Karamazov, der Vater, als einseitige Inkarnation des Schlechten und Hässlichen. Stechende kleine Augen, schütteres Haar, ein fleischiges Doppelkinn, feuchte Aussprache mit aus Zahnlücken bespeichelten fetten Lippen lassen ihn schon äußerlich ganz widerwärtig und ekelhaft erscheinen. Damit korrespondieren seine Charaktereigenschaften. Er ist bis zum Extrem habgierig, gegen seine Erben geizig, egoistisch, genußsüchtig, zynisch, von triebhafter sexueller Wollust beherrscht. Für ihn ist jede Frau, ganz gleich ob jung oder alt, gesund oder krank, nur aufgrund ihres Geschlechts, ein verwertbares Objekt seiner Begierde. Es fragt sich, wie eine solch extreme Negativgestalt dennoch als real und 223
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möglich zu überzeugen vermag und nicht als einseitiges schwarz-weiß gemaltes Scheusal zur bloßen Karikatur verblasst. Dostoevskij verleiht dieser Figur dadurch Glaubwürdigkeit, dass er sie als einen ganz alltäglichen, ja sentimentalen, trivialen, aber nicht unintelligenten Spießer vorführt. Er ist nämlich in seinen aktuellen Aktionen ein kleinlich gemeiner, schlauer, feiger und hinterlistiger Mensch, dazu ein ausgekochter Schelm, Hanswurst und Possenreißer, der Skandale liebt, um sich zu amüsieren. Fëdor Karamazov inszeniert sein Wesen, das Böse, Hinterhältige. Da wird nichts versteckt, und unter der Maske eines Anderen verborgen und dem Gelächter preisgegeben, sondern es tritt nackter, zynischer Spott hervor. Er offenbart, dass das böse Prinzip im Menschen alltäglich trivial, ja kleinkariert ist, und gerade in dieser Form ist es besonders wirksam und ansteckend.2 Die spätere Teufelsvision des schon kranken Ivan Karamazov bestätigt, dass das Böse nicht in der satanisch erhabenen Form des Dämonischen auftritt, das ästhetisch faszinieren und Destruktion mit schaudernder Größe veredeln kann, wie etwa Lermontovs Dämon oder mit intellektuellem Scharfsinn und Witz Goethes Mephisto. Hier ist dagegen der Teufel fies und mies, schäbig, banal und alltäglich. Dostoevskij dürfte hier von Überlegungen Artur Schopenhauers (1788–1860) angeregt sein. Seine Zeitgenossen Afanasij A. Fet (1820–1892), Tolstoj und Turgenev kannten und verbreiteten seit den 1860er Jahren Schopenhauers Philosophie in Russland. Schopenhauer meint, wie der Mensch nach Kant die apriorische Fähigkeit der moralischen Begriffsbildung besitzt, so ist in ihm umgekehrt auch apriorisch die Fähigkeit zum Unmoralischen, zum Bösen und Destruktiven enthalten. Das Tier tötet und zerstört, um sich selbst zu erhalten oder allenfalls, um sich Vorteile zu verschaffen. Der Mensch vermag aber ohne Ursache, ohne existentiellen Zwang, anderen Kreaturen oder auch sich selbst Schmerz und Leid zuzufügen, nur aus sadistischem Genuss, aus perverser Freude am Leiden, um zu quälen. Erscheinen Fëdor Karamazov und Smerdjakov, der gerne grundlos Hunde und Katzen quält, nicht als banale reale Repräsentanten solch boshafter Gemeinheit, als die nicht auszuschließende Möglichkeit moralisch indifferenter Entscheidungsfreiheit? Verstehen wir diese latente, dem Menschen inhärente Möglichkeit zur Bosheit als das, was im Roman immer als „Karamazovščina“, als gemeinsames Erbe der Karamazovs beschworen wird, dann muss als Aufgabe im Sinne des veredelnden Progresses der menschlichen Geschichte, wie es Schillers Gedicht Die Ideale als leitendes Thema entwirft, verstanden werden, wie sich die Söhne des bösen und banalen Fëdor Karamazov jeder auf seine Weise mit diesem schlimmen Erbe auseinandersetzen und 224
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wie sie es bewältigen. Insofern wird die Familie der Karamazovs über den individualtypischen und soziohistorischen Ort ihrer realen Existenz hinaus zugleich zum Mikrokosmos, in dem sich die wichtigsten und ewigen Probleme des Menschseins in seiner existentiellen und sozialen Bindung schlechthin reflektieren, insoweit ja kein Mensch isoliert, sondern immer als Glied zumindest der ursprünglichsten Societas, eben der Familie, existiert. Am leichtesten ist die Fortentwicklung der Karamazov’schen Veranlagung in dem Bastard Smerdjakov zu erkennen. Mit dem Makel der unehelichen Abstammung behaftet wird er nicht als zur Familie gehörig betrachtet. Zu dieser sozialen Ungerechtigkeit tritt noch die physische Benachteiligung. Von Geburt an leidet Smerdjakov an Epilepsie. Diese Nachteile kompensiert er durch Arroganz und spöttische Überheblichkeit, wozu ihn seine dem Vater überlegene Intelligenz befähigt. Dass er das vom Vater ererbte böse Prinzip fortsetzt, signalisiert die Namensgleichheit. Nur vertauscht trägt er Vor- und Vatersname des Alten (Fëdor Pavlovič Karamazov – Pavel Fëdorovič Smerdjakov). Wie dieser ist er von abstoßendem Äußeren. Zwar kleidet er sich elegant und pflegt seinen Körper, bekommt dadurch aber eine geschniegelt kastratenhafte Erscheinung. Wie der Alte ist er sadistisch veranlagt, zynisch und feige, doch gibt es auch gewichtige Unterschiede. Er ist emotionslos und desinteressiert, anscheinend sexuell neutral und hat sich immer in der Gewalt. Zusätzliche Mängel sind, dass er sich gleichgültig zu Kunst und Literatur verhält und horribile dictu Russland verachtet. Er erscheint als eine rational zugespitzte und entemotionalisierte Variante des alten Karamazov. Die anderen drei Brüder versuchen nun jeder auf seine Weise gegen das Erbe der Karamasovščina anzukämpfen: Dmitrij mit emotionalen und Ivan mit rationalen Mitteln, Alëša mit christlich ethischen. Dmitrij, von kräftigem angenehmem Äußeren, impulsiv und beinahe cholerisch, ist ein romantischer Enthusiast, der sich an allem Schönen und Edlen begeistert, mit Tränen in den Augen seinen geliebten Schiller zitiert, vom Gefühl der Liebe berauscht ist, aber von seiner triebhaften Sinnlichkeit überwältigt wird. Obwohl er das weiß und sich über das Unrechte seines Verhaltens gegenüber Katerina Ivanovna völlig im Klaren ist – er war mit ihr verlobt – prellt sie aber wegen seiner neuen Flamme Grušenka um 3000 geliehene Rubel. Er handelt spontan und unüberlegt, lässt sich zu leidenschaftlichen Affekthandlungen hinreißen, nur ein Zufall verhinderte in der verhängnisvollen Nacht, dass er tatsächlich zum Vatermörder wurde. Obwohl in seinen Ansichten durchaus viel Vernünftiges und Einsichtiges enthalten ist, mangelt es ihm doch an der Fähigkeit zum rationalen Denken und Reflektieren. 225
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Er ist grenzenlos naiv und vertrauensselig, hilflos in praktischen Alltagsproblemen, etwa in Geldfragen, und im Verhör mit dem Untersuchungsrichter geradezu unfähig, seine Lage richtig einzuschätzen. Wie seine Brüder hegt auch er den Wunsch, den verhassten Vater loszuwerden, und indem er sogar gegen den Vater in seinem impulsiven Zorn tätlich wird, geht er in der Absicht der Vatertötung am weitesten, aber er begeht sie nicht. Für Horst-Jürgen Gerigk3 ist – auch unter Verweis auf Kants Überlegungen über die Rolle des Gewissens, das Kant „inneres Gericht“ nennt, und das für ein Vergehen als Strafe gleichwertige Kompensation fordert, als psychisch moralische Reflexion in unserem Inneren – Dmitrij Karamazov der eigentliche Täter und Smerdjakov sein eher nur zufälliger Vollstrecker; von Gewicht ist, dass Dmitrij den Entschluss zur Mordtat gefasst hatte; in rasender Eifersucht und gekränktem Zorn ist er in der Mordnacht tatsächlich unreflektiert zum Haus des Vaters gestürzt, einen Mörser in den Händen, um damit notfalls ein Stelldichein seiner Braut Grušenka mit dem Alten zu verhindern. Wäre der Entschluss zur Tat identisch mit der Verwirklichung der Tat, dann wäre Dmitrij schuldig und der Schuldspruch des Gerichts gerechtfertigt. Aber auf einen Entschluss zur Tat, also einen bloßen Vorsatz, lässt sich in keiner zivilisierten Rechtsprechung ein Urteil begründen, auch wenn man den Tatentschluss im Inneren, im Vorhaben des Täters, als Wirken des Bösen, das in die Welt tritt, interpretiert. Die Beurteilung hat sich zunächst an die Fakten zu halten und kann erst danach die mögliche Motivation zur Bewertung der Tat berücksichtigen. Dmitrij – das ist nicht zu bestreiten – handelt im Affekt, nicht mit logischem Kalkül wie der wirkliche Mörder Smerdjakov. Er wird das Opfer eines wohl unvermeidbaren Justizirrtums. Er schlägt zwar in der Tatnacht den hinzukommenden Diener Grigorij nieder, schlägt aber nicht auf seinen Vater ein, als er sich überzeugt, dass Grušenka gar nicht zu der Verabredung gekommen ist. Der Vater wird danach in seinem Zimmer von Smerdjakov mit einem Briefbeschwerer erschlagen, Smerdjakov entwendet auch die 3000 Rubel, die als Liebeslohn vom Vater Fëdor für Grušenka bestimmt waren. Alle Indizien bei der Beweisaufnahme sprechen gegen Dmitrij: Er war am Tatort, er ist blutverschmiert – das Blut stammt allerdings vom verletzten Diener Grigorij – er ist im Besitz von 3000 Rubel, allerdings nicht vom Vater, sondern von Katerina Ivanovna geliehen, und schließlich die Falschaussage Grigorijs, der die Tür zum Zimmer, in dem der Mord stattgefunden hat, offenstehend gesehen zu haben meint. Durch sie ist aber der Mörder Smerdjakov entwichen, während zu der Zeit, da Dmitrij aufgebracht erschien, die Tür noch geschlossen war. Das Gericht glaubt 226
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aufgrund der vielen gegen Dmitrij sprechenden Indizien der Aussage Grigorijs. Der Bruder Ivan Karamazov kann das Geständnis Smerdjakovs nicht beweisen, da dieser sich erhängt hat. Das Gericht kann nicht anders, als Dmitrij schuldig zu sprechen. Übrigens sind Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Geschworene in einem äußerst negativen Lichte dargestellt. Einigen Geschworenen wird vom Erzähler bzw. Berichterstatter zum Vorwurf gemacht, dass sie wie Deutsche gekleidet sind. Dmitrijs emotionale Persönlichkeitsstruktur und seine physische Stärke ermöglichen ihm, die Erniedrigungen der Schuldzuweisungen durchzustehen und anzunehmen: dass er die Strafe für den Vatermord, den er nicht begangen, wohl aber gewünscht und gewollt hat, wie seine Brüder und andere auch, auf sich nimmt. Er ist nicht resigniert, sondern ganz bewusst und mit vollem Willen bereit, als Einzelner eine kollektive Schuld zu sühnen, nicht als Märtyrer, sondern aus ehrlicher Nächstenliebe, eine Schuld zu akzeptieren, die mehr oder weniger alle betrifft: „Wer wünschte nicht den Tod des Vaters“, hatte der verwirrte Ivan in den Gerichtssaal geschrien. Dmitrij verlangt nicht, dass auch die anderen „Schuldigen“ zur Verantwortung gezogen werden. Dass er sich zur Schuldannahme bereit finden kann, vollbringt er nicht nur aus eigener Kraft, sondern die zuletzt opferbereite Liebe Grušenkas leistet ihm dabei den entscheidenden Beistand. Dmitrij akzeptiert also seine moralische Schuld, auch als kollektive Stellvertreterschuld und erkennt, dass das Gericht aufgrund der Indizienlage und irrigen Aussage des Dieners Grigorij gar kein anderes Urteil fällen konnte. Auch der Verteidiger begreift sofort diese Lage und bemüht nur mildernde bzw. entlastende Umstände. Dmitrij begreift diese Begrenztheit der irdischen Rechtsprechung instinktiv und hegt deshalb auch keinen Groll gegen Gott und seine Richter.4 Dmitrij und Alëša sind sich in aufrichtiger Bruderliebe zugetan. Alëša wird in der Forschungsliteratur, etwa von Guardini oder Močul’skij5, zum engelsgleichen Heiligen erhoben. Das ist recht voreilig. Er ist ein noch ganz unreifer junger Mann, der aus dem Chaos seines desolaten Zuhause sich in die scheinbar heile Welt des Klosters flüchten konnte, um sich dort durch mustergültiges Verhalten möglichst schnell die Anerkennung des Abtes und die Liebe Gottes zu erdienen, wie er kindlich naiv gehofft hat. Jung, unerfahren, unreif für eine aktive Rolle in den Ausnahmesituationen dieses real-fantastischen Romangeschehens kann er nicht mehr tun, als in dieser rabiaten Wirklichkeit zuzuhören und zu trösten. Aber er kann weder eingreifen noch helfen. 227
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Seine Inaktivität verursacht kein körperlicher Mangel wie bei Myškin. Alëša ist gesund, kräftig und durchaus triebhaft wie alle Karamazovs. Gewiss ist er ein tief religiöser junger Mann, aber bei allem Bemühen ist seine Religiosität nur voluntativ: Er will mit allen Kräften dem Vorbilde Christi und seines geistlichen Vaters Zosima folgen, aber der Glaube hat ähnlich wie bei Šatov noch nicht sein inneres Wesen ergriffen; als ihm Ivan seine verfänglichen Ideen vorträgt, hört er aufmerksam, gelegentlich mit Zustimmung zu und lässt sich sogar zu unchristlichen Rachegedanken hinreißen, als er Ivan ausdrücklich zustimmt, man müsse jenen Gutsherrn „erschießen“, der ein Kind aus nichtigem Anlass von Hunden zu Tode hetzen und vor den Augen seiner Mutter zerreißen ließ. Ebenso auffallend wie sympathisch ist, dass der noch unfertige junge Alëša nirgends als Prediger oder Propagator seiner religiösen Prinzipien auftritt. Die Kürze der erzählten Zeit verhindert eine Wandlung und Entwicklung seines Charakters. Die eigentliche religiöse Komponente im Roman repräsentieren die einigermaßen langatmigen, aber doch sehr wesentlichen Ausführungen des Starec Zosima,6 die als Widerlegung des verführerischen Rationalismus Ivans gedacht waren, mit denen aber Dostoevskij selber nicht voll zufrieden war. Zosima, vom nahenden Tode gezeichnet, ist in dem Kloster, das alles andere als eine religiöse Idylle darstellt, ein Außenseiter. Sein Tod enttäuscht sogar die Hoffnungen seiner wenigen Anhänger: Anstelle des erwarteten Wunders entströmt seinem Leichnam sehr bald Verwesungsgeruch; die Klosterwirklichkeit ist von Kleingläubigkeit, Aberglauben, Ignoranz, Intrigen, persönlichen Rivalitäten derart erfüllt, dass man ihre Schilderung fast als Satire liest. Zosima selbst ist eine aus schmerzlicher Lebenserfahrung zur christlichen Lehre vom Leiden und Dulden gereifte Persönlichkeit, die zwar das Prinzip der Heilung und Rettung im Glauben vertritt, aber auch keine konkreten Schritte einer solchen Rettung zu empfehlen weiß. Da er aber selbst erfahren hat, dass seine Einsichten nicht aus erlernbarem abstrakten Wissen, sondern nur aus dem wirklichen Leben gewonnen werden konnten, schickt er Alëša fort aus der Pseudo-Idylle dieses Klosters hinaus ins wirkliche Leben. Das begegnet ihm in physischer sexueller Verführung, repräsentiert von der stolzen Katerina Ivanovna und in der sinnlichen Betörung durch Grušenka sowie in der naiven, aber zugleich pragmatisch eine Heirat planenden Liza Chochlakova, mit der sich Alëša sogar verlobt! Die Frauengestalten des Romans sind ebenfalls überzeugend ausgeführt: Die etwa 22-jährige Katerina Ivanovna Verchovceva, Dmitrij Karamazovs Verlobte, ist 228
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eine äußerlich schöne faszinierende Frau mit großen schwarzen Augen und aufreizenden Lippen. Sie trägt stets attraktive schwarze Kleidung und ist eine sich mit einer gewissen äußerlichen Geheimnishaftigkeit umgebende Erscheinung. Sie handelt kontrolliert, rational, tritt tugendhaft auf, tut Gutes, kümmert sich um Andere, verzeiht z. B. ebenso einsichtig wie großmütig Dmitrij, als er sie um 3000 Rubel betrogen hatte, jene Summe, die zum Indiz des ihm angelasteten Vatermordes wurde, die der wirkliche Mörder Smerdjakov nach der Tat entwendet hatte. Katerinas Verhalten ist in Krisensituationen aber auch überspannt. Es erscheint als eine hysterische Opferbereitschaft, zu der auch gelegentliches cholerisches Aufbrausen passt. Nachdem sie erkennen musste, dass Dmitrij Grušenka verfallen ist, wendet sie sich dem Bruder Ivan zu, der sie schon seit langem von ferne verehrt hat. Das lässt Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit und Liebesfähigkeit aufkommen. Es scheint, dass der jeweilige Geliebte eher das Objekt ihrer Aktionen und Ziele ist, denn sie verfügt auch über eine ausgeprägte Eigenliebe und über eben nicht geringen persönlichen Stolz. Ihre gebrochene Emotionalität kann auch auf ihre Erziehung in einem westlichen Internat zurückgeführt werden. Dadurch wurde sie vom russischen Boden, von der počva, gelöst und in ihrem Charakter der russischen Unmittelbarkeit und herzlichen Hingabebereitschaft entfremdet. Kompositorisch erfüllt sie im Roman die Rolle einer weiblichen Hauptfigur, sie ist die Gegenspielerin Grušenkas. Agrafena Aleksandrovna Svetlova, genannt Grušenka, tritt – nachdem schon verschiedene handelnde Figuren von ihr gesprochen und damit Spannung erregt haben – erst im zehnten Kapitel des dritten Bandes im Hause Katerinas und in Gegenwart Alëšas selbst auf, wobei es sogleich auch zu einer skandalösen Szene zwischen den beiden eifersüchtigen Frauen kommt. Sie wird durch Alëšas Wahrnehmung geschildert, als eine nicht ungewöhnliche, aber geschmeidige, sehr weibliche, aber auch etwas gezierte „typisch russische Schönheit“ voller verlockender sexueller Attraktion für den männlichen Blick. Sie ist sehr stark emotional bestimmt, besonders in ihrer Eifersucht auf die Rivalin, die sich zudem noch auf einem höheren gesellschaftlichen und moralischen Niveau befindet, da Grušenka ja den Verlobten Katerinas, Dmitrij, beansprucht. Zunächst war der ältere Kaufmann Samsonov ihr Beschützer und ihre Bezugsperson, später hatte ihre erotisch anziehende triebhafte Natur den polnischen Beamten und Tierarzt Musjalović verführt, der allerdings bereit war, sie im Spiel mit dem spontan entflammten Dmitrij Karamazov einzusetzen. Grušenka, von Henri Troyat nicht mit vollem Recht als „höllisches Weib“ bezeichnet,7 hatte sich zunächst – bis sie Dmitrij kennenlernte – in widerstands229
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loser Anpassung entwickelt. In der Beziehung zu Dmitrij entfaltet sich in ihr jedoch ein impulsiver Charakter, der in seinen spontanen triebhaften Ausbrüchen und sogleich folgenden moralischen Selbstvorwürfen und in seiner Demutsbereitschaft der unausgeglichenen Natur Dmitrijs ganz entspricht. Durch schicksalshafte Liebe mit Dmitrij verbunden klärt sich ihr aufbrausendes Temperament zu Einfachheit des Verhaltens und Unmittelbarkeit, zu wirklicher Liebes- und Leidensfähigkeit. Sie will bei dem geliebten Mann bleiben und sein Schicksal teilen und zeigt in dieser unbedingten Entschiedenheit jene Kraft, die Katerina fehlt. Erst am Schluss des Romans wird Grušenkas Familienname schließlich genannt, Svetlova, was soviel wie „die Leuchtende“ bedeutet. Liebe und Sex, die Faszination durch attraktive Frauen, ist sicherlich mehr oder weniger das Schicksal aller Karamazovs, auch das Alëšas, obwohl die gefährlichste intellektuelle Verführung auf ihn von seinem zweiten Bruder Ivan ausgeht. Ivan ist die komplizierteste Figur im Roman, denn er versucht, die bisher aufgeworfenen Probleme rational zu analysieren und zu bewältigen. Die praktischen Konsequenzen seines Denkens führen zum Vatermord durch Smerdjakov, zu seinen Halluzinationen vom Besuch des Teufels, der sich in Gestalt seines Doppelgängers als kleiner ärmlicher Spießbürger bei ihm einführt, und zu seinem physischen Zusammenbruch. Ivan ist ein Verwandter von Raskol’nikov, Stavrogin und Versilov, aber konsequenter und tiefergehend. Ihn interessiert weniger die theologisch abstrakte Frage nach der Existenz Gottes als vielmehr die Frage „Kann ich diese Welt als eine Schöpfung Gottes so, wie sie ist, annehmen oder nicht?“ und seine Antwort lautet: „Was muss das für ein unmenschlicher Gott sein, der in der von ihm geschaffenen Welt zulässt, dass unverschuldetes Leiden, dass z. B. Qual, Schmerzen und der Tod unschuldiger Kinder geschehen können und man dem Leben in einer solchen Weltordnung auch noch dankbar zustimmen soll!“ Ivan ist der Ansicht, dass die göttliche Harmonie der Welt mit dem Leiden eines einzigen Kindes zu teuer erkauft sei: „Ich lehne sie ab, diese Harmonie. Sie ist keiner einzigen Träne eines einzigen gepeinigten Kindes wert, das sich mit seiner kleinen Faust gegen die Stirn schlägt, und mit seinen ungesühnten Tränlein zu seinem ‚liebsten Gott’ betet.“8 Walter Jens kommentiert diese Stelle als eine der grandiosesten, von Schmerz und Mitleid gebeizten Passagen des Dostoevskij’schen Werkes, eine Stelle, die André Malraux auf die Frage, ob Dostoevskij aufgrund seiner religiösen und politischen Denkweise ein Reaktionär sei, zu der Aussage veranlasste: „Ein Mensch, der Dostoevskijs Tiefe erreicht hat, wie sie sich in Ivan Karamazovs Rebellion gegen das Unglück ausdrückt, 230
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kann kein Reaktionär sein.“9 „Im Augenblick, da ein unschuldiges Kind durch grausame Menschen gemartert wird, gebe ich meine Eintrittskarte ins Paradies zurück“ (vgl. Buch V, Kap. 4): übrigens auch dies ein Gedanke, den Dostoevskij in Schillers Gedicht Resignation hat lesen können, wo es heißt: Empfange meinen Vollmachtsbrief zum Glücke, Ich bring’ ihn ungebrochen dir zurücke, Ich seh’ nichts von Glückseligkeit!10
Durch Liebe und Demut unverschuldetes Leiden zu sanktionieren, zufällige tödliche Unfälle oder unheilbare Krankheiten, an denen Kinder vor dem Eintritt ins Leben quälend dahinsiechen – von den Verbrechen Erwachsener an Kindern, von dem paradoxen Irrsinn des Todes überhaupt ganz abgesehen – hinzunehmen und als höhere gottgewollte Fügung zu rechtfertigen, ist für Ivan eine unerträgliche Zumutung. Diese aus der Lebenserfahrung rational als Schlechteste aller denkbaren Welten erkannte, weil sie von Leid und Schmerz erfüllt ist, anzunehmen, und Gott auch noch dafür dankbar zu sein und dieses gefährdete und von Leiden gemarterte Leben zu lieben, ist ein derart zynisches Ansinnen, dass man die „Eintrittskarte in dieses qualvolle Welttheater“ dem Schöpfer eben nur empört und verbittert zurückgeben kann. Das kann doch nur ein menschenverachtender Gott sein, der den Menschen angeblich zu seinem Bilde schuf, um ihn in diese schlechte Welt zu entlassen, ihm die Last der freien Entscheidung darin zumutete und ihn am Ende des Lebens auch noch für mögliche falsche, aber entschuldbare Entscheidungen und Handlungen zu bestrafen droht? Ein solcher Gott wäre schwerlich allmächtig, sondern eine Projektion ihre Macht sanktionierender Eliten. Dieser anklagenden Idee ist Ivans „Poem vom Großinquisitor“ gewidmet, das nach einhelligem Zeugnis aller Interpreten wie auch Dostoevskijs selbst den ideellen Höhepunkt des Romans bezeichnet. Zunächst sei hier nur auf eine knappe Inhaltsangabe und den Kern seiner Aussage im Kontext des Romans verwiesen: Den wiedergekehrten Christus zur Zeit der spanischen Inquisition hat das Volk erkannt und folgt ihm nach. Vor der Kathedrale von Sevilla erweckt Christus ein totes Kind zum Leben. Da tritt ihm der Großinquisitor entgegen und lässt ihn verhaften. Im Kerker wirft der neunzigjährige Greis Christus vor, er sei nur gekommen, um seine Ordnung, die um den Preis ihrer Freiheit den gehorsamen Menschen soziale Sicherheit und Wohlstand garantiere, zu stören. Deshalb müsse er auf dem Scheiter231
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haufen enden, und er wisse genau, dass das Volk, das ihn zuvor bejubelt, von ihm abfallen und noch Kohlen zum Feuer tragen werde. Christus schweigt auf diese Vorwürfe und küsst als Antwort den Großinquisitor auf die blutleeren Lippen. Der Großinquisitor lässt mit den Worten „Komme nie wieder!“ Christus frei, bleibt aber bei seiner Überzeugung. Was will Ivan mit dieser „Legende“ zeigen? In den Gefährdungen der von ihm abgelehnten „schlechtesten aller Welten“, in der Gott – wenn es ihn gibt – den Menschen ohne Orientierung allein lässt, bildet ein rational organisierter mächtiger Staat ein Optimum an Existenzsicherung. Die Freiheit, aus sich selbst eine Sinngebung des Lebens zu gewinnen, überfordert, wie die Realität beweist, die Menschen. Der Satz „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ ist dahingehend zu korrigieren, dass der Mensch vor allem zuerst einmal Brot braucht. Und was ihn dann darüber hinaus noch bewegen könnte an geistigen Bedürfnissen, ist so zu regeln und zu kontrollieren, dass damit die Bereitstellung des Brotes, der materiellen Sicherheit, nicht gestört wird. Mögliche geistige Bedürfnisse überwacht und kontrolliert also die Autorität des Großinquisitors, oder anders ausgedrückt: Die materielle Basis, das ökonomische Sein der Menschen bestimmt ihr Denken, ihr Bewusstsein und – über Feuerbach und Marx hinausgehend – das „richtige“ Denken, das „richtige“ Bewusstsein entscheidet die Herrschaftsautorität, sei es der Klerus oder die Partei. Katholizismus und Sozialismus bilden für Dostoevskij keine Gegensätze. Die Utopie des Großinquisitors einer sozial gesicherten glücklichen Menschheit ohne die Last der Freiheit und Eigenverantwortung ist ein totalitärer Staat. Er ist für Ivan das rational durchdachte kleinere Übel gegenüber einem Leben in völliger Freiheit, in dem die Menschen, wenn es keinen Gott gibt, ihre Freiheit nicht einschränken und je nach verfügbarer Möglichkeit und Macht gegeneinander wenden würden. Der totale vernunftgegründete Staat wäre also das kleinere, aber notwendige Übel, um das Leiden und die Qualen der Menschen zu minimieren. Wie sollte denn auch anders als mit Gewalt eine moralische Ordnung durchgesetzt werden, wenn der Mensch frei ist, zwischen gut und böse zu wählen und dabei oft das letztere tut. Dass Ivan mit dieser seiner Erkenntnis nicht zufrieden ist, aber logisch eben keine bessere zu gewinnen vermag, belegt sein Plan, sich mit dreißig Jahren das Leben zu nehmen. Die Gegenposition vertritt der Starec Zosima. Er versucht gar nicht, die Existenz Gottes als transzendente Autorität und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, „beweisen lässt sich hier nichts; dagegen kann man sich davon wohl überzeugen“ 232
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lautet eine seiner Aussagen. Die Lebensbeschreibung des Starec Zosima wird im sechsten Buch des Romans unmittelbar nach den Ausführungen Ivans und seiner Dichtung vom Großinquisitor dargeboten und zwar in Form von Aufzeichnungen Alëšas, die dieser nach einem Gespräch des Starcen niedergeschrieben hat, das dieser kurz vor seinem Tode mit seinen nächsten Vertrauten geführt hatte. Insoweit stehen sich Ivan und Alëša als Künder der zentralen oppositionellen Ideen des Romans hier auch kompositorisch unmittelbar gegenüber. Als junger Kadett hatte sich Zosima unglücklich verliebt und seinen Rivalen zum Duell gefordert. Am Vorabend des Duells hatte er grundlos seinen Diener blutig geschlagen, am nächsten Morgen plagt ihn sein Gewissen: „So weit kann es kommen, der Mensch schlägt den Menschen! Welch ein Verbrechen!“ Dabei erinnert er sich der Worte seines verstorbenen Bruders Markel’: „Jeder ist vor jedem anderen für alles schuldig, nur die Menschen wissen es nicht. Wenn sie es wüssten, hätten wir das Paradies!“ Das bezeichnet seine Umkehr. Er bittet seinen Diener um Verzeihung, wartet beim Duell den Schuss des Gegners ab, verzichtet auf seinen und erklärt zum Vorwurf der Feigheit, man möge doch die Gabe Gottes, die sündenlose Natur sich anschauen, um zu begreifen, wie verantwortungslos die Menschen handeln und mit dem Leben umgehen. Es geht um die Einsicht einer Grundverantwortung aller gegenüber allem. Die Einsicht, dass die Beziehung zum Nächsten grundlegender ist als zu sich selbst, wozu die Handlungsweise Zosimas gegenüber seinem Diener in krassem Widerspruch gestanden hatte. Das ist die Urerfahrung der christlichen Ethik, die nicht aus dem Verstand und auch nicht aus der christlichen Lehre gekommen ist, sondern aus einer Erschütterung, der die Unrechtshandlung vorangegangen war. Diese hätte zwar der Rechtsstaat des Großinquisitors verhindern können, aber der unfreie Bürger dieses Staates hätte dann auch nicht die Erfahrung seines inneren moralischen Wesens machen können. Die tragische Erkenntnis Zosimas ist: Ohne Schuld, ohne eine Übertretung (prestuplenie = Übertretung und Verbrechen) stellt sich kein Gewissen her, keine Reue und auch keine Sühne ein. Im perfekten Staat des Großinquisitors, wo Freiheit und Verantwortung den Menschen abgenommen und Böses zu tun verboten wäre, würde das Gewissen der Menschen verkümmern, ja verschwinden, weil es ja nicht mehr gebraucht würde. Dann würde in letzter Konsequenz der Mensch auf seine physischen, materiellen und physiologischen Bedürfnisse reduziert und ohne Gewissen, ohne Moral nach nur pragmatischen Erwägungen seine Probleme regeln, etwa das Klonen oder den ungehinderten Umgang mit embryonalen Stammzellen u. ä. 233
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Dass sich in der Schulderfahrung die Kraft des Gewissens und damit der moralischen Verantwortung einstellt, ist die Lebenserfahrung Zosimas, die ihn zugleich gelehrt hat, dass Gewissen und moralisches Handeln nur dann Verbindlichkeit gewinnen, wenn sie transzendent legitimiert sind, oder anders ausgedrückt: Moral als absolut gültig kommt von Gott; Moralsysteme ohne transzendente Rückbindung sind relativistisch, veränderbar, je nach den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und verkommen damit zu pragmatisch-politischen Handlungsstrategien. Natürlich bemüht sich der Starec, seine selbst gemachte Erfahrung weiterzugeben, aber er ist argumentativ gegenüber Ivan in einer viel schwächeren Position: Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt – dieser Satz Ivans lässt sich logisch und empirisch beweisen, logisch mit der unumschränkten menschlichen Freiheit und empirisch mit der Existenz des Verbrechens – aktuell etwa rassistischen Gewalttaten oder Fremdenhass oder Kinderschändung u. ä. Würde aber Zosima seine Erfahrung zum allgemeingültigen Gesetz erheben, gelangte er auch zur totalen Herrschaft des Großinquisitors. Die Existenz Gottes und die daraus hervorgehende absolut bindende Geltung einer Ethik ist logisch nicht verifizierbar: „Beweisen aber lässt sich nichts; dagegen kann man sich wohl überzeugen“. Es kommt also auf die Überzeugungskraft des Starec an, und die ist trotz seiner Autorität bei dem sterbenden Zosima schwach. Nicht einmal seine Klosterbrüder wie z. B. der teufelsgläubige Ferapont nehmen seine Empfehlungen an. Ivan erleidet einen Zusammenbruch, weil er die partielle Ohnmacht der abstrakten Vernunft erlebt, die Wahrheit ohne überprüfbare objektive Beweisführung durchzusetzen. Aber das heißt noch lange nicht, dass er damit prinzipielle Zweifel in das rationale Weltmodell setzen würde. Seine gravierenden Einwände gegenüber der leidenden Welt gelten nach wie vor. In dem Duell zwischen „beweisen“ und „überzeugen“ ist Folgendes zu bedenken: Schon der Untergrundmensch wusste, dass die Richtigkeit der Formel 2 x 2 = 4 zwar unwiderlegbar ist, aber den Menschen nicht glücklich zu machen vermag. Sein emotionales, seelisches Wesen wird von der Logik nicht erreicht. Bei aller Richtigkeit seiner Argumente ist Ivans Argumentation, wie Robert Louis Jackson gezeigt hat,11 kalkuliert, aufgesetzt, zur Schau gestellte Trauer. Er verabsolutiert die rationale Seite im Menschen, benutzt aber gleichwohl eine wohldosierte emotionale Vortragsweise, weil er weiß, dass er nur so beeindrucken kann. Und mehr noch: Ihn bewegen wie Kirillov moralische Skrupel, die es nach seiner Lehre eigentlich gar nicht geben dürfte. 234
12. Die Brüder Karamazov: Recht und Gerechtigkeit, Religion und Gesellschaft
Alëša hingegen, der nach dem tragischen Tod des Knaben Iljuša an dessen Lieblingsplatz, einem großen Stein, zu den Kameraden des toten Jungen spricht, redet spontan und möchte trösten und die Trauernden ermutigen. (Zum Verständnis: Der todkranke Iljuša litt unter einer Beleidigung seines armen Vaters und seiner Familie durch seine rücksichtslosen Kameraden, die diese aber schließlich nach Alëšas Zureden wieder zurückgenommen haben.) Er fühlt sich tief in seiner Seele erschüttert und wendet sich unverstellt und unmittelbar an seine kindlichen Zuhörer. Er erinnert sie an den Toten und bittet sie, sein Andenken zu bewahren. Unbewusst beginnt er seine Rede an die Kinder ähnlich, wie sich Christus beim letzten Abendmahl an seine Jünger gewendet hatte: „Wo ich hingehe, da könnt Ihr nicht hinkommen, sage ich jetzt auch Euch“, sagt Christus (Joh 13,33), „meine Herren, wir werden uns bald trennen“, sagt Alëša. Aber es ist eine Trennung die, wie jene, die Christus und seinen Jüngern bevorsteht, in und durch die bewahrende Erinnerung überwunden werden wird. Die Trennung wird überwunden in der tröstlichen und freudigen Annahme jener Harmonie der Welt, die Ivan nicht die Eintrittskarte dazu wert war. Alëša sagt: Aber wie schlecht wir auch werden mögen, was Gott verhüten wolle, so wird doch, sobald wir daran denken, wie wir Iljuša zu Grabe trugen, wie wir ihn in den letzten Tagen [vor seinem Tode] liebten, und wie wir jetzt so einträchtig bei diesem Steine sprechen, auch der Härteste unter uns und der Spöttischste, falls wir solche Menschen werden sollten, dennoch nicht wagen, in seinem Inneren darüber zu spotten, wie gut er und brav in diesem jetzigen Augenblick war! Nicht genug damit, vielleicht hält ihn dann gerade diese Erinnerung von etwas sehr Bösem ab, und er wird sich besinnen und sagen, ja, damals war ich gut und kühn und ehrenhaft!12
Alëšas Rede beschwört die Brüderlichkeit und Harmonie. Er überzeugt durch seine ehrliche Unmittelbarkeit. Die Knaben werden von ihm in Begeisterung versetzt und stimmen ihm freudig zu. „Nun wollen wir mit dem Reden Schluss machen und zum Totenmahl für Iljuša gehen“, endet Alëša seine Rede. Aber Kol’ja Krasotkin und die anderen Knaben werden „von einer Welle Schiller’scher Begeisterung“ ergriffen: Nun kommt also, gehen wir jetzt Hand in Hand! Und ewig so, das ganze Leben Hand in Hand! Hurra, Karamazov, rief Kol’ja noch einmal begeistert, und noch einmal stimmten alle Knaben in seinen Aufruf ein.13
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12. Die Brüder Karamazov: Recht und Gerechtigkeit, Religion und Gesellschaft
Das sind die letzten Worte des Romans. Kol’ja Krasotkin ist übrigens jener altkluge Knabe, der zuvor mit Alëša über Belinskij und die freie Liebe als moderne Überwindung veralteter ehelicher Moral gestritten hatte! Robert Louis Jackson nennt diesen Schluss apotheotisch und glaubt ihn inspiriert von Schillers Schlusschor „An die Freude“ in Ludwig van Beethovens neunter Symphonie. Auf jeden Fall trägt diese erhebende Schlußszene eine Überzeugungskraft, die aus dem Erlebnis der freundschaftlichen Verbundenheit und spirituellen Liebe, von der Zosima gesprochen hatte, hervorgeht. Es ist bemerkenswert, dass diese überzeugende Kraft von dem jungen Zögling Zosimas, Alëša Karamazov, dem Angehörigen der noch jüngeren Generation, vermittelt worden ist. Die Bejahung der Harmonie des Lebens, in der der Tod in der bewahrenden Erinnerung der Lebenden gebändigt, überwunden werden kann, die Liebe zum Leben triumphiert am Ende nun doch über die rationale Beweisführung von der „schlechtesten aller Welten“. Zosima hätte sich gefreut, hätte er erfahren, dass man sich doch überzeugen lassen kann von dem, was sich nicht beweisen lässt, der Roman endet, wenige Wochen vor Dostoevskijs Tod abgeschlossen, mit einem optimistischen Ausblick.
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13. Das „Poem vom Großinquisitor“: Zwischen Freiheit, Verantwortung und sozialer Sicherheit Die Publikationsgeschichte und Forschungsliteratur des Poems von Ivan Karamazov über den „Großinquisitor“ belegen, dass dieses fünfte Kapitel im fünften Buch des zweiten Teils des Romans Die Brüder Karamazov sich als eigenständiges Werk verselbständigt hat.1 Dies gilt besonders für die deutschsprachige Rezeption. In deutscher Sprache sind allein im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr als sechzig Einzelausgaben dieses Kapitels erschienen, was Anlass und Grund gibt, ihm im Anschluss an die Besprechung des ganzen Romans noch eine eigene Interpretation zu widmen. Die Annahme, dass das „Poem vom Großinquisitor“ auch für Dostoevskij selbst eine autonome Qualität besitzt, stützen seine Äußerungen, die besagen, dieser Text habe ihn sein Leben lang begleitet, und er habe ihn in den Roman Die Brüder Karamazov eingeschoben, um ihn nicht ins Grab mitzunehmen. Von Dostoevskij selbst wiederholt als „Kulmination“ seines Werkes bezeichnet, erhält das „Poem“ so den Charakter eines letzten Wortes. Mit der öffentlichen Lesung allein dieses Textes am 30. Dezember 1879 vor Petersburger Studenten hat Dostoevskij ein weiteres Mal dessen Selbständigkeit herausgestellt. So ist das „Poem“ auch als Einzelwerk von der Leserschaft rezipiert und von der Kritik und Literaturwissenschaft untersucht worden. Seine große Wirkung mag ein Beispiel belegen: Albert Einstein hat 1955 ein Exemplar einer Einzelausgabe des „Großinquisitors“ mit folgender Widmung versehen: Dies Lieblings-Stück sendet Ihnen mit herzlichen Wünschen Ihr A. Einstein. Neujahr 55. Die Kunde wäre niederschmetternd, wenn sie nicht durch den Meister in die Sphäre des Erhabenen erhoben wäre.
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13. Das „Poem vom Großinquisitor“: Zwischen Freiheit, Verantwortung und sozialer Sicherheit
Abb. 64: Widmungsexemplar des „Großinquisitors“ von Albert Einstein, Deutsche Kinemathek – Marlene Dietrich Collection Berlin Durch Isolation der Erzählung vom „Großinquisitor“ aus dem Romanganzen ergab sich die Frage, wie ist dieser Text als Gattung zu qualifizieren? Er ist dort von je einem einleitenden und einem abschließenden Dialog der Brüder Alëša und Ivan Karamazov eingefasst und bildet, von einigen Zwischenfragen Alëšas unterbrochen, einen fortlaufenden Erzählbericht Ivans. Ivan selbst bezeichnet seinen Text als „Poem“, gelegentlich auch abschätzig untertreibend als „Poemchen“ (poemka), womit er auf seine literarische Fiktionalität verweisen will. Als literarischer Text beansprucht er eine eigene semantische Qualität, die eine in der Deutung, in der Interpretation zu ermittelnde exemplarische symbolische Aussage, einen Ideeninhalt oder –gehalt enthält. Im Russischen ist poema eine erzählende oder balladeske Versdichtung, aber seit Gogol’ seinen satirischen Roman Die toten Seelen (Mërtvye duši, 1842) im Untertitel „Poem“ genannt hatte, gewann diese Gattungsbezeichnung für Prosatexte eine spezifische bedeutungssteigernde Qualität. Als Einzeltext wird das Kapitel vom „Großinquisitor“ meist als „Legende“ bezeichnet, was gattungspoetisch falsch ist. Die Legende ist im Mittelalter eine erbauliche volkstümliche Vers- oder Prosaerzählung um den irdischen Lebenslauf eines oder einer Heiligen, der meist mit einem Wunder und dem Eingreifen himmlischer Mächte endet. Von Luther und der Reformation als „Lügende“ abgelehnt und in der Aufklärung verspottet, gewann sie in romantischer Stilisierung gelegent238
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lich neue Gestaltung, desgleichen im Symbolismus. Nichts dergleichen findet sich im „Großinquisitor“. Als Gattung wäre der Text eher als Parabel oder Gleichnis zu klassifizieren. Dostoevskij hat zum Gegenstand seiner Parabel, in der er vordergründig das Prinzip des römischen Katholizismus darstellen will, nicht den ranghöchsten Vertreter der katholischen Kirche, den Papst, sondern den Großinquisitor gewählt, weil er in ihm das am stärksten symbolisiert findet, was seiner Meinung nach das Wesen der katholischen Kirche ausmacht, die Vereinigung der Menschheit durch institutionelle und geistliche Gewalt. Dostoevskij wählt deshalb die spanische Inquisition im 16. Jahrhundert zum Gegenstand, weil hier die katholische Herrschaft zur höchsten und sichtbarsten Machtfülle aufgestiegen war.
Abb. 65: Der Inquisitor Tomás de Torquemada, Holzstich aus M. V. de Fereal, „Mystères de l’Inquisiton“, 1846 Der erste spanische Inquisitor, der Dominikanerkardinal Tomás de Torquemada (1420–1498) war zu einer Symbolfigur der Inquisition schlechthin geworden. Sevilla wählte Dostoevskij wohl deswegen als Schauplatz, weil zur Zeit Philipps des II. der Kardinal-Erzbischof von Sevilla Fernando Valdes Großinquisitor war, ein Mensch von hartem, unerbittlichem Wesen und einem hohen Grad an Fanatismus. Die Verfolgung der Protestanten in Spanien durch die Inquisition war in den Jah239
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ren 1559 bis 1570 besonders heftig und hat die protestantische Bewegung praktisch ausgelöscht. Aber stärksten Eindruck und entscheidende Anregung hat auf Dostoevskij zweifelsohne die Gestalt des Großinquisitors in Schillers Drama Don Carlos (5. Akt, 9. bis 11. Auftritt) ausgeübt. Der Großinquisitor wird von Schiller wie folgt charakterisiert: Der Kardinal Großinquisitor, ein Greis von neunzig Jahren […], auf einen Stab gestützt und von zwei Dominikanern geführt. Wie er durch ihre Reihen geht, werfen sich alle Granden vor ihm nieder und berühren den Saum seines Kleides. Er erteilt ihnen den Segen […].2
In dem folgenden Zwiegespräch tritt der Großinquisitor mit unerhörtem Machtbewusstsein und Souveränität dem König entgegen. Der König liefert ihm seinen einzigen Sohn Don Carlos aus und fragt verzweifelt: „Wem hab’ ich gesammelt?“ Der Großinquisitor antwortet: „Der Verwesung lieber als der Freiheit.“ Nicht nur das Äußere der Gestalt des neunzigjährigen blutleeren Großinquisitors stammt aus Schillers Drama, sondern auch die Idee des nicht zu versöhnenden Gegensatzes von katholischer Machtausübung und individueller Gewissensfreiheit. Aber der Gehalt der Parabel Dostoevskijs geht über diesen religions- und kirchenkritischen Ansatz hinaus und weitet sich zur Sinnfrage menschlicher Existenz und Lebensgestaltung überhaupt. Die Freiheit, selbständig eine Sinngebung seines Lebens zu setzen, überfordere den schwachen Menschen, der schon mit der Sorge um sein tägliches Brot voll gefordert sei, lautet das Dogma des Großinquisitors. Die Gewährleistung der materiellen Sicherheit garantiert die weltliche Herrschaft der Kirche, die dafür Gehorsam und Unterordnung verlangt, weil individuelle Abweichungen die Staats- und Wirtschaftsordnung stören würden. Deshalb überwacht und kontrolliert die Autorität des Großinquisitors insbesondere mögliche geistige Bedürfnisse der Menschen und verfolgt und liquidiert Abweichler und Störer der bestehenden Ordnung wie etwa den wiedergekehrten Christus in Sevilla. Die Utopie des Großinquisitors einer rational entworfenen Gesellschaft sozial gesicherter glücklicher Menschen ohne die Last der Freiheit und Eigenverantwortung ist ein totalitärer Staat. Christi Absicht, die Menschen zu seiner Nachfolge zu bewegen, ist nach Meinung des Großinquisitors gescheitert, weil Christus, statt die Menschen durch Demonstration seiner gött240
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lichen Autorität, nämlich durch Wunder und Mysterien zu überzeugen, ihnen die Freiheit aufgebürdet habe, sich für oder gegen ihn zu entscheiden. Dazu seien aber nur wenige starke Auserwählte in der Lage. Die meisten jedoch, die Armen und Schwachen, würden von der Last einer solchen Freiheit erdrückt. Dank der göttlichen Autorität, die der Großinquisitor im Namen Christi usurpiert hat und ausübt, könne er durch vorgetäuschte Wunder und Geheimnisse den Menschen einen Lebensraum bieten, der ihrer schwachen und begrenzten Natur gemäß sei. Er nähme die Sünde auf sich, für das Glück der armen und schwachen Menschen das Unglück seines Betrugs an Christus zu verantworten. Christus habe die armen schwachen Menschen hilflos in ihrer Freiheit allein gelassen. Um ihrer Freiheit willen habe er weder ihr leibliches noch ihr geistliches Grundbedürfnis befriedigt, weder ihr Verlangen nach materieller Sicherheit, dem täglichen Brot, noch ihr Verlangen zu wissen, wozu sie leben, nach dem Sinn des Lebens. Christus habe die menschliche Natur überschätzt und die Menschen unglücklich gemacht. Deshalb habe er, der Großinquisitor, es aus Mitleid mit den Menschen übernommen, anstelle von Christus göttliche Autorität zu repräsentieren und sich den Anschein zu geben, er verfüge über Wunderkraft und mysteriöse Machtmittel. Als sozusagen „Allmächtiger“ sei er in der Lage, den Menschen die Last der Glaubens- und Gewissensfreiheit abzunehmen und aus unglücklichen Individuen eine glückliche, gehorsame Herde zu machen. Aus Mitleid mit den Menschen befriedige er ihr Sekuritätsbedürfnis. Er habe die Menschen zufriedengestellt und belogen. Der Großinquisitor beendet seine Rechtfertigungsrede an den wiedergekehrten Christus mit geradezu Schiller’schem Pathos: In Erfüllung wird gehen, was ich dir sage, und kommen wird unser Reich. Und ich sage dir nochmals: Morgen wirst Du diese gehorsame Herde sehen, die auf meinen ersten Wink zu deinem Scheiterhaufen stürzen wird, um das Feuer zu schüren. Denn auf den Scheiterhaufen bringe ich dich dafür, dass du gekommen bist, um uns zu stören. Und wahrlich, wenn es einem gegeben ist, der vor allen anderen unseren Scheiterhaufen verdient, so bist du es! Morgen werde ich dich verbrennen. Dixi!3
Die Selbstrechtfertigung des Großinquisitors ist aber vordergründig und zweifelhaft: Sie impliziert ja eine Rechtfertigung von Lüge und Betrug und reduziert die menschliche Natur auf Lebenstrieb und Lebensangst und die Liebe auf Mitleid, sie verwen241
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det also einen reduzierten Begriff von Freiheit und Gewissen. Freiheit ist im Sinne des Großinquisitors nicht Entscheidungsfreiheit gemäß dem augustinischen Liebesgebot („liebe und tu’ was du willst“), sondern ein schädliches Sich-entscheidenmüssen zwischen „Brot“, der materiellen Sicherheit, und der Sinnsuche des Lebens. Infolgedessen ist Gewissen im Sinne des Großinquisitors Angst um die ungewisse, ungesicherte, von anderen bedrohte Existenz, Angst vor dem Tode, Angst vor dem Nichts nach dem Tode. So gesehen ist das Gewissen für die Menschen eine unerträgliche Last und nicht ein natürlicher Wegweiser moralischer Existenzorientierung. Am Anfang seiner Parabel weist Ivan aber auf die Anwesenheit Christi im Gewissen der Menschen ausdrücklich hin: „Er [Christus] erschien leise, unmerklich, aber seltsam – alle erkennen ihn. Das könnte eine der besten Stellen meines Poems sein, d. h. warum nämlich alle ihn erkennen.“ Sie erkennen ihn deshalb, weil er das innere Ideal als die vollendete schöne Erscheinung des Gottmenschen in ihrem Gewissen darstellt. Der Großinquisitor hingegen, der sich die irdische Herrschaft angemaßt hat, täuscht den armen schwachen Menschen Gewissheit, Sicherheit und Geborgenheit vor. Er maßt sich an zu wissen, wozu man lebt und wie man zu leben hat. Die Behauptung des Großinquisitors, Christus habe mit seinem Verzicht auf Wunder, Geheimnis und Autorität die menschliche Natur überfordert, erweist sich als unwahr, denn Christus repräsentiert im Sinne Dostoevskijs das humane Potential, das sich im Gewissen jedes Menschen findet. Der Großinquisitor selbst verleugnet die Anwesenheit Christi in seinem eigenen Gewissen, er verleugnet die Nächstenliebe, die der schweigende Christus ihm mit seinem Kuss entgegenbringt. In dem Wunsch des Großinquisitors, die Menschen, die er im Grunde ja verachtet, glücklich zu machen, findet sich, wenn auch durch Betrug und Verachtung entfremdet, mitleidende Liebe zu den Menschen. Auf die verdrängte Liebesfähigkeit des Großinquisitors verweist Ivan ausdrücklich am Schluss der Parabel: „Der Kuss brennt in seinem Herzen, doch der Greis bleibt bei seiner alten Idee.“ (Buch V, Kap. 5). Rätselhaft bleibt, dass der Großinquisitor immer wieder die innere Unsicherheit seiner Position erkennen lässt, indem er mehrmals ausdrücklich erklärt, seine irdische Macht, seine absolute Autorität, sei auf Lüge und Betrug begründet. Ivan distanziert sich sogar im Gespräch mit Alëša von dem „verfluchten Greis“, der „so beharrlich und eigensinnig die Menschen liebt.“ Ivan will mit dem Großinquisitor nichts zu tun haben, er will sich von dessen Autorität nicht einschränken lassen. Er ist davon überzeugt, dass, weil es Gott nicht gibt, alles erlaubt sei. Das ist natürlich eine Einschränkung der geistigen und sittlichen Potenzen des autonomen aufge242
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klärten Menschen, die Dostoevskij selbst hier nicht sieht oder nicht zulassen will. Denn wieso soll ausgeschlossen sein, dass es eine Gesellschaft von Menschen geben kann, denen der Kantische Kategorische Imperativ sozusagen eingeboren ist, die sich auch ohne transzendente Autorität daran halten und danach leben? Es ist allerdings nicht zu beweisen, ob überhaupt und warum sich die Menschen in ihrer Gewissensfreiheit für das Gute entscheiden und ob sie vor ihrer Entscheidung überhaupt das Gute erkennen; ob sie von ihrer Möglichkeit der Erkenntnis des Guten Gebrauch machen. Indem Ivan gegenüber Alëša wie der Großinquisitor gegenüber Christus die frei gewählte Lebensgestaltung in Frage stellt, bringt er sie im Sinne der Intention des Autors Dostoevskij zum Vorschein, nämlich als einzig mögliche Sinnorientierung des menschlichen Lebens, als das apriorisch vorhandene humane Potential der menschlichen Existenz. Da er es aber als christlich charakterisiert, wird verständlich, warum Dostoevskij den euklidisch rationalistischen Revolutionären und kommunistischen Weltverbesserern so verhasst und solchen euklidisch analysierenden Autoren wie Anton Čechov oder Vladimir Nabokov so suspekt war. Der Großinquisitor ist davon überzeugt, dass die Freiheit von den schwachen Menschen nur zum Durchsetzen ihrer wenn auch existentiellen egoistischen Bedürfnisse angewendet würde, also Freiheit so gesehen Willkür bedeute. Um dieses Chaos zu verhindern, hat er das System des totalitären Sozialstaats geschaffen, in dem die Menschen zwar wirtschaftlich gesichert sind, aber sich dafür gehorsam zu unterordnen haben. Darüber hinausgehende geistig moralische Bedürfnisse können systemgefährdend sein und sind deshalb verboten. In den 1860er Jahren spitzte sich die „soziale Frage“ in Europa zu, als Folge der Industrialisierung und des damit verbundenen Bedarfs an Arbeitskräften, für die es keine institutionalisierte soziale Sicherung gab. Die Industriearbeiterschaft versuchte sich in Gewerkschaften, Hilfsvereinen, Genossenschaften u. ä. zu organisieren. Für sie war – ganz im Gegensatz zur Problemstellung des „Großinquisitors“ (1866) – materielle Sicherung („Brot“) die Voraussetzung für darüber hinausgehende „immaterielle“ Bedürfnisse („Freiheit“), wie es etwa Georg Herwegh (1817–1875) im „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (1863) formuliert hatte: […] Brecht das Doppeljoch entzwei! Brecht die Not der Sklaverei! Brecht die Sklaverei der Not! Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!4
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Es fällt auf, dass Dostoevskij in allen seinen Werken Aufrührer oder Rebellen gegen die bestehenden moralischen, sozialen und politischen Verhältnisse vorführt, die immer anders sein wollen als ihre Mitmenschen und diese letztendlich gefährden. Am deutlichsten ist dieser Typ im Untergrundmenschen repräsentiert. Mit Rücksicht auf die schwache menschliche Natur, die gegenüber solchen Rebellen nicht widerstandsfähig genug ist, hat der Großinquisitor das utopische Liebesgebot des wiedergekehrten Christus in ein gesellschaftliches Ordnungsgesetz verwandelt und ihm unter Berufung auf die göttliche Autorität Christi absolute Gültigkeit verschafft. Wenn Alëša gegenüber Ivan behauptet: „dein Poem ist ja ein Lob auf Jesus, und nicht eine Schmähung, wie du es gewollt hattest“, so bezieht er sich auf die menschenverachtenden Anmaßungen des betrügerischen Großinquisitors. Ausdrücklich kritisiert Alëša dabei den Begriff der Freiheit in der Parabel als eine bedrohliche Last. Er fragt: „Muss man sie denn so auffassen? Ist das etwa die Auffassung der Rechtgläubigkeit?“ Angedeutet ist damit die Freiheit im Sinne von mitmenschlicher Toleranz, Freiheit, die sich selbst begrenzt im Hinblick auf die Geltung des Kategorischen Imperativs, also im Sinne der Achtung und Duldung, im Grunde auch der Liebe zum Nächsten. Alëša wird an seinen beiden Brüdern schuldig: an Ivan, den er nicht von seinem zweifelnden Rationalismus abzubringen sich bemüht, und an Dmitrij, den er in dem langen Gespräch mit Ivan einfach vergisst. Fragt man sich zum Schluss, wie geht dieser Ideendisput um den letzten Sinn des menschlichen Lebens aus? Christus kann und will dem Großinquisitor nicht mit logischen Argumenten entgegentreten. Er küsst ihn vielmehr auf die kalten dünnen Lippen und wird von diesem mit den Worten „Komm nicht wieder, komm überhaupt nie wieder, niemals, niemals“ freigelassen. Christus hat dem Großinquisitor nicht widersprochen. Mit seinem Kuss hat er seinen Gegner nur scheinbar besiegt, wenn dieser auf die geplante Hinrichtung verzichtet und seinem Gefangenen die Freiheit wiedergibt. Das ist keine Lösung: Christus verlässt das Gefängnis – nur dieses, oder auch die Welt, auf die er wiedergekehrt war, und diesmal endgültig? Also: Eine Diskussion findet nicht mehr statt. Das geistige Duell zwischen Christus und dem Großinquisitor endet unentschieden. Es muss aber hinzugefügt werden, dass gerade mit dem schweigenden Kuss der Liebe Dostoevskij zum Ausdruck bringen will, dass über diese letzte Seinsbestimmung gar nicht mehr mit rationalen Argumenten in der Sprache räsoniert werden kann, dass hier der freie Mensch aufgefordert ist, zur Bereitschaft, im Lieben und Leiden die Möglichkeiten seiner eigenen geistig-seelischen Befindlichkeit und sei244
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ner Moral – woran Dostoevskij unbeirrt glaubt – auszuloten, wirklich zu durchleben, mit seinem ganzen Wesen kathartisch zu durchmessen und, als freier neuer Mensch dann wiedergeboren, zu wissen, dass dieses unser gefährdetes und begrenztes einmaliges Leben mehr ist als jeder Sinn davon, mehr als jede Interpretation und Lebensregel, eine Gnade, ein schönes, zu bejahendes, freudig anzunehmendes Geschenk, sogar in Ohnmacht, Behinderung und Leiden, so, wie es überzeugend sein Rivale und ideologischer Antipode Ivan Turgenev in seiner Erzählung Die lebende Reliquie (1873) gezeigt hatte. Eine solche Erfahrung lässt sich mit den Mitteln der Ratio, des euklidischen Verstandes, nicht mehr erfassen. Sie transzendiert die Möglichkeiten menschlichen Denkens und Verstehens. Das ist Dostoevskijs Überzeugung.5
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Abb. 66: Plakat zur Dostoevskij-Feier anlässlich seines hundertsten Geburstags (11. November 1821) im Berliner Staatstheater
14. Dostoevskijs Werk in der Weltliteratur Die Wirkungsgeschichte von Dostoevskijs Werk hat, von vereinzelten Ansätzen abgesehen, erst nach dem Tod des Autors eingesetzt. Sie trägt ebenso ungewöhnliche Züge wie sein literarisches Werk, in dem sich die Höhen und Tiefen, die Ideale und Abgründe der menschlichen Seele als die Pole unseres normalen Lebens darstellen. Ihre thematischen Erscheinungen im Werk Dostoevskijs sind Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Leidenschaft und Liebe, Religion, Politik, Philosophie und – Komik! Sie werden in einer unmittelbaren und dichten, auf den Leser suggestiv einwirkenden Erzähltechnik dargeboten, die immer zugleich etwas zeigt, aber auch vorenthält, ihn dadurch während der Lektüre in Spannung hält und zur Stellungnahme herausfordert. Eine Auseinandersetzung mit Dostoevskij führt fast immer zu Bekenntnissen seiner Interpreten, zur Mobilisierung des Gewissens, zu dem Drang, sich auszusprechen und Position zu beziehen. Ähnliches lässt sich nur noch von Richard Wagner und Friedrich Nietzsche sagen, dessen Leserschaft allerdings kleiner ist als die Dostoevskijs. Nietzsches dem russischen Autor dennoch nicht nachstehende Wirkung gründet jedoch eher auf Vermittlung aus zweiter Hand. Wagners Wirkung liegt ähnlich wie die des Russen in dem bis heute nicht ausgeschöpften Aktualisierungspotential seines Werkes. Die Rezeption des Werkes bedeutender Autoren ist zumeist in Wellen verlaufen. So haben die Werke von Maksim Gor’kij in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Russland wie in Westeuropa höchste Auflagen erzielt, die im Ostblock bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion aus politischen Gründen künstlich aufrecht erhalten wurden, dann aber vollständig abgestürzt sind. Oder Aleksandr Isaevič Solženicyn (1918–2008), der in jüngster Vergangenheit zur Ikone des Widerstands gegen das Sowjetsystem aufgestiegen war und die sogenannte „Lager-Literatur“ als Protestform gegen den Totalitarismus eingesetzt hat. Auch sein Bekanntheitsgrad ist nach der weltpolitischen „Wende“ eingebrochen. Anders Dostoevskij: Sein Werk hat sich durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch bis heute unangefochten unter den meist verlegten Titeln der Weltliteratur gehalten. Seine Präsenz bezeugen die 247
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„International Dostoevsky Society“, 1971 in Bad Ems gegründet, sowie die 1990 in Flensburg gegründete „Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft“, in deren Jahrbüchern die internationale Dostoevskij-Forschung über Diskussions- und Dokumentationsforen verfügt.1 Das seit dem Jahr 2000 jährlich erscheinende interdisziplinäre The Dostoesvky Journal. A Comparative Literature Review widmet sich der Resonanz Dostoevskijs in Weltliteratur, Philosophie und anderen Fachrichtungen. Öffentliche Debatten,2 Ausstellungen,3 sowie Symposien und Kongresse,4 belegen diese Wirkung zusätzlich. Es versteht sich, dass hier keine auch nur einigermaßen vollständige Übersicht über die Rezeption des Dostoevskij’schen Œuvres vorgelegt werden kann. Sie würde ganze Bände füllen. Es soll nur versucht werden, die wesentlichen Phasen und spezifischen Umgangsweisen mit Dostoevskij im russischen, romanischen, englischund deutschsprachigen Kulturraum kurz zu umreißen. Die Eigenart ausgesprochen engagierter Auseinandersetzung mit Dostoevskij zeigt sich besonders deutlich in der Wirkungsgeschichte seines Werkes in Russland, wo sie sich vornehmlich als Ideenkampf, als ideologische Polemik abgespielt hat und noch abspielt. Zu Lebzeiten Dostoevskijs hat sich bekanntlich der überwältigende Anfangserfolg seines ersten Romans Arme Leute nicht wiederholt; erst in den letzten Monaten seines Lebens war neben dem Tagebuch eines Schriftstellers, den Brüdern Karamazov und der Puškin-Rede wieder eine große Resonanz in der Öffentlichkeit zuteil geworden. In den großen Auseinandersetzungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen Westlern und Slavophilen, zwischen Sozialrevolutionären, die aus der Belinskij-Schule hervorgegangen waren, Liberalen und Konservativen, an denen sich Dostoevskij polemisch beteiligt und mit seiner Konzeption von der Bodenständigkeit (počvenničestvo) eine eigene Position zu begründen versucht hatte, wurden seine literarischen Werke als ideologisch-politische Programmschriften gelesen und kritisiert. Dabei gerieten ihre künstlerischen Qualitäten wie auch ihre existentiellen und religiösen Dimensionen nahezu gänzlich aus dem Blick. Als Beispiel sei der revolutionär-demokratische radikale Kritiker Dmitrij Ivanovič Pisarev (1840–1868) genannt, der in seiner großen Interpretation des Romans Schuld und Sühne unter dem bezeichnenden Titel Der Kampf ums Leben (1867)5 die Schilderung des sozialen Elends im Roman zum dominierenden und, wie er es sah, die gesellschaftlichen Verhältnisse anklagenden Thema machte. Sowohl Raskol’nikovs ja auch sozialkritisch motivierter Entwurf vom napoleonischen Übermenschen als 248
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Führer der Massen als auch sein Mord und physisch-psychischer Zusammenbruch, seine Gewissensqualen und erst recht seine mögliche, religiös motivierte Wiedergeburt, sind für Pisarev nichts weiter als neurotische Depravationen eines in seinem Bewusstsein entfremdeten Individuums, das zum Opfer der Armut und sozialen Verwahrlosung der besitz- und rechtlosen Schichten der Petersburger Bevölkerung in der tyrannischen Zarenautokratie geworden war. Dass nun gerade den krankhaften Zuständen dieses entfremdeten Raskol’nikov und seinen Halluzinationen so viel Raum zu Lasten der Schärfe der sozialen Anklage gelassen wurde, der auch der Appell zur revolutionären Empörung fehle, mache die erhebliche Schwäche dieses Romans aus.
Abb. 67: Nikolaj Konstantinovič Michajlovskij In gewissem Sinne setzt Nikolaj Konstantinovič Michajlovskij (1842–1904)6, der führende Ideologe des späten „Narodničestvo“ (Volkstümler-Bewegung) und Literaturkritiker diese Kritik an Dostoevskij fort und spitzt sie zu: Dostoevskij habe die ungerechte und unsoziale herrschende gesellschaftliche Ordnung anerkannt und Versuche ihrer Änderung oder Beseitigung abgelehnt, er sei von eigensüchtigem persönlichem Ehrgeiz bestimmt gewesen und habe ein spezifisches „grausames Talent“ (1882) besessen, nämlich mit einer geradezu pathologischen Besessenheit Bosheiten und Brutalitäten, deren der Mensch fähig sei, in extremen Fällen sadistisch auszumalen. In den Aufzeichnungen aus dem Untergrund quäle und demütige der Erzähler, den Michajlovskij unkritisch mit dem Autor Dostoevskij gleichsetzt, als Kompensation seiner eigenen Defekte und Deklassierungen, eine hilflose Prostituierte; Raskol’nikov 249
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sei ein menschenverachtender Pseudo-Übermensch und Mörder; Svidrigajlov ein lasziver Verführer und Hedonist; Stavrogin ein moralisch indifferenter Unmensch; und in den Brüdern Karamazov richtet Michajlovskij die Aufmerksamkeit seiner Leser auf eine oft übersehene Szene, in der die zwölfjährige Liza Chochlakova von einem ihrer Tagträume erzählt, indem sie sich mit ambivalenter Freude vorstellt, sie kreuzige auf dem Tisch ihren kleineren Bruder und esse dabei Fruchtkompott. Nun zieht Michajlovskij daraus aber keine psychoanalytischen Konsequenzen, das hat erst später Vladimir F. Čiž (1855–1922)7 getan, der Dostoevskij einen „großen Meister der Darstellung krankhafter seelischer Phänomene“ genannt hat – Michajlovskij argumentiert ganz anders: Unter gänzlicher Ignoranz von Dostoevskijs religiös begründeten moralischen Implikationen – sie lagen außerhalb des Verständnishorizontes des atheistischen Narodnik-Sozialisten – akzeptiert Michajlovskij die „grausame Natur“ des Menschen – ob als angeboren oder Ergebnis der Entfremdung in der sozialen Misere wird nicht deutlich! – und macht Dostoevskij den Vorwurf, er habe kein „gesellschaftliches Ideal“ gehabt, in dessen Dienst die grausamen Veranlagungen der menschlichen Natur hätten zivilisiert und in ihrer Energie zur Befreiung der Unterdrückten und Ausgebeuteten eingesetzt werden können. Dostoevskij, dessen literarisches Talent Michajlovskij nie anzweifelt, hat es aber als Sklave seiner konservativen affirmierenden ideologischen Haltung sträflich versäumt, dieses Talent in den Dienst der Befreiung der geschundenen russischen Unterschicht zu stellen. Wider besseres Wissen habe er sich nicht die richtigen Prinzipien des Großinquisitors zu eigen gemacht.
Abb. 68: Vladimir Solov’ ëv, Porträt von Ivan Kramskoj, 1885
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Diese Auslassungen waren auch gegen Vladimir Solov’ ëv (1853–1900) gerichtet, der in drei vielbeachteten Reden auf seinen verstorbenen väterlichen Freund Dostoevskij ihm gerade auch eine gesellschaftliche und geistige Führungsrolle zugesprochen hatte. Der allgemeine Sinn des ganzen Wirkens Dostoevskijs, die Bedeutung Dostoevskijs als gesellschaftlich engagierter Schriftsteller besteht in der Lösung der doppelten Frage nach dem höchsten Ideal der Gesellschaft und dem Weg, wie es erreicht werden kann.8
Diese Lösung liegt nach Solov’ ëv in Dostoevskijs Liebe zum konkreten einzelnen Menschen, nicht zur abstrakten Gesellschaft der Sozialisten, in der der Einzelne zur unwesentlichen Partikel im großen Ganzen verkommt, sondern im Ideal des vollkommenen schönen Menschen Christus, dem Vor- und Leitbild jedes Einzelnen, in dem sich versöhnende Liebe verwirklicht, und im russischen Allmenschentum, also der von Dostoevskij geradezu missionarisch verkündeten Begabung der Russen zur Synthetisierung geistiger und nationaler Gegensätze.9 Mit dieser Deutung musste sich Solov’ ëv gegen Vorwürfe von russisch-orthodoxer Seite – durch Konstantin N. Leont’ev (1831–1891) und den mit Dostoevskij ebenfalls befreundeten Oberprokuror des Allerheiligsten Synods Konstantin Pobedonoscev – auseinandersetzen, die dogmatisch den Primat der russischen Orthodoxie gegen die westlichen Kirchen und die westliche Zivilisation vertraten, was übrigens Solov’ ëv zu einer schärferen Sicht auf Dostoevskijs religiöse und politische Konzeptionen zwang, in denen er schließlich so viel Einseitigkeit, nationale Überheblichkeit und sogar Chauvinismus erkennen musste, dass er sich durch Schweigen von seinem verstorbenen Freund als Ideologen und theologischem Denker distanzierte, ohne indes je seine Qualität als Dichter in Frage zu stellen. Die Kontroverse zwischen linker und rechter Rezeption Dostoevskijs, hier fokussiert auf Michajlovskij und Solov’ ëv, stimulierte das mächtig auflebende Interesse an Dostoevskij um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Symbolismus und Modernismus. Es ist verbunden mit der in Russland zur gleichen Zeit stürmisch einsetzenden und sehr kontroversen Rezeption Nietzsches. Affinitäten beider wahrzunehmen, konnte nicht ausbleiben. Als Testfall sei auf Dmitrij S. Merežkovskij (1865–1941)10 hingewiesen: „Wer ist Dostoevskij“, fragt Merežkovskij, 251
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„ein Engel des Dunkels oder des Lichts, wo ist sein Herz, bei der Demut des christlichen Starec Zosima, oder bei der amoralischen Wollust Stavrogins?“ Merežkovskij antwortet: In der Ambivalenz. Dostoevskij sei hier wie dort, er sei sowohl das „grausame Talent“ Michajlovskijs, als auch der humane Prediger des ewigen Ideals Christi. Das ist keine Flucht in eine hilflose Akzeptanz unversöhnbarer Antinomien, sondern der Ausdruck einer modernen symbolistischen Poetik, die sich mit offenen Formen und Fragen an einen mündigen Leser wendet und diesen zur Beantwortung in je eigener, individueller Weise herausfordern will. Das gilt auch für Lev I. Šestovs (1866–1938) seinerzeit aufsehenerregendes Buch Dostoevskij und Nietzsche. Die Philosophie der Tragödie (1902), in dem es heißt, das wissenschaftlich philosophische positive Denken habe ebenso wie die christliche Religion eine allgemeine Gültigkeit verheißen, ohne sie realisieren zu können. In sonderbarer Verkennung des Autorenwillens heißt es dann weiter, Nietzsche und Dostoevskij hätten keine „Lehre“ anzubieten. Wahrscheinlich wird die Mehrzahl der Leser es nicht wissen wollen, allein Dostoevskijs und Nietzsches Werke geben keine Antworten, sondern stellen Fragen. Die Frage z. B., kann es eine Hoffnung geben für jene Menschen, für die allgemeine Moral, für die christliche Heilslehre, für die pragmatische Ideologien und Gesellschaftslehren unannehmbar sind.11
Was Šestov konkret meint, expliziert er am „Untergrundmenschen“ und am „bleichen Verbrecher“ aus dem Zarathustra, nämlich die Isolation des egozentrischen Helden in einer ihm prinzipiell feindlich gegenüberstehenden Welt, deren Sinn nicht erfasst werden kann. Diese Interpretation verweist auf den Existentialismus. In einer tiefschürfenden Deutung des Dostoevskij’schen Werkes, deren russisches Original allerdings verloren gegangen ist, so dass an seiner Statt nur die autorisierte deutsche Übersetzung von Alexander Kresling, die 1932 in Tübingen bei Mohr Siebeck unter dem Titel Dostoevskij: Tragödie, Mythos, Mystik erschienen ist, zugrunde gelegt werden kann, hat der symbolistische poeta doctus Vjačeslav I. Ivanov (1866–1949) Dostoevskijs Werk mit der klassischen attischen Tragödie, dem tragischen Leiden und der christlichen Auffassung von Freiheit und Verantwortung in Zusammenhang gebracht, er hat 252
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in Dostoevskijs Werk nicht nur eine neue komplexe Weltsicht und adäquate vielstimmige künstlerische Gestaltung erkannt, sondern auch die realitätsstiftende Kraft der Dostoevskij’schen Fiktion hervorgehoben: So wie erst J. M. William Turner (1775–1851) den Londoner Nebel durch seine Bilder zur Realität gemacht habe, zum Charakteristikum der Stadt an der Themse, wie man sie nun seither wahrnimmt, sieht und sucht, so hat Dostoevskij die komplexe und spannungsreiche, widersprüchliche, abgründige und grausame, aber auch liebende, sich nach Harmonie, Schönheit und Erlösung sehnende menschliche Persönlichkeit in seinem literarischen Werk geschaffen: Durch Dostoevskij sei das psychologische Profil des Menschen und seine geistig-seelische Dimension eine andere geworden. Eine ähnliche Hochschätzung Dostoevskijs findet sich auch bei anderen russischen symbolistischen Dichtern und religiös philosophischen Denkern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, besonders bei Nikolaj A. Berdjaev (1874–1948), Sergej N. Bulgakov (1871–1944) und Semën Lj. Frank (1877–1950), aber auch der bekannteste russische Avantgardist – Vladimir V. Majakovskij (1893–1930) – hat Dostoevskij seine Reverenz erwiesen: Als er 1909 verhaftet wurde, erbat er sich u. a. Dostoevskijs Werke zur Lektüre im Gefängnis, und 1923 hat er in dem Poem Über das bewusste Thema (Pro eto) die zerrissene Verfassung des lyrischen Ich, das sich ins Haus der unerreichbaren Geliebten schleicht, mit der Raskol’nikovs nach dem Mord verglichen: Das Herz bleibt nicht stehen, Doch in Leiden gefasst, Es schmiedet die Kette mir – Glied an Glied. So hob einst Raskol’nikov die Hand Zur Türklingel zitternd Das nichts ihn verriet.12
Das war in der frühen Sowjetzeit, als über Dostoevskij zu schreiben und zu streiten noch erlaubt war.
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Abb. 69: Vladimir Majakovskij, Gemälde von Nadežda K. Schwede-Radlova, 1930 So sonderbar es erscheinen mag, die russische realistische Literatur um die Jahrhundertwende 1899/1900 orientierte sich stärker an den Leitbildern Ivan Turgenev und Lev Tolstoj und verhielt sich zurückhaltend zu Dostoevskij. Dafür sei das Zeugnis Anton Čechovs angeführt, der 1889 auf Drängen seines Freundes Aleksej S. Suvorin (1834–1912) sich an die Dostoevskij-Lektüre machte und dazu meinte: Ich habe in Ihrer Buchhandlung nun Dostoevskij gekauft und lese ihn. Gut, aber doch sehr langatmig und unbescheiden. Recht überspannt!13
Die politisch links orientierten Intellektuellen und Liberalen haben Dostoevskij mehr oder weniger entschieden abgelehnt. Anatolij V. Lunačarskij (1855–1933), Kritiker und erster sowjetischer Kultusminister, selbst Schriftsteller, erkannte zwar in Dostoevskij einen Rebellen im Gewande des Reaktionärs, nannte ihn sogar einen unbewussten Sozialisten und bestritt seine literarischen Qualitäten nicht und setzte sich für die Publikation seiner Werke mit entsprechenden Einführungen und Kommentaren ein, auch der Vater des russischen Marxismus, Georgij V. Plechanov (1856–1918), achtete das Werk Dostoevskijs, aber Vladimir I. Lenin (Uljanov, 1870–1924) sah in ihm nur den Klassenfeind, den Obskuranten und psychisch kranken Reaktionär, vor dessen verhängnisvollem Einfluss das Proletariat und die bäuerlichen Massen zu schützen seien. In dieses Horn stieß auch Maksim Gor’kij, 254
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der Dostoevskij als seinen großen Antipoden verstand, mit dem er in verschiedenen literarischen Werken wie den Dramen Nachtasyl (Na dne) (1902) und Der Alte (Starik) (1918) nicht nur literarisch, sondern auch weltanschaulich polemisierte.
Abb. 70: Maksim Gor’kij (links) mit Anton Čechov (rechts) Schon 1913 wandte er sich scharf gegen die Aufführung einer dramatisierten Form der Dämonen und nannte Dostoevskij „unser böses Genie“: Er selbst ein großer Peiniger und ein Mensch mit einem kranken Gewissen gestaltete mit Vorliebe gerade die dunkle verworrene widerwärtige Seele – in uns lebt aber nicht nur das Tier und der Schuft. Dostoevskij sah aber nur diese Züge, und als er etwas anderes darstellen wollte, zeigte er uns den „Idioten“ oder Alëša Karamazov, verwandelte Sadismus in Masochismus.14
Das mag als scharfe und einseitige Polemik hinnehmbar sein in einer Zeit, in der noch freie Meinungsäußerung bestand und sich Widerspruch artikulieren konnte.15 Als aber Maksim Gor’kij als Präsident des ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses 1934, auf dem der „Sozialistische Realismus“ proklamiert wurde, Dostoevskij wiederum diffamierte, musste er wissen, welche Folgen er damit heraufbeschwor. 255
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Die Genialität Dostoevskijs ist unbestreitbar, was die Darstellungskraft anbetrifft, so ist sein Talent vielleicht nur Shakespeare gleichzusetzen. Aber als Persönlichkeit, als Richter der Welt und der Menschen, kann man sich Dostoevskij gut in der Rolle eines Inquisitors aus dem Mittelalter vorstellen. Er fand die Wahrheit in den tierischen Elementen des Menschen, und zwar nicht etwa um zu widerlegen, sondern um zu rechtfertigen.16
In der Zeit Stalins, in der die sozialistisch realistische Literatur den einzigen Zweck hatte, die Sowjetmenschen zum kommunistischen Bewusstsein zu erziehen, war mit diesem Verdikt der Stab gebrochen: Dostoevskij wurde zur reaktionären Unperson. Er durfte weder gedruckt noch gelesen werden. Lediglich während des Zweiten Weltkriegs wurde 1941 seine antideutsche Publizistik ein Mal wieder aufgelegt. Aber aus dem Literaturunterricht und aus den Literaturgeschichten war Dostoevskijs Name getilgt. In der in der Stalinzeit offiziellen Literaturgeschichte unter der redaktionellen Verantwortung des bedeutenden Literaturwissenschaftlers Nikolaj L. Brodskij (1881–1951) finden sich umfangreiche Kapitel über Černyševskij, Gončarov, Nekrasov, Turgenev, Saltykov, Lev Tolstoj und Čechov – Dostoevskij fehlt. Und dennoch – in einer Übersicht über die Literatur der 1870er Jahre versteckt, konnten drei Seiten in äsopischen Formulierungen den Geist der Stalinzeit unterlaufend – über Dostoevskij eingeschmuggelt werden, und über Schuld und Sühne liest man das bezeichnende Urteil: Obwohl Dostoevskijs Hauptidee falsch und reaktionär ist, stellt der Roman ein hervorragendes Werk […] dar. Gemessen an der psychologischen Analyse und der Kraft der realistischen Gestaltung der sozialen Widersprüche des Kapitalismus gehört er zu den größten Werken der Weltliteratur.17
Ebenso wenig wie die Nationalsozialisten Heinrich Heine aus der deutschen Kultur eliminieren konnten, gelang es auch den Bolschewisten nicht, Dostoevskij totzuschweigen. Nach Stalins Tod konnte in der sogenannten „Tauwetterphase“ eine – zwar noch zensierte – zehnbändige Dostoevskij-Ausgabe erscheinen. Die sowjetische Literaturwissenschaft versuchte nun, sich des Schriftstellers ideologisch, d. h. parteilich zu bemächtigen: Dostoevskij habe den Sozialismus ja nicht ge256
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nerell negiert, sondern nur und zu Recht seine vulgären Entartungen, wie in den Dämonen dargestellt. „Im gegenwärtigen Kampf zwischen dem sozialistischen und dem westlichen kapitalistischen Weltsystem ist Dostoevskij mit uns, als Kämpfer gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“,18 las man in den 1960er Jahren, in denen – und auch später – sich besonders der ebenso geschickte wie mutige Leningrader Literaturhistoriker Georgij M. Fridlender (1916–1996) um die Dostoevskij-Renaissance verdient gemacht hat. Ihm ist auch zu verdanken, dass nun die schon 1929 geschriebenen und für die DostoevskijForschung so wichtigen Arbeiten Michail Bachtins endlich erscheinen durften, in denen das dialogisch polyphone Verfahren in Dostoevskijs Romanen untersucht worden ist, das der ideologisch und poetologisch monologischen Position des Sozialistischen Realismus widerspricht. Und schon in den 1970er Jahren werden auch moralische und nationalistische Positionen Dostoevskijs wieder diskutiert, z. B. von U. A. Gural’nik, der formulierte: „Dostoevskij war einer der ersten, der die Grimassen der geistlosen Konsumgesellschaft, den modernen Faschismus in allen seinen Modifikationen und die historische Mission Russlands erkannt hatte.“19 Als 1972 im Zusammenhang mit der Eröffnung der Herausgabe der kritischen Gesamtausgabe aller Schriften Dostoevskijs20 sich noch einmal konservative warnende Stimmen erhoben und auf Lenins, Gor’kijs und Aleksandr A. Fadeevs (1901–1956) Verurteilung des Reaktionärs Dostoevskij verwiesen, konnten Dmitrij S. Lichačëv und Fridlender unter großer Anteilnahme der literarischen Öffentlichkeit diese Attacken zurückweisen. Schon in den 1980er Jahren, besonders aber nach der Perestrojka, ist Dostoevskij in vollem Umfang in den intellektuellen Diskurs seiner Heimat zurückgekehrt und nimmt dort einen herausragenden Platz ein. Auf dem Monumentalgemälde „Ewiges Russland“ (Večnaja Rus’) des rechtsnationalen Malers Il’ja S. Glazunov (1930–2017) besetzt Dostoevskij im Pantheon der russischen Nationalheiligen und historischen Führer den zentralen Platz im Vordergrund. Nicht immer zugunsten des Themas sind besonders die jahrzehntelang verbotenen religiösen Fragen in den Vordergrund getreten, und noch bedenklicher ist, dass sich bestimmte nationalistische und chauvinistische Kreise auf die Autorität Dostoevskijs als eines großen Schriftstellers der Weltliteratur berufen, um mit seiner zweifelhaften politischen Publizistik antiwestliche Stimmungen zu stärken.
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Abb. 71: Il’ja S. Glazunov, „Ewiges Russland“, 1988, Dostoevskij direkt unter dem Kreuz stehend, flankiert von Puškin und Gogol'. Kompliziert hat sich die Rezeption des Werkes Dostoevskijs in Polen gestaltet, einmal haben dort die ausschließlich negativen polnischen Gestalten in seinem Werk Vorbehalte unter den polnischen Intellektuellen, die seinerzeit alle patriotisch eingestellt waren und vielfach auch direkt in Aktionen der polnischen Aufständischen 1863 verwickelt waren, entgegengewirkt, zum anderen war der größte Teil Polens seit der letzten Teilung des Landes von Russland besetzt, und in diesem – etwa in der polnischen Hauptstadt Warschau als Zentrum des nationalen intellektuellen Lebens – war der Gebrauch der polnischen Sprache offiziell verboten. Die polnischen Intellektuellen beherrschten die russische Sprache und lasen Werke der russischen Literatur im Original, so dass sich Übersetzungen zunächst erübrigten. Doch wie in den anderen slavischen Ländern – z. B. bei den Tschechen oder Südslaven – ereignete sich die Aufnahme der literarischen Werke Dostoevskijs auch in Polen über deren Übersetzungen in die großen westlichen Sprachen und der dort ausgelösten Diskussionen seiner Werke, also nicht direkt aus dem russischen Original. Infolgedessen sind die direkten Spuren von Einflüssen durch Dostoevskijs Werke dort schwer auszumachen, da sie vielfach auf deutscher, englischer oder französischer Vermittlung beruhen. Auch in Polen hat – wie im gesamten romanischen Sprachraum und ebenfalls in den Niederlanden – die Geltung Dostoevskijs das Werk des Diplomaten, Übersetzers und Literarhistorikers Melchior de Vogüé maßgeblich bestimmt, daneben aber auch die enthusiastischen Aufsätze über Dostoevskij des dänischen Literaturkritikers Georg Brandes (1842–1927). Eine gewisse Nähe zu Dostoevskijs „Poem vom Großinquisitor“ kann man in Jerzy Andrzejewskis (1909–1983) Roman aus der Zeit der Inquisition in Spanien 258
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Finsternis bedeckt die Erde (1957) erkennen, in dem der Großinquisitor Tomás de Torquemada in einem visionären Gespräch mit seinem Gewissen seine politischen Untaten bekennt und reflektiert, jedoch wird er dafür von seinem Schüler und Nachfolger Diego umgebracht. Deutlicher sind allerdings die zeitnahen Anspielungen auf den Stalinismus im Ostblock der 1950er Jahre. Auf dem Balkan war die panslavische Idee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirksam auch als Motivation des Freiheitskampfes gegen die Türken und politischer Liberalisierung gegen Habsburg und Wien und eine damit abgelehnte Dominanz des Deutschen. Dostoevskijs Ansicht, auf der Grundlage des orthodoxen Glaubens die Südslaven unter russischem Schutz zusammenzuführen, fand dort, zum Teil wenigstens, besonders bei den Serben große Zustimmung.21 Aber auch hier spielte wieder der konfessionelle Gegensatz eine wichtige Rolle, so hat sich insbesondere das katholische Kroatien panslavischer Vereinnahmung verweigert, und noch im frühen 20. Jahrhundert konnte Miroslav Krleža (1893–1981) eine vehement ablehnende Kritik der Werke Dostoevskijs vornehmen. Russische Autoren wurden in Europa zunächst vor allem durch die teilweise verkürzten oder dem jeweiligen Geschmack angepassten Übersetzungen der in intellektuellen Kreisen damals dominanten Sprache Französisch bekannt. Seit den 1920er Jahren wurden zahlreiche gekürzte, bearbeitete und variierte Übersetzungen unter Dostoevskijs Namen bzw. dem Titel seiner Werke vertrieben. Das war möglich, weil Russland der von Victor Hugo initiierten „Berner Übereinkunft“ (1886) nicht beigetreten war und insofern kein Urheberschutz für Werke der Literatur und Kunst aus Russland bestand. Eine wesentliche Vermittlerrolle in ganz Europa spielte der schon mehrfach erwähnte französische Diplomat und Literarhistoriker Vicomte Marie-Eugène-Melchior de Vogüé (1848–1910).
Abb. 72: Melchior de Vogüé, Fotografie von Nadar 259
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De Vogüé war Botschafter Frankreichs in Sankt Petersburg und übersetzte zahlreiche russische Autoren ins Französische. 1886 veröffentlichte er seine Studien über den russischen Roman, die seit 1883 in der Revue des Deux Mondes erschienen waren, in Buchform (Le Roman russe).22 Dieses Werk war international so erfolgreich, dass de Vogüé 1901 in die Académie française aufgenommen wurde.23 Nachdem Émile Zola (1840–1902) sich zunächst vergeblich darum bemüht hatte, Übersetzungen ins Französische zu veranlassen, um Dostoevskij dem französischen Publikum nahe zu bringen,24 ist Dostoevskij in Frankreich seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Vermittlung von Melchior de Vogüé präsent, auch hier zunächst im Schatten von Ivan Turgenev und Lev Tolstoj, die de Vogüé bevorzugte. „Die Gestalten Dostoevskijs sind allesamt in einem Zustand der Besessenheit, eine fremde und unbezwingliche Macht treibt sie an, gegen ihren Willen monströse Taten zu begehen“, 25 schrieb de Vogüé, der Dostoevskij noch persönlich gekannt hatte, und dessen Urteil in Le Roman russe (1886) dazu beitrug, dass Dostoevskij in vielen romanischen Kulturen zunächst als Exzentriker mit bizarr entfesselter Fantasie wahrgenommen wurde, was sich erst mit Autoren wie André Gide und den Existentialisten ändern sollte.
Abb. 73: André Gide, Porträtaufnahme, um 1920 Dostoevskijs Gestaltung des tragisch vereinsamten einfachen Individuums im geschäftig banalen Alltag, besonders die Gestaltung der Menschen im großstädtischen Leben, übte eine besondere Anziehungskraft auf André Gide (1869–1951) aus, der sich schon früh (seit dem Ende des 19. Jahrhunderts) besonders intensiv mit Dostoevskij auseinandergesetzt und eine ganze Reihe von Essays über den russischen Schriftsteller geschrieben und ihn den größten aller Romanciers genannt hat. In 260
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Gides Romanen wie Die Verliese des Vatikans (Les caves du Vatican, 1914) und Die Falschmünzer (Les faux monnayeurs, 1925) wird man an Personen und Situationen Dostoevskij’scher Prägung erinnert. Man erlebt wohlsituierte Familien, die sich feindlich gegenüberstehen, Hass und Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, unehelich geborene Jünglinge, die die Kenntnis ihrer Illegitimität quält; Erpresser und Gauner, die sich mit raffinierten Mitteln das Vertrauen vermögender Mitbürger erschleichen, Skandale, die die Gesellschaft erschrecken. Auch Gides Vermischung von Erhabenem und Niederträchtigem, die Verschränkung verschiedener Erzählebenen, die Diskussionen abstrakter Themen, unwahrscheinliche Episoden, in Monologform gekleidete Selbstbekenntnisse, grotesk-komische Situationen haben offensichtlich Dostoevskij zum Vorbild. Im Roman Die Falschmünzer wird ähnlich wie in Dostoevskijs Dämonen die Hauptgestalt unter zwei Aspekten gezeigt: in ihrer Beziehung zu einem Geheimbund von Kriminellen und zum anderen zur vornehmen Gesellschaft. In Gides Roman Der Immoralist (L’immoraliste, 1902) spricht sich wie in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund ein Mensch aus, der mit der Welt und ihren Moralgesetzen gebrochen hat. In dem Roman Die Verliese des Vatikans begeht der jugendliche Lafcadio einen Mord – nicht aus Gewinnsucht oder einer vorgefassten Idee – sondern aus irrationalen, ihm selbst unklaren Motiven. Das bezieht sich natürlich auf die Situation Raskol’nikovs, wie er schließlich unter dem Zwang der einmal eingetretenen Ereignisse fast schon im Unbewussten die Pfandleiherin und vor allem ihre unvorhergesehen hinzugekommene Schwester erschlägt, für Gide ein acte gratuit, eine absurde grundlose Handlung. Während Sonjas Liebe Raskol’nikovs Gewissen und seine Bereitschaft zur Reue weckt, reagiert Gides Lafcadio genau umgekehrt: Unter dem Einfluss eines liebenden Mädchens ändert er seinen Entschluss, den Mord zu gestehen, um das Glück seiner Liebe nicht zu gefährden. Der Mord als absurde grundlose Handlung bleibt ungesühnt. Das macht auf eine Lesart und Rezeptionsweise Dostoevskijs aufmerksam, die in Frankreich besonders hervortreten sollte: Die Entfremdung des Menschen, seine Deformation in einer nicht mehr begreiflichen Welt, worauf er mit Verständnislosigkeit und absurdem Verhalten reagiert. In den 1920er und 1930er Jahren erregte Dostoevskijs Beschäftigung mit dem Irrationalen, Abgründigen, Außergewöhnlichen und Seltsamen die Aufmerksamkeit der literarischen und künstlerischen Avantgarde.26 Max Ernst stellte ihn in seinem Gemälde „Au rendez-vous des amis“, auf dem die Gruppe der Dadaisten und Surrealisten dargestellt ist, als einen der Ahnherren des Surrealismus dar. 261
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Abb. 74: Max Ernst, „Au rendez-vous des amis“, 1920–22 (1922). Von links nach rechts: René Crevel, Max Ernst, auf dem Knie Dostoevskijs sitzend, Theodor Fraenkel hinter Jean Paulhan, Benjamin Péret, Theodor Baargeld, Robert Desnos. Hintere Reihe: Philippe Soupault, Hans Arp, Max Morise, Raffael, Paul Éluard, Louis Aragon, André Breton, Giorgio de Chirico, Gala Éluard Die Existentialisten (der frühe Martin Heidegger, Albert Camus u. a.) waren von Dostoevskij deshalb angesprochen, weil sie in seinem Werk den Menschen als in der Gottverlassenheit auf sich selbst zurückgeworfen erkannten. Ivan Karamazovs These, „Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt“, hatte besonders für Jean-Paul Sartre (1905–1980) grundsätzliche Bedeutung (L’Existentialisme est un humanisme [Der Existentialismus ist ein Humanismus], 1946).
Abb. 75: Albert Camus, Porträtaufnahme 262
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Die Beziehungen Albert Camus’ (1913–1960) zu Dostoevskij verdeutlichen diesen Sachverhalt. Das existentialistische Bild, das Camus vom Menschen entwirft, enthält zahlreiche Rückgriffe auf Dostoevskij. Im Mythos von Sisyphos (Le Mythe de Sisyphe, 1942), in dem Camus sein Konzept vom absurden Menschen entwickelt, stützt er wesentliche Argumentationen mit Gedankengängen Dostoevskij’scher Figuren wie Stavrogin, Kirillov und Ivan Karamazov. Sie sind an der theoretischen Konstituierung des Absurden der totalen Isolation und Sinnleere des individuellen Lebens maßgeblich beteiligt. In dem Roman Die Pest (La Peste, 1947) ist der Arzt Bernard Rieux davon überzeugt, in einer absurden Situation zu sein, in der sich gegen die spontane Gewalt der Pest nichts ausrichten lässt, aber er nimmt dennoch den scheinbar aussichtslosen Kampf auf, revoltiert aus Trotz und erlebt, dass sich durch Aktion und tätiges Handeln die um ihn entstandene Leere füllen lässt. Das Handeln des Arztes gründet in Mitmenschlichkeit und Verantwortung. Das korrespondiert mit dem Verantwortungsbewusstsein Dmitrij Karamazovs, auch wenn dieser die Annahme seiner Stellvertreterschuld anders motiviert. Die Dämonen hielt Camus für eines der größten literarischen Werke überhaupt. Ein Jahr vor seinem Tode erlebte die von ihm in jahrelanger Arbeit geschaffene Dramatisierung ihre triumphale Uraufführung. Dostoevskijs Kampf in diesem Roman gegen den revolutionären Terrorismus des 19. Jahrhunderts war für Camus das Modell seines eigenen Protestes und Kampfes gegen die geistigen und moralischen Depravationen des 20. Jahrhunderts. Neben dieser existentialistisch orientierten französischen Rezeption Dostoevskijs hat André Malraux (1901–1976) auf eine weitere für die Wirkung Dostoevskijs in Frankreich wichtige Komponente aufmerksam gemacht: Der russische Schriftsteller habe traditionelle Romanstrukturen gesprengt, klassische Romanmodelle seien von ihm aufgehoben worden: Stellt man die Frage, welche Beziehungen zwischen Dostoevskij und der französischen Literatur bestehen […], so dürfte die seriöseste Antwort wohl lauten: Die französische Literatur fasst sich selbst […] als einen in sich geschlossenen Bereich determinierter vorherrschender Formen auf. Man schrieb Romane stets getreu einer formalen Konzeption. Von Frankreich aus gesehen ist Dostoevskij somit jener Autor, der den Roman als eine bestimmte Form angegriffen, ja zerstört hat.27
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In diesem Sinne erblicken Julien Gracq (1910–2007), Robert André (1920–2001) und andere Vertreter des „nouveau roman“ in Dostoevskij einen ihrer wichtigsten Vorläufer. Natalie Sarraute (1900–1999) hat in einem Essay Von Dostoevskij zu Kafka (De Dostoïevski à Kafka, 1947) ausgeführt, dass Dostoevskij den zentralen Helden, dessen Geschichte für das traditionelle Erzählen konstitutiv war, den Garaus gemacht habe. Bei Dostoevskij begännen die traditionellen Romanfiguren sich in Träger von unerforschten Zuständen zu verwandeln, die man überrascht und staunend in sich selber wiederfände. Damit bricht aber die „Phase des Argwohns“ (L’Ère du soupçon) an: Der Autor zweifle an den bisherigen Mitteln des Romans, die Wirklichkeit zu erfassen; der Leser zweifle an der Fähigkeit des Autors, die Seinsproblematik des Individuums zu überschauen. So komme es zur „Krise der Psychologie“, an deren Anfang Dostoevskij stehe, der so zum Ahnherrn der modernen Dichtung seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts geworden sei. Von Dostoevskij führen direkte Wege zu Franz Kafka (1883–1924), Marcel Proust (1871–1922), zum homo absurdus des existentialistischen Romans. Diesen Anspruch auf das geistige Erbe Dostoevskijs bekräftigt auch Alain Robbe-Grillet (1908–2008). In ihren Erinnerungen bekennt Simone de Beauvoir (1908–1986), Dostoevskij viel zu verdanken, besonders den Handlungsaufbau, der bei Dostoevskij in hinausgezögerten oder verborgenen Vorgängen bestehe. Ständig ereignet sich etwas, was der Leser und wichtige Figuren nicht wissen, bis das Verborgene ausbricht und beinahe überwältigend explodiert. Neuere Forschung hat auch Marcel Prousts diffizile psychische Analysen mit Dostoevskij in Beziehung gesetzt, aber hier scheint – und Gleiches gilt wohl für James Joyce (1882–1941) – der Vorbehalt Thomas Manns geboten: Die psychologischen Funde, Neuheiten und Keckheiten des Franzosen sind das reine Amusement verglichen mit den bleichen Offenbarungen Dostoevskijs, eines Menschen, der in der Hölle war. Hätte Proust den Raskol’nikov schreiben können, diesen größten Kriminalroman aller Zeiten? An Wissen fehlte es ihm dazu nicht, aber an Gewissen […]!28
In Italien wurde Dostoevskij – wie überhaupt die ganze russische Literatur und Kultur – zunächst durch die französische Vermittlung von Melchior de Vogüé bekannt, der zur italienischen Übersetzung von Dostoevskijs Arme Leute (Povera gente, 1891) ein Vorwort schrieb, und dessen Le Roman russe (1886) das Bild, das über 264
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die russische Literatur und Kultur in Italien existierte, noch lange Zeit prägen sollte. Dostoevskij wurde in Italien als ein Autor geschätzt, der den Zugang zur russischen Kultur und zur russischen Mentalität erschloss. Ab den 1920er Jahren entwickelte sich in Italien die Slavistik als wissenschaftliche Disziplin insbesondere durch die zahlreichen Übersetzungen und das umfangreiche wissenschaftliche und kulturhistorische Werk von Ettore Lo Gatto (1890–1983), ursprünglich Germanist, Begründer der Slavistik in Italien. Er übersetzte 1919 die Aufzeichnungen aus dem Untergrund und publizierte u. a. Die Probleme der russischen Literatur (I problemi della letteratura russa, Napoli 1921); die immer wieder aufgelegte und auch ins Deutsche übersetzte Geschichte der russischen Literatur (Storia della letteratura russa, 8 Bände, 1927–31); 1960 hat er Der Mythos von Sankt Petersburg (Il mito di Pietroburgo) veröffentlicht, in dem auch von Dostoevskij die Rede ist, und 1971 Russen in Italien: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Russi in Italia: Dal secolo XVII ad oggi, Roma 1971). Er übersetzte Lev Šestovs Dostojewski und Nietzsche – Philosophie der Tragödie (Petersburg 1903; deutsche Übersetzung Köln 1924) ins Italienische (La filosofia della tragedia –Dostoevski e Nietzsche, Napoli 1950). Seine Publikationen erregten Aufsehen und weckten das Interesse für russische Literatur in Italien.29 Erst das 1926 gegründete Turiner Verlagshaus Slavia lieferte werkgetreue Übersetzungen, die auf der russischen Originalsprache und nicht auf einer französischen Übersetzung beruhten. Mit Piero Gobettis Studie „Der Klassische Dostoevskij“ („Dostoievschi classico“, in Il Baretti 3, no. 3, 1926), avancierte Dostoevskij in Italien zum Klassiker von universaler Bedeutung.30
Abb. 76: Luigi Pirandello, Porträtaufnahme 265
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Luigi Pirandello (1867–1936) erklärte in einem Interview, dass er von den russischen Autoren vor allem von Dostoevskij beeinflusst worden sei.31 Alberto Moravia (1907–1990) berief sich wiederholt auf Dostoevskij; Die Gleichgültigen (Gli Indifferenti, 1929) sind stärker von Dostoevskij als von der Existentialphilosophie beeinflusst.32 Auch in Carlo Emilio Gaddas (1893–1973) literarischem Werk finden sich zahlreiche Dostoevskij-Reminiszenzen. Zu einer Zeit, da Dostoevskij in Italien als ein exzentrischer Autor galt, distanziert sich Gadda vom allgemeinen DostoevskijBild, wenn er vor allem die formalen, erzähltechnischen Qualitäten des russischen Autors hervorhebt.33 Gabriele d’Annunzio (1863–1938) hat die Erzähltechnik des inneren Monologs von Dostoevskij übernommen.34 Federigo Tozzis (1883–1920) Romanwerk weist ebenfalls thematische und stilistische Analogien mit Dostoevskij auf.35 Italo Svevo (eigentlich Aron Hector Schmitz, genannt Ettore Schmitz) (1861– 1928), der Schuld und Sühne in einer deutschen Übersetzung las, griff in seiner Erzählung Der Mord in der Via Belpoggio (L’Assassinio di Via Belpoggio, 1890) zudem auf „Schuld und Sühne“-Motive aus bisweilen reißerischen italienischen Populärromanen zurück, die ihrerseits auf Übersetzungen beruhten, die das russische Original auf den französischen bzw. italienischen Geschmack hin verkürzt oder durch erklärende Zusätze erweitert hatten.36
Abb. 77: Porträt der Gräfin Emilia Pardo Bázan von Joaquin Vaamonde, 1896 In Spanien war es zunächst Gräfin Emilia Pardo Bázan (1851–1921), die mit ihren Vorlesungen über „Revolution und Literatur in Russland“, die sie 1887 publizierte (La revolucion y la novela en Rusia), und weiteren Veröffentlichungen Dostoevskij in Spanien bekannt machte und die ersten Übersetzungen seines Werkes ins Spanische veranlasste. Des Russischen nicht mächtig, hatte sie sich in französischen 266
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Quellen, vor allem vermittels Melchior de Vogüé, über Dostoevskij informiert, nannte ihn einen „erstaunlichen Psychologen“, einen „Mystiker“ und „Visionär“ und verglich sein Universum mit Dantes Inferno.37 Die ersten auf den russischen Originaltexten beruhenden Übersetzungen wurden ab den 1920er Jahren von russischen Emigranten gefertigt, die sich in Spanien niedergelassen hatten.38 „Mein Russland ist das Russland Dostoevskijs“, schrieb Miguel de Unanumo (1864–1936) in seinem Dostoevskij-Essay „Ein russophiler Fremder“ („Un extraño rusófilo“, 28. Oktober 1914).39 De Unanumos Romane Nebel (Niebla, 1914) und San Mañuel Bueno, Märtyrer (San Mañuel Bueno, Mártir, 1931) stehen unter dem Einfluss Dostoevskijs. Er gilt als der „spanische“ Dostoevskij.
Abb. 78: José Ortega y Gasset, Porträtaufnahme, 1950 José Ortega y Gasset (1883–1955) widmete Dostoevskij mehrere Artikel und sah in ihm die Rückkehr zu einer dynamischen, „barocken“ Romanästhetik.40 Er, Miguel de Unanumo und Pío Baroja (1872–1956), der das Erscheinen Dostoevskijs in der Literatur „eines der außergewöhnlichsten Ereignisse des 19. Jahrhunderts“ nannte,41 waren die ersten spanischen Schriftsteller, die von Dostoevskijs Werk beeinflusst waren. Baroja war sein Leben lang ein enthusiastischer Bewunderer Dostoevskijs und widmete ihm zahlreiche Essays. Im Werk der brasilianischen Autoren Alfonso Henriques de Lima Barreto (1881–1922) und Machado de Assis (1839–1908) ist Dostoevskij ebenfalls präsent. Auch in der zeitgenössischen spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen Literatur hat Dostoevski Spuren hinterlassen. Der kolumbianische Romancier Gabriel García Marquez (1927–2014) betrachtete ihn als seinen Lehrmeister; der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz (1914– 1998) nannte ihn „unseren großen Zeitgenossen”.42 Der portugiesische Autor José 267
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Saramago (1922–2010) bezieht sich mit Der Doppelgänger (O Homen Duplicado, 2002) auf Dostoevskijs Doppelgänger; die urugayische Autorin Cristina Peri Rossi (*1941) mit Die letzte Nacht Dostoevskijs (La última noche de Dostoievski, 1992) auf den Spieler. In der Nachfolge von Bachtins idealisierender Konzeption des Dialogismus und der Polyphonie (Probleme der Poetik Dostoevskijs, 1929) hat die Vergleichende Literaturwissenschaft bei der Untersuchung der Nachwirkung Dostoevskijs auf den modernen Roman vor allem polyphone und dialogische Strukturen herausgearbeitet. Dabei hat sie das Monologische, Monomanische und Problematische, die Thematisierung des subjektiven Bewusstseins einschließlich des Unbewussten in Dostoevskijs Werk vernachlässigt oder ignoriert, das jedoch auf die Romane zahlreicher Autoren der Moderne themen- und strukturbildend wirkte.43 Vollzog sich in Frankreich die Rezeption Dostoevskijs im Wesentlichen im Zeichen des Existentialismus, so dominiert in der englischsprachigen, besonders US-amerikanischen Rezeption44 erwartungsgemäß ein anderer Aspekt: der kriminologische. Dostoevskij steht für die Darstellung des Mordes als Faszinosum. Dazu zunächst eine Vorbemerkung: Nach unterschiedlichen statistischen Erhebungen in den USA ist von fremdsprachigen Literaturen auf aktuellen Listen von sogenannten „critical editions“ die russische Literatur mit zehn Titeln am stärksten vertreten, darunter drei Nennungen Dostoevskijs: The Brothers Karamazov, Crime and Punishment und Notes from Underground. Die französische Literatur bringt es auf sechs Nennungen; die deutsche hat dort lediglich Goethes Faust und The Communist Manifesto zu bieten, also weniger als Dostoevskij allein! Das ist natürlich eher als paradoxes Kuriosum zu bewerten, aber dennoch ein Indiz für die ungewöhnliche Popularität Dostoevskijs auch in den USA, und dafür gleich noch ein weiterer ungewöhnlicher Beleg: 1984 kam erstmals in New Haven eine Parodie von Christopher Durang (geb. 1949) und Albert Innaurato (geb. 1947) erfolgreich auf die Bühne: The Idiots Karamazov, in der nicht nur die Brüder Karamazov, sondern auch solche Verehrer der russischen Literatur wie Ernest Hemmingway (1899– 1961), Eugene O’Neill (1888–1953) und Anaïs Nin (1903–1977) verulkt werden. Eine Parodie funktioniert nur auf dem Hintergrund selbstverständlicher Vertrautheit mit dem Bezugstext.
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Dostoevskijs Ausstrahlungszentren sind seine Romane Schuld und Sühne und Die Brüder Karamazov, ferner seine Darstellung des Strafvollzugs im sibirischen Zuchthaus in den Aufzeichnungen aus einem Toten Haus. Wo immer es in der amerikanischen Literatur um kriminologische Sachverhalte, um die Psychopathologie der Täterpersönlichkeit und um den Zusammenhang von Verbrechen und Strafe geht, darf Dostoevskij und sein Werk als Hintergrund angenommen werden. Hinter Theodore Dreisers (1871–1945) Hauptwerk Eine amerikanische Tragödie (An American Tragedy, 1925) werden sowohl die Einsamkeit des Mörders Raskol’nikov als auch der Justizirrtum der Brüder Karamazov sichtbar. Clyde Griffith, die Hauptfigur des Romans, bringt seine ihn störende Geliebte nicht eigentlich um, sondern unterlässt die rettende Hilfeleistung nach einem Bootsunfall. Vereinsamt wie Raskol’nikov wird er angeklagt und in einem ebenso spektakulären Prozess wie Dmitrij Karamazov verurteilt, in den USA jedoch zum Tode, und hingerichtet. Die stark sozialkritisch orientierte Darstellung hat zusammen mit dem Sujet den Mainzer Soziologen W. E. Mühlmann (1904–1988) veranlasst, den Roman nicht als amerikanische, sondern als russische Tragödie zu bezeichnen. Auch des Afro-Amerikaners Richard Wrights (1908–1960) Hauptwerk Sohn dieses Landes (Native Son, 1940) ist deutlich erkennbar Dostoevskijs beiden oben genannten Romanen nachgestaltet. Bigger, die Zentralgestalt des Romans, der in Panikreaktionen zwei Frauen ermordet und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wird, ist ein Antiheld wie Raskol’nikov, der hier aber als Opfer gesellschaftlichen Unrechts zum Mörder wird. Und in Truman Capotes (1924–1984) zentralem Werk Kaltblütig (In Cold Blood, 1966), dem, wie es im Text heißt, „wahrhaftigen Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen“, tritt gewissermaßen Smerdjakov in der Doppelgestalt von Perry Smith und Dick Hickock in Kansas auf. Die Wirklichkeit lieferte den Stoff: In sozialer Vernachlässigung aufgewachsen begehen die beiden Mörder ihre Untat an einer wohlhabenden Familie kaltblütig geplant und abgesichert. Als Lektüre des einen der beiden jugendlichen Mörder werden die Brüder Karamazov sogar als Prätext zitiert. Auffallend ist auch das für Dostoevskij typische Verfahren, die entscheidenden Ereignisse Mord, Flucht, Verfolgung, Verurteilung und Hinrichtung auf nur ganz wenige Tage zu konzentrieren.
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Abb. 79: William Faulkner, Fotografie, 1960 Besonders intensiv hat sich William Faulkner (1897–1962) mit Dostoevskij auseinandergesetzt. Sein Roman Schall und Rauch (The Sound and the Fury, 1929) hat in der zentralen Gestalt des Quentin Compson ganz auffällige Parallelen zu Raskol’nikov: Beide sind Jurastudenten, beide tief an ihre Schwester gebunden und hassen deren Liebhaber, beide haben einen Hang zu einsamen Spaziergängen, meist entlang an Wasserläufen, Raskol’nikov versetzt die Taschenuhr seines Vaters bei der Pfandleiherin Alëna, Quentin Compson bringt sie in einer breiten Szene zur Reparatur zu einem Uhrmacher; als Quentin Compson sich vor einem Richter verantworten soll, weil er ein Mädchen entführt habe, bricht er in ein ähnliches Gelächter aus wie Raskol’nikov, als dieser aufs Polizeirevier geladen wird, weil er mit der Miete bei seiner Wirtin im Rückstand ist. Beide, Raskol’nikov und Quentin Compson, sind durch eine besonders sensible sittliche Reizbarkeit ausgezeichnet. Bei Raskol’nikov führt sie bekanntlich – durch seine Idee motiviert – zum Mord, der am Tatort zum ungeplanten Doppelmord erweitert wird. Bei Compson ist das Resultat seiner Reizbarkeit Selbstmord. Diese Unterschiedlichkeiten auf dem Boden von Gemeinsamkeiten, die Faulkner auch eingestanden hat, verweisen auf den schöpferischen Umgang des Amerikaners mit seinem russischen Vorbild. Durch minutiös herausgearbeitete Parallelen und intertextuelle Verweise ist auch eine enge Bezugnahme von Faulkners sensationellem Roman Die Freistatt (Sanctuary, 1931) mit Schuld und Sühne aufgezeigt worden.45 270
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Abb. 80: Ernest Hemmingway, Porträtaufnahme, 1960 Obwohl für Ernest Hemmingway (1899–1961) von den russischen Autoren Ivan Turgenev das bevorzugte und geschätzte literarische Bezugsmuster bot, hat er doch in seinem ersten Roman Fiesta (1926) sich an Dostoevskijs Roman Der Idiot orientiert. Beide Zentralgestalten, Jake Barnes und Myškin sind allem Anschein nach impotent und werden von je einer Kontrastfigur flankiert, die sich in leidenschaftlicher Liebe zu einer Frau verzehrt: Rogožin zu Nastasja Fillipovna – Cohn zu Lady Brett Ashley. Hemmingway hat 1920 geschrieben: Bei Dostoevskij gab es Glaubhaftes und Unglaubhaftes, aber manches davon so wahr, dass es beim Lesen einen anderen Menschen aus dir macht. Bei ihm konnte man Schwäche und Wahnsinn, Verruchtheit und Heiligkeit und den Irrsinn des Glückspiels kennenlernen […].46
Neuerdings ist der Nachweis geführt worden, dass Dostoevskijs Roman Der Jüngling (Podrostok) die Vorlage für eine moderne und folgenreiche Darstellung der Psychologie des Jugendalters abgegeben hat, nämlich Jerome David Salingers (1919–2010) Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye, 1951). Zu den thematischen Gemeinsamkeiten gehören die zentrale Gestaltung der Krise des pubertären Bewusstseins, der Aufbruch in die Welt als abenteuerlicher Streifzug durch eine Großstadt, die Isolation, Überforderung und problematische Gesundung des Helden, die magische Einwirkung des Sexuellen, das fehlende Verständnis der Eltern, die Suche nach einem Mentor, die Hinwendung zur Schwester. In beiden Romanen trägt die negativste Gestalt den Vornamen Maurice. Bei so viel Entsprechung meint Horst-Jürgen
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Gerigk sogar, Salinger habe seinen Roman auf der Folie von Dostoevskijs Jüngling geschrieben.47
Abb. 81: Jerome David Salinger, Porträtaufnahme Zur US-amerikanischen Kultur, zur mediatisierten Literatur gehört Hollywood. Ein Blick auf amerikanische Dostoevskij-Verfilmungen soll diesen Überblick beschließen. 1935 brachten die Columbia-Pictures in der Regie von Joseph von Sternberg einen Film Crime and Punishment in die Kinos, in dem mit der Vorlage so frei umgesprungen wurde, dass Raskol’nikov zu einem amerikanischen College-Studenten werden konnte, der nicht mit dem Beil, sondern mit dem Schürhaken mordet, wobei der zweite Mord an der tumben Lizaveta fehlt, so dass ein wesentlicher Sinnaspekt verloren ging. Pikant auch, dass Raskol’nikovs Napoleon-Theorie von Beethovens Eroica untermalt wurde. 1958 verfilmte die Metro Goldwyn Mayr The Brothers Karamazov. Regie führte Richard Brooks, der auch das Drehbuch verfasst hatte. Den Dmitrij Karamazov spielte Yul Brynner, die Grušenka Maria Schell, William Shatner den Alëša, Richard Basehart den Ivan, Lee J. Cobb den Fëdor Karamazov und Claire Bloom die stolze Katerina Ivanovna. Der Film, – der mit einem typisch Hollywood’schen Happy End endet: Grušenka und Dmitrij fliehen in die Freiheit – ist auch im deutschen Fernsehen gelaufen und kann auf Unterhaltungswert rechnen. Erwähnt sei noch eine Hollywood-Verfilmung von Dostoevskijs Leben unter dem Titel Der große Sünder (The Great Sinner, 1949, Regie Robert Siodmak) in dem Gregory Peck den Schriftsteller spielte, in deutschen Kinos ist er unter dem ebenfalls irreführenden Titel Der Spieler gelaufen. Die Präsenz Dostoevskijs ist gemessen an dem eingangs gezeigten sehr eingeschränkten Umgang der US-Amerikaner mit 272
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fremdsprachigen Literaturen ganz außerordentlich, es findet sich kaum ein Autor des 19. Jahrhunderts, der noch heute in den USA so aktuell ist wie Dostoevskij. Henry Miller (1891–1980) war ein enthusiastischer Dostoevskij-Verehrer, ohne ihm jedoch stilistisch und ideologisch zu folgen. In Plexus (1953) projiziert er in Dostoevskijs Porträt die auch bei anderen Dostoevskij-Rezipienten gängigen Klischees des typischen Slaven: „So Slavic, so moujik-like.“48 Der amerikanische Dichter und Kritiker Ezra Pound (1885–1972) meinte, der englische Autor Wyndam Lewis (1882–1957) sei der einzige britische Schriftsteller, der mit Dostoevskij verglichen werden könnte.49 Oscar Wilde (1854–1900) deutete Erniedrigte und Beleidigte als autobiographische Studie Dostoevskijs,50 wobei – Jahrzehnte vor Bachtin – er ausdrücklich darauf hinwies, dass es sich dabei nicht um Egozentrik handle, sondern dass Dostoevskij es verstünde, die Dinge aus verschiedenen Sichtweisen zu vermitteln.51
Abb. 82: Oscar Wilde, Fotografie, 1882
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Abb. 83: Knut Hamsun, Fotografie, um 1920
In den skandinavischen Ländern, in denen die deutsche Sprache bis ins 20. Jahrhundert als Verkehrssprache weit verbreitet war, wurden Dostoevskijs Werke vielfach aus dem Deutschen und nicht aus dem Original übersetzt.52 Aber ähnlich wie in Deutschland wurden einzelne Werke Dostoevskijs schon zu Lebzeiten des Autors, etwa ins Schwedische (Erniedrigte und Beleidigte, 1881) direkt übertragen. In anderen europäischen Ländern kamen die ersten Übersetzungen erst nach Dostoevskijs Tod heraus: ins Tschechische 1882 („Aninka“ = Netočka Nezvanova); ins Dänische 1884 (Arme Leute), im gleichen Jahr ins Norwegische (Schuld und Sühne). Der norwegische Autor Knut Hamsun (1852–1962), der Schuld und Sühne in der deutschen Übersetzung von Wilhelm Henckel (Raskolnikov, 1882) gelesen hatte, orientierte sich in seinem ersten, international rezipierten Roman Hunger (1890) am Vorbild Dostoevskijs. 1885 folgten erste Übersetzungen ins Niederländische, unter dem Titel Schuld und Sühne wahrscheinlich aus dem Deutschen, und ins Englische (Crime and Punishment). Die Zeitschrift Scando-Slavica in Kopenhagen ist eine renommierte slavistische Fachzeitschrift, in der zahlreiche Beiträge zu Dostoevskij veröffentlicht wurden.53 Beim deutschsprachigen Lesepublikum repräsentierte in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts unangefochten Ivan Turgenev – etwas später neben ihm noch Lev Tolstoj – die russische Literatur. Einige Übersetzungen aus dem Werk Dostoevskijs – ein Teil der Armen Leute war bereits 1846, die Aufzeichnungen 274
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aus einem Toten Haus in den 1860er Jahren erschienen – hatten keinerlei Erfolg. Das änderte sich in den 1880er Jahren mit dem Aufkommen des Naturalismus in Deutschland. Diese Rezeptionsbedingungen rückten die gesellschaftskritischen Darstellungen in der russischen Literatur in den Blick, eigentlich entsprechend den Interessenlagen der linken Literaturkritik in Russland. Im Deutschen und zum Teil westeuropäischen intellektuellen Diskurs um die Wende zum 20. Jahrhundert und danach, scheinbar bestätigt von politischen Erschütterungen (Erster Weltkrieg und auf ihn folgende Revolutionen) hat sich das Gefühl einer Zeitenwende ausgebreitet, eines Werte- und Daseinswandels von globalen Dimensionen, der oft als europäische Kulturkrise beschrieben worden ist (vgl. z. B. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes oder das in Russland verbreitete Schlagwort von einer Katastrophenzeit [katastrofičnost’]). Weit verbreitet war die Idee von der Altersschwäche und Sterilität der (west)europäischen („abendländischen“) Kultur und ihrer erwarteten Erneuerung aus dem jugendfrischen, unverbrauchten wilden Osten (ex oriente lux). Sie schuf ein Rezeptionsklima, in dem Dostoevskijs „monströse Romane“ (u. a. de Vogüé) mit ihren extremen Situationen, Schicksalen und Psychologien sozusagen als Bestätigung für die darin stattfindenden Entgrenzungen aus der Tradition einer diszipliniert maßvollen und sich moralisch und letztlich auch rational begründenden Ästhetik verstanden wurden. In diesem Zusammenhang entstanden die kulturellen Stereotypen von Russland als dem barbarischen, wilden, unberechenbaren, unzivilisierten und unbeherrschbaren Volk im Osten, das als Bedrohung und Erneuerung zugleich empfunden wurde,54 – und noch wird. Dieses Denkmuster hat sich – politisch instrumentalisiert – bis heute in der sogenannten „westlichen Wertegemeinschaft“ gehalten, die sich gegen ein aggressives Russland glaubt schützen zu müssen. Es ist hier allerdings nicht der Ort, diese Rezeptionsbedingungen weiter zu verfolgen, sie seien aber wenigstens erwähnt, um den Kontext der frühen Rezeption der Prosa Dostoevskijs zu beleuchten. Im Weiteren geht es vielmehr nur um die persönlichen Beweggründe und Haltungen solcher Autoren, die sich von dem Werk des Russen besonders beeindruckt fühlten. Schon 1882 – früher als in den Nachbarländern – war der Roman Schuld und Sühne in der Übersetzung von Wilhelm Henckel (1825–1910) unter dem Titel Raskol’nikov erschienen und von der Kritik mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen worden. Innerhalb der nächsten zehn Jahre lagen fast alle wichtigen Werke Dostoevskijs in deutschen Übersetzungen vor. Erste Rezensionen und Stellung275
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nahmen bescheinigten ihm ein tiefes Humanitätsgefühl, hervorragende psychologische Beobachtungsgabe und auch Informationswert: Man könne aus Dostoevskijs Romanen russisches Denken und Handeln viel besser kennenlernen als aus mancher wissenschaftlichen Abhandlung. Damit zielte der Rezensent auf das wachsende Interesse deutscher Leser an dem „Rätsel“ Russland. Noch wird Dostoevskij – z. B. von Eugen Zabel (1851–1924) – an Turgenev gemessen und nicht zu seinem Vorteil: Biete der Roman Raskol’nikov auch hervorragendes Material zum Studium der russischen Zeitgeschichte, der sozialen Mißstände und des russischen Volkscharakters und sei auch die Analyse des Verbrechens und des Sühnebedürfnisses eindrucksvoll gelungen, so mangele es Dostoevskij doch an der strengen Zucht kompositorischer Gestaltung, an der klaren Ausarbeitung und Motivation seiner Gestalten und ihres natürlichen kulturellen Umfeldes, wie man das von Turgenev gewohnt sei (vgl. Zabel 1884).
Abb. 84: Carl Bleibtreu
Abb. 85: Hermann Conradi
Bald kam es zur Stellungnahme der Naturalisten. Carl Bleibtreu (1859–1928) schrieb 1887 in seiner Revolution der Literatur, der neue naturalistische Roman werde aus einer Mischung der Elemente von Émile Zolas (1840–1902) Germinal (1885) und Dostoevskijs Raskol’nikov hervorgehen, dessen „virtuose Technik“ – Turgenev ist nun kein Muster mehr! – und „wundervolle psychologische Ausführung“ Bleibtreu besonders beeindrucken. Niemals ist das Weltproblem, um das sich das Menschenleben seit Adam und Eva dreht, die allbeherrschende Gewalt des unbekannten Gottes, der uns eingeboren und den wir Gewissen nennen, so erschöpfend dargetan worden.55
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1889 legte Hermann Conradi (1862–1890) in der Zeitschrift Die Gesellschaft einen temperamentvollen Aufsatz über Dostoevskij vor,56 den er als unübertroffenen Menschendarsteller mit besonderer Sympathie für Elende und Heruntergekommene preist, und das sogenannte „Überflüssige“ in seinen Romanen, nämlich breite Beichtszenen und ausführliche Ausgestaltung auch der Nebenfiguren und Nebenhandlungen als Vorzug rühmt. Ohne den Begriff „Polyphonie“ zu verwenden, wird hier schon lange vor Bachtin die vielstimmige Darbietungsweise Dostoevskijs erkannt. 1886 hatte Conradi in der Vorrede zu seiner Erzählsammlung Brutalitäten (in Gesammelte Schriften, Bd. 3) Dostoevskij als seinen „Meister“ bezeichnet, und ihn den Urheber eines auf das moderne Leben ausgerichteten Realismus genannt.
Abb. 86: Gerhart Hauptmann, Gemälde von Max Liebermann, 1912 „Das größte Erlebnis, das mich immerwährend durchwühlte, [blieb] Dostojewski,“ schreibt Gerhart Hauptmann (1862–1946) in seiner autobiographischen Schrift Das Abenteuer meiner Jugend (1937).57 Die Kritik hat seinen Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint (1910) mit Dostoevskijs Myškin als angebliche Nachfolger Christi in Verbindung gebracht. Sie sind aber wohl eher als Reaktion auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verste-
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hen, beide, Myškin und Quint, sind psychisch labil, naiv, lebensfremd und scheitern auch deshalb. Auch der damals sehr einflussreiche dänische Kritiker Georg Brandes (1842– 1927) orientierte sich an der Leitidee des Naturalismus und nannte Dostoevskij einen „Dichter des Proletariats“, für den das Mitleid eine Art Religion darstelle. Nietzsches Antichrist (1894) kann ebenfalls als unmittelbare Frucht der Rezeption Dostoevskijs angesehen werden. Hermann Bahr (1863–1934) erklärt Dostoevskijs ungeheure Wirkung in Deutschland und Westeuropa mit dessen unbedingtem Christentum. Alle seine Romanfiguren repräsentieren die tiefe Überzeugung, dass das Leben, die Existenz „Gott nicht entgehen kann“. Für Bahr ist Dostoevskij ein Fundamentalchrist, er akzeptiert auch Dostoevskijs christlichen Nationalismus und den Alleinvertretungsanspruch der Russen unter den christlichen Völkern.
Abb. 87: Elisabeth Kaerrick, um 1920 Abb. 88: Johannes von Guenther, um 1966 1899 erschien die erste deutsche Biographie Dostoevskijs von Nina Hoffmann.58 1922 veröffentlichte Elisabeth Kaerrick (1886–1966) unter dem Pseudonym E. K. Rahsin ihre Übersetzung des Gesamtwerkes von Dostoevskij in 22 Bänden (plus 7 Zusatzbände). An diesem Unternehmen, aus dem der Reinhard-PiperVerlag hervorgegangen ist, haben neben diesem Verleger noch Elisabeth Kaerricks Schwester Lucy (1877–1965) und ihr Gatte, Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) mitgearbeitet.59 „Dostojewskijs Werke wühlten uns auf. Die roten Piper-Bände leuchteten wie Flammenzeichen von jedem Schreibtisch“, erinnerte sich Hans-Georg Gadamer.60 278
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Übersetzungen haben im 20. Jahrhundert u. a. Werner Bergengruen (1892–1962), Alexander Eliasberg (1878–1924), Arthur Luther (1876–1955) und der Baltendeutsche Johannes von Guuenther (1886–1973) vorgelegt, der einer der produktivsten Übersetzer und Vermittler der russischen Literatur war. Große Beachtung fand zuletzt Swetlana Geier (1923–2010), die 1988 bis 2006 die fünf großen Romane mit zum Teil neuen, wörtlich übersetzten Titeln herausgebracht hat: „Verbrechen und Strafe“ (1994) für „Schuld und Sühne“ oder „Raskolnikov“; „Böse Geister“ (1998) für „Die Dämonen“, „Die Teufel“ oder „Die Besessenen“; „Ein grüner Junge“ (2006) für „Der Jüngling“, „Ein Werdender“, „Werdejahre“, „Junger Nachwuchs“, „Der Sprößling“, „Der Halbstarke“. Für die frühe Resonanz, die Dostoevskij schon um 1900 im deutschen Sprachraum fand, mag ein Auszug aus einem Dostoevskij gewidmeten Gedicht von Christian Morgenstern (1871–1914) zeugen: […] An dir soll man sich nähren hier und dort, an dir des Herzens Unruh wieder lernen, Du Glut aus Steppenbrand und Gottessternen, Nicht Künder bloß, du selbst ein neues Wort.61
Der sozialdemokratische Kritiker und nachmalige Ministerpräsident der Räterepublik Bayern 1918 Kurt Eisner (1867–1919) resümierte 1901 die erste naturalistische Welle der deutschen Dostoevskij-Rezeption wie folgt: Die deutschen Naturalisten sind gleichsam mit Raskol’nikov aufgewachsen […]. Die Deklassierten der Bourgeoisie, die der nationalen Autorität Entlaufenen, trafen in Dostoevskijs unheimlicher Schicksalsdichtung, die das Fatum des Gehirns schildert, verwandte Stimmungen […]. Vor allem berauschten sie sich an der Psychologie des Raskol’nikov. Sie hatten die Begierde der Jugend ins Chaos des triebhaften Bewusstseins zu tauchen, das nicht im Denken geordnet ist, sich einzuwühlen in die Wirrnis des gärenden Selbst, sich zu berauschen, sich der versteckten Blößen, Lügen und Tücken zu überführen, der eigene Detektiv zu sein.62
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Abb. 89: Oswald Spengler, Porträtaufnahme, um 1930
Abb. 90: Sigmund Freud, Porträtaufnahme, 1926
Der Naturalismus hat die Basis für die Geltung Dostoevskijs im deutschen literarischen und ideellen Diskurs gelegt. Von Interesse ist eine indirekte Polemik um Dostoevskij zwischen Oswald Spengler (1880–1936) und Sigmund Freud (1856–1939). Spengler hatte im Untergang des Abendlandes (1922) Dostoevskij zum Propheten der Zukunft nicht nur in Russland stilisiert. Tolstoj ist das vergangene, Dostoevskij das kommende Russland. Das Christentum Tolstojs war ein Missverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostoevskijs gehört das nächste Jahrtausend […]. Dostoevskij sieht über alles Soziale hinweg. Die Dinge der Welt erscheinen ihm so unbedeutend, dass er auf ihre Verleumdung keinen Wert legt.63
Sigmund Freud dagegen, fünf Jahre später in seinem Aufsatz Dostojewskij und die Vatertötung (1928): Dostoevskij hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden. Er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt. Die kulturelle Zukunft wird ihm wenig zu danken haben. Nach den heftigsten Kämpfen, die Triebansprüche des Individuums mit den Forderungen der menschlichen Gemein-
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schaft zu versöhnen, landete Dostoevskij rückläufig bei der Unterwerfung unter die weltliche wie unter die geistliche Autorität, bei der Ehrfurcht vor dem Zaren und vor dem Christengott und bei einem engherzigen russischen Nationalismus […]. Es lässt sich wahrscheinlich zeigen, dass er durch seine Neurosen zu solchem Scheitern verdammt wurde. Nach der Höhe seiner Intelligenz und der Stärke seiner Menschenliebe wäre ihm ein anderer, apostolischer Lebensweg eröffnet gewesen.64
Das bezieht sich auf Dostoevskij als Ideologen, von dem Freud den Schriftsteller strikt trennt, vor dem, der mit den Brüdern Karamazov und dem „Großinquisitor“ eine der Höchstleistungen der Weltliteratur vollbrachte habe, er indes die Waffen strecke.65 Totalitäre Ideologen haben auch im deutschen Sprachraum ihre Schwierigkeiten mit Dostoevskij gehabt. Für Georg Lukács (1885–1971) ist Dostoevskij der veraltete Dichter des geschichtlichen Chaos, dem sozusagen wider Willen nur in seinen Atheisten überzeugende Figuren gelungen seien, während seine positiven religiösen Gestalten von Lukács als krank und morbide abgetan werden,66 was Theodor W. Adorno (1903–1969) sehr ärgerlich gerügt hatte.67 In der negativen Einschätzung des Kranken bei Dostoevskij trifft sich Lukács mit dem Ideologen des Faschismus Alfred Rosenberg (1893–1946), der in seinem Mythus des 20. Jahrhunderts über die „kranken, gebrochenen, angefaulten Gestalten“ Dostoevskijs gehöhnt hat, „mit dieser russischen Krankheit, Verbrecher als Unglückliche und Morsche und Verfaulte als Symbole der Menschlichkeit hinzustellen, muss ein für alle Mal aufgeräumt werden.“68 Dass der junge Joseph Goebbels (1897–1945) dagegen Dostoevskij anerkennend zitiert, ist gewiss eine Ausnahme.69 Unter den deutschsprachigen Schriftstellern haben sich besonders Hermann Hesse (1877–1962), Stefan Zweig (1891–1942) und Thomas Mann (1875–1955) mit Dostoevskij beschäftigt.
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Abb. 91: Stefan Zweig, Porträtaufnahme, 1920
Abb. 92: Hermann Hesse in seiner Bibliothek, um 1950
Hermann Hesse hat zwischen 1915 und 1919 in drei Artikeln die Romane Der Jüngling, Der Idiot und Die Brüder Karamazov behandelt, 1921 wurden sie unter dem Titel Blick ins Chaos zu einer Publikation vereinigt.70 In den „Gedanken zu Dostojewsky’s ‚Idiot‘“ (1920) spricht Hesse von dem „magischen Denken“, das Myškin vor epileptischen Anfällen erlebe und vor aller Erfahrung und Erkenntnis den ungeteiten Urgrund allen Seins empfinde, „um an den Wurzeln unseres Seins vergessene Triebe und Entwicklungsmöglichkeiten aufzufinden […]. Der Idiot, zu Ende gedacht, führt das Mutterrecht des Unbewussten ein, hebt die Kultur auf.“71 Der von Hesse gewählte Titel zeigt, dass er in Dostoevskijs Werk den Geist der Krise seiner Zeit empfindet. Besonderes Interesse verdienen Hesses Ausführungen über das „unglaublich kühne, ja freche Kunststück“ des Jünglings, eines damals ja noch verkannten Opus von Dostoevskij. Der Roman Die Brüder Karamazov hat Hesse zu pessimistischen Vorstellungen über Europas Zukunft angeregt.72 Stefan Zweig lobt 1920 Dostoevskij als „größten Grenzüberschreiter“, der gerade im Maßlosen „Neuland der Seele“ entdeckt habe, und den „traumwandlerischen Aufstieg zu den schwindelnden Gipfeln des Selbsterkennens“ vorführe. Er bezeichnet ihn als Realisten und Propheten in einer Person.73 Zweig charakterisiert Dostoevskijs Prosa als dramatisch strukturiert, dies vor allem durch Konzentration der Handlung auf begrenzte Zeit des Geschehens und durch das Vorherrschen des Dialogs. Da nimmt sich Hesses Einschätzung Dostoevskijs ergreifender aus.
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Wir müssen Dostoevskij lesen, wenn wir elend sind, wenn wir bis zur Grenze unserer Leidensfähigkeit gelitten haben und das ganze Leben als eine einzige glühende Wunde empfinden […] wenn wir Verzweiflung atmen […] sind wir offen für die Musik dieses schrecklichen und herrlichen Dichters.74
Kaum ein deutscher Schriftsteller hat sich so intensiv und kontinuierlich sein ganzes Leben hindurch mit russischer Literatur beschäftigt wie Thomas Mann (1875–1955). Für ihn ist Dostoevskij zunächst „einer der tiefsten und gewaltigsten Religiösen aller Zeiten.“75 In den Betrachtungen eines Unpolitischen geht Thomas Mann von einer Nähe der deutschen und russischen Kultur und Geistigkeit aus, die sich von der „Zivilisation“ der westeuropäischen besonders französisch geprägten Kulturtradition unterscheide. Damit schließt er an Thesen Dostoevskijs im Tagebuch eines Schriftstellers an, insbesondere an Dostoevskijs Charakterisierung des deutschen Protestantismus als fortgesetztem und schließlich siegreichem Protest gegen die rational bestimmte westeuropäisch französische Kulturtradition. Die Deutschen stünden für Protest gegen Katholizismus, Rationalismus, Kosmopolitismus, Sozialismus und emanzipatorischen Intellektualismus. So deutet Thomas Mann den Ersten Weltkrieg als einen Ausbruch des ewigen deutschen Kampfes gegen den analysierenden Geist des Westens. Deutsche und russische Menschlichkeit seien einander näher als etwa russische und französische, und erst recht näher als die lateinische Tradition des Westens. Russische und deutsche Humanität vereine die Erfahrung des Leidens. Russische Menschlichkeit und deutsche Innerlichkeit korrespondieren miteinander und bilden die Grundlage für die brüderliche Verwandtschaft beider Nationalkulturen.
Abb. 93: Thomas Mann, Porträtaufnahme, 1937
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Thomas Mann hatte sich Dostoevskijs Werk unter dem Einfluss Merežkovskijs angeeignet. Sein späterer Aufsatz „Dostoevskij – mit Maßen“ (1946)76 wird allgemein als vorsichtige Distanz zu Dostoevskij gelesen, aber das scheint eine vorschnelle Folgerung aus dem Titel zu sein, der ja das Vorwort zu einer amerikanischen Ausgabe der kleineren Werke Dostoevskijs bildete, also der knappen maßvollen – im Unterschied zu den die üblichen Maße sprengenden großen Romanen. Immerhin hat auch er in Dostoevskij „ein extraordinäres wildes monströses und ungeheures Ereignis außerhalb aller epischen Überlieferung“ wahrgenommen. Dostoevskij ist für Thomas Mann „schreckhaft und erschütternd groß, mehr großer Sünder denn großer Künstler“, so im Brief vom 28. Juli 1920 an Stefan Zweig. Er spricht weiterhin von „Dostoevskijs apokalyptisch grotesker Leidenswelt“, in ihm sei die Verbindung von Genie, Heiligem, Verbrecher und Krankem verkörpert.77 Er hat gerade während und nach dem Zweiten Weltkrieg besonders stark im Spannungsfeld Dostoevskijs gestanden, der ihm nach eigenem Eingeständnis bei der Arbeit an dem Roman Doktor Faustus stets gegenwärtig war. Das sei nur am Beispiel des Zwiegesprächs von Adrian Leverkühn mit dem Teufel im 25. Kapitel des Romans verdeutlicht, wo erkennbare Spuren des Gesprächs zu finden sind, welches Ivan Karamazov im neunten und zehnten Kapitel des elften Buches der Brüder Karamazov mit dem Teufel führt. In beiden Romanen erschließt sich die innere Welt im Dialog. Ivan Karamazovs Teufel ist eine kleinbürgerliche normale Gestalt und bietet argumentativ eigentlich nichts Neues. Er ist vielmehr die Verkörperung von Ivans negativen Gedanken und Empfindungen. Insofern ist hier der Teufel nicht selbständig, sondern an die Person Ivans gebunden. Er ist seine Halluzination. Der Teufel stellt zwar Ivans ideologische Konstruktionen in Frage, kann aber nicht verhindern, dass die ganze Dimension seines verwestlichten Gedankengebäudes entblößt wird. In Doktor Faustus schließt Adrian Leverkühn einen Pakt mit dem Teufel, der nicht als Höllenfürst oder sich in Mephisto wandelnder Pudel erscheint, sondern als ein Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts, der Adrian ein fertiges weltanschauliches Ideal bietet, das auf der Absage an Vernunft und Kritik gründet. Das ist zwar auch Teil von Adrians Gedankenarbeit, aber zugleich auch Versinnbildlichung von Erscheinungen außerhalb Leverkühns, nämlich des Zeitgeistes, auch in seiner faschistischen Zuspitzung. Insoweit ist der Teufel in Thomas Manns Roman zentraler und weiter gefasst als bei Dostoevskij: Er ist Versucher und Enthemmer, d. h. er entbindet auch produktive Kräfte Leverkühns, er ist intellektueller Musiker, der für 284
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Leverkühn neue Vorschläge und Ideen hat, er kann Leverkühns Katharsis nicht verhindern, für den sich ein Ausweg aus seiner Krise in der Kunst zu eröffnen scheint. Auch Thomas Manns Bruder Heinrich (1871–1950) hat in seiner Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt (1946) Dostoevskij neben Lev Tolstoj als maßgebliche Repräsentanten der „großen russischen Literatur“ gewürdigt. Erst gegen Ende der naturalistischen Phase wurden auch die psychologisch-pathologischen Züge in Dostoevskijs Dichtung hervorgehoben.78 Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) hat in seinem resümierenden Essay Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922) gewiss nicht unbegründet Dostoevskij den geistigen Beherrscher der Epoche genannt: Davon zeugen z. B. Georg Trakl (1887– 1914), der 1913 einen Zyklus Sonja-Gedichte auf Raskol’nikovs Partnerin und Retterin Sonja Marmeladova verfasst hat, die die Unvereinbarkeit von Hure und Heiliger überwunden habe, oder Otto Julius Bierbaum (1865–1910), der in einem Essay Dostojewskij (1910) eine Gegenüberstellung von Dostoevskij und Lev Tolstoj vorgenommen hat, die bis zu Georges Steiners (1929–2020) bekannter Untersuchung Tolstoy or Dostoevsky (New York 1959) die Rezeption des russischen Romanciers wesentlich mitbestimmt hat. Rainer Maria Rilke (1875–1986), bekanntlich ebenfalls ein großer Verehrer der russischen Literatur, dem aber Stil und Geist Dostoevskijs fremd geblieben sind, hatte dennoch die Absicht, den Roman Arme Leute ins Deutsche zu übersetzen.
Abb. 94: Max Brod, Porträtaufnahme, um 1910
Abb. 95: Franz Kafka, Passfoto, 1915
Franz Kafka (1883–1924) hat sich ebenfalls intensiv mit Dostoevskij auseinandergesetzt und nannte ihn seinen „Blutsverwandten“.79 Gegenüber Max Brod 285
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( 1884–1968), der die Meinung vertreten hatte, Dostoevskij würde in seinen Romanen zu viele Geisteskranke auftreten lassen, notierte Kafka am 20. September 1914 in sein Tagebuch: Maxens Einwand gegen Dostojewski, dass er zu viel geistig Kranke auftreten läßt. Vollständig unrichtig. […] So ist z. B. der Karamazov’sche Vater durchaus kein Narr, sondern ein sehr kluger, fast Iwan ebenbürtiger, allerdings böser Mann und viel klüger jedenfalls als sein vom Erzähler unangefochtener Vetter oder Neffe, der Gutsbesitzer, der sich ihm gegenüber so erhaben fühlt.80
Die kafkaeske fiktionale Welt wird eigentlich von Dostoevskij’schen Figuren und Situationen gebildet, die jedoch bis ins groteske Extrem zugespitzt erscheinen und eine geradezu magische Atmosphäre um sich verbreiten. Insofern gehört das Werk Dostoevskijs gewiss zu den wichtigsten Anregungen, die Kafka aufgenommen hat. Für die Expressionisten war Dostoevskij ebenfalls ein höchst anregender und viel diskutierter Autor.81 Alfred Döblin (1878–1957) war schon in der Schulzeit von Raskol’nikov fasziniert. Er nennt Dostevskij einen „gewaltigen Erzähler“. Intensiv hat er das Werk Dostoevskijs, besonders Der Idiot, durchgearbeitet. Lexikalische und stilistische Anleihen seien in Berlin Alexanderplatz (1929) zu vermerken, wie z. B. die Polyphonie von verschiedenen Soziolekten, die Verschmelzung von Personen- und Erzählerrede, sowie die polyphone Strukturierung des gesamten Werkes.82 Döblin hat sich auch in seinen theoretischen Schriften mit Dostoevskij beschäftigt, u. a. hat er 1921 einen Aufsatz „Goethe und Dostoevskij“ veröffentlicht. Heimito von Doderer (1919–1966) hat für seinen Roman Die Dämonen (1933– 56) den gleichen Titel gewählt wie Dostoevskijs sechzig Jahre früher erschienener turbulenter Roman Die Dämonen (1873), auch wenn er einen direkten Bezug dazu abgelehnt hat.83 Doderer übernimmt die Figur des Chronisten von Dostoevskij und lässt zwar auch ein vielfältiges und vielstimmiges Panorama (der bürgerlichen Wiener Gesellschaft) entstehen, verzichtet aber verglichen mit Dostoevskij auf die Darstellung der ihnen innewohnenden intellektuellen und terroristischen Zersetzungskräfte. Hans Urs von Balthasar (1905–1988) erklärt die vielen ideologischen Perspektiven, die aus Dostoevskijs literarischen Gestalten sprechen, mit der „inneren Widersprüchlichkeit“, die Dostoevski in sich selbst gefunden habe.84 286
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In einem sehr frühen Artikel über Dostoevskijs Roman Der Idiot (1917 abgefasst, aber erst 1941 in der Zeitschrift Die Argonauten veröffentlicht) wendet sich der junge Walter Benjamin (1892–1940) gegen die Charakterisierung Dostoevskjs vor allem als großen Psychologen, die, seit Nietzsches Charakterisierung der Aufzeichnungen aus dem Untergrund als „Geniestreich der Psychologie“ (Brief an Franz Overbeck vom 23. Februar 1887) im deutschsprachigen Raum vorherrschte. Die Titelgestalt des Myškin versteht Benjamin als Verkörperung der Unsterblichkeit und Ganzheitlichkeit des Lebens, getragen von der „Aura des russischen Geistes“.85
Abb. 96: Werner Bergengruen, Porträtaufnahme, um 1951. Werner Bergengruen (1892–1964), aus Riga stammend und von Kindheit an mit russischer Kultur vertraut, hat selbst Werke von Turgenev, Tolstoj und Dostoevskij übersetzt und u. a. einen Roman Der Großtyrann und das Gericht (1935) geschrieben, in dem der Großtyrann entfernt vergleichbar mit Dostoevskijs Großinquisitor seine Untertanen durch psychischen Druck zu angepasstem Verhalten und erpressten Geständnissen zwingt, bis er allerdings am Ende während einer Gerichtsverhandlung – im Unterschied zu Dostoevskijs Großinquisitor – seine Fehler einsieht (den verheimlichten Mord am Mönch Fra Agostino als Experiment der Prüfung der moralischen Haltung seiner Untertanen).
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Abb. 97: Anna Seghers, undatierte Porträtaufnahme Als Jugendliche begeisterte sich Anna Seghers (1900–1983) an der Lektüre Dostoevskijs, besonders des Raskol’nikov (Schuld und Sühne). In ihrem Essay-Band Über Tolstoi. Über Dostojewski. Essays (1963) berichtet sie, dass sie mit wachsender Leidenschaft die Werke des Russen gelesen habe. Ihre Romane Transit (1944) und Die Toten bleiben jung (1949) zeigen Nähe zu Dostoevskijs Vorlagen. So tritt z. B. in dem Roman Die Toten bleiben jung ein Offizier und späterer SS-Funktionär namens Lieven auf, dessen elitäres und menschenverachtendes Denken mit Dostoevskijs Figuren wie Rodion Raskol’nikov und Ivan Karamazov in Beziehung gesetzt wird.86 Als Dostoevskij in der offiziellen sowjetischen Literatur- und Kulturpolitik als politischer Reaktionär und religiöser Obskurant verfemt war, hat Seghers in einem Artikel „Woher sie kommen, wohin sie gehen“ in Sinn und Form (1963) Dostoevskij als einen Autor dargestellt, der tiefgründig und komplex reale Sachverhalte künstlerisch anspruchsvoll gestalte und „grandiose Konflikte“ vorgeführt habe, die aber ihrer Meinung nach nicht durch Mitleid und Reue, sondern nur durch Revolutionen gelöst werden können. An anderer Stelle charakterisiert Seghers Schiller und Dostoevskij als Autoren, die sich in ihrer Jugend rebellisch gegenüber staatlicher Willkür verhalten haben. Diese Einstellung habe Dostoevskij allerdings später verloren. Der Großinquisitor übernehme in Schillers Don Carlos ebenso wie bei Ivan Karamazov einen Machtanspruch über das Geistige und Geistliche, was er im Grunde jedoch verachte. Die Teufelsvision in den Brüdern Karamzov und in Thomas Manns Doktor Faustus sei in beiden Fällen Verkörperung einer komplexen Verneinung, „Widerspiegelung“ eines grauenhaft verlockenden Zweifels. Christa Wolf (1929–2011) hat sich u. a. mit Anna Seghers Aufsätzen über Dostoevskij beschäftigt und in Dostoevskij einen Autor erkannt, der in seinem Werk eine komplexe Art der Selbsterkundung vornimmt, was ihrer eigenen schrift288
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stellerischen Arbeit entspreche.87 In ihrem Aufsatz „Lesen und Schreiben“ (1972) schreibt Christa Wolf: „Dostojewski kann mit Schattenfiguren durchspielen und bis zu einem gewissen Grad überwinden, was ihn in der wirklichen Welt an den Rand der Vernichtung oder Selbstvernichtung gebracht hat.“88 In seinem Essay Dostojewski – der gläubige Zweifler (1988) nennt Siegfried Lenz (1926–2014) Dostoevskij einen typischen Russen. Wie sein Schriftstellerkollege Heinrich Böll war auch Lenz von Raskol’nikov fasziniert, wobei er die Spannung von radikaler Legitimierung von Gesetzesübertretung und dem diese Übertretung in Frage stellenden Gewissen unterstreicht. Leben ist durch Leiden bestimmte Wirklichkeit. Daher ist der Mensch des Mitleids und der Erlösung im Sinne christlicher Nächstenliebe, wie sie in Myškin verkörpert ist, bedürftig.
Abb. 98: Siegfried Lenz, Porträtaufnahme, um 1985
Abb. 99: Heinrich Böll (rechts) mit Aleksandr Solženicyn, 1974
Heinrich Böll (1917–1985) war wie Thomas Mann Zeit seines Lebens ein begeisterter Leser russischer Literatur. „Ich halte die russische Literatur für die größte, die humanste und gleichzeitig wichtigste auf der ganzen Welt.“89 Gogol, Tolstoj und vor allem Dostoevskij hat er wiederholt als Autoren bezeichnet, die sein literarisches Schaffen beeinflusst haben. Schon als Jugendlicher hat er sich besonders für Dostoevskij interessiert. 1938 vermerkt er den Erwerb von 13 Bänden Dostoevskij und spricht von seiner bis zur Identifizierung mit dem russischen Dichter gehenden tiefen Verehrung. Er versteht Dostoevskij als Repräsentanten eines den Armen und Leidenden zugewandten Christentums, als „christlichen König aller Armen und 289
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Leidenden und Liebenden“ (Brief vom 26. März 1943).90 1966 bereist er Leningrad, wo er im Rahmen erster Vorarbeiten zu einem 1969 zusammen mit Erich Kock gestalteten Film Der Dichter und seine Stadt. F. M. Dostoevskij und Petersburg die Spuren des russischen Romanciers aufsucht. In Aufzeichnungen zu diesem Film zeigt er Dostoevskij vor allem als Leidenden, als Mitleidenden und zugleich als vom Geld und Gelderwerb Getriebenen. Im letzten Drittel seines Drehbuchs zitiert er mehrfach aus dem Idiot. Der Fernsehfilm wurde in Deutschland sehr positiv aufgenommen, vom sowjetischen Kooperationspartner hingegen abgelehnt. Besonders haben Böll die Romane Der Idiot und Die Dämonen beeindruckt. Nach Böll hat Dostoevskij die bürgerlich kapitalistische Entwirklichung des Geldes entlarvt und immer wieder auf die bedrückende, alle Vorstellungen von Ethik und Ästhetik zerstörende Macht des Geldes aufmerksam gemacht. Das Motiv der Dostoevskij-Lektüre findet sich in vielen Erzählungen Bölls, auch in seinem letzten Roman Frauen vor Flusslandschaft (1985). In der Lektüre des Idiot wird Böll bewusst, dass der Gegensatz von gesund nicht krank, sondern leidend ist. Dostoevskij ist nach Ansicht von Böll der bedeutendste und glaubwürdigste literarische Repräsentant eines von Liebe und sozialer Verantwortung geprägten Christentums. „Ich weiß immer noch keine bessere literarische Jesus-Darstellung als Dostoevskijs Idioten.“91 Dostoevskij ist auch als Autor der modernen Großstadt für Böll wichtig. Schuld und Sühne und Arme Leute könnten auch in den Kölner Hinterhäusern und Mietskasernen spielen (Fernsehinterview am 18. Mai 1975). 1971 hat Ingeborg Bachmann (1926–1973) einen Roman Malina veröffentlicht, in dem Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Toten Haus als für das erzählende Ich wichtiges Buch genannt werden. Sie hat ferner ein Libretto zu einem Ballett Monolog des Fürsten Myškin zu der Ballettpantomime der Idiot (1953, aber erst 1960 an der Städtischen Oper Berlin uraufgeführt) verfasst, in dem eine Parallelisierung des Toten Haus mit einem Konzentrationslager vorgenommen wird. Die Musik zu diesem Ballett hat Hans Werner Henze komponiert. Der aus der Dunkelheit des Wahnsinns kommende und dorthin am Schluss zurückkehrende Myškin wird einer Gesellschaft gegenübergestellt, die stumm und isoliert ist. Er „dirigiert“ die marionettenhaften Figuren und erklärt im Rahmen der Bilderfolge Gewalt, Macht und Scheitern der Liebenden, Leid und Tod. Er scheitert an dieser für ihn fremden Welt.
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Abb. 100: Ingeborg Bachmann, Porträtaufnahme, 1972
Abb. 101: Horst Bienek, Porträtaufnahme, 1980
Auch Horst Bienek (1930–1990) aus Schlesien hat sich wie Thomas Mann und Heinrich Böll sein ganzes Leben hindurch mit russischer Literatur und Kultur beschäftigt und sich dabei auf Dostoevskij und die zeitgenössische Dissidentenliteratur konzentriert. Er hat sich persönlich für aus Osteuropa stammende Literaten und Intellektuelle eingesetzt. 1951 wurde er verhaftet und wegen Spionage durch ein sowjetisches Militärgericht zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Drei Jahre hat er als Zwangsarbeiter in Vorkuta zugebracht. In dieser Zeit seiner Gefangenschaft in Russland hat er sich intensiv mit der russischen Sprache beschäftigt und dann auch russische Literatur gelesen, vor allem Dostoevskij. Die Gulag-Erfahrungen haben Leben und Werk Bieneks nachhaltig geprägt. Bezugnahme auf die Lagerhaft findet sich in vielen seiner Werke, z. B. dem Roman Die Zelle (1968). Motive wie Leiden, Isolation, Vereinsamung verbinden ihn mit Dostoevskij. Zum hundertsten Todestag des russischen Romanautors hat Bienek eine große Anthologie Dostojewski für alle (1981) herausgebracht. Er hat sich vor allem auch mit der sprachkünstlerischen Gestaltung Dostoevskijs beschäftigt, der Dialogstruktur der Romane, der Entwicklung und Verknüpfung von Handlungssträngen wie auch der raffinierten Verbindung von Dialogen und Einzelhandlungen. Er richtet sein interpretatorisches Interesse auf die Dialoge und Gespräche der handelnden Personen, z. B. zwischen Raskol’nikov und dem Untersuchungsrichter Porfirij Petrovič. Bienek hat unter dem Titel Im Untergrund die Aufzeichnungen aus dem Untergrund dramatisiert. Die Arbeit 291
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daran hat zehn Jahre (1970–81) gedauert. Als Hörspielfassung hat diese Dramatisierung 1981 der WDR herausgebracht, und im gleichen Jahre ist die Bühnenfassung im Münchener Studio-Theater aufgeführt worden. Spuren seiner ausgiebigen Beschäftigung mit Dostoevskij finden sich auch in vielen seiner Prosawerke. In seinem Nachlass fand sich ein unveröffentlichtes Typoskript „Das Erlebnis der Sekunde bei Dostoevskij. Ein Hörspiel und Essay.“ Der Überblick zeigt, dass das Werk Dostoevskijs bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein eine ungewöhnliche Faszination und Attraktion besitzt. Auch Autoren der Gegenwart führen ununterbrochen einen Dialog mit ihm und seinen literarischen Gestalten und setzen sich mit seiner Kunst des Schreibens auseinander. 200 Jahre nach seiner Geburt und 140 Jahre nach seinem Tod spielt Fëdor M. Dostoevskij weiterhin eine ganz ungewöhnlich anregende und einflussreiche Rolle in der Weltliteratur und Weltkultur.
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Anmerkungen Vorwort F. M. Dostojewskij, Briefe, Übersetzung von Alexander Eliasberg, München 1920, S. 105 (Brief vom 16./28. August 1867 an Apollon M. Majkov). 2 Alfred Adler, „Dostojewski“, in: Ders., Praxis und Theorie der Individualpsychologie, 4. Aufl. München 1930, S. 199–206, hier S. 206. 3 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, Leipzig 1922. (Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Aph. 45: „Der Verbrecher und was mit ihm verwandt ist“). Im Kontext: „Die Gesellschaft ist es, unsre zahme, mittelmäßige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet, oder beinahe nothwendig: denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker erweist als die Gesellschaft: der Corse Napoleon ist der berühmteste Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniß Dostoiewsky’s von Belang – Dostoiewsky’s, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte: er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens“. 4 Franz Werfel, Weißenstein, der Weltverbesserer: Erzählungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 88. 5 Thomas Mann, Dostojewski mit Maßen, in: Ders. (Hrsg.), Neue Studien, Stockholm 1948, S. 80. 6 Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1966, S. 92. 7 Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit [1927-1932], Frankfurt a. M. 1974, S. 892. 8 José Ortega y Gasset, „Dostoiewski y Proust“ [1924], in: Ders., Ideas sobre el teatro y la novela, Madrid 1982, S. 33–36. 9 Zit. nach George John Zytaruk, D. H. Lawrence’s Response to Russian Literature, The Hague/Paris 1972, S. 22. 10 „In Dragor las ich Schuld und Sühne von Dostojewski. Zunächst einmal gab er [Brecht] dieser Lektüre die Hauptschuld an meiner Krankheit. Und zur Bekräftigung erzählte er mir, wie in seiner Jugend der Ausbruch einer langwierigen und im Keim wohl längst bei ihm angelegten Krankheit erfolgt sei, als ihm eines Nachmittags ein Schulkamerad, gegen dessen Absichten Protest einzulegen er schon zu schwach war, am Klavier Chopin vorspielte. Chopin und Dostojewski schreibt Brecht besonders unheilvolle Einflüsse auf das Befinden zu.“ Walter Benjamin, Versuche über Brecht, a. a. O., S. 127. 1
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Anmerkungen
1. Einleitung: Dostoevskijs Aktualität und literarische Bedeutung 1
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Aus dem Gestaltungsverfahren der „Vielstimmigkeit“ (Polyphonie) jedoch zu schließen, der Autor selbst träte so weit hinter seine Figuren zurück, dass er seine eigene Stimme nicht mehr zur Geltung bringe, ist übertrieben. Dieser Verabsolutierung des polyphonen Verfahrens in Dostoevskijs Romanen sind u. a. Ludolf Müller (Dostojewskij. Sein Leben. Sein Werk. Sein Vermächtnis, München 1982) und Horst-Jürgen Gerigk (Ein Meister aus Russland. Beziehungsfelder der Wirkung Dostojewskijs, Heidelberg 2010 und Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, Frankfurt a. M. 2013) entgegengetreten. Die Dämonen, russ. Besy, 1872. Svetlana Geier (1923–2010) hat den Romantitel 1998 als „Böse Geister“ übersetzt. Rolf-Dieter Kluge, Vom kritischen zum sozialistischen Realismus. Studien zur literarischen Tradition in Russland 1880 bis 1925, München 1973, S. 32. Näheres dazu im 10. Kapitel „Die ‚Dämonen‘ der Revolution: Dostoevskijs Vision von der Revolution und vom politischen Terrorismus“; hier S. 173 f.
2. Das frühe Werk: Arme Leute und fantastische Erzählungen Ich gebe alle Daten nach dem „alten Stil“, der in Russland bis 1918 gegolten hat: „alter Stil“ = Julianischer Kalender; „neuer Stil“ = Gregorianischer Kalender, d. h. unser Kalender neuen Stils unterscheidet sich seit März 1900 bis 28. Februar 2100 um 13 Tage, um die der Julianische Kalender („alter Stil“) dem Gregorianischen („neuer Stil“) nachläuft; z. B. ist Weihnachten (am 25.12. „alten Stils“) im 21. Jh. erst am 7.1. („neuen Stils“). 2 Am 9. August 1838 schreibt der sechzehnjährige Dostoevskij an seinen Bruder Michail: „Auch ich habe in Peterhof mindestens ebensoviel gelesen wie du. Den ganzen Hoffmann russisch und deutsch (d. h. den noch nicht übersetzten Kater Murr), und fast den ganzen Balzac. […] Ferner Goethes Faust, seine kleineren Gedichte, Polewojs Geschichte, Ugolino und Undine, […] schließlich Victor Hugo (außer Cromwell und Hernani).“ F. M. Dostojewski, Briefe, Übersetzung von Alexander Eliasberg, München 1920, S. 4. 3 Zit. nach Ludolf Müller, Dostojevskij – Sein Leben – Sein Werk – Sein Vermächtnis, München 1982, 2. Aufl. München 1992, S. 9. 4 Hier zitiert nach Dostoevskijs eigener Erinnerung, die er in seinem Tagebuch eines Schriftstellers im Januar 1877 berichtet hat (Kap. 2, Teil X). 5 Maximilian Braun, Dostojewskij: das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit, Göttingen 1976, S. 12. 6 Fëdor Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Bd. 2, Moskva 1956, S. 5. 7 Ebd. Übersetzung R.-D. Kluge. Wörtlich übersetzt lautet die Stelle bei Turgenev: „Das heißt, er war dazu geschaffen / um einen Augenblick in der Nähe deines Herzens zu verweilen.“ 8 Für Sigmund Freud waren übrigens diese Erzählungen ein wichtiger Beleg für Dostoevskijs introvertierte Verarbeitungen der ihm – wie jedem Menschen – angeborenen Ag1
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Anmerkungen
gressionen: der Masochist richtet sie nach innen, gegen sich selbst und erscheint nach außen als neurotisch Entsagender und Leidender. Vgl. Sigmund Freud, Dostojewski und die Vatertötung (1928), in: Sigmund Freud Studienausgabe Bd. 10, Frankfurt a. M. 1969, S. 267–286. 9 Wegen seiner Verhaftung konnte Dostoevskij dieses Fragment nicht weiterführen. Erst 1860 hat er das Material umgearbeitet. 10 Vgl. dazu auch Ludolf Müller, „Die Religion Dostoevskijs“, in: Heinz Setzer / Ludolf Müller / Rolf-Dieter Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, Tübingen 1998, S. 159–179.
3. Vom utopischen Sozialisten zum konservativen Nationalisten: Dostoevskijs ideologische Entwicklung 1
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An dieser Stelle sei hier ein kurzer Exkurs zu Strauß und Dostoevskij gestattet. Ich stütze mich auf eine Untersuchung, die aus Anlass der Wiederkehr des 100. Todestages Dostoevskijs Ludolf Müller vorgelegt hat: Ludolf Müller, Dostojewskij und Tübingen. Mit einer Beilage: Ein Briefwechsel über Dostojewskij mit der „Zeit“, Tübingen (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, Nr. 22) 1981, S. 5–15. 1835 hatte der Repetent am evangelisch-theologischen Seminar zu Tübingen, Dr. phil. David Friedrich Strauß bei Osiander ein Buch mit dem Titel Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet herausgebracht, in dem es um eine historisch-kritische Überprüfung des Neuen Testaments anhand nachprüfbarer Fakten geht. Alles Ungeschichtliche, Wunder und Auferstehung, werden als bloße Fabeln, deren Zweck nur die Glaubenspropaganda sei, abgewiesen, Unsterblichkeit sei wissenschaftlich nicht haltbar, aber an der „Eigentümlichkeit der religiösen Persönlichkeit und Schöpfung Jesu lasse sich doch erkennen, daß etwas Höheres nicht gedacht werden könne und ein künftig auch nur Gleiches undenkbar“ sei. Also: Die Gestalt, die Persönlichkeit Jesu als absoluter Inbegriff des in jeder Hinsicht vollkommenen Menschen behält für Strauß hier noch ihre Gültigkeit. Diese Einschätzung wird uns noch wiederholt bei Dostoevskij begegnen, in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Strauß. In seinem letzten Werk Der alte und der neue Glaube (1872) hat Strauß schließlich den ganzen christlichen Glauben einschließlich der Gestalt Jesu – den er nun einen Schwärmer nennt – als Legende, als falsches Bewusstsein abgetan; und an die Stelle eben dieses alten Glaubens mit der Auferstehung als „welthistorischem Humbug“ müsse ein neuer altruistischer Glaube an den unabhängigen freien Menschen treten, der aus sich selbst die Fähigkeit zur ethischen Vervollkommnung und Schaffung einer säkularen gerechten Gemeinschaft entwickeln könne. Auch darauf hat Dostoevskij ein Jahr später im Tagebuch eines Schriftstellers entschieden ablehnend, aber respektvoll reagiert. Übrigens hat Friedrich Nietzsche in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung dieses Werk von Strauß einer vernichtenden Kritik unterzogen und dabei den auf seinen Verfasser gemünzten Begriff vom „Bildungsphilister“ geprägt. Vgl. Rolf-Dieter Kluge, Westeuropa und Russland im Weltbild Aleksandr Bloks, München 1967, z. B. S. 216. Vgl. auch Geir Kjetsaa, Dostojewskij – Sträfling, Spieler, Dichterfürst, Gernsbach 1986, S. 86.
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Vgl. ebd., S. 87. F. M. Dostojewskij, Brief an seinen Bruder Michail, Omsk, 22. Februar 1854. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Ders. / Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. 2, Berlin 1955 (Karl Marx, 11. These über Feuerbach, 1845, publiziert posthum 1888). Dieses und die weiteren Zitate über die Verhaftung und Verurteilung Dostoevskijs finden sich in L. P. Grossmanns Kommentar: Materialien zu einer Biographie F. M. Dostoevskijs (Daten und Dokumente) im 10. Band der Werkausgabe Dostoevskijs, Moskau 1950, S. 547–558 (russisch). Teilweise ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller, „Fjodor Michailovitsch Dostojewski – sein Leben als Roman“, in: Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 20–25. Vgl. F. M. Dostojewski, „Als schwanke der Boden unter mir“. Briefe 1837–1881. Übertragen von Dr. Karl Noetzel. Wiesbaden o. J. Fjodor Dostojevski, Gesammelte Briefe 1833–1881, hrsg. Von Friedrich Hitzer, München 1966, S. 80.
4. Verbannung in Sibirien: Aufzeichnungen aus einem Toten Haus 1
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Aus der Zeit von Dostoevskijs Aufenthalt in Semipalatinsk stammt eine Beschreibung der „Stadt“ von Aleksandr Vrangel’, der den Ort „ein Mittelding zwischen Stadt und Dorf “ nennt, wo es nur Holzhäuser, eine orthodoxe Kirche, sieben Moscheen und ein Verwaltungsgebäude gab. „Es gab dort niemanden, der ein Buch gekauft hätte“. Aus den Erinnerungen des Barons Alexander Wrangel 1854–1865, in: F. M. Dostojewskij, Briefe, übersetzt von Alexander Eliasberg, München 1920, S. 260. Baron Aleksandr Ja. Vrangel’ (1833–1906) war Bezirksstaatsanwalt in Semipalatinsk und freundete sich mit Dostoevskij an. Carl Gustav Carus (1789–1869), Maler im Kreis von Caspar David Friedrich in Dresden, Mediziner und romantischer Naturphilosoph, der eine Entwicklungsgeschichte der Seele verfasst hat: Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846. Dostoevskij, Brief an Frau Fonvizina, Omsk, Anfang März 1854. Vgl. auch Ludolf Müller, Dostojevskij – Sein Leben – Sein Werk – Sein Vermächtnis, a. a. O., S. 25. „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: ‚Wähle!‘ ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und spräche: ‚Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!“ Gotthold Ephraim Lessing, Theologische Streitschriften, Eine Duplik I (1778), in: Ders., Werke, Bd. VIII: Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften, hrsg. von Herbert G. Göpfert, Darmstadt 1996, S. 33. Dostoevskij setzt sich damit in direkten Gegensatz zu der damals unter russischen Intellektuellen dominanten linkshegelianischen religionsphilosophischen Auffassung, dass Religion entfremdetes Bewusstsein ist, d. h., dass sich in der Religion die ideali-
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sierte Wirklichkeit des Menschen spiegele, so wie er sein will oder sein möchte, aber sich in der Realität nicht verwirklichen kann. Und das sowohl in existentieller Hinsicht als Mängelwesen, das omnipotent sein möchte gegenüber äußeren (kosmischen) oder Naturgewalten als auch gesellschaftlich als unterdrücktes und an seiner menschlichen Entfaltungsmöglichkeit gehindertes Individuum in der Klassengesellschaft. Solche Diskussionen werden in dem Roman Die Dämonen, aber auch in Ivan Turgenevs Romanen geführt. Im russischen Original Dostoevskijs heißt „mërtvyj dom“ wörtlich: „totes Haus“. Die (nicht ganz korrekt) oft verwendete deutsche Wiedergabe „Totenhaus“ in einem Wort in der Bedeutung „Haus der Toten“ wäre russisch „dom mërtvych“. Es handelt sich hierbei um literarische Darstellungen des Lebens in Arbeitslagern, Strafkolonien, Verbannung, im Ausschluss aus der öffentlichen Gemeinschaft. Als weitere Beispiele gelten: Anton Čechovs Insel Sachalin (Ostrov Sachalin, 1893); Gustaw HerlingGrudzińskis Inny świat [poln. „Andere Welt“, dt. Titel Welt ohne Erbarmen] (1953), Aleksandr Solženicyns Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič (Odin den’ Ivana Denisoviča), (1962) und Im ersten Kreis der Hölle (V kruge pervom, 1968); Varlam Šalamovs Geschichten aus Kolymna (Kolymskie rasskazy, 1978); Primo Levis Ist das ein Mensch? (Se questo è un uomo, 1947) und andere. Vgl. dazu auch Andrea Reiter, Auf dass sie entsteigen der Dunkelheit – Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung, Wien 1995; s. auch Renate Lachmann, Lager und Literatur – Zeugnisse des Gulag, Konstanz 2019. Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd 6., München 1988, S. 147. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Dritter Band, hrsg. von Karl Schlechta, München 1956, S. 619. Vgl. Rolf-Dieter Kluge, Ivan S. Turgenev – Dichtung zwischen Hoffnung und Entsagung, München 1992, S. 107 f. Rudolf Neuhäuser, F. M. Dostojevskij: die großen Romane und Erzählungen, Köln 1993, S. 39.
5. Rückkehr nach Sankt Petersburg und Suche nach Orientierung: Aufzeichnungen aus dem Untergrund Vgl. hierzu auch Neuhäuser, F. M. Dostoevskij, a. a. O., S. 24. Ebd. 3 Ivan S. (1823–1886) und Konstantin S. (1817–1860) Aksakov; Ivan V. (1806–1856) und Pëtr V. (1808–1856) Kireevskij; Aleksej S. Chomjakov (1804–1860); Jurij F. Samarin (1819–1876). 4 Vgl. auch Braun, Dostojewskij, a. a. O., S. 81. 5 Vgl. auch Ludolf Müller, Dostoevskij, Tübingen (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, Nr. 11) 1977, S. 30. 6 Vgl. ebd. 7 Sechzig Jahre später lässt Evgenij I. Zamjatin (1884–1937) in seinem antiutopischen und antikommunistischen Roman Wir (1923) die rationalen Zukunftsmenschen an einer 1 2
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Anmerkungen
Infektion, nämlich Irrationalität und Emotionalität erkranken. Siehe hierzu Rolf-Dieter Kluge, „Zamjatins Wir und Dostoevskijs Großinquisitor – zum Verhältnis von individueller Freiheit und sozialer Verantwortung – Heinz Wissemann zum 75. Geburtstag“, in: Anzeiger für slavische Philologie, 18 (1987), S 7–21. 8 Zitiert nach Kjetsaa, Dostojewskij, a. a. O., S. 195. 9 Vgl. ebd., S. 197. Über die Suslova siehe: Polina Suslowa, Dostojewskis ewige Freundin. Mein Intimes Tagebuch, Frankfurt a. M. 1996. 10 Vgl. ebd., S. 199.
6. Schuld und Sühne oder Verbrechen und Strafe: Zur Frage von Macht und moralischer Verantwortung Ludolf Müller, Dostojewskij, Tübingen (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, Nr. 11) 1977, S. 37. 2 Im russischen Strafverfolgungssystem ist er „Untersuchungsrichter“, der dort die Funktion eines Kriminalkommissars ausübt. 3 Ludolf Müller, Dostojevskij – Sein Leben – Sein Werk – Sein Vermächtnis, München 1982, 2 1992, S. 41–43. 4 Braun, Dostojewskij, a. a. O., S. 144–148. 5 Vgl. auch Kjetsaa, Dostojewskij, a. a. O., S. 238. 6 Ebd., S. 240. 7 Vladimir Nabokov, Lectures on Russian Literature, Orlando, Austin, u. a. 1981, zit. nach Neuhäuser, F. M. Dostoevskij, a. a. O., S. 64. 8 Nikolaj Strachov, zitiert nach Joseph Frank, Dostoevsky. A Writer in His Time, Princeton, New Jersey 2010, S. 286 f. 1
7. Dostoevskij und Deutschland; Wanderleben und Überlebenskampf Małgorzata Świderska, Studien zur literaturwissenschaftlichen Imagologie. Das literarische Werk F. M. Dostoevskijs aus imagologischer Sicht. Mit besonderer Berücksichtigung Polens, Berlin u. a. 2001. 2 Jakov E. Golosovker, Dostoevskij i Kant, Moskva 1963. 3 Zitiert nach Kjetsaa, Dostojewskij, a. a. O., S. 385. 4 Vgl. Christiane Schulz, Aspekte der Schillerschen Kunsttheorie im Literaturkonzept Dostoevskijs, München 1992; Dies., „‚Ich habe Schiller auswendig gelernt‘ – das ‚geistige Ferment‘ Schiller im Erzählwerk Dostoevskijs“, in: Jahrbuch der Deutschen Dostoevskij-Gesellschaft 17 (2010), S. 10–41. 5 Zitiert nach Kjetsaa, Dostojewskij, a. a. O., S. 183. 6 Ebd. 1
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Anmerkungen
Friedrich Schiller, Dramen und Gedichte, Stuttgart 1955, S. 1070. Fyodor Dostoyevsky, Autobiographische Schriften, übersetzt von E. K. Rahsin, München 1923, S. 323 (Tagebuch eines Schriftstellers, Juni 1876). 9 Aimée [d. i. Ljubov’] Dostoevskaja, Dostojewski, geschildert von seiner Tochter, Erlenbach/Zürich 1920 (auch München 1920). 10 Hier zitiert nach Rolf-Dieter Kluge, Ivan S. Turgenev – Dichtung zwischen Hoffnung und Entsagung, a. a. O., S. 109. 11 Dostoevskij schätzte vor allem Mozart und Beethoven und gelegentlich Mendelssohn. Zu Dostoevskijs Verhältnis zu verschiedenen Komponisten und deren Musik vgl. Dietmar Kluge, „F. M. Dostojewskij und die Musik“, Programmheft für die Eröffnung des internationalen Symposiums „Dostojewskij und Deutschland“ in Baden-Baden am 4. Oktober 2001 im Kurhaus Baden-Baden. Vgl. außerdem Vjačeslav G. Karatygin, „Dostojevskij i muzyka“, in: Ders., Izbrannye stat’i, Moskau/Leningrad 1965, S. 251–262. 7 8
8. Der Spieler, Der ewige Gatte und andere Novellen Zit. nach Müller, „Die Religion Dostoevskijs“, in: Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 32. 2 Vgl. zum weiteren auch: Regine Nohejl, „Alles oder Nichts. Die Gestalt des ‚Spielers‘ in den Romanen Dostojewskis“, in: ebd., S. 63–88. 3 Anna Dostojewskaja, Tagebücher. Die Reise in den Westen, Königstein/Taunus, 1985. Vgl. auch Dies., Erinnerungen – Das Leben Dostojewskijs in den Aufzeichnungen seiner Frau, München 1980. 4 Regine Nohejl, „Alles oder Nichts. Die Gestalt des ‚Spielers‘ in den Romanen Dostojewskis“, a. a. O. 5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889, Kritische Studienausgabe, Bd. 13, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montonari, München 1999, S. 673. 6 Hier zitiert nach Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 34. 7 Braun, Dostojewskij, a. a. O., S. 148 ff.
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9. Der Idiot: Der Mensch im Spannungsfeld von Liebe, Leidenschaft und Geld Brief vom 25. Januar (6. Februar) 1869 an S. A. Ivanova. Vgl. auch Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 120. 2 Ebd. 3 Małgorzata Świderska, „Der ‚Idiot‘ – ein moderner Christus?“, in: Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 111–135. 4 Romano Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, München 61977, S. 357. 5 Ebd., S. 369. 1
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Horst-Jürgen Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, Frankfurt a. M. 2013, S. 107 ff.
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Lebte einst ein armer Ritter Still und schlicht in unsrer Welt War von Antlitz blass und bitter, Doch von kühnem Geist erhellt. Eines Tags war ihm erschienen Eine seltsame Vision Drang ins Herz ihm, rief nach innen, Ließ ihn nimmermehr davon. Sah er da allein beim Beten Unterm Kreuz am Wegesrand, Sah Maria zu ihm treten, Christi Mutter vor ihm stand. Seither brannte seine Seele, Sah er keine Frau mehr an, Als ob ihm die Sprache fehle, War er stumm und taub fortan. Seither hob er von den Augen Nie das eiserne Visier, Und zum Schmucke wollt’ ihm taugen, Nur der Rosenkranz von ihr. In Gebeten war ihm ferne Vater, Sohn und Heil’ger Geist, Ihrer dachte er nicht gerne, Seltsam war er einsam meist. Lange Nächte stand er schweigend Vor Marias heil’gem Bild, Sehnsuchtsvoll zu ihr sich neigend, Und von tiefem Schmerz erfüllt.
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Anmerkungen
Seinem frommen Traume blieb er Treu mit gläubig festem Mut, „Ave mater Dei“ schrieb er Auf den Schild mit seinem Blut. Wenn die andern Kreuzesritter Kühn dem Feind entgegen, laut In das wilde Schlachtgewitter Schrien den Namen ihrer Braut, Rief er „Sancta rosa Sonne“ Und begeistert klang sein Wort, Und er trieb in Siegeswonne Muselmanen fort und fort. Schließlich kehrte er nach Hause, Lebte streng in stummer Qual, Und allein in seiner Klause Starb er ohne Abendmahl. Aber kaum war er gestorben Kam der Teufel schon herbei, Weil die Seele ja verdorben Und verdammt zur Hölle sei. ‚Nie bei Gott war er beim Beten, Hat die Hostie nie gespeist, Und ist der zu nah getreten, Die man Christi Mutter heißt.‘ Doch die reine Jungfrau freilich Trat für ihren Ritter ein, Ließ durchs Himmelstor ihn heilig In das Paradies hinein. Deutsch von Ulrich Busch in seiner Monographie Puškin – Leben und Werk, München 1989, S. 41–42.
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Anmerkungen
Die im Roman zitierte Ballade Puškins vom Armen Ritter wird in Ingeborg Bachmanns Dostoevskij-Rezeption zur Selbstcharakterisierung eines Ausgestoßenen. Vgl. Ingeborg Bachmann, Ein Monolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpantomime „Der Idiot“ (1953; 1960 uraufgeführt an der Städtischen Oper Berlin). Näheres dazu hier im letzten Kapitel. 9 Rudolf Neuhäuser hat versucht, durch umfangreiche Diagramme (a. a. O., S. 142 ff.) die Motivationen der handelnden Figuren zu veranschaulichen. 10 Vgl. auch Braun, Dostojewskij, a. a. O., S. 164. 11 Georgij M. Fridlender, Dostoevskij i mirovaja literatura [Dostoevskij und die Weltliteratur], Moskva 21985. 12 Brigitte Schulze, Der Dialog in F. M. Dostoevskijs „Idiot“, München 1974 (Slavistische Beiträge; 176). 8
10. Die „Dämonen“ der Revolution: Dostoevskijs Vision von der Revolution und vom politischen Terrorismus 1
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Überarbeitete und ergänzte Fassung folgenden Beitrags: Rolf-Dieter Kluge, „Die Dämonen der Revolution“, in: Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 89–110. Pëtr A. Kropotkin, Ideals and Realities in Russian Literatur, 1901; dt.: Ideale und Wirklichkeiten in der russischen Literatur, Zürich 2003. Der „Katechismus“ ist in deutscher Übersetzung abgedruckt u. a. in: Robert Payne, Lenin – Sein Leben und sein Tod, München 1965. Hier eigene Übersetzung aus dem Original. Die Zeit (02.05.1997, Nr. 19). Dieser Ausschnitt aus dem Interview verdeutlicht vor allem zwei Dinge, zum einen die Bedeutung der Ideen Nečaevs für eine zeitlich nicht gebundene Typologie des Terrors, insbesondere derjenigen Ideen, die er im sogenannten Katechismus eines Revolutionärs propagiert, zum anderen aber nennt er auch die Gefahr, der sich Aktionen, die sich solchen Ideen unterstellen, aussetzen, nämlich in der Reduktion auf die „gemeinsame Sache“ oder das Ziel, sich genau zu dem zu entwickeln, was man eigentlich bekämpfen will. Dieser Anachronismus ist als historische Tatsache mit dem Namen Nečaev ebenfalls eng verbunden. Es handelt sich bei diesem Katechismus eines Revolutionärs also um ein Programm von totaler Amoralität, von dem Nečaev geradezu pathologisch besessen war. Die Beichte Stavrogins wurde von der Zensur gestrichen, der vollständige Text durfte erst in Ausgaben im 20. Jahrhundert publiziert werden. Dostoevskijs ursprüngliche Idee war, mit dem neunten Kapitel des zweiten Teils „Bei Tichon“ den zweiten Teil abzuschließen. In dieser Fassung war der zweite Teil schon gesetzt, als der Herausgeber des Russischen Boten Michail Katkov seinen Druck verbot, wahrscheinlich aus moralischen Gründen und berechtigter Furcht vor der Zensur. In diesem Kapitel der „Beichte Stavrogins vor Tichon“ unternimmt Stavrogin den Versuch einer ehrlichen Beichte und Reinigung vor sich selbst, was ihm allerdings nicht gelingt. In allen großen Romanen Dostoevskijs bildet üblicherweise die „Beichte“ zentraler Helden einen Wendepunkt in der Entwicklung des Sujets, indem der Leser mit wesentlichen, aber bis dahin nicht bekannten Elementen der
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Vorgeschichte der betreffenden Helden bekannt gemacht wird. Auch in den Dämonen sollte die „Beichte“ Stavrogins eine dementsprechende Rolle spielen. Aus ihr sollte der Leser Ereignisse und Erlebnisse Stavrogins erfahren, die zum Werden seiner Persönlichkeit bzw. seines Charakters geführt haben. Diese Erlebnisse und inneren Erfahrungen ereigneten sich in Stavrogins Petersburger Lebensabschnitt, worüber am Anfang des Romans kurz berichtet wurde. Dort hatte er sich Ausschweifungen hingegeben und erlebte zeitweise einen pathologischen Genuss im Bewusstsein der Maßlosigkeit seiner Möglichkeiten. Im Ignorieren aller Normen der menschlichen Moral vollbringt Stavrogin ein widerliches Verbrechen, indem er das minderjährige Mädchen Matrëša vergewaltigt. Der Vorgang wird zwar im Einzelnen nicht beschrieben, aber durch unzweideutige Hinweise eindeutig gekennzeichnet. Drei Tage nach dem Vorfall nimmt sich Matrëša das Leben im Beisein Stavrogins, der nichts dagegen unternimmt. Danach, unbeschadet dieses Verbrechens, heiratet Stavrogin die behinderte Maria Lebjadkina. Im weiteren Verlauf der Handlung empfindet er „wahnsinniges Mitleid“ mit der in den Tod getriebenen Matrëša, sie erscheint ihm in einem Wachtraum mit vorwurfsvollem Blick und ohnmächtig drohender kleiner Faust. Diese Vision Stavrogins ereignet sich als Kontrast zu einem vorangegangenen Traum vom harmonischen Leben der frühen Menschheit, das Stavrogin in dem Bild Claude Lorrains Acis und Galatea gestaltet sieht. Dieses Bild aus der Dresdner Gemäldegalerie hat Dostoevskij mit gewissen Modifikationen im Roman Der Jüngling und in der Novelle Der Traum eines lächerlichen Menschen erwähnt. Es erscheint wie eine späte zynische Bestätigung von Stavrogins Wunsch, seine „Beichte“ zu veröffentlichen, wenn diese als selbständiger Anhang manchen Herausgaben des Romans beigefügt wird, in der deutschen Übersetzung von Svetlana Geier ist es, wie von Dostoevskij ursprünglich vorgesehen, als neuntes Kapitel dem zweiten Teil angefügt. Näheres dazu siehe bei Horst-Jürgen Gerigk, Dostoevskijs Entwicklung als Schriftsteller, a. a. O., S. 153 ff. und Andreas Guski, Dostojewskij – eine Biographie, München 2018, S. 325 ff. Zur Beichte in Dostoevskijs Werk vgl. Aleksandr Borisovič Krinicyn, Formy ispovedi v romanach Dostevskogo [Formen der Beichte in den Romanen Dostoevskijs], Moskva 1995. Horst-Jürgen Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, a. a. O., S. 162 ff. Übersetzt von Ulrich Busch, in: Ders., Puschkin – Leben und Werk, München 1989, S. 42. Vgl. Fëdor Stepun, Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution, Leipzig 1934. Verf. bezieht sich hier dankbar auf Diskussionen mit Gottfried Schramm während eines gemeinsam veranstalteten Seminars über Dostoevskijs politische Schriften an der Universität Freiburg i. Br. Horst-Jürgen Gerigk, „Nachwort“ zu F. M. Dostoevskij, Die Dämonen, aus dem Russischen von M. Kegel, München 2003, S. 818, vgl. auch Ders., Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, a. a. O., S. 154. Thomas Mann, Reden und Aufsätze (Gesammelte Werke in 12 Bänden, Bd . 9/1), Frankfurt a. M. 1960, S. 662 („Dostojewski mit Maßen“). Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 266. Manès Sperber, Wir und Dostojewskij: eine Debatte mit Heinrich Böll, Siegfried Lenz, André Malraux, Hans Erich Nossack, geführt von Manès Sperber, Hamburg 1972, S. 52.
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Anmerkungen
Braun, Dostojewskij, a. a. O., S. 189; Müller, Dostojewskij, a. a. O., S. 60, Gottfried Schramm, Von Puschkin bis Gorki, Freiburg i. Br. 2008; Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, a. a. O., S. 154; Gerigk, Ein Meister aus Russland, a. a. O.; Roland Opitz, Fedor Dostojewski – Weltsicht und Werkstruktur, Frankfurt a. M., 2000; Thomas Mann, Dostojewskij mit Maßen (1946); Vjačeslav Ivanov, Dostojewskij und die Romantragödie, Tübingen 1922; Vladimir Kantor, Das Westlertum und der Weg Russlands: Zur Entwicklung der russischen Literatur und Philosophie, Stuttgart 2010. 15 Bernd-Volker Gretzmacher, Die Gestalt des Stavrogin in dem Roman „Die Dämonen“ von F. M. Dostojewskij, Tübingen (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, Nr. 3), 1974, S. 9. 16 Ludolf Müller, Dostojewskij, Tübingen 1977, S. 60. Vgl. auch Ders., Dostojevskij – Sein Leben – Sein Werk – Sein Vermächtnis, a. a. O., 1982, S. 60. 17 Gretzmacher, Die Gestalt des Stavrogin, a. a. O., S. 25. 18 Kantor, Das Westlertum und der Weg Russlands, Stuttgart 2010. 19 Sergej Bulgakov, Sočinenia II [Werke II], Moskva 1993, S. 523. 20 F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Moskau 1955–58, Bd. 7, S. 681. 14
11. Der Jüngling: Der schwierige Reifeprozess eines jungen Mannes; Tagebuch eines Schriftstellers und späte Schriften Zit. nach Kjetsaa, Dostojewskij, a. a. O., S. 339. Horst-Jürgen Gerigk, Versuch über Dostoevskijs „Jüngling“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, München 1965. 3 Ebd., S. 164. Vgl. Müller, Dostojevskij – Sein Leben – Sein Werk – Sein Vermächtnis, a. a. O., 1982, S. 113. 4 Vgl. Kjetsaa, Dostojewskij, a. a. O., S. 350. 5 Zit. nach Kjetsaa, ebd., S. 395. 6 F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Moskau 1955–58, Bd. 10, S. 434. 7 Fjodor Dostojevskij, Die Beichte Stawrogins. Drei unveröffentlichte Kapitel aus dem Roman „Die Teufel“. Zum erstenmal ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Alexander Eliasberg, München 1922, S. 66–68. 8 F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Moskau 1955–58, Bd. 10, S. 440. 9 Z. B.: „Gehört nicht zu jedem Gedeihen eines gediegenen Werkes die Verwurzelung im Boden einer Heimat?“ Martin Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 14. 10 Zit. nach Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. II, Stuttgart 72008, S. 24. Zu Heidegger und Dostoevskij (mit anderen Bezügen und weiterer Literatur) siehe auch Ulrich Schmid, „Heidegger and Dostoevsky: Philosophy and Politics“, in: Dostoevsky Studies, New Series, Vol. XV (2011), S. 37–45. 11 „En 1880, à cette inauguration du monument de Pouchkine, où la littérature russe tint ses grandes assises, la popularité de notre romancier écrasa celle de tous ses rivaux; on sang1 2
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Anmerkungen
lota tandis qu’il parlait, on le porta en triomphe, les étudiants prirent d’assaut l’estrade pour le voir de plus près, pour le toucher, et l’un de ces jeunes gens s’évanouit d’émotion en arrivant jusqu’à lui.“ De Vogüé, Le roman russe, a. a. O., S. 272. 12 Vgl. z. B. Kjetsaa, a. a. O., S. 436; Janko Lavrin, Dostojevskij, Reinbek 1963, S. 152 f. 13 „Qui a vu ce cortège a vu le pays des contrastes sous toutes ses faces: les prêtres, un clergé nombreux qui psalmodiait des prières, les étudiants des universités, les petits enfants des gymnases, les jeunes filles des écoles de médecine, les nihilistes, reconnaissables à leurs singularités de costume et de tenue, le plaid sur l’épaule pour les hommes, les lunettes et les cheveux coupés ras pour les femmes; toutes les compagnies littéraires et savantes, des députations de tous les points de l’empire, de vieux marchands moscovites, des paysans en touloupe, des laquais et des mendiants; dans l’église attendaient les dignitaires officiels, le ministre de l’instruction publique et de jeunes princes de la famille impériale.“ De Vogüé, a. a. O., S. 275.
12. Die Brüder Karamazov: Recht und Gerechtigkeit, Religion und Gesellschaft
Vgl. auch meinen Aufsatz „Das Leben ist mehr als der Sinn des Lebens: ‚Die Brüder Karamasov“, in: Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 137–157. 2 In diesem Zusammenhang wird der Ansatz von Michail Bachtin und Renate Lachmann fraglich, wonach der Skandal gestörter Gespräche oder mißbrauchter Feste als Demonstration der Lachkultur, der Befreiung aus rituellen oder gesellschaftlich konventionellen Zwängen verstanden wird. Man erinnere sich der Skandale, die Fëdor Karamazov im Kloster beim Starec Zosima inszeniert. Das ist keine Gegenwelt, kein Ausbruch (isstuplenie) der unterdrückten Seiten der menschlichen Natur, wie im wirklichen Karneval, wo sich der Benachteiligte maskiert, in die Rolle des Privilegierten – und umgekehrt der Privilegierte in die Rolle des Deklassierten – schlüpft, um unter der Maske der Anonymität einmal auszuleben, was ihm in der Realität verwehrt ist. Fëdor Karamazov verstellt sich nicht und befreit sich auch nicht durch Lachen von ihm auferlegten Zwängen. Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übersetzt von Alexander Kämpfe, Frankfurt a. M. 1985; Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übersetzt von Gabriele Leupold, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 1995. 3 Gerigk, Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller, a. a. O., S. 205 ff. 4 Beim Prozess gegen Dmitrij tritt ein deutscher Arzt namens „Herzenstube“ (Gercenštube = Stube des Herzens, in der das Gute wohnt) auf, der in Dmitrijs Kindheit eine Vaterrolle gespielt hat, ähnlich wie der Starec Zosima für Alëša, da sich ja der alte Karamazov um seine Kinder nicht gekümmert hat. Vor Gericht erzählt Herzenstube, wie er vor 23 Jahren Dmitrij ein Pfund Nüsse geschenkt und ihm dabei deutsche sprachliche Wendungen und Begriffe beigebracht habe, dem Gericht geht es dabei um eine Einschätzung der psychischen und charakterlichen Eigenarten des Angeklagten. Trotz betonter Hervorhebung der selbstlosen Güte und Menschlichkeit wird Herzenstube als „sturer Deutscher“ und 1
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„eigensinniger Maulesel“, als stereotyp komischer deutscher Pietist dargestellt. Seine Fremdheit wird durch deutschen Akzent und deutsche Syntax seines Russisch herausgehoben. Seine tätige Nächstenliebe macht ihn zwar zu einer positiven Figur, aber eine vollwertige Integration in das Ensemble der Guten verweigert ihm als Deutschen der Erzähler. Herzenstube kann als Muster dessen angesehen werden, wieviel positive Eigenschaften Dostoevskij einer westlichen literarischen Gestalt zuzubilligen bereit war. Konstantin Močul’skij, Dostoevskij. Žizn’ i tvorčestvo, Pariž 1947. Starec (griechisch Geron) ist ein angesehener älterer erziehender Mönch, dem sich Novizen in Gehorsam unterwerfen sollen. Henri Troyat, Dostojevsky, übersetzt von Alfred Borchardt, Colmar/Paris/Freiburg 1964, S. 382. F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Moskau 1955–58, Bd. 9, S. 307. Manès Sperber, Wir und Dostojewskij: eine Debatte mit Heinrich Böll, Siegfried Lenz, André Malraux, Hans Erich Nossack, a. a. O., S. 90. Friedrich Schiller, „Resignation“, in: Schillers Werke, Nationalausgabe. Erster Band, Weimar 1943, S. 166. Robert Louis Jackson, „Alyosha’s Speech at the Stone: ‚The Whole Picture‘“, in: Ders. (Hrsg.), A ‚New Word‘ on The Brothers Karamazov, Evanston, Illinois, 2004, S. 234–253. Vgl. Ders., Alëšas Rede am Stein: Das ganze Bild, Tübingen (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, Nr. 29) 22001. F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Moskau 1955–58, Bd. 10, S. 336. Ebd., S. 338.
13. Das „Poem vom Großinquisitor“: Zwischen Freiheit, Verantwortung und sozialer Sicherheit Näheres dazu in: Fjodor M. Dostojewskij, Der Großinquisitor, übersetzt von Marliese Ackermann, hrsg. und erläutert von Ludolf Müller, München 1985 (Quellen und Studien zur russischen Geistesgeschichte, hrsg. von Ludof Müller, Bd. 4). Dort auch eine ausführliche Bibliographie. Ferner: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft (1996), Bd. III, hrsg. von Ellen Lackner und Maria Schumannn, Flensburg 1996. Das Original in: F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach. Tom devjatyi. Moskva 1958, S. 309–332. 2 Friedrich Schiller, Dramen und Gedichte, hrsg. von der Deutschen Schillergesellschaft, Stuttgart 1955, S. 406. 3 F. M. Dostoevskij, Sobranie sočinenij v desjati tomach [Gesammelte Werke in 10 Bänden], Moskau 1955–58, Bd. 9, S. 327. 4 Georg Herwegh, Herweghs Werke, ausgewählt und eingeleitet von Hans-Georg Werner, Berlin und Weimar, 1967, S. 230 ff. 5 Über den „Großinquisitor“ wird in allen Dostoevskij gewidmeten Monographien ausführlich gehandelt. Ihm sind aber auch Spezialuntersuchungen gewidmet: Marliese 1
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Anmerkungen
Ackermann, Dostoevskijs „Großinquisitor“ in sechs deutschen Übersetzungen. Analyse, Kritik, Bewertung, Tübingen 1985; Fjodor M. Dostojewskij, Der Großinquisitor, übersetzt von Marliese Ackermann, hrsg. und erläutert von Ludolf Müller, München 1985; Antanas Maceina, Der Großinquisitor. Geschichtsphilosophische Deutung der Legende Dostojewskijs, Heidelberg, 1952; V.V. Rozanov, Legenda o Velikim Inkvizitore. Dve stat’i o Gogole, Sankt Petersburg, 1906, Nachdruck München 1970; Ellis Sandoz, Political Apocalypse. A Study of Dostoevsky’s „Grand Inquisitor“, Baton Rouge 1971; Cyrille Wilczkowski, Regards sur l’évolution religieuse de Dostoïevski et „La légende du Grand Inquisiteur, précédée de textes choisis et traduits par Cyrille Wilczkowski, introduction par X. Tilliette, Paris 1958; Heinz Wissemann, Die Idee des Übermenschen in Dostojewskijs „Legende vom Großinquisitor“, Gießen 1962; Emmy Wolf geb. Stenzer, Dostojewskijs „Legende vom Großinquisior“ – zur katholischen Dostojewskij-Interpretation der ersten Nachkriegsjahre, Berlin 1976; Deutsche Dostojewskij-Gesellschaft (Hrsg.), Jahrbuch 1996, Bd. 3 (Fachtagung 1994: „Die Legende vom Großinquisitor“), Flensburg 1996. Ferner zusammenfassend: Wolfgang Kasack, Christus in der russischen Literatur, München 1999, S. 27–39. Siehe auch G. Zagrebelsky, Liberi servi. Il Grande inquisitore e l’enigma del potere, Torino 2015.
14. Dostoevskijs Werk in der Weltliteratur Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft, hrsg. von Gudrun Goes, 1992 ff.; Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky-Society (New Series). 2 Manès Sperber, Wir und Dostojewskij, a. a. O; Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Dostojewskijs Erbe in unserer Zeit, Berlin 1976; Wolfgang Böhme (Hrsg.), Von Dostoevskij bis Grass. Schriftsteller vor der Gottesfrage, Karlsruhe (Herrenalber Texte 71) 1986. 3 Dostojewskij im deutschen Expressionismus; Wilfried Otto, Die Raskolnikoff-Mappe, 1921, Würzburg, 1989 (Martin von Wagner-Museum der Universität); Ute Reimann (Hrsg.), Fjodor M. Dostojewskij, Katalog einer Ausstellung, Stadt Baden-Baden 1995; Jean Clair (Hrsg.), Crime et châtiment, Catalogue de l’exposition (16 mars au 27 juin 2010) au musée d’Orsay, Paris 2010; „Dostojewskij und Schiller“, Ausstellung 16. November 2019 bis 16. Februar 2020 im Deutschen Literaturarchiv Marbach in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Literaturmuseum der Russischen Föderation. 4 Z. B. Dostojewskij und Deutschland, unter Berücksichtigung seiner internationalen Bedeutung (XI. Symposium der Internationalen Dostojewskij-Gesellschaft), Baden-Baden, 4. bis 8. Oktober 2001. 5 D. J. Pisarev, Bor’ba za žizn‘ (Der Kampf ums Leben), Moskva, 1867. Vgl. auch Heinz Setzer, „Vom ,grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘. Zur Geschichte der Dostojewski-Rezeption“, in: Setzer / Müller / Kluge (Hrsg.), Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Dichter − Denker − Visionär, a. a. O., S. 187–217, hier S. 191 f.; Reinhard Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 347. 6 N. K. Michajlovskij, Žestokij talant (Ein grausames Talent), Moskva 1882. Vgl. dazu Setzer, „Vom ‚grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘“, a. a. O., S. 193–197.
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Vladimir Čiž, Dostoevskij kak psichopatolog (Dostoevskij als Psychopathologe), Moskva 1885. Vgl. auch Setzer, „Vom ,grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘“, a. a. O., S. 197 f. 8 Zit. nach Setzer, „Vom ,grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘“, a. a. O., S. 192. 9 In seinen persönlichen Erinnerungen an Dostoevskij schreibt De Vogüé, dass dieser Diskussionen über Literatur mit folgenden Worten beendete: „Nous avons le génie de tous les peuples et en plus le génie russe; donc nous pouvons vous comprendre.“ („In uns ist das Genie aller Völker und darüber hinaus das russische Genie, daher können wir euch verstehen.“) Melchior de Vogüé, Le Roman russe, Paris, 1886, S. 270. In seinem Nachruf auf George Sand schreibt Dostoevskij: „Wir Russen haben doch zwei Vaterländer: unser Rußland und Europa, und das selbst in dem Fall, wenn wir uns Slawophile nennen (mögen diese sich deshalb nicht über mich ärgern). Dagegen zu streiten ist nicht nötig. Die größte von den großartigen zukünftigen Bestimmungen, die von den Russen vorausschauend bereits erkannt sind, ist die allgemein-menschliche Bestimmung, ist das der Menschheit Dienen, – nicht Rußland allein, nicht dem Panslawismus allein, sondern der Allmenschheit. Denken Sie nach und Sie werden zugeben, daß die Slawophilen dasselbe bekannt haben, und eben deshalb aber rief man uns auf, strenge, feste und verantwortungsbewußte Russen zu sein: indem man dies so versteht, daß Allmenschlichkeit die wichtigste persönliche Note und Bestimmung des Russen ist. Übrigens bedarf alles das noch vielfacher Erläuterung: so schon dies allein, daß jenes Dienen der allgemeinmenschlichen Idee und das leichtsinnige Herumtreiben in Europa, nachdem man freiwillig und launisch dem Vaterlande den Rücken gekehrt hat, zwei ganz verschiedene und entgegengesetzte Dinge sind, die aber bisher immer noch miteinander verwechselt werden, als handle es sich dabei im wesentlichen um dasselbe. Im Gegenteil, vieles, sehr vieles von dem, was von uns aus Europa genommen und zu uns verpflanzt worden ist, haben wir nicht einfach kopiert, wie Sklaven nach Herren und wie das von gewissen Leuten unbedingt gefordert wird, sondern wir haben es unserem Organismus, unserem Fleisch und Blut eingeimpft; manches aber haben wir ganz selbständig erlebt und sogar durchlitten, ganz wie jene dort, im Westen, für die alles das ihr blutlich Eigenes war.“ Fyodor Dostoyevsky, Autobiographische Schriften, übersetzt von E. K. Rahsin, München 1923, S. 322 (Tagebuch eines Schriftstellers, Juni 1876). 10 Dmitrij S. Merežkovskij in seiner folgenreichen Abhandlung O pričinach upadka i o novych tečenijach v sovremennoj russkoj literature (Über die Ursachen des Verfalls und über die neuen Strömungen in der zeitgenössischen russischen Literatur), Moskva 1892. Vgl. Setzer, „Vom ,grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘“, a. a. O., S. 198–200. 11 Leo Schestow, Dostojewski und Nietzsche. Philosophie der Tragödie, Köln 1924, S. XXX. 12 Wladimir Majakowski, Werke. Poeme, Bd. II.1, deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert, Frankfurt a. M. 1980, S. 224. 13 Anton Čechov an A. S. Suvorin am 5. März 1889, in: A. P. Čechov, Werkausgabe in 12 Bänden (russisch), Bd. 11, Moskva 1956, S. 339. 14 Maksim Gor’kij, „Über das ‚Karamasowtum‘ (o karamazovščine)“, in: Ders., Über Literatur, Berlin/Weimar 1968, S. 93. 15 1926 bis 1930 konnte noch eine Ausgabe der Werke Dostoevskijs in dreizehn Bänden herauskommen; 1918 war ein Denkmal des Schriftstellers in Moskau enthüllt worden, Valerijan F. Pereverzev (1882–1968) nannte Dostoevskij einen „Propheten der Revolution“. Michail M. Bachtins Probleme der Poetik Dostoevskijs (1929) wurde kaum beachtet. 7
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Bachtin vertrat die These, Dostoevskijs Romanfiguren seien nicht auf verschiedene Rollen verteilte Gestaltung der Meinung des Autors, sondern autonome Träger von Bewusstsein und Weltanschauungen, die untereinander einen vielstimmigen Chor bestreiten, die persönlichen Ansichten Dostoevskijs seien in seinen Romanen nicht in den Vordergrund getreten. Wahrscheinlich wollte Bachtin mit letzterem Hinweis die „reaktionären“ Positionen des Autors Dostoevskij herunterspielen, damit seine Arbeit durch die sowjetische Zensur kommen sollte. Das ist nicht gelungen, hat aber zu einer unrichtigen Rezeption seiner Forschungen geführt, wonach in das Konzert der verschiedenen gleichwertigen Figurenstimmen die Ansichten Dostoevskijs selbst als eine neben vielen anderen integriert seien. Die sowjetrussische Literaturwissenschaft hat Bachtins Thesen abgelehnt, er musste im gleichen Jahr 1929 in die Verbannung nach Kasachstan gehen. 16 Maksim Gor’kij, hier zitiert nach Setzer, „Vom ,grausamen Talent‘ zum ‚Visionär‘“, a. a. O., S. 212. 17 Nikolaj L. Brodskij, Geschichte der russischen Literatur: von den dreißiger bis zu den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Berlin 1954, S. 363. 18 Ju. G. Kudrjavcev, Bunt ili religija (Aufruhr oder Religion), Moskva 1969, S. 169. 19 U. A. Gural’nik, „F. M. Dostoevskij v literatno – estetičeskoj bor’be 60ch godov“, in: Ideologičeskaja bor’ba i sovremennaja kul’tura, Moskva 1972. 20 F. M. Dostoevskij, Biografija, pis’ma i zametki iz zapisnoj knižki, Sankt Peterburg 1883; Polnoe sobranie sočinenij, pod redakciej A. G. Dostoevskoj, T. 1–14, Sankt Peterburg, 1904–1906; Sobranie sočinenenij (v 10 tomach), pod obščej redakciej L. P. Grossmana idr., Moskva 1956–1958; Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach, pod redakciej Georgija Fridlendera idr., Leningrad, 1972–1990. 21 Dostoevskijs Ansichten über die russische Identität, die sich gegen den Einbruch westlicher Wertvorstellungen schützen muss, haben in neuerer Zeit Orhan Pamuk (*1952) angeregt, die türkische Identität analog zu begreifen. 22 Eugène-Melchior de Vogüé, Le Roman russe, Paris 1886. Ferner: Ders., Le fils de Pierre le Grand (1884); Cœurs russes (1892/93); Maxime Gorki (1905); Journal du vicomte EugèneMelchior de Vogüé, Paris, Saint-Pétersbourg 1877–1883 (posthum 1932). 23 „Le Roman russe valut à Eugène-Melchior de Vogüé une réputation européenne et lui ménagea une place parmi vous“, erklärte sein Nachfolger Henri de Régnier in seiner Rede an die Académie française (18. Januar 1912), vgl. Henri de Régnier, Discours de réception à l’Académie française, Institut de France, 1912, S. 12. 24 Zola hatte Schuld und Sühne durch die Übersetzung Wilhelm Henckels (Raskolnikov, 1882) kennengelernt. Vgl. Roswita Loew, Wilhelm Henckel – Buchhändler, Übersetzer, Publizist. Aus der Geschichte der deutsch-russischen Kulturbeziehungen des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 104. 25 „Les personnages de Dostoïevsky sont tous dans l’état de possession […]; une volonté étrangère et irrésistible les pousse à commettre malgré eux des actes monstrueux.“ [„Dostoevskijs Personen sind alle im Zustand der Besessenheit […]; eine fremde und unbezwingbare Willenskraft drängt sie dazu, gegen ihren Willen monströse Taten zu vollbringen.“] Melchior de Vogüé, Le Roman russe, Paris 1886, S. 261. 26 In einem Brief an Nikolaj Strachov vom 26. Februar (10. März) 1869 schrieb Dostoevskij: „Ich habe meine eigene Ansicht über die Kunst: das, was die meisten für nahezu phantastisch und ungewöhnlich halten, erscheint mir manchmal als das tiefste Wesen der
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Wirklichkeit. Die trockene Betrachtung der Wirklichkeit halte ich noch lange nicht für Realismus, sogar ganz im Gegenteil. In jeder beliebigen Zeitungsnachricht stoßen Sie auf Berichte über durchaus wirkliche Tatsachen, die einem aber durchaus außergewöhnlich erscheinen. Unsere Dichter halten sie für phantastisch und befassen sich gar nicht mit ihnen; und doch sind sie Wirklichkeit, denn sie sind Tatsachen.“ F. M. Dostoiewskij, Briefe, München 1920, S. 146. Zitiert nach Sperber, Wir und Dostojewskij, a. a. O., S. 88. Vgl. auch Hans Rothe (Hrsg.), Dostoevskij und die Literatur, Köln 1983, S. 372. Thomas Mann, Gesammelte Werke: Adel des Geistes, Berlin 1955, S. 620. Ein international ausgewiesener slavistischer Literaturwissenschaftler, der sich besonders mit der russischen Literatur beschäftigt hat, ist auch Renato Poggioli. Z. B. Renato Poggioli, „Kafka and Dostoevsky“, in: Angel Flores (Hrsg.), The Kafka Problem. With a New, Up-to-date Bibliography and a Complete List of Kafka’s Works in English, New York 1963, S. 97–107. Vgl. Sergia Adamo, „Gadda e Dostoevski“, in: Edinburgh Journal of Gadda Studies. Supplement no. 3, EJGSA 4, 2004. Vgl. G. Caprin, „Colloqui con Pirandello“, in: La Lettura, XXVII, 3,1 (marzo 1927), S. 161–168, hier S. 167. Vgl. Joachim Leeker, Existentialistische Motive im Werk Alberto Moravias, Rheinfelden 1979, S. 12. Vgl. Sergia Adamo, „Gadda e Dostoevski“, a. a. O. Vgl. De Michelis, „Dostoevskij nella letteratura italiana“, in: S. Graciotti (Hrsg.), Dostoevskij nella coscienza d’oggi, Firenze 1981, S. 163–196. Vgl. Elena Gori, Tozzi e Dostoevskij. La fuggitiva realtà, Firenze 2012. Vgl. Sergia Adamo, „Translations of Russian Literature in a Local and Intercultural Context“, in: Lieven d’Hulst / John Milton (Hrsg.), Reconstructing Cultural Memory. Translations, Scripts, Literacy, Amsterdam-Atlanta 2000, S. 69– 83, hier S. 78. Vgl. Jordi Morillas, „Dostoevsky in Spain“, in: Dostoevsky Studies XVII (2013), S. 121– 143, hier S. 124. Ebd. S. 127. Ebd. S. 130. Zu Unanumo und Dostoevskij siehe auch Anna Lisa Crone, „Unanumo and Dostoevsky: Some Thoughts on Atheistic Humanitarism“, in: Hispanófila No. 64 (septiembre 1978), S. 43–59. José Ortega y Gasset, „Der Wille des Barock“ („La voluntad del barroco“), in: España, 12. August 1915, S. 3–4. Pío Baroja, Vorwort von 1920 zu seinem Roman Jugend, Egolatrie (Juventud, egolatría, 1917). Octavio Paz, On Poets and Others, Manchester 1987, S. 93. Z. B.: Luigi Pirandello, Der verblichene Mattia Pascal (Il fu Mattia Pascal, 1904); Italo Svevo, Zenos Bewusstsein (La conscienza di Zeno, 1923); Samuel Beckett (1906–1989), Molloy (1948); Der Namenlose (L’Innommable, 1953); Andrej Bely (1860–1934), Peterburg (1913); Kotik Letaev (1922); Hermann Broch (1886–1951), Die Schlafwandler (1930/32); Die Schuldlosen (1954); Julio Cortázar (1914–1984), Rayuela (1963); Ernesto Sábato (1911–2011), Der Tunnel (El Tunnél, 1948); Félix de Azúa (*1944), Geschichte eines Idioten von ihm selbst erzählt oder vom Wesen des Glücks (Historia de un idiota contada por él mismo o el contenido de la felicidad, 1986); Tagebuch eines erniedrigten Mannes (Diario de un hombre humillado, 1987); Fernando Pessoa (1888–1935), Buch der Unruhe (Livro Do
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Desassossego, 1982); Guimarães Rosa (1908–1967), Großer Sertão: Wege (Grande Sertão: Veredas, 1956); Paulo Leminski (1944–1989), Catatau (1976; 1987); Reinaldo Arenas (1943–1990), Wahnwitzige Welt (El mundo alucinante, 1969); Singend im Brunnen (Cantando en el pozo, 1982). Vgl. Wladimir Krysinski, Il romanzo e la modernità, Roma 2003, bes. S. 52–60, 89–95, 109–114, 153, 257–261, 282–283. Vgl. hierzu und folgend besonders Horst-Jürgen Gerigk, Die Russen in Amerika, Hürtgenwald 1995, S. 57–61; 103–240; 403–450. Horst-Jürgen Gerigk, „Faulkners ‚Sanctuary‘ und Dostojewskijs ‚Schuld und Sühne‘: Wunscherfüllung als Tabubrechung“, in: Hans Rothe (Hrsg.), Dostojevskij und die Literatur, Vorträge zum 100. Todesjahr des Dichters auf der 3. internationalen Tagung des „Slavenkomitees“ in München 12.–14. Oktober 1981, Köln/Wien 1983, S. 454–89. „In Dostoevsky there were things unbelievable and not to be believed, but some so true they changed you as you read them; frailty and madness, wickedness and saintliness, and the insanity of gambling were there to know […]“. Ernest Hemmingway, A Moveable Feast, London 1964, S. 113. Horst-Jürgen Gerigk, „Dostojewskijs ‚Jüngling‘ und Salingers ‚Catcher in the Rye‘“, in: Dostoevsky Studies 4 (1983), S. 37–52; Ders., Die Russen in Amerika, a. a. O., S. 407–519. Henry Miller, Plexus, New York 1965, S. 20. „He ist he only English writer who can be compared to Dostoevsky“. Ezra Pound, Literary Essays of Ezra Pound, edited with an introduction by T. S. Eliot, New York 1918, 1920, 1935, S. 424. „Irrespective of its value as a work of art, this novel possesses a deep autobiographical interest also, as the character of Vanya, the poor student who loves Natasha through all her sin and shame, is Doistoieffski’s study of himself.“ Oscar Wilde, The Artist as Critic: Critical Writings of Oscar Wilde, edited by Richard Ellmann, Chicago 1969, S. 78 f. „This note of personal feeling, this harsh reality of actual experience, undoubtedly gives the book (Humiliated and Insulted) something of its strange fervour and terrible passion, yet it has not made it egotistic; we see things from every point of view, and we feel not that action has been trammelled by fact, but that fact itself has become ideal and imaginative.“ Ebd. Einen kritischen Überblick über die Dostoevskij-Übersetzungen im europäischen Raum bietet Pieter Boulogne, „Europe’s conquest of the Russian novel: the pivotal role of France and Germany“, in: Theresa Seruya and Hanna Pięta (Hrsg.), IberoSlavica, A Peer-Reviewed Yearbook of the International Society for Iberian-Slavonic Studies. Special Issue: Translation in Iberian-Slavonic Exchange, 2015, S. 179–206. Weiteres in C. Stief, „Dostoevskij und die skandinavische Literatur. Drei Beispiele“, in: Hans Rothe (Hrsg.), Dostoevskij und die Literatur, Köln/Wien 1983, S. 413–420. Poetisch vielleicht am wirkungsvollsten hat Aleksandr Blok in seiner Ode Die Skythen (1918) dieses geistige Klima wiedergegeben: „Millionen – Ihr. Wir – zahllos ohne Zahl! Probiert’s, ob wir zum Kampfe taugen! Wir Asiaten, Skythen allzumal, Mit gierigen und schief gestellten Augen. […] O alte Welt! Bis du nicht untergingst
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Und dich noch selig quälst in Wehen Bleib vor der Russen Rätsel in der Sphinx, Gleich Ödipus bleib weise stehen. Russland – die Sphinx. Leid und Triumph im Sinn Von schwarzem Blute überflossen, So blickt und blickt und blickt sie auf dich hin, In Hass und Liebe eng umschlossen […] Wir kennen alles – Höllen von Paris, Die Kühle in Venedigs Adern, Den Duft, der von Zitronenhainen blies, Und auch aus Kölns rauchigen Riesenquadern. […] Lieb ist uns Leib in Farbe und Geschmack Ja, noch der dumpfe Hauch des Toten … Sind wir denn schuld, wenn euer Skelett zerknackt In uns’ren schweren sanften Pfoten? Kommt denn zu uns! Eh’ Kriegsgreul euch verheert Lasst euch in unsre Arme laden! Bevor’s zu spät – steckt ein das alte Schwert, Und sei’n wir Brüder, Kameraden! […] Zum letzten Mal – besinn’ dich, alte Welt! Zur brüderlichen Friedensfeier, Zum Bruderfest, zum letzten Male gellt Laut rufend der Barbaren Leier.“
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Alexander Block, Gesammelte Dichtungen, deutsch von Johannes von Guenther, München 1947, S. 299–301. Melchior de Vogüé eröffnet sein Dostoevskij-Kapitel in Le Roman russe mit folgenden Worten: „Voici venir le Scythe, le vrai Scythe, qui va révolutionner toutes nos habitudes intellectuelles“ [„Hier kommt der Skythe, der wahre Skythe, der alle unsere intellektuellen Gewohnheiten revolutionieren wird“]. De Vogüé, Le Roman russe, a. a. O., S. 203. Carl Bleibtreu, Revolution der Literatur [1887], hrsg. von J. J. Braakenburg, Tübingen 1973, S. VII. Vgl. auch und zum Folgenden: Sigfried Hoefert (Hrsg.), Russische Literatur in Deutschland, Tübingen 1974. Hermann Conradi, „F. M. Dostojewski”, in: Die Gesellschaft V (1889), S. 520–530. Wieder abgedruckt in Sigfried Hoefert (Hrsg.), Russische Literatur in Deutschland, a. a. O., S. 17–29. Gerhart Hauptmann, Autobiographisches, Bd. 7, Berlin 1996, S. 1058. (Das Abenteuer meiner Jugend [1937], zweites Buch, Kap. 39). Nina Hoffmann, Th. F. Dostojevskij. Eine biographische Studie, Berlin 1899.
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Anmerkungen
Vgl. Christoph Garstka, Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskij’s im Piper-Verlag 1906 bis 1919, Frankfurt a. M. u. a. 1998. 60 Hans-Georg Gadamer, Heideggers Wege: Studien zum Spätwerk, Tübingen 1983, S. 21. 61 Christian Morgenstern, „An Dostojewski“, in: Werke und Briefe. Lyrik 1906–1914, Urachhaus, 1987, ebd., S. 276. Vgl. auch: „Wenn ich Dostojewski lese, so ist es mir, als sähe ich einem Feuer zu – einem Steppenbrand –, das über die Ebene wandert. Und jetzt frißt und wühlt es sich schleichend durchs knisternde Gras – und jetzt fährt ein Sturmwind daher und erhebt es bis zu den Wolken, und jetzt kriecht und glimmt es wieder dahin und nur dicke Rauchmassen bezeichnen seinen Weg – und jetzt steigt es bei einem neuen plötzlichen Stoß gleich einer Säule zum Himmel und übergießt Himmel und Erde mit übergewaltigem, erschütterndem Glanz.“ Ebd., S. 615. 62 Kurt Eisner, „Raskolnikow. Zu Dostojewskis Bild“, in: Sozialistische Monatshefte 5 (1901), S. 48–52, hier S. 49. 63 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes [1922], München 1979, S. 794. 64 Sigmund Freud, Dostojewskij und die Vatertötung, in: Freud, Studienausgabe, Bd. 10, a. a. O., S. 271. 65 Neben Sigmund Freud hat auch Alfred Adler (1870–1938) Dostoevskij sehr geschätzt: „Seine Wahrheit konnte er nur finden durch Vereinigung der in ihm tobenden Gegensätze, die sich auch in seinen Schöpfungen immer wieder äußerten und ihn wie seine Helden zu zersplittern drohten. So empfing er die Weihe als Dichter und Prophet und ging hin, der Eigenliebe eine Grenze zu setzen. Die Grenze des Machtrausches fand er in der Nächstenliebe. […] Was er als Psychologe geleistet hat, ist heute noch unausgeschöpft. Wir wagen es zu behaupten, daß sein psychologisches Späherauge tiefer drang, weil er mit der Natur vertrauter war als jene Psychologie, die sich aus dem Begrifflichen gestaltet.“ Alfred Adler, „Dostojewski“, in: Ders., Praxis und Theorie der Individualpsychologie, 4. Aufl. München 1930, S. 199–206, hier S. 201 und 206. 66 Georg Lukács, Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg, 1958. Vgl. auch Ders., Dostojewski. Notizen und Entwürfe [1914/15], hrsg. von J. Christoph Nyíri Budapest (Akadémiai Kiadó) 1985. 67 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur II, Frankfurt a. M. 1961, S. 159. 68 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts: eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1943, S. 212. 69 Vgl. Horst-Jürgen Gerigk, Dostojewskij, der „vertrackte Russe“, Tübingen 2000, S. 20 f. 70 Hermann Hesse, Blick ins Chaos. Drei Aufsätze, Seldvylla/Bern 1921. 71 Ebd., S. 27 ff. 72 Hermann Hesse, „Die Brüder Karamasoff oder der Untergang Europas. Einfälle bei der Lektüre Dostojewskis“, in: Neue Rundschau (1920), S. 376–388. 73 Stefan Zweig, Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewskij, Leipzig 1920. 74 Hermann Hesse, „Über Dostojewski“, in: Vossische Zeitung, 22. März 1925. 75 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1919, S. 532. 76 Thomas Mann, „Dostoevskij – mit Maßen“ (1946), in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Berlin 1955, S. 617–635. 77 Vgl. Jürgen Lehmann, Russische Literatur in Deutschland. Ihre Rezeption durch deutschsprachige Schriftsteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart, 2015, S. 128 f. 78 Zum Folgenden siehe bes. Gerigk, Dostojewskij, der „vertrackte Russe“, a. a. O. 59
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Anmerkungen
Vgl. W. J. Dodd, Kafka and Dostoevsky. The Shaping of Influence, New York, 1992, S. 4–5. Zu Kafka und Dostoevski siehe auch Renato Poggioli, „Kafka and Dostoevsky“, a. a. O., S. 97–107. 80 Zit. nach Dodd, Kafka and Dostoevsky. a. a. O., S. 7. 81 Vgl. die Ausstellungen Dostojewskij im deutschen Expressionismus. Wilfried Otto: Die Raskolnikoff-Mappe von 1921. Würzburg, 1989 (Martin von Wagner-Museum der Universität) und ,Dostojewski ist mein Freund‘ (Max Beckmann, Herbst 1914): Graphiken, Gemälde und Buchillustrationen zu Dostojewskij in der deutschen Kunst zwischen 1900 und 1950, Altenburg, Lindenau-Museum 1999. 82 Vgl. Lehmann, Russische Literatur in Deutschland, a. a. O., S. 185. 83 Vgl. Éric Chevrel, „Die Dämonen: Doderer und der Fall Dostojewski(s)“, in: Gerald Sommer (Hrsg.), Gassen und Landschaften. Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet, Würzburg, 2004, S. 141–168. 84 Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen, Bd. II: Im Zeichen Nietzsches [1939], Einsiedeln, Johannes Verlag, 2. Aufl. 1998 (Nachdruck der Ausgabe von 1937–39), S. 216. 85 Vgl. bei Gerigk, Dostojewskij, der „vertrackte Russe“, a. a. O., S. 56. 86 Vgl. Lehmann, Russische Literatur in Deutschland, a. a. O., S. 241. 87 Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., Halle/Saale 1968. 88 Christa Wolf, Werke, Bd. 4, Offenbach a. M.1999, S. 274. 89 Heinrich Böll, Werke, Kölner Ausgabe, Bd. 16, München 2002, S. 525. 90 Heinrich Böll, Werke, Kölner Ausgabe, Bd. 19, München 2008, S. 446. 91 Heinrich Böll, „Blick zurück mit Bitterkeit“, im Spiegel (9. April 1973). 79
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Bibliographie Das vorliegende Literaturverzeichnis ist keine vollständige Bibliographie der wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Dostoevskij und sein Werk, es erfasst Literatur, die für die vorliegende Monographie von Belang ist. Es bietet einen repräsentativen Einblick in die internationale Dostoevskij-Forschung und soll darüber hinaus auch zur eigenen Lektüre und weiterführenden Beschäftigung anregen. In der Regel sind hauptsächlich selbständige Veröffentlichungen erfasst, gelegentlich auch Aufsätze und Rezensionen. Über Neuerscheinungen und die aktuelle Forschungsdiskussion informieren in regelmäßigen Abständen in Russland (Moskau und Sankt Petersburg) erscheinende Sammelbände zu Leben und Werk Dostoevskijs sowie fortlaufende bibliographische Übersichten in den Dostoevsky Studies und im Jahrbuch der Deutschen Dostojevskij-Gesellschaft.
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Weitere Ausgaben russisch Literaturnoe nasledstvo. Neizdannyj Dostoevskij. Zapisnye knižki i tetradi 1860–1881 gg [Literarischer Nachlass. Der nicht edierte Dostoevskij. Notizbücher und Hefte 1860–1881]. Moskva 1971 (= Bd. 83). Zapisnye tetradi F. M. Dostoevskogo [Notizhefte F. M. Dostoevskijs]. Moskva/Leningrad 1935.
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Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Dostoevskij, Gemälde von Vasilij Grigorevič Perov, 1872, Moskau, Staatliche Tretjakov-Galerie, akg-images / Elizaveta Becker Abb. 2: Dostoevskijs Vater, Michail A. Dostoevskij, um 1820, Moskau, Staatliches literarisches Museum, akg-images / Sputnik Abb. 3: Dostoevskijs Mutter, Maria Fëdorovna Dostoevskaja, um 1820, Moskau, Staatliches literarisches Museum, akg-images / Sputnik Abb. 4: Dostoevskijs Bruder Michail M. Dostoevskij, undatiert, Moskau, Staatliches literarisches Museum, akg-images / Sputnik Abb. 5: George Sand, Porträt, 1840, akg-images / Erich Lessing Abb. 6: Honoré de Balzac, Porträt, Radierung von Lassore, La Chatre, George Sand Museum, akg-images / De Agostini Picture Lib. / G. Dagli Orti Abb. 7: Ivan S. Turgenev, Ölgemälde von Nikolaj Dmitrijevič Dmitrijev-Orenburgski, 1879 Sankt Petersburg, Institut für russische Literatur der russischen Akademie der Wissenschaften, akg-images Abb. 8: Lev N. Tolstoj, Ölgemälde von Michail Vassilevič Nesterov, 1900, Sankt Petersburg, Staatliches Russisches Museum, akg-images Abb. 9: „Von Wohnung zu Wohnung“, Gemälde von Viktor Michajlovič Vasnecov, 1876, Petersburg, Staatliches Russisches Museum, akg-images Abb. 10: Devuškin, Illustration von Pëtr Boklevskij, Wikimedia Commons Abb. 11: Vissarion Gregorevič Belinskij, akg-images / Fototeca Gilardi Abb. 12: Literaten aus dem Umkreis des „Sovremennik“. Links oben nach rechts unten: Ivan Turgenev, Vladimir Sologub, Lev Tolstoj, Nikolaj Nekrasov, Dmitrj Grigorovič und Ivan Ivanovič Panaev, Lithographie, 1857, akg-images Abb. 13: Nikolaj Gogol’, Ölgemälde von Otto F. Th. von Möller, 1845, Ivanovo, Regionales Kunstmuseum, akg-images Abb. 14: Christus in der Wüste, Ölgemälde von Ivan Nikolaevič Kramskoj, 1872, Moskau, Staatliche Tretjakov-Galerie, akg-images Abb. 15: Der junge Dostoevskij, 1847, Staatliches Literaturmuseum Omsk, Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 16: Aleksej Nikolaevič Pleščeev, Ölgemälde von Nikolaj Aleksandrovič Jarošenko, 1887, Charkov, Kunstmuseum, Ukraine, akg-images / Elizaveta Becker Abb. 17: Apollon Nikolaevič Majkov, Ölgemälde von Ivan Nikolaevič Kramskoj, 1883, Moskau, Staatliches Museum für Literatur, akg-images
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Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 18: Charles Fouriers Idealbild einer „Phalanstère“, Lithographie, 1848, akg-images Abb. 19: Nikolaj A. Spešnev, um 1840, Wikimedia Commons Abb. 20: Scheinhinrichtung auf dem Semënov-Platz in Sankt Petersburg, Zeichnung von B. W. Pokrovskij, 1849, Wikimedia Commons Abb. 21: Semipalatinsk, historische Illustration, Quagga Media UG / akg-images Abb. 22: Das Haus, in dem Dostoevskij in Semipalatinsk wohnte, Staatliches Literatur museum, akg-images / Sputnik Abb. 23: Mar’ja Dmitrievna Isaeva, Dostoevskijs erste Frau, um 1860, Kollektion Russische Staatsbibliothek, Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 24: Friedrich Nietzsche, Porträtaufnahme, 1882, akg-images Abb. 25: Anschmieden von Fußketten in der Strafkolonie Sachalin, Fotografie aus der Kollektion Anton Čechovs von seiner Sachalin-Reise 1890, akg-images Abb. 26: Bombenattentat der Narodniki auf Zar Alexander II., Holzstich, vermutlich 1881, akg-images Abb. 27: Aleksandr Puškin, Gemälde von Wassilj A. Tropinin, 1827, Moskau, Staatliches Puschkin-Museum für Bildende Künste, akg-images Abb. 28: Apollinarija Prokof ’evna Suslova, um 1870, Moskau, Staatliches literarisches Museum, Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 29: Dostoevskij, Porträtaufnahme, 1863, Moskau, Dostoevskij-Museum, akg-images / Sputnik Abb. 30: Raskol’nikov und Marmeladov, Illustration von Michail Petrovič Klodt, 1874, Heri tage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 31: Svidrigajlov, Illustration von Dementij Smarinov, Moskau, Dostoevskij-WohnungMuseum, akg-images / Sputnik Abb. 32: Nikolaj Karazin, Die ermordete Pfandleiherin, 1893, Wikimedia Commons Abb. 33: Gedenktafel mit Reliefdarstellung Dostojewskijs, Rasol’nikov-Haus in Sankt Petersburg, Graždanskaja Ulica 19 (Schauplatz in Dostojewskijs Roman „Schuld und Sühne“), Foto, 2007, Ivan Travert / akg-images Abb. 34: Immanuel Kant, Stahlstich, um 1840, nach einer Zeichnung von Hans V. F. Schnorr von Carolsfeld, 1789, akg-images Abb. 35: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Stahlstich von Lazarus Gottlieb Sichling nach einem Gemälde von Julius Ludwig Sebbers, 1830, Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte, akg-images Abb. 36: Friedrich Schiller, Ölgemälde von Anton Graff, 1786/1791, Dresden, Kügelgenhaus, Museum der Dresdner Romantik, akg-images Abb. 37: Der Schauspieler Pavel Močalov inmitten seiner Verehrer, Ölgemälde von Nikolaj W. Nevrev, 1888, akg-images
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Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 38: Der „Crystal Palace“ im Londoner Hyde Park, errichtet für die Weltausstellung 1851 von Joseph Paxton, Stahlstich, unbezeichnet, um 1851, akg-images Abb. 39: Stadtansicht von Dresden, Holzstich, spätere Kolorierung, nach Zeichnung von Adolf Eltzner, 1869, akg-images Abb. 40: Dostoevskijs Wohnhaus in Dresden, Staatliches Historisches Museum, akg-images / Sputnik Abb. 41: Stadtansicht von Baden-Baden, Farblithographie von Eduard Walther, 1880, akg-images Abb. 42: Bad Ems an der Lahn, Eduard Hermann Lotz, Öl auf Leinwand, 19. Jahrhundert, Kollektion Van Ham, akg-images / van Ham / Saša Fuis, Köln Abb. 43: Burg Stolzenfels am Rhein, Farblitographie nach Aquarell von Carl Philipp Christian Köhler, 1873, akg-images Abb. 44: Anna Grigor’evna Dostoevskaja mit den Kindern Fëdor und Ljubov’, Dostoevskij Museum, Moskau, akg-images / Sputnik Abb. 45: Spielcasino Baden-Baden mit Pauline Viardot am Spieltisch, Zeichnung von Gustave Doré, 1862, New York, Metropolitan Museum of Art, akg-images Abb. 46: Anna Grigorev’na Dostoevskaja, Dostoevskijs zweite Frau, 1863, Wikimedia Commons Abb. 47: Burg Eberstein, 1847, Stich nach Eugène Guinot, akg-images / De Agostini / Biblioteca Ambrosiana Abb. 48: Dostoevskij, Porträtaufnahme, 1871, akg-images / Pictures From History Abb. 49: Moskau, Metrostation Dostoevskaja, Szenen aus Der Idiot, Mosaik von Ivan Nikolaev, 2010, akg-images / Elizaveta Becker Abb. 50: Hans Holbein d. J. , Der Leichnam Christi im Grabe, 1521/22, auf Lindenholz, Kunstmuseum Basel, akg-images / Erich Lessing Abb. 51: Dostoevskij, Zeichnung von Konstantin Aleksandrovič Trutovskij, 1874, Moskau Museum des Wohnhauses Dostoevskijs, akg-images / De Agostini Picture Library Abb. 52: Eine Seite aus Dostoevskijs Manuskript von „Die Dämonen“ mit Zeichnungen Dostoevskijs, 1871, akg-images Abb. 53: Bakunin im Barrikadenkampf im Mai 1849, Gemälde von Julius Scholtz, 1849, Dresden, Museum für Geschichte der Stadt Dresden, akg-images Abb. 54: Turgenevs Salon in Baden-Baden mit Pauline Viardot am Klavier, Turgenev hinter ihr stehend, Zeichnung von Ludwig Pietsch, Moskau, Turgenev-Gedächtnis-Museum, Moskau, Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 55: Michail Aleksandrovič Wrubel, „Der sitzende Dämon“, 1890, Öl auf Leinwand, Moskau, Staatliche Tretjakov-Galerie, akg-images Abb. 56: Eine Seite aus Dostoevskijs Manuskript von „Der Jüngling“ mit Zeichnung Dostoevskijs, akg-images / Sputnik
333
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 57: Anna Grigor’evna, Dostoevskijs zweite Frau, 1878, Moskau, Fotografie N. A. Lorenkovič, Staatliches Puschkin-Museum für Bildende Künste, akg-images / Archive Photos Abb. 58: Anna Grigor’evna Dostoevskajas Haushaltsbücher, Petersburg, Dostoevskij- Gedächtnis-Haus, akg-images / Sputnik Abb. 59: Dostoevskijs Haus in Staraja Russa, Fotografie, 2010, akg-images / Elizaveta Becker Abb. 60: Claude Lorrain, Küstenlandschaft mit Acis und Galatea, Öl auf Leinwand, 1657, Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister, akg-images Abb. 61: Puškin-Denkmal in Moskau, Bildhauer: A. Opekušin, anonyme Fotografie, um 1885, Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte, akg-images Abb. 62: Trauerzug zu Dostoevskijs Begräbnis am 12. Februar 1881, Zeichnung von Arnold Karl Baldinger, Staatliches Zentrales Literaturmuseum, Moskau, Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 63: Dostoevski, Porträtaufnahme von Konstantin Šapiro, 1879, akg-images Abb. 64: Widmungsexemplar des „Großinquisitors“ von Albert Einstein, Deutsche Kinemathek – Marlene Dietrich Collection Berlin Abb. 65: Der Inquisitor Tomás de Torquemada, Holzstich nach René Moraine aus M. V. de Fereal (d. i. Victorine Germilland), Mystères de l’Inquisiton, Paris, Boizard, 1846, akg-images Abb. 66: Plakat zur Dostoevskij-Feier anlässlich seines hundertsten Geburtstags (11. November 1921) am 27. November im Berliner Staatstheater, Berlin, Sammlung für Kunst und Gschichte, akg-images Abb. 67: Nikolaj Konstantinovič Michajlovskij, Wikimedia Commons Abb. 68: Vladimir Solov’ ëv, Porträt von Ivan Kramskoj, 1885, Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg, Wikimedia Commons Abb. 69: Vladimir Majakovskij, Gemälde von Nadežda Konstantinova Schwede-Radlova, 1930, St. Petersburg, Institut für russische Literatur der russischen Akademie der Wissenschaften, akg-images Abb. 69: Maksim Gor’kij (links) und Anton Čechov (rechts), akg-images / Sputnik Abb. 71: „Ewiges Russland“, Ölgemälde von Il’ja S. Glazunov, 1988, Privatsammlung, akg-images Abb. 72: Melchior de Vogüé, Fotografie von Nadar, Wikimedia Commons Abb. 73: André Gide, Porträtaufnahme, um 1920, akg-images Abb. 74: Max Ernst, „Au rendez-vous des amis“, 1920–22 (1922). Von links nach rechts: René Crevel, Max Ernst, auf dem Knie Dostoevskijs sitzend, Theodor Fraenkel hinter Jean Paulhan, Benjamin Péret, Theodor Baargeld, Robert Desnos. Hintere Reihe: Philippe Soupault, Hans Arp, Max Morise, Raffael, Paul Éluard, Louis Aragon, André Breton, Giorgio de Chirico, Gala Éluard. Köln, Museum Ludwig, akg-images Abb. 75: Albert Camus, Porträtaufnahme, akg-images / TT News Agency
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Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 76: Luigi Pirandello, Porträtaufnahme, akg-images / Fototeca Gilardi Abb. 77: Porträt der Gräfin Emilia Pardo Bázan von Joaquin Vaamonde, Pastell auf Papier, 1896, A Coru? a Galizien/Spanien, Museum der Schönen Künste, akg-images / Album / Prisma Abb. 78: José Ortega y Gasset, 1950, Kollektion Horst Maack, akg-images / Horst Maack Abb. 79: William Faulkner, undatierte Fotografie (Martin J. Dain), 1960, akg-images Abb. 80: Ernest Hemmingway, Porträtaufnahme, 1960, akg-images / TT News Agency Abb. 81: Jerome David Salinger, Porträtaufnahme, akg-images / Fototeca Gilardi Abb. 82: Oscar Wilde, Fotografie, 1882, akg-images Abb. 83: Knut Hamsun, Fotografie, um 1920, akg-images Abb. 84: Karl Bleibtreu, Porträt von Ismael Gentz, vor 1916, in: Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit: eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte, Leipzig 1916. Wikimedia Commons. Abb. 85: Hermann Conradi, Projekt Gutenberg https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/ namen/conradi.html Abb. 86: Gerhart Hauptmann, Ölgemälde von Max Liebermann, 1912, Berlin, Stiftung Stadtmuseum, akg-images Abb. 87: Elisabeth Kaerrick, um 1920, Estnisches Nationalarchiv Tallin Abb. 88: Johannes von Guenther, Porträtaufnahme von Hilde Zemann, um 1966, Widmungsexemplar an Dr. Paul Kluge der Festgabe für Johannes von Guenther zum 80. Geburtstag, hrsg. vom Biederstein-Verlag u. a., Nördlingen 1966, S. 5. Abb. 89: Oswald Spengler, Porträtaufnahme, um 1930, akg-images Abb. 90: Sigmund Freud, Porträtaufnahme, 1926, akg-images Abb. 91: Stefan Zweig, Porträtaufnahme, 1920, akg-images / Imagno / Franz Xaver Setzer Abb. 92: Hermann Hesse in seiner Bibliothek, um 1950, akg-images Abb. 93: Thomas Mann, 1937, Fotografie von Carl Van Vechten, akg-images Abb. 94: Max Brod, Porträtaufnahme, um 1910, Kollektion Archiv Klaus Wagenbach, akg-images / Archiv K. Wagenbach Abb. 95: Franz Kafka, Passfoto 1915, Kollektion Archiv Klaus Wagenbach, akg-images / Archiv K. Wagenbach Abb. 96: Werner Bergengruen, Porträtaufnahme (Ursula Litzmann), um 1951, akg-images Abb. 97: Anna Seghers, undatierte Porträtaufnahme, akg-images Abb. 98: Siegfried Lenz, Porträtaufnahme von Wulf Harder, um 1985, akg-images Abb. 99: Heinrich Böll (rechts) mit Aleksandr Solšenicyn, 1974, akg-images Abb. 100: Ingeborg Bachmann, Porträtaufnahme von Barbara Pflumm, akg-images Abb. 101: Horst Bienek, Porträtaufnahme, 1980, Kollektion Ludwig Binder, akg-images / Binder
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Register Das Register enthält Namen, Sachbegriffe sowie die behandelten Werke Dostoevskijs, die im Fließtext (Seitenzahlen recte) und in den Anmerkungen (Seitenzahlen kursiv) erscheinen. Ausgenommen im Register bleiben ständig wiederkehrende Namen und Begriffe wie „Dostoevskij“ oder „Russland“ u. ä. Ansonsten finden sich die Autorennamen der ausgewerteten Literatur alphabetisch in der Bibliographie.
Namensregister
Bakunin, Michail A. 53, 54, 170ff.
Adamovič, Ales M. 25
Balzac, Honoré de 27ff., 84, 102, 123, 294
Adler, Alfred 16, 293, 313
Baroja, Pío 267, 310
Balthasar, Hans Urs von 286, 314
Adorno, Theodor W. 281, 313
Beauvoir, Simone de 264
Ajtmatov, Čingiz T. 219
Beckett, Samuel 310
Aksakov, Ivan S. 74, 82, 297
Beethoven, Ludwig van 236, 272, 299
Aksakov, Konstantin S. 82, 297 Alexander II. („Reformzar“) 22, 65, 75, 77, 169, 171 Ambrosius (Starez) (Mönch, Aleksandr M. Grenkov) 215 André, Robert 264
Beketov, Andrej N. 50f. Beketov, Nikolaj N. 50f. Belinskij, Vissarion G. 31, 34ff., 41ff., 46f., 49f., 55f., 58, 63, 236, 248 Belyi, Andrej (eigtl. Boris Nikolaevič Bugaev) 19
Andrzejewski, Jerzy 258 Annunzio, Gabriele d’ 266
Benjamin, Walter 16f., 287, 293
Antonelli, Pëtr (russischer Agent) 55f.
Berdjaev, Nikolaj A. 187, 253
Arenas, Reinaldo 310
Bergengruen, Werner 279, 287
Azúa, Félix de 310
Bienek, Horst 291 Bierbaum, Otto Julius 285
Bachmann, Ingeborg 290, 291, 302 Bachtin, Michail M. 19, 106f., 113, 167, 187, 257, 268, 273, 277, 305, 308f. Bahr, Hermann 278
Beketov, Aleksej N. 50f.
Bismarck, Otto von 119 Bleibtreu, Carl 276, 312 Blok, Aleksandr A. 50, 80, 295, 311f.
336
Register
Böll, Heinrich 289ff., 303, 306, 314
Doderer, Heimito von 286
Brandes, Georg 258, 278
Dostoevskij, Alëša (Aleksandr) Fëdorovič (Sohn Dostoevskijs) 131
Braun, Maximilian 42, 106, 110f., 187, 294, 297, 298, 299, 302, 303 Breton, André 262 Broch, Hermann 310
Dostoevskaja, Anna Grigor’evna Snitkina (zweite Frau Dostoevskijs) 124, 126f., 129, 131, 133ff., 142f., 161, 169, 207, 216, 299 Dostoevskij, Fëdor Fëdorovič (Sohn Dostoevskijs) 131
Brodskij, Nikolaj L. 256, 309 Brooks, Richard 272
Dostoevskaja, Ljubov’ (Aimée) Fëdorovna (Tochter Dostoevskijs) 124, 131, 299
Bulgakov, Sergej N. 198, 253, 304
Dostoevskaja, Mar’ja Dmitrievna Isaeva (erste Frau Dostoevskijs) 65f., 68, 133
Butasevič-Petraševskij siehe Petraševskij Byron, Lord George Gordon 123, 196
Dostoevskaja, Marija Fëdorovna, geb. Nečaeva (Mutter Dostoevskijs) 26, 28f.
Camus, Albert 187, 262f.
Dostoevskij, Michail Andreevič (Vater Dostoevskijs) 26f., 29f., 51, 138
Capote, Truman 269 Carlyle, Thomas 102 Carus, Carl Gustav 62, 296 Čechov, Anton P. 31, 43, 75, 243, 254ff., 297, 308
Dostoevskij, Michail Michailovič (Bruder Dostoevskijs) 27ff., 57, 59, 61, 72, 79, 86, 91, 121, 133, 294, 296 Dreiser, Theodore 269
Černyševskij, Nikolaj G. 53, 67, 87f., 107, 256
Dubel’t, Leontij V. 57
Cervantes, Miguel de 150, 153
Durang, Christopher 268
Chalturin, Stepan N. 77
Durov, Sergej F. 55
Chomjakov, Aleksej S. 82, 297 Chrétien de Troyes 153 Christus siehe Jesus Christus Čiž, Vladimir F. 250, 307 Conradi, Hermann 276f., 312
Einstein, Albert 219, 237f. Eisner, Kurt 297, 313 Eliasberg, Alexander 279, 293, 294, 296, 304 Elizeev, Grigorij Z. 113
Cortázar, Julio 310
Ernst, Max 261
Dante Alighieri 70, 267
Ėrenburg, Il’ja G. 203
Deržavin, Gavriil R. 27 Dickens, Charles 84, 123, 150, 313 Döblin, Alfred 286 Dobroljubov, Nikolaj A. 67, 82f.
Evtušenko, Evgenij A. 25
Fadeev, Aleksandr A. 257 Faulkner, William 219, 270, 311 Fet, Afanasij A. 224 Feuerbach, Ludwig 50, 52, 118, 190, 232, 296
337
Register
Flaubert, Gustave 144
Grigorovič, Dmitrij V. 31f., 36
Fonvizin, Denis I. 117
Guardini, Romano 151, 227, 299
Fonvizina, Natal’ja D. 63f., 296
Guimarães Rosa, João 310
Fourier, Charles 49, 52, 55, 57
Guenther, Johannes von 278f., 312
Frank, Semën (auch Simon) Lj. 253
Gural’nik, U. A. 257, 309
Freud, Sigmund 17, 219, 280f., 294f., 313 Fridlender (auch Friedländer), Georgij M. 160, 257, 302, 309
Hamsun, Knut (eigtl. K. Pedersen) 274 Hauptmann, Gerhart 22, 277, 312
Gadamer, Hans-Georg 278, 312
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 50, 62, 65, 79ff., 118ff., 169, 296
Gadda, Carlo Emilio 266, 310
Heidegger, Martin 215, 262, 304, 311
García Marquez, Gabriel 267
Heine, Heinrich 120, 256
Geier, Svetlana 101, 196, 199, 279, 294, 303
Hemmingway, Ernest Miller 268, 271, 311
Gercen siehe Herzen
Henckel, Wilhelm 274f., 309
Gerigk, Horst-Jürgen 107, 152, 167, 177, 187, 201, 203, 226, 272, 294, 300, 303, 304, 305, 311, 313, 314
Henriques, Alfonso 267
Gide, André 151, 219, 260f.
Henze, Hans Werner 290 Herder, Johann Gottfried 119 Herling-Grudziński, Gustaw 297
Glazunov, Il’ja S. 257f.
Herwegh, Georg 243, 306
Gobetti, Piero 265
Herzen (Gercen), Aleksandr I. 74f., 82, 95, 208
Goebbels, Joseph 22, 281 Goethe, Johann Wolfgang 27, 120, 153, 224, 268, 286, 294
Hesse, Hermann 22, 281ff., 313 Hoffmann, E. T. A. 27, 41, 44, 85, 120, 294
Gogol’, Nikolaj V. 28, 31, 34, 38–43, 55, 66, 117, 206, 238, 258, 289, 307
Hoffmann, Nina 278, 312
Golosovker, Jakov E. 120, 298
Holbein, Hans d. J. 161–164, 191
Golubov, Konstantin E. 177
Hübner, Johannes 47, 118, 188
Gončarov, Ivan A. 53, 84, 142, 256
Hugo, Victor 27, 102, 123, 150, 259, 294
Gor’kij, Maksim (eigtl. Aleksej Maksimovič Peškov) 16, 24, 80, 178, 219, 247, 154, 255, 257, 303, 308, 309 Gorbačëv, Michail S. 24 Gracq, Julien 264 Granovskij, Timofej N. 177
Hofmannsthal, Hugo von 285
Innaurato, Albert 268 Isaeva, siehe Dostoevskaja, Mar’ja Dmitrievna Ivanov, Ivan (Student) 171 Ivanov, Vjačeslav I. 187, 252, 304
Grigor’ev, Apollon A. 53, 79, 83, 86
338
Register
Jackson, Robert Louis 234, 236, 306
Leont’ev, Konstantin N. 251
Janyšev, Ivan L. 133
Lermontov, Michail Ju. 74, 81, 196, 224
Jean Paul (Jean Paul Friedrich Richter) 215
Leskov, Nikolaj S. 86
Jens, Walter 230
Lessing, Gotthold Ephraim 64, 296
Jesus Christus 28, 47–49, 55, 63f., 70, 106, 108, 123, 150–153, 160–165, 180f., 187, 190–193, 204, 210, 231–235, 240–244, 251, 280, 290, 299, 307
Levi, Primo 297
Jewtuschenko siehe Evtušenko
Lima Barreto, Alfonso Henriques de 267
Joyce, James 19, 264
Lo Gatto, Ettore 265
Lewis, Wyndam 273 Lichačëv, Dmitrij S. 24, 257
Lorrain, Claude (eigtl. Claude Gellée) 213, 303 Kaerrick, Elisabeth (Pseudonym E. K. Rahsin) 278, 299, 308
Lukács, Georg 281, 313
Kaerrick, Lucy 278
Luther, Arthur 279
Kafka, Franz 219, 264, 285f., 310, 314 Kant, Immanuel 62, 102, 120, 141, 183, 194f., 194, 224, 226, 243f., 298, 321 Kantor, Vladimir K. 187, 197, 304
Luther, Martin 119f., 238 Machado de Assis, Joaquim Maria 267 Mahler, Horst 173
Karakozov, Dmitrij V. 76, 170
Majakovskij, Vladimir V. 253f., 308
Karamzin, Nikolaj M. 27
Majkov, Apollon N. 51, 79, 127, 157, 293
Karazin, Nikolaj N. 100
Majkov, Valer’jan N. 51
Katharina die Große (Zarin) 117 Katkov, Michail N. 95f., 135, 149, 199, 219, 302 Kireevskij, Ivan V. 82, 297
Lunačarskij, Anatolij V. 254
Malraux, André 219, 230, 263, 303, 306 Mann, Heinrich 285
Kireevskij, Pëtr V. 82, 297
Mann, Thomas 16f., 22, 187, 219, 264, 281, 283ff., 288f., 291, 293, 303, 304, 310, 313
Kock, Erich 290
Marx, Karl 53f., 172, 190, 232, 280, 296, 322
Kraevskij, Andrej A. 51
Mej, Lev A. 79
Kresling, Alexander 252
Mendelssohn-Bartholdy, Felix 299
Kropotkin, Pëtr A. (Fürst) 169, 302
Merežkovskij, Dmitrij S. 251, 284, 308
Lamenais, Félicité de 49, 52 Leminski, Paulo 310 Lenin, Vladimir I. (Uljanov) 173, 254, 257 Lenz, Siegfried 289, 303, 306
Meščerskij, Vladimir P. (Fürst) 199 Michajlovskij, Nikolaj K. 249ff., 307 Miller, Henry 273, 311 Močalov, Pavel St. 121 Močul’skij, Konstantin V. 227, 306
339
Register
Moeller van den Bruck, Arthur 278, 312
Pereverzev, Valerijan F. 308
Molière, Jean-Baptiste 43, 67
Peri Rossi, Cristina 268
Morgenstern, Christian 279, 313
Perov, Vasilij G. 9
Moravia, Alberto 266, 310
Pessoa, Fernando 310
Mozart, Wolgang Amadeus 299
Peter der Große (Zar) 80, 107
Mühlmann, W. E. 269
Petraševskij, Michail V. (ButaševičPetraševskij) 51–58, 62, 65, 72, 118, 177
Müller, Ludolf 100, 104, 151, 187, 294–299, 302–307
Philipp II. von Spanien (König) 239 Pirandello, Luigi 265f., 310
Nabokov, Vladimir V. 113, 243, 298 Napoleon I. Bonaparte 102, 110f., 248, 272, 293
Pisarev, Dmitrij I. 113, 248f., 307 Plechanov, Georgij V. 254
Napoleon III. 102
Pleščeev, Aleksej N. 51, 55
Narodniki, Narodničestvo siehe Volkstümler, Volkstümlerbewegung
Pobedonoscev, Konstantin P. 130, 251 Poe, Edgar Allen 85, 99
Nečaev, Sergej G. 76, 171–177, 197, 302
Poggioli, Renato 310, 314
Nekrasov, Nikolaj A. 31, 34, 36, 42, 67, 75, 82ff., 199, 256
Polonskij, Jakov P.
Neuhäuser, Rudolf 74, 297, 298, 302, 320 Nietzsche, Friedrich 16f., 22, 68f., 71f., 86, 141f., 151, 247, 251f., 265, 278, 287, 293, 295, 297, 299, 304, 308, 313 Nikolaus I. („Polizei-Zar“) 53–59, 65, 75 Nin, Anaïs 268 Nohejl, Regine 135, 299 O’Neill, Eugene 268 Opitz, Roland 187, 303f.
Pound, Ezra 17, 273, 311 Prévost, Abbé Antoine-François 136 Proust, Marcel 19, 264, 293 Puškin (Puschkin), Aleksandr Sergeevič 7, 24, 27, 28, 43, 44, 74, 80f., 82f., 121, 153, 155, 180f., 201, 215f., 258, 301, 300ff., 303 Racine, Jean 27 Raffael (Rafaello Sanzio da Urbino) 184, 262 Rahsin, E. K. siehe Kaerrick, Elisabeth
Ortega y Gasset, José 16, 267, 293, 310
Régnier, Henri de 309
Pamuk, Orhan 309
Robbe-Grillet, Alain 264
Panaev, Ivan I. 36
Rosenberg, Alfred 22, 281, 313
Pardo Bázan, Gräfin Emilia 266
Rothschild (jüd.-dt. Bankiersfamilie) 201, 205
Paul, Jean siehe Jean Paul
Russell, Bertrand 219
Paz, Octavio 267, 310
Rysakov, Nikolaj I. 77
Rilke, Rainer Maria 285
340
Register
Sábato, Ernesto 310
Spengler, Oswald 22, 275, 280, 313
Sade, Marquis de 91
Sperber, Manès 187, 303, 306, 307, 310
Saint-Simon, Henri de 49f.
Spešnev, Nikolaj A. 53ff., 63
Šalamov, Varlam T. 297
Steiner, George 285
Salinger, Jerome David 271f., 311
Stellovskij, Fëdor T. 95, 135
Saltykov-Ščedrin, Michail E. 53, 67, 82, 84, 256
Sternberg, Joseph von 272
Samarin, Jurij F. 82, 297
Stirner, Max (eigtl. Johann Caspar Schmidt) 102, 118
Sand, George (eigtl. Amantine-Lucile-Aurore Dupin, verehelicht Baronne Dudevant) 28f., 123, 308 Saramago, José 268
Strachov, Nikolaj N. 79, 83f., 114, 298, 309 Strauß, David Friedrich 50, 52, 63, 118, 295 Sue, Eugène 28
Sarraute, Natalie 264 Sartre, Jean-Paul 191, 262
Suslova, Apollinarija (Polina) Prokof ’evna 91f., 95, 127, 133f., 139f., 298
Schestow, Leo siehe Šestov, Lev
Suvorin, Alexej S. 254, 308
Schiller, Friedrich 27ff., 83, 115, 121ff., 127, 140, 141, 150, 223ff., 231, 235f., 240f., 288, 298, 299, 306, 307
Svevo, Italo (eigtl. Aron Hector Schmitz, genannt Ettore Schmitz) 266
Schopenhauer, Artur 224
Świderska, Małgorzata 118, 151, 298, 299
Schulze, Brigitte 166
Thieß, Frank 22
Schukowski (Shukowski) siehe Žukovskij
Tkačëv, Pëtr N. 197
Schweitzer, Albert 219 Seghers, Anna (eigtl. Netty Radvanyi geb. Reiling) 219, 288
Tolstoj, Lev N. 30, 36, 74, 75, 79, 96, 118, 147, 199, 201, 204, 207, 224, 254, 256, 260, 274, 280, 285, 287, 288, 289,
Semënov-Tjan-Šanskij, Pëtr P. 52
Torquemada, Tomás de 239, 258f.
Šestov, Lev I. 252, 265, 308
Tozzi, Federigo 266, 310
Shakespeare, William 123, 184, 186, 256
Trakl, Georg 285
Siodmak, Robert 272
Troyat, Henri (Lev A. Tarasov bzw. Torosjan) 229, 306
Šklovskij, Viktor B. 24, 74
Tschechow siehe Čechov
Snitkin, Ivan G. 171 Snitkina siehe Dostoevskaja, Anna Grigor’evna Solov’ëv, Aleksandr K. 77 Solov’ëv, Vladimir S. 50, 108, 195, 215, 250f. Solženicyn, Aleksandr I. 247, 289, 297
Tschernyschewski siehe Černyševskij Tschisch siehe Čiž Turgenev, Ivan S. 16, 30f., 36, 44f., 55, 67, 70, 74, 75, 81, 84, 86, 91, 95, 106, 113, 118, 127f., 132, 139, 142, 144–147, 165, 177, 183, 201, 204, 209, 210, 224, 145, 254, 256, 260, 271, 274, 276, 287, 294, 297, 299
341
Register
Turner, J. M. William 253
Altes Testament siehe Testament, Altes/Neues; Evangelium
Unanumo, Miguel de 267, 310
Altgläubige 101, 160, 177 Amerika 25, 76, 99, 185, 189, 269, 270, 272, 273, 284, 311
Valdes, Fernando 239
Anarchie 53, 170, 175, 185
Vasnecov, Victor M. 32
Antisemitismus (siehe auch Juden) 23, 130
Viardot, Pauline 132, 177 Vogüé, Vicomte Marie-Eugène-Melchior de 216f., 258ff., 264, 267, 275, 304, 305, 308, 309, 312 Vrangel’, Baron Aleksandr E. 65, 75, 95f., 296 Wagner, Richard 130, 153, 200, 247, 307, 314 Wilde, Oscar 273, 311 Wilhelm I. (deutscher Kaiser) 130, 200
Aristokratie, Adelskultur 182, 188, 204f. Armut 7, 27, 30–34, 38, 42f., 60, 73, 85, 95, 103, 113f., 137, 151, 153, 155f., 169, 185, 210, 235, 241f., 249, 289f., 294, 300–302 Askese 152f. Ästhetik (siehe auch Kunst; siehe auch Schönheit) 28, 48, 64, 83, 86, 93, 113, 121ff., 159, 174, 178, 182, 215, 224, 267, 275, 290 Atheismus 50, 119, 164f., 167, 171, 190, 197, 204, 208, 215, 250, 281, 310, 318
Wolf, Christa 288f., 314 Wolfram von Eschenbach 153
Attentat 21f., 76f., 170f.
Wright, Richard 269
Auferstehung 101, 104, 137, 162f., 165, 295 Aufklärung 21, 47, 51, 198, 205, 238, 242f.
Zabel, Eugen 276
„Auslandsrussen“ 136, 138f.
Zamjatin, Evgenij I. 297f.
Autokratie 21, 76, 170, 249
Zasulič, Vera I. 77
Autoritär 24, 119, 182
Zola, Émile 260, 276, 309
Autorität 23, 24, 76, 119, 136, 232, 234, 240– 244, 279, 281
Zschokke, Heinrich 47, 118 Žukovski, Vasilij A. 27, 124
Avantgarde 253, 261
Zweig, Stefan 22, 219, 281f., 284, 313
„Baden-Badenerei“ 129, 144
Sachregister
(baden-badenščina)
Bauern 29, 31, 52f., 55, 70, 76, 182, 185, 203, 208, 273
Absurd 43, 186, 261, 263f.
Beichte 108, 175, 187, 196, 221, 277, 302f.
All-Einheit (božestvennaja sobornost’) 189
Bergpredigt 50, 151f.
Allmensch (vsečelovek), Allmenschentum, Allmenschlichkeit (vsečelovečnost’) 24, 82, 119, 215, 251, 308
Berliner Kongress (1878) 209 Berner Übereinkunft (1886) 259
342
Register
Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) 19, 112
Dritte (III.) Abteilung (Sicherheitspolizei des Zaren) 53, 56f., 65, 79
Bibel siehe Testament, Altes/Neues Bildung 20f., 27–30, 34f., 38, 41f., 61, 76, 81f., 87, 90, 113, 172, 179, 183, 185f., 200, 205, 209, 295 Boden (počva), Bodenständigkeit (počvenničestvo) 52, 80, 82f., 86, 101, 118, 125, 165, 178, 182, 188, 203f., 208, 215f., 229, 248
Egoismus 48, 71, 81, 84, 87f., 109ff., 139, 159, 184, 188, 202, 212ff., 243 Eifersucht 67, 144–147, 155, 157f., 212, 226, 229 Eigentum 20, 23, 102, 118 Emanzipation 45, 91, 127, 173, 181, 183f., 283
Bolschewismus, Bolschewisten 185, 256
Emigration, Emigrant 171, 208
Böse (das Böse) 16, 24, 39, 48f., 63, 65, 70f., 86f., 93, 109, 182, 187, 190, 194–198, 204f., 214, 223–226, 232f., 235, 255, 286
England, englisch 27, 248, 258–273, 274, 311 Entfremdung 40, 50, 113, 136, 141, 188, 190f., 208, 229, 242, 249f., 261, 296
Brasilien, brasilianisch 267
Entsagung 44ff., 85, 153, 295, 297, 299
Chauvinismus 23, 84, 124, 208, 251, 257
Epilepsie 61, 91, 96, 133, 149, 152, 155, 157, 159ff., 219, 225, 282
Christentum, christlich 23, 27, 47, 49, 50, 51, 56, 64f., 70, 74, 109, 113, 150f., 157, 162, 183, 187f., 198, 209, 215, 225, 228, 233, 243, 252, 278, 280, 289, 290, 295 Dämon, dämonisch 7, 25, 43, 72, 160, 169, 180, 187, 196, 224 Demokratie, demokratisch 25, 76, 81, 248, 279 Despotie, despotisch 138, 185 Deutschland, Deutsche, deutsch 7, 22f., 27, 45ff., 50, 69, 70, 79, 85, 87, 100, 108, 117– 130, 131, 133, 136, 138, 142, 144, 160, 169, 175, 182, 200, 208, 227, 237, 248, 252, 256, 258, 259, 265, 266, 268, 272, 274–292 Dialektik, dialektisch 65, 80, 118 Dialog, dialogisch 19, 87, 166, 179, 220, 238, 257, 268, 282, 284, 291f. Doppelgänger 36f., 38–41, 46, 109, 120, 146, 230, 268
Eros, erotisch (siehe auch Sexualität) 105, 127, 152, 159, 175, 229 Erzähler, Erzählhaltung (siehe auch personales Erzählen, Perspektivismus, Polyphonie) 19, 31, 41, 44, 67–74, 85, 87, 89f., 93, 106f., 112, 132, 136, 127, 144, 166, 174, 178ff., 197, 201, 203f., 206, 208, 210, 211, 212, 213, 214, 219ff., 227f., 238, 245, 247, 249f., 261, 264, 266, 277, 286, 306 Ethik, ethisch (siehe auch Moral) 16, 44, 48, 50, 55, 65, 70, 83, 93, 100, 105, 109, 121, 141, 164, 182, 225, 233, 234, 290, 295 Europa, europäisch 23, 24, 25, 52f., 65, 76, 80, 82, 85, 123, 124, 130, 133, 134, 138, 144, 149, 165, 170ff., 187, 189, 204, 208, 215, 243, 247, 259, 274f., 278, 282f., 285, 291, 308, 309, 311, 313 Evangelisch (siehe auch Protestantismus) 295 Evangelium 16, 70, 104, 180ff., 198 Existentialismus 252, 260, 262ff., 266, 268, 310 Expressionismus 286, 307, 314
343
Register
Familie 20, 25, 27, 28, 33, 45, 46, 52, 76, 91, 96, 99, 103, 107, 109, 133, 136, 138, 139, 154, 155, 160, 172, 174, 180, 188, 201, 207, 209, 220, 222, 225, 230, 235, 261, 269, 305 Fanatismus, fanatisch 20, 22, 138, 157, 160f., 173, 176, 239 Fantasie, fantastisch 27, 44, 46, 64, 147, 212, 227, 260, 310 Feuilletonliteratur, Fortsetzungsroman 44, 51, 84f., 96, 135, 166, 169, 171, 179, 199 Frankreich, französisch 23, 27, 49, 119, 123f., 133, 136, 138, 169, 182, 201–205, 219, 258, 259–264, 265f., 268, 283, 311 Frauen (Frauenemanzipation, Frauengestalten, Frauenproblematik) 45, 46, 91ff., 114, 125, 133, 139f., 146f., 157, 160, 173, 175, 195, 202, 206, 207, 210, 211f., 221, 223f., 228–230, 269, 271, 300f. Freiheit, Befreiung, frei 8, 20f., 23, 30, 33, 49, 50, 55, 58, 65–69, 73–76, 83, 88–91, 94, 103f., 106f., 116, 119f., 132, 134, 138, 141f., 146, 156, 165f., 170, 172, 174, 180–185, 190–194, 197, 201, 204, 206, 207, 210, 212, 224, 231–234, 236, 237–245, 250, 252, 255, 259, 272, 280, 295, 298, 305, 306, 308 Fünferkomitee 171, 176, 178, 192
Gesellschaft, gesellschaftlich (siehe auch sozial) 8, 15, 20–25, 31f., 34f., 37f., 41f., 48, 50, 52f., 54, 61, 64f., 67, 69, 71, 76, 79–83, 87ff., 93, 99, 101, 109, 111, 113, 137, 145, 152, 156–160, 167, 169f., 172ff., 196, 201ff., 206, 209, 211, 213, 215f., 219, 223, 225, 229, 240, 243f., 248f., 250, 251, 252, 257, 261, 269, 275, 277, 286, 290, 293, 297, 305 Gewissen 71, 90, 93, 102–105, 109f., 120, 160, 171, 175f., 185f., 217, 226, 233f., 240f., 242f., 247, 249, 259, 261, 264, 276, 289 Gleichheit 20, 22f., 65, 92, 109, 185f. Glück, Glückseligkeit 16, 22, 48, 60, 65, 88ff., 101, 139, 156, 159, 214, 231f., 234, 240ff., 261, 293, 310 Glücksspiel siehe Spiel Gott, Gottesglauben, Gottesträgervolk 21, 49f., 55, 63, 72f., 96, 108, 120, 122, 151, 153, 163ff., 182–185, 189–198, 294, 204, 210, 215, 218, 220, 222, 227, 230–235, 242, 262, 276, 278, 281, 296, 301, 307 Gottmensch (bogočelovek) / Menschengott (čelovekobog), Gottmenschentum 64, 191, 215, 242 Großinquisitor siehe Inquisition Groteske, grotesk 38, 66, 206, 261, 284, 286
Geheimbünde, Geheimgesellschaften 21f., 51, 58, 170, 261 Geheimpolizei siehe Dritte Abteilung Geld 7, 20f., 32, 34, 36, 43, 50, 51, 70, 73ff., 76, 95, 103, 133, 135, 136, 137, 139–143, 149, 201, 226, 290 Gerechtigkeit (siehe auch Gericht, Rechtsethik, Rechtssystem) 8, 20, 34, 47, 52, 64, 101, 109, 151, 169, 185, 190, 219f., 226, 295 Gericht 58, 176, 210, 223, 226f., 269, 287, 291, 305
Heilige, heilig 70, 73, 108, 152f., 203, 227, 238, 251, 257, 271, 284, 285, 301 Humanität siehe Menschlichkeit Hypnose, hypnotisch 43 Idealismus, idealistisch 43, 46, 111f., 118, 119, 158, 182, 184, 187 Ideologie, Ideologen, ideologisch 7, 15, 16, 23, 24, 25, 49, 65, 82, 83, 84, 86, 90, 93, 99, 101, 106, 109, 111, 113, 118, 119, 125, 127, 132, 165, 169, 171, 177f., 185, 193, 205, 206, 217, 219, 220f., 245, 248ff., 251, 252, 256f., 273, 281, 284, 285
344
Register
Imperialismus, imperialistisch 23, 317
Kollektiv, kollektive Wirtschaft 52, 76, 87f.,
Individualismus, individualistisch 87, 181– 184, 203f., 213
Kolportageroman 85, 99, 135, 177, 179, 202f.
Industrialisierung 243
Kommunismus, Kommunisten, kommunistisch 23ff., 53, 119, 243, 256, 297
Inquisition (Großinquisitor) 8, 17, 119, 122, 218, 221, 231–234, 237–245, 250, 256, 258, 281, 287, 288, 298, 306f. Intellektuelle, Intelligencija 20, 25, 42, 50f., 67, 80, 82f., 88, 93, 101, 123, 169, 173, 181f., 206, 208, 215f., 254, 257f., 275, 283, 291 „Internationale“ (Arbeiterassoziation) 172, 186 Isolation 34, 38, 40, 43, 74, 105, 115, 127, 130, 154, 189, 211, 225, 252, 263, 271, 290, 291
Komik, komisch 66, 147, 203, 247, 261, 305
Konservativismus, Konservative 7, 25, 49, 79, 83f., 96, 149, 199, 248, 250 Krankheit, krank (siehe auch Epilepsie; Spielsucht; Psychopathologie) 33, 37, 40f., 43, 46, 61, 65, 68, 85, 86f., 90, 91, 93, 96, 97, 99, 103, 111, 115, 133, 136, 141, 145, 146, 152, 156, 157, 159, 160, 161, 164, 191, 198f., 215, 219, 223, 224, 231, 235, 247, 249, 250, 254, 255, 281, 284, 286, 290, 293, 298
Italien, italienisch 124, 126, 130, 133, 200, 264ff.
Kriminalroman 16, 99, 115, 220, 264
Juden 70, 130, 176, 178, 204
Kriminologie, kriminologisch 7, 19, 115f., 268, 299
Jurodstvo (Form der Askese) 152f. Jus, Jura, Justiz (Rechtssystem) 23, 75, 116, 208, 217, 220, 226, 269, 270
Kriminelle, kriminell (siehe auch Mord) 17, 23, 43, 61, 68, 70, 73, 170, 173f., 182, 202, 261
Krimkrieg 75, 81 Kristallpalast 88, 116, 124 Kulturkrise 34, 36, 90, 275
Justizirrtum 226, 269
Karamazovtum (Karamazovščina) (Erbveranlagung der Karamazovs) 224
Kunst, Künstler, künstlerisch (siehe auch Ästhetik; siehe auch Schönheit) 15f., 24, 27, 29f., 35, 45, 53, 55, 67, 83, 86, 112, 115, 120, 122, 132, 145, 161ff., 171, 184, 201, 220, 225, 248, 253, 259, 261, 282, 284, 285, 288, 291, 292, 298, 309, 314
Katastrophenzeit Kulturkrise
„Lager-Literatur“ 67, 75, 247, 297
Kapitalismus, kapitalistisch 138, 201, 256, 257, 290
23, 111, 124,
(katastrofičnost’)
siehe
Katechismus eines Revolutionärs 172, 176, 302 Katholizismus, katholisch 84, 118f., 151, 157, 165, 186, 190, 232, 239, 240, 259, 283, 307 Katorga (Strafarbeit) siehe Verbannung Kindheit, Kinder, Kindlichkeit 27, 36, 47, 70, 96, 97, 103, 108, 131, 138, 145, 152, 156, 159, 160, 164, 174, 188, 194, 195, 196, 204, 210f., 214, 227, 228, 230f., 234, 235, 261, 287, 305
„Land und Freiheit“ (Zemlja i Volja) (Untergrundorganisation) 21, 76, 170 Langmut (dolgoterpenie) 63 Lateinamerika, lateinamerikanisch 267f. Legende 216, 232, 238f., 295, 307 Leibeigenschaft, leibeigen 22, 29, 31, 47, 52, 56, 75f., 182, 184f., 201, 209f.
345
Register
Leiden 50, 61, 63, 72, 84ff., 89ff., 93f., 99, 105, 107, 145, 160 (stradanie), 162, 187f., 210f., 224, 228, 230ff., 234, 244f., 252f., 283f., 289ff., 295 Leidensfähigkeit 228, 230, 283
63 (mnogostradal’nost’),
Leidenschaft (siehe auch Spielleidenschaft) 15, 132, 136, 138f., 149, 158, 160 (strast’), 172, 196f., 206, 221, 225, 247, 271, 288 Liberalismus, liberal 21ff., 25, 33, 47, 57, 65, 105, 113, 178, 180–184, 189, 197, 199, 201, 203ff., 248, 254, 259 Liebe (siehe auch Leidenschaft; Nächstenliebe) 7, 32, 35, 44, 46f., 50, 57, 70, 72, 85, 91ff., 99, 101, 104f., 108f., 110ff., 119, 133f., 137, 139f., 142, 145, 149, 152f., 155– 161, 164f., 172, 174, 176, 182, 184f., 188, 195ff., 202, 204, 210, 211, 212, 214, 217, 219, 220, 222, 225–227, 229f., 231, 236, 241f., 244, 247, 251, 253, 261, 271, 281, 289, 290, 305, 312, 313 Lyrik, lyrisch 44, 45, 46, 253 Macht 7, 23, 44, 450, 54, 69, 73, 81, 95, 97, 102f., 119, 141, 159f., 165, 171, 183, 185f., 190, 196, 202, 211, 231f., 234, 239–245, 260, 288, 290, 313 Materialismus, materialistisch 42, 52, 88, 90, 113, 136, 169, 184, 202, 232f. Materiell 42, 65, 74, 90, 119, 196, 232f., 241f. Medizin, medizinisch 16, 19, 41, 87, 115, 296 Memoirenliteratur 74, 124
Messianismus 23, 193, 197 Militärgericht 58, 291 Mitleid 32, 40, 46, 63, 67, 71, 91, 105, 108f., 111, 145, 150, 152f., 154f., 157ff., 172, 230, 241f., 278, 288, 289, 290, 303 Moderne, modern 28, 46, 50, 88, 151, 174, 179, 198, 204, 236, 252, 257, 264, 268, 271, 179, 277, 290, 299, 311 Modernismus 251f. Monolog, Monologismus, monologisch 19, 87, 112, 179, 219, 257, 261, 266, 268, 290, 302 Moral, moralisch (siehe auch Ethik) 7, 23, 31, 42, 44, 47f., 48, 49, 60, 63, 68, 70ff., 83, 85, 87f., 93, 95, 101–104, 108–111, 120, 122, 138, 140f., 165, 167, 169, 173, 178, 181–185, 188f., 192, 194f., 197, 205, 210, 217, 224, 226–230, 232ff., 236, 242–245, 250, 252, 257, 261, 263, 275, 287, 302, 303 Mord, Mörder 20, 21, 43, 47, 61, 67, 69, 70, 72, 76, 96, 98ff., 102f., 104f., 109, 110, 113, 115f., 140, 141, 146f., 155, 156, 161, 163, 164, 171, 174ff., 182, 184, 189, 191f., 194f., 197, 211, 220–223, 225–230, 249f., 253, 261, 266, 268, 269, 270, 272, 287 Motiv, motivisch 43–46, 63, 104, 108, 144, 146, 158, 197, 219, 266, 290, 291, 310 Nächstenliebe 47, 49f., 70, 185, 227, 242, 244, 289, 305, 313 Naivität 40, 70, 104, 107f., 108f., 111, 134, 152ff., 158, 164f., 203, 205, 226ff., 278 Narr in Christo (Jurodivyj) 152f.
Menschengott siehe Gottmensch Menschlichkeit (Humanität) (menschliche Natur) (siehe auch Allmenschlichkeit) 15, 34, 38, 42f., 48, 52, 61, 63f., 67, 73f., 82, 89f., 101, 108f., 119, 122ff., 152ff., 156, 159ff., 175, 183, 185, 187, 194ff., 212, 217f., 220, 224, 230, 234, 240–245, 247, 250, 252f., 263, 276, 280f., 283, 289, 297, 305, 308
Narodniki, Narodničestvo siehe Volkstümler, Volkstümlerbewegung Nationalgeist siehe Volksgeist Nationalismus 7, 23ff., 27, 49, 51, 80, 86, 128f., 197, 208f., 251, 257, 278, 281
346
Register
Natur, menschliche Natur 30, 49, 68, 71, 83, 89, 92, 101, 102, 109, 115, 112, 132, 142, 152, 162f., 165, 195. 212, 229, 230, 233, 241f., 244, 250, 293, 296, 297, 305, 313
Polyphonie (Vielstimmigkeit), polyphon, polyphoner Roman 16, 19, 94, 106f., 111, 113, 118, 144, 167, 221, 253, 257, 268, 277, 286, 294, 308
Naturalismus 275–280, 285
Portugal, portugiesisch 267
Natürliche Schule (natural’naja škola) 31, 39, 41f.
Postmodernismus 142
Neues Testament siehe Testament, Altes/ Neues; Evangelium
Prostitution, Prostituierte 75, 90, 93, 96, 100, 108, 113, 138f., 140, 154f., 249, 285
Nihilismus 15, 113, 114, 132, 156, 161, 167, 196f., 215, 305 Nouveau roman 19, 264
Proletariat 254, 278
Protestantismus, Protestanten, protestantisch (evangelisch) 47, 50, 118f., 130, 239f., 283 Psychoanalyse, Psychotherapie 16, 37, 250
Oberprokuror des Allerheiligsten Synods 139, 251 Orthodoxie, Orthodoxe, orthodox (pravoslavnyj, pravovernyj) (rechtgläubig) 25, 27, 47, 55, 96, 101, 108, 119, 152, 190, 209, 215, 244, 251, 259, 296 Panslavismus, panslavisch 23, 126, 209, 259, 308 Parodie 268 Personales Erzählen, Personalstil, perspektivisches Erzählen, Perspektivismus (siehe auch Polyphonie) 19, 40f., 87, 112, 107, 166, 178ff., 201, 219, 221, 273, 285 Petraševskij-Kreis siehe Petraševskij Philosophie, Philosophen, philosophisch 16, 19, 27f., 50, 54, 65, 73f., 79, 82f., 86, 88, 94, 99, 108, 118ff., 151, 167, 177, 183, 186, 200, 206, 215, 221, 224, 247, 248, 252, 253, 265, 266, 293, 296, 304, 307, 308 Pietismus, pietistisch 47, 305 Pilger (strannik), Pilgerreise 201, 215 Poem (poema) 8, 196, 231, 237, 238, 242, 244, 253, 258 Polen, polnisch 23, 51, 27, 70, 76, 84, 123, 138, 157, 210, 229, 258f.
Psychologie, Psychologe, psychologisch 16, 19, 22, 34, 41, 42, 43, 45, 46, 68, 72, 73, 85f., 88, 93, 99, 104, 119f., 145, 203, 219, 253, 256, 264, 267, 271, 275, 279, 285, 287, 293, 313, 317 Psychopathologie, psychopathologisch 41, 42, 187, 249, 269, 285, 302f., 307 Publizistik 16, 17, 23, 24, 31, 35, 51f., 76, 79, 83f., 117, 118, 128, 169, 199, 203ff., 129, 217, 256, 257 Ratio (euklidischer Verstand), Rationalismus, rational 48, 60, 65, 83, 86–90, 94, 101–111, 114, 118, 141, 154, 158, 164, 183, 188ff., 192–195, 197, 205, 213, 215, 217f., 220, 222f., 225, 228–232, 234, 236, 240, 243ff., 275, 283, 297 Reaktion, reaktionär 16, 53, 84, 230f., 254, 256f., 288, 309 Realismus, Realisten, realistisch (siehe auch Sozialistischer Realismus) 31, 41, 153, 254, 277, 282, 294, 309, 313 Rechtgläubig siehe orthodox Rechtsethik (siehe auch Gerechtigkeit) 105 Rechtssystem (siehe auch Jus) 105 Reform 21ff., 25, 54, 75f., 101, 169, 171, 208
347
Register
Religion 8, 23, 25, 47, 48, 50, 55, 58, 63, 65, 67f., 72, 82ff., 106, 108, 111, 113, 118, 142, 151f., 160, 164f., 186, 190, 208, 215, 219, 228, 240, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 257, 278, 281, 283, 288, 295, 296, 299, 305, 307, 309 Republik 76 Revolution, Revolutionär, revolutionär 7, 21f., 50, 53ff., 57, 76, 169–173, 176, 178f., 184f., 188, 243, 248f., 263, 266, 275, 276, 288, 294, 302, 303, 308, 312 Rezeption 22, 24, 28, 34, 39, 40, 41, 42, 83, 120, 174, 237, 247–292, 302, 307, 308, 313 Romantik, romantisch 27, 28, 30, 43, 46, 81, 118, 136, 146, 153, 196, 225, 238, 296 Roulettespiel siehe Glücksspiel „Russische Gesellschaft“ 54
Skandinavien, skandinavisch 274, 311 Skizzenliteratur 31, 74, 209f., 210 Slavophile, Slavophilie, slavophil 82ff., 86, 119, 157, 248
51, 79,
Sowjetunion, sowjetisch 23, 24, 80, 84, 247, 253–256, 288, 290, 291, 309 Sozial, sozialkritisch, soziale Frage, soziale Lage (siehe auch Gesellschaft) 8, 15, 17, 23, 31–42, 44, 46ff., 55, 64f., 68, 73, 76, 85, 88, 90f., 93, 97, 100f., 103, 109, 111, 113f., 119, 184f., 200, 202, 204, 217, 220, 222, 225, 231f., 237, 243f., 249f., 269, 276, 279, 280, 290, 298, 306 Sozialismus, Sozialisten, sozialistisch 7, 20, 48, 49–52, 57, 64f., 67, 81, 87f., 107, 119, 165, 169, 171f., 178, 185ff., 206, 232, 250f., 254, 257, 283, 295, 313 Sozialistischer Realismus, sozialistisch-realistisch 255ff., 294
Satan, satanisch 187, 197, 224 Schelmenroman 203 Schöner Mensch (prekrasnyj čelovek) 48, 64, 70, 149f., 152, 204, 242, 251 Schönheit, das Schöne 40, 43, 46, 48, 54, 57, 60, 63f., 70, 83, 91, 109, 122f., 142f., 145, 149f., 152, 154, 159, 162ff., 181, 184, 188, 198, 200, 202, 204f., 214, 225, 229, 242, 245, 251, 253 Schuld (moralisch und materiell) 7, 58, 62, 68, 76, 95, 99ff., 103ff., 109, 133–137, 140, 147, 157f., 160, 176, 182f., 192, 207, 210ff., 217, 220f., 223, 226f., 230f., 233f., 244, 263 Selbstmord 47, 99f., 105, 110, 141, 156, 164, 175, 176, 189, 191f., 194, 197, 211, 232, 270
Sozialrevolutionäre (SR, politische Partei 1917 ff.), sozialrevolutionär 169, 248 Soziologie, soziologisch 16, 19, 269 Spanien, Spanier, spanisch 127, 231, 239, 258, 266f. Spiel (bes. Glücksspiel; Roulettespiel), Spielleidenschaft, Spielsucht 7, 45, 47, 72, 88, 95, 123, 131–142, 149, 182, 271, 295, 299 Stadt, städtisch, Großstadt 30f., 34, 36, 40, 42, 51, 65, 66, 76, 79, 84, 96, 101, 125ff., 142, 144f., 175f., 178, 180, 183, 189, 197, 201f., 219, 222, 260, 271, 290, 296 Stalinismus, stalinistisch 24, 256, 259
Sexualität (siehe auch Eros) 32, 34, 90ff., 100, 108, 140, 152, 159f., 202, 212, 219, 222f., 225, 228ff., 247, 252, 271
Starec (angesehener Mönch) 232ff., 252, 305, 306
Sibirien 7, 48, 59, 61–65, 67, 69, 72, 80, 99, 106, 108, 122, 157, 172, 296
Strafe, Bestrafung (siehe auch Sühne) 7, 39, 56ff., 62, 65, 68f., 70f., 73, 95, 99ff., 105, 112, 115, 183, 190, 210, 226f., 231, 269, 279, 298
Šigalëvščina (Ideologie) 185f.
215, 228,
Strafarbeit siehe Verbannung
348
Register
Sträflingslager (Ostrog), Strafkolonie 67–75, 291, 297 Studentenunruhen 171 Sühne (siehe auch Strafe) 7, 68, 72f., 95, 100f., 112, 147, 220, 227, 233, 276 Sünde, Sünder 72f., 105, 108, 167, 183, 211, 233, 241, 272, 284 Surrealismus, Surrealisten 261f. Symbolismus, Symbolisten, symbolistisch 108, 205, 239, 251ff. Tagträumer siehe Traum Terror, Terrorismus, Terroristen, terroristisch 7, 20–23, 76f., 169–174, 176, 179ff., 185, 188, 197, 205, 263, 286, 294, 302 Testament, Altes/Neues 47, 63, 70f., 106, 120, 295 Teufel 91, 169, 197f., 223f., 230, 234, 279, 284, 288, 301, 304 Theologie, Theologen, theologisch 16, 19, 50, 105, 151, 230, 251, 295, 296 Tod 15, 29, 30, 34, 38, 46, 55, 58, 59, 65, 76, 77, 86, 91, 97f., 99, 100, 101, 102, 103, 104, 114, 133, 135, 141, 156f., 160–165, 172, 172f., 176, 182, 189–193, 195, 197, 202, 206, 210, 211f., 215, 216, 218, 219, 220, 222, 227, 228, 230f., 233, 235f., 242, 247, 256, 263, 269, 274, 282, 288, 290, 291f., 312 Totalitarismus, totalitär 24, 89, 186, 232, 240, 243, 247, 281 Tragik, tragisch 114, 131, 147, 160, 184, 187, 196, 233, 235, 252, 260 Transzendenz, transzendent 185, 190, 232, 234, 243 Traum, Träumer, Tagtraum, Tagträumer (mečtatel’) 7, 23, 31, 43, 44ff., 50, 57, 66, 97, 103, 143, 146f., 212–214, 250, 301, 303
Typus, typisch 19, 41f., 44ff., 68, 79, 81, 86, 93, 99, 109, 125, 128, 138, 145, 177, 201, 203, 206, 216, 225, 229, 244, 269, 272, 273, 275, 289, 302, 305 Überflüssiger Mensch (lišnij čelovek) 45, 81, 204 Übermensch, übermenschlich 63, 102, 104, 109, 110f., 187, 248, 250, 307 Unschuld, unschuldig 53, 57, 97, 102, 104, 109, 122, 210f., 214, 230f., 310 Untergrund (podpol’e), „Untergrundmensch“ 7, 20, 23, 76, 79, 87f., 90–94, 109, 119, 125, 141, 146, 170f., 206, 234f., 252 Unsterblichkeit 50, 163f., 232, 287, 295 Utopie, utopisch 7, 23, 48, 49–52, 87, 119, 142, 169, 212, 232, 240, 244, 295, 297 Vater-Sohn-Konflikt 29f., 138, 164, 201ff., 202ff., 222f., 225ff. Vatermord 220, 222f., 225–230, 280, 295, 313 Verbannung (Katorga) (Strafarbeit), Verbannte, verbannt 7, 35, 48, 58f., 61ff., 67, 72f., 75, 89, 105f., 111, 120, 124, 157, 172, 189, 296, 297, 309 Verbrechen, Verbrecher 7, 15, 16, 21, 25, 31, 58, 68ff., 72f., 84, 89, 95, 100ff., 104f., 109ff., 115f., 140, 171, 174f., 188f., 192, 197, 205, 211, 219, 231, 233f., 247, 252, 269, 276, 279, 281, 284, 293, 298, 303 Vielstimmigkeit siehe Polyphonie Verstand (euklidischer) siehe Ratio Volkscharakter (Nationalcharakter), Volksgeist (Nationalgeist) 23, 68f., 72f., 80ff., 101, 119, 123f., 127f., 138, 165, 182, 189f., 198, 203, 205, 215f., 229, 276 Volkstümler (Narodniki), Volkstümler-Bewegung (Narodničestvo) 21, 77, 171, 249f.
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Register
Wahn, Wahnsinn 21, 23, 37, 38ff., 46, 74, 89f., 191, 122f., 153, 161, 202, 222f., 271, 290, 303, 310
Aufzeichnungen aus einem Toten Haus (Zapiski iz mërtvogo doma) 7, 69–75, 79, 84, 91, 93, 186, 189, 274f., 290, 296f.
Weltliteratur 15f., 19, 96, 124, 167, 187, 207, 215, 217, 247–292, 302, 307
Bobok. Aufzeichnungen einer Person (Bobok. Zapiski odnogo lica) 206
Westen, westeuropäisch 23, 25, 51ff., 76, 80ff., 84f., 90, 107, 124, 125, 130, 133f., 136, 138f., 141, 149f., 165, 170f., 176, 181, 186, 189f., 197f., 204f., 208, 215, 220, 229, 247, 251, 257f., 278, 283f., 295, 299, 306, 308, 309
Das Dorf Stepančikovo und seine Bewohner (Selo Stepančikovo i ego obitateli) 66
Westler (zapadniki), Westlertum 83, 86, 107, 127ff., 144, 177, 198, 248, 304
Der Doppelgänger (Dvojnik) 36–41, 146, 268
Wiedergeburt 59f., 72, 94, 105, 113, 204, 220, 245, 249
Der eifersüchtige Ehemann (Revnivyj muž) 147
Willensfreiheit 50, 141, 191, 194
Der ewige Gatte (Večnyj muž) 7, 130, 131, 146f., 154, 299
Wunder, Wunderkraft 150, 228, 238, 241, 295 Zensur, zensiert 51f., 67, 76, 80, 84, 88, 155, 170, 208, 213, 256, 302, 309 Zivilisation, zivilisiert, zivilisatorisch 23, 80, 88, 124, 127, 130, 138, 149, 187, 205, 226, 250, 251, 275, 283 Zufall 81, 89, 97ff., 103, 113, 116, 141, 146, 164, 179, 190, 225f., 231 Zynismus, Zyniker, zynisch 85, 86, 87, 109, 111, 158, 175, 178, 181, 187, 223ff., 231, 303
Das Krokodil (Krokodil) 206 Der Bauer Marej (Mužik Marej) 209f. Der ehrliche Dieb (Čestnyj vor) 43
Der Idiot (Idiot) 7, 15, 17, 44, 59, 130, 142, 149–167, 174, 186f., 191, 193, 221, 228, 255, 271, 277f., 282, 286, 287, 289, 290, 299, 302, 310 Der Junge beim Herrn Jesus zur Weihnacht (Mal’čik u Christa na ëlke) 210 Der Jüngling (Podrostok) 7, 13, 15, 31, 130, 199–207, 221, 271f., 279, 282, 303, 304, 311 Der kleine Held (Malen’kij geroj) 57, 66 Der Spieler (Igrok) 7, 15, 131–142, 144, 154, 174, 268, 272, 295, 299 Der Traum eines lächerlichen Menschen (Son smešnogo čeloveka) 7, 212–215, 303
Behandelte Werke Dostoevskijs Arme Leute (Bednye ljudi) 27–36, 38ff., 50, 74, 108, 248, 264, 274, 290, 294 Aufzeichnungen aus dem Untergrund (Zapiski iz podpol’ja) 7, 79–94, 101, 108f., 119, 125, 141, 146, 186, 206, 234, 244, 249, 252, 261, 265, 287, 291, 297
„Der Großinquisitor“ („Velikij inkvizitor“) 8, 17, 119, 122, 218, 221, 231, 232f., 237– 245, 250, 258f., 281, 287, 288, 298, 306f. Die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy) (siehe auch „Der Großinquisitor“) 8, 15, 29, 65, 114, 122, 164, 211, 215, 218, 219–236, 237, 238, 231, 244, 248, 250, 255, 262, 263, 268, 269, 272, 281, 282, 284, 286, 288, 305, 306, 308, 313
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Register
Die Dämonen (Besy) 13, 15, 20, 25, 130, 141, 164, 168–205, 207, 213f., 220, 221, 230, 250, 252, 255, 261, 263, 279, 286, 290, 294, 297, 302, 303, 304, 314 Die fremde Frau (Čužaja žena) 147
„Nachruf auf George Sand“ (George Sand. Nekrolog) 123f., 308f. Onkelchens Traum (Djadjuškin son) 66 Polzunkov 42f. Rede auf Puškin 7, 24, 82, 215f., 248
Die Hundertjährige (Stoletnjaja) 210 Die Sanfte (Krotkaja) 7, 211f. Die Wirtin (Chozjajka) 43, 46 Die Zeit (Vremja) (Zeitschrift) 80, 82–86 Ein schwaches Herz (Slaboe serdce) 43f., 46 „Ein paar Worte über die Petersburger Baden-Badenerei“ („Neskol’ko slov o Petersburgskoj baden-badenščine“) 129, 144 Epoche (Epocha) (Zeitschrift) 86, 133 Erniedrigte und Beleidigte (Unižennye i oskorblennye) 44, 84f., 109, 117, 273, 274, 310, 311 „Herr G. und die Frage der Kunst“ („Gospodin G. i voprosy iskusstva“) 83 Herr Procharčin (Gospodin Procharčin) 42f., 46
Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie [Verbrechen und Strafe]) 7, 13, 15, 16, 17, 25, 31, 65, 94, 95–116, 117, 120, 133, 135, 114, 140, 146, 154, 164, 167, 174, 185f., 230, 248f., 253, 256, 261, 264, 266, 269, 270, 272, 274, 275f., 279, 285, 286, 288, 289, 290, 291, 293, 298, 307, 309, 311, 313, 314 Tagebuch eines Schriftstellers (Dnevnik pisatelja) 7, 24, 129, 199, 207–211 Verbrechen und Strafe siehe Schuld und Sühne Vlas 208 Weiße Nächte (Belye noči) 31, 44, 46, 85 Winterliche Bemerkungen über Sommer eindrücke (Zimnie zametki o letnich vpečatlenijach) 124
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Danksagung Der Verfasser dankt dem Universitätsbund Tübingen e. V. und der Stiftung Landesbank Baden-Württemberg LBBW für großzügig gewährte Druckkostenzuschüsse. Besonderer Dank gebührt Frau Prof. Dr. Dorothea Scholl, die das gesamte Manuskript lektoriert und in die vom Verlag gewünschte Form gebracht hat. Sie hat darüber hinaus durch wertvolle Ergänzungen, kritische Anmerkungen und Bereitstellung der Abbildungen maßgeblich die vorliegende Fassung des Buches gestaltet. Schließlich dankt der Verfasser der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt für die Aufnahme des Titels in ihr Verlagsprogramm.
Zu den Autoren Rolf-Dieter Kluge, geb. 1937 in Pirna (Elbe), Dr. phil. Mainz 1965; Dr. phil. habil. und Prof. Mainz 1975; Univ.-Prof. Freiburg/Br. 1975; o. Prof. Univ. Tübingen 1983; o. Prof. Univ. Warschau 2002; Advisory Prof. Univ. Harbin (VR China); Honorarprof. Staatliche Lomonosov-Univ. Moskau. Träger der russischen PuschkinMedaille und des Bundesverdienstkreuzes; Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste SANU. Veröffentlichungen zur russischen Literatur und Kultur, den deutsch-polnischen Kulturbeziehungen, zur serbischen und kroatischen Literatur und zur Reformation in Slovenien. Dorothea Scholl, Dr. phil. Tübingen 1995; Dr. phil. habil. Kiel 2000; Gastprof. LMU München 2002; Gastprof. Univ. Rostock 2009/10; Prof. Univ. Kiel seit 2009. Veröffentlichungen zur italienischen, frankophonen (insbes. französischen und frankokanadischen) Literatur, Kunst und Kultur und zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft.
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